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MAURIZIO BACH STEFAN BREUER FASCHISMUS ALS BEWEGUNG UND REGIME
NEUE BIBLIOTHEK DER SOZIALWISSENSCHAFTEN Die Neue Bibliothek der Sozialwissenschaften versammelt Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Theoriebildung und zur Gesellschaftsdiagnose sowie paradigmatische empirische Untersuchungen. Die Edition versteht sich als Arbeit an der Nachhaltigkeit sozialwissenschaftlichen Wissens in der Gesellschaft. Ihr Ziel ist es, die sozialwissenschaftlichen Wissensbestände zugleich zu konsolidieren und fortzuentwickeln. Dazu bietet die Neue Bibliothek sowohl etablierten als auch vielversprechenden neuen Perspektiven, Inhalten und Darstellungsformen ein Forum. Jenseits der kurzen Aufmerksamkeitszyklen und Themenmoden präsentiert die Neue Bibliothek der Sozialwissenschaften Texte von Dauer.
DIE HERAUSGEBER Jörg Rössel ist Professor für Soziologie an der Universität Zürich. Uwe Schimank ist Professor für Soziologie an der Universität Bremen. Georg Vobruba ist Professor für Soziologie an der Universität Leipzig. Redaktion: Frank Engelhardt
MAURIZIO BACH STEFAN BREUER FASCHISMUS ALS BEWEGUNG UND REGIME ITALIEN UND DEUTSCHLAND IM VERGLEICH
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1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-17369-6
Inhalt
Einleitung .................................................................................................................. 7 Das faschistische Minimum. Bausteine zu einem Idealtyp des Faschismus..............................................................................................................17 Komparatistischer Exkurs: Der Faschismus im Feld rechtsradikaler Bewegungen und Parteien ....................................................................................81 Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung im Bewegungsfaschismus...........................................................................................97 „Deutscher Faschismus“ – Das italienische Vorbild in der radikalen Rechten der Weimarer Republik .......................................................................157 Nationalsozialismus als Regime: Die Charismatisierung des Staates im Dritten Reich ........................................................................................................205 Führerunmittelbare Stabsorganisationen im NS-Regime..............................243 Charisma und Veralltäglichung im italienischen Regimefaschismus ...........313 Verwaltungspolitik im faschistischen Regime .................................................353 Die faschistischen Herrschaftsstrukturen im Vergleich ................................413
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Einleitung
Die Studien in diesem Band sollen den Beitrag deutlich machen, den die Herrschaftssoziologie Max Webers zur Deutung und Erklärung des Faschismus leisten kann. Ein solches Vorhaben ist alles andere als selbstverständlich. Denn wenn in der Vergangenheit der Name des deutschen Soziologen in diesem Zusammenhang fiel, geschah dies allzu oft in der Form von Anklagen. Der Philosoph Karl Löwith etwa, der noch als Student in München den Vortrag über „Wissenschaft als Beruf“ hörte und keinen Zweifel daran ließ, dass Weber, hätte er 1933 noch erlebt, „gegenüber der schnöden Gleichschaltung der deutschen Professoren standhaft geblieben (wäre), und zwar bis zum Äußersten“,1 warf ihm doch zu Beginn des Zweiten Weltkriegs vor, mit seiner Lehre von der irrationalen charismatischen Führerschaft und seiner dezisionistischen Einstellung „den Weg zum autoritären und diktatorischen Führerstaat positiv gebahnt“ zu haben.2 Von marxistischer Seite aus formulierte Georg Lukács, mit Weber vor dem Ersten Weltkrieg in regem Austausch, ein ähnlich vernichtendes Urteil. Bei Weber schlage die Demokratie um in einen „bonapartistischen Cäsarismus“, der in seiner „entfalteten präfaschistischen oder gar faschistischen Form“ seinem Werk auch dann zuzurechnen sei, wenn er ihn persönlich abgelehnt hätte.3 Nicht anders sah es Wolfgang J. Mommsen in seiner bis heute maßgebenden Studie über Weber und die deutsche Politik, die in ihrer ersten Auflage in dem Satz kulminierte, „daß Webers Lehre von der charismatischen Führerherrschaft, verbunden mit ihrer radikalen Formalisierung des Sinns der demokratischen Institutionen, ihren Teil dazu beigetragen hat, das deutsche Volk zur Akklamation der Führerstellung Adolf Hitlers innerlich willig zu
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Karl Löwith: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht, Frankfurt 1989, S. 17. 2 Ders.: Max Weber und seine Nachfolger (zuerst 1939/40), in: Sämtliche Schriften, Bd. 5, Stuttgart 1988, S. 408-418, 413. 3 Georg Lukács: Die Zerstörung der Vernunft (zuerst 1954). Ausgabe in drei Bänden, Neuwied 1974, Bd. 3, S. 62, 67.
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machen“.4 Auch Ernst Nolte, der dem zunächst entgegenhielt, dass der historische Ort Webers eher bei der Alternative zum Faschismus zu finden sei – der ‚bürgerlichen oder europäischen Synthese‘ – relativierte diesen Gedanken im Zuge einer zweiten Überlegung, die in Webers skeptischer Sicht des Rationalisierungsprozesses eine Schwäche ausmachte, welche in ihrem Ausgangspunkt – dem lebensphilosophischen Irrationalismus – „eine unübersehbare Verwandtschaft mit einem der wichtigsten Keime der faschistischen Konzeption“ aufweise.5 Noltes Vorschlag, den Kernsatz von Mommsens Befund leicht zu modifizieren, fand dessen Zustimmung. In der zweiten Auflage lautete die Formulierung: „... das deutsche Volk zur Akklamation eines Führers, und insofern auch Adolf Hitlers, innerlich willig zu machen“.6 Die hier skizzierten Entwürfe, die sich vor allem gegen den vermeintlichen Irrationalismus Webers richten, sind seitdem vielfach wiederholt, variiert und nicht selten auch vergröbert worden, etwa wenn dem CharismaKonzept attestiert wird, es führe geradezu zwangsläufig zum Totalitarismus faschistischer Prägung und sei ‚latent faschistisch‘.7 In der englischsprachigen Forschung werden bis heute mit der Bezeichnung „weberian“ vornehmlich Ansätze verbunden, die die antimodernen, vorindustriell-reaktionären Züge des Faschismus betonen.8 Aber auch das Gegenteil, Webers Rationalismus, konnte zum Anlass werden, seine Soziologie in die Nähe des Faschismus bzw. Nationalsozialismus zu rücken. So las der amerikanische Theologe Richard L. Rubenstein aus Webers politischer Soziologie eine Antizipation des Holocaust heraus, der sich exakt nach Webers Modell der rationalen Bürokratie vollzogen habe. Indem er dies mit der Behauptung verband, aus der von Weber vorgeschlagenen Idealtypik heraus seien die Taten der Nationalsozialisten nicht notwendig als Gräuel zu bezeichnen, machte Ruben4
Wolfgang J. Mommsen: Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920, Tübingen 1959, S. 410. 5 Ernst Nolte: Max Weber vor dem Faschismus, in: Der Staat 1, 1963, S. 1-24, 24. 6 Wolfgang J. Mommsen: Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920, Tübingen 1974², S. 437. 7 Kurt E. Becker: ‚Der römische Cäsar mit Christi Seele‘. Max Webers Charisma-Konzept: Eine systematisch-kritische Analyse unter Einbeziehung biographischer Fakten, Frankfurt 1988. Vgl. auch Rongfen Wang: Cäsarismus und Machtpolitik. Eine historisch-biobibliographische Analyse von Max Webers Charismakonzept, Berlin 1997. 8 Vgl. Kevin Passmore: Fascism. A Very Short Introduction, Oxford und New York 2002, S. 17.
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stein aus Weber nachgerade einen Vordenker des NS – eine Annahme, die sich der Soziologe Zygmunt Bauman zwar nicht explizit zu eigen machte, wohl aber implizit, indem er in der von Rubenstein ausgelösten Debatte Partei gegen dessen Kritiker Günther Roth ergriff.9 Angesichts solch heftiger Vorwürfe, die mit einer verbreiteten Antipathie gegen Weber quer durch alle politischen Lager einhergingen,10 überrascht es nicht, dass sein Werk bis heute in Übersichtsdarstellungen zur Faschismustheorie weitgehend abwesend ist und allenfalls hier und da unter methodischen Gesichtspunkten eine kurze Erwähnung findet.11 Wenn dennoch hin und wieder Webersche Typen zum Einsatz kamen, so in einem synkretistischen Rahmen, in dem sie anderen Deutungsmustern subordiniert waren. Das gilt für den frühen Vergleich zwischen italienischem Faschismus und deutschem Nationalsozialismus durch den Frankfurter Soziologen Heinz Marr, der Max Weber als seinen Lehrer bezeichnet, sich aber ebenso an Tönnies und Schmalenbach wie an der Parteisoziologie Sigmund Neumanns orientiert und dies auch noch mit völkischen Ideologemen verbindet.12 Es gilt für die ebenfalls noch in der 30er Jahren entstan9 Vgl. Richard L. Rubenstein: Anticipations of the Holocaust in the Political Sociology of Max Weber, in: L. H. Legters (Hrsg.): Western Society after the Holocaust, Boulder 1983, S. 165-183; Zygmunt Bauman: Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 1992, S. 23 f. 10 Vgl. Gangolf Hübinger, Jürgen Osterhammel und Wolfgang Welz: Max Weber und die wissenschaftliche Politik nach 1945. Aspekte einer theoriegeschichtlichen Nicht-Rezeption, in: Zeitschrift für Politik 37, 1990, S. 181-204. 11 Vgl. z.B. Richard Saage: Faschismustheorien. Eine Einführung, München 1976; Hans-Ulrich Thamer und Wolfgang Wippermann: Faschistische und neofaschistische Bewegungen. Probleme empirischer Faschismusforschung, Darmstadt 1977; Edda Saccomani: Le interpretazioni sociologiche del fascismo, Torino 1977; Interpretazioni del fascismo. A cura di Costanzo Casucci, Bologna 1982; Reinhard Kühnl: Faschismustheorien. Ein Leitfaden, Heilbronn 1990. Enzo Collotti: Fascismo, fascismi, Firenze 1989, verweist kurz auf Weber bei der Besprechung von Deutungen, die das NS-Regime als System polykratischer Herrschaft verstehen (S. 74). Im Zusammenhang methodologischer Fragen wird Weber erwähnt bei: Wolfgang Wippermann: Faschismustheorien. Die Entwicklung der Diskussion von den Anfängen bis heute, 7. überarb. Aufl., Darmstadt 1997, S. 109; Marco Tarchi: Fascismo. Teorie, interpretazioni e modelli, Roma und Bari 2003, S. 14, 107, 172; Zeev Sternhell: Morphology of Fascism in France, in: Brian Jenkins (Hrsg.): France in the Era of Fascism. Essays on the French Authoritarian Right, New York und Oxford 2005, S. 22-64, 57. 12 Vgl. Heinz Marr: Die Massenwelt im Kampf um ihre Form. Zur Soziologie der deutschen Gegenwart, Hamburg 1934, S. 487 ff. Zu Marr (1876-1940) vgl. Carsten Klingemann: Soziologie im Dritten Reich, Baden-Baden 1996, S. 105 ff.
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dene, jedoch erst 1941 in den USA erschienene Studie Ernst Fraenkels über den „Doppelstaat“, die die NS-Bewegung als ‚charismatische Revolution‘ deutet und eine ‚Veralltäglichung des Charismas‘ konstatiert,13 sich dabei aber so eng an die Vorgaben der auf Marx zurückgehenden Bonapartismustheorie hält, dass man mit Recht von der „‚marxistischsten‘ Schrift Fraenkels“ gesprochen hat.14 Es gilt für Franz Neumanns meisterhafte Analyse des Spannungsverhältnisses zwischen charismatischer Führerpartei und rationaler Staatsbürokratie, deren Schwerpunkte gleichwohl in einer marxistisch inspirierten Theorie des totalitären Monopolkapitalismus liegen.15 Und es gilt für Talcott Parsons’ während des Krieges verfasste Skizzen und Memoranden zum Nationalsozialismus, die zwar mit dem Typus der charismatischen Bewegung arbeiten, diesen aber in einen Durkheimschen, auf „Integration“ und „Reintegration“ fixierten Bezugsrahmen einbauen.16 Dass eine Untersuchung ganz ohne Anleihen bei anderen Autoren auskommt und nur mit Weberschen Instrumenten arbeitet, wie Hans Gerth dies getan hat,17 war und blieb für lange Zeit eine Ausnahme.
13 Vgl. Ernst Fraenkel (1938): Der Urdoppelstaat, in ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2, hrsg. von Alexander von Brünneck, Baden-Baden 1999, S. 267-474; Der Doppelstaat (1941), ebd., S. 33-266, 250. 14 Rudolf Wolfgang Müller: „...wenn es morgens um 6 klingelte, war es der Milchmann.“ Ernst Fraenkel und die West-Berliner Studentenbewegung 1967, in: Hubertus Buchstein und Gerhard Göhler (Hrsg.): Vom Sozialismus zum Pluralismus. Beiträge zu Werk und Leben Ernst Fraenkels, Baden-Baden 2000, S. 97-114, 104. Zur Bedeutung der Bonapartismustheorie für Fraenkel vgl. Stefan Breuer: Ernst Fraenkel und die Struktur faschistischer Herrschaft. Zur Kritik der Doppelstaats-These, in: Hartmut Aden (Hrsg.): Herrschaftstheorien und Herrschaftsphänomene, Wiesbaden 2004, S. 39-53. 15 Vgl. Franz Neumann: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944. Köln und Frankfurt 1977. Zu Neumann näher: Jürgen Bast: Totalitärer Pluralismus. Zu Franz L. Neumanns Analysen der politischen und rechtlichen Struktur der NS-Herrschaft, Tübingen 1999. 16 Vgl. Uta Gerhardt (Hrsg.): Talcott Parsons on National Socialism, New York 1993, z. B. S. 170 f. Zu Parsons’ Weber-Rezeption nach wie vor erhellend: Jere Cohen, Lawrence E. Hazelrigg, Whitney Pope: De-Parsonizing Weber: A Critique of Parsons’ Interpretation of Weber’s Sociology, in: American Sociological Review 40, 1975, S. 229-241 sowie die daran anschließende Debatte. 17 Vgl. Hans Gerth: The Nazi Party: Its Leadership and Composition, in: The American Journal of Sociology XLV, 1940, S. 517-541.
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Sieht man von einigen vereinzelten Ansätzen in den 60er Jahren ab,18 so ist erst seit den 80er Jahren im Feld der Faschismusstudien ein breiteres Interesse an Max Weber erkennbar. Bahnbrechende Bedeutung kam hierbei einem Aufsatz von Mario R. Lepsius zu, der überzeugend vorführte, wie sich die in der historischen Forschung dominierenden kontroversen Deutungen des NS-Regimes als Monokratie oder Polykratie mithilfe des Charisma-Konzepts vermitteln ließen.19 Weitere wichtige Impulse steuerte Ian Kershaw bei, der in Webers Herrschaftstypologie einen möglichen „Konzentrationspunkt“ einer zukünftigen Analyse des Nationalsozialismus sah und dieses Programm in seinen folgenden Arbeiten einlöste.20 Nachhaltige Unterstützung für das, was später das „Weber-Paradigma“ genannt wurde, kam schließlich durch Hans-Ulrich Wehler, der seine seit 1987 erscheinende Deutsche Gesellschaftsgeschichte um Webersche Kategorien organisierte. Das Kapitel über das NS-Regime im vierten Band stellte er unter die Überschrift „Charismatische Herrschaft und deutsche Gesellschaft im ‚Dritten Reich‘“. 21 Welche Vorzüge ein derartiges Vorgehen gegenüber der lange Zeit dominierenden Faschismussicht der Kritischen Theorie besitzt, wurde 1994 in einer vergleichenden Untersuchung von Michael Schäfer demonstriert.22 Wie diese Hinweise zeigen, beschränkte sich die Wiederentdeckung Max Webers auf den Nationalsozialismus. Die – interessanterweise in Deutschland stärker als in Italien entwickelte – vergleichende Forschung
18 Vgl. Wolfgang Sauer: Die Mobilmachung der Gewalt (1960), in: Karl-Dietrich Bracher u. a.: Die nationalsozialistische Machtergreifung, 3 Bde., Frankfurt etc. 1974; Joseph Nyomarkay: Charisma and Factionalism in the Nazi Party, Minneapolis 1967. 19 Vgl. Mario Rainer Lepsius: Charismatic Leadership: Max Weber’s Model and its Applicability to the Rule of Hitler, in: Carl F. Graumann und Serge Moscovici (Hrsg.): Changing Conceptions of Leadership, New York etc. 1986, S. 53-66; erw. dt. Fassung in ders.: Demokratie in Deutschland, Göttingen 1993, S. 95-118. 20 Vgl. Ian Kershaw: The Nazi Dictatorship: Problems and Perspectives of Interpretation, London 1985 (dt. Übers.: Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick, Reinbek 1988); Hitler, London 1991 (dt. Übers.: Hitlers Macht. Das Profil der NS-Herrschaft, München 1992); ‚Working towards the Führer‘: Reflections on the Nature of the Hitler Dictatorship, in ders. und Moshe Lewin (Hrsg.): Stalinism and Nazism: Dictatorships in Comparison, Cambridge 1997, S. 75-87. 21 Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 5 Bde., München 1987-2008. Bd. IV, 1914-1949, München 2003, S. 600 ff. 22 Vgl. Michael Schäfer: Die ‚Rationalität‘ des Nationalsozialismus. Zur Kritik philosophischer Faschismustheorien am Beispiel der Kritischen Theorie, Weinheim 1994.
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ging, von wenigen Ausnahmen abgesehen,23 methodisch andere Wege, indem sie entweder, wie Ernst Nolte, die Typenbildung auf die Unterscheidung von Prä-, Früh-, Normal- und Radikalfaschismus beschränkte und das Hauptaugenmerk auf das „Verständnis dieser Phänomene, wie sie sich von sich aus darstellen“, richtete,24 oder, wie Wolfgang Schieder, sich um die Entwicklung eines „Realtyps“ bemühte.25 In Italien andererseits konzentrierte sich die rege Weber-Forschung (Pietro Rossi, Realino Marra, Sandro Segre, Luigi Capogrossi Colognesi u. a.) auf andere Gebiete und strahlte deshalb kaum auf die Faschismusforschung aus, die lange Zeit von marxistischen Ansätzen beherrscht blieb, bevor Renzo de Felice mit seinen Interventionen das Feld umpflügte. De Felice aber hielt zur Soziologie Abstand und kultivierte einen Historismus, der den italienischen Faschismus mehr und mehr als schlechterdings singuläres Ereignis erscheinen ließ.26 Erst sein in Sachen Faschismus bedeutendster Schüler, Emilio Gentile, öffnete sich stärker der Soziologie und lieferte wichtige Stichworte für die Typologie, indem er den Faschismus aus der „kollektiven Efferveszenz“ der Kriegsund Nachkriegszeit entspringen ließ und ihm „palingenetische“, d.h. eine Wiedergeburt der Gesellschaft bzw. der Nation bewirkende Qualitäten zu23
Vgl. Stefan Breuer: Faschismus in Italien und Deutschland, in: Leviathan 11, 1983, S. 28-54 sowie: Zeitgeschichte 9/10, 1983, S. 341-369; Maurizio Bach: Die charismatischen Führerdiktaturen. Drittes Reich und italienischer Faschismus im Vergleich ihrer Herrschaftsstrukturen, Baden-Baden 1990. 24 Vgl. Ernst Nolte: Der Faschismus in seiner Epoche. Die Action française. Der italienische Faschismus. Der Nationalsozialismus, 5. Aufl., München und Zürich 1979, S. 48 und 53. 25 Vgl. Wolfgang Schieder: Faschismus, in: Fischer Lexikon Geschichte, hrsg. von Richard van Dülmen, Frankfurt 2003, S. 199-221, 205. In der Einleitung zu seinen gesammelten Aufsätzen zum Thema rückt Schieder zwar vom Konzept des Realtypus ab, bleibt aber insofern auf Distanz zu Weber, als er dem aus einer „beliebig großen Menge von Einzelerscheinungen zu einem konsistenten ‚Gedankenbild‘“ zusammengesetzten Idealtypus ein Konstrukt entgegenstellt, dessen Elemente sich empirisch nachweisen lassen: Faschistische Diktaturen. Studien zu Italien und Deutschland, Göttingen 2008, S. 17. In seinen methodologischen Arbeiten, das ist zuzugeben, äußert sich Weber mitunter überspitzt, so dass diese Distanzierung nachvollziehbar ist. In seiner Forschungspraxis verfährt Weber jedoch genau so, wie Schieder es fordert. Schieders Beiträge gehören im Übrigen zum Besten, was die vergleichende Faschismusforschung bislang hervorgebracht hat und werden deshalb in diesem Buch immer wieder herangezogen. 26 Vgl. Renzo de Felice: Le interpretazioni del fascismo, Bari 1995 (zuerst 1969). Zur Entwicklung von De Felices Faschismusdeutung vgl. Jens Petersen und Wolfgang Schieder: Das faschistische Italien als Gegenstand der Forschung, in dies. (Hrsg.): Faschismus und Gesellschaft in Italien. Staat, Wirtschaft, Kultur, Köln 1998, S. 9-19.
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schrieb.27 In der anglophonen Forschung, die sich seit längerem am intensivsten um ein generisches Faschismuskonzept bemüht, sind diese Anregungen vor allem von Roger Griffin aufgenommen worden, der den Faschismus als revolutionäre Spielart eines im frühen 20. Jahrhundert entstandenen politischen Modernismus deutet, „whose mission is to combat the allegedly degenerative forces of contemporary history (decadence) by bringing about an alternative modernity and temporality (a ‚new order‘ and a ‚new era‘) based on the rebirth, or palingenesis, of the nation.”28 Aus diesem Forschungsstrang sind bedeutende Arbeiten entstanden, die das Wissen über den Faschismus bereichert haben, und zwar sowohl im historischen Detail wie in vergleichender Perspektive. Von Gentiles Geschichte der faschistischen Partei in Italien oder seinen Studien zur politischen Liturgie des Faschismus kann man nur mit ebenso großem Respekt sprechen wie von Griffins heroischen Bemühungen um einen für komparatistische Zwecke geeigneten Idealtypus. Dennoch ist festzuhalten, dass eine Deutung, die sich an kollektiver Efferveszenz und Palingenesis orientiert, auf anderen Voraussetzungen aufbaut als denjenigen Max Webers. Die Konzepte stammen, wie am deutlichsten bei Gentile zu erkennen,29 aus der Soziologie Emile Durkheims, die, sehr im Unterschied zu Max Weber, um „Gesellschaft“ als umfassende, wie immer auch differenzierte und funktional gegliederte Ganzheit und Einheit kreist, um ein Kollektiv, das über bestimmte Kollektivvorstellungen, über ein Kollektivbewusstsein verfügt und dies in bestimmten, die einzelnen verpflichtenden Praktiken und Ritualen betätigt. Wobei, auch dies ein charakteristisches Merkmal der École durkheimienne, Gesellschaft so stark auf Religion und deren Substitute bezogen ist,
27 Vgl. Emilio Gentile: Le origini dell’ideologia fascista (1918-1925), Bologna 1996, S. 20: „Il fascismo come ideologia, come partito e come regime, fu la prima manifestazione d’un nuovo nazionalismo rivoluzionario e totalitario, mistico e palingenetico, al quale si ispirarono altri movimenti e regimi sorti in Europa fra le due guerre, ciascuno attando alla propria specifità nazionale il modello fascista.” 28 Roger Griffin: Modernism and Fascism. The Sense of a Beginning under Mussolini and Hitler, Houndmills, Basingstoke 2007, S. 181. 29 Vgl. Emilio Gentile: Storia del partito fascista 1919-1922. Movimento e Milizia, Roma und Bari 1989, S. 36; ders.: The Sacralization of Politics in Fascist Italy, Cambridge, Mass. und London 1996, S. 20; Fascismo. Storia e interpretazione, Roma und Bari 2002, S. 232; The Struggle for Modernity, Westport, Conn. und London 2003, S. 53 und 70; Politics as Religion, Princeton und Oxford 2006, S. 8 ff.
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dass beide kaum voneinander zu trennen sind.30 Alle diese Voraussetzungen bleiben auch dann in Kraft, wenn man, wie es bei Griffin geschieht, die Gesellschaft im Sinne Durkheims durch die „Communitas“ im Sinne Victor Turners ersetzt, die durch „liminoide“ Praktiken die kulturellen Fundamente für eine alternative Modernität zu legen versucht.31 Wird doch von den liminoiden Übergangsriten ausdrücklich gesagt: „it is society as a whole that enters the stage of liminal separation, and the outcome is not society’s reaggregation but its rebirth in a new form.”32 Natürlich ist dies nicht völlig unvereinbar mit einer Soziologie, die den Begriff der charismatischen Herrschaft kennt und diese mit Krise, Außeralltäglichkeit und Erneuerung assoziiert. Griffins Vorschlag, den Faschismus als „essentially charismatic type of political force“ zu verstehen,33 ist von hier aus wohl begründet und ein Ansatzpunkt für eine mögliche Verständigung. Problematisch ist jedoch, dass diese Deutung so stark mit Kollektivbegriffen operiert. Faschismus erscheint hier als Veranstaltung eines durch ‚primordiale‘, archetypische, prädiskursive und präreflexive Dispositionen bestimmten Kollektivsubjekts, das aus historischen Gründen mit der modernen Nation zusammenfällt und sich deshalb nicht mehr in einer politischen Religion, sondern in einem politischen Mythos artikuliert, einem Residuum im Sinne Paretos, das durch verschiedene und z. T. heterogene Derivate interpretiert werden kann, im Kern aber nationalistisch, ja „ultranatio-
30 Vgl. Volkhard Krech und Hartmann Tyrell: Religionssoziologie um die Jahrhundertwende, in dies. (Hrsg.): Religionssoziologie um 1900, Würzburg 1995, S. 11-79, 48 f. 31 Victor Turner hat sein Konzept liminaler bzw. liminoider Schwellenzustände, in denen eine Gesellschaft temporär ihr Rollengefüge aufhebt, an Stammesgesellschaften und ihren Ritualen gebildet und damit eine Linie fortgesetzt, die schon für Durkheim charakteristisch ist: Die „kollektive Efferveszenz“ ist dem „corrobori“ der australischen Aborigines abgeschaut. Vgl. Emile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt 1981, S. 296 ff. Von Turner vgl. vor allem: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt und New York 1989; Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt und New York 1989. Welche Kluft diese Linie, trotz mancher Gemeinsamkeiten, von der Soziologie Max Webers trennt, betonen gegenüber Durkheim: Friedrich H. Tenbruck: Emile Durkheim oder die Geburt der Gesellschaft aus dem Geist der Soziologie, in ders.: Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft. Der Fall der Moderne, 2. Aufl., Opladen 1990, S. 187-211; gegenüber Turner: Winfried Gebhardt: Charisma als Lebensform. Zur Soziologie des alternativen Lebens, Berlin 1994, S. 182 ff. 32 Griffin 2007 (wie Anm. 28), S. 105. 33 Roger Griffin: The Nature of Fascism, London 1991, S. 42.
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nalistisch“ ist.34 Das aber ist nicht nur eine Apriori-Festlegung auf Einheit, auf Integration bzw. Reintegration, die dazu zwingt, damit nicht kompatible Motive wie z. B. den Rassismus in Attribute des Nationalismus umzudeuten, es ist zugleich eine tendenzielle Identifizierung von Faschismus und nationaler Gesellschaft, die durchaus folgerichtig auf eine Variante der Totalitarismustheorie hinausläuft und damit all deren Schwächen teilt,35 im Übrigen auch, wie zu Recht moniert worden ist, zu einem viel zu großen Begriffsumfang führt, der es nicht mehr erlaubt, zwischen Faschismus und Nationalismus zu unterscheiden.36 Max Weber mag mit seiner Aversion gegen Kollektivbegriffe mitunter übers Ziel hinausgeschossen sein. Seine Insistenz darauf, nicht von ‚Gesellschaft‘, sondern allenfalls von ‚Vergesellschaftungen‘, nicht von ‚Gemeinschaft‘ (communitas), sondern von ‚Vergemeinschaftungen‘ zu sprechen, hat ihn jedenfalls vor derartigen Vorentscheidungen auf analytischer Ebene bewahrt.37 Ziel dieses Bandes ist es, deutlich zu machen, dass die in der deutschen, auf den Nationalsozialismus bezogenen Forschung bewährten (wenn auch sicherlich nicht unumstrittenen) Kategorien Max Webers auch für vergleichende Untersuchungen fruchtbar sein können, mehr noch: dass sie die Basis für einen faschistischen Idealtypus abzugeben vermögen, der im Unterschied zu den bisherigen Vorschlägen darauf setzt, Spannungsverhältnisse und Inkompatibilitäten sichtbar zu machen, ohne darüber das Moment bzw. die Momente der Einheit aus den Augen zu verlieren. In der ersten Studie liegt der Akzent auf einer Prüfung der begrifflichen Elemente, die für einen solchen Idealtypus in Frage kommen. Der anschließende Exkurs soll auf wie immer auch kursorische Weise das Potential dieses Typus für komparatistische Zwecke verdeutlichen. Die beiden folgenden Studien verlagern den Schwerpunkt auf historisch-empirische Analysen zum 34
Vgl. ebd., S. 30 ff. Vgl. Emilio Gentile: La via italiana al totalitarismo: Il partito e il stato nel regime fascista, Roma 1995; Griffin 2007 (wie Anm. 28), S. 220, 267, 271 u.ö. 36 Vgl. Michel Dobry: La thèse immunitaire face aux fascismes. Pour une critique de la logique classificatoire, in ders. (Hrsg.): Le mythe de l’allergie française au fascisme, Paris 2003, S. 17-67, 57; Roger Eatwell: Introduction: New Styles of Dictatorship and Leadership in Interwar Europe, in: António Costa Pinto u. a. (Hrsg.): Charisma and Fascism in Interwar Europe, Abingdon 2007, S. XXI-XXXI, XXV; Schieder 2008 (wie Anm. 25), S. 14. 37 Vgl. Hartmann Tyrell: Max Webers Soziologie – eine Soziologie ohne ‚Gesellschaft‘, in: Gerhard Wagner und Heinz Zipprian (Hrsg.): Max Webers Wissenschaftslehre, Frankfurt 1994, S. 390-414. 35
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fascismo movimento, wohingegen die vier letzten sich auf den fascismo regime konzentrieren. Der erste Text ist die erheblich erweiterte Fassung eines 2008 in den Max Weber Studies erschienenen Aufsatzes, die vier letzten Kapitel sind dem 1990 publizierten Buch über Die charismatischen Führerdiktaturen entnommen und überarbeitet und aktualisiert worden. Die übrigen Texte sind bisher nicht veröffentlicht. Die ersten vier Texte wurden von Stefan Breuer, die folgenden von Maurizio Bach verfasst.38
38 Die Verfasser bedanken sich bei Anja Wilbrandt für die zuverlässige und sorgfältige Unterstützung bei der Herstellung des Manuskripts.
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Das faschistische Minimum. Bausteine zu einem Idealtyp des Faschismus
I. Sich dem Faschismus mit den begrifflichen Mitteln Max Webers zu nähern, heißt, ihn als Idealtyp zu denken.1 Idealtypen sind Gedankenbilder, die „aus einzelnen der geschichtlichen Wirklichkeit zu entnehmenden Bestandteilen allmählich komponiert werden“, Konstrukte, die gewonnen werden „durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen“.2 Welcher Gesichtspunkt, so ist deshalb zunächst zu fragen, könnte dafür taugen, die Basis für einen Idealtyp des Faschismus abzugeben? Ein beachtlicher Teil der neueren Forschung, aber auch schon der Akteure selbst, hält dafür den Begriff der „Bewegung“ parat. Hatte noch der sozialistische Mussolini in der Partei das unverzichtbare Instrument moderner Massenpolitik gesehen, so vollzog er mit der Abkehr vom PSI zugleich die Hinwendung zu einer gegen die Parteien wie gegen den Parlamentarismus gerichteten neuen Form der politischen Willensbildung, der Bewegung (movimento). Als solche deklarierte er die im Januar 1915 vom Popolo d’Italia initiierten Fasci d’azione rivoluzionaria wie auch die vier Jahre später gegründeten Fasci di combattimento, die er explizit als „Antipartei“ titulierte.3 1
Vgl. in diesem Sinn auch Roger Griffin: The Nature of Fascism, London 1991, S. 8 ff. Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 6. Aufl., hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1972, S. 30; Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 4. Aufl., hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1973, S. 191. 3 Vom „movimento ‚fascista‘“ ist bspw. in einem Artikel vom 9.4.1915 die Rede: vgl. Benito Mussolini: Assoldati da Bülow, in: Opera omnia di Benito Mussolini, a cura di Edoardo e Duilio Susmel (im folgenden kurz O.o.), Bd. 7, Firenze 1956, S. 317. Zum „antipartito“ vgl. 2
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„Der Faschismus“, so die viel zitierte Formel vom März 1921, „ist keine Kirche; er ist viel eher ein Trainingsplatz. Er ist keine Partei; er ist eine Bewegung“.4 Auch bei den frühen Nationalsozialisten dominierte eine starke Reserve gegenüber dem Parteibegriff. Auch hier sah man sich lieber als Bewegung, sei es, wie beim Gründer der DAP, Anton Drexler, als Teil der größeren „völkischen“ Bewegung, die sich seit dem Scheitern der Antisemitenparteien des Kaiserreichs von der Organisationsform Partei wie auch von aller Parteipolitik abgrenzte,5 sei es, wie bei Hitler, als eigene, „nationalsozialistische“ Bewegung, die von der völkischen Bewegung deutlich unterschieden sei.6 Dieses Selbstverständnis berührt sich in vielem mit der in der neueren Bewegungsforschung verbreiteten Ansicht, der zufolge man es bei Bewegungen mit einer Form des nichtinstitutionalisierten kollektiven Handelns zu tun hat, deren Konstitutions- und Selektionsprinzipien nur im Gegensatz zu denjenigen von Organisationen wie politischen Parteien, Interessenverbänden oder Vereinen erfasst werden können.7 Auf dieser Linie liegt etwa der Vorschlag, den Bewegungscharakter des italienischen Faschismus an Emilio Gentile: Storia del partito fascista 1919-1922. Movimento e Milizia, Roma und Bari 1989, S. 3 ff., 13. 4 Benito Mussolini: Dopo due anni, in: O.o., Bd. 16, Firenze 1955, S. 211-213, 212. 5 Vgl. Uwe Puschner: Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001, S. 270 ff. Zu Drexlers Selbstverständnis vgl. seinen Brief an Gottfried Feder vom 13.2.1921, in: Werner Maser: Der Sturm auf die Republik. Frühgeschichte der NSDAP, Düsseldorf etc. 1994, S. 485. 6 Vgl. dazu in diesem Band: Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung im Bewegungsfaschismus. 7 Rudolf Heberle: Hauptprobleme der politischen Soziologie, Stuttgart 1967, S. 10; John Wilson: Introduction to Social Movements, New York 1973, S. 268. Vgl. ähnlich Charles Tilly: Social Movements, Old and New, in: Louis Kriesberg (Hrsg.): Research in Social Movements, Conflict and Change, vol. 10, Greenwich, CT 1988, S. 1-18; Pamela Oliver: Bringing the Crowd Back, in: The Nonorganizational Elements of Social Movements, ebd., vol. 11, 1989, S. 1-30; Heinrich W. Ahlemeyer: Soziale Bewegungen als Kommunikationssystem. Einheit, Umweltverhältnis und Funktion eines sozialen Phänomens, Opladen 1995, S. 43, 130; Kai-Uwe Hellmann und Ruud Koopmans (Hrsg.): Paradigmen der Bewegungsforschung. Entstehung und Entwicklung von Neuen Sozialen Bewegungen und Rechtsextremismus, Opladen und Wiesbaden 1998; Dieter Rucht: Rechtsradikalismus aus der Perspektive der Bewegungsforschung, in: Handbuch Rechtsextremismus, hrsg. von Thomas Grumke und Bernhard Wagner, Opladen 2002, S. 75-86; Donatella della Porta und Mario Diani: Social Movements. An Introduction, Malden etc. 2006², S. 25; Andreas Klärner: Zwischen Militanz und Bürgerlichkeit. Selbstverständnis und Praxis der extremen Rechten, Hamburg 2008, S. 39 ff.
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Merkmalen wie fehlender Organisation, Jugendlichkeit und rein personalistischer Beziehungen festzumachen,8 liegt die Verbuchung des Nationalsozialismus als Bewegung im Sinne einer Gesinnungsgemeinschaft, die „weder lokal noch regional und national eine dauerhafte organisatorische Einheit“ stiftet,9 liegt endlich auch eine Auffassung, die den „Grundstock des Faschismus“ aus einer „emotionale(n) Lava“, einer „Stimmung“, einem „Spektrum ‚mobilisierender Leidenschaften‘“ hervorgehen lässt.10 Im Lichte der Soziologischen Grundbegriffe Max Webers stellt sich der Faschismus anders dar. Die Kategorie der Bewegung kommt dort zwar nicht vor, doch ist unschwer zu erkennen, dass ihr möglicher Ort nur im Bereich der nach außen offenen sozialen Beziehungen, „(gleichviel ob Vergemeinschaftung oder Vergesellschaftung)“, sein kann – einem Bereich, der sich dadurch auszeichnet, dass „die Teilnahme an dem an ihrem Sinngehalt orientierten gegenseitigen sozialen Handeln, welches sie konstituiert, nach ihren geltenden Ordnungen niemand verwehrt wird, der dazu tatsächlich in der Lage und geneigt ist.“11 In diesem Sinne offen war der Faschismus zu keinem Zeitpunkt seiner Existenz. Schon für die Fasci di combattimento gilt, dass sie, bei allem Bemühen um die Gewinnung einer möglichst breiten Basis, keineswegs jedermann in ihre Reihen aufnahmen, vielmehr strenge Anforderungen an die Gesinnung, die Kampf- und Einsatzbereitschaft und die allgemeine Tauglichkeit für den Bürgerkrieg stellten. Die Zahl der Mitglieder einer Squadra war begrenzt, die Aufnahme vielfach an Empfehlungen und Bürgschaften geknüpft und mit Probezeiten verbunden. Manche Squadren hatten eigene Mitgliedsausweise, die Namen, Daten und Unterschrift des Inhabers verzeichneten. Auch der Eintritt wurde nicht dem Zufall überlassen, sondern wie ein Übergangsritual inszeniert und mit einer Vereidigungszeremonie besiegelt.12 Das alles entspricht einer geschlossenen
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Vgl. Wolfgang Schieder: Faschismus, in: Fischer Lexikon Geschichte, hrsg. von Richard van Dülmen, Frankfurt 2003, S. 199-221, 207. 9 Vgl. Dieter Hein: Partei und Bewegung. Zwei Typen politischer Willensbildung, in: Historische Zeitschrift 263, 1996, S. 69-97, 74 f. 10 Vgl. Robert Paxton: Anatomie des Faschismus, Stuttgart 2006, S. 66. Ähnlich schon Alan Cassels: Fascism, Arlington Heights 1975, S. 348. 11 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., hrsg. von Johannes Winckelmann, Studienausgabe, Tübingen 1976, S. 23. 12 Vgl. Sven Reichardt: Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln etc. 2002, S. 395 f., 399 f., 413.
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sozialen Beziehung im Sinne Max Webers, die die Teilnahme an ihr beschränkt und an Bedingungen koppelt.13 Aus der Perspektive der Soziologischen Grundbegriffe erscheinen die Fasci jedoch nicht nur als geschlossene soziale Beziehungsgefüge. Eine nach außen regulierend beschränkte oder geschlossene soziale Beziehung nennt Weber einen „Verband“, sobald „die Innehaltung ihrer Ordnung garantiert wird durch das eigens auf deren Durchführung eingestellte Verhalten bestimmter Menschen: eines Leiters und, eventuell, eines Verwaltungsstabes, der gegebenenfalls normalerweise zugleich Vertretungsgewalt hat.“14 Besteht die Chance für den Leiter, für seine Befehle bei den Verbandsmitgliedern Gehorsam zu finden, haben wir es mit einem „Herrschaftsverband“ zu tun. Vermag der Herrschaftsverband darüber hinaus die Geltung seiner Ordnungen für ein bestimmtes Gebiet „kontinuierlich durch Anwendung und Androhung physischen Zwangs“ zu garantieren, liegt der Fall eines „politischen Verbandes“ vor. 15 Für die ersten beiden Merkmale hat die dichte Beschreibung der Fasci und Squadren durch Sven Reichardt hinreichende Belege erbracht, und selbst für das dritte Merkmal gibt es Indizien, wenn man an die sich allmählich steigernde Fähigkeit zur Raumbeherrschung durch die Strafexpeditionen und Stadtbesetzungen, aber auch an die in vielen Städten Nord- und Mittelitaliens etablierten Doppelherrschaften denkt, bei denen der örtliche Faschistenhäuptling den kommunalen und staatlichen Autoritäten Anweisungen erteilt. Gewiss ist die organisatorische Verdichtung nicht überall gleich, sie ist auf dem Land deutlich lockerer als in der Stadt,16 doch spricht dies nicht für die Abwesenheit von Organisation, sondern für den bei Vergesellschaftungen und Vergemeinschaftungen häufig zu beobachtenden „Wechsel zwischen Propagierung und Schließung“, auf den Max Weber
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Vgl. Weber 1976 (wie Anm. 11), S. 23. Ebd., S. 26. Es ist streng genommen erst an dieser Stelle, dass nach Weber der Begriff „Organisation“ anzusetzen ist: „Bei allen Herrschaftsformen ist die Tatsache der Existenz des Verwaltungsstabes und seines kontinuierlich auf Durchführung und Erzwingung der Ordnungen gerichteten Handelns für die Erhaltung der Fügsamkeit vital. Die Existenz dieses Handelns ist das, was man mit dem Wort ‚Organisation‘ meint.“ (ebd., S. 154). Immerhin setzt aber auch schon die soziale Schließung als solche eine gewisse Kapazität zur Durchsetzung der Ordnung voraus, so dass der Übergang als flüssig anzusehen ist. 15 Ebd., S. 29. 16 Vgl. Adrian Lyttelton: The Seizure of Power. Fascism in Italy 1919-1929, London 1973, Paperback ed. 1988, S. 54 ff. 14
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hinweist.17 Das deutsche Pendant, die aus dem Ordnerdienst der NSDAP hervorgegangene „Sturmabteilung“, wurde von Hitler explizit als „Elite der Partei“ definiert, die sich durch „treueste Kameradschaft, straffste Disziplin und ein kampfesfreudiges Draufgängertum“ auszeichnen sollte und als „eine von der Ortsgruppen- und Parteileitung getrennt zu bearbeitende Sonderorganisation (!) innerhalb der nationalsozialistischen Bewegung“ definiert wurde.18 Das ist ersichtlich etwas anderes als das, was die sozialwissenschaftliche Bewegungsforschung mit ihrem Schlüsselbegriff verbindet. Es ist andererseits aber durchaus nahe an dem, was im 19. und frühen 20. Jahrhundert unter Bewegung verstanden wurde. So sahen sich beispielsweise die Liberalen lange Zeit als „Bewegungspartei“, setzten also Bewegung und Organisation keineswegs in eine disjunktive Beziehung.19 Auch die deutsche Jugendbewegung, die sich 1913 auf dem Hohen Meißner versammelte, sah sich selbst als ein Ensemble von Verbänden, das von der Deutschen Akademischen Freischar über den Dürerbund bis zum Wandervogel reichte,20 also Organisation nicht aus-, sondern einschloss. Versteht man Bewegung in diesem Sinne, als Vernetzung und Sammlung von bereits bestehenden, durchaus herrschaftlich strukturierten Vergesellschaftungen und Vergemeinschaftungen, gleichsam als Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung zweiter Ordnung, so spricht nichts dagegen, den Begriff auch auf den Faschismus anzuwenden. Die hieran anschließende Frage, ob man den fascismo movimento mit der Übertragung der politischen Macht enden lässt, wie die Formel vom fascismo regime bzw. fascismo governo nahe legt oder ob man eine Fortdauer des Bewegungscharakters anzunehmen hat, wie dies Renzo de Felice postuliert, mag hier auf sich beruhen bleiben.21 Worauf es an dieser Stelle ankommt, ist die 17
Weber 1976 (wie Anm. 11), S. 24. Vgl. die von Hitler verfassten Richtlinien zur Aufstellung einer Sturmabteilung vom 16.5. 1922 sowie die Allgemeinen Richtlinien bei Gründung einer SA vom 11.7.1923. Zit. n. Wolfgang Horn: Der Marsch zur Machtergreifung. Die NSDAP bis 1933, Königstein 1980, S. 71. 19 Vgl. Hein 1996 (wie Anm. 9), S. 81. 20 Vgl. den Zweiten Aufruf zum Treffen, in: Winfried Mogge und Jürgen Reulecke (Hrsg.): Hoher Meißner 1913. Der Erste Freideutsche Jugendtag in Dokumenten, Deutungen und Bildern, Köln 1988, S. 87. 21 Vgl. Enzo Santarelli: Storia del movimento e del regime fascista, 2 Bde., Roma 1967; Wolfgang Schieder: Faschistische Diktaturen. Studien zu Italien und Deutschland, Göttingen 2008, S. 18. Für Renzo De Felice: Der Faschismus. Ein Interview von Michael A. Ledeen, 18
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Feststellung, dass der Bewegungsbegriff auch in der spezifizierten Fassung für eine Typenbildung nicht genug hergibt, weil die auf dieser Ebene anzutreffenden Vergesellschaftungen und Vergemeinschaftungen ungeachtet ihrer Geschlossenheit doch zu heterogen sind. Der politischen Orientierung nach wiesen bspw. die italienischen Fasci nicht nur kaum Gemeinsamkeiten mit den völkischen Verbänden in Deutschland auf (man denke nur an Teilströmungen wie den Futurismus oder den revolutionären Syndikalismus, die den Völkischen gänzlich Anathema waren), sondern hielten selbst ihre Ziele nicht konstant. Viele städtische Fasci von 1919/20 waren sowohl hinsichtlich des Verhältnisses der Klassen und Schichten im Innern als auch hinsichtlich des Verhältnisses der Völker und Staaten von der für die politische Linke typischen Präferenz für Gleichheit geprägt und werden deshalb mit Recht als „linksnationalistisch“ eingestuft;22 der Agrarfaschismus dagegen, der sich in der zweiten Jahreshälfte 1920 durchzusetzen begann, war ein Rechtsradikalismus, der innenpolitisch auf dem Bündnis mit den Agrariern, außenpolitisch auf einem Bekenntnis zum Imperialismus beruhte, darüber hinaus einen kompletten Austausch des Personals bewirkte, so dass nicht einmal auf dieser Ebene Kontinuität besteht.23 Kurzum, die Voraussetzungen für einen Idealtypus sind hier nicht gegeben, verlangt dieser doch die Vereinigung „bestimmte(r) Beziehungen und Vorgänge des historischen Lebens zu einem in sich widerspruchslosen Kosmos gedachter Zusammenhänge“.24 Solche Schwierigkeiten stellen sich nicht, wenn man von dem ausgeht, was der Faschismus in der längsten Zeit seiner Existenz war: Partei. Klammert man die kurze und obendrein nur in Italien gegebene Phase aus, in der er dies nicht war, so gewinnt man gleich mehrere Vorteile. Erstens stellt sich das Problem des Widerspruchs auf der Gesinnungsebene nicht mehr, ist doch der Faschismus als Partei, wie weiter unten genauer zu zeigen sein wird, Stuttgart 1977, S. 33 ff. handelt es sich nicht um ein zeitliches Nacheinander, sondern um die Beziehung von Wesen (Bewegung) und Erscheinung (Regime), die bis zum Ende des Faschismus bestehen bleibt. In einer früheren Arbeit lässt auch Wolfgang Schieder aus allerdings anderen Gründen die Bewegungsphase erst mit Mussolinis Staatsstreich von 1925 und der anschließenden bürokratischen Vereinheitlichung der faschistischen Partei unter Farinacci und Turati zu Ende gehen: vgl. Der Strukturwandel der faschistischen Partei Italiens in der Phase der Herrschaftsstabilisierung, in ders. (Hrsg.): Faschismus als soziale Bewegung, 2. Aufl., Göttingen 1983, S. 69-96, 71 ff. 22 Vgl. Paxton 2006 (wie Anm. 10), S. 87. 23 Vgl. Renzo De Felice: Mussolini il rivoluzionario, Torino 1965, S. 519, 590 ff., 622 ff. 24 Weber 1973 (wie Anm. 2), S. 190. Hervorhebung von mir, S.B.
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durch eine einheitliche wertrationale Orientierung geprägt. Zweitens eröffnet sich die Möglichkeit, an die zwar knappe, aber präzise Parteitypologie Webers anzuknüpfen und damit die Grundlage für Differentialanalysen zu schaffen, sehr im Unterschied zum Bewegungsbegriff, der die Grenze zwischen faschistischen und nichtfaschistischen Phänomenen eher verschwimmen lässt. Drittens lässt sich an den so gewonnenen Typus fast alles anfügen, was die am Bewegungsbegriff orientierten Deutungen auf ihrer Haben-Seite verbuchen. Denn einen Verband wie die Partei als Resultat einer „Vergesellschaftung“ zu verstehen, einer rationalen Interessenwahrnehmung, schließt in der Soziologie Max Webers nicht aus, ihn auch als „Vergemeinschaftung“ aufzufassen, als eine soziale Beziehung, bei der die Einstellung des sozialen Handelns „auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht.“25 Das Prinzip der Widerspruchsfreiheit gilt für den Idealtypus, nicht für die Empirie, die durchaus durch die Kopräsenz antagonistischer Merkmale bestimmt sein kann.
II. Parteien sind nach Max Weber „auf (formal) freier Werbung beruhende Vergesellschaftungen mit dem Zweck, ihren Leitern innerhalb eines Verbandes Macht und ihren aktiven Teilnehmern dadurch (ideelle oder materielle) Chancen (der Durchsetzung von sachlichen Zielen oder der Erlangung von persönlichen Vorteilen oder beides) zuzuwenden“.26 Diese allgemeine Bestimmung bedarf allerdings sogleich der Spezifizierung, da sie nach Weber für Verbände aller Art gelten soll, wohingegen hier nur eine be25 Ebd., S. 21. Vgl. Klaus Lichtblau: ‚Vergemeinschaftung‘ und ‚Vergesellschaftung‘ bei Max Weber. Eine Rekonstruktion seines Sprachgebrauchs, in: Zeitschrift für Soziologie 29, 2000, S. 423-443, 438 f. 26 Weber 1976 (wie Anm. 11), S. 167. Zur Parteisoziologie Webers vgl. Dietrich Herzog: Max Weber als Klassiker der Parteisoziologie, in: Soziale Welt 17, 1966, S. 232-252; Sandro Segre: La sociologia dell’organizzazione del partito da Weber a Michels (1905-1913), in: Rassegna italiana di sociologia 30, 1989, S. 347-372; Cristiana Senigaglia: Analysen zur Entstehung der Massenparteien und zu ihrem Einfluss auf das Parlament: Ostrogorski, Michels, Weber, in: Parliaments, Estates and Representation 15, 1995, S. 159-184; Pier Paolo Portinaro: Amerika als Schule der politischen Entzauberung. Eliten und Parteien bei Max Weber, in: Edith Hanke und Wolfgang J. Mommsen (Hrsg.): Max Webers Herrschaftssoziologie, Tübingen 2001, S. 285-302.
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stimmte Verbandsart interessiert: der politische Verband, genauer: der Staat; und auch nicht der Staat schlechthin, sondern der moderne Staat, der Weber zufolge durch zwei Prozesse bestimmt ist: die Formierung des rationalen Anstaltsstaates und die ‚aktive Massendemokratisierung‘.27 Durch den zuerst genannten Prozess wird in der alltäglichen Gestaltung von Herrschaft bzw. Verwaltung das traditionale Honoratiorenregiment zurückgedrängt, das auch die politischen Parteien geprägt hat, so dass jetzt „an die Stelle des Pendelns zwischen einerseits charismatischer und andererseits honoratiorenmäßiger Obödienz (...) das Ringen des bürokratischen Betriebes mit der charismatischen Parteiführerschaft (tritt)“. 28 Durch den zweiten Prozess wird Politik generell aus einer Angelegenheit relativ eng gezogener sozialer Kreise zu einem Kampf, der durch die „Notwendigkeit der Massenwerbung und Massenorganisation“ bestimmt ist, womit nach Weber weiteren vormodernen Parteitypen der Boden entzogen wird, insbesondere den reinen Glaubensparteien und den persönlichen Gefolgschaften. „Den Parteien im modernen Sinn sind diese beiden Parteiarten, wo sie rein auftreten, normalerweise fremd.“29 Das gilt, wie der doppelte Vorbehalt anzeigt, freilich nur bedingt. Ist die Lage nicht normal, können Mischtypen, die die Merkmale älterer Parteiarten mit modernen Organisationsformen verbinden, durchaus wieder eine Chance erhalten – ein Gedanke, den es gerade mit Bezug auf die faschistischen Parteien im Auge zu behalten gilt. Von bleibender Bedeutung, auch vor dem Hintergrund der neueren Forschung,30 erweist sich Webers Parteisoziologie durch die klare Benen27 Zur aktiven Massendemokratisierung vgl. Max Weber: Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, in: Zur Politik im Weltkrieg, hrsg. von Wolfgang J. Mommsen und Gangolf Hübinger, Max Weber Gesamtausgabe (MWG) Bd. I/15, Tübingen 1984, S. 538. 28 Ders.: Wirtschaft und Gesellschaft. Herrschaft, hrsg. von Edith Hanke i. Z. mit Thomas Kroll, MWG Bd. I/22-4, Tübingen 2005, S. 509. 29 Ders.: Politik als Beruf, in: Wissenschaft als Beruf. Politik als Beruf, hrsg. von Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Schluchter i. Z. m. Birgitt Morgenbrod, MWG Bd. I/17, Tübingen 1992, S. 202; ders. 1976 (wie Anm. 11), S. 168. 30 Vgl. Rudolf Steininger: Max Webers Parteienkonzept und die Parteienforschung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 32, 1980, S. 54-75. Die meisten Typologien begnügen sich mit Kriterien wie Art und Zahl der Mitglieder oder „Linkagemechanismen“ zwischen Parteien und Bürgern: vgl. Thomas Poguntke: Parteiorganisation im Wandel. Gesellschaftliche Verankerung und organisatorische Anpassung im europäischen Vergleich, Wiesbaden 2000, S. 63 ff.; Klaus von Beyme: Funktionenwandel der Parteien in der Entwicklung von der Massenmitgliederpartei zur Partei der Berufspolitiker, in: Oscar W. Gabriel u. a. (Hrsg.): Parteiendemokratie in Deutschland, 2. Aufl., Wiesbaden 2002, S. 315-339. Der un-
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nung von drei Dimensionen, nach denen sich Parteien klassifizieren lassen. Parteien können erstens nach den Zielen unterschieden werden, für die sie politische Macht anstreben. Sie können zweitens nach den Mitteln gegliedert werden, die sie dabei bevorzugt einsetzen. Und sie können drittens nach den Organisationsprinzipien eingeteilt werden, die in ihnen dominieren. Nach der ersten Dimension können sie mehr Klassen- bzw. Ständepartei, mehr Weltanschauungs- oder mehr Patronagepartei sein. Nach der zweiten können sie mehr zu illegaler Gewaltsamkeit oder zu friedlicher Stimmenwerbung im Rahmen der Legalordnung tendieren. Nach der dritten können sie, hält man sich an die moderne Konstellation, mehr charismatisch oder mehr rational-bürokratisch strukturiert sein. Welche dieser Merkmale, so ist zunächst zu fragen, treffen auf faschistische Parteien zu? Lässt sich darüber hinaus eine besondere Merkmalskombination ausmachen, die so etwas wie ein „faschistisches Minimum“ (Ernst Nolte) ergibt bzw. den Typus der „faschistischen Partei“?31 Am einfachsten zu beantworten ist diese Frage für die bevorzugten Mittel. Mussolini ließ schon in seiner vorfaschistischen Zeit keinen Zweifel daran, dass ihm Gewalt gegen den politischen Gegner durchaus nicht als ultima ratio, sondern als probates Mittel der täglichen Auseinandersetzung galt. Im März 1915 beklagte er wortreich, dass die Fasci d’Azione noch nicht zu einer gewalttätigen Geste gefunden hätten und forderte sie auf, die üblichen Wege der Legalität („legalismo“) zu verlassen.32 Acht Wochen später wollte er bereits einige Dutzend Abgeordnete, die noch immer Italiens Eintritt in den Krieg im Wege stünden, erschießen lassen, und zwar vorzugsweise durch Schüsse in den Rücken.33 Hitler wiederum feierte seine „junge Bewegung“, die es verstanden habe, „gleich der faszistischen Bewegung in längst von Gunther und Diamond entwickelte Vorschlag unterscheidet zwar ähnlich wie Weber nach „organizational, programmatic and strategic criteria“, unterlässt es aber, sich des weiteren Differenzierungspotentials der Weberschen Parteisoziologie zu versichern: vgl. Richard Gunther und Larry Diamond: Species of Political Parties. A New Typology, in: Party Politics 9, 2003, S. 167-199. 31 Vgl. Ernst Nolte: Die faschistischen Bewegungen, 3. Aufl., München 1971, S. 294, 315; Wolfgang Schieder: Die NSDAP vor 1933. Profil einer faschistischen Partei, in: Geschichte und Gesellschaft 19, 1993, S. 141-154; Hans Mommsen: Die NSDAP: Typus und Profil einer faschistischen Partei, in: Christof Dipper u. a. (Hrsg.): Faschismus und Faschismen im Vergleich. FS Wolfgang Schieder, Köln 1998, S. 23-35. 32 Benito Mussolini: Verso l’azione (Il Popolo d’Italia, N. 71, 13.3.1915), in: O.o., Bd. 7, Firenze 1956, S. 251. 33 Vgl. ders.: Abbasso il parlamento! (Il Popolo d’Italia, N. 129, 11.5.1915), ebd., S. 376.
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Italien (...) selbst bei einer Minorität an Zahl durch rücksichtslosesten Kampfwillen den jüdisch-marxistischen Terror niederzubrechen.“34 Dieses Bekenntnis zur Gewalt konnte aus taktischen Gründen eingeschränkt werden, wie dies zumal für die NSDAP nach dem gescheiterten Putsch von 1923 galt, doch blieb es in der politischen Praxis nichtsdestoweniger bestimmend. Sowohl der PNF als auch die NSDAP haben sich an freien Wahlen beteiligt und im Rahmen der sogenannten Legalitätstaktik ihren Respekt vor dem staatlichen Gewaltmonopol bekundet. Sie haben zugleich mit den Squadre d’azione und der SA Kampfbünde unterhalten, die über Waffen verfügten, Strafexpeditionen gegen den politischen Gegner unternahmen und dessen Infrastruktur zerstörten. In Italien lag der Anteil der Kampfbündler an der faschistischen Gesamtbewegung im April 1922 zwischen einem Drittel und der Hälfte, in absoluten Zahlen ausgedrückt zwischen 73 000 bis 110 000; in Deutschland belief er sich wenige Wochen vor der Machtübernahme mit ca. 430 000 Mitglieder auf etwas mehr als die Hälfte. „Dieser Anteil der Miliz am Mitgliederbestand der Bewegung war ungewöhnlich hoch und wurde von keiner anderen politischen Gruppierung erreicht“.35 Entsprechend hoch fiel die Gewaltbilanz aus. Für Italien weist die amtliche Gewaltstatistik im Jahr 1920 und im ersten Halbjahr 1921 nahezu fünfhundert Tote und über zweitausend Verletzte auf, für Preußen liegt sie 1931/32 bei 190 Toten und fast 10 000 Verletzten. Die Wahlen in beiden Ländern vollzogen sich unter bürgerkriegsähnlichen Bedingungen,36 und auch nach der Etablierung der Regime riss die Gewalttätigkeit nicht ab, wie die Ermordung Matteottis oder die Liquidierung der SA-Führung und anderer potentieller Konkurrenten zeigt. Wägt man alles ab – den zahlenmäßigen Anteil der Kampfbünde an der Gesamtbewegung, die Rolle, die die Gewalt für das Image der Partei spielte, die Rückkoppelungseffekte, die die erfolgreiche Gewaltstrategie auf die Stimmenwerbung hatte –, dann wird man dem Urteil Sven Reichardts beistimmen müssen, dass es die Eigenschaft als 34 Adolf Hitler: Denkschrift (Ausbau der Nationalsoz. Deutschen Arbeiterpartei), in: Albrecht Tyrell: Führer befiehl... Selbstzeugnisse aus der ‚Kampfzeit‘ der NSDAP 1969, ND Bindlach 1991, S. 51 f. 35 Reichardt 2002 (wie Anm. 12), S. 254 f., 261. 36 Vgl. für Italien die Chronologie der politischen Gewalt in: Mimmo Franzinelli: Squadristi. Protagonisti e tecniche della violenza fascista 1919-1922, Milano 2004, S. 277 ff.; für Deutschland Dirk Blasius: Weimars Ende. Bürgerkrieg und Politik 1930-1933, Göttingen 2005.
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Gewaltsamkeitsorganisation war, die den Faschismus von den meisten anderen Parteien unterschied. Mit Emilio Gentile kann man auch von einem partito milizia sprechen.37 Die Bedingung der Möglichkeit hierfür ist nicht schwer auszumachen. Unmittelbar nach 1918 war weder der italienische noch der deutsche Staat imstande, das von ihm bis dahin behauptete Monopol der legitimen physischen Gewaltsamkeit durchzusetzen. Die italienische Regierung zeigte sich unfähig, die eskalierenden Sozialkonflikte unter Kontrolle zu bringen, die sich in Fabrik- und Landbesetzungen, also permanenten Rechtsbrüchen, äußerten. Ebenso ohnmächtig erschien sie gegenüber den Gewaltakten der Futuristen, etwa dem Überfall auf den Avanti im April 1919, oder den Desperados, die im September 1919 unter der Führung D’Annunzios Fiume eroberten und monatelang behaupteten – Erscheinungen, die mit einigem Recht als „proto-modelli dell’azione fascista“ gelten.38 In Deutschland entstanden im Gefolge der Novemberrevolution allenthalben Einwohnerwehren, Selbsthilfeorganisationen und Freikorps, deren gewaltförmige Aktivitäten von den staatlichen Autoritäten mangels Alternative lizenziert werden mussten.39 Es war somit nicht erst und nicht nur der Faschismus, der die Gewalt zu einer Erscheinung des politischen Alltags machte. Wohl aber war er es, der sie zu einem typischen Mittel der Parteipolitik erhob, das sich nicht ausschließlich, aber vorrangig gegen den Zugang anderer Parteien zur politischen Macht richtete. Die Gewalt der extremen Linken dagegen, insbesondere der Kommunisten, zielte mehr auf die staatlichen Apparate als solche 37
Vgl. Reichardt 2002 (wie Anm. 12), S. 74, 13 f.; Gentile 1989 (wie Anm. 3), S. 461 ff. Vgl. Jens Petersen: Das Problem der Gewalt im italienischen Faschismus, 1919-1925, in: Wolfgang J. Mommsen und Gerhard Hirschfeld (Hrsg.): Sozialprotest, Gewalt, Terror: Gewaltanwendung durch politische und gesellschaftliche Randgruppen im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1982, S. 325-348; Adrian Lyttelton: Faschismus und Gewalt: Sozialer Konflikt und politische Aktion in Italien nach dem Ersten Weltkrieg, ebd., S. 303-324; Gianni Grana: Il futur-arditismo e i proto-modelli dell’azione fascista, in: Il futurismo: aspetti e problemi, a cura di Romain H. Rainero, Milano 1993, S. 101-119. 39 Vgl. James M. Diehl: Paramilitary Politics in Weimar Germany, Bloomington 1977; KlausJürgen Müller und Eckardt Opitz (Hrsg.): Militär und Militarismus in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1978; Bernd Weisbrod: Gewalt in der Politik. Zur politischen Kultur in Deutschland zwischen den beiden Weltkriegen, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 43, 1992, S. 391-404; Andreas Wirsching: Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918-1933/39. Berlin und Paris im Vergleich, München 1999, S. 299 ff.; Dirk Schumann: Politische Gewalt in der Weimarer Republik 19181933. Kampf um die Straße und Furcht vor dem Bürgerkrieg, Essen 2001. 38
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und war im Übrigen auch kein unverzichtbares Mittel, wie die spätere Entwicklung zeigt. Die Rede vom Mittelcharakter der Gewalt ist freilich nicht in einem absoluten Sinne zu verstehen. Sie gilt für den Faschismus als Partei und damit: als Vergesellschaftung, die sachliche oder persönliche Ziele verfolgt. Für den paramilitärischen Arm ist dagegen, wie Sven Reichardt herausgearbeitet hat, eine Umkehrung der Zweck-Mittel-Relation typisch. Gewalt ist hier Lebensstil und -praxis, eine Form von emotionaler Vergemeinschaftung, die die Kameraderie befestigt, das interne Prestigesystem definiert, Macht- und Größenerlebnisse vermittelt sowie „in bestimmten Ritualen ästhetisiert und überhöht und zu einem positiven Wert stilisiert wird“.40 Sie ist darüber hinaus ein Handlungsfeld, in dem sich, mit Max Weber zu reden, „militärisches Charisma“ demonstrieren und akkumulieren lässt,41 das Charisma des Kriegshelden, der im Kampf jene Qualitäten manifestiert, um derentwillen er „als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem andern zugänglichen Kräften oder Eigenschaften [begabt] oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als ‚Führer‘ gewertet wird.“42 Der Erste Weltkrieg hatte zwar mehr als jeder andere Krieg zuvor „an Stelle der individuellen Heldenekstase, der Pietät, enthusiastischen Begeisterung und Hingabe an den Führer als Person, des Kultes der ‚Ehre‘ und der Pflege der persönlichen Leistungsfähigkeit als einer ‚Kunst‘“ die Disziplin „im Dienst des rational berechneten Optimum(s) von physischer und psychischer Stoßkraft der gleichmäßig abgerichteten Massen“ gesetzt.43 Doch hatte er zugleich eine neuartige militärische Avantgarde hervorgebracht, die, wie die Arditi der italienischen oder die Stoßtruppkämpfer der deutschen Armee, in Opferbereitschaft und Tollkühnheit an vormoderne Kriegsbruderschaften anknüpften.44 Es überrascht nicht, dass diese neue Generation von Kämpfern nach Friedensschluss keinen Geschmack am Zivilleben fand und jede Chance zur Wiederherstellung 40 Reichardt 2002 (wie Anm. 12), S. 696; vgl. auch S. 468, 528 u. ö. Ausführlicher dazu in diesem Band die Studie über „Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung im Bewegungsfaschismus“. 41 Weber 2005 (wie Anm. 28), S. 535. 42 Weber 1976 (wie Anm. 11), S. 140. 43 Weber 2005 (wie Anm. 28), S. 544. 44 Vgl. Pamela Ballinger: Blutopfer und Feuertaufe. Der Kriegerritus der Arditi, in: Hans Ulrich Gumbrecht u. a. (Hrsg.): Der Dichter als Kommandant. D’Annunzio erobert Fiume, München 1996, S. 175-202.
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der kriegerischen „Heroengemeinschaft“ (Max Weber) nutzte; wie es denn auch nicht überrascht, dass dieses Streben mit der faschistischen Machtübernahme keineswegs zum Stillstand kam und zur Quelle vielfältiger Enttäuschung und Unzufriedenheit wurde. Hierin, nicht so sehr im ideologisch begründeten Rassismus oder im Drang nach ‚objektloser Expansion‘,45 dürfte das Hauptmotiv liegen, weshalb die faschistischen Regime ihrerseits nach Gelegenheiten suchten, das aggressive Potential abzuleiten – eine Notwendigkeit, die sich um so dringender stellte, als sie in ihrer Selbstdarstellung den Mythos der squadristi und ‚alten Kämpfer‘ kultivierten und damit den Enthusiasmus für den Ausnahmezustand permanent neu anheizten.46 Nach einigem Experimentieren mit weniger befriedigenden Lösungen, wie dem Modell der Erzeugungsschlachten im Stil der battaglia del grano, drängte sich den Diktatoren rasch das nächstliegende Bewährungsfeld auf: das militärische Abenteuer, der Überfall, die Intervention. Schon vier Jahre nach der endgültigen Konsolidierung der faschistischen Herrschaft befand sich Italien in Libyen in einem regelrechten Krieg, während Hitler sogar nur zwei bis drei Jahre brauchte, um den Versailler Friedensvertrag in Fetzen zu zerreißen und Deutschland einen Vierjahresplan zu verordnen, der es kriegsfähig machen sollte. In seinem Vergleich zwischen Italien, Deutschland und Japan kommt Wolfgang Schieder deshalb mit Recht zu dem Schluss: „Nicht nur die Vorbereitung auf den Krieg, sondern der Krieg selbst gehörte zum Alltag aller drei Regime. Als faschistische Regime waren sie in erster Linie Kriegsregime.“47
III. Ebenfalls noch im Bereich des Unkontroversen dürfte die Feststellung liegen, dass in der Organisationsstruktur faschistischer Parteien charismatische Züge prävalieren, Züge also, die persönliche Beziehungen auf Kosten von sachlichen Beziehungen, Außeralltäglichkeit auf Kosten von Alltäglichkeit betonen. Zwar ist „Organisation“ im strengen Sinne „einer Ordnung von Menschen und Dingen nach dem Prinzip von Mittel und Zweck“ dem au45
So Schieder 2008 (wie Anm. 21), S. 406 ff. Vgl. Roberta Suzzi Valli: The Myth of Squadrismo in the Fascist Regime, in: Journal of Contemporary History 35, 2000, S. 131-150, 139 ff. 47 Schieder 2008 (wie Anm. 21)., S. 410. 46
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ßeralltäglichen Charakter charismatischer Herrschaft im reinen Typus entgegengesetzt. Gleichwohl beharrt Weber darauf, dass man es hierbei keineswegs mit einem „Zustand amorpher Strukturlosigkeit“ zu tun hat, sondern mit einer „ausgeprägte(n) soziale(n) Strukturform mit persönlichen Organen und einem der Mission des Charismaträgers angepaßten Apparat von Leistungen und Sachgütern“, so dass es denn doch angehen mag, cum grano salis von „charismatischen Organisationen“ zu sprechen.48 Der Glaube an das Charisma im Sinne einer außergewöhnlichen Kraft, die neben Kriegshelden vor allem auch Magiern, Propheten und Demagogen zugeschrieben wird, tritt nach Weber vorzugsweise in Krisenzeiten auf, in denen die herkömmliche Ordnung erschüttert ist und starke Affekte mobilisiert werden. Er stiftet neue, auf persönlicher Herrschaft und Gefolgschaft beruhende Beziehungen zwischen einem Charismaträger und den Charismagläubigen und ist darin zugleich autoritär und revolutionär.49 Aufgrund seiner Prägung durch Affekte und Emotionen ist er jedoch situationsabhängig und demzufolge labil, beständig vom Zerfall bedroht. Soll seine Herrschaft Bestand haben, hat der Charismatiker nur die Wahl, entweder von sich aus fortwährend neue Ausnahmesituationen zu schaffen, in denen er sein Charisma bewähren kann – mit allen damit verbundenen Risiken –, oder die Bahnen der Veralltäglichung zu beschreiten, die wiederum in unterschiedliche Richtungen führen können: die der Traditionalisierung, der Legalisierung oder der „Umbildung des Sinnes des Charisma selbst“.50 Die Bedeutung dieses Faktors für die Differentialbestimmung faschistischer Parteien ist schon von der zeitgenössischen Soziologie erkannt und seither in zahlreichen Arbeiten elaboriert worden.51 Gemäß den Vorgaben 48
Weber 2005 (wie Anm. 28), S. 485, 495. Vgl. ders.: Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft, in ders. 2005 (wie Anm. 28), S. 726-742, 734, 737; ders. 1992 (wie Anm. 29), S. 162. 50 Ders. 2005 (wie Anm. 49), S. 739. Vgl. auch Weber 1976 (wie Anm. 11), S. 142 ff. Zur Architektonik der Umbildungen des Charisma vgl. aus der Sekundärliteratur vor allem Wolfgang Schluchter: Religion als Lebensführung, 2 Bde, Frankfurt 1988, Bd. 2, S. 535 ff. sowie Hubert Treiber: Anmerkungen zu Max Webers Charismakonzept, in: Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte 11, 2005, S. 195-213. 51 Eine der ersten Anwendungen des Charismakonzepts auf den Faschismus findet sich bei Robert Michels: Über die Kriterien der Bildung und Entwicklung politischer Parteien, in: Schmollers Jb. 51, 1927, S. 509-531 sowie ders.: Italien von heute. Politische und wirtschaftliche Kulturgeschichte von 1860 bis 1930, Zürich und Leipzig 1930, S. 266 ff.; eine ebenfalls frühe Anwendung auf das „Hitler-Charisma“ bei Heinz Marr: Die Massenwelt im Kampf um ihre Form. Zur Soziologie der deutschen Gegenwart, Hamburg 1934, S. 487 ff. Ihnen folg49
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des Weberschen Charismakonzepts wurden dabei die folgenden Aspekte behandelt: die Genese charismatischer Erwartungen aus Situationen der Krise und des Zerfalls eingelebter Ordnungen; das Auftreten charismatischer Prätendenten und das Wechselspiel von Eigencharisma und zugeschriebenem Charisma;52 das für diese Prätendenten charakteristische „Charisma der Rede“;53 die Schaffung einer um den charismatischen Führer als „Mischung aus ‚Prophet‘ und ‚Propagandist‘“ zentrierten „charismatischen Gemeinschaft“ im Führungszirkel der faschistischen Partei;54 die Bewährung des Charisma in Wahlkämpfen; die Herausbildung einer Organisation „mit persönlichen Organen und einem der Mission des Charismaträgers angepaßten Apparat von Leistungen und Sachgütern“, zu der nicht zuletzt auch „eine spezifische Art von charismatischer Aristokratie“ gehört;55 die Subor-
ten, mit erheblich abweichender politischer Akzentsetzung, die in der Einleitung zitierten Arbeiten von Ernst Fraenkel, Hans Gerth, Franz Neumann, Wolfgang Sauer, Joseph Nyomarkay, Mario Rainer Lepsius, Ian Kershaw und Hans-Ulrich Wehler sowie außerdem Luciano Cavalli: Carisma e tirranide nel secolo XX: il caso Hitler, Bologna 1982; ders.: Charisma and Twentieth Century Politics, in: Scott Lash und Sam Whimster (Hrsg.): Max Weber, Rationality and Modernity, London 1987, S. 317-333; Hans-Walter Schmuhl: Rassismus unter den Bedingungen charismatischer Herrschaft, in: Karl-Dietrich Bracher u. a. (Hrsg.): Deutschland 1933-1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, Bonn 1992, S. 182-197; David Welsh: ‚Working towards the Führer‘: Charismatic Leadership and the Image of Adolf Hitler in Nazi Propaganda, in: Anthony McElligott und Tim Kirk (Hrsg.): Working towards the Führer, Manchester und New York 2003, S. 93-117; Roger Eatwell: The Concept and Theory of Charismatic Leadership, in: Totalitarian Movements and Political Religions 7, 2006, S. 141-156; Rüdiger Hachtmann: ‚Neue Staatlichkeit‘ – Überlegungen zu einer systematischen Theorie des NS-Herrschaftssystems und ihrer Anwendung auf die mittlere Ebene der Gaue, in: Jürgen John u. a. (Hrsg.): Die NS-Gaue. Regionale Mittelinstanzen im zentralistischen ‚Führerstaat‘, München 2007, S. 56-59. 52 Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 5 Bde., München 1987-2008. Bd. IV, 1914-1949, München 2003, S. 558 f.; Dirk van Laak: Adolf Hitler, in: Frank Möller (Hrsg.): Charismatische Führer der deutschen Nation, München 2004, 149-170; Renzo De Felice: Mussolini il fascista I, Torino 1966, S. 464 ff.; Denis Mack Smith: Mussolini. Eine Biographie, München und Wien 1983, S. 179 ff. 53 Weber 2005 (wie Anm. 28), S. 505. Vgl. mit Blick auf Hitler: Othmar Plöckinger: Reden um die Macht? Wirkung und Strategie der Reden Adolf Hitlers im Wahlkampf zu den Reichstagswahlen am 6. November 1932, Wien 1999; Hans-Rainer Beck: Politische Rede als Interaktionsgefüge. Der Fall ‚Hitler‘, Tübingen 2001; Josef Kopperschmidt (Hrsg.): Hitler der Redner, Paderborn und München 2003. 54 Vgl. Ian Kershaw: Hitler, Harlow 1991. Deutsche Übers.: Hitlers Macht. Das Profil der NS-Herrschaft, München 1992, S. 50 ff. 55 Weber 2005 (wie Anm. 28), S. 486; Wehler 2003 (wie Anm. 52), S. 557.
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dination sachlicher Motivationen, sei es in Gestalt wertrationaler Überzeugungen oder zweckrationaler Interessen, unter rein personalistische Beziehungen, die überwiegend emotionaler Natur sind;56 die Zusammenhänge zwischen einer auf Perpetuierung des Ausnahmezustands ausgerichteten Politik und zentralen Aspekten des Rasseparadigmas;57 schließlich die Veralltäglichungsproblematik, die sich mit dem Übergang vom fascismo movimento zum fascismo regime stellt.58 Diese Darstellungen haben nichts von ihrer Gültigkeit verloren. Sie sind aber in dreierlei Hinsicht zu ergänzen bzw. mit einem Caveat zu versehen. Erstens ist daran zu erinnern, dass es sich um einen Idealtyp handelt, der dazu gedacht ist, bestimmte Aspekte einer sozialen Beziehung hervorzuheben, im stetigen Eingedenken dessen, dass in der Regel auch noch andere Determinanten mit im Spiel sind. Zu Recht warnt Michel Dobry deshalb vor einer Isolierung dieses Aspekts und vor Darstellungen, die aus dem logischen Gegensatz zwischen charismatischer und legal-rationaler Herrschaft sogleich einen realen Gegensatz machen und der ersteren eine Dynamik unterstellen, die, einmal in Gang gekommen, ein nicht mehr einzudämmendes destruktives Potential entbindet. „There may be incompatibilities of logical contradictions between concepts; but historical reality and real social relationships often tolerate what is logically incompatible, and, in any case, they are often made up of mixtures of logically incompatible elements, i.e. of ‚impurity‘.”59 Dieser Einwand trifft zwar nicht auf den Autor zu, auf den er gemünzt ist – Ian Kershaw arbeitet sehr sorgfältig das Wechselspiel zwischen charismatischen und nicht-charismatischen Faktoren heraus –,
56 Vgl. Mario Rainer Lepsius: Demokratie in Deutschland, Göttingen 1993, S. 111, der von einer „Entoperationalisierung” und „Personalisierung der Ideologie” spricht. 57 Vgl. Schmuhl 1991 (wie Anm. 51), S. 192 f. 58 Vgl. in diesem Band die Beiträge von Bach; begrenzt auf das NS-Regime: Kershaw 1991 (wie Anm. 54). Eine eigenwillige Deutung gibt Ute Gerhard: Charismatische Herrschaft und Massenmord im Nationalsozialismus. Eine soziologische These zum Thema der freiwilligen Verbrechen an Juden, in: Geschichte und Gesellschaft 4, 1998, S. 503-538, die einen „Veralltäglichungsprozeß der charismatischen nationalsozialistischen Herrschaft in Richtung Traditionalismus“ postuliert (S. 505) und daraus (!) die nationalsozialistischen Massenverbrechen ableitet. Es gibt jedoch keine Tradition, aus der diese hätten legitimiert werden könnten. 59 Michel Dobry: Hitler, Charisma and Structure: Reflections on Historical Methodology, in: Totalitarian Movements and Political Religions 7, 2006, S. 157-171, 162.
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wohl aber auf Roger Griffin, der dem Faschismus kategorisch jede Möglichkeit einer Veralltäglichung abspricht.60 Zweitens: Gegenüber der Konzentration auf die Spitze der faschistischen Parteien ist darauf hinzuweisen, dass nicht nur die Beziehung zwischen dem „Duce“ bzw. dem „Führer“ und seiner Gefolgschaft charismatischer Art ist, sondern auch diejenige zwischen den lokalen Squadre- oder Sturmführern und ihrer Gruppe, und zwar ohne dass es sich dabei unbedingt um ein von der Spitze abgeleitetes Charisma handeln muss. Diese lokalen Führer wurden in der Bewegungsphase oft per acclamationem gewählt und verdankten ihre Autorität dem Maß an außergewöhnlichen, in jedem Fall überdurchschnittlichen Fähigkeiten, das ihnen von ihrer Gefolgschaft zugeschrieben wurde. Ihre Stellung war zugleich diejenige eines Vorgesetzten, dessen Befehlen gehorcht werden musste, und diejenige eines Kameraden, mit dem man durch Solidaritätsbeziehungen, durch ein Ethos der Treue verbunden war.61 Ähnliches galt für die lokalen Fasci bzw. Ortsgruppen der NSDAP, deren Leistungsstärke mit der Person und dem Engagement des örtlichen Leiters zusammenhing, sowie für die regionalen Führungsinstanzen, die Gauleiter in Deutschland und die ras und rassini in Italien. 62 Diese lokalen und regionalen charismatischen Gemeinschaften besaßen eine Eigendynamik, die leicht mit den Zielen des Gesamtverbandes in Kollision geraten konnte, wie der Aufstand der ras im Sommer 1921 gegen den Befriedungspakt oder die Stennesrevolte von 1931 in der SA zeigen. Drittens ist der Einschränkung Webers Rechnung zu tragen, dass die Rolle des Charisma in der Moderne durchaus problematischer Art ist. So60 Vgl. Roger Griffin: Modernism and Fascism. The Sense of a Beginning under Mussolini and Hitler, Houndmills, Basingstoke 2007, S. 351. 61 Vgl. Reichardt 2002 (wie Anm. 12), S. 404, 477. 62 Vgl. Carl-Wilhelm Reibel: Das Fundament der Diktatur: Die NSDAP-Ortsgruppen 19321945, Paderborn 2002, S. 283; Peter Hüttenberger: Die Gauleiter. Studien zum Wandel des Machtgefüges in der NSDAP, Stuttgart 1969; Jeremy Noakes: ‚Viceroys of the Reich?‘ Gauleiters 1925-1945, in: McElligott und Kirk 2003 (wie Anm. 51), S. 118-152; Bernhard Gotto: Dem Gauleiter entgegen arbeiten? Überlegungen zur Reichweite eines Deutungsmusters, in: John u. a. 2007 (wie Anm. 51), S. 80-99, 86 ff., der allerdings im Widerspruch zu seiner eigenen Darstellung die Kategorie der charismatischen Herrschaft für nicht erklärungskräftig hält (ebd., S. 83). Zu den ras und rassini, den Lokalmatadoren des Provinzfaschismus, vgl. Roger Engelmann: Regionalismus und Zentralismus in der faschistischen Bewegung Italiens, in: Horst Möller u. a. (Hrsg.): Nationalsozialismus in der Region. Beiträge zur regionalen und lokalen Forschung im internationalen Vergleich, München 1996, S. 305312, 309 f.
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weit das Charisma in der Politik nicht überhaupt der „Kastrierung“ durch den Parteibetrieb oder dem „langsamen Erstickungstode unter der Wucht der materiellen Interessen“ erliegt,63 wird es, Weber zufolge, durch den Prozess „aktiver Massendemokratisierung“ erfasst und dabei in doppelter Hinsicht umgedeutet. Zum einen erfährt es eine ‚antiautoritäre Wendung‘, in deren Gefolge die Anerkennung durch die Beherrschten, die beim genuinen Charisma „pflichtmäßig“ ist, zum Legitimitätsgrund wird. „Der kraft Eigencharisma legitime Herr wird dann zu einem Herrn von Gnaden der Beherrschten, den diese (formal) frei nach Belieben wählen und setzen, eventuell auch: absetzen“.64 Zum andern wird das Charisma im Zuge dieser Demokratisierung selbst in gewisser Weise fungibel. Das Charisma, sagt Weber, kann entweder „eine schlechthin an dem Objekt oder der Person, die es nun einmal von Natur besitzt, haftende, durch nichts zu gewinnende, Gabe sein“, „und nur dann verdient es in vollem Sinn diesen Namen“. „Oder es
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Weber 2005 (wie Anm. 28), S. 488, 512. Ders. 1976 (wie Anm. 11), S. 156. Der Abschnitt trägt die Überschrift: „Die herrschaftsfremde Umdeutung des Charisma“. Er ist zu korrelieren mit den oben zitierten Ausführungen der Parlamentsschrift über den Prozess der Massendemokratisierung (wie Anm. 27), S. 538 ff. Die an Weber orientierte Literatur zum Faschismus setzt dagegen in der Regel nicht hier an, sondern am Charisma in seiner genuinen, meist auch noch auf das Religiöse beschränkten Gestalt und gelangt dadurch nicht selten zu einer Überschätzung des charismatischen Führers wie auch zu einer Deutung des Faschismus als einer „politischen Religion“, die wiederum die Differenz zum Nationalismus verschwinden lässt. Vgl. in diesem Sinn zuletzt nur Wehler 2003 (wie Anm. 52), S. 542 ff. Als politische Religion wird der Faschismus bzw. Nationalsozialismus selbstverständlich auch von Autoren gedeutet, die nicht mit Weber argumentieren: vgl. etwa Emilio Gentile: Fascism as Political Religion, in: Journal of Contemporary History 25, 1990, S. 229-251; ders.: Fascisme, totalitarisme et religion politique: Definitions et réflexions critiques sur les critiques d’une interpretation, in: raisons politiques. Etudes de pensée politique, no. 22, Mai 2006, S. 119-173; Michael Ley und Julius H. Schoeps (Hrsg.): Der Nationalsozialismus als politische Religion, Bodenheim 1997; Claus-Ekkehard Bärsch: Die politische Religion des Nationalsozialismus, München 1998; Michael Burleigh: National Socialism as a Political Religion, in: Totalitarian Movements and Political Religions 1, 2000, S. 1-26. Zur Kritik dieses Deutungsmusters vgl. Roger Eatwell: Reflections on Fascism and Religion, in: Totalitarian Movements and Political Religions 4, 2003, S. 145-166; Paxton 2006 (wie Anm. 10), S. 312, ferner, auf den NS bezogen: Hans Günter Hockerts: War der Nationalsozialismus eine politische Religion? Über Chancen und Grenzen eines Erklärungsmodells, in Klaus Hildebrand (Hrsg.): Zwischen Politik und Religion. Studien zur Entstehung, Existenz und Wirkung des Totalitarismus, München 2003, S. 45-72; Richard Steigmann-Gall: Nazism and the Revival of Political Religion Theory, in: Totalitarian Movements and Political Religions 5, 2004, S. 376-396. 64
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kann und muß dem Objekt oder der Person durch irgendwelche, natürlich außeralltägliche, Mittel künstlich verschafft werden“.65 Die erste Form, das genuine Charisma, ist äußerst selten und historisch vor allem mit den großen Religionsstiftern, Propheten und Kriegshelden verbunden, die Weltreligionen oder Weltreiche geschaffen haben. Die zweite Form, das künstlich erzeugte Charisma, zeigt sich ebenfalls schon früh in allen Formen charismatischer Erziehung, um dann unter den Bedingungen der Moderne – der Existenz rationaler Betriebe im politischen, religiösen oder künstlerischen Feld – mit den Methoden und Techniken generiert zu werden, wie sie den modernen Massenmedien, Imageberatern und Werbeagenturen zur Verfügung stehen.66 Das erklärt den Aufstieg solcher Gestalten wie Mussolini oder Hitler, deren Biographie vor ihrem Eintritt in die Politik und selbst noch danach für eine gewisse Zeit eher blass und unterdurchschnittlich ist, im Fall Hitlers überdies gut zwei Jahre nach seinem Parteieintritt wenig Ambitionen erkennen lässt, eine stetige Verantwortung außerhalb seines Aufgabenkreises als Werbeobmann zu übernehmen oder gar die verschiedenen Funktionen der Parteiführung in seiner Hand zu vereinen;67 erklärt den schmalen Zuschnitt ihres Fähigkeitsprofils, das Außergewöhnlichkeit lediglich in Dimensionen wie Redewut, Verstellungskunst und taktische Gerissenheit erkennen lässt, wirkliche Führungsqualitäten aber kaum aufweist; erklärt schließlich auch die Rolle 65
Weber 1976 (wie Anm. 11), S. 245 f. Vgl. dazu weiterführend: Ronald M. Glassman: Manufactured Charisma and Legitimacy, in ders. und Vatro Murvar (Hrsg.): Max Weber’s Political Sociology. A Pessimistic Vision of a Rationalized World, Westport und London 1984, S. 217-235; Roland Hitzler: Die Produktion von Charisma. Zur Inszenierung von Politikern im Medienzeitalter, in: Kurt Imhof und Peter Schulz (Hrsg.): Politisches Raisonnement in der Informationsgesellschaft, Zürich 1996, S. 265-288; Edgar Grande: Charisma und Komplexität. Verhandlungsdemokratie, Mediendemokratie und Funktionswandel politischer Eliten, in: Leviathan 28, 2000, S. 122-141, 134 ff. 67 Vgl. Albrecht Tyrell: Vom ‚Trommler‘ zum ‚Führer‘. Zum Wandel von Hitlers Selbstverständnis zwischen 1919 und 1924 und die Entwicklung der NSDAP, München 1975, S. 41 f. Für Mussolini vgl. die erhellende Studie von Emilio Gentile: Mussolini’s Charisma, in: Modern Italy 3, 1998, S. 219-235. Aus ihr geht hervor, dass Mussolini in den von ihm gegründeten Fasci di combattimento noch keineswegs als „Duce“ verehrt wurde und wohl Prestige, aber kein Charisma besaß – ein Befund, der auch durch die Beobachtungen des Italienkorrespondenten der Frankfurter Zeitung, Fritz Schotthöfer, gestützt wird (vgl. Il fascio. Sinn und Wirklichkeit des italienischen Faschismus, Frankfurt 1924, S. 14). Erst nach 1925 war seine Autorität innerhalb der Partei so unumstritten, dass sie charismatische Züge zu attrahieren begann. Das ändert freilich nichts daran, dass die Partei schon davor, auf lokaler und regionaler Ebene, charismatische Organisationsmuster aufwies – nur eben solche, die nicht um Mussolini zentriert waren. 66
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medienerfahrener Paladine wie Dietrich Eckart oder Joseph Goebbels, die entscheidend zur Zuschreibung von Charisma beigetragen haben. Erst der zielstrebige Einsatz von Reklame und Propaganda, der dann im fascismo regime durch den staatlichen Zugriff auf Film, Rundfunk und Presse noch einmal gewaltig gesteigert wurde, hat aus den Führern jene überlebensgroßen Gestalten gemacht, um die sich schließlich ein entsprechender Starkult entwickelte.68 „Man kann wahrscheinlich“, so hat es Adorno bereits 1936 sehr klar formuliert, „zu den tiefsten Einsichten in die Struktur des Faszismus gelangen durchs Studium der Reklame, die in ihm erstmals ins politische Zentrum – oder besser in den politischen Vordergrund – tritt und deren ökonomische Voraussetzungen wahrscheinlich wieder mit denen des Faszismus korrespondieren“.69 Der artifizielle Grundzug des faschistischen Führercharisma zeigt sich auch in den bewussten Anstrengungen, das Charisma durch die Installierung spezifischer Sonderinstitutionen wach zu halten und vor der Routinisierung zu bewahren. Dazu gehört etwa die Schaffung räumlich abgetrennter und 68 Vgl. allgemein: Jürgen Raab und Dirk Tänzler: Charisma der Macht und charismatische Herrschaft. Zur medialen Präsentation von Mussolini und Hitler, in: Anne Honer u. a. (Hrsg.): Diesseitsreligion. Zur Deutung der Bedeutung moderner Kultur, Konstanz 1999, S. 59-77. Speziell für Deutschland: Margarete Plewnia: Auf dem Weg zu Hitler. Der „völkische“ Publizist Dietrich Eckart, Bremen 1970, S. 78; Ian Kershaw: Der Hitler-Mythos. Volksmeinung und Propaganda im Dritten Reich, Stuttgart 1980; Sabine Behrenbeck: ‚Der Führer‘. Die Einführung eines politischen Markenartikels, in: Gerald Diesener und Rainer Gries (Hrsg.): Propaganda in Deutschland. Zur Geschichte der politischen Massenbeeinflussung im 20. Jahrhundert, Darmstadt 1996, S. 51-78; Ludolf Herbst: Der Fall Hitler – Inszenierungskunst und Charismapolitik, in: Wilfried Nippel (Hrsg.): Virtuosen der Macht: Herrschaft und Charisma von Perikles bis Mao, München 2000, S. 171-191; Christian Soboth: Hitler – Inszenierung eines Charismas, in: Jürg Häußermann (Hrsg.): Inszeniertes Charisma, Tübingen 2001, S. 129-153. Für Italien: Pietro Melograni: The Cult of the Duce in Mussolini’s Italy, in: Journal of Contemporary History 11, 1976, S. 221-237; Philip Cannistraro: La fabbrica del consenso. Fascismo e mass media, Bari 1975; Jens Petersen: Mussolini: Wirklichkeit und Mythos eines Diktators, in: Karl Heinz Bohrer (Hrsg.): Mythos und Moderne, Frankfurt 1983, S. 242-260. Wie Wolfgang Schivelbusch zeigt, gab es allerdings in Italien und Deutschland zum Zeitpunkt der Machtübernahme noch keine Massenkultur des Radios, so dass es hier noch durchaus der lebendigen „Versammlungsmasse“ bedurfte, um politisches Charisma zu generieren und zu erhalten, während in der fortgeschrittenen Mediengesellschaft der USA die psychische Dynamik bereits anderen Gesetzen folgte: vgl. Wolfgang Schivelbusch: Entfernte Verwandtschaft. Faschismus, Nationalsozialismus, New Deal 1933-1939, Frankfurt 2008, S. 66 ff. 69 Theodor W. Adorno: Brief an Max Horkheimer vom 25.6.1936, in: Theodor W. Adorno, Max Horkheimer: Briefwechsel, Bd. 1, 1927-1937, hrsg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz, Frankfurt 2003, S. 166.
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von der Öffentlichkeit abgeschirmter Lebensformen, wie sie in Deutschland beispielsweise mit den Einrichtungen der SS gegeben waren – ein Versuch, das Charisma in Gestalt des Erbcharisma zu institutionalisieren; gehört weiter, als eine Art Äquivalent in der Zeitdimension, das Fest als Vergegenwärtigung des ursprünglichen charismatischen Glutkerns in einer wie immer auch gelenkten und inszenierten kollektiven Ekstase, die oft unter dem Stichwort „Ästhetisierung“ oder „Sakralisierung der Politik“ beschrieben wird und die tatsächlich auch dazu tendiert, zunächst innerhalb der faschistischen Partei, später auch im faschistischen Regime die Leerstelle zu füllen, an der normalerweise politische Beziehungen zu bestehen pflegen. Von daher die eminente Bedeutung des „Liturgietransfers“ aus der Kirche sowie aus der Oper des späten 19. Jahrhunderts (Verdi, Wagner), die große Rolle der Stimmungsarchitektur und der Erinnerungskulte, der genau kalkulierte Einsatz des Führers als die den Ursprungsmythos verkörpernde Person, die allesamt nur der einen Aufgabe dienen: der stets erneuten Zelebrierung der „Erlebnisgemeinschaft“ und der nur in ihr möglichen charismatischen Gnadenspendung.70 Im Verein mit der weiter unten zu behandelnden Politik der „Bewährung“ ist es den faschistischen Führern zumindest zeitweise geglückt, ihre Herrschaft in dieser Weise charismatisch zu legitimieren.
IV. Mit diesen Überlegungen ist ein zweites Merkmal gewonnen, das den faschistischen Parteien ihr besonderes Cachet verliehen hat. Dabei handelt es 70 Vgl. Winfried Gebhardt: Charisma als Lebensform. Zur Soziologie des alternativen Lebens, Berlin 1994, S. 74 ff. Aus der kaum noch übersehbaren Literatur vgl. für Italien: Emilio Gentile: The Sacralization of Politics in Fascist Italy, Cambridge, Mass. und London 1996; Simonetta Falasca-Zamponi: Fascist Spectacle. The Aesthetics of Power in Mussolini’s Italy, Berkeley 1997 sowie die Beiträge zur „Special Issue: The Aesthetics of Fascism“, Journal of Contemporary History 31, 1996; für Deutschland Dietrich Orlow: The History of the Nazi Party: 1919-1933, Pittsburgh 1969, S. 83 f.; Klaus Vondung: Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus, Göttingen 1971; Sabine Behrenbeck: Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole, Vierow b. Greifswald 1996; Yvonne Karow: Deutsches Opfer. Kultische Selbstauslöschung auf den Reichsparteitagen der NSDAP, Berlin 1997; Udo Bermbach: Liturgietransfer, in: Saul Friedländer und Jörn Rüsen (Hrsg.): Richard Wagner im Dritten Reich, München 2000, S. 40-65; Reichardt 2002 (wie Anm. 12), S. 535 ff.
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sich freilich um ein idealtypisches Merkmal, das in der Wirklichkeit kein volles Gegenbild hat. Die Realität faschistischer Parteien ist auch durch die Notwendigkeit bestimmt, den Anforderungen Rechnung zu tragen, die aus einem ganz anderen Typus von Parteien resultieren, den von der neueren Parteisoziologie so bezeichneten „mass-bureaucratic parties“.71 Der PNF hatte bereits ein halbes Jahr nach seiner Gründung 220 000 Mitglieder; die NSDAP, die sich anfangs als Kaderpartei verstand, zwar auch nach vier Jahren deutlich weniger (55 000), doch setzte ab 1929 ein sprunghafter Anstieg ein, der sie von 121 000 auf etwa 850 000 katapultierte und damit zur größten Partei der Weimarer Republik machte.72 Parteien dieser Größenordnung waren ohne Bürokratie nicht zu verwalten. Schon die Fasci di combattimento gaben sich auf ihren ersten Kongressen 1919 und 1920 ein wie immer noch rudimentäres bürokratisches Gerüst, das eine Kontrolle der Mitgliedschaft wie der Finanzflüsse ermöglichte.73 Ein Jahr später wurde mit der Parteigründung eine Hierarchie von Institutionen sowie ein Korps von Funktionsträgern installiert, das neben den Mitgliedern des Direktoriums und des Zentralkomitees rund tausend Parteisekretäre und außerordentliche Kommissare umfasste.74 Die Deutsche Arbeiterpartei konnte sich aufgrund ihrer geringen Größe zunächst mit einem geringen Institutionalisierungsgrad begnügen, doch kam man auch hier um eine Mitgliederkartei und eine Aufgabenteilung im Führungsgremium nicht herum.75 Nach der Neugründung der NSDAP 1925 setzte dann ein Bürokratisierungsschub ein, erkennbar u. a. an der Schaffung der Gauorganisation, der Kontrolle der Mitgliedschaft und der lokalen Parteipresse durch die Münchner Zentrale, der Einführung eines geregelten Finanzwesens sowie der Einrichtung eines Untersuchungs- und Schlichtungsausschusses, der für die innerparteiliche Disziplin zuständig war.76 Dieses bürokratische Grundgerüst 71 Vgl. Angelo Panebianco: Political Parties: Organization and Power, Cambridge, New York etc. 1988, S. 262 ff. Panebianco selbst rechnet die NSDAP freilich dem Typus der „charismatic party” zu, der durch die Abwesenheit bürokratischer Organisation bestimmt ist: vgl. ebd., S. 146, 155 ff. 72 Vgl. Reichardt 2002 (wie Anm. 12), S. 256; Schieder 1993 (wie Anm. 31), S. 150. 73 Vgl. Gentile 1989 (wie Anm. 3), S. 97 f., 117 ff. 74 Vgl. ebd., S. 557 ff.; zur organisatorischen Entwicklung des PNF vgl. zeitgenössisch Antonio Canepa: Die Faschistische Partei Italiens. Gestalt und Geist ihrer Organisation, in: Reich, Volksordnung, Lebensraum, Bd. 3, 1942, S. 60-121. 75 Vgl. Georg Franz-Willing: Die Hitler-Bewegung. Der Ursprung 1919 bis 1922, Oldendorf 1974, S. 102 ff. 76 Vgl. Orlow 1969 (wie Anm. 70), S. 60 ff., 78 ff.
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konnte nach der Machtübernahme mühelos ausgebaut werden, wie nicht nur, aber besonders der Stab des Stellvertreters des Führers und die Parteikanzlei unter Martin Bormann zeigen.77 Hans Gerth hat deshalb schon früh den Schluss gezogen, die NSDAP sei adäquat nur als eine Fusion zweier Herrschaftstypen, nämlich der charismatischen und der bürokratischen Herrschaft, zu beschreiben.78 Mit dieser Ansicht ist er auf den Widerspruch Hannah Arendts gestoßen, die eine solche Beschreibung unter den Prämissen der Weberschen Soziologie für ausgeschlossen hielt.79 Am Beispiel des Stabes Heß und der Parteikanzlei hat Armin Nolzen den Befund einer Kopräsenz beider Herrschaftstypen bekräftigt und zugleich das Argument Arendts wiederholt: „A conjunction of this sort, however, is not prefigured in Max Weber’s sociology of rule. Rather, Weber assumes that each specific form of legitimation gives rise to its own corresponding administrative structure.” 80 Daran ist soviel richtig, dass für den Idealtypus der faschistischen Partei in der Tat nicht gleichzeitig zwei Typen der legitimen Herrschaft in Anspruch genommen werden können und schon gar nicht solche, die in allen Merkmalen einander so schroff entgegengesetzt sind wie die charismatische und die bürokratische Herrschaft; das wäre ein Verstoß gegen das Gebot der Widerspruchsfreiheit. Nimmt man jedoch den Idealtypus im Sinne Max Webers nicht als Gattungsbegriff, der die ihm subordinierten Erscheinungen in vollem Umfange umschließt, sondern als Grenzbegriff, der die Aufgabe hat, die spezifischen, die Eigenart eines Objekts beleuchtenden Züge hervorzuheben, dann steht nichts im Wege, die faschistische Partei im Idealtypus durch die charismatische Legitimität und die daraus hervorgehenden Organisationsformen bestimmt zu sehen und zugleich zu konzedieren, dass auf empirisch-historischer Ebene 77 Vgl. Peter Longerich: Hitlers Stellvertreter. Führung der Partei und Kontrolle des Staatsapparates durch den Stab Heß und die Partei-Kanzlei Bormann, München etc. 1992. 78 Hans Gerth: The Nazi Party: Its Leadership and Composition, in: The American Journal of Sociology XLV, 1940, S. 517-541, 517. 79 Vgl. „Wie im Märchenbuch: ganz allein…”. Im Gespräch mit Hans Gerth, in: Die Zerstörung einer Zukunft. Gespräche mit emigrierten Sozialwissenschaftlern. Aufgezeichnet von Mathias Greffrath, Reinbek 1979, S. 59-96, 81 f. 80 Armin Nolzen: Charismatic Legitimation and Bureaucratic Rule: The NSDAP in the Third Reich, 1933-1945, in: German History 23, 2005, S. 494-518, 514. Zu dem an anderer Stelle vorgetragenen Einwand, dass das Konzept des Charisma wenig hilfreich sei, „because it plays down the actual content of policy making” (ebd., S. 516), vgl. die weiter unten angestellten Überlegungen (VIII). Charismatische Herrschaft bedeutet nur ein Zurücktreten der sachlichen Motive hinter den persönlichen, nicht deren Abwesenheit.
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auch Auswirkungen entgegengesetzter Formen von Legitimität und Organisation zu beobachten sind, die die faschistischen Parteien in den Bannkreis der „mass-bureaucratic parties“ ziehen, eben deswegen aber nicht für ihre Eigenart bestimmend sind. Diese Eigenart teilt sich mit der Machtübernahme und der anschließenden Ausschaltung aller politischen Konkurrenten auch dem politischen Verband mit. Wo dies am reinsten und konsequentesten geschieht – dem deshalb zu Recht so bezeichneten deutschen „Radikalfaschismus“ (Ernst Nolte) – folgt daraus zunächst eine duale Struktur, das Neben- und Gegeneinander von Maßnahmenstaat und Normenstaat (Ernst Fraenkel), um schließlich in die Zersetzung des modernen, bürokratisch organisierten Anstaltsstaates zu münden: den von Franz Neumann beschriebenen „Behemoth“.81 Deutungen, die diese Entwicklung ignorieren, werden damit obsolet. Das gilt für die vor allem von der Kritischen Theorie in der Version Horkheimers und Marcuses ins Spiel gebrachten Theoreme vom „autoritären Staat“ oder von der „verwalteten Welt“, auch wenn sie die Faschismusinterpretation dieser Theorie nur grundieren und nicht erschöpfen.82 Es gilt ebenso für neuere Deutungen des Holocaust, die eine pauschale Verbindung zwischen dem „planenden, praxisorientierten Rationalismus“ der modernen Verwaltung und einer allgemeinen Entmoralisierung postulieren und „das Konzept der Endlösung geradezu als Ergebnis der bürokratischen Kultur“ darstellen.83 Gewiss wären die Massenverbrechen an den Juden und den Bevölkerungen Osteuropas ohne die tatkräftige Unterstützung bürokratisch organisierter Apparate, auch und gerade im militärischen Bereich, nicht möglich gewesen. Voraussetzung dafür allerdings war die Etablierung einer gänzlich außeralltäglichen Herrschaftsform, die alle geltenden Regeln, und zwar nicht bloß solche moralischer, sondern vor allem auch rechtlicher Art, zur Disposition stellte und einer Willkürpraxis Tür und Tor öffnete, die sich über den Mechanismus der „kumulativen Radikalisierung“ in immer grauenvollere 81
Näher dazu Stefan Breuer: Ernst Fraenkel und die Struktur faschistischer Herrschaft. Zur Kritik der Doppelstaats-These, in: Hartmut Aden (Hrsg.): Herrschaftstheorien und Herrschaftsphänomene, Wiesbaden 2004, S. 39-53. 82 Vgl. die überzeugende Kritik bei Michael Schäfer: Die ‚Rationalität‘ des Nationalsozialismus. Zur Kritik philosophischer Faschismustheorien am Beispiel der Kritischen Theorie, Weinheim 1994. 83 Vgl. Götz Aly und Susanne Heim: Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Frankfurt 1997, S. 19, 485; Zygmunt Bauman: Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 1992, S. 29.
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Dimensionen steigerte.84 Der okzidentale Rationalismus mag einige Techniken bereitgestellt haben. Die Ziele aber, für die sie eingesetzt wurden sowie die mobilen „Institutionen neuen Typs“, die sich der herkömmlichen Verwaltungspraxis mit ihrer konditionalen Programmierung so sehr entzogen wie das Reichssicherheitshauptamt,85 sind nur verständlich aus dem charismatischen Charakter des faschistischen Herrschaftsverbandes.
V. Mit der Frage nach den Zielen betritt man die Zone der Kontroversen. Wenn wir recht sehen, hat die Forschung jene Theorien der Massengesellschaft nicht bestätigt, die den Faschismus als das Ergebnis einer Entstrukturierung des sozialen Raums deuten, eines ‘Untergangs der Klassengesellschaft‘ (Arendt), der zu sozialer Atomisierung und politischer Mobilisierung der Entwurzelten geführt und in einer allgemeinen Irrationalisierung des politischen Verhaltens seinen Ausdruck gefunden habe.86 Ganz im Gegenteil bildet der Faschismus die für sich genommen durchaus rationalen Interessen benennbarer Gruppen ab, die im Rahmen eines rational choice-Ansatzes, wie ihn etwa William Brustein vertritt, erfassbar sind.87 In Italien weisen alle Statistiken einen so hohen Anteil von Angestellten, Handwerkern, Kleinbauern und Studenten an den Fasci auf, dass die Forschung von Salvatorelli über Tasca, De Felice, Santarelli und Vivarelli bis hin zu Emilio Gentile den Faschismus immer wieder als eine Bewegung der ceti medi eingestuft hat, wenn auch mit unterschiedlichen Einschätzungen, was den Niedergang oder den Aufstieg dieser Schichten angeht.88 Auch die NSDAP verdankt 84 Vgl. Hans Mommsen: Der Nationalsozialismus und die deutsche Gesellschaft. Ausgewählte Aufsätze, Reinbek 1991, S. 81, 184 ff. 85 Vgl. Michael Wildt: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002, S. 410 f. 86 Zur Kritik dieses Theorems vgl. Bernt Hagtvet: The Theory of Mass Society and the Collapse of the Weimar Republic: A Re-Examination, in: Stein Ugelvik Larsen u. a. (Hrsg.): Who Were the Fascists, Bergen 1980, S. 66-117. 87 Vgl. William Brustein: The Logic of Evil. The Social Origins of the Nazi Party, 1925-1933, New Haven und London 1996. 88 Vgl. Luigi Salvatorelli: Nazionalfascismo, Torino 1923, S. 16 ff.; Angelo Tasca: Glauben, gehorchen, kämpfen. Aufstieg des Faschismus, Wien etc. 1969, S. 377 ff.; De Felice 1966 (wie Anm. 52), S. 117 ff.; ders. 1977 (wie Anm. 21) , S. 36; ders.: Italian Fascism and the Rise of the
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ihren Aufstieg zur Massenpartei nicht zuletzt ihrer Fähigkeit, ständische, vor allem: berufsständische Interessen aufzugreifen. In ihrer Frühphase überwiegend eine Partei des alten städtischen Mittelstands, wurde sie ab 1930 und mehr noch ab 1932 auch zur Interessenvertretung des alten ländlichen Mittelstands – in den kleinen Bauerndörfern des protestantischen Deutschlands mit relativ homogener Sozialstruktur in einem Ausmaß, dass man schon von einem Vertretungsmonopol sprechen kann.89 Dieser auf den ersten Blick so eindeutige Befund zerfällt jedoch bei näherem Zusehen rasch. In Italien erlebten die Fasci nach ihrer Wahlniederlage vom November 1919 einen starken Rückgang, der sich mit dem politischen Kurswechsel der folgenden Monate noch verstärkte. Die Faschisten der ersten Stunde – vielfach ehemalige Kombattanten, die im Linksnationalismus und/oder internationalen Sozialismus der Vorkriegszeit ihre politische Sozialisation erfahren hatten – verließen in Scharen ihre Verbände und wurden bald darauf durch sehr viel Jüngere ersetzt, die ohne jede politische und moralische Vorbereitung in den Krieg gegangen und durch ihn entwurzelt worden waren; zugleich verlagerte die Bewegung ihren Schwerpunkt von den Städten auf Middle Classes, in: Larsen u. a. 1980 (wie Anm. 86), S. 312-317; Santarelli 1967 (wie Anm. 21), Bd. 1, S. 218 ff.; Roberto Vivarelli: Il dopoguerra in Italia a l’avvento del fascismo (1918-1922), Bd. I, Napoli 1967, S. 253 ff., 278 ff.; Gentile 1989 (wie Anm. 3), S. 252 ff.; ders.: Fascism in Power: The Totalitarian Experiment, in: Adrian Lyttelton (Hrsg.): Liberal and Fascist Italy, Oxford und New York 2002, S. 139-174, 145 f.; Schieder 1983 (wie Anm. 21), S. 75. Zur Kritik dieses Deutungsmusters jetzt vor allem Michael Mann: Fascists, Cambridge 2004, S. 17 ff. 89 Vgl. Schieder 1993 (wie Anm. 31), S. 150 f. In den Dörfern der schleswig-holsteinischen Geest erhielt die NSDAP 1932 fast 80% der Stimmen: vgl. dazu die klassische Studie von Rudolf Heberle: Landbevölkerung und Nationalsozialismus. Eine soziologische Untersuchung der politischen Willensbildung in Schleswig-Holstein 1918 bis 1932, Stuttgart 1963, S. 99. Von der Theorie der sozialen Milieus her, die M. R. Lepsius in die Parteisoziologie eingeführt hat (wie Anm. 56, S. 35 ff.), ist es naheliegend, von einem Aufstieg der NSDAP zur „Milieupartei“ des evangelisch-ländlichen Deutschlands zu sprechen: vgl. Wolfram Pyta: Dorfgemeinschaft und Parteipolitik 1918-1933, Düsseldorf 1996, S. 297. Das Problem ist allerdings, dass sie dies in erheblichem Umfang auch für das bürgerlich-liberale Milieu geworden ist und darüber hinaus beachtliche Einbrüche in das katholische und sozialistische Milieu erzielt hat. Und das bedeutet, dass nicht so sehr die milieurepräsentierenden als vielmehr die milieutranszendierenden Eigenschaften der NSDAP typusbestimmend sind. Zur Relevanz der Milieutheorie vgl. auch Adelheid von Saldern: Sozialmilieus und der Aufstieg des Nationalsozialismus in Norddeutschland (1930-1933), in: Frank Bajohr (Hrsg.): Norddeutschland im Nationalsozialismus, Hamburg 1993, S. 20-52.
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das Land.90 Die verbreitete Ansicht jedoch, dass diese neuen Fasci sich als „weiße Garde“ (De Felice) den vom Sozialismus bedrohten und deshalb zur Konterrevolution entschlossenen Grundbesitzern, der borghesia conservatrice e reazionaria, angedient hätten,91 übergeht mindestens zwei wichtige Fakten: Das Faktum, dass es sich bei den Agrariern, die in der Tat die neuen Fasci mit erheblichen Mitteln unterstützten, um die fortgeschrittensten Gruppen des Agrarkapitalismus handelte, die auf eine entschiedene Modernisierung und Rationalisierung der Landwirtschaft hinarbeiteten;92 und das Faktum, dass die den Fasci seit Herbst 1920 zuströmenden Massen in sozialer Hinsicht durchaus heterogen waren und außer aus Kleinbauern auch aus Halbpächtern und Landarbeitern bestanden. Deren Engagement war durchaus nicht primär durch das rein reaktive Ziel einer Niederwerfung des Sozialismus bestimmt, dem sie übrigens in den vorangegangenen Wahlen häufig ihre Stimme gegeben hatten, sondern durch das „proaktive“ Ziel des sozialen Aufstiegs durch den Erwerb von Land und die Begründung einer selbständigen Existenz als Eigentümer, wie es von keiner anderen politischen Gruppierung so nachdrücklich auf die Agenda gesetzt wurde wie von den Faschisten.93 In der Provinz Ferrara strömten die Landarbeiter zu Zehntausenden in die faschistischen sindacati autonomi und dies keineswegs unter Zwang, sondern aus Begeisterung für ein Programm, das die Schaffung einer piccola borghesia rurale in Aussicht stellte und jedem soviel Land versprach, wie er bearbeiten konnte.94 „Wir wollen“, beschrieb Dino Grandi im Juni 1921 im Bologneser L’Assalto den angestrebten Fahrstuhleffekt, „den Tagelöhner zum Halbpächter, den Halbpächter zum Pächter und zuletzt den Halbpächter zum kleinen Grundbesitzer machen. Dieses Programm 90 Vgl. De Felice 1965 (wie Anm. 23), S. 587 ff.; ders. 1966 (wie Anm. 52), S. 6, 13. Zur Differenz zwischen der urbanen und der agrarischen Variante vgl. Lyttelton 1988 (wie Anm. 16), S. 135. 91 Vgl. De Felice 1965 (wie Anm. 23), S. 658. 92 Vgl. Anthony L. Cardoza: Agrarian Elites and Italian Fascism. The Province of Bologna 1901-1926, Princeton 1983, S. 449 ff. 93 Vgl. William Brustein: The „Red Menace“ and the Rise of Italian Fascism, in: American Sociological Review 56, 1991, S. 652-664. Die Sozialisten forderten dagegen die „socializzazione della terra“, während die Liberalen und Demokraten den Status quo verteidigten. Lediglich die Popolari nahmen sich in ähnlicher Weise wie die Faschisten agrardemokratischer Ziele an, vertraten allerdings die Forderung nach Aufteilung der Latifundien und erhielten deshalb keine Subsidien: ebd., S. 656 ff. 94 Vgl. Mussolinis Agrarprogramm von 1921, in ders.: Il fascismo nel 1921, O.o., Bd. 16, Firenze 1955, S. 101-103, 102; Paul Corner: Fascism in Ferrara, Oxford 1975, S. 138 ff.
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wird zur Eliminierung der Tagelöhner führen, die das soziale Unglück des Landes sind, es wird zum Sparen ermutigen und den landwirtschaftlichen Arbeiter sittlich heben (…) Der Faschismus wird bestrebt sein, den kleinen privaten Grundbesitzer zu begünstigen (und) … wird Kontrakte und Pachtformen auf der Basis des geteilten Profits einführen“.95 Ein politischer Verband, der ein derart breites Spektrum an sozialen und wirtschaftlichen Interessen repräsentierte, lässt sich nicht als Klassen- oder Standespartei charakterisieren. Auch die NSDAP war keine typische Klassen- oder Standespartei. Sie war es subjektiv nicht, weil sie stets dezidiert den Anspruch zurückwies, eine bloße Berufsstandspartei zu sein und stattdessen ihren Charakter als Volksgemeinschaftspartei herausstrich, die sich die Überwindung von Klassenschranken und Standesdünkel zur Aufgabe gemacht habe.96 Und sie war es objektiv nicht, weil sie dafür teils zuviel, teils zuwenig war. Für eine Mittelstandspartei, für die man sie oft gehalten hat,97 sprach sie entschieden zu viele materielle Interessen des „Arbeitertums“ an und zog auch zu viele Arbeiter an, sowohl als Parteimitglieder als auch als Wähler. Der Arbeiteranteil betrug in der politischen Organisation zwischen 1925 und 1933 immerhin 40%, in der SA entsprach er sogar dem Bevölkerungsschnitt. Für 1933 hat Jürgen Falter den Anteil von Arbeiterstimmen auf ebenfalls 40% veranschlagt.98 Allerdings war die Zustimmung branchenspezifisch unterschiedlich verteilt. Das nationalsozialistische Wirtschaftsprogramm sprach vornehmlich Arbeiter der für den Binnenmarkt produzierenden Industrien an (Textil, Nahrungsmittel, Holzverarbeitung, Baugewerbe, Bergwerke), weit weniger hingegen die Produzenten in den exportorientierten Industrien.99 Ähnlich ungleich war die Unterstützung in den Mittelschichten. Im alten Mittelstand waren Viehzüchter empfänglicher als Getreideproduzenten, 95
Zit. n. Cardoza 1983 (wie Anm. 92), S. 336. Vgl. Gerhard Paul: Aufstand der Bilder. Die NS-Propaganda vor 1933, Bonn 1990, S. 90; Pyta 1996 (wie Anm. 89), S. 326 f.; Conan Fischer: The Rise of the Nazis, 2. Aufl., Manchester und New York 2002, S. 111. 97 Vgl. etwa Carl Mierendorff: Überwindung des Nationalsozialismus, in: Sozialistische Monatshefte 37, 1931, S. 225-229, 226; Theodor Geiger: Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Faksimile-Nachdruck der 1. Aufl. von 1932, Stuttgart 1987, S. 109 ff.; Arthur Schweitzer: Die Nazifizierung des Mittelstandes, Stuttgart 1970, S. 25. 98 Vgl. Brustein 1996 (wie Anm. 87), S. 148; Reichardt 2002 (wie Anm. 12), S. 318, 315; Jürgen W. Falter: Hitlers Wähler, Darmstadt 1991, S. 288; Fischer 2002 (wie Anm. 96), S. 118 f. 99 Vgl. Brustein 1996 (wie Anm. 87), S. 149. 96
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protestantische Viehzüchter empfänglicher als katholische.100 Der neue Mittelstand dagegen, die Angestellten und Beamten, war zwar in der Parteimitgliedschaft überrepräsentiert, legte aber bei den Wahlen keine überproportionale Affinität zur NSDAP an den Tag, setzte vielmehr sogar deren Aufstieg eine gewisse Grenze.101 Auch die Oberschicht war in der Partei wie in der SA deutlich überrepräsentiert.102 Weder mit Blick auf die soziale Ordnung, in der nach Weber die Stände beheimatet sind, noch mit Blick auf die Wirtschaftsordnung, in der die Klassen ihre Basis haben, lässt sich deshalb eine eindeutige Verortung der NSDAP vornehmen, was Jürgen Falter zu dem bekannten Resümee veranlasst hat, dass die NSDAP mehr als jede andere Partei der Weimarer Republik Volksparteicharakter trug.103 Die Formel vom ‚Extremismus der Mitte‘ (Lipset) mag, sofern sie präziser als ‚Rechtsextremismus der Mitte‘ gefasst wird, für eine sicherlich beachtliche Teilmenge des Faschismus gelten; für einen Idealtyp desselben kann sie nicht herangezogen werden. Von ihr haben sich inzwischen auch diejenigen Parteihistoriker abgekehrt, die sie noch vor zwei Jahrzehnten als selbstverständlich ansahen.104
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Vgl. ebd., S. 101. Vgl. Jürgen R. Winkler: Sozialstruktur, politische Traditionen und Liberalismus. Eine empirische Längsschnittstudie zur Wahlentwicklung in Deutschland 1871-1933, Opladen 1995 S. 401, 421. 102 Vgl. Michael H. Kater: The Nazi Party. A Social Profile of Members and Leaders 19191945, Cambridge, Mass. 1983, S. 154. Für das Führungskorps der SA haben Malinowski und Reichardt einen Adelsanteil von ca. vier Prozent ermittelt, deutlich mehr, als es dem Anteil des Adels an der Gesamtbevölkerung (ca. 0,15%) entspricht. Vgl. Stephan Malinowski und Sven Reichardt: Die Reihen fest geschlossen? Adelige im Führerkorps der SA bis 1934, in: Eckart Conze und Monika Wienfort (Hrsg.): Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, Köln etc. 2004, S. 119-150, 127. 103 Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Gemeinschaften, hrsg. von Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Michael Meyer, MWG Bd. I/22-1, Tübingen 2001, S. 269; Falter 1991 (wie Anm. 98), S. 287 f. 104 Vgl. Kater 1983 (wie Anm. 102), S. 236 mit Jürgen W. Falter und Michael H. Kater: Wähler und Mitglieder der NSDAP. Neue Forschungsergebnisse zur Soziographie des Nationalsozialismus 1925 bis 1933, in: Geschichte und Gesellschaft 19, 1993, S. 155-177, 167. 101
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VI. In den Sphären der Weltanschauung und der Ideologie findet jene Betrachtungsweise ihre stärksten Argumente, die Ernst Nolte die „singularisierende“ genannt hat.105 Das gilt für die engere Fassung, die unter Hinweis auf Antisemitismus und Rassismus die Einzigartigkeit des Nationalsozialismus behauptet und jegliche typologische Generalisierung ablehnt.106 Es gilt aber auch für die weitere Fassung, die immerhin so etwas wie einen ‚lateinischen‘, allerdings meist auf Italien, Frankreich und eventuell Rumänien beschränkten Faschismus für möglich hält, diesen aber mit denselben Argumenten vom Nationalsozialismus abgrenzt.107 Die Versuche, diese Argumente zu widerlegen, sind bislang nicht sehr überzeugend ausgefallen. Ein Weg, den vor allem die jüngere Forschung in Italien und Deutschland beschritten hat, besteht darin, auf den auch in der italienischen Kultur und nicht zuletzt in der katholischen Kirche verbreiteten Antisemitismus aufmerksam zu machen und zugleich das Vorhandensein eines ausgeprägten Rassismus zu behaupten, der auf zwei Ebenen erkennbar sei: in der anthropologischen, biologischen und medizinischen Forschung und in der Abwertung bestimmter Minderheiten in Italien sowie der indigenen Bevölkerung in den italienischen Kolonien. So richtig indes der Verweis auf den in Teilen der italienischen Bevölkerung, der katholischen Kirche und zweifellos auch in Teilen der faschistischen Partei vorhandenen Antisemitismus für sich genommen ist, so wenig vermag er doch das Argument zu entkräften, dass der Faschismus über lange Jahre hinweg eine ausgeprägte antisemitische Doktrin vermissen ließ, wie dies gerade von völkischen Beobachtern in Deutschland innerhalb wie außerhalb der NSDAP immer wieder moniert wurde.108 Auch wenn Mussolini gegenüber Juden von 105
Vgl. die Einleitung zu Ernst Nolte (Hrsg.): Theorien über den Faschismus, 5. Aufl., Königstein 1979, S. 50. 106 Vgl. als repräsentative Autoren nur: De Felice 1977 (wie Anm. 21), S. 98 ff.; ders.: Storia degli ebrei italiani sotto il fascismo, Torino 1961, S. XXXVI, 23 f.; Karl Dietrich Bracher: Nationalsozialismus, Faschismus und autoritäre Regime, in: Gerald Stourzh und Birgitta Zaar (Hrsg.): Österreich, Deutschland und die Mächte, Wien 1990, S. 1-27, 25; ders.: Der Nationalsozialismus in Deutschland. Probleme der Interpretation, in ders. und Leo Valiani (Hrsg.): Faschismus und Nationalsozialismus, Berlin 1991, S. 25-40, 37 ff. 107 Vgl. Zeev Sternhell: Die Entstehung der faschistischen Ideologie, Hamburg 1999; Wirsching 1999 (wie Anm. 39). 108 Vgl. etwa Adolf Dresler: Mussolini, Leipzig 1924, S. 58.
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Ressentiments und Verschwörungstheorien nicht frei war,109 vollzog er doch die für den Antisemitismus charakteristische intellektuelle Systematisierung der Judenfeindschaft nicht mit und lehnte auch deren Umsetzung in Politik lange ab, wie etwa der erstaunlich hohe Anteil an jüdischen Mitgliedern der faschistischen Partei, die Berufung zahlreicher Juden in hochrangige Positionen des Regimes oder die Aufnahme jüdischer Emigranten aus Deutschland zeigen.110 In quasi-offiziösen Organen wie Bottais Critica Fascista waren kritische Stellungnahmen gegen den nationalsozialistischen Antisemitismus nichts Ungewöhnliches.111 Von hier aus gesehen erscheinen die Gründe, die das Regime ab 1938 veranlasst haben, zu einer Politik der Judenverfolgung überzugehen, als durchaus kontingent, wobei hier offen bleiben kann, ob eher Folgerungen aus der neuen bündnispolitischen Konstellation oder Motive der Konkurrenz und des ideologischen Wettkampfes ausschlaggebend waren.112
109
Entsprechende Belege sind bereits für seine sozialistische Periode nachgewiesen worden: vgl. Giorgio Fabre: Mussolini razzista. Dal socialismo al fascismo: la formazione di un antisemita, Milano 2005; Francesco Germinario: Sul razzismo del primo Mussolini, in: Teoria politica 22, 2006, S. 161-171. 110 Vgl. Gabriele Schneider: Mussolini in Afrika. Die faschistische Rassenpolitik in den italienischen Kolonien 1936-1941, Köln 2000, S. 65; Thomas Schlemmer und Hans Woller: Der italienische Faschismus und die Juden 1922 bis 1945, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 53, 2005, S. 164-202. Vor 1938 waren mehr als zehntausend italienische Juden in die faschistische Partei eingeschrieben, und dies bei einer Gesamtzahl von nur 50 000 Juden in Italien. Zum faschistischen Großrat gehörten bspw. Juden wie Aldo Finzi und Guido Jung, der außerdem zeitweilig als Finanzminister tätig war; Juden waren der Stellvertretende Leiter der faschistischen Polizei, Dante Almansi, der Oberste Richter und Präsident des Appellationsgerichtshofes, Lodovico Mortara, und last, but not least die Herausgeber des faschistischen Theorieorgans Gerarchia, Carlo Foa und Margherita Sarfatti. Vgl. William Brustein: The Roots of Hate. Anti-Semitism in Europe Before the Holocaust, Cambridge etc. 2003, S. 327 f. 111 Vgl. Andrea Hoffend: Zwischen Kultur-Achse und Kulturkampf. Die Beziehungen zwischen ‚Drittem Reich‘ und faschistischem Italien in den Bereichen Medien, Kunst, Wissenschaft und Rassenfragen, Frankfurt 1998, S. 107, 407. 112 Für das erstere votiert Meir Michaelis: Mussolini and the Jews. German-Italian Relations and the Jewish Question in Italy 1922-1945, Oxford 1978, S. 393, für das letztere Hoffend 1998 (wie Anm. 111), S. 373. Zu den italienspezifischen Ursachen vgl. Michele Sarfatti: Mussolini contro gli ebrei. Cronaca dell’elaborazione delle leggi del 1938, Torino 1994; ders.: Gli ebrei nell’Italia fascista. Vicende, identità, persecuzione, Torino 2000; ders.: La Shoah in Italia. La persecuzione degli ebrei sotto il fascismo, Torino 2005; Enzo Collotti: Il fascismo e gli ebrei. Le leggi razziali in Italia, Roma und Bari 2003; Carlo Moos: Ausgrenzung, Internierung, Deportation. Antisemitismus und Gewalt im späten italienischen Faschismus (1938-1945),
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Ebenso wenig verschlägt die Strategie, italienischen Faschismus und Nationalsozialismus auf der weltanschaulich-ideologischen Ebene einander anzunähern, indem man beide als Unterfälle des „Rassismus“ deutet.113 Italien leistete zwar mit den Arbeiten von Cesare Lombroso, Enrico Ferri, Giuseppe Sergi und Alfredo Niceforo einen gewiss nicht geringfügigen Beitrag zur physiologischen Anthropologie, die den rassentheoretischen Diskurs der Jahrhundertwende grundierte. Lombroso hielt jedoch die von ihm angenommene Inferiorität bestimmter Rassen für aufhebbar und sah in der Rassenmischung ein Vehikel des zivilisatorischen Fortschritts. Auch die anderen Anthropologen befürworteten melioristische Strategien, etwa in Bezug auf den von vermeintlich minderwertigen Rassen bevölkerten Süden.114 Die eugenische Bewegung nahm in Italien erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg genauere Konturen an. Sie blieb, wie in Frankreich, stark von lamarckistischen Überzeugungen geprägt, die in Richtung einer quantitativen, pronatalistischen Bevölkerungspolitik wirkten, einem „qualitativen“ Selektionismus aber entgegenstanden. Eine Tendenz in diese letztere, in Deutschland so stark vertretene Richtung findet sich in Italien erst in der Regimephase des Faschismus und auch hier eher bei Außenseitern, wie z. B. Giulio Cogni.115 Mussolini lehnte die Rassendoktrinen lange Jahre kategorisch ab Zürich 2004; Frauke Wildvang: Der Feind von nebenan. Judenverfolgung im faschistischen Italien 1936-1944, Köln 2008. 113 Vgl. in diesem Sinne Wolfgang Wippermann: War der italienische Faschismus rassistisch? Anmerkungen zur Kritik an der Verwendung eines allgemeinen Faschismusbegriffs, in Werner Röhr (Hrsg.): Faschismus und Rassismus. Kontroversen um Ideologie und Opfer, Berlin 1992, S. 108-122; Alberto Burgio: L’invenzione delle razze, Roma 1998; ders. und Luciano Casali: Studi sul razzismo italiano, Bologna 1999; Brunello Mantelli: Rassismus als wissenschaftliche Welterklärung. Über die tiefen kulturellen Wurzeln von Rassismus und Antisemitismus in Italien und anderswo, in: Christof Dipper (Hrsg.): Deutschland und Italien 18601960. Politische und kulturelle Aspekte im Vergleich, München 2005, S. 207-226; Schieder 2008 (wie Anm. 21), S. 406 ff.; Wildvang 2008 (wie Anm. 112), S. 50 ff. 114 Vgl. Mary Gibson: Biology or Environment? Race and Southern ‚Deviancy‘ in the Writings of Italian Criminologists, 1880-1920, in: Jane Schneider (Hrsg.): Italy’s Southern Question. Orientalism in One Country, Oxford 1998, S. 99-115; Marco Nese: Soziologie und Positivismus im präfaschistischen Italien 1870 – 1922. Denkverfassung und Ideologie einer gegenaufklärerischen Humanwissenschaft, Basel 1993, S. 103 ff.; Delia Frigessi: Cattaneo, Lombroso e la questione ebraica, in: Alberto Burgio (Hrsg.): Nel nome della razza. Il razzismo nella storia d’Italia 1870-1945, 2. Aufl., Bologna 2000, S. 247-264; Aaron Gillette: Racial Theories in Fascist Italy, London und New York 2002. 115 Vgl. hierzu ausführlicher Claudio Pogliano: Scienza e stirpe: Eugenica in Italia (19121939), in: Passato e presente 5, 1984, S. 61-97; ders.: Eugenisti, ma con giudizio, in: Burgio
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und mokierte sich immer wieder über die entsprechenden Wahnvorstellungen der Nationalsozialisten.116 Zahlreiche ablehnende Stellungnahmen führender Parteifunktionäre, Publizisten und Wissenschaftler unterstützten ihn in dieser Haltung.117 Als Mussolini sich zur Zeit des Abessinienkriegs dann doch zur Existenz von Rassen bekannte,118 geschah dies in einer Weise, die besser als Radikalisierung des Nationalismus denn als Wendung zum Rassismus bezeichnet werden sollte, verfolgte er damit doch gleich zwei nationalistische Ziele: die in der Rassenanthropologie verbreitete Ansicht zu entkräften, es gäbe in Italien zwei verschiedene Rassen, „die aus dem Po-Tal und die meridionale“;119 und der im nationalsozialistischen Deutschland verbreiteten negativen rassischen Klassifizierung der Italiener insgesamt Paroli zu bieten, indem die Letzteren sowohl als biologische wie auch als eine vornehmlich durch kulturelle und geschichtliche Leistungen ausgewiesene Einheit präsentiert wurden.120 Noch in jenem von Guido Landra entworfenen, von Musso2000 (wie Anm. 114), S. 423-442; Roberto Maiocchi: Scienza italiana e razzismo fascista, Firenze 1999, S. 203, 139; Claudia Mantovani: Rigenerare la società. L’eugenetica in Italia dalle origini ottocentesche agli anni Trenta, Soveria Manelli 2004; Francesco Cassata: Molti, sani e forti: l’eugenetica in Italia, Torino 2006. Zu Cogni vgl. Hoffend 1998 (wie Anm. 111), S. 376 f. 116 Vgl. etwa Benito Mussolini: Teutonica (Il Popolo d’Italia, N. 124, 26.5.1934), in: O.o., Bd. 26, Firenze 1958, S. 232 f.; Razza e razzismo (Il Popolo d’Italia, N. 213, 8.9.1934), ebd., S. 327 f. Auf die Frage des Fürsten Starhemberg, was er über Hitler denke, erwiderte Mussolini im Juni 1932: „Auf alle Fälle ist er ein starker Mann, ein großer Demagoge ... Er hat Großes geleistet. Aber seine Rassentheorien sind Blödsinn.” Zit. n. Jens Petersen: Hitler – Mussolini. Die Entstehung der Achse Berlin – Rom 1933-1936, Tübingen 1973, S. 106. Dort auch weitere Belege für Mussolinis Distanz gegenüber den „teutonischen“ Rassenlehren: S. 277 ff. 117 Vgl. Petersen 1973 (wie Anm. 116), S. 281 f., 369 f. Zu nennen wären die Attacken des Staatsrechtlers Guido Bortolotto gegen Rosenbergs Rassentheorie oder die kritische Analyse des NS aus der Feder des ehemaligen PNF-Pressechefs Franco Ciarlantanti, ferner Autoren wie Francesco Saverio Giovannuci, Sighfrido Barghini, Giacomo Acerbo, Alberto Lucchini, Camillo Pellizzi, Francesco Orestano u. a., die ihre nicht selten massive Kritik z. T. in Parteiorganen wie Gerarchia vortragen durften: vgl. m. w. N. Hoffend 1998 (wie Anm. 111), S. 200, 207 f., 381, 387, 414 f. 118 Vgl. Benito Mussolini: Il „dato“ irrefutabile (Il Popolo d’Italia, N. 182, 31.7.1934), in: O. o., Bd. 27, Firenze 1959, S. 110 f.; ders.: Ai bonificatori, ebd., S. 175 f. 119 Ders.: Al Consiglio Nazionale del P.N.F. (25.10.1938), in: O. o., Bd. 29, Firenze 1959, S. 190. Vgl. Schneider 2000 (wie Anm. 110), S. 78. 120 Andrea Hoffend: „Verteidigung des Humanismus“? Der italienische Faschismus vor der kulturellen Herausforderung durch den Nationalsozialismus, in: Jens Petersen und Wolfgang Schieder (Hrsg.): Faschismus und Gesellschaft in Italien. Staat, Wirtschaft, Kultur, Köln 1998,
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lini redigierten und im Namen einer heterogenen Gruppe von Wissenschaftlern veröffentlichten Text von 1938, der als Manifesto della razza oder auch Manifesto degli sczienzati razzisti bekannt geworden ist,121 wird die Versicherung, dass der Begriff der Rasse „rein biologisch“ sei, dadurch konterkariert, dass von einer „italienischen Rasse“ gesprochen wird – eine Bezeichnung, die gerade nicht für einen „Nationalrassismus“122 steht, sondern umgekehrt: für die Unterordnung der Rasse unter die Nation, der Fakten der Biologie unter diejenigen der Kultur und der Geschichte.123 Er sei es leid, so Mussolini wenige Tage nach der Veröffentlichung des Manifests, „wenn dauernd wiederholt wird, daß eine Rasse, die der Welt einen Dante, einen Machiavelli, einen Raffael und einen Michelangelo gegeben hat, afrikanischen Ursprungs sein soll.“124 Das hat zwar nicht daran gehindert, die nationale Gemeinschaft zugleich als Abstammungsgemeinschaft zu deuten und diese nach der einen Seite in größere Kollektive wie etwa die „Arier“ einzuordnen (Guido Landra) und nach der anderen Seite in diskriminierender Wendung von anderen Kollektiven wie den „Slawen“ oder den „Schwarzen“ abzuheS. 177-198, 190. Zu der überwiegend negativen Sicht Italiens unter rassenideologischen Prämissen vgl. Roger Uhle: Neues Volk und reine Rasse. Walter Gross und das Rassenpolitische Amt der NSDAP (RPA) 1934-1945, Phil. Diss. Aachen 1999, S. 244 ff., bes. 257 f., 269 f. 121 Abgedruckt in Maiocchi 1999 (wie Anm. 115), S. 327-329. Zum „Manifest“ vgl. Aaron Gillette: The Origins of the ‚Manifesto of Racial Scientists‘, in: Journal of Modern Italian Studies 6, 2001, S. 305-323. Zur Rolle Guido Landras, der der Rassenhygiene im Sinne Eugen Fischers nahe stand und vor allem für eine negative Eugenik eintrat, vgl. Kay Kufeke: Rassenhygiene und Rassenpolitik in Italien. Der Anthropologe Guido Landra als Leiter des ‚Amtes zum Studium des Rassenproblems‘, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung Bd. 10, 2001, S. 265-286; ders.: Anthropologie als Legitimationswissenschaft. Zur Verbindung von Rassentheorie und Rassenpolitik in der Biographie des italienischen Eugenikers Guido Landra (1939-1949), in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 82, 2002, S. 552-589. 122 So aber: Mantelli 2005 (wie Anm. 113), S. 222. – Die Bezeichnung „Nationalrassismus“ macht Rassismus zum Hauptwort und national zum Beiwort. Gegen die sonst in der italienischen Forschung gebräuchliche Formel vom „nazionalismo razziale“ ist dagegen nichts einzuwenden. 123 Das ist übrigens sehr klar von Julius Evola ausgesprochen worden, der in der Regimezeit eine eigene, stark an die Vorgaben von Ludwig Ferdinand Clauß angelehnte Rassenlehre entwickelt hat. In seiner Sintesi di dottrina della razza (Milano 1941) heißt es: „...il razzismo si presenta come una ulteriore ‚potenza‘ del nazionalismo, perchè il sentirsi di una stessa ‚razza‘ (...) è evidentemente qualcosa di più che sentirsi di una stessa nazione” (S. 12). Vgl. dazu auch Schneider 2000 (wie Anm. 110), S. 74 f., 79; A. James Gregor: Mussolini’s Intellectuals. Fascist Social and Political Thought, Princeton 2005, S. 207 f. 124 Zit. n. Hoffend 1998 (wie Anm. 111), S. 191.
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ben, was dann unter dem Regime ab 1938 und z. T. bereits früher zu einer schroffen Apartheidspolitik und massiven Kolonialverbrechen führte,125 doch ändert dies nichts daran, dass die Nation der Fixstern dieses Denkens blieb. Einen Begriff von Rasse im Sinne einer distinkten, von Volk und Nation unterscheidbaren Einheit hat Italien nur ansatzweise entwickelt und dort, wo er in der Theorie vorhanden war, sogleich einer Praxis untergeordnet, die sich am Primat der Nation orientierte.126 Ganz anders waren die Vorstellungen der in Deutschland einflussreichen „Nordischen Bewegung“ beschaffen. Hier wurde der Rassenbegriff durch die Einbeziehung ästhetischer und psychologischer Kriterien stark normativ aufgeladen und gegen Volk und Nation in einer zugleich inter- bzw. supranationalen und separatistischen Absicht profiliert, mit der Folge, dass einerseits ein Keil zwischen die als höherwertig konzipierten Gruppen mit hohem Anteil an ‚nordischem‘ Blut und den Rest der Bevölkerung getrieben wurde, während man andererseits eine alliance aryenne, eine „Blutverschwörung der nordischen Menschen aller Völker und Stände“ propagierte.127 In der NSDAP wurden diese Vorstellungen vor allem von der SS aufgegriffen, deren Führungsspitzen, namentlich Heinrich Himmler und Richard Walther Darré, schon in der Weimarer Republik von Günthers Schriften beeindruckt
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Vgl. Angelo Del Boca: Le leggi razziali nell’impero di Mussolini, in: ders. u. a. (Hrsg.): Il regime fascista. Storia e storiografia, Roma 1995, S. 329-351; Schneider 2000 (wie Anm. 110), S. 107 ff.; Aram Mattioli: Die vergessenen Kolonialverbrechen des faschistischen Italien in Libyen 1923-1933, in: Fritz Bauer Institut (Hrsg.): Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Frankfurt und New York 2004, S. 203-226; ders.: Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935-1941, Zürich 2005; Giorgio Rochat: Le guerre italiane 1935-1943. Dall’impero alla disfatta, Torino 2005; AsfaWossen Asserate und Aram Mattioli (Hrsg.): Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935-1941, Köln 2006; Giulia Brogini Künzi: Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg, München 2006. 126 Ausführlich dazu: Hoffend 1998 (wie Anm. 111), S. 362 ff. 127 Vgl. u. a. Hans F. K. Günther: Ritter, Tod und Teufel, München 1920, S. 153; ders.: Rassenkunde des deutschen Volkes, München 1922; ders.: Rassenkunde Europas, München 1925; ders.: Der Nordische Gedanke unter den Deutschen, München 1925; 1927². Zur Ideologieentwicklung vgl. Hans-Jürgen Lutzhöft: Der Nordische Gedanke in Deutschland 19201940, Stuttgart 1971; Cornelia Essner: Im ‚Irrgarten der Rassenlogik‘ oder Nordische Rassenlehre und nationale Frage (1919-1935), in: Historische Mitteilungen 7, 1994, S. 81-101. Zu den organisatorischen Aspekten vgl. Stefan Breuer: Die ‚Nordische Bewegung‘ in der Weimarer Republik, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 57, 2009, S. 485-509.
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waren.128 Das von Darré geleitete Rasse- und Siedlungshauptamt der SS rekrutierte seine Mitglieder gemäß den von Günthers Rassenschema bereitgestellten Selektionskriterien, gewährte oder verweigerte Heiratserlaubnisse unter rassenkundlichen Gesichtspunkten und machte sich während des Krieges daran, ganz Osteuropa rassenpolitisch umzustrukturieren.129 Himmlers Ziel war die Errichtung eines ‚Großgermanischen Reiches‘ als eines rassisch bzw. biologisch fundierten transnationalen Gebildes, „das die Deutschen und ihre ‚blutsverwandten‘ Nachbarvölker in einer ‚höheren Ordnung‘ gleichsam aufgehoben sein ließ und alte, völkische Identitäten zu einem neuen, als germanisch und europäisch zugleich ausgegebenen Bewusstsein transzendierte.“130 Mit Blick auf diese präzedenzlose und singuläre Zuspitzung der Rassenlehren zu einem „Rassenaristokratismus“ (Lutzhöft), der nur mühsam seine auch gegen Italien gerichteten Spitzen verbarg,131 erscheint die Skepsis derjenigen nur allzu begründet, die hierin den stärksten Beweis gegen die herkömmlichen Versionen einer allgemeinen Faschismustheorie sehen. „Diese Theorie verstummt gerade vor jenen Positionen und Widersprüchen, die erst die riesige Wirkung des Nationalsozialismus und seine äußerste Brutalität ausmachen: vor den revolutionären Aspekten des Rassismus, der Lebensraumidee, des totalitären Herrschafts- und Führerideals.“132
VII. Die Schwierigkeiten, die sich vor dem Versuch auftürmen, den Faschismus unter Rekurs auf den Rassismus als Weltanschauungspartei zu deuten, haben in den letzten Jahren eine starke Tendenz begünstigt, sich stattdessen an den Nationalismus zu halten. Auf dieser Linie liegt bereits die Deutung von 128
Vgl. Josef Ackermann: Heinrich Himmler als Ideologe, Göttingen etc. 1970, S. 111; Isabel Heinemann: Rasse, Siedlung, deutsches Blut. Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung, Göttingen 2003. 129 Vgl. Heinemann 2003 (wie Anm. 128), S. 76, 31, 10. 130 Frank-Lothar Kroll: Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich, Paderborn 1998, S. 220. Vgl. jetzt auch Peter Longerich: Heinrich Himmler. Biographie, Berlin 2008, S. 272, 660. 131 Vgl. etwa [o. V.:] Der Faschismus und das Bevölkerungsproblem, in: Archiv für Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungspolitik 4, 1934, S. 158-169; Hoffend 1998 (wie Anm. 111), S. 357 ff. m. w. N. 132 Bracher 1991 (wie Anm. 106), S. 37.
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Sternhell, die den Faschismus auf eine Variante des vor allem in Frankreich entwickelten ‚organischen Nationalismus‘ reduziert,133 liegt der Vorschlag von Roger Griffin, den Faschismus als „a revolutionary form of nationalism bent on regenerating a nation’s political culture“ bzw. „a palingenetic form of populist ultranationalism“ zu deuten, liegt Roger Eatwells Bezugnahme auf den „holistischen Nationalismus“ wie auch Michael Manns Verständnis des Faschismus als „the most extreme version of the dominant political ideology of our era“ -: „nation statism“, um nur einige wenige repräsentative Stimmen hervorzuheben.134 Zweifellos haben Faschisten ihre Handlungen gern und häufig unter Bezugnahme auf das nationale Kollektiv legitimiert. Dennoch ist der Nationalismus nicht geeignet, den Kern oder die Basis einer faschistischen Weltanschauung bzw. Ideologie abzugeben. Dies schon deswegen nicht, weil Nation und/oder Volk keineswegs das einzige Kollektiv sind, auf das sich Faschisten zu berufen pflegen.135 Daneben gibt es, wie eben ausgeführt, die Rasse als eine teils ergänzend hinzutretende, teils konkurrierende Größe,
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Vgl. die zwischen 1972 und 1983 erschienene, unlängst wieder aufgelegte und mit umfangreichen Vorworten versehene Trilogie: Maurice Barrès et le nationalisme français; La Droite révolutionnaire 1885-1914 und Ni droite ni gauche. Morphologie et historiographie du fascisme en France, Paris 2000. 134 Roger Griffin: Fascism, in: William Outhwaite (Hrsg.): The Blackwell Dictionary of Modern Social Thought, second ed., Malden, MA 2004, S. 231-234, 232; ders. 1991 (wie Anm. 1), S. 26; Roger Eatwell: On defining the ‚Fascist Minimum‘: The Centrality of Ideology, in: Journal of Political Ideologies 1, 1996, S. 303-319, 313 f.; Mann 2004 (wie Anm. 88), S. 2. Vgl. auch noch Juan Linz: Political Space and Fascism as a Late-Comer. Conditions Condusive to the Success or Failure of Fascism as a Mass Movement in Inter-War Europe, in: Larsen u. a. 1980 (wie Anm. 86), S. 153-191, 154, 161; Philippe Burrin: Le fascisme, in: JeanFrançois Sirinelli (Hrsg.): Histoire des droites en France, 3 Bde., Bd. 1, Paris 1992, S. 603652, 623; Emilio Gentile: Le origini dell’ ideologia fascista (1918-1925), Bologna 1996, S. 20; Wirsching 1999 (wie Anm. 39), S. 511; Jerzy W. Borejsza: Schulen des Hasses. Faschistische Systeme in Europa, Frankfurt 1999, S. 48 f.; Martin Blinkhorn: Fascism and the Right in Europe, 1919-1945, Harlow 2000, S. 6; Stanley Payne: Geschichte des Faschismus. Aufstieg und Fall einer europäischen Bewegung, München und Berlin 2001, S. 21; Kevin Passmore: Fascism. A Very Short Introduction, Oxford und New York 2002, S. 22, 25; Philip Morgan: Fascism in Europe, 1919-1945, S. 13 f.; Arnd Bauerkämper: Der Faschismus in Europa 19181945, Stuttgart 2006, S. 42. 135 Darauf verweist zu Recht Stephen D. Shenfield: Defining ‚Fascism‘, in: Roger Griffin und Matthew Feldman (Hrsg.): Fascism. Critical Concepts in Political Science, 5 vols, Oxford 2004, vol. 1, S. 272-290, 283 f.
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gibt es das Großgermanische Reich,136 die lateinische Zivilisation137 oder das Sacrum Imperium, die in manchen Versionen, wie z. B. bei Julius Evola, durchaus mit einer expliziten Verwerfung des Nationalismus einhergehen können,138 gibt es nicht zuletzt auch den Staat, der zumal in Italien von einigen Autoren als eine Institution gedacht wird, die nicht von der Nation hervorgebracht wird, sondern umgekehrt die Nation erzeugt.139 Nur vordergründig mit dem Nationalismus kompatibel ist auch der um 1919/20 in den Fasci di combattimento einflussreiche Futurismus, der sich zwar selbst gern als „antitraditionaler Nationalismus“ präsentierte,140 durch die Vehemenz seines Antitraditionalismus aber dazu getrieben wurde, alles zu demontieren, was die Nation als eine distinkte, in Raum und Zeit angesiedelte Größe ausmachte: von der Syntax und der Grammatik der Sprache über das in Museen und Bibliotheken sedimentierte kulturelle Gedächtnis der Nation bis hin zu den Trägern der Tradition, den Alten, die Marinetti in den Ofen zu schieben emp-
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Vgl. Hans-Dietrich Loock: Zur ‚Großgermanischen Politik‘ des Dritten Reiches, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 8, 1960, S. 37-63; Kroll 1998 (wie Anm. 130), S. 220; ders.: Die Reichsidee im Nationalsozialismus, in: Franz Bosbach und Hermann Hiery (Hrsg.): Imperium / Empire / Reich. Ein Konzept politischer Herrschaft im deutsch-britischen Vergleich, München 1999, S. 179-196. 137 Vgl. Dino Francesco: Appunti per un’analisi del mito romano nell’ideologia fascista, in: Storia contemporanea XI, 1980, S. 383-411; Romke Visser: Fascist Doctrine and the Cult of Romanità, in: Journal of Contemporary History 27, 1992, S. 5-22; Friedemann Scriba: Augustus im Schwarzhemd. Die Mostra Augusta della Romanità in Rom 1937/38, Frankfurt etc. 1994. 138 Zu den universalistischen Konzeptionen im italienischen Faschismus vgl. Hoffend 1998 (wie Anm. 111); Beate Scholz: Italienischer Faschismus als ‚Export‘-Artikel (1927-1935). Ideologische und organisatorische Ansätze der Verbreitung des Faschismus im Ausland, Diss. Trier 2001; Julius Evola: Imperialismo pagano, Todi 1928; ders.: Rivolta contro il mondo moderno, Milano 1934. Zu Evola vgl. Christophe Butin: Politique et tradition, Julius Evola dans le siècle (1898-1974), Paris 1992; Francesco Germinario: Razza del sangue, razza dello spirito. Julius Evola, l’antisemitismo e il nazionalsocialismo (1930-1943), Torino 2001; Patricia Chiantera-Stutte: Von der Avantgarde zum Traditionalismus. Die radikalen Futuristen im italienischen Faschismus von 1919 bis 1931, Frankfurt und New York 2002, S. 190 ff.; Francesco Cassata: A destra del fascismo. Profilo politico di Julius Evola, Torino 2003. 139 Vgl. Emilio Gentile: La Grande Italia. Ascesa e declino del mito della nazione nel ventesimo secolo, Milano 1997, S. 166, 150, 171, 181 f. 140 Filippo Tommaso Marinetti: Lettera aperta als futurista Mac Demarle, 15.8.1913. Zit. n. Wolfgang Schieder: Die Zukunft der Avantgarde. Kunst und Politik im italienischen Futurismus 1909-1922, in: Ute Frevert (Hrsg.): Das Neue Jahrhundert. Europäische Zeitdiagnosen und Zukunftsentwürfe um 1900, Göttingen 2000, S. 229-243, 234.
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fahl.141 Seinen positiven Ambitionen nach zielte der Futurismus überdies auf eine globale, nicht bloß nationale Kulturrevolution, so dass die geläufige Einordnung in den Nationalismus zu kurz gegriffen erscheint.142 Ungeeignet ist der Nationalismus aber auch deshalb, weil sich unter dieser Bezeichnung höchst heterogene Orientierungen verbergen, deren Unterschiede sich in Italien eher in der wertrationalen Ausrichtung, in Deutschland mehr in der Einstellung gegenüber den Hauptdimensionen der Modernisierung geltend machten. In Italien empfing der Faschismus seit 1921 und vollends ab 1923 starke Impulse vom Rechtsnationalismus, wie er vor allem von der seit 1910 bestehenden Associazione Nazionalista Italiana (ANI) vertreten wurde – einem Verband, der zwar die politische und wirtschaftliche Führung des Landes durch das Bürgertum erstrebte und Italien auf imperialistische Expansion und Krieg ausrichten wollte,143 dafür aber auch den Preis einer gewissen Entoligarchisierung zu entrichten bereit war.144 Diese seit der Fusion von ANI und PNF im Februar 1923 in leitenden politischen Positionen vertretene Strömung sah sich indes einer anderen, von der politischen Linken herkommenden Richtung gegenüber, die durch Anhänger des revolutionären Syndikalismus sowie durch den an die 141
Vgl. Christa Baumgarth: Geschichte des Futurismus, Reinbek 1966, S. 140; Hansgeorg Schmidt-Bergmann: Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente, Reinbek 1993, S. 109, 78; Filippo Tommaso Marinetti: Uccidiamo il Chiaro di Luna! (1909), in ders.: Teoria e invenzione futurista, hrsg. von Luciano De Maria, 4. Aufl., Milano 1998, S. 14 ff. 142 Als nationalistisch deuten den Futurismus etwa Emilio Gentile: Il futurismo e la politica. Dal nazionalismo modernista al fascismo (1909-1920), in: Renzo De Felice (Hrsg.): Futurismo, cultura e politica, Torino 1988, S. 105-159, 133; Karl Egon Lönne: Die futuristische Bewegung als Wegbereiter des italienischen Faschismus, in: Zeitgeschichte 18, 1990/91, S. 109-122; Angelo d’Orsi: L’ideologia politica del futurismo, Torino 1992, S. 11 ff.; Schieder 2000 (wie Anm. 140). Dagegen hebt Schmidt-Bergmann 1993 (wie Anm. 141), S. 152, mit Recht das „Programm einer globalen Kulturrevolution“ hervor. 143 Vgl. Corradini 1904. Zit. n. Francesco Perfetti: Il movimento nazionalista in Italia (19031914), Roma 1984, S. 42; ders.: Il regime della borghesia produttiva, Roma 1918, S. 50; Alfredo Rocco: Che cosa è il nazionalismo e che cosa vogliono i nazionalisti (1914), in: Perfetti 1984 (Il movimento), S. 235 f. Zur ANI grundlegend: Wilhelm Alff: Die Associazione Nazionalista Italiana von 1910, in ders.: Der Begriff Faschismus und andere Aufsätze zur Zeitgeschichte, Frankfurt 1971, S. 51-95; Alexander De Grand: The Italian Nationalist Association and the Rise of Fascism, Lincoln und London 1978. Zu Corradini zuletzt: Mauro Marsella: Enrico Corradini’s Italian Nationalism: The ‚Right Wing‘ of the Fascist Synthesis, in: Journal of Political Ideologies 9, 2004, S. 203-224. 144 Vgl. Rocco D’Alfonso: Stato e politica in Alfredo Rocco: problemi e prospettive per un bilancio storiografico, in: Il Risorgimento 1, 1993, S. 1-27.
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Traditionen Mazzinis und Garibaldis anknüpfenden fiumanesimo D’Annunzios repräsentiert wurde.145 Hier genoss die Nation zwar Höchstrelevanz, so dass durchaus von Nationalismus gesprochen werden kann (und nicht nur von „Patriotismus“), doch wurde das Verhältnis zwischen den Nationen nicht imperialistisch gedacht, sondern im Sinne eines Miteinanders von gleichberechtigten Kollektivsubjekten, wie dies schon Mazzini anvisiert hatte.146 Auch Mussolini tendierte nach seinem Bruch mit der Sozialistischen Partei zunächst in die Richtung eines nazionalismo di sinistra;147 und obschon er ab 1921 die Weichen für eine Wendung nach rechts stellte, wurde dadurch doch die ursprüngliche Position nicht gänzlich ausgelöscht. Das lässt sich nicht nur an seinen Bemühungen um eine Einbindung der kooperationswilligen Syndikalisten in das Regime ablesen,148 sondern auch an der Tolerierung einer sinistra fascista, die, nachdem sie lange Zeit nur eine quasi subkutane Existenz geführt hatte, in der Repubblica di Salò in den Vordergrund rückte.149 Das Manifest von Verona mit seiner Proklamation eines Produktivstaates unter weitreichender Verstaatlichung der Großindustrie setzte in dieser Beziehung deutliche Zeichen.150 In der NSDAP hingegen war der Nationalismus durchweg rechts, differierte aber in seiner Einstellung gegenüber der Modernisierung. Der völkische Nationalismus, der in der Anfangsphase dominierte, kreiste um das für 145
Vgl. David D. Roberts: The Syndicalist Tradition and Italian Fascism, Manchester 1979; Francesco Perfetti (Hrsg.): Il sindacalismo fascista, Bd. 1: Dalle origini alla vigilia dello Stato corporativo (1919-1930), Roma 1988; ders.: Fiumanesimo, sindacalismo e fascismo, Roma 1988; Bettina Vogel-Walter: D’Annunzio – Abenteurer und charismatischer Führer. Propaganda und religiöser Nationalismus in Italien von 1914 bis 1921, Frankfurt/M. 2004. 146 Vgl. Angelo Oliviero Olivetti: Dal sindacalismo rivoluzionario al corporativismo, hrsg. von Francesco Perfetti, Roma 1984, S. 49; Roberts 1979 (wie Anm. 145), S. 123 ff. (mit Bezugnahme auf Panunzio); Gentile 1996 (wie Anm. 134), S. 146, der allerdings Nationalismus mit der Position der ANI identifiziert und deshalb mit Blick auf den revolutionären Syndikalismus nur von einem „patriottismo rivoluzionario“ sprechen möchte, der sich in unüberbrückbarem Gegensatz „all’egoismo nazionale e all imperialismo“ befinde. 147 Vgl. De Felice 1965 (wie Anm. 23), S. 501. 148 Vgl. Roberts 1979 (wie Anm. 145), S. 12 ff.; Sternhell 1999 (wie Anm. 107), S. 242 ff. 149 Vgl. Giuseppe Parlato: La sinistra fascista. Storia di un progetto mancato, Bologna 2000. 150 Text des Programms in A. James Gregor: The Ideology of Fascism: The Rationale of Totalitarianism, New York 1969, S. 387 ff. Die Ausarbeitung und gesetzgeberische Umsetzung lag in den Händen Nicola Bombaccis, der zu den Mitbegründern der Kommunistischen Partei Italiens gehörte: vgl. Gregor 2005 (wie Anm. 123), S. 222 ff.; Lutz Klinkhammer: Zwischen Bündnis und Besatzung. Das nationalsozialistische Deutschland und die Republik von Salò 1943-1945, Tübingen 1993, S. 334 ff.
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die „erste“ oder auch „liberale“ Moderne charakteristische Ideal einer auf Arbeit und Leistung gegründeten Eigentümer-Marktgesellschaft.151 Die für die „zweite“ bzw. „massendemokratische“ Moderne zentralen Prozesse der Entkoppelung von Handlungssphären und der ökonomisch-sozialen Polarisierung erschienen gemessen an diesem Ideal als Desintegration und Anomie, als Übergang zu einer „entzauberten Moderne“,152 auf den die Völkischen mit Strategien der Wiederverzauberung reagierten: mit einer Verklärung der ursprünglichen Harmonie von Einzel- und Allgemeininteresse, mit einem Rekurs auf Pseudomythen wie denjenigen vom „ewigen Juden“, der Materialismus, Mammonismus und Plutokratie in die Welt gebracht habe sowie die entsprechenden Gegenbilder vom edlen und aufrechten Arier/ Germanen/Nordmenschen, der durch Wanderung und Vermischung sein Wesen eingebüßt habe.153 151
Vgl. zu diesen Begriffen Panajotis Kondylis: Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform. Die liberale Moderne und die massendemokratische Postmoderne, Weinheim 1991; Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt 1986. Zur Anwendung auf die Völkischen vgl. meine Studie: Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik, Darmstadt 2008. Gewisse Analogien zu diesem „hybriden“, progressive und regressive Tendenzen auf eigentümliche Weise kreuzenden Nationalismus gibt es auch in Italien, allerdings begrenzt auf den relativ kleinen Kreis der sogenannten „integralistischen“ Intellektuellen: vgl. Chiantera-Stutte 2002 (wie Anm. 138), S. 125 ff. Die Kritik an der Moderne richtet sich hier jedoch nicht nur gegen die massendemokratischen Züge der zweiten Moderne, sondern auch gegen basale Züge der ersten, deren Beginn mit der Reformation angesetzt wird: vgl. etwa Curzio Malaparte: L’Europa vivente. Teoria storica del sindacalismo nazionale con prefazione di Ardengo Soffici, Firenze 1923; ders.: Italia barbara, Torino 1925. Ihr wird dann wiederum nicht einfach ein Rückgriff auf die Vormoderne entgegengesetzt, sondern eine Mischung aus lateinischer Frühmoderne, wie sie sich in Renaissance und Gegenreformation manifestiert habe, und Elementen der zweiten Moderne, wie sie durch die (um ihre globalen, internationalistischen Aspekte coupierte) futuristische Kunst und den Nationalsyndikalismus repräsentiert werden. Ausführlicher hierzu Alexander De Grand: Curzio Malaparte: The Illusion of the Fascist Revolution, in: Journal of Contemporary History 7, 1972, S. 73-89, 78 ff.; Gentile 1996 (wie Anm. 134), S. 350 ff. 152 Vgl. Georg Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders, München 2007, S. 199 ff. 153 „Die Völkischen“, sagt Armin Mohler, „rufen unmittelbar die Ursprünge an“ (Die Konservative Revolution in Deutschland, 1918-1932, 2 Bde., Darmstadt, 3. Aufl. 1989, Bd. 1, S. 131). Im Lichte der von Kurt Hübner entwickelten Unterscheidungen wird man allerdings festhalten müssen, dass es sich bei den von ihnen erzählten Geschichten vom Anfang weniger um echte Mythen handelt als um Pseudomythen, die zur Erreichung politischer Zwecke bewusst gemacht werden: vgl. Kurt Hübner: Die Wahrheit des Mythos, München 1985, S. 357 ff.
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Dieser zwar nicht einfach antimodernen, gleichwohl innerhalb der Moderne durchaus retrograden, auf einen Rückbau der ökonomischen Differenzierung und der korrespondierenden politischen Kompensationen in Gestalt des Sozial- und Steuerstaates zielenden Richtung154 stand ein „neuer Nationalismus“ gegenüber, der die Ergebnisse des ersten Weltkriegs durch eine totale Mobilmachung aller Energien der Nation revidieren wollte und dafür bereit war, ein beträchtliches Maß an rechtlicher, sozialer und politischer Gleichheit im Innern zu akzeptieren und sogar zu fördern. Auch wenn die Gleichheit auf geschlechter- und ethnopolitischem Feld deutlichen Beschränkungen unterlag, war dieser neue Nationalismus doch bestrebt, die bis dahin dominierende oligarchische Struktur aufzuheben und die Masse der Produzenten in die Nation zu integrieren: durch eine das gesamte Instrumentarium der modernen Massenkommunikation nutzende Werbung um ihr Vertrauen und ihre Zustimmung im Wege der plebiszitären Legitimierung; eine Anerkennung ihrer Vertretungsorgane in Gestalt der Gewerkschaften; eine umfassende antizyklische Konjunkturpolitik mit dem Ziel der Vollbeschäftigung; einen massiven Ausbau der Systeme sozialer Sicherung; eine breitenwirksame, herkömmliche Disparitäten mittels horizontalem Lastenausgleich nivellierende Familien- und Bevölkerungspolitik sowie nicht zuletzt eine gewachsene Besitzstände nicht schonende Steuerpolitik.155 Mit einem Wort: Es handelte sich um einen Nationalismus, der in Bezug auf soziale Inklusion den Erfordernissen der zweiten, massendemokratischen Moderne Rechnung zu tragen und die dafür unumgängliche Umstellung des Wissens auf empirisch-analytische Grundlagen, wenn schon nicht vorbehaltlos, so doch in erheblichem Umfang vorzunehmen bereit war. Darüber hinaus ist festzuhalten, dass alle diese Strömungen nicht nur auf der soziopolitischen Ebene miteinander kollidierten. Die Gegensätze reichten vielmehr bis in die tiefsten Schichten hinein, in denen nach Dilthey Weltanschauungen wurzeln, also in metaphysische Grundeinstellungen, wie sie im Naturalismus und den verschiedenen Formen des Idealismus vorlie154
Dieser eigentümliche Zug wird sowohl von Deutungen verfehlt, die die Völkischen schlicht als reaktionär einstufen (George Mosse: Die völkische Revolution. Über die geistigen Wurzeln des Nationalsozialismus, Frankfurt 1991, S. VIII, 21), als auch von solchen, die, wie Roger Griffin, im „völkisch nationalism“ eine „outstanding form of socio-political modernism“ sehen wollen (wie Anm. 60, S. 140). 155 Vgl. Stefan Breuer: Grundpositionen der deutschen Rechten (1871-1945), Tübingen 1999, S. 159 ff.; ders.: Nationalismus und Faschismus. Frankreich, Italien und Deutschland im Vergleich, Darmstadt 2005, S. 162 ff. m. w. N.
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gen.156 So warf bspw. Giovanni Gentile, der Verfasser des philosophischen Teils der Dottrina del fascismo, dem Rechtsnationalismus vor, unter dem Einfluss positivistischen Denkens einem Naturalismus zu huldigen, der auf empirische Momente wie Territorialität und Ethnizität rekurriere, wo doch die Nation ganz im Gegenteil im idealistischen Sinne als spirituelle Größe aufzufassen sei, als eine über Willen und Bewusstsein verfügende Persönlichkeit.157 Auch die Rassenlehren wurden vielfach wegen ihres Materialismus kritisiert, insbesondere von den Verfechtern neoidealistischer Auffassungen, wie sie zunächst in Zeitschriften wie La Voce und Leonardo formuliert und anschließend in den Faschismus hineingetragen wurden.158 In Deutschland wurde Rasse von Günther und seinen Anhängern ganz im Sinne der naturalistischen Erbbiologie und Humangenetik aufgefasst,159 während andere wie Alfred Rosenberg und selbst Hitler darin primär eine psychische, spirituelle Größe sahen, die überdies bei Hitler weitgehend mit Volk und Nation zusammenfiel160 – ein Widerstreit zwischen den Prinzi-
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Vgl. Wilhelm Dilthey: Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen (1911), in ders.: Gesammelte Schriften Bd. 8, Leipzig und Berlin 1931, S. 100 ff. Damit soll freilich nicht gesagt sein, dass die in faschistischen Parteien zirkulierenden Ideen sich in jedem Fall zu Weltanschauungen verdichtet hätten. Für das Gedankengut des völkischen Nationalismus erscheint eher der Begriff Ideologie angebracht, wohingegen die nordizistische Rassenlehre durchaus weltanschauliche Züge trägt. Vgl. Breuer 2008 (wie Anm. 151), S. 10 ff. 157 Vgl. Giovanni Gentile: Origini e dottrina del fascismo, in ders.: Opere, Bd. XLV: Politica e cultura, hrsg. von Hervé A. Cavallera, Firenze 1990, S. 369-457, 386 f., 401 f., 404 f.; Die Lehre des Faschismus, in: Nolte 1979 (wie Anm. 105), S. 205-220, 208 f. Zur Autorschaft Gentiles für den philosophischen Teil vgl. Henry S. Harris: The Social Philosophy of Giovanni Gentile, Urbana 1960, S. 188; A. James Gregor: Giovanni Gentile: Philosopher of Fascism, New Brunswick and London 2001, S. 63. 158 Vgl. Schneider 2000 (wie Anm. 110), S. 42 ff. Ausführlich hierzu, auch die Einflüsse auf Mussolini berücksichtigend: Walter Adamson: Avant-Garde Florence: From Modernism to Fascism, Cambridge, Mass. 1993. 159 Vgl. Hans F. K. Günther: Rassenkunde des deutschen Volkes, München 1923³, S. 14. Faktisch war freilich auch dieser Ansatz von Anfang an stark wertend, wie Günther selbst freimütig einräumte: vgl. ders. 1927² (wie Anm. 127), S. 75 ff. 160 Zu Rosenberg vgl. Bärsch 1998 (wie Anm. 64), S. 202, 249, 267 u. ö.; Zu Hitlers auf die Homogenität seelischer Qualitäten abzielendem Rassebegriff vgl. Barbara Zehnpfennig: Hitlers Mein Kampf. Eine Interpretation, München 2000, S. 128; zum synonymen Gebrauch von Rasse, Volk und Nation vgl. Tyrell 1975 (wie Anm. 67), S. 47; Essner 1994 (wie Anm. 127), S. 93.
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pien, der im völkischen Lager schon vor dem Ersten Weltkrieg zu beobachten gewesen war.161 Angesichts derart fundamentaler Differenzen überzeugt der Vorschlag nicht, auf der Ebene der Ideologie ein hohes Maß an Unterschieden zwischen den einzelnen Faschismen zuzulassen und ideelle Einheit nur für die Ebene der Weltanschauung im Sinne letzter metaphysischer Prinzipien zu behaupten.162 Vielmehr lässt sich für faschistische Parteien der auf den Nationalsozialismus gemünzte Befund verallgemeinern, dass sich die postulierte „Weltanschauung bei genauerem Zusehen in ein Bündel verschiedenartigster Leitvorstellungen ausdifferenzierte“, die „nicht nur in einzelnen Nuancen oder Schattierungen voneinander ab(wichen)“, vielmehr in zahlreichen ideologischen Grundfragen divergierten, „bis hin zur partiellen Inkommensurabilität bestimmter Planungen und Positionen“.163 Von einer Weltanschauungspartei wird man deshalb ebenso wenig sprechen können wie von einem „Weltanschauungsstaat“,164 auch wenn Faschisten beharrlich das Gegenteil behaupteten und dem in der Regimephase mittels „propagandistische(r) Simulation“ erfolgreich Nachdruck verliehen.165
VIII. Dass es keine faschistische Weltanschauung oder Ideologie gibt, bedeutet freilich nicht, dass ideelle Interessen und Präferenzen vollständig ausgeschal161
Vgl. Puschner 2001 (wie Anm. 5), S. 54 ff. So mit Bezug auf die NSDAP: Joseph Nyomarkay: Charisma and Factionalism in the Nazi Party, Minneapolis 1967, S. 19 ff. Allgemeiner Alan Cassels: Janus: The Two Faces of Fascism, in: Henry A. Turner (Hrsg.): Reappraisals of Fascism, New York 1975, S. 69-92, 70. 163 Kroll 1998 (wie Anm. 130), S. 309. In vergleichender Perspektive kommt zu einem ähnlichen Urteil Hans Woller: Machtpolitisches Kalkül oder ideologische Affinität. Zur Frage des Verhältnisses zwischen Mussolini und Hitler vor 1933, in: Wolfgang Benz u. a. (Hrsg.): Der Nationalsozialismus, Frankfurt 1993, S. 42-63, 46. 164 So aber, mit Blick auf den NS-Staat: Ernst Piper: Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe, München 2005, S. 645. 165 Vgl. nur Adolf Hitler: Mein Kampf, 40. Aufl., München 1933, S. 409 ff.; Alfred Rosenberg: Der Mythus des 20. Jahrhunderts, 61.-62. Aufl., München 1935, S. 21 u. ö.; Ernst Graf Reventlow: Weltanschauung? in: Reichswart 15, 1934, Nr. 20. Zur Demontage dieses Anspruchs grundlegend: Hans Mommsen: Der Nationalsozialismus – eine ideologische Simulation? In: Hilmar Hoffmann und Heinrich Klotz (Hrsg.): Die Kultur unseres Jahrhunderts, 1933-1945, Düsseldorf etc., Bd. 3, 1991, S. 43-54, 50. 162
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tet sind.166 Weltanschauungen lassen sich mit Dilthey in kognitive und evaluative Komponenten untergliedern, in Weltbilder und praktische Stellungnahmen bzw. wertrationale Optionen, wie sie auch mit dem Begriff „Gesinnung“ bezeichnet zu werden pflegen.167 Enthalten die Ersteren umfassende und komplexe Systeme von Aussagen und Regeln, so beschränken sich die Letzteren auf abstrakte Präferenzen, die nur eine bestimmte Richtung angeben, ohne das Handeln allzu sehr festzulegen. Im politischen Feld beziehen sich solche Präferenzen auf gewisse fundamentale Ideen, idees-forces im Sinne Bourdieus, die als Mobilisierungskraft fungieren und zugleich eine Teilung des Feldes bewirken, etwa entlang der Differenz von Freiheit und Unfreiheit, von Freiheit und Gleichheit oder von Gleichheit und Ungleichheit.168 Im Antagonismus zwischen denjenigen, die eher dem Bedeutung beimessen, was die Menschen gleich anstatt ungleich macht, und denjenigen, die der umgekehrten Präferenz folgen, hat Norberto Bobbio bekanntlich die für moderne politische Ordnungen zentrale Unterscheidung von rechts und
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Es ist der Hauptmangel der in Anm. 155 zitierten Arbeit von 2005, dass sie den folgenden Punkt zwar erwähnt, aber nicht eigens in den Kriterienkatalog des ‚faschistischen Minimums‘ aufnimmt. Das sei hiermit korrigiert. 167 Vgl. Dilthey 1931 (wie Anm. 156), S. 81 ff. Unter Gesinnung versteht man in der theologischen und philosophischen Ethik „die wertbezogenen Grundeinstellungen und –optionen einer Person, die deren Urteil, Streben und Handlungen prädisponieren“, auch ohne dass hierbei ein ausgebildetes Weltbild vorliegen muss (Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Freiburg 1995, Bd. 4, S. 596). Max Weber hält Gesinnung und Weltanschauung nicht deutlich auseinander, wie zu Recht moniert worden ist: vgl. Helmut G. Meier: „Weltanschauung“. Studien zu einer Geschichte und Theorie des Begriffs. Phil. Diss. Münster 1967, S. 206 f. Immerhin definiert er den „Gesinnungsverein“ einigermaßen klar als „wertrational motiviert“, womit der „bewußte(n) Glauben an den – ethischen, ästhetischen, religiösen oder wie immer sonst zu deutenden – unbedingten Eigenwert eines bestimmten Sichverhaltens rein als solchen und unabhängig vom Erfolg“ gemeint ist (Weber 1976 [wie Anm. 11], S. 12, 22). Gesinnung und Wertrationalität sind danach nicht zu trennen: „Rein wertrational handelt, wer ohne Rücksicht auf die vorauszusehenden Folgen handelt im Dienst seiner Überzeugung von dem, was Pflicht, Würde, Schönheit, religiöse Weisung, Pietät, oder die Wichtigkeit einer ‚Sache‘, gleichviel welcher Art ihm zu gebieten scheinen“ (ebd., S. 12). Das spricht gegen die These Hartmut Essers, dass die „unumstößlich auf einen Wert festgelegte und darin von allen Konsequenzen losgelöste Gesinnungsethik (…) kein Fall des Typs der Wertrationalität“ sei: vgl. ders.: Die Rationalität der Werte, in: Gert Albert u. a. (Hrsg.): Das Weber-Paradigma, Tübingen 2005, S. 153-187, 186. 168 Vgl. Pierre Bourdieu: Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft, Konstanz 2001, S. 51.
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links gesehen und damit eine Struktur bezeichnet, in die auch faschistische Parteien eingeordnet werden müssen.169 Eine solche Einordnung bereitet für den deutschen Faschismus keine Mühe. Zwar haben es die Nationalsozialisten eher vermieden, sich eindeutig der politischen Rechten zuzuordnen, ja manchmal sogar bestritten, ihr zuzugehören.170 Ihre Frontstellung gegen die „westliche Demokratie einerseits und jüdischen Bolschewismus andererseits“171 spricht jedoch eine ebenso klare Sprache wie ihre Bereitschaft zum Schulterschluss mit den Parteien und Verbänden der traditionellen Rechten im Rahmen der Harzburger Front und später der Regierung der ‚nationalen Konzentration‘. An der für ein derartiges Bündnis wie auch für den Zusammenhalt der Partei erforderlichen Gesinnungsgrundlage hat es den führenden Repräsentanten der NSDAP zu keinem Zeitpunkt gefehlt. Für den völkischen Flügel mag hier Rosenberg stehen, der den Gedanken der „Gleichheit aller“ zu einem Produkt des „demokratischen Tellurismus“ erklärt und als Verstoß gegen die naturgegebene Hierarchie der Rassen und Geschlechter brandmarkt;172 für den Rassenaristokratismus Darré, der dem christlichen „Satz von der Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt“, die durch die Rassenkunde begründete „Vorstellung von der erblichen Ungleichheit der Menschen“ entgegenhält;173 für den neuen Nationalismus Gregor Straßer, der sich durch seine antikapitalistische Sehnsucht doch nicht von der Überzeugung abhalten lässt, dass die Menschen ungleich von Geburt seien, weiter ungleich durch das Leben würden und „daher ungleich bewertet werden (sollten) in ihrer Stellung in der Gesellschaft und im Staat.“174 Hitler vollends hat sich so oft gegen das Gleichheitsprinzip und für die Ungleichheit der Rassen und Völker ausgesprochen, dass an seiner Zugehörigkeit zur Rechten kein ernsthafter Zweifel bestehen kann.175 Das schließt Konzessionen an das Gleichheitsprinzip im Innern nicht aus, wie Barbara Zehnpfen169
Vgl. Norberto Bobbio: Rechts und Links. Gründe und Bedeutungen einer politischen Unterscheidung, Berlin 1994, S. 78. 170 Vgl. etwa Graf Ernst Reventlow: Sind wir rechts? – Sind wir konservativ? In: Reichswart 11, 1930, Nr. 13. 171 Adolf Hitler: Reden, Schriften, Anordnungen. Februar 1925 bis Januar 1933, hrsg. vom Institut für Zeitgeschichte, München etc. 1992 ff. Hier: Bd. I, 1992, S. 153. 172 Rosenberg 1935 (wie Anm. 165), S. 49. 173 Richard Walther Darré: Neuadel aus Blut und Boden, München 1930, S. 19. 174 Gregor Straßer: Kampf um Deutschland, München 1932, S. 134. 175 Vgl. nur Hitler (wie Anm. 171), Bd. III.1, 1994, S. 88; Bd. III.3, 1995, S. 204 f., 318, 353.
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nig gezeigt hat, wird jedoch stets durch den Vorrang der Ungleichheit begrenzt, der sich vor allem im Außenverhältnis geltend macht, aber auch nach innen zum Tragen kommt, etwa gegenüber denjenigen, denen der Bürgerstatus aus rassischen oder eugenischen Gründen verweigert wird.176 Die Ansicht, die nationalsozialistische Politik habe „ihre Kraft aus der Gleichheitsidee“ bezogen und sich dem „Egalitarismus der Volksgemeinschaft“ verschrieben, muss daher zurückgewiesen werden.177 Etwas schwieriger ist die Lage im italienischen Fall. Der unbestreitbar starke Zustrom, den die Fasci di combattimento aus dem linken Lager, sei es aus dem PSI, sei es aus dem revolutionären Syndikalismus, erfahren haben, hat schon bei den Zeitgenossen die Ansicht begünstigt, der Faschismus sei keine Rechtspartei.178 Einige spätere Historiker sind noch weiter gegangen und haben nicht nur die Zugehörigkeit des Faschismus zur politischen Rechten in Frage gestellt, sondern seine Herkunft aus dem „Linkstotalitarismus“ postuliert.179 Das geht an den Tatsachen vorbei. „Links“ war im italienischen Fall bestenfalls eine Komponente des Faschismus, nicht der Faschismus schlechthin. Und diese Komponente hat, auch wenn sie bis zum Ende des Regimes ihren Prinzipien treu geblieben sein mag, einer nach innen wie außen „rechten“ Politik so viele Konzessionen gemacht, dass diese Prinzipien nicht handlungsleitend waren.180 „Rechts“ ist ab Sommer 1920 die Praxis des Squadrismus, die auf nicht weniger als auf die Eliminierung 176
Vgl. Zehnpfennig 2000 (wie Anm. 160), S. 177, 188 f., 200, 262. Götz Aly: Rasse und Klasse. Nachforschungen zum deutschen Wesen, Frankfurt 2003, S. 242 f. Ähnlich ders.: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt 2005, S. 358 ff. 178 Vgl. Georg Mehlis: Die Idee Mussolinis und der Sinn des Faschismus, Leipzig 1928, S. 63. 179 Vgl. De Felice 1977 (wie Anm. 21), S. 104. 180 Das beginnt mit der Anerkennung von Nation und Rasse als historischer Gegebenheiten, mit denen zu rechnen sei (Gentile 1996 [wie Anm. 134], S. 146) und endet mit der Kapitulation vor dem Imperialismus als einer dem Ausdehnungsdrang starker Völker angemessenen Realität. So bezeichnet der dem Syndikalismus nahestehende Robert Michels wohl das Nationalitätenprinzip, demzufolge „jedes Volk es sich mit dem Genuss der erworbenen Selbständigkeit und Unabhängigkeit genug sein lasse und die Nebennationen nicht antaste“, als „das edle Prinzip des völkischen Kindheitsalters“, setzt es eben damit aber auch für die Gegenwart und nahe Zukunft außer kraft (Michels 1930 [wie Anm. 51], S. 5). Auch andere Syndikalisten waren der Ansicht, dass es zeitweise nötig sei, den Imperialismus zu unterstützen, um Italiens Position im Weltsystem zu verbessern: vgl. Roberts 1979 (wie Anm. 145), S. 110. ‚Rechte‘ Politik mag dabei immer noch Mittel zum Zweck und nicht Ziel an sich selbst sein, doch rückt dieses Ziel bei den regimetreuen Syndikalisten allmählich in ähnlich weite Ferne wie der Sozialismus in Stalins ‚Sozialismus in einem Lande‘. 177
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der politischen Linken zielt. „Rechts“ ist auch der diese Praxis begleitende Chor der Antiegalitarier im Faschismus, der die Gegenstimmen immer entschiedener übertönt. Für Futuristen wie Marinetti gehört der Affekt gegen die Gleichheit zu den stärksten Antrieben ihrer künstlerischen und politischen Bestrebungen. „L’Inegualismo è la teoria politica del Futurismo“, notiert Marinetti im Herbst 1921 in seinem Tagebuch, um ein Jahr später in einem Interview zu bekennen, dass der Futurismus in seinem Wesenskern auf Ungleichheit ausgerichtet (inegualista) und ultraindividualistisch sei.181 Rechtsnationalisten wie Rocco und Coppola setzen der Maxime der demokratischen Ideologie – Gleichheit der Individuen wie der Völker – die Formel entgegen: „Disziplin der Ungleichheiten und deshalb Hierarchie und Organisation im Inneren; freie Konkurrenz und Kampf zwischen den Völkern nach außen, weil sich zwischen den Ungleichen diejenigen durchsetzen, die besser vorbereitet und mehr an die allgemeine Funktion angepasst sind, die jedem starken und fähigen Volk in der Evolution der Zivilisation zugewiesen ist.“182 Und Mussolini, der Ex-Sozialist, nähert sich nach Kriegsende peu à peu dem demographisch und kulturell legitimierten Imperialismus der Rechtsnationalisten,183 um alsbald auch innenpolitisch den Schwenk nach rechts zu vollziehen. In einem im Februar 1922 in der Zeitschrift Gerarchia veröffentlichten Aufsatz erklärt er explizit die Zeit für abgelaufen, in der die Linke die Welt bestimmt habe. Zu konstatieren sei nunmehr eine ‚soziale Rechtsdrehung der ganzen Welt‘, die zu einer ‚weitgehenden, radikalen Revision aller Werte‘ führen werde. Das Jahrhundert der Demokratie sei 1919 und 1920 zu Ende gegangen. Jetzt beginne das ‚Jahrhundert der Restaurationen‘, das ‚antidemokratische Jahrhundert‘, in dem nicht mehr die Linke, sondern die Rechte den Ton angebe. „Eine klassische Erneuerung ist im Gange. Die anonyme, trübselige demokratische Gleichmacherei, die alle Farbe verbannte und alle Persönlichkeit unterdrückte, hört auf. Neue Aristokratien bilden sich: es zeigt sich deutlich, dass die Massen nicht die Träger, sondern nur das Instrument der Geschichte sein können.“184 Zehn Jahre 181 Vgl. Günter Berghaus: Futurism and Politics. Between Anarchist Rebellion and Fascist Reaction, 1909-1944, Providence und Oxford 1996, S. 262; vgl. auch S. 219. 182 Manifesto di ‚Politica‘, in: Alfredo Rocco: Scritti e discorsi politici, Bd. 2, Milano 1938, S. 529-544, 537. 183 Vgl. Enzo Santarelli: Mussolini e l’imperialismo, in ders.: Ricerche sul fascismo, Urbino 1971, S. 48 sowie Petersen 1973 (wie Anm. 116), S. 1 f. 184 Benito Mussolini: Da che parte va il mondo? In: O.o., Bd. 17, Firenze 1956, S. 66-72, 71: „Una ripresa classica è in atto. L’egualitarismo democratico anonimo e grigio, che aveva
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später wird die Dottrina del fascismo „die unabänderliche, fruchtbare und heilsame Ungleichheit der Menschen“ zum Dogma erheben und in dessen Namen „die absurde konventionelle Lüge von der politischen Gleichheit und kollektiven Verantwortungslosigkeit und von dem Mythus des Glückes und des unbegrenzten Fortschritts“ zurückweisen.185 Wenn es von hier aus möglich ist, die faschistische Partei als „rechte“ Gesinnungspartei zu bezeichnen und damit Deutungen zurückzuweisen, die „das allgemeine Kennzeichen des Faschismus“ in seiner „Ambivalenz“ sehen, seiner Platzierung „jenseits von rechts und links“,186 so muss doch sogleich hinzugefügt werden, dass die „rechte“ Gesinnung nur eine abstraktallgemeine Gemeinsamkeit darstellt, die von den jeweiligen Komponenten des Faschismus auf höchst unterschiedliche Weise konkretisiert wird,187 eine bloße Option in einem binären Schema, die in mehrere, langfristig gesehen durchaus inkompatible „Programme“ ausbuchstabiert werden kann. Ein übergreifendes „Weltbild“, das die Basis für weitergehende Festlegungen, etwa für die Etablierung einer „politischen Religion“ abgegeben hätte, ist damit nicht verbunden.188 Hinzu kommt, dass die Gesinnung kein Alleinstellungsmerkmal begründet. Mit ihr fügt sich der Faschismus ein in die große Familie rechter Parteien, die allesamt die Präferenz für Ungleichheit teilen, so dass sich auf der Ebene der Ziele in dieser Beziehung keine spezifische Differenz markieren lässt. Was immer in dieser Hinsicht angeführt zu werden pflegt – der Rassismus, der Antisemitismus, der Rechtsnationalis-
bandito ogni colore e appiattita ogni personalità, sta per morire. Nuove aristocrazie sorgono: ora che si è dimostrato come qualmente le masse non possano essere protagoniste della storia, ma strumento della storia.“ 185 Ders.: Die Lehre des Faschismus, in: Nolte 1979 (wie Anm. 105), S. 214 f. 186 Vgl. Hans-Ulrich Thamer und Wolfgang Wippermann: Faschistische und neofaschistische Bewegungen. Probleme empirischer Faschismusforschung, Darmstadt 1977, S. 244 sowie jüngst noch Wolfgang Wippermann: Faschismus. Eine Weltgeschichte vom 19. Jahrhundert bis heute, Darmstadt 2009, S. 11, 16 ff., in Anlehnung an den Titel des Buches von Zeev Sternhell: Ni droite, ni gauche. L’idéologie fasciste en France, Bruxelles 1987. 187 Vgl. Lepsius 1993 (wie Anm. 56), S. 111; mit Bezug auf das Rechtsdenken auch Oliver Lepsius: Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung. Methodenentwicklungen in der Weimarer Republik und ihr Verhältnis zur Ideologisierung der Rechtswissenschaft unter dem Nationalsozialismus, München 1994. Allgemein Lutz Raphael: Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft: Weltanschauungseliten und Humanwissenschaftler im NS-Regime, in: Geschichte und Gesellschaft 27, 2001, S. 5-40, 28 f. 188 So aber Wehler 2003 (wie Anm. 52), S. 662, 621 u. ö.
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mus –, kennzeichnet die in den faschistischen Parteien zirkulierenden Ideologien und Weltanschauungen, aber nicht den Faschismus.
IX. In dieser Gestalt einer rechten Gesinnungspartei lässt sich der Faschismus relativ problemlos mit der dritten Kategorie von Zielen vereinbaren, die Weber zur Typisierung von Parteien verwendet: dem Streben nach „Erlangung der Macht für den Führer und Besetzung der Stellen“ durch dessen Stab.189 Zwar ist das „parteimäßige Gemeinschaftshandeln“ nie bloß auf ein sachliches oder persönliches Ziel gerichtet, sondern gewöhnlich „auf dies alles zugleich“.190 Doch heißt dies selbstverständlich nicht, dass eine Partei im gleichen Maße Klassen-, Weltanschauungs- oder Patronagepartei sein kann. Je mehr eine Partei etwa Weltanschauungspartei ist, desto weniger ist sie Patronagepartei und umgekehrt. Da jedoch ‚Gesinnung‘ weit bestimmungsärmer und auslegungsfähiger ist, als es Weltanschauungen oder Ideologien zu sein pflegen, ist die Spannung, die von hier aus zu rein persönlichen Zielen besteht, deutlich geringer, so dass in diesem Fall beide Orientierungen gleichrangig verfolgt werden können. Um die Möglichkeit zu gewinnen, Gesinnung und Patronage im Rahmen der Parteisoziologie Max Webers zu kombinieren, muss man allerdings eine Zwischenüberlegung einschalten. Weber entfaltet sein Konzept der Patronagepartei nämlich überwiegend am Beispiel der nordamerikanischen Parteien,191 die ihm als „ganz gesinnungslose Parteien“ gelten, als „reine Stellenjägerorganisationen, die für den einzelnen Wahlkampf ihre wechselnden Programme je nach der Chance des Stimmenfangs machen“.192 Das 189
Weber 1976 (wie Anm. 11), S. 167. Ders. 2001 (wie Anm. 103), S. 267. 191 Vgl. ders. 1976 (wie Anm. 11), S. 168. Ganz unerörtert bleiben muss im Folgenden die Frage, ob Webers Beschreibungen in diesem Fall sachgerecht sind und wenn, für welchen Zeitraum. Vgl. dazu Günther Roth: Politische Herrschaft und persönliche Freiheit, Frankfurt 1987, S. 31 ff.; Hartmut Wasser: Die politischen Parteien, in: Willi Paul Adams u. a. (Hrsg.): Die Vereinigten Staaten von Amerika, 2 Bde., Frankfurt und New York 1992, Bd. 1, S. 438459; Pier Paolo Portinaro: Amerika als Schule der politischen Entzauberung. Eliten und Parteien bei Max Weber, in: Edith Hanke und Wolfgang J. Mommsen (Hrsg.): Max Webers Herrschaftssoziologie, Tübingen 2001, S. 285-302. 192 Weber 1992 (wie Anm. 29), S. 213. 190
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bezieht sich sowohl auf die Gefolgschaft, die unter den Bedingungen der Massendemokratisierung und der ihr korrespondierenden plebiszitären Form durch „Entseelung“, durch „geistige Proletarisierung“ bestimmt sein soll, als auch auf die Führung, den „Boss“, von dem es heißt, er habe „keine festen politischen ‚Prinzipien‘“, er sei „vollkommen gesinnungslos“ und frage nur: „Was fängt Stimmen“.193 Folgt man Webers Darstellung, wird dies auch durch das Auftreten charismatischer Führer nicht grundsätzlich geändert, da Folgebereitschaft und Vertrauen ausschließlich emotionalen Charakters seien und sich aus der Genugtuung speisten, „für einen Menschen in gläubiger persönlicher Hingabe und nicht nur für ein abstraktes Programm einer aus Mittelmäßigkeiten bestehenden Partei zu arbeiten“.194 Das ist nun allerdings eine wesentlich engere Sichtweise, als sie in Webers sonstigen Darlegungen zur charismatischen Herrschaft anzutreffen ist. Die letzte Fassung der Herrschaftssoziologie spricht ausdrücklich von der „außeralltäglichen Hingabe an die Heiligkeit oder die Heldenkraft oder die Vorbildlichkeit einer Person und der durch sie offenbarten oder geschaffenen Ordnungen“, nennt also nicht bloß persönliche, sondern auch sachliche Aspekte.195 Dem Charisma wird eine revolutionäre Qualität zugeschrieben, die daraus resultieren soll, dass es nicht wie die „ratio“ von außen her wirkt, sondern von innen her, durch „eine Wandlung der zentralen Gesinnungsund Tatenrichtung unter völliger Neuorientierung aller Einstellungen zu allen einzelnen Lebensformen und zur ‚Welt‘ überhaupt“.196 In der älteren Herrschaftssoziologie rückt Weber das Charisma in eine Beziehung zur Entwicklung der Gottesidee und leitet daraus die Konzeption einer „göttlichen Sendung“, einer „Mission“ ab; diese wiederum wird im weiteren Verlauf ihrer außerweltlichen Bezüge entkleidet und in eine charismatische Verklärung der Vernunft überführt, der man mit Recht eine gesinnungsethische Basis attestiert hat.197 Kurzum: Beziehungen, die durch das Charisma geprägt sind, sind potentiell auch für wertrationale Motive offen und nicht nur rein affektueller Natur.198 193
Ebd., S. 223. Ebd., S. 204; vgl. ders. 1976 (wie Anm. 11), S. 156 f. 195 Ders. 1976 (wie Anm. 11), S. 124, H. v. m., S.B. 196 Ebd., S. 142. 197 Ders. 2005 (wie Anm. 28), S. 461, 464, 679. Vgl. Wolfgang Schluchter: Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus, Tübingen 1979, S. 81. 198 Vgl. in diesem Sinne auch den Vorschlag, zwischen verschiedenen Typen von Charisma zu unterscheiden: „emotional, faith, and value charisma“: Arthur Schweitzer: Theory and 194
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Überträgt man dies auf das Konzept der Patronagepartei, dann zeigt sich, dass es durch Webers Bezugnahme auf die nordamerikanischen Parteien nicht erschöpfend beschrieben ist. Die für diese angenommene Gesinnungslosigkeit bezeichnet einen möglichen Grenzfall im Rahmen einer Strukturform, die auch die entgegengesetzte Möglichkeit enthält: die Aufladung mit Charisma, das gewiss immer in erster Linie an eine Person geknüpft ist, darüber vermittelt aber auch Werte, Ideen, Gesinnungen ins Spiel zu bringen vermag. Die erste Variante wäre aus dieser Perspektive eher dem Umstand zuzuschreiben, dass innerparteiliche Organisationsmuster, wie sie im Begriff der „Maschine“ angedeutet sind, im Vordergrund stehen; wohingegen die zweite Variante auf eine stärkere Öffnung in Richtung der oben angesprochenen „antiautoritären Umdeutung des Charisma“ verweist, wie sie für den Prozess der Massendemokratisierung typisch ist. Je nach der in ihr vorherrschenden Organisationsform kann die Patronagepartei deshalb andere Züge hervorkehren: das kühle Kalkül und den prinzipienlosen Opportunismus; oder den Appell an die Gesinnungsgemeinschaft zwischen einem von seiner Sendung durchdrungenen Führer und den ihm vertrauenden Massen.
X. Dass eine Partei, die sich primär als Gesinnungspartei präsentiert, mit Führern, die rein der Sache zu dienen und völlig selbstlos zu handeln prätendieren, auch (und womöglich: vor allem) eine Patronagepartei ist, pflegt sich erst dann zu enthüllen, wenn diese Partei in den Besitz der politischen Macht gelangt. Zwar lassen sich mafiaähnliche klientelistische Netzwerke, bei denen die lokalen Führer ihren Männern Zugang zu Ressourcen – Geld, Waffen, Stellen, Beziehungen, Karrieren etc. – eröffnen und dafür im Gegenzug Gefolgschaft erhalten, für Italien wie Deutschland auch schon im Vorfeld belegen,199 doch ist es erst nach 1922 bzw. 1933, dass es zu einer umfassenden Appropriation von öffentlichen Ämtern kommt, wie dies für den Begriff der Patronagepartei entscheidend ist. Mussolini vereinigte zeitweise bis zu acht Ministerposten in seiner Hand, seine ras wurden Abgeordnete, Staatsräte, Political Charisma, in: Comparative Studies in Society and History 16, 1974/75, S. 150-181, 154 sowie ders.: The Age of Charisma, Chicago 1984, S. 31 ff. 199 Vgl. Schieder 1983 (wie Anm. 21), S. 73; Reichardt 2002 (wie Anm. 12), S. 500 ff., 710.
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Gouverneure und Minister: Italo Balbo etwa Minister für Luftfahrt und Gouverneur von Tripolitanien, Cyrenaika und Libyen; Giuseppe Bottai Minister für Erziehung, Dino Grandi Außenminister, Renato Ricci Korporationsminister, Pietro Bolzon Senator, Leandro Arpinati Unterstaatssekretär im Innenministerium, Alessandro Pavolini Volkskulturminister.200 Selbst diejenigen, die zunächst leer ausgingen, wie der ras von Cremona, Roberto Farinacci, sahen sich doch in einer überaus günstigen Position, die es ihnen erlaubte, von Banken und Industrieunternehmen großzügige Subsidien für ihre Zeitungen zu erpressen und den Fiskus zu prellen.201 In Deutschland übernahm Hitler neben dem Amt des Reichskanzlers auch noch dasjenige des Reichspräsidenten, Göring neben demjenigen des Preußischen Ministerpräsidenten unter anderem das Reichsluftfahrtministerium, den Oberbefehl über die Luftwaffe und die Leitung des Vierjahresplans, Himmler die Position des Chefs der politischen Polizei und des Reichskommissars für die Festigung des deutschen Volkstums. Goebbels war Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, Vorsitzender der Reichskulturkammer und ab 1944 Generalbevollmächtigter für den totalen Kriegseinsatz, Darré Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft und Vorsitzender der Reichsführergemeinschaft der Agrarverbände und des Landwirtschaftsrates.202 Während in Italien indes der Zugriff der Partei auf die unterhalb der Regierungsebene gelegenen Apparate von Verwaltung, Polizei und Armee relativ begrenzt blieb,203 Mussolini darüber hinaus 1932/33 durch die Entlassung wichtiger Minister wie Bottai und Grandi den Ambitionen der aufstrebenden classe dirigente immer wieder einen Riegel vorschob,204 stellte in Deutschland das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7.4.1933 die Weichen für eine ‚beispiellose Ämterpatronage‘, die Noltes Wort vom „Radikalfaschismus“ in dieser Hinsicht vollauf gerechtfertigt er-
200
Vgl. die biographischen Angaben in Franzinelli 2004 (wie Anm. 36), S. 175 ff.; Hoffend 1998 (wie Anm. 111), S. 46. 201 Vgl. Harry Fornari: Mussolini’s Gadfly. Roberto Farinacci, Nashville 1971, S. 114 f., 154, 159 f., 166. 1944 wurde Farinacci, immerhin 1925/26 Generalsekretär der faschistischen Partei, der Steuerhinterziehung im Umfang von 3 Mio. Lire überführt und verurteilt, und dies noch unter dem faschistischen Regime: vgl. ebd., S. 212. 202 Vgl. Hermann Weiß (Hrsg.): Biographisches Lexikon zum Dritten Reich, Frankfurt 1998. 203 Vgl. Stefan Breuer: Faschismus in Italien und Deutschland, in: Leviathan 11, 1983, S. 2854, 35 ff. 204 Vgl. Scholz 2001 (wie Anm. 138), S. 93.
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scheinen lässt.205 Wenngleich der mittlere und untere Dienst kaum betroffen wurde, wurden sämtliche politische Beamte und etwa zehn Prozent der höheren Beamten aus ihren Positionen entfernt; weiterer Raum wurde durch die Verdrängung der Frauen geschaffen, die 1936 von der Richter- und Anwaltstätigkeit, ein Jahr später generell vom höheren Dienst ausgeschlossen wurden.206 Für die Wiederbesetzung der freigewordenen Stellen wie auch für die Besetzung der ab 1935 in beachtlichem Umfang neu eingerichteten Positionen207 nahm der Stab des Stellvertreters des Führers erfolgreich das Mitspracherecht in Anspruch, so dass es zu einer raschen Nazifizierung der Verwaltung kam: 1935 waren 70% der Bürgermeister, 61 % der Gemeindebürgermeister und 63 % der Landräte Parteimitglieder; an Schulen und Hochschulen sah es nicht anders aus.208 Die städtischen Wasser-, Gas- und Elektrizitätswerke, die Nahverkehrsunternehmen und Ortskrankenkassen entwickelten sich zu regelrechten nationalsozialistischen Beschäftigungsgesellschaften, die – noch mitten in der Massenarbeitslosigkeit – so viele Parteimitglieder einstellten, dass sie am Rande des finanziellen Ruins lavierten.209 Wer dort nicht unterkam, dem bot die Partei selbst mit ihren zahlreichen Gliederungen und angeschlossenen Verbänden genügend Möglichkeiten, sei es im Rahmen der Deutschen Arbeitsfront, die schon nach kurzer Zeit über ein Korps von 44 500 hauptamtlichen Funktionären verfügte, im Apparat des Reichsnährstandes mit seinen 10 000 Beamten und 20 000 Angestellten, in der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt mit ihren im Krieg die Hunderttausendmarke überschreitenden Angestellten oder in den Gau-, Kreis- und Ortsgruppenverwaltungen der Partei, in denen 1938 rund 700 000 Funktionäre tätig waren.210 Die SS schwoll schon im Frühjahr 1933 auf 205
Vgl. Günter Püttner: Der Öffentliche Dienst, in: Kurt G. A. Jeserich u. a. (Hrsg.): Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 4: Das Reich als Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 1985, S. 1082-1099, 1090. 206 Vgl. Bernd Wunder: Geschichte der Bürokratie in Deutschland, Frankfurt 1986, S. 139 f., 142. 207 Eine interne Aufstellung des Reichsfinanzministeriums beziffert die Zunahme der Beamten in einem Zeitraum von knapp zehn Jahren von 750 000 auf 1,289 Millionen, die der Staatsangestellten von 170 000 auf 724 000: vgl. Wehler 2003 (wie Anm. 52), S. 725. 208 Vgl. Wehler 2003 (wie Anm. 52), S. 620, 818 ff., 827. Zur Einflussnahme des Heß-Stabes auf die Personalpolitik vgl. Longerich 1992 (wie Anm. 77). 209 Vgl. mit einer Fülle von Belegen Frank Bajohr: Parvenüs und Profiteure. Korruption in der NS-Zeit, Frankfurt 2001. 210 Vgl. Wehler 2003 (wie Anm. 52), S. 702, 727, 688; Christoph Sachße und Florian Tennstedt: Der Wohlfahrtsstaat im Nationalsozialismus, Stuttgart etc. 1992, S. 117, 246.
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100 000 Mitglieder an und verdoppelte sich bis zum folgenden Frühjahr noch einmal. Ihre Gehälter wurden zunächst aus Mitgliedsbeiträgen der Partei, aus Sonderabgaben von Nicht-Pgs sowie aus Zahlungen der fördernden Mitglieder finanziert, doch gelang es Himmler 1939, den Etat seiner Truppe gänzlich vom Reichsschatzmeister der NSDAP bestreiten zu lassen, was nichts anderes hieß als aus Steuermitteln. Aus seiner Machtposition im Regime zog er weiteres Kapital, indem er durch Aufnahme von Krediten die Mittel bereitstellte, um zuerst das hauptamtliche, dann das gesamte Führerkorps und schließlich die SS in toto zu entschulden. Seinen beiden Brüdern und seinen besten Freunden verhalf er nicht nur zu beachtlichen SS-Karrieren, sondern auch zu Spitzenpositionen in ihrem jeweiligen Beruf. 211 Der Begriff der Patronage umfasst indes nicht nur die Begünstigung des eigenen Anhangs bei der Besetzung von Ämtern und Stellen. Er steht vielmehr ganz allgemein für „a particularist mode of distribution of public resources in exchange of political support.“212 Das lässt sich zum einen beziehen auf die großzügige Vergabe von Dotationen und Zuwendungen aller Art an einzelne Funktionäre im Herrschaftssystem, für die sich sowohl Hitler als auch seine Satrapen umfangreiche Sonderfonds und schwarze Kassen zulegten, die sich aus öffentlichen Mitteln, Tantiemen und Honoraren, Spenden potenter Geldgeber und nicht zuletzt auch schlicht geraubten Gütern, etwa im Rahmen der sogenannten Arisierungen oder später in den besetzten Ländern, speisten;213 zum andern aber auch auf die Förderung ganzer Gruppen durch die Gewährung von Protektion und sozialer Sicherheit im Tausch gegen Loyalität und Gefolgschaft – ein Phänomen, das in
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Vgl. Longerich 2008 (wie Anm. 130), S. 178, 268, 339, 392 ff. J. F. Médard. Zit. n. Antoni Maczak: Ungleiche Freundschaft. Klientelbeziehungen von der Antike bis zur Gegenwart, Osnabrück 2005, S. 88. 213 Vgl. Bajohr 2001 (wie Anm. 209), S. 34 ff. In Österreich, um nur dieses Beispiel zu nennen, machte die NSDAP gleich nach dem Anschluss die Arisierung zu einem Versorgungssystem ihrer Mitglieder und Mitläufer. Vgl. Gerhard Botz: Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme und Herrschaftssicherung 1938/39, Buchloe 1988³, S. 336; ders.: Arisierung in Österreich (1938-1940), in: Dieter Stiefel (Hrsg.): Die politische Ökonomie des Holocaust. Zur wirtschaftlichen Logik von Verfolgung und ‚Wiedergutmachung‘, Wien und München 2001, S. 29-56. Zu der in Österreich besonders intensiv betriebenen Erforschung der Arisierungen vgl. den Schlussbericht der Historikerkommission der Republik Österreich. Vermögensentzug während der NS-Zeit und Entschädigungen seit 1945 in Österreich, Wien und München 2003. Dort auch ein Überblick über die von der Kommission herausgegebenen Publikationen (S. 458 ff.). 212
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der einschlägigen Forschung über Patron-Klient-Beziehungen mit Begriffen wie „Sozialklientel“, „Massen“- oder „Kollektivklientel“ bezeichnet wird.214 Klientelistische Politik in diesem Sinne hat die NSDAP sogleich nach der Machtübernahme betrieben: gegenüber ihrer bäuerlichen Wählerschaft, für deren Existenzsicherung ein breites Spektrum protektionistischer Maßnahmen ins Werk gesetzt wurde, das vom Zollschutz über Zinsverbilligung, Umschuldung, Steuersenkung bis zur Erhöhung der Gewinnspannen reichte;215 gegenüber der Arbeiterschaft, die zunächst durch zivile Arbeitsbeschaffungsprogramme, sodann durch die kreditfinanzierte Aufrüstung von der Geißel der Massenarbeitslosigkeit befreit und bald auch nach italienischem Vorbild zum Objekt einer umfassenden Arbeitsplatz- und Freizeitbetreuung wurde;216 gegenüber den Rentnern, deren Sicherheit nicht nur durch die Sanierung der Rentenversicherung, sondern auch durch Leistungserweiterungen, etwa die Einführung der obligatorischen Krankenversicherung, gewährleistet wurde;217 gegenüber den einkommensschwachen Familien, deren Budget durch umfangreiche Förderung in Gestalt von Ehestandsdarlehen, Kinderbeihilfen, Ausbildungsgeld und eine Erhöhung des steuerfreien Grundbetrags massiv aufgestockt wurde;218 gegenüber den Angehörigen der Soldaten, die durch ein großzügiges System des Familienunterhalts abgesichert wurden;219 gegenüber der erbgesunden, „arischen“ Durchschnittsbevölkerung insgesamt, die durch Steuergeschenke, opulente Staatsfürsorge sowie später durch Abwälzung der Rüstungs- und Kriegskosten auf die eroberten und abhängig gemachten Nachbarstaaten bei Laune gehalten wurde. Mutatis mu214
Vgl. Horst Baier: Herrschaft im Sozialstaat, in: Christian von Ferber und Franz-Xaver Kaufmann (Hrsg.): Soziologie und Sozialpolitik. Sonderheft 19/1977 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, S. 128-142, 140 ff.; John D. Martz: The Politics of Clientelism. Democracy and the State in Colombia, New Brunswick und London 1997, S. 35 ff.; Maczak 2005 (wie Anm. 212), S. 54. 215 Vgl. Jochen Streb und Wolfram Pyta: Von der Bodenproduktivität zur Arbeitsproduktivität, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 53, 2005, S. 56-78. 216 Vgl. Timothy W. Mason: Sozialpolitik im Dritten Reich. Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft, Opladen 1977; Avraham Barkai: Das Wirtschaftssystem des Nationalsozialismus, Frankfurt 1988. 217 Vgl. Karl Teppe: Zur Sozialpolitik des Dritten Reiches am Beispiel der Sozialversicherung, in: Archiv für Sozialgeschichte 17, 1977, S. 195-250. 218 Vgl. Wolfgang Voegeli (Hrsg.): Nationalsozialistische Familienpolitik zwischen Ideologie und Durchsetzung, Hamburg 2001. 219 Vgl. Birthe Kundrus: Kriegerfrauen. Familienpolitik und Geschlechterverhältnisse im Ersten und Zweiten Weltkrieg, Hamburg 1995.
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tandis – und das heißt in diesem Fall vor allem: auf einem deutlich niedrigeren Niveau der Lebenshaltung – lassen sich auch im Italien Mussolinis Parallelen zu einer derart klientelistischen Politik ausmachen.220 Mit Recht ist für Regime dieser Art, die sich die Zustimmung der Bevölkerung „durch systematische Bestechung mittels sozialer Wohltaten“ immer neu erkaufen, der Begriff der „Gefälligkeitsdiktatur“ ins Spiel gebracht worden.221
XI. Gegen diese Sichtweise ist von weberianischer Seite der Vorwurf eines engstirnigen Materialismus erhoben worden, der außerstande sei, die Bedeutung der ideellen Interessen für die Dynamik des NS-Regimes wie faschistischer 220
Vgl. für den Agrarprotektionismus ab 1925 Alexander Nützenadel: Landwirtschaft, Staat und Autarkie. Agrarpolitik im faschistischen Italien 1922-1943, Tübingen 1997; für die Arbeitsplatz- und Freizeitbetreuung Victoria de Grazia: The Culture of Consent. Mass Organization of Leisure in Fascist Italy, Cambridge 1981; Daniela Giovanna Liebscher: Organisierte Freizeit als Sozialpolitik. Die faschistische Opera Nazionale Dopolavoro und die NS-Gemeinschaft Kraft durch Freude 1925-1939, in: Petersen und Schieder 1998 (wie Anm. 120), S. 67-90; für die Familien- und Sozialpolitik aus faschistischer Sicht: Mario de Vergottini: Die Bevölkerungspolitik des Faschismus und ihre Grundlagen, in: Archiv für Bevölkerungspolitik 8, 1938, S. 289-314. Ferner Dietrich v. Delhaes-Guenther: Die Bevölkerungspolitik des Faschismus, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 59, 1979, S. 392-417; Domenico Preti: La modernizzazione corporativa (1922-1940). Economia, salute pubblica, istituzioni e professioni sanitarie, Milano 1987; Victoria de Grazia: How Fascism Ruled Women. Italy, 1922-1945, Berkeley 1992, S. 41 ff.; Cecilia Dau Novelli: Famiglia e modernizzazione in Italia tra le due guerre, Roma 1994; Fabio Bertini: Il fascismo dalle assicurazioni per i lavoratori allo stato sociale, in: Marco Palla (Hrsg.): Lo stato fascista, Bd. 1, Firenze 2001, S. 177-313; Paul Corner: Italian Fascism: Whatever Happened to Dictatorship? In: The Journal of Modern History 74, 2002, S. 302-351, 340 ff. Zur Kulturpolitik vgl. Marla S. Stone: The Patron State. Culture and Politics in Fascist Italy, Princeton 1998. 221 Aly 2005 (wie Anm. 177), S. 36, 333. Das von Alys Kritikern vorgetragene Argument, das NS-Regime habe für große Teile der deutschen Bevölkerung keine wirkliche Besserstellung gegenüber dem bereits in der Weimarer Republik erreichten Level erbracht, ja sei noch dahinter zurückgefallen, mag objektiv richtig sein. Es setzt sich jedoch über den Tatbestand hinweg, dass im Bewusstsein vieler Akteure eben diese Republik völlig hilflos der größten Katastrophe gegenüberstand, die die Weltwirtschaft bis zu diesem Zeitpunkt erlebt hatte. Wer die enorme Popularität des Regimes verstehen will, muss sehen, dass es an dieser Erfahrung gemessen wurde, nicht an objektiven Daten. Vgl. die Sammelrezension zu Hitlers Volksstaat von Winfried Süß, Rüdiger Hachtmann, Johannes Bähr, Frank Bajohr und Armin Nolzen, in: Sehepunkte 5, 2005, Nr. 7/8: http://www.sehepunkte.de/2005/07/8191.html.
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Herrschaft überhaupt zu erfassen.222 Im Gegenzug ist der Kritik vorgehalten worden, das Konzept der charismatischen Herrschaft zu groß zu schreiben und auf diese Weise einer personalistischen Verkürzung das Wort zu reden.223 Eine derartige Zuspitzung auf die Alternative ideelle oder materielle Interessen ist der Sache nicht förderlich. Es ist richtig: Ämterpatronage und Klientelismus stehen für das, was Max Weber als „Herrschaft kraft Interessenkonstellation“ bezeichnet und sind daher begrifflich von der Herrschaft kraft Legitimitätsglauben zu unterscheiden.224 Sie können sich aber empirisch sowohl mit Formen nichtlegitimer Herrschaft verbinden als auch mit solchen legitimer Art, wozu speziell traditionale Ordnungen in der Phase fortgeschrittener soziopolitischer Fragmentierung geeignet sind.225 Auch eine charismatische Führung kann sich ihrer bedienen, ja sie muss dies, um die Erwartung der Gefolgschaft auf Versorgung zu befriedigen. Das reine Charisma ist nach Weber wirtschaftsfremd. Es verschmäht „die traditionale oder rationale Alltagswirtschaft, die Erzielung von regulären ‚Einnahmen‘ durch eine darauf gerichtete kontinuierliche wirtschaftliche Tätigkeit.“ Da die Gefolgschaft aber unterhalten werden muss und dies auch erwartet, ja zur Bedingung ihrer Folgebereitschaft macht, müssen andere Formen der Bedarfsdeckung herhalten, allen voran: „Mäzenatische – großmäzenatische (Schenkung, Stiftung, Bestechung, Großtrinkgelder) – oder: bettelmäßige 222
Vgl. Engstirniger Materialismus. Der Historiker Hans-Ulrich Wehler kritisiert Götz Alys Darstellung von ‚Hitlers Volksstaat‘, in: Der Spiegel 14, 2005. 223 Vgl. Götz Aly: Wie die Nazis ihr Volk kauften, in: Die Zeit 15, 2005. Vgl. bereits ders.: Faktennebel über Bielefeld, in: Berliner Zeitung vom 24.9.2003. 224 Vgl. Weber 2005 (wie Anm. 28), S. 130. Weber selbst hat allerdings das Klientelwesen, das ihm vor allem in seiner altrömischen Ausformung entgegentrat, der Gruppe der Statusverträge zugerechnet und es wegen der starken Betonung wechselseitiger Pietätspflichten (zentriert um die fides) herrschaftssoziologisch in die Nähe des Feudalismus gerückt, den er an anderer Stelle als „‚Grenzfall‘ der patrimonialen Struktur in der Richtung der Stereotypierung und Fixierung der Beziehungen von Herren und Lehensträgern“ definiert: vgl. 1976 (wie Anm. 11), S. 401, 421 f., 625; Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, hrsg. von Marianne Weber, Tübingen 1988², S. 202 ff.; Wirtschaft und Gesellschaft. Die Stadt, hrsg. von Wolfgang Nippel, MWG Bd. I/22-5, Tübingen 1999, S. 277 ff. 225 Vgl. Luigi Graziano: Patron-Client Relationships in Southern Italy, in: European Journal of Political Research 1, 1973, S. 3-34, 5. Vgl. auch Steffen W. Schmidt u. a. (Hrsg.): Friends, Followers, and Factions, Berkeley etc. 1977; Shmuel N. Eisenstadt und L. Roniger: PatronClient-Relations as a Model of Structuring Social Exchange, in: Comparative Studies in Society and History 22, 1980, S. 42-77; Luis Roniger: The Comparative Study of Clientelism and the Changing Nature of Civil Society in the Contemporary World, in ders. und Aye Güne-Ayata (Hrsg.): Democracy, Clientelism, and Civil Society, London 1994, S. 1-18.
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Versorgung auf der einen, Beute, gewaltsame oder (formal) friedliche Erpressung auf der anderen Seite“.226 Die für faschistische Regime typische Ämtervergabe nicht nach sachlichen Kriterien, sondern „nach Eingebung des Führers aufgrund der charismatischen Qualifikation des Berufenen“,227 gehört deshalb durchaus in den Rahmen charismatischer Politik, die den Staat mitsamt seinen Behörden zum Beuteobjekt degradiert, soweit dies nicht mit den allgemeinen Zielen dieser Politik sowie dem stets gegenwärtigen Vorbehalt des Führers kollidiert. Da in faschistischen Regimen die politische Herrschaft zugleich zunehmend Richtung und Inhalt des Wirtschaftsablaufs sowie der Produktion vorgibt und eine durchgehende „Vermachtung des Wirtschaftssystems“ bewirkt,228 erstreckt sich dieser Beutecharakter weit über den Verwaltungsapparat hinaus. Auch der Klientelismus fügt sich hier ein. Weber legt großes Gewicht auf die Feststellung, dass das Charisma sich bewähren muss, womit keineswegs nur die Erlösung aus seelischer Not gemeint ist, sondern ganz allgemein das „Wohlergehen der Beherrschten“.229 Wie seine Hinweise auf den modus operandi des kaiserlichen Amtscharisma im alten China erkennen lassen, schließt dies die Bewahrung auch vor äußerer Not, vor Missgeschicken jeglicher Art ein, von Naturkatastrophen bis hin zum Kriegsunglück.230 Was für einen vormodernen Agrarstaat Überschwemmungen, Deichbrüche oder ausbleibender Regen sind, sind für moderne Industrie- oder Dienstleistungsgesellschaften konjunkturelle Abschwünge, Massenentlassungen und kollabierende Sozialsysteme, kurzum: Krisen, deren Beseitigung vom Charismatiker erwartet wird, und zwar in einer Weise, die sowohl die Interessen 226
Weber 1976 (wie Anm. 11), S. 142. Ebd., S. 141. 228 Vgl. zuletzt: Ludolf Herbst: Nationalsozialistische Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, in: Bernd Sösemann (Hrsg.): Der Nationalsozialismus und die deutsche Gesellschaft. Einführung und Überblick, Stuttgart 2002, S. 172-187; Michael von Prollius: Das Wirtschaftssystem der Nationalsozialisten 1933-1939. Steuerung durch emergente Organisation und Politische Prozesse, Paderborn 2003; ders.: Die emergente Organisation einer ökonomischen Herrschaft. Zur steuerungstheoretischen Interpretation des Wirtschaftssystems der Nationalsozialisten (1933-1939), in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 55, 2007, S. 893-915; J. Adam Tooze: The Wages of Destruction. The Making and Breaking of the Nazi Economy, London 2006 (dt. unter dem Titel: Ökonomie der Zerstörung, München 2007). 229 Weber 1976 (wie Anm. 11), S. 140. 230 Vgl. ebd.; ders.: Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Konfuzianismus und Taoismus. Schriften 1915-1920, hrsg. von Helwig Schmidt-Glintzer i.Z.m. Petra Kolonko, MWG Bd. I/19, Tübingen 1989, S. 175 ff. 227
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der Gesamtbevölkerung als auch diejenigen einzelner Gruppen berücksichtigt. Von hier aus kann man mit Antoni Maczak das Phänomen der Kollektivklientel geradezu als „die Kehrseite des Charismas“ auffassen, „das der Anführer bzw. Patron besitzt.“ Ob im kaiserzeitlichen Rom, ob im stalinistischen Russland oder im nationalsozialistischen Deutschland, überall komme es „in unterschiedlicher Form und mit unterschiedlicher Intensität unter besonderen Bedingungen zu weitverbreiteten Entwicklungen, die eng mit Klientelsystemen verwandt sind und in denen sich die Klienten, ohne besondere persönliche Funktionen gegenüber dem Patron auszuüben, in ihrer Bewunderung oder nur in ihrer aus Untertänigkeit gegenüber seiner Person begründeten Folgsamkeit zusammenschließen. Das Charisma des Führers nimmt gewisse Merkmale des Patronagesystems an (…). Der Führer, Vater, große Bruder oder Patron – auf welcher dieser Herrschaftsfiguren, die für die Einen charismatisch, für die Anderen gefährlich und feindlich sind, der Akzent liegt, ist ein Element der politischen Kultur und Taktik. Doch ihre Verwandtschaft zu den Klientelsystemen ist bisweilen sehr deutlich.“231 Charismatische Herrschaft beschränkt sich also mitnichten auf die Verfolgung religiöser oder quasireligiöser Ziele, wie sie sich auch nicht in Ekstase oder Emotion erschöpft. Sie schließt die Befriedigung existenzieller Interessen im weitesten Sinne des Wortes mit ein, ja sie tendiert in dem Maße zu schwinden, in dem sie dies nicht zu leisten vermag. Das erklärt die eigentümliche Dynamik oder besser gesagt Hektik, mit der sie kurzfristigen Erfolgen nachjagt. Die Erwartung an den Charismatiker ist immer zugleich eine solche, die auf eine Verkürzung des Zeithorizonts der Politik drängt, auf Verbesserungen hier und jetzt, was die Führung nötigt (sofern sie nicht schon von sich aus dazu neigt), auf die am schnellsten wirkenden Maßnahmen zu setzen, ohne Rücksicht auf den Preis, der dafür zu entrichten ist. Von daher der verbreitete Unwille, im Falle von Wirtschaftskrisen auf eine Wiederbelebung der Weltwirtschaft hinzuarbeiten und die korrespondierende Präferenz für eine Politik der Autarkie, von daher die großzügige Bedie231
Maczak 2005 (wie Anm. 212), S. 54 f. Das in der Literatur vielfach diskutierte Problem, wie sich das Phänomen der Kollektivklientel mit dem definitorischen Kern der PatronKlient-Beziehung als einer dyadischen und personalen vereinbaren lässt (vgl. Gioia Weber Pazmino: Klientelismus. Annäherungen an das Konzept, Zürich 1991, S. 77 ff. sowie die Einleitung von Simona Piattoni zu dem von ihr hrsg. Band: Clientelism, Interests, and Democratic Representation, Cambridge 2001), vereinfacht sich unter den Bedingungen charismatischer Herrschaft insofern, als es sich bei dieser um eine Beziehung persönlicher Art handelt: vgl. Weber 1976 (wie Anm. 11), S. 124.
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nung von Gruppeninteressen auf Kosten der jeweils Schwächsten, von daher speziell im Nationalsozialismus der von Anfang an feststehende Entschluss, die Wirtschaft in eine Kriegsökonomie zu verwandeln, auch auf die Gefahr hin, sich damit in einen Entscheidungskorridor zu begeben, in dem am Ende nur noch die Wahl zwischen Inflation oder Beutekapitalismus bleibt.232 Nimmt man die beachtlichen Erträge hinzu, die eine derartige Risikopolitik zumindest in den Anfangsstadien in Bezug auf Prestige und Nimbus der Führung abzuwerfen geeignet ist, weil und insofern eine in längeren Zeithorizonten denkende Politik vor solchen Risiken zunächst in der Regel zurückweichen wird und damit dem Charismatiker Spielräume eröffnet, dann zeigt sich, dass das Konzept der charismatischen Herrschaft sehr wohl imstande ist, die spezifische Dynamik faschistischer Regime zu erfassen. Ein besseres hat jedenfalls bislang niemand vorgelegt.
XII. Fasst man das bisher Gesagte zusammen, so ergibt sich ein Set von Merkmalen, die geeignet sind, den Typus der faschistischen Partei zu umreißen. Eine solche Partei verwendet Mittel, die den Kern aller Staatlichkeit: das Monopol der legitimen physischen Gewaltsamkeit, nicht respektieren. Ihre Organisation beruht auf charismatischer Herrschaft, allerdings in dem für die Epoche der Massendemokratisierung charakteristischen Modus der antiautoritären Umdeutung des Charisma in Richtung der plebiszitären Führerdemokratie. Sie ist schließlich zugleich eine Gesinnungspartei der politischen Rechten und eine Patronagepartei, die auf die Bewährung des Charisma ausgerichtet ist. Einzelne dieser Merkmale lassen sich auch bei anderen Parteien ausmachen. Die paramilitärische Komponente pflegt bei allen revolu232
Damit soll die Entscheidung für den Krieg nicht auf eine bloß mittelbare Folge der faschistischen Wirtschafts- und Sozialpolitik reduziert werden. Die beiden Merkmale Gewalt und Charisma enthalten genügend Gründe, die für ein direktes und unmittelbares Verhältnis zum Faschismus sprechen. Auch Italien, das auf außenpolitischer Bühne lange eine mäßigende und zurückhaltende Rolle gespielt hat, hat sich 1935 für den Angriffskrieg entschieden und dies bemerkenswerterweise als eine Neuauflage des Squadrismus legitimiert, als Rückkehr des Faschismus zu seinen heroischen Anfängen, die anscheinend angesichts der ausgeprägten Veralltäglichung bitter nötig erschien. Vgl. Frank Vollmer: Faschistische Kultur. Revolution und Gewalt im totalitären Regime: Ein Fallbeispiel von zwei Peripherien, in: Peripherie 26, 2006, Nr. 106, S. 478-499, 485 ff.
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tionären Parteien, insonderheit denjenigen kommunistischer Provenienz, gegeben zu sein. Charismatischen Ursprungs ist eine Partei wie die Hamas, die aus der Muslimbruderschaft hervorgegangen ist.233 Zum Pol der Patronagepartei tendierten, wie bemerkt, die großen nordamerikanischen Parteien zur Zeit Max Webers, aber auch nach 1945 die italienische Democrazia Cristiana.234 In der Kombination aber fügen sich diese Komponenten zu einem Merkmalskomplex mit idealtypischer Qualität, der es erlaubt, zwischen faschistischen und nichtfaschistischen Parteien eine Grenze zu ziehen. Das Kriterium der rechten Gesinnungspartei ermöglicht eine eindeutige Positionsbestimmung im politischen Feld und lässt doch Raum für den Polyzentrismus der Ideologien und Weltanschauungen auf der Ebene der in die Partei eingegangenen Unterströmungen. Das Kriterium der Gewaltsamkeitsorganisation ermöglicht eine weitere Einengung durch Ausscheidung aller rein zivilen, nur mit legalen Mitteln operierenden Rechtsparteien, ohne doch die taktische Nutzung legaler Mittel durch die Faschisten auszuschließen und ohne im übrigen den voluntaristischen Charakter der Parteimitgliedschaft zu berühren – nach Weber das zentrale Kriterium des Parteibegriffs. Der Akzent auf dem inszenierten Charisma erschließt (wie auch der Rekurs auf die Gewalt) die Dimension der Vergemeinschaftung, ohne die Differenz zu, sei es politischen, sei es unpolitischen religiösen Gemeinschaften zu verschleifen und ohne die Kopräsenz rational-bürokratischer Organisationsmuster zu leugnen. Das Kriterium der Patronage schließlich lässt die eng mit dem Charisma verknüpften persönlichen Interessen hervortreten, und auch dies ohne für die empirische Ebene den Einfluss sachlicher Orientierungen zu negieren, die die empirische Realität bei faschistischen Parteien nicht weniger bestimmen als bei anderen.
233
Vgl. Khaled Hroub: Hamas. Political Thought and Practice, Washington 2000; Joseph Croitoru: Hamas. Der islamische Kampf um Palästina, München 2007. 234 Zur DC als Patronagepartei vgl. Elisabeth Fix: Die Genese der ‚Bewegungspartei‘ als neuer Parteityp im politischen System Italiens, in: Birgitta Nedelmann (Hrsg.): Politische Institutionen im Wandel. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 35, Opladen 1995, S. 188-214, 207.
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Mit dieser Konstellation ist benannt, was aus der Sicht der Weberschen Soziologie als das „faschistische Minimum“ anzusprechen wäre. Dieser Begriff geht bekanntlich zurück auf Ernst Nolte, der im Anschluss an seine Darstellung des „Faschismus in seiner Epoche“ fast beiläufig einen Katalog von Kriterien skizziert hat, welcher „den faschistischen Bewegungen bei allen großen Unterschieden gemeinsam sein muß“, nämlich „Antimarxismus, Antiliberalismus, Führerprinzip, Parteiarmee, tendenzieller Antikonservativismus, Totalitätsanspruch“.235 Er ist anschließend, wenn auch ohne nähere Präzisierung, von De Felice aufgegriffen236 und dann vor allem in der neueren englischen Forschung substantiiert worden – etwa von Roger Griffin, der das faschistische Minimum idealtypisch als „mythischen Kern des palingenetischen Ultranationalismus“ zu fassen versucht und damit freilich den Schwerpunkt stärker ins Irrational-Affektive verschiebt, als dies der Sache gemäß ist,237 oder von Roger Eatwell, der vier Elemente für entscheidend hält: Nationalismus, Holismus, Radikalismus und die Suche nach einem ‚dritten Weg‘ zwischen Kapitalismus und Sozialismus.238 Alle diese Versionen wiederum haben den Widerspruch von Robert Paxton hervorgerufen, der die Suche nach einem solchen begrifflichen Minimum für irreführend hält: Sie verführe dazu, nach einem ‚unwandelbaren Wesen‘ des Faschismus zu fahnden und darüber sowohl die prozessuale Natur desselben wie auch den politischen, sozialen und kulturellen Kontext zu vernachlässigen.239 235
Vgl. Nolte 1971 (wie Anm. 31), S. 294, 315. Vgl. De Felice 1977 (wie Anm. 21), S. 30. 237 Vgl. Griffin 1991 (wie Anm. 1), S. 38 und 28. Skeptischer gegenüber der „wild-goose chase for the ‚fascist minimum‘“ jetzt ders. 2007 (wie Anm. 60), S. 349. Nur am Rande kann hier vermerkt werden, dass insbesondere der revolutionäre Syndikalismus in Italien mit seiner stark positivistischen Ausrichtung sich gegen die von Griffin vorgeschlagene Deutung sperrt. Panunzio beispielsweise hat den Irrationalismus wie auch die Mythentheorie Sorels entschieden abgelehnt. Vgl. Roberts 1979 (wie Anm. 145), S. 75 ff. 238 Vgl. Eatwell 1996 (wie Anm. 134), S. 313 f. 239 Vgl. Robert Paxton: Die fünf Stadien des Faschismus, in: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung 16, 2007, S. 55-80, 65. Ähnlich Michel Dobry, der in seine Kritik an der „obsession classificatoire“ auch die Suche nach dem faschistischen Minimum einschließt: La thèse immunitaire face aux fascismes. Pour une critique de la logique classificatoire, in ders. (Hrsg.): Le mythe de l’allergie française au fascisme, Paris 2003, S. 1767, 56 ff. Soweit diese Einwände auf den essentialistischen oder gattungsbegrifflichen Charakter vieler Faschismuskonzepte zielen, ist ihnen zuzustimmen. Als idealtypische Konstruktion jedoch ist das faschistische Minimum weder ontologischer noch gattungsbegrifflicher Natur, sondern eine jener Synthesen, „die wir zu bestimmten Erkenntniszwecken vornehmen“ (Weber 1973 [wie Anm. 2], S. 200 f.). 236
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Nun leuchtet zwar nicht ein, weshalb eine auf Begriffsbildung zielende Strategie notwendig zur Kontextblindheit verurteilt sein sollte. Nur mit Begriffen ist es schließlich überhaupt möglich, Text und Kontext (um im Bild zu bleiben) zu unterscheiden. Richtig aber ist der Einwand, dass die bisherigen Fassungen des „faschistischen Minimums“ einen essentialistischen Zug haben und von der Prätention getragen sind, so etwas wie den Keim erfasst zu haben, aus dem sich überall dieselbe Pflanze entwickelt. Tatsächlich führt eine Betrachtungsweise, die sich darauf kapriziert, ein faschistisches Grundprogramm zu entdecken, unvermeidlich dazu, entweder die Widersprüche zwischen den verschiedenen programmatischen Äußerungen zu harmonisieren und damit wesentliche Aspekte der prozessualen Dynamik zu verfehlen oder aber den Faschismusbegriff selbst kleinzuschreiben, indem man die zum Wesen nicht passenden Erscheinungen in eine andere Kategorie schiebt – eine Konsequenz, die zwar nicht Nolte und Eatwell, wohl aber Sternhell oder Wirsching mit ihrer Unterscheidung von Faschismus und Nationalsozialismus gezogen haben. Die an Weber anschließende Fassung des „faschistischen Minimums“ wird von diesem Einwand nicht getroffen, weil sie sich mehr an Formen als an Inhalte hält. Sie erhebt nicht den Anspruch, ein Wesen oder eine „Matrix“ (Eatwell) zu identifizieren, aus dem bzw. der sich die konkreten Erscheinungsweisen des Faschismus deduzieren ließen, sondern begnügt sich mit der Herauspräparierung eines formalsoziologischen Grenzbegriffs, der lediglich im Moment der Gesinnung eine inhaltliche Festlegung aufweist. Da diese Festlegung aber, die Präferenz für Ungleichheit, durch sehr verschiedene Programme ausgefüllt werden kann, ist sie von deutlich anderer Qualität als die diversen Ismen, die von Nolte oder Eatwell aufgeboten werden. Mit diesem faschistischen Minimum ist nur ein Raster bezeichnet, ein Filter, der aus dem Strom der historischen Erscheinungen festhalten soll, was für Faschismusstudien in Frage kommt. Über die inhaltliche Beschaffenheit dieser Erscheinungen zu informieren, über ihre Widersprüche und über die Weise, in der diese sich bewegen, ist Sache der empirischen Forschung.
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Komparatistischer Exkurs: Der Faschismus im Feld rechtsradikaler Bewegungen und Parteien
Wollte man die Ausführungen des voranstehenden Textes einer bestimmten Fachrichtung zuordnen, so wäre dies am ehesten die Soziologie. Deren Aufgabe ist es nach Weber, „Typen-Begriffe“ zu bilden und „generelle Regeln des Geschehens“ zu suchen.1 Dabei entnimmt sie ihr Material der historischen Wirklichkeit (oder besser: dem empirisch gesicherten Wissen über dieselbe) und unterwirft es bestimmten Prozeduren der Abstraktion, die Weber als „Isolierung und Generalisierung“ bezeichnet, anders gesagt: als das „Herausgreifen bestimmter Merkmale oder Tatsachen, die dann zu einem Begriff mit ‚gesteigerter‘ Eindeutigkeit gebracht werden.“2 Wiewohl, wenn man so will, ‚in Ansehung‘ der Wirklichkeit gebildet, ist der auf diese Weise konstruierte Typenbegriff – in unserem Fall: das faschistische Minimum – keine Deskription von Wirklichkeit, sondern dieser gegenüber im Status der Transzendenz, damit aber immer auch „relativ inhaltsleer“, ja sogar „weltfremd“, weil stets weniger enthaltend, als die Wirklichkeit zu bieten vermag. „Je schärfer und eindeutiger konstruiert die Idealtypen sind: je weltfremder sie also, in diesem Sinne, sind, desto besser leisten sie ihren Dienst, terminologisch und klassifikatorisch sowohl wie heuristisch.“3 Wenn Weber hier von Dienst spricht, dann ist damit gemeint, dass die soziologische Arbeit kein Selbstzweck ist. Die von ihr erstellten Typen sollen vielmehr Wissenschaften wie der Geschichte, denen es nicht um generelle, sondern um je individuelle Handlungen oder Gebilde geht, Maßstäbe für die Arbeit der Analyse und der Zurechnung liefern. Der Idealtypus, so Webers Mahnung an den Generalisten, „ist ein Gedankenbild, welches nicht die 1
Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., hrsg. von Johannes Winckelmann, Studienausgabe, Tübingen 1976, S. 9. 2 Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 4. Aufl., hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1973, S. 277; Judith Janoska-Bendl: Methodologische Aspekte des Idealtypus. Max Weber und die Soziologie der Geschichte, Berlin 1965, S. 38. 3 Weber 1976 (wie Anm. 1), S. 9 f.
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historische Wirklichkeit oder gar die ‚eigentliche‘ Wirklichkeit ist, welches noch viel weniger dazu da ist, als ein Schema zu dienen, in welches die Wirklichkeit als Exemplar eingeordnet werden sollte, sondern welches die Bedeutung eines rein idealen Grenzbegriffes hat, an welchem die Wirklichkeit zur Verdeutlichung bestimmter bedeutsamer Bestandteile ihres empirischen Gehaltes gemessen, mit dem sie verglichen wird.“4 Auch der hier entwickelte Typus der faschistischen Partei ist in diesem Sinne kein Gattungsbegriff, dem die Wirklichkeit des PNF oder der NSDAP in jedem Augenblick ihres Bestehens entsprochen hätte, sondern ein solcher Grenzbegriff, zu dem sich die Realität mal in größerer, mal in geringerer Nähe befunden hat. Die NSDAP beispielsweise entspricht in ihrem Frühstadium weit mehr den Merkmalen, die nach Weber für eine „Glaubenspartei“ charakteristisch sind und nähert sich erst allmählich der „Patronagepartei“ an; die charismatische Organisation wiederum stellt sich in Deutschland während der Regimephase ganz anders dar als in Italien, aus Gründen, die im Einzelnen zu klären sind. Solche „Abweichungen“ werden gern gegen die idealtypische Methode ins Feld geführt. Sie sind aber kein Beleg für die Untauglichkeit des Idealtypus, sondern gerade umgekehrt: für dessen Tauglichkeit. Denn dessen Eigenart besteht eben darin, „daß bei Unvereinbarkeit mit den Tatsachen niemals er als widerlegt gilt, sondern immer das Abweichen der konkreten Tatsache erklärt werden muß.“5 Für den italienischen wie für den deutschen Faschismus wird das in diesem Buch genauer gezeigt. Da der Faschismusbegriff indes seit jeher seine Hauptattraktion aus der mit ihm verbundenen Prätention auf Allgemeinheit bezieht, sei wenigstens grob an einigen anderen Beispielen aus der „Epoche des Faschismus“ (Ernst Nolte) demonstriert, dass die Umstellung von einem Gattungs- auf einen Grenzbegriff eine scharfe Einengung des Zurechnungsurteils nach sich zieht und damit, plakativ gesprochen, näher bei Bracher als bei Wippermann steht, ohne damit freilich einer historistischen Sichtweise das Wort zu reden. Schon durch die Bindung an die Strukturform „Partei“ scheiden viele Erscheinungen aus, denen man allzu kurzschlüssig faschistische Eigenschaften zuzuschreiben pflegt. Das gilt in erster Linie für jene rechtsradikalen pressure groups, die, wie die französischen Ligen (Action française, Jeunesse Patriotes, Croix de Feux u.a.), gewiss über ein beachtliches Mobilisierungspotential verfügten, z. T. auch paramilitäri4 5
Weber 1973 (wie Anm. 2), S. 194. Janoska-Bendl 1965 (wie Anm. 2), S. 82.
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sche Verbände unterhielten und durchaus die Kraft besaßen, einen Regierungswechsel zu erzwingen;6 die aber nicht, wie eben nur eine Partei, in der Lage waren, ideologische, strategische und personalpolitische Differenzen zurückzustellen und alle Energien auf die Eroberung der politischen Macht zu konzentrieren. Gerade der größte politische Erfolg, den diese Ligen jemals erzielten – die Erzwingung des Rücktritts von Daladier und die Umgestaltung der Regierung im Zuge der Unruhen vom 6. Februar 1934 – zeigt diese Grenze am deutlichsten.7 Für die bedeutendste dieser Ligen, die Croix de Feu, ist überzeugend nachgewiesen worden, dass mehr zu erreichen auch gar nicht in ihrer Absicht lag.8 Dies spricht für die vor allem in Frankreich dominierende Forschungsströmung, die die Ligen mehr in der Tradition des wie immer auch radikalen Autoritarismus und Rechtsnationalismus sieht als in der Nähe zum Faschismus,9 womit freilich ein beachtliches Maß an Bewunderung und Sympathie für den erfolgreicheren Rivalen nicht ausge6
Mit dem Faschismusbegriff operieren hier unter anderem Ernst Nolte: Der Faschismus in seiner Epoche. Die Action française. Der italienische Faschismus. Der Nationalsozialismus, 5. Aufl., München und Zürich 1979, S. 57, 89; William D. Irvine: Fascism in France and the Strange Case of the Croix de Feu, in: Journal of Modern History 63, 1991, S. 271-295; Robert Soucy: French Fascism: The First Wave, 1924-1933, New Haven und London 1986; ders.: French Fascism: The Second Wave 1933-1939, New Haven und London 1995; Kevin Passmore: Boy Scoutism for Grown-Ups? Paramilitarism in the Croix de Feu and the Parti Social Français, in: French Historical Studies 19, 1995, S. 527-557; ders.: The Croix de Feu: Bonapartism, National Populism or Fascism, in: French History 9, 1995, S. 67-92; The Croix de Feu and Fascism: A Foreign Thesis Obstinately Maintained, in: Edward J. Arnold (Hrsg.): The Development of the Radical Right in France, New York 2000, S. 100-118; Andreas Wirsching: Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918-1933/39. Berlin und Paris im Vergleich, München 1999; Zeev Sternhell: Morphology of Fascism in France, in: Brian Jenkins (Hrsg.): France in the Era of Fascism. Essays on the French Authoritarian Right, New York und Oxford 2005, S. 22-64. 7 Vgl. Michel Dobry: Fevrier 1934 et la découverte de l’allergie de la société française à la ‚révolution fasciste‘, in: Revue française de la sociologie 30, 1989, S. 511-533. 8 Vgl. Sean Kennedy: Reconciling France against Democracy. The Croix de Feu and the Parti Social Français, 1927-1945, Montreal etc. 2007, S. 48 ff. 9 Vgl. Pierre Milza: Fascisme français, Paris 1991; Philippe Burrin: Fascisme, nazisme, autoritarisme, Paris 2000; Albert Kéchichian: Les Croix-de-Feu à l’âge des fascismes, Seyssel 2006; Michel Winock: Retour sur le fascisme français, in: Vingtième siècle 90, 2006, S. 3-27. Vgl. auch die Beiträge von Klaus-Jürgen Müller: Fascism in France? Some Considerations on Extremism in France between the Wars, in: Haim Shamir (Hrsg.): France and Germany in an Age of Crisis 1900-1960, Leiden etc. 1990, S. 275-301; „Faschismus“ in Frankreichs Dritter Republik? in: Horst Möller und Manfred Kittel (Hrsg.): Demokratie in Deutschland und Frankreich 1918-1933/40. Beiträge zu einem historischen Vergleich, München 2002, S. 91-130.
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schlossen ist.10 Auch eine Bewegung wie die belgischen Rexisten, die oft als faschistisch eingestuft wird, erinnert in Programmatik (Familienstimmrecht) und Organisation mehr an die Croix de Feu als an PNF oder NSDAP.11 Ähnliche Affinitäten, in diesem Fall mehr zu Georges Valois’ Faisceau, lassen die portugiesischen Blauhemden erkennen, die in Rolão Preto wohl einen charismatischen Führer besaßen, aber notgedrungen eher Bewegung als Partei blieben, da das Salazar-Regime erfolgreich das Gewaltmonopol behauptete und Wahlen nicht zuließ.12 Ebenfalls nicht als faschistisch können die zahlreichen paramilitärischen Verbände gelten, die das Europa der Zwischenkriegszeit bevölkerten: die Einwohnerwehren, Freikorps und Wehrverbände in Deutschland, die Heimwehr in Österreich, die Ungarische Nationale Verteidigung (MOVE), der bulgarische Militärbund oder der estnische Freiheitskämpferverband,13 und dies ungeachtet der Tatsache, dass einige dieser Verbände sich an Wahlen beteiligten und/oder politische Macht über den Einsatz physischer Gewalt erwarben. Charakteristisch für diese Verbände war jedoch, wie das Beispiel der österreichischen Heimwehr zeigt, zum einen eine ausgeprägte 10 Vgl. Joel Blatt: Relatives and Rivals: The Responses of the Action Française to Italian Fascism, 1919-1926, in: European Studies Review 11, 1981, S. 263-292; Bruno Goyet: La ‚Marche sur Rome‘: Version originale sous-titrée. La reception du fascisme en France dans les années 20, in: Michel Dobry (Hrsg.): Le mythe de l’allergie française au fascisme, Paris 2003, S. 69-105 ; Brian Jenkins: L’Action Française à l’ère du fascisme: Une perspective contextuelle, ebd., S. 107-153. 11 Vgl. Jean Michel Étienne: Le Mouvement rexiste jusqu’en 1940, Paris 1968; Martin Conway: Collaboration in Belgium: Léon Degrelle and the Rexist movement, 1940 – 1944, New Haven 1993. Anders William Brustein: The Political Geography of Belgian Fascism: The Case of Rexism, in: American Sociological Review 53, 1988, S. 69-80. 12 Vgl. Stanley Payne: Geschichte des Faschismus. Aufstieg und Fall einer europäischen Bewegung, München und Berlin 2001, S. 382 ff., der die Bewegung dennoch als faschistisch einstuft. Ähnlich António Costa Pinto: The Blue Shirts: Portuguese Fascists and the New State, Boulder, N.Y. 2000; ders.: ‚Chaos‘ and ‚Order‘: Preto, Salazar and Charismatic Appeal in Inter-war Portugal, in: ders. u. a. (Hrsg.): Charisma and Fascism in Interwar Europe, Abingdon 2007, S. 65-76. 13 Vgl. die Hinweise bei Payne 2001 (wie Anm. 12), S. 176, 178, 397. Der Rekurs auf den Faschismusbegriff ist in diesen Fällen besonders beliebt bei marxistischen Autoren, jedoch keineswegs auf diese beschränkt. Vgl. etwa für die Heimwehr Bruce Pauley: Hahnenschwanz und Hakenkreuz. Steirischer Heimatschutz und Österreichischer Nationalsozialismus 19181938, Wien 1972; Francis L. Carsten: Fascist Movements in Austria: From Schönerer to Hitler, London 1977. Von „teilfaschistisch“ spricht Dirk Hänisch: Die österreichischen NSDAP-Wähler. Eine empirische Analyse ihrer politischen Herkunft und ihres Sozialprofils, Wien etc. 1998, S. 43, 61 ff.
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regionale Heterogenität, die jedem Vereinheitlichungsversuch widerstand und eine charismatische Organisation nach dem Führerprinzip verhinderte;14 zum anderen eine sowohl politisch-ideologische als auch finanzielle Heteronomie: Der überwiegend aus Bauern und Bauernsöhnen rekrutierte Verband war während der ganzen Dauer seiner Existenz nicht in der Lage, aus Mitgliedsbeiträgen seine Waffen und Ausrüstung zu bezahlen und deshalb auf Subsidien angewiesen, seien es solche fremder Staaten wie des faschistischen Italiens, seien es solche der eigenen Regierung und/oder der heimischen Agrar- und Industrieverbände.15 Versuche, sich aus dieser Abhängigkeit zu befreien und über politische Wahlen ein eigenes Profil zu entwickeln, scheiterten und führten die Heimwehr schließlich ins Regierungslager. Die Heimwehr, so das Fazit der bislang gründlichsten Studie über diesen Verband, könne nicht als faschistisch bezeichnet werden, „since it was predominantly in a position of dependency and functioned as a tool for implementing the interests of others.“16 Hält man sich ferner an die Bestimmung, dass Faschismus nicht bloß an die Parteiform als solche gebunden ist, sondern an die Form der modernen Massenpartei, dann kommen auch jene kleineren Parteien nicht in Betracht, die lediglich aufgrund partieller ideologischer Übereinstimmungen oder demonstrativ hervorgekehrter Sympathie für die NSDAP bzw. den PNF als faschistisch eingestuft werden. Dazu zählen etwa solche winzigen Nachahmerpräparate wie der Francisme Marcel Bucards in Frankreich, der gänzlich von italienischen Subventionen abhängig war;17 die im Oktober 1933 von José Antonio Primo de Rivera gegründete Falange Española, die bis zum Beginn des Bürgerkriegs unter zehntausend Mitglieder hatte und bei Wahlen 14 Vgl. John T. Lauridsen: Nazism and the Radical Right in Austria 1918-1934, Copenhagen 2007, S. 223, 444. 15 Vgl. ebd., S. 112 ff., 156 ff. 16 Ebd., S. 441. Anders die an Ernst Nolte orientierte Studie von Pauley 1972 (wie Anm. 13), S. 9 f., 67 f. sowie C. Earl Edmondson: The Heimwehr and Austrian Politics 1918-1936, Athens 1978, S. 2 u.ö. Auch Gerhard Botz hält die Bezeichnung „Heimwehrfaschismus“ für angebracht: vgl. ders.: Soziale „Basis“ und Typologie der österreichischen Faschismen im innerösterreichischen und europäischen Vergleich, in: Jahrbuch für Zeitgeschichte 1980/81, S. 15-56. 17 Vgl. dazu die knappe Skizze bei Milza 1991 (wie Anm. 9), S. 147 ff.; ausführlicher: Alain Deniel: Bucard et le francisme. Les seuls fascistes français, Paris 1979. Auch das Rassemblement National Populaire Marcel Déats von 1941 hatte nie mehr als 12 000 Mitglieder, um 1944 nur noch 3000: vgl. Reinhard Schwarzer: Vom Sozialisten zum Kollaborateur: Idee und politische Wirklichkeit bei Marcel Déat, Frankfurt und New York 1987, S. 97, 102.
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weniger als 2% erzielte;18 die Plethora kleiner „nationalsozialistischer“ Parteien im Ungarn der 30er Jahre wie die Sensenkreuzler Zoltán Böszorménys, die Ungarische Nationalsozialistische Landarbeiter- und Arbeiterpartei Zoltán Meskós, die Ungarische Nationalsozialistische Volkspartei des Grafen Festetics oder die Nationalsozialistische Partei des Grafen Pálffy;19 die tschechische Národni obec fašistická Radola Gajdas, die es 1935 auf 2% der Stimmen brachte;20 der 1931 von Joris van Severen ins Leben gerufene belgische Verdinaso (Verbond van Dietsche Nationaalsolidaristen), der anscheinend nie mehr als fünftausend Mitglieder hatte;21 die nur unwesentlich stärkere Nasjonal Samling Vidkun Quislings in Norwegen, die bei den Parlamentswahlen von 1933 und 1936 plus/minus 2% erzielte oder ihr Pendant in Dänemark, die Dänische Nationalsozialistische Arbeiterpartei von Frits Clausen.22 Auch wenn es eigenwillig anmuten mag, solchen offensichtlich als Kopie angelegten Organisationen das Attribut faschistisch zu versagen, da dies dann schließlich auch für das Original gelten müsste, ist darauf zu bestehen. Eine Kleinstpartei unterscheidet sich von einer Massenpartei nicht nur quantitativ, sondern stets auch qualitativ, durch eine größere Affinität zum Typus der Glaubens- bzw. Weltanschauungspartei und/oder der rein persönlichen Gefolgschaft, Strukturformen also, die in dem Maße zurückgedrängt oder überlagert werden, in dem eine Partei um die Zustimmung von Hunderttausenden oder Millionen wirbt.23
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Vgl. Michael Mann: Fascists, Cambridge 2004, S. 334. Vgl. Payne 2001 (wie Anm. 12), S. 330 f. 20 Vgl. David Kelly: The Czech Fascist Movement 1922-1942, New York 1995, S. 48 ff., 178 ff. 21 Vgl. Payne 2001 (wie Anm. 12), S. 369. 22 Vgl. ebd., S. 374 f. 23 Dem naheliegenden Einwand, dass zumindest die spanische Falange seit Ausbruch des Bürgerkrieges dieses Kriterium erfüllte, hat Stanley Payne zu Recht entgegengehalten, dass die Bewegung eben durch den Bürgerkrieg enthauptet und in der nationalistischen Zone völlig der Militärdiktatur untergeordnet wurde: vgl. Payne 2001 (wie Anm. 12), S. 323. Ihre Erhebung zur „Staatspartei“ im April 1937 nahm ihr darüber hinaus, wie von Max Weber her zu sagen wäre, ihren Parteicharakter und verwandelte sie in einen Teil des Staatsapparats, ist doch „das Merkmal der (formal!) freien Werbung“ das der Partei Wesentliche, das ihren Unterschied „gegen alle von seiten der Verbandsordnungen vorgeschriebenen und geordneten Vergesellschaftungen“ markiert. „Wenn eine Partei eine geschlossene, durch die Verbandsordnungen dem Verwaltungsstab eingegliederte Vergesellschaftung wird (...), so ist sie keine ‚Partei‘ mehr, sondern ein Teilverband des politischen Verbandes“ (Weber 1976 [wie Anm. 1], S. 168). 19
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Noch in dieselbe Kategorie fallen solche Parteien, die zwar für einen kurzen Moment einen Massenzustrom an Mitgliedern und Wählern erlebten, diese aber aus inneren oder äußeren Gründen nicht dauerhaft an sich zu binden vermochten. Das gilt in Frankreich für den Ende 1925 von Georges Valois gegründeten Faisceau, der es dank der Destabilisierung der Währung unter dem Linkskartell und der Handlungsunfähigkeit der Action française bis zum Ende des folgenden Jahres auf 60 000 Mitglieder brachte, schon 1927 aber zwei Drittel davon wieder verlor und sich 1928 auflöste.24 Es gilt mutatis mutandis für den 1936 gegründeten Parti Populaire Français des ExKommunisten Jacques Doriot, der zur Zeit seines größten Massenzustroms noch deutlich linksnationalistische Züge zeigte, nach seiner Wendung nach rechts und später zur Kollaboration mit Nazi-Deutschland auf höchstens fünftausend Aktivisten schrumpfte.25 Es gilt ferner für Oswald Mosleys British Union of Fascists (BUF), die bis 1934, nur zwei Jahre nach ihrer Gründung, auf 50 000 Mitglieder anschwoll, nach dem gewalttätigen Verlauf einer Kundgebung vor der Olympia Hall jedoch innerhalb weniger Monate 90% davon wieder verlor26 oder für Anton Musserts Nationaal Socialistische Beweging (NSB): Mit ca. 52 000 Mitgliedern und einem Stimmenanteil von 8% bei den Provinzialwahlen von 1935 war sie ebenfalls auf dem Weg zur 24 Vgl. Allen Douglas: From Fascism to Libertarian Communism. Georges Valois against the Third Republic, Berkeley 1992, S. 126, 140, 145 f. Der oft als „premier parti fasciste français“ eingestufte Faisceau (Milza 1991 [wie Anm. 9], S. 100) entsprach im Übrigen auch in anderer Hinsicht nicht dem Idealtypus: Seine Gewaltpraxis war defensiv, die Organisationsstruktur eher bürokratisch-autoritär als charismatisch, wozu es bei Valois an den Voraussetzungen fehlte: vgl. Wirsching 1999 (wie Anm. 6), S. 293; Douglas 1992, S. 116, 125. 25 Vgl. Philippe Burrin: La dérive fasciste. Doriot, Déat, Bergery 1933-1945, Paris 2003, S. 481. Die Anhängerzahl um 1938 wird von einigen auf 60 000, von anderen sogar auf 100 000 geschätzt: vgl. Dieter Wolf: Die Doriot-Bewegung. Ein Beitrag zur Geschichte des französischen Faschismus, Stuttgart 1967, S. 162 f.; Jean-Paul Brunet: Jacques Doriot: du communisme au fascisme, Paris 1986, S. 229 f. 26 Vgl. Arnd Bauerkämper: Die „radikale Rechte“ in Großbritannien, Göttingen 1991, S. 198, 185; Thomas Linehan: British Fascism 1918-1939. Parties, Ideology and Culture, Manchester und New York 2000, S. 160 f. Das ausgeprägte programmatische Profil, das Mosley dieser Partei verlieh, weist die BUF im Übrigen mehr dem Typus der Weltanschauungspartei zu, die entscheidende Motive dem Weltbild Oswald Spenglers verdankte: vgl. ders.: The British Union of Fascists as a Totalitarian Movement and Political Religion, in: Totalitarian Movements and Political Religions 5, 2004, S. 397-418. Nimmt man den antiparlamentarischen und gegen das Parteiwesen gerichteten Affekt hinzu, rückt die BUF eher in die Nachbarschaft der rechtsnationalistischen Ligen, wie sie im Großbritannien der Vorkriegszeit nicht weniger als in Frankreich verbreitet waren.
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Massenpartei, erlebte dann aber einen ebenso steilen Niedergang, als sie sich radikalisierte und sich dem Vorbild der NSDAP annäherte.27 Der Kreis von rechtsradikalen Parteien, die die Schwelle zur Massenpolitik dauerhaft überschritten haben und deshalb am faschistischen Minimum zu messen wären, engt sich damit erheblich ein. In Frage kommen hier vor allem, um nur die erfolgreichsten zu nennen: Der nach der im Juni 1936 von der Volksfrontregierung verfügten Auflösung der Croix de Feu gegründete Parti Social Français, der es bis 1938 auf eine Million Mitglieder brachte und auf eine geschätzte Wählerzustimmung zwischen 12 und 15% kam;28 die Pfeilkreuzler in Ungarn, die um 1939/1940 bei einer Bevölkerung von 9,1 Millionen eine Viertelmillion stark waren und bei den Wahlen von 1939 in einer Listenverbindung mit anderen rechtsradikalen Verbänden 25% der Wählerstimmen gewannen;29 die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Österreichs mit einer Mitgliederzahl, die sich zwischen Anfang 1933 und Ende 1934 auf rund 95 000 verdoppelte und bei Wahlen in diesem Zeitraum mit einem Viertel bis zu einem Drittel der Stimmen hätte rechnen können;30 und die 1927 von Codreanu gegründete Legion Erzengel Michael in Rumänien, die auch unter dem Namen ihrer drei Jahre später geschaffenen Miliz als Eiserne Garde bekannt ist. Zunächst als Eliteorganisation mit strikter Aufnahmebegrenzung konzipiert, hatte sie 1937 bereits 272 000 Mitglieder und erzielte bei den rumänischen Parlamentswahlen in jenem Jahr mit ihrer Tarnorganisation nahezu 16% der Stimmen, in Wirklichkeit wohl eher 25%.31 Von diesen Parteien befand sich der Parti Social Français (PSF) im größten Abstand zum Idealtypus des Faschismus. Das gilt hinsichtlich der bevorzugten Mittel, stellte sich die Partei doch mehr und mehr auf den Gewinn politischer Macht durch Wahlen ein und gab die unmittelbare Gewaltausübung auf, die bei den Croix de Feu ohnehin niemals jenes bürgerkriegsähnliche Ausmaß wie in Deutschland oder Italien erreicht hatte.32 Selbst 27 Vgl. Erik Hansen: Fascism and Nazism in the Netherlands 1929-1939, in: European Studies Review 11, 1981, S. 355-385, 370 f. 28 Vgl. Kennedy 2007 (wie Anm. 8), S. 4, 171. 29 Vgl. M. Lackó: Arrow-Cross Men, National Socialists 1935-1944, Budapest 1969, S. 41, 70; Margit Szöllösi-Janze: Die Pfeilkreuzlerbewegung in Ungarn, München 1989, S. 128, 153. 30 Vgl. Lauridsen 2007 (wie Anm. 14), S. 326, 369. 31 Vgl. Armin Heinen: Die Legion „Erzengel Michael“ in Rumänien. Soziale Bewegung und politische Organisation, München 1986, S. 382. 32 Vgl. Kennedy 2007 (wie Anm. 8), S. 121.
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diejenigen, die, wie Kevin Passmore, die Croix de Feu für faschistisch halten, sprechen im Hinblick auf den PSF von einem radikalen Bruch, der diese Organisation, wäre der Krieg nicht dazwischen gekommen, bald in eine konventionelle ‚konservative‘ Partei verwandelt hätte.33 Es gilt weiterhin hinsichtlich der Organisation, die schon z. Zt. der Croix de Feu charismatischer Züge entbehrte, war doch der Führer, Colonel La Rocque, eher ein paternalistischer Kommandeur, dem das Charisma der Rede versagt war.34 Und es gilt nicht zuletzt hinsichtlich der Ziele, bei denen das Moment der Patronage deutlich hinter Klassen- und Standesinteressen einerseits, weltanschaulichen Motiven andererseits zurücktrat. Trotz aller Inklusionsrhetorik war der PSF wie seine Vorgängerorganisation „a movement of social defence for France’s property-owning classes“, was sich sowohl an seiner sozialen Zusammensetzung als auch an seiner Forderung nach einem Familienwahlrecht ablesen lässt.35 Die rechtsradikale Gesinnung wurde darüber hinaus in einer Weise elaboriert, die zwar hinsichtlich der Haltung zum Modernisierungsprozess eine gewisse Spannweite zuließ, nicht aber hinsichtlich des Bekenntnisses zu einem insgesamt eher defensiv ausgerichteten Nationalismus und zum Sozialkatholizismus, die zu den Konstanten von La Rocques Weltbild zählten.36 Die Pfeilkreuzler, worunter man streng genommen nicht eine einzige Partei, sondern eine Serie von Parteien sowie etliche Splittergruppen zu verstehen hat,37 standen in puncto Mittel und Organisation dem PSF nahe. Nach der gewaltsamen Niederschlagung der revolutionären Linken 1919 war die ungarische Arbeiterbewegung erheblich geschwächt, so dass weder der Kommunismus noch der Sozialismus eine ernsthafte politische Kraft 33 Vgl. die in Anm. 6 genannten Arbeiten von Passmore. Ferner Jean-Paul Thomas: Le Parti Social Français, in: Cahiers de la Fondation Charles de Gaulle 4, 1997, S. 39-77; Les effectifs du Parti Social Français, in: Vingtième siècle 62, 1999, S. 61-83. 34 Vgl. Kennedy 2007 (wie Anm. 8), S. 82. Ebenso Robert Soucy: Fascism in France: Problematising the Immunity Thesis, in: Jenkins 2005 (wie Anm. 6), S. 65-104, S. 91. 35 Kennedy 2007 (wie Anm. 8), S. 91. Vgl. Daniella Sarnoff: Interwar Fascism and the Franchise: Women’s Suffrage and the Ligues, in: Historical Reflections 34, 2008, S. 112-133, 127. 36 Vgl. Kennedy 2007 (wie Anm. 8), S. 27, 175, 151. 37 Keimzelle war die von Ferencz Szálasi am 1.3.1935 gegründete „Partei des Willens der Nation“, die nach ihrem Verbot 1937 durch die Ungarische Nationalsozialistische Partei (MNSZP) ersetzt wurde. Weitere Verbote brachten weitere Nachfolgeorganisationen hervor (1938: NSZMP-HM; 1939: MNSZP-HM), bis am 15.3.1939 die eigentliche Pfeilkreuzpartei NYKP entstand: vgl. Szöllösi-Janze 1989 (wie Anm. 29), S. 440. Auch einige andere Gruppen nahmen jedoch den Namen Pfeilkreuzler in Anspruch: vgl. ebd., S. 259.
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darstellten. Infolgedessen fiel die Ausprägung paramilitärischer Züge bei der radikalen Rechten deutlich geringer aus als in Italien und Deutschland, obwohl auch die Pfeilkreuzler illegale bewaffnete Terroreinheiten wie die „Schwarze Front“ besaßen.38 Gering war auch die charismatische Komponente, zum einen schon deshalb, weil der Parteiführer in den Jahren der größten Mobilisierung (1938-1940) inhaftiert war, zum andern, weil er zu keinem Zeitpunkt eine größere Gefolgschaft davon überzeugen konnte, dass sein Anspruch auf die Rolle eines innerweltlichen Erlösers zu Recht bestand.39 Mit seiner Neigung, weniger zu handeln als ständig Pläne zu entwerfen, Studien in Auftrag zu geben und seine Mitarbeiter mit permanenten Neuentwürfen und Umstrukturierungen zu beschäftigen, ähnelte er eher einem Gottfried Feder oder Alfred Rosenberg als einem Hitler.40 Die Folge war, dass die Partei zwischen gemäßigten und radikalen Orientierungen hin und her schwankte und schon bald nach ihrem Überraschungserfolg bei den Wahlen von 1939 stagnierte – Schätzungen sprechen von einem Mitgliederschwund um mehr als die Hälfte.41 Noch am größten ist die Nähe zum Idealtypus der faschistischen Partei auf der Ebene der Ziele. Es gab, im Unterschied zum PSF, keine Ausrichtung auf ein spezifisches Klassen- oder Standesinteresse, da die Partei sehr heterogene Wählergruppen anzusprechen vermochte. Ebenso fehlte eine verbindliche Weltanschauung, wenngleich Szálasi sich alle Mühe gab, seine Ideologie des „Hungarismus“ zu einer solchen auszubauen.42 Die Detailliertheit indes, mit der dies geschah, wirkte auf den gemäßigten Parteiflügel eher repellierend, so dass die Partei von sachlichen Auseinandersetzungen zerrissen wurde, ähnlich wie dies in der NSDAP geschehen wäre, wenn Hitler 1926 dem Straßerflügel nachgegeben hätte.43 Dass sie im Oktober 1944 für kurze Zeit an die Macht gelangte, war 38
Vgl. ebd., S. 122 ff.; Mann 2004 (wie Anm. 18), S. 247. Vgl. Szöllösi-Janze 1989 (wie Anm. 29), S. 225, 351; Payne 2001 (wie Anm. 12), S. 331. 40 Vgl. Szöllösi-Janze 1989 (wie Anm. 29), S. 356. 41 Vgl. ebd., S. 201 ff., 129. 42 Näher geschildert ebd., S. 220 ff. 43 Vgl. in diesem Sinn auch das ebd. zitierte Urteil des SS-Standartenführers und Gesandten zur besonderen Verwendung, Edmund Veesenmayer, vom April 1943: „Die Szalasi-Bewegung – einstmals zu manchen Hoffnungen berechtigend – ist heute zur völligen Bedeutungslosigkeit herabgesunken. Solange Szalasi im Gefängnis saß, war er Mythos und es verband sich mit ihm der Nimbus eines politischen Märtyrers. Von der Systemregierung klugerweise begnadigt und freigelassen, traten Führungsstreitigkeiten, Korruption und politische Unfähigkeit sehr rasch in Erscheinung und führten dazu, daß heute von dieser Bewegung nur wenig übrig geblieben ist“ (S. 280). 39
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deshalb allein der militärischen Lage und der deutschen Unterstützung zu verdanken. Bei der österreichischen NSDAP war der Gewaltcharakter prädominant, wie nicht erst der Umsturzversuch von 1934 zeigte, dem der damalige christlich-soziale Bundeskanzler Engelbert Dollfuß zum Opfer fiel. Von einer charismatischen Organisation kann man insofern sprechen, als die Partei 1926 aus einer Abspaltung von der älteren DAP bzw. DNSAP hervorging und sich bedingungslos dem Führungsanspruch Hitlers unterordnete.44 Unter der Bezeichnung „NSDAP-Hitlerbewegung“ war sie seitdem de facto eine Landesorganisation der reichsdeutschen NSDAP, zwar mit einer eigenen Spitze, jedoch unter der Kontrolle des von München ernannten Landesgeschäftsführers bzw. -inspekteurs (Theo Habicht), der zugleich als stellvertretender nationaler Führer fungierte.45 Bei den Zielen fällt dagegen eine stärkere Gravitation zum Typus der Klassen- und Standespartei auf. Aufgrund der massiven Verankerung der dominierenden Christlich-Sozialen und der Sozialisten im primären bzw. sekundären Sektor blieben die Nationalsozialisten, wie vor ihnen schon die Deutschnationalen, auf den Dienstleistungssektor als hauptsächliches Rekrutierungsfeld verwiesen, was zwar Wählerwanderungen insbesondere aus dem sozialistischen Lager nicht ausschloss – 1930 kam fast jeder dritte NSDAP-Wähler aus den Reihen der Sozialisten – gleichwohl nichts an der Unterrepräsentation der Arbeiterschaft änderte.46 Die Mittelschichten dagegen, genauer der neue Mittelstand der privat und öffentlich Angestellten, war deutlich überrepräsentiert: im Verhältnis zum Anteil an der Gesamtbevölkerung um das Zweieinhalb- bis Dreifache.47 In vielen Orten machten Angehörige dieser Gruppe mehr als zwei Fünftel der nationalsozialistischen Wählerschaft aus.48 Als „eine stark mittelschichtgeprägte Protestpartei (...), in der unselbständige Mittelschichten sich mit sogenannten atypischen Arbeitergruppen, insbesondere jene aus dem sogenannten ‚uniformierten‘ (Dienstleistungs)-Sektor verbündeten“,49 44
Vgl. Lauridsen 2007 (wie Anm. 14), S. 306 f. Vgl. ebd., S. 394 f.; Hänisch 1998 (wie Anm. 13), S. 73. 46 Vgl. Hänisch 1998 (wie Anm. 13), S. 324, 399. Hierzu mag neben der starken Lagerbindung dieser Klasse auch der Umstand beigetragen haben, dass mit der Spaltung von 1926 der stärker auf Sozialreform orientierte progewerkschaftliche Flügel der DNSAP fortfiel: vgl. Lauridsen 2007 (wie Anm. 14), S. 306 ff. 47 Vgl. Hänisch 1998 (wie Anm. 13), S. 368. 48 Vgl. ebd., S. 377. 49 Ebd., S. 402. 45
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war die österreichische NSDAP in sozialer wie übrigens auch ideologischer Hinsicht wesentlich homogener als ihr reichsdeutsches Gegenstück, damit aber zugleich weiter von der Vollstufe einer faschistischen Partei entfernt.50 Ebenfalls erheblich war dieser Abstand bei der Legion Erzengel Michael, obschon aus ganz anderen Gründen. Die Neigung, politische und gesellschaftliche Probleme mittels physischer Gewalt zu lösen, war auch hier ausgeprägt, richtete sich aber primär gegen einen ethnischen und religiösen Feind, die Juden, deren 1923 vollzogene staatsbürgerliche Gleichstellung die wildesten Verschwörungstheorien auslöste;51 sie war überdies im Vergleich zu Italien und Deutschland eher reaktiv, wie auch die hohe Verlustbilanz zeigt.52 Erst in einem zweiten Schritt wurde in diese Feindschaft die politische Elite Rumäniens einbezogen, das „Politikastertum“, dem man vorwarf, das Land den Juden auszuliefern.53 In der Praxis entlud sich diese Gewaltsamkeit weniger in kollektiven Akten – diese beschränkten sich auf Märsche, Prozessionen und Arbeitslager, wie sie etwa auch in der Bündischen Jugend Deutschlands Usus waren –, als vielmehr in individuellen terroristischen Handlungen, allem voran: dem politischen Mord. Codreanu wurde landes50 Anders Carsten 1977 (wie Anm. 13), S. 175 ff., 295 ff.; Bruce F. Pauley: Hitler and the Forgotten Nazis. A History of Austrian National Socialism, West Hanover, Mass. 1981, S. XV f. 51 Vgl. Radu Ioanid: The Sacralised Politics of the Romanian Iron Guard, in: Totalitarian Movements and Political Religions 5, 2004, S. 419-453, 423 ff. Zum Antisemitismus in Rumänien auch Leon Volovici: Nationalist Ideology and Antisemitism: The Case of Romanian Intellectuals in the 1930s, Oxford 1991; William Brustein: The Roots of Hate. Anti-Semitism in Europe Before the Holocaust, Cambridge etc. 2003, S. 90 f., 153 ff., 238 ff., 310 ff. 52 „The Legion practiced a reactive type of violence, stemming from two main sources: revenge for what they perceived as their public humiliation, and punishment for treason“: Constantin Iordachi: Charisma, Politics and Violence. The Legion of the ‚Archangel Michael‘ in Inter-War Romania, Trondheim 2004, S. 138. Nach einer groben Schätzung wurden zwischen 1924 und 1939 501 Legionäre von den staatlichen Erzwingungsstäben getötet. Auf das Konto der Legion gingen dagegen nur elf Morde und Mordversuche: vgl. Eugen Weber: Romania, in: Hans Rogger und Eugen Weber (Hrsg.): The European Right. A Historical Profile, Berkeley und Los Angeles 1965, S. 501-574, 537. 53 Vgl. Corneliu Zelea Codreanu: Eiserne Garde, Berlin 1939, S. 96, 107 ff., 150 ff. Codreanu dürfte wesentliche Anregungen in dieser Richtung durch seinen Deutschlandaufenthalt im Herbst 1922 erhalten haben, der ihn mit dem Gedankengut des Deutschvölkischen Schutzund Trutzbundes und der Deutschsozialen Partei Richard Kunzes bekannt machte: vgl. Heinen 1986 (wie Anm. 31), S. 122, 134. Sein Stellvertreter in der Legion, Ion Moa, tat sich vor allem durch die Übersetzung der „Protokolle der Weisen von Zion“ hervor: vgl. Weber 1965 (wie Anm. 52), S. 520 f.
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weit bekannt, als er mit seinen Anhängern plante, sämtliche „Verräter“ zu erschießen, womit neben den jüdischen Bankiers und Pressemagnaten auch etliche Minister gemeint waren.54 1924 erschoss er tatsächlich einen Polizeipräfekten. Ein anderer Legionär ermordete im Dezember 1933 den liberalen Ministerpräsidenten Duca – Aktionen, die mehr an die russischen Narodniki oder die deutsche Organisation Consul denken lassen als an die Bürgerkriegsoperationen der Fasci oder der SA. Auch die Organisation mit ihrem stark geheimbündlerischen Charakter wies in diese Richtung. Sie beruhte mehr auf emotionaler Vergemeinschaftung als auf paramilitärischen Kommandostrukturen. Das Charisma des Führers, des „Kapitäns“, entfaltete sich, wie dieser selbst einräumte, nicht in der öffentlichen Rede, sondern in der exemplarischen Lebensführung, der Inszenierung als Nationalheros, ja als Messias, der die Passion Christi nachvollzog.55 Auf der Ebene der Ziele entsprach dem ein Nationalismus, der einerseits in mystisch-religiöser Manier die Schaffung eines erleuchteten Seelenzustandes anstrebte und sich dabei Elemente des orthodoxen Christentums anverwandelte,56 andererseits in Parallele zu den Völkischen in Deutschland eine Gegenstellung zu der als „jüdisch“ gebrandmarkten reflexiven Modernisierung bezog.57 Die Beschwörung des Volkstums stellte zwar Klassen- und Standesinteressen hintan, doch zeigen soziologische Analysen, dass die Legion ihren Aufstieg zur Massenpartei vor allem der städtischen oder verstädterten Jugend verdankte, dem staatsorientierten gebildeten Mittelstand, der im Dienstleistungsbereich nach wirtschaftlicher Sicherheit und gesellschaftlicher Anerkennung strebte.58 Es ist denkbar, dass bei einer Fortsetzung dieser Entwicklung der Patronagecharakter an Bedeutung gewonnen und unterschiedlichen Konkretisierungen des gesinnungsmäßig-ideologischen Fundaments den Weg geöffnet hätte, wie dies die NSDAP nach ihrer Neugründung 1925 vorexerzierte. Die frühzeitige Unterdrückung sowie die Ermordung Codreanus 1938 unterbrachen jedoch diesen Prozess und ließen die Legion im Stadium einer 54
Vgl. Codreanu 1939 (wie Anm. 53), S. 130 ff. Vgl. ebd., S. 373, 273; Weber 1965 (wie Anm. 52), S. 532. Zu den charismatischen Zügen der Legion vgl. die ausführliche Analyse von Iordachi 2004 (wie Anm. 52), bes. S. 72 ff. 56 Vgl. Heinen 1986 (wie Anm. 31), S. 297, 301; Ioanid 2004 (wie Anm. 51), S. 435 ff.; Iordachi 2004 (wie Anm. 52), S. 114 ff.; ders.: God´s Chosen Warriors: Romantic Palingenesis, Militarism and Fascism in Modern Romania, in ders. (Hrsg.): Comparative Fascist Studies. New Perspectives, London und New York 2010, S. 316-357. 57 Vgl. Ioanid 2004 (wie Anm. 51), S. 439 ff. 58 Heinen 1986 (wie Anm. 31), S. 367, 385 f., 399 f. 55
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antisemitischen Glaubenspartei verharren, die allenfalls in einem virtuellen Sinne als faschistisch bezeichnet werden kann.59 Das ist nun ein Ergebnis, das in der Faschismusforschung nur begrenzt auf Zustimmung rechnen kann. Dass sich für deren Mainstream die Zahl der Faschismen meist wesentlich größer darstellt, ist jedoch nicht zuletzt eine Folge des Umstands, dass die dort präferierte gattungsbegriffliche oder auch „realtypische“ Methode eine Zurechnung auch dann erlaubt, wenn wichtige Kriterien der eigenen Definition nicht oder nur zum geringeren Teil erfüllt sind. Das ist schon bei Ernst Nolte zu erkennen, der faschistische Bewegungen und Parteien auch dort fand, wo von der Voraussetzung seines als zunehmend zentraler erachteten Merkmals des Antibolschewismus – der Bedrohung durch den Bolschewismus – keine Rede sein konnte, wie z.B. in Rumänien, Österreich oder England.60 Es zeigt sich in der neueren Literatur bei Michael Mann, der Faschismus als „the pursuit of a transcendent and cleansing nation-statism through paramilitarism“ deutet, den Begriff aber auch für solche Gruppen wie die ungarischen Pfeilkreuzler gelten lässt, denen er attestieren muss, dass bei ihnen die paramilitärische Komponente ungleich schwächer ausgeprägt ist als bei anderen Faschismen;61 bei Arndt Bauerkämper, der die kroatische Ustascha in sein Sample aufnimmt, obwohl er sie weder als Bewegung noch als Partei, sondern als terroristischen Geheimbund einstuft;62 oder bei Jerzy Borejsza, für den sich faschistische von autoritären Systemen vor allem durch das Merkmal der Massenparteien unterscheiden, der dann aber nicht zögert, selbst Splitterparteien wie die sogenannten nationalsozialistischen Parteien Ungarns, Belgiens oder
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„In a sense, and espially in eastern Europe, movements like Codreanu’s are closer to cargo cults than they are to fascism“, schreibt Eugen Weber (wie Anm. 52, S. 524). Anders jedoch Heinen 1986 sowie Ioanid 2004, der sogar neben der Legion noch weitere faschistische Organisationen in Rumänien ausmacht, insbesondere die LANC/PNC, von der die Legion eine Abspaltung darstellte (wie Anm. 31, S. 419). 60 Vgl. Ernst Nolte: Die faschistischen Bewegungen, 3. Aufl., München 1971, S. 219, 253, 279 ff. Die Zuspitzung auf Antibolschewismus findet sich schon hier (S. 11: „Es gibt keinen Faschismus ohne die Herausforderung des Bolschewismus“ sowie S. 248), ist allerdings noch mit gewissen Kautelen versehen, die Nolte später fallen gelassen hat. Vgl. dazu die scharfsinnige Kritik von Wirsching 1999 (wie Anm. 6), S. 520 ff. 61 Vgl. Mann 2004 (wie Anm. 18), S. 13 (Definition) und 247, 257 f. 62 Vgl. Arnd Bauerkämper: Der Faschismus in Europa 1918-1945, Stuttgart 2006, S. 42 (Definition) und 159 ff.
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Skandinaviens als faschistisch zu bezeichnen.63 Eine Methode, die mit Idealtypen operiert, ‚Gedankenbildern‘ also, die in ihrer begrifflichen Reinheit „nirgends in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar“ sind,64 mag im Fall des Faschismus als erkenntnishemmend und gar als moralische Provokation erscheinen. Sie kann jedoch durchaus zu dem Ergebnis führen, dass sich in einzelnen Fällen diese Wirklichkeit in sehr hohem Maß dem Gedankenbild annähert, während sie im Übrigen den Blick für Abstände schärft und ein Bewusstsein für die Aufgabe schafft, die festgestellten Abweichungen auf andere Typen, etwa die verschiedenen Varianten des radikalen Rechtsnationalismus oder des nationalreligiösen Fundamentalismus, zu beziehen. Wenn eine Methode geeignet ist, die zu Recht eingeforderte „Deflation“ des Faschismusbegriffs herbeizuführen, ohne diesen indes zu einem „foreign word“ zu machen,65 dann ist sie es.
63 Vgl. Jerzy W. Borejsza: Schulen des Hasses. Faschistische Systeme in Europa, Frankfurt 1999, S. 155, 239, 247. 64 Weber 1973 (wie Anm. 2), S. 191. 65 Vgl. Gilbert Allardyce: What Fascism is Not: Thoughts on the Deflation of a Concept, in: American Historical Review 84, 1979, S. 367-388, 388.
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Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung im Bewegungsfaschismus
Faschismus, so will es eine verbreitete Lesart, ist vor allem dies: ein Aufstand des Gefühls gegen die Welt des Verstandes, der Irrationalität gegen die Rationalität, der Intuition gegen das Kalkül, des Lebens gegen die Form. Schon in den 20er Jahren etablierte sich dieses Deutungsmuster, um seither in einer Endlosschleife wiederzukehren. Wenige Monate nach dem Marsch auf Rom präsentierte Carl Schmitt den Faschismus zusammen mit dem Bolschewismus unter der Überschrift „Irrationalistische Theorien unmittelbarer Gewaltanwendung“ und gab damit das Stichwort für zahllose weitere Studien.1 Anleihen bei der Soziologie taten ein Übriges, das zunächst rein geistesgeschichtliche, von Erscheinungen wie Lebensphilosophie, Vitalismus, Pragmatismus oder Romantik abgelesene Schema mit sozialem und politischem Gehalt zu versehen. So erschien der Faschismus bzw. sein deutsches Pendant, der Nationalsozialismus, bald im Sinne von Tönnies als 1
Vgl. Carl Schmitt: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (1923), 5. Aufl., Berlin 1979, S. 77 ff.; Fritz Schotthöfer: Il fascio. Sinn und Wirklichkeit des italienischen Faschismus, Frankfurt 1924, S. 22 ff.; Gerhard Leibholz: Zu den Problemen des fascistischen Verfassungsrechts, Berlin 1928, S. 10, 40 f.; Erwin v. Beckerath: Idee und Wirklichkeit im Fascismus, in: Schmollers Jb. 52, 1928, S. 201-218, 207; ders.: Fascismus und Bolschewismus, in: Bernhard Harms (Hrsg.): Volk und Reich der Deutschen, Bd. 3, Berlin 1929, S. 134-153, 137; Hermann Heller: Europa und der Faschismus (1929), in ders.: Gesammelte Schriften, 3 Bde., Bd. 2, Leiden 1971, S. 463-609, 501 f., 510, 512 u. ö.; Theodor Geiger: Die soziale Schichtung des deutschen Volkes (1932), Stuttgart 1987, S. 109 ff.; Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit (1935), Frankfurt 1973, S. 52 ff.; Karl Mannheim: Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus (1935), Darmstadt 1958, S. 300, 416 f.; Ideologie und Utopie, 6. Aufl., Frankfurt 1978, S. 116 ff.; Talcott Parsons: Demokratie und Sozialstruktur in Deutschland vor der Zeit des Nationalsozialismus (1942), in ders.: Beiträge zur soziologischen Theorie, hrsg. von Dietrich Rüschemeyer, Darmstadt/Neuwied 1973, S. 256-281; Roger Griffin: The Nature of Fascism, London 1991, S. 27 f.; Walter Laqueur: Fascism: Past, Present, Future, New York etc. 1996, S. 96; Marc Neocleous: Fascism, Minneapolis 1997, S. X, 13 f., 17; Jerzy W. Borejsza: Schulen des Hasses. Faschistische Systeme in Europa, Frankfurt 1999, S. 34; Norbert Elias: Studien über die Deutschen, Frankfurt 2005, S. 530 ff. u. ö.; Robert Paxton: Anatomie des Faschismus, Stuttgart 2006, S. 30 u. ö.
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Wendung der Gemeinschaft gegen die Gesellschaft,2 bald im Sinne Max Webers als charismatische „emotionale Vergemeinschaftung“,3 bald als gefühlsgeladener „Bund“ im Sinne der Terminologie Herman Schmalenbachs.4 Bei dieser Sichtweise geriet jedoch aus dem Blick, was man schon aus einer genaueren Lektüre Max Webers hätte lernen können: dass „Vergemeinschaftung“ keine Kategorie der Sozialontologie ist, sondern ein Idealtypus, ein gedankliches Konstrukt, das dazu dienen soll, bestimmte Aspekte einer sozialen Beziehung hervorzuheben, und zwar diejenigen, die „auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten“ beruhen; wobei aber stets mitgedacht ist, dass es daneben und nicht selten überwiegend immer auch noch eine andere Dimension gibt, die „auf rational (wert- oder zweckrational) motiviertem Interessenausgleich oder ebenso motivierter Interessenverbindung“ beruht: „Vergesellschaftung“. Die große Mehrzahl sozialer Beziehungen, schreibt Weber, „hat teils den Charakter der Vergemeinschaftung, teils den der Vergesellschaftung. Jede noch so zweckrationale und nüchtern geschaffene und abgezweckte soziale Beziehung (Kundschaft z. B.) kann Gefühlswerte stiften, welche über den gewillkürten Zweck hinausgreifen. Jede über ein aktuelles Zweckvereinshandeln hinausgehende, also auf längere Dauer eingestellte, soziale Beziehungen zwischen den gleichen Personen herstellende und nicht von vornherein auf sachliche Einzelleistungen begrenzte Vergesellschaftung – wie etwa die Vergesellschaftung im gleichen Heeresverband, in der gleichen Schulklasse, im gleichen Kontor, der gleichen Werkstatt – neigt, in freilich höchst verschiedenem Grade, irgendwie dazu. Ebenso kann umgekehrt eine soziale Beziehung, deren normaler Sinn Vergemeinschaftung ist, von allen oder einigen Beteiligten ganz oder teilweise zweckrational orientiert wer2
Vgl. Wolfgang Jarno (d. i. Rudolf Heberle): Zur Kritik der völkischen Bewegung, in: Preußische Jahrbücher 201, 1925, S. 275-286, 278. 3 Vgl. Heinz Marr: Der Einbruch des Nationalsozialismus in das deutsche Parteiensystem, und die Wendung zum totalen Staat, in ders.: Die Massenwelt im Kampf um ihre Form, Hamburg 1934, S. 447-576, 486 ff. 4 Vgl. Herman Schmalenbach: Die soziologische Kategorie des Bundes, in: Die Dioskuren. Jahrbuch für Geisteswissenschaften, hrsg. von Walter Strich, Bd. 1, München 1922, S. 35105. Zur Übertragung auf den Faschismus bzw. Nationalsozialismus vgl. Ernst Fraenkel: Der Doppelstaat, Frankfurt 1974, S. 224 ff.; Emilio Gentile: Storia del partito fascista 1919-1922. Movimento e Milizia, Roma und Bari 1989, S. 525; Sven Reichardt: Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln etc. 2002, S. 390 ff.
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den.“5 Lässt sich diese Einsicht, so soll im Folgenden gefragt werden, auch für die Analyse des Faschismus fruchtbar machen? Und wenn ja: Lässt sich das Verhältnis genauer bestimmen, in dem diese beiden Beziehungsmodi stehen? Das ist zunächst am italienischen, sodann am deutschen Beispiel zu untersuchen.
I. Italien 1. Organisationen, die sich als „Fasci“ bezeichnet haben, gibt es in Italien nicht erst seit dem historischen Faschismus. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts schlossen sich in Sizilien revolutionäre Bauern, Arbeiter und städtische Intellektuelle zusammen, die neben einer Reform der Agrarverträge eine Aufteilung der Latifundien verlangten und eine Affinität zur sozialistischen Bewegung entwickelten.6 Die nächste Erscheinungsform dieses Namens, der im Herbst 1914 gegründete Fascio rivoluzionario di azione internazionalista, setzte sich dann zwar überwiegend aus Intellektuellen zusammen, die sich von der sozialistischen Partei und den Gewerkschaften abgekehrt hatten, verfolgte jedoch mit dem Mittel einer Intervention Italiens in den Weltkrieg nach wie vor Ziele der politischen Linken. Das am 5.10.1914 von führenden Vertretern des revolutionären Syndikalismus, wie Bianchi, Corridoni, Olivetti und Rossi, publizierte Manifest rief die Arbeiter Italiens dazu auf, sich nicht nur um der Verteidigung der Zivilisation und der Freiheit, sondern auch um der heiligen Sache der sozialen Revolution willen für den Kriegseintritt Italiens an der Seite der Westmächte einzusetzen, da ein Sieg Deutschlands den Übergang zum Sozialismus ad calendas graecas verschieben werde.7 Das Echo auf diesen Aufruf blieb freilich begrenzt. Im Januar
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Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, hrsg. von Johannes Winckelmann, 5. Aufl., Tübingen 1976, S. 21 f. 6 Vgl. Eric J. Hobsbawm: Sozialrebellen. Archaische Sozialbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert, Neuwied und Berlin 1962, S. 127 ff. 7 Vgl. den Abdruck des Manifests in Renzo De Felice: Mussolini il rivoluzionario, Torino 1965, S. 679 ff. sowie A. James Gregor: Young Mussolini and the Intellectual Origins of Fascism, Berkeley etc. 1979, S. 176; David D. Roberts: The Syndicalist Tradition and Italian Fascism, Manchester 1979, S. 107; Pierre Milza: Mussolini, Paris 1999, S. 107.
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1915, zur Zeit ihres ersten Kongresses, zählte die Bewegung in ganz Italien gerade einmal hundert Fasci mit ca. 9000 Anhängern.8 Eine dritte Variante bildete sich nach Kriegsende mit den Fasci Politici Futuristi,9 deren Ziele im Programm der Futuristischen Partei vom September 1918 formuliert waren. Zu den Hauptforderungen gehörten ein „anticlericalismo intransigentissimo“, der Italien von Priestern, Kirchen und Klöstern befreien wollte; das allgemeine Wahlrecht, auch für Frauen; die Umwandlung des Parlaments in eine technische Körperschaft; die Vergesellschaftung des Bodens; die Förderung der Industrialisierung und Modernisierung der Städte; progressive Besteuerung; Streikrecht und Koalitionsfreiheit; Achtstundentag; kollektive Arbeitsverträge; Beschlagnahme der Kriegsgewinne und Einführung der Ehescheidung.10 Obwohl die futuristischen Fasci eher noch weniger Mitglieder hatten als die interventionistischen,11 gelang es ihnen doch, erheblichen Einfluss auf die Veteranenverbände zu gewinnen, etwa auf die von dem Futuristen Mario Carli im Januar 1919 gegründete Associazione fra gli Arditi d’Italia.12 Über den wiederum von Carli geführten Fascio Futurista Fiumanese und dessen Zeitschrift La Testa di Ferro gab es Verbindungen zum Fiume-Abenteuer D’Annunzios, die ungeachtet mancher Meinungsverschiedenheiten über den politischen Kurs bis zuletzt eng blieben.13 Politisch präsentierte sich der Futurismus allerdings durchaus uneindeutig. Während prominente Wortführer wie Bolzon, Bottai und 8
Vgl. Milza 1999 (wie Anm. 7), S. 189. Zu den fasci di azione rivoluzionaria vgl. den Artikel von David D. Roberts, in: Philip V. Cannistraro (Hrsg.): Historical Dictionary of Fascist Italy, Westport und London 1982, S. 198 ff. 9 Vgl. Günter Berghaus: Futurism and Politics. Between Anarchist Rebellion and Fascist Reaction, 1909-1944, Providence und Oxford 1996, S. 98 f.; Emilio Gentile: Le origini dell’ideologia fascista (1918-1925), Bologna 1996, S. 181. 10 Vgl. Manifesto-programma del Partito politico futurista (settembre 1918), in: De Felice 1965 (wie Anm. 7), S. 738 ff. 11 Vgl. ebd., S. 476. Marinetti zählte rückblickend ganze 73 Personen zur politischen Bewegung des Futurismus, die überwiegend aus Kreisen des intellektuellen Künstlertums stammten: vgl. Filippo Tommaso Marinetti: Futurismo e fascismo, Fologno 1924, S. 17. 12 Vgl. Giorgio Rochat: Gli arditi della grande guerra: origini, battaglie e miti, Milano 1981 (nuova ediz. Goriziana, Corte S. Ilario), S. 115 f. Vorangegangen waren der Gründung verschiedene Appelle von Carli in der Zeitschrift Roma Futurista: vgl. Ferdinando Cordova: Arditi e legionari dannunziani, Padova 1969, S. 13 ff. Die Appelle wie auch die Statuten sind dort im Anhang dokumentiert: vgl. ebd., S. 208 ff. 13 Vgl. Berghaus 1996 (wie Anm. 9), S. 137 f.; Bettina Vogel-Walter: D’Annunzio – Abenteurer und charismatischer Führer. Propaganda und religiöser Nationalismus in Italien von 1914 bis 1921, Frankfurt/M. 2004, S. 186 f.
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schließlich auch Carli selbst 1919/20 zunehmend nach rechts rückten, bemühten sich andere wie Mannarese um ein schärferes soziales Profil.14 In Parma, La Spezia und Turin existierte während der ganzen 20er Jahre ein Netzwerk von Anarcho-Futuristen, futuristischen Kommunisten und Arditi del Popolo.15 Und dann waren da noch die Fasci di combattimento, in denen nicht wenige den ‚Faschismus der ersten Stunde‘ sehen.16 Die Gründungsversammlung am 23.3.1919 in einem Saal an der Piazza San Sepolcro in Mailand, einberufen von Mussolini, vereinigte eine unklare Zahl von Teilnehmern, deren Minimum auf 50, deren Maximum auf 400 geschätzt wird.17 Angehörige der kleinen oder mittleren borghesia urbana, die aus den unterschiedlichsten sozio-politischen Zusammenhängen kamen: aus der ehemaligen Elitetruppe der Arditi; aus dem Linksinterventionismus; aus den Reihen des revolutionären Syndikalismus, des Futurismus, des reformistischen Sozialismus sowie des Republikanismus.18 Ein formelles Programm wurde nicht verabschiedet, dachte doch zu diesem Zeitpunkt niemand an die Gründung einer neuen Partei. Dominierend war vielmehr die Vorstellung einer „Antipartei“ als einer aus Mitgliedern unterschiedlichster Richtungen bestehenden Assoziation, die lediglich zeitlich begrenzte Zielsetzungen, wie die Bekräftigung der Rechte der Veteranen und die Verteidigung des revolutionären
14 Vgl. Berghaus 1996 (wie Anm. 9), S. 138, 151 f., 147; Emilio Gentile: Il futurismo e la politica. Dal nazionalismo modernista al fascismo (1909-1920), in: Renzo De Felice (Hrsg.): Futurismo, cultura e politica, Torino 1988, S. 105-159; Manfred Hinz: Die Zukunft der Katastrophe. Mythische und rationalistische Geschichtstheorie im italienischen Futurismus, Berlin-New York 1985; ders.: Der italienische Futurismus. Eine paradigmatische Avantgarde, in: Franziska Meier (Hrsg.): Italien und Europa. Der italienische Beitrag zur europäischen Kultur, Innsbruck u.a. 2007, S. 159-170. 15 Vgl. Umberto Carpi: L’estrema avanguardia del novecento, Roma 1985, S. 135. Zu den Arditi del popolo und ihren antifaschistischen Aktivitäten vgl. Cordova 1969 (wie Anm. 12), S. 83 ff.; Michael Ledeen: The First Duce. D’Annunzio at Fiume, Baltimore und London 1977, S. 46 f.; zur Debatte über den futurismo di sinistra Giovanni Lista: Arte e politica. Il futurismo di sinistra in Italia, Roma 1980. 16 Vgl. Angelo Tasca: Glauben, gehorchen, kämpfen. Aufstieg des Faschismus, Wien etc. 1969, S. 49. Knappe Überblicke in: Cannistraro 1982 (wie Anm. 8), S. 200 ff.; Dizionario del fascismo. A cura di Victoria de Grazia e Sergio Luzzatto, 2 Bde., Torino 2002, Bd. 1, S. 513 ff. 17 Vgl. Denis Mack Smith: Mussolini. Eine Biographie, München und Wien 1983, S. 69; De Felice 1965 (wie Anm. 7), S. 504. 18 Vgl. De Felice 1965 (wie Anm. 7), S. 505.
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Charakters der Intervention und des Krieges, verfolgte.19 Immerhin hatte Mussolini zuvor in seinen Leitartikeln im Popolo d’Italia die Richtung umrissen, in die es gehen sollte: in die eines nazionalismo di sinistra, der seine raison d’être aus dem parallelen Interesse des Kapitalismus und des Proletariats an einer Steigerung der Produktion und den dafür nötigen sozialen Reformen ableitete.20 Im Juni 1919 wurde dann doch noch ein Programm nachgereicht, das sich an die Forderungen der im Jahr zuvor gegründeten Unione Italiana del Lavoro (UIL) anlehnte und in wesentlichen Teilen auf Formulierungen ihres Generalsekretärs Alceste de Ambris zurückging.21 Es sah u. a. das allgemeine Wahlrecht, auch für Frauen, vor, die Abschaffung des Senats und die Einberufung einer Konstituante; die gesetzliche Festlegung des Achtstundentages, die Einführung von Mindestlöhnen und von Betriebsräten, den Ausbau der sozialen Sicherung, eine progressive Kapitalbesteuerung, die die Form einer echten Teilexpropriierung aller Güter annehmen sollte; die Beschlagnahme aller Güter religiöser Vereinigungen und die Einziehung der Kriegsprofite; endlich, als Ausdruck der nationalistischen Komponente: eine nationale Außenpolitik, die, anstatt die Hegemonie der gegenwärtigen ‚plutokratischen Mächte‘ zu stützen, den Willen und die Leistungsfähigkeit Italiens zur Geltung bringen sollte.22 Dass der letzte Punkt nicht in einem antiimperialistischen Sinne zu verstehen war, hatte Mussolini schon zuvor in einer Erklärung deutlich gemacht, die für Italien die Annexion Fiumes und Dalmatiens verlangte – eine Forderung, die im
19 Vgl. Gentile 1989 (wie Anm. 4), S. 3. Die Bezeichnung „antipartito“ findet sich bereits im November 1918 in einem Vorschlag, der auf die Bildung von „Fasci per la Costituente” zielt, d. h. auf „una organizzazione ‚fascista‘”, die „nichts gemeinsam haben soll mit jenen Glaubensvorstellungen, Dogmen, Mentalitäten und vor allem Vorurteilen der alten Parteien und dergestalt die Koexistenz und das gemeinsame Handeln all derer erlauben soll, die eine gegebene Lösung zu gegebenen Problemen akzeptieren, welches immer auch ihre politischen, religiösen und ökonomischen Überzeugungen seien”: Benito Mussolini: A raccolta! (Il Popolo d’Italia, N. 324, 23.11.1918), in: Opera omnia di Benito Mussolini, a cura di Edoardo e Duilio Susmel (im Folgenden kurz O.o.), Bd. 14, Firenze 1956, S. 27-28, 27. Vgl. Gentile 1996 (wie Anm. 9), S. 104. 20 Vgl. De Felice 1965 (wie Anm. 7), S. 501, 494. 21 Vgl. ebd., S. 513 f.; Roberts 1979 (wie Anm. 7), S. 179. 22 Vgl. Programma dei Fasci di combattimento, in: De Felice 1965 (wie Anm. 7), S. 742 f.
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Übrigen nur die Wunschliste wiederholte, die er bereits während des Krieges aufgestellt hatte.23 Die neue Bewegung kam jedoch nicht recht voran, da Mussolini vor allem nach links wenig Bereitschaft zum Engagement zeigte. Als er sich im Sommer 1919 weigerte, die Demonstrationen gegen die steigenden Lebenshaltungskosten zu unterstützen, darüber hinaus auch noch explizit gegen Streiks Stellung nahm, ja dem Mailänder Polizeipräsidenten die Hilfe seines Fascio für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung anbot, entzogen die Futuristen und die UIL den Fasci di combattimento die Unterstützung.24 Auf dem ersten Kongress, der im Oktober 1919 in Florenz stattfand, waren gerade einmal 56 Ortsgruppen aus ganz Italien vertreten, die höchstens 17 000 eingeschriebene Mitglieder hatten.25 Bei den Parlamentswahlen im November 1919 blieben die „Faschisten“ isoliert und erzielten keinen einzigen Sitz. In Mailand brachte es die von Mussolini angeführte Liste unter 270 000 Stimmen nur auf etwa 5000.26 Zahlreiche Mitglieder verließen daraufhin die Bewegung, deren organisatorisches Gerüst zu zerbrechen drohte. Am Ende des Jahres 1919 existierten gerade noch einige 30 Ortsgruppen, die selbst in den größeren Städten oft nur 30-35 Mitglieder hatten, insgesamt nach einer Schätzung Emilio Gentiles vielleicht 800.27 Der Popolo d’Italia geriet ins Defizit, Mussolini selbst in wachsende finanzielle Schwierigkeiten, die ihn mit dem Gedanken an Auswanderung spielen ließen.28 Die Geschichte der Fasci di combattimento war damit freilich noch nicht zu Ende. Schon im ersten Halbjahr 1920 füllten sich vielerorts die Reihen wieder, als im Gefolge von Massenstreiks, insbesondere im Post-, Telegraphen- und Verkehrswesen, die öffentliche Ordnung zusammenbrach 23 Vgl. Tasca 1969 (wie Anm. 16), S. 62; MacGregor Knox: To the Threshold of Power, 1922/33. Origins and Dynamics of the Fascist and National Socialist Dictatorships, Bd. 1, Cambridge etc. 2007, S. 302. Im Januar 1919 heißt es im Popolo d’Italia unmissverständlich: „L’Imperialismo è la legge eterna e immutabile della vita“: Benito Mussolini: Primo dell’anno prima divagazione (Il Popolo d’Italia, N.1, 1.1.1919), in: O.o., Bd. 12, Firenze 1956, S. 100103, 101. Bei Gentile 1996 (wie Anm. 9), S. 207 ff. wird dieses durchaus im Sinne eines ethnokratisch motivierten Imperialismus zu verstehende Motiv minimiert. 24 Vgl. Berghaus 1996 (wie Anm. 9), S. 125, 144; Francesco Perfetti: Fiumanesimo, sindacalismo e fascismo, Roma 1988, S. 69. 25 Vgl. Tasca 1969 (wie Anm. 16), S. 64. 26 Vgl. ebd., S. 66. 27 Vgl. Berghaus 1996 (wie Anm. 9), S. 146; Emilio Gentile: Fascismo. Storia e interpretazione, Roma und Bari 2002, S. 10. 28 Vgl. Mack Smith 1983 (wie Anm. 17), S. 74.
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und die Fasci sich als Kristallisationspunkte für die Mobilisierung der ceti medi anboten.29 Mussolinis Ablehnung der Streiks, seine offen bekundete Sympathie für die ‚produktive Bourgeoisie‘, die sich mit der Überzeugung verband, es sei unmöglich, die wirtschaftliche Maschinerie bei laufendem Betrieb in einem einmaligen Kraftakt umzubauen,30 zogen zahlreiche neue Mitglieder in die Fasci, besonders aus der Studentenschaft, die hier die Keime einer neuen Ordnungsmacht und nicht zuletzt die einzige Gegenkraft sahen, die sich der bolschewistischen Revolution entgegenstellte; hatte sich doch auf dem Kongress des PSI in Bologna Anfang Oktober 1919 die maximalistische Fraktion durchgesetzt und den Anschluss an die Dritte Internationale beschlossen, darüber hinaus sich klar für den Einsatz von Gewalt in defensiver und offensiver Absicht ausgesprochen.31 Dieser ‚Wiederaufstieg des Faschismus von der Peripherie‘ her (De Felice) hatte eine quantitative Dimension, zählte man doch bereits Ende 1920 wieder 88 Fasci mit 20615 Mitgliedern.32 Er hatte jedoch auch eine qualitative Dimension, die sich in einer deutlichen Verschiebung nach rechts ausdrückte. Auf dem zweiten Kongress der Fasci di combattimento, der am 24. und 25. Mai 1920 in Mailand stattfand, wurde ein neues Zentralkomitee gewählt, in dem die Rechte die Mehrheit hatte.33 Führende Exponenten der Linken wie Alceste de Ambris, bis Dezember 1919 Leiter der UIL, waren entweder zuvor auf Distanz gegangen,34 oder taten es nun, wie bspw. Marinetti, der seinen Sitz im Zentralkomitee mit der Begründung aufgab, die Fasci bekundeten zu wenig Solidarität mit den Streikenden und ließen es in puncto Antiklerikalismus und Antimonarchismus an Entschiedenheit fehlen.35 Tatsächlich wurden in dem auf dem Mailänder Kongress verabschiedeten neuen Parteiprogramm wesentliche Punkte der alten Plattform fallen gelassen, wie etwa das allgemeine Wahlrecht, die Abschaffung des Senats und die Einberufung einer Konstituante.36 In der Außenpolitik hatte Mussolini schon einige Monate zuvor die Weichen für eine Orientierung nach 29
Vgl. Gentile 1989 (wie Anm. 4), S. 77 ff. Vgl. Benito Mussolini: Orientamenti (Il Popolo d’Italia, N. 320, 21.11.1919), in: O.o., Bd. 14, Firenze 1954, S. 140-142, 141. 31 Vgl. Tasca 1969 (wie Anm. 16), S. 81 f.; Schotthöfer 1924 (wie Anm. 1), S. 38. 32 Vgl. De Felice 1965 (wie Anm. 7), S. 593, 595. 33 Vgl. ebd., S. 594. 34 Vgl. Perfetti 1988 (wie Anm. 24), S. 69. 35 Vgl. Berghaus 1996 (wie Anm. 9), S. 154. 36 Vgl. De Felice 1965 (wie Anm. 7), S. 597. 30
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rechts gestellt, indem er, noch immer den Vorwurf des Imperialismus zurückweisend, die Einverleibung Dalmatiens und die Vorverlagerung der italienischen Grenze bis zu den Julischen Alpen verlangte.37 Trotz dieser neuen Akzente, die das Bündnis mit dem squadrismo ab Herbst 1920 erst möglich gemacht haben, tut man gut daran, die Einheitlichkeit und Eindeutigkeit des „Faschismus“ zu diesem Zeitpunkt nicht zu hoch anzusetzen. Mochte der Fascio in Mailand auch nach rechts tendieren, so blieb derjenige in Rom links.38 Derjenige in Bologna wiederum war zwar mehrheitlich rechts, gab sich aber Ende 1920 mit Dino Grandi einen Führer, dessen Sympathien eher bei D’Annunzio und dem fiumanesimo lagen, der sich explizit vom Rechtsnationalismus der Associazione nazionalista italiana abgrenzte;39 wie überhaupt 1920 noch keineswegs ausgemacht war, ob es am Ende nicht doch die von D’Annunzio repräsentierte, an die Traditionen Mazzinis und Garibaldis anknüpfende, von De Ambris mit einem revolutionär-syndikalistischen Profil versehene „fiumanische“ Richtung sein würde, die dem „Faschismus“ Ziel und Gehalt gab.40 Schließlich stand nicht einmal für Mussolini der künftige Kurs der Bewegung fest, erwog er doch noch im Sommer 1921, auf dem Höhepunkt der squadristischen Gewaltwelle gegen die Einrichtungen der Arbeiterbewegung, in vollem Ernst die Schaffung einer „Partei der Arbeit“ aus den überall aus dem Boden schießenden „nationalen“ Syndikaten und dem Gewerkschaftsverband, der Confederazione generale del lavoro, dem freilich zugemutet wurde, sich zuvor von der sozialistischen Partei zu lösen.41 Das Angebot eines Friedensvertrages, das Mussolini am 23.7.1921 unterbreitete, war flankiert von dem Vorschlag einer Koalition zwischen den drei großen politischen Kräften des Landes, der nun sogar neben Popolari und Fasci die Sozialisten einschloss.42
37 Vgl. Benito Mussolini: Per le frontiere di pace. Alle Alpi Giulie (Il Popolo d’Italia, N. 46, 22.2.1920), in: O.o., Bd. 14, Firenze 1954, S. 335-336, 336. 38 Vgl. Berghaus 1996 (wie Anm. 9), S. 146. 39 Vgl. Gentile 1989 (wie Anm. 4), S. 348; Paolo Nello: Dino Grandi. La formazione di un leader fascista, Bologna 1987, S. 155 ff. 40 Vgl. Cordova 1969 (wie Anm. 12), S. 113 ff.; Gentile 1996 (wie Anm. 9), S. 277 ff.; VogelWalter 2004 (wie Anm. 13), S. 217 ff. 41 Vgl. Tasca 1969 (wie Anm. 16), S. 173 f.; Benito Mussolini: Il primo discorso alla Camera dei deputati (21.6.1921), in: O.o., Bd. 16, Firenze 1955, S. 431-446, 441; ders.: In tema di pace (Il Popolo d’Italia, N. 157, 2.7.1921), in: O.o., Bd. 17, Firenze 1955, S. 20-21. 42 Vgl. Tasca 1969 (wie Anm. 16), S. 177.
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Wie nun stellen sich diese Erscheinungen im Lichte der Soziologischen Grundbegriffe Max Webers dar? Offensichtlich handelt es sich bei den geschilderten Fasci um soziale Beziehungen, bei denen „die Einstellung des sozialen Handelns auf rational (wert- oder zweckrational) (…) motivierter Interessenverbindung beruht“.43 Die sizilianischen Fasci des späten 19. Jahrhunderts aggregierten in erster Linie materielle Interessen von Arbeitern und Bauern, auch wenn diese sich nach Hobsbawm mit Elementen eines modernen Chiliasmus, also religiösen bzw. religioiden Motiven, verbunden haben mögen. Die Fasci der Interventionisten organisierten dagegen mehr ideelle Interessen, die sich aus den – in Webers Augen: ‚pan-moralischen‘ – Glaubensüberzeugungen des revolutionären Syndikalismus ergaben sowie den daraus resultierenden Aversionen gegen Deutschland als den Repräsentanten der Synthese von Bürokratismus, Etatismus und Kapitalismus.44 Ebenfalls mehr ideeller Natur waren die Motive, von denen sich die futuristischen Fasci leiten ließen, wohingegen die Fasci di combattimento eine Mixtur darstellten: aus den ideellen Interessen der Futuristen und Syndikalisten, dem materiellen Interesse der Arditi an angemessener Versorgung sowie dem persönlichen Interesse der Demagogen vom Schlage Mussolinis an Macht und Zugang zu den Führungspositionen im Staate. Bei näherem Hinsehen erkennt man weitere Merkmale. Es handelt sich erstens nicht um bloße „Gelegenheitsvergesellschaftungen“, sondern um „perennierende“ Gebilde;45 zweitens um „Verbände“, bei denen das soziale Handeln der Beteiligten sich an einer vereinbarten Ordnung orientiert, für welche ein Minimum an generellen Regeln sowie die Existenz eigener, die Einhaltung der Ordnung garantierender Verbandsorgane konstitutiv ist.46 Weber spricht in diesem Fall von „Satzung“, wehrt aber sogleich die nahe43
Weber 1976 (wie Anm. 5), S. 21. Zu Webers Sicht des (revolutionären) Syndikalismus als einer „unpolitische(n) und antipolitische(n) heroische(n) Brüderlichkeitsethik“ vgl. ders.: Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, in: Zur Politik im Weltkrieg, hrsg. von Wolfgang J. Mommsen und Gangolf Hübinger, Max Weber Gesamtausgabe (MWG) Bd. I/15, Tübingen 1984, S. 504; Der Sozialismus, ebd., S. 626 ff.; Volker Heins: Weber’s Ethic and the Spirit of AntiCapitalism, in: Political Studies 41, 1993, S. 269-283; Sam Whimster: Max Weber and the Culture of Anarchy, Basingstoke 1999. 45 Zu dieser Unterscheidung vgl. Max Weber: Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, in ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. von Johannes Winckelmann, 4. Aufl. Tübingen 1973, S. 427-474, 448 ff. 46 Vgl. ebd., S. 450; Weber 1976 (wie Anm. 5), S. 26. 44
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liegende Assoziation ab, damit sei allein ein schriftlich fixiertes Regelwerk im Sinne des deutschen Vereinsrechts gemeint. „Eine gesatzte Ordnung in dem hier gemeinten rein empirischen Sinne ist – wie hier nur ganz provisorisch definiert sei – entweder 1. eine einseitige, im rationalen Grenzfall: ausdrückliche, Aufforderung von Menschen an andere Menschen oder 2. eine, im Grenzfall: ausdrücklich beiderseitige Erklärung von Menschen zueinander, mit dem subjektiv gemeinten Inhalt: daß eine bestimmte Art von Handeln in Aussicht gestellt oder erwartet werde.“47 Beansprucht die gesatzte Ordnung Geltung nur für die kraft persönlichen (und das heißt stets: freiwilligen) Eintritts Beteiligten, hat man es mit einem „Verein“ zu tun, im Unterschied zu solchen Vergesellschaftungen, bei denen die Ordnung oktroyiert wird („Anstalten“).48 Vereine wiederum können „nach Absicht und Mitteln rein auf Verfolgung sachlicher (ökonomischer oder anderer) Interessen der Mitglieder“ abgestellt sein, in welchem Fall man von „Zweckvereinen“ zu sprechen hat; oder sie können der Pflege ideeller Interessen dienen, wie sie sich aus gemeinsamen wertrationalen Überzeugungen ergeben – der Typus des „Gesinnungsvereins“.49 Im Lichte dieser Bestimmungen handelt es sich bei den meisten der hier vorgestellten Fasci um Vereine, auch wenn die organisatorische Struktur nicht immer deutlich zu erkennen ist. Die sizilianischen Fasci waren mehr Zweckvereine, die interventionistischen und futuristischen Fasci mehr Gesinnungsvereine. Die Fasci di combattimento zeigen die Merkmale beider Typen und lassen darüber hinaus besonders klar die Existenz genereller Regeln und eigener Verbandsorgane erkennen. Für die beiden Kongresse von 1919 und 1920 war die Anerkennung des Modus der Repräsentation Voraussetzung, man einigte sich auf die Wahl eines Zentralkomitees wie 47
Weber 1973 (wie Anm. 45), S. 442 f. Vgl. Weber 1976 (wie Anm. 5), S. 28. Begriffsgeschichtlich gehört damit der Verein zu den typisch modernen, seit der Mitte des 18. Jahrhunderts aufgekommenen Freiwilligkeitsverbänden, wie sie Wolfgang Hardtwig unter der Bezeichnung „Assoziation“ zusammengefasst und dem spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Zwangsverband („Korporation“) gegenübergestellt hat: vgl. Genossenschaft, Sekte, Verein in Deutschland, Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zur Französischen Revolution, München 1997, S. 11 f. Wie in Deutschland, ist auch in Italien der Begriff des Vereins (associazione, società) im 19. Jahrhundert zur Pathosformel der Nationalbewegung geworden, mit liberalem und demokratischem Vorzeichen oder ohne: in Gesellschaften wie der Società Nazionale Italiana (gegr. 1857), der Società Nazionale Dante Alighieri (gegr. 1889) oder der Associazione Nazionalista Italiana (gegr. 1910). 49 Weber 1976 (wie Anm. 5), S. 22. 48
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auch eines Exekutivausschusses, vereinbarte die Ausgabe von Mitgliedsausweisen und -beiträgen, traf Vorkehrungen für die Verteilung der finanziellen Mittel und gab sich ein Programm.50 Damit ist nicht gesagt, dass sich an diese sozialen Gebilde nicht auch Affekte und Emotionen angeheftet hätten – „jede noch so zweckrationale und nüchtern geschaffene und abgezweckte soziale Beziehung (…) kann Gefühlswerte stiften, welche über den gewillkürten Zweck hinausgehen“ –,51 wohl aber, dass die Einstellung des sozialen Handelns auf diese Gefühlswerte konstitutiv für die Beziehung gewesen wäre. Die angemessene deutsche Übersetzung von „fascio“ ist deshalb „Verein“ und nicht, wie mitunter vorgeschlagen, „Bund“.52 Noch näher kommt der Sache indessen ein Terminus, der sich nicht in den Soziologischen Grundbegriffen findet, dafür aber in der historischen Realität. Vor allem französischen Beobachtern ist eine Verwandtschaft zwischen den Fasci und dem im Frankreich der Dritten Republik beheimateten Phänomen der „Ligen“ aufgefallen:53 Zweckvereinen und/oder Gesinnungsvereinen, die sich wie Parteien im politischen Feld platzieren, sich gleichwohl von ihnen in einer Reihe von Punkten unterscheiden. Hält man sich an den von Autoren wie Maurice Duverger und Serge Berstein entwickelten Merkmalskatalog, lassen sich Ligen von deutlich enger gesteckten Zielen leiten und demonstrieren eine gewisse Neutralität „vis à vis des diverses familles politiques, philosophiques et spirituelles“;54 sie grenzen sich aggressiv vom Parlament, wie überhaupt von aller professionell betriebenen Politik, ab; und sie setzen statt auf das Mittel der Wahl auf Propaganda und Agitation, auf Massendemonstrationen sowie unter Umständen auf den Gebrauch von Gewalt. „Es ist eine primitive politische Methode, die sich in diesen Eigentümlichkeiten der ‚Liga‘ verrät, denn in einer Demokratie ist es offensichtlich wirk50
Vgl. Gentile 1989 (wie Anm. 4), S. 97 f., 117 ff. Weber 1976 (wie Anm. 5), S. 22. 52 So etwa von Johann W. Mannhardt: Der Faschismus, München 1925, S. 164, 173 f.; Eugen Kogon: Europa im Umbruch (1933), in ders.: Die Idee des christlichen Ständestaates. Frühe Schriften 1921-1940. Gesammelte Schriften Bd. 8, hrsg. von Michael Kogon und Gottfried Erb, Berlin 1999, S. 289-291, 290. Auch ein anderer zeitgenössischer deutscher Beobachter, der Italienkorrespondent der Frankfurter Zeitung, spricht von Bund und Bündlertum, setzt dies aber wiederum mit Verein gleich: vgl. Schotthöfer 1924 (wie Anm. 1), S. 64. 53 Vgl. Milza 1999 (wie Anm. 7), S. 237 sowie bereits ders. und Serge Berstein: Le fascisme italien 1919-1945, Paris 1980, S. 88. 54 Vgl. Serge Berstein: La ligue, in: Jean-François Sirinelli (Hrsg.): Histoire des droites en France, 3 Bde., Paris 1992, Bd. 2, S. 61-111, 66. 51
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samer, sich der Wahlen und des Parlaments zu bedienen, um das Regime zu stürzen, als sich außerhalb ihrer zu betätigen. So liegt es auch in der natürlichen Entwicklung der Liga, sich in eine extremistische Partei zu verwandeln. Tatsächlich hatten auch manche, bevor sie sich in eine richtige Partei verwandelten, zuerst den Charakter einer Liga, wie bekanntlich die italienische faschistische Partei.“55 Zumindest für die Fasci di combattimento lässt sich freilich zeigen, dass sie damit noch nicht erschöpfend beschrieben sind. 2. Die Ereignisse, die im Spätsommer und Herbst 1920 die letzte und entscheidende Mutation des „Faschismus“ herbeiführten, sind bekannt und deshalb hier nur kurz zu rekapitulieren. Am 31. August besetzten die in der FIOM (Federazione Italiana di Operai Metallurgici) organisierten Arbeiter 280 Betriebe in Mailand und stellten damit erstmals massiv die privateigentümliche Verfügung über die Produktionsmittel in Frage.56 Bei den wenige Wochen später stattfindenden Wahlen zu den Provinzial- und Kommunalverwaltungen erhielten die Sozialisten zwar insgesamt nur knapp ein Viertel der Stimmen, gewannen aber in den Kommunen der Emilia fast zwei Drittel, in der Toskana knapp über die Hälfte der Mandate; in den Provinzialräten waren sie dort mit 7 bzw. 6 von 8 Sitzen vertreten.57 Da den Kommunen in den Kriegsjahren zahlreiche neue Kompetenzen, insbesondere auf fiskalischem Gebiet, zugewachsen waren, stand die noch immer stark oligarchische Struktur in Frage. Gleichzeitig sahen sich jedoch auch zahlreiche Halbpächter und Kleinbauern in ihrer Existenz bedroht, wurde doch in den Gewerkschaften immer lauter die Sozialisierung des Bodens verlangt, 1921 sogar von der CGL explizit auf die Tagesordnung gesetzt.58 Die Federterra, die Gewerkschaft der Landarbeiter, verfolgte systematisch das Ziel, die Halbpächter durch neue Arbeitsverträge zu proletarisieren und nutzte für die Durchsetzung der Interessen ihrer Klientel alle Mittel, von Drohung und Erpressung über Boykott und Isolation bis hin zur physischen Gewalt. „Im Ganzen gesehen verweigerten die Sozialisten einer intermediären ländlichen Klasse und dem individuellen Privatbesitz die Existenz und betrachtete(n) die Interessenunterschiede und -konflikte zwischen Landarbeitern und 55
Maurice Duverger: Die politischen Parteien, Tübingen 1959, S. 11. Vgl. Tasca 1969 (wie Anm. 16), S. 102 f. 57 Vgl. Gentile 1989 (wie Anm. 4), S. 145. 58 Vgl. Reichardt 2002 (wie Anm. 4), S. 295. 56
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Kleinbauern beziehungsweise Halbpächtern, als von ‚absolut vorübergehender und zweitrangiger Natur‘, wie es Ende 1919 in einer sozialistischen Zeitung Ferraras hieß.“59 Für die bäuerliche und bürgerliche Selbsthilfe – denn vom Staat war rebus sic stantibus wenig zu erwarten – standen im Wesentlichen zwei Einrichtungen zur Verfügung: die Interessenverbände und die Fasci. Während die seit März 1920 bestehende Confederazione Generale dell’Industria eher auf Verhandlungen setzte,60 formierte sich in den Agrarverbänden, wie z. B. der Bologneser Associazione Provinciale di Agricoltori (APA), eine militante Fraktion, die auf Konfrontation mit den Landarbeiterligen drängte und dafür nicht nur beträchtliche Finanzmittel bereitstellte, sondern auch mit dem Versprechen einer neuen Aufteilung des Bodens lockte.61 Adressiert waren diese Angebote an die Fasci, die im Herbst 1920 zu Sammelbecken der bürgerlich-bäuerlichen Opposition gegen die Dominanz der Linken wurden, dabei aber nicht selten die Klassengrenzen übersprangen und – wie in der Provinz Ferrara – zahlreiche Landarbeiter oder sogar – wie in Massa/Carrara – Arbeiter der Gewerbebetriebe anzogen.62 Auch die Parteigrenzen erwiesen sich als durchaus osmotisch. Der Fascio von Carrara rekrutierte sich im Kern aus jungen Liberalen und zog darüber hinaus zahlreiche junge Republikaner an; in Ferrara schlossen sich viele Popolari dem Fascio an, der es in kürzester Zeit auf 7000 Mitglieder brachte und damit selbst Mailand in den Schatten stellte.63 Die Zahl der von den Fasci ausgegebenen Mitgliedsausweise verzehnfachte sich von Oktober/November auf Dezember 1920 und stieg auch danach kontinuierlich weiter. Zählten die Fasci am 31.12.1920 20 165 Mitglieder, so waren es drei Monate später 80 476. Im Mai 1921 lag die Zahl bei 187 588, die in über 1000 Fasci organisiert waren, die meisten da-
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Ebd., S. 296 f.; vgl. MacGregor Knox 2007 (wie Anm. 23), S. 277. Vgl. Tasca 1969 (wie Anm. 16), S. 104. 61 Vgl. Anthony L. Cardoza: Agrarian Elites and Italian Fascism. The Province of Bologna 1901-1926, Princeton 1983, S. 301, 327; Adrian Lyttelton: The Seizure of Power. Fascism in Italy 1919-1929, Princeton 1973, Paperback ed. 1988, S. 62 f. 62 Vgl. Paul Corner: Fascism in Ferrara, Oxford 1975, S. 138, 144; Roger Engelmann: Provinzfaschismus in Italien. Politische Gewalt und Herrschaftsbildung in der Marmorregion Carrara 1921-1924, München 1992, S. 14. 63 Vgl. Engelmann 1992 (wie Anm. 62), S. 46, 63; Corner 1975 (wie Anm. 62), S. 126, 121. 60
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von (Ende Mai 1921: 114 487) im Norden, davon wiederum fast die Hälfte in der Emilia und der Toscana.64 Die explosionsartige Vermehrung war vor allem darauf zurückzuführen, dass die Fasci seit Sommer 1920 dazu übergingen, paramilitärische Einheiten aufzubauen, die sogenannten Squadre d’azione. Diese sollten aus den „mutigsten und verwegensten“ Angehörigen jedes Fascio bestehen, die „bereit seien zum Handeln und bestimmt zu jedem Opfer, einschließlich demjenigen des Lebens“.65 Sie sollten politisch dem Direktorium des jeweiligen Fascio unterstehen, doch wurde ihnen im Hinblick auf die Durchführung der Aktionen „massima autonomia“ gewährt, was faktisch bedeutete: sie der Kommandogewalt ihrer eigenen Führer zu überlassen, die sie sich in der Regel selbst wählten.66 Angesichts der Finanzierung durch die örtlichen Agrarier, die den Squadre ein hohes Maß an Selbständigkeit verlieh, blieb der politischen Zentrale auch nicht viel anderes übrig.67 Zeitgenössischen Schätzungen zufolge belief sich der Anteil der squadristi an den Fasci auf etwa ein Drittel,68 nach neueren Untersuchungen sogar auf bis zur Hälfte, so dass sich Mitte April 1922 unter den mittlerweile ca. 220 000 Faschisten etwa 73 000 bis 110 000 Squadristen befunden haben müssen.69 Obwohl es auch den einen oder anderen Fascio femminile gab, war die überwältigende Mehrzahl der squadristi männlichen Geschlechts und meist zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Jahre alt. Mehr als 90% von ihnen waren nach 1890 geboren und damit durch den Krieg als wesentliche Generationserfahrung geprägt: bei den Älteren direkt in Form von aktiver Teilnahme, bei den Jüngeren indirekt, in Form einer Sozialisation im Schatten des Krieges.70 Krieg, nunmehr geführt nicht mehr gegen den äußeren, sondern den inneren Feind, war denn auch die Hauptbeschäftigung der Squadre. Die 64
Vgl. Gentile 1989 (wie Anm. 4), S. 153 ff. Darin deutet sich an, dass nicht die gesellschaftliche und politische, wohl aber die regionale Gliederung eine Grenze darstellte: mit Ausnahme Apuliens vermochte der Faschismus im ganzen Mezzogiorno nur bescheidene Erfolge zu erzielen. 65 Vgl. ebd., S. 482; Reichardt 2002 (wie Anm. 4), S. 141 f. 66 Vgl. Gentile 1989 (wie Anm. 4), S. 535; Reichardt 2002 (wie Anm. 4), S. 400. 67 Vgl. Reichardt 2002 (wie Anm. 4), S. 197. 68 Vgl. Gentile 1989 (wie Anm. 4), S. 482 69 Vgl. Reichardt 2002 (wie Anm. 4), S. 256. 70 Vgl. ebd., S. 346 f., 365, 367, 375; Engelmann 1992 (wie Anm. 62), S. 174 f.; Roberta Suzzi Valli: The Myth of Squadrismo in the Fascist Regime, in: Journal of Contemporary History 35, 2000, S. 131-150, 135.
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sozialistischen Hochburgen, insbesondere die als Arbeitsvermittlungs- und Streikkoordinationsbüros dienenden Arbeitskammern (camere del lavoro), die Kooperativen, Volkshäuser (case del popolo), Partei- und Redaktionsbüros, wurden zu Objekten gezielter Strafexpeditionen, in deren Verlauf Häuser gestürmt und niedergebrannt, Räume verwüstet und Druckmaschinen zerstört wurden, nicht selten unter den Augen der örtlichen Polizei. Sozialistische Bürgermeister und Kommunalbeamte wurden unter Androhung von Gewalt zur Demissionierung gezwungen, politische Gegner durch Unterwerfungsrituale öffentlich gedemütigt. Überfälle auf Privatwohnungen und Proskriptionslisten taten ein Übriges, die Opposition einzuschüchtern und zu demoralisieren. 1922 war das Gewaltpotential bereits so groß, dass man zur Besetzung ganzer Städte durch faschistische Kampftruppen übergehen konnte, wie etwa Ferrara Mitte Mai, Bologna Ende Mai, Cremona und Ravenna im Juli.71 Auch wenn diese occupazioni di città meist nur wenige Tage dauerten, waren sie doch eine augenfällige Demonstration des Umstands, dass der Staat das Monopol der legitimen physischen Gewaltsamkeit eingebüßt hatte. Eine neuartige Form der Gewaltenteilung spielte sich ein, bei der die staatlichen Autoritäten, oft unter dem Druck der örtlichen Notabeln, die Fasci als Verhandlungspartner anerkannten, auf die Verfolgung von Gesetzesverletzungen verzichteten und Beamte, die auf dem Legalitätsprinzip beharrten, versetzten. „Die wahre Autorität in Ferrara“, urteilte ein Abgeordneter der Popolari einen Monat nach Abzug der squadristi, „liegt nicht beim Staat, sondern bei den Faschisten.“72 Aus dem Umstand, dass es sich bei den Squadre um Einrichtungen der Fasci handelt, folgt zunächst, dass auch sie als Vergesellschaftungen angesehen werden müssen, als bewaffnete Arme von Vereinen, die sowohl Zweckals auch Gesinnungsvereine waren. Die gewalttätigen Aktionen dienten teils eigenen Interessen, wie im Falle der Halbpächter und Kleinbauern, die ihre Existenz gegen die sozialistische Partei und die Landarbeiterligen verteidigten, teils fremden Interessen, wie denjenigen der Agrarverbände, die als Geldgeber fungierten. Sie dienten, speziell bei den zahlreich vertretenen Studenten und Oberschülern, auch sachlichen Interessen ideeller Art, die sich aus der unterstellten Bedrohung des Nationalismus durch den sozialisti71
Vgl. Reichardt 2002 (wie Anm. 4), S. 100 ff. Eine detaillierte Chronik der Gewalttaten bei Mimmo Franzinelli: Squadristi. Protagonisti e tecniche della violenza fascista 1919-1922, Milano 2003, S. 277 ff. 72 Zit. n. Corner 1975 (wie Anm. 62), S. 218.
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schen Internationalismus ergaben.73 Und sie dienten nicht zuletzt sehr persönlichen Zwecken, sei es durch Umleitung der großzügig fließenden Subsidien in die eigenen Taschen, sei es durch die individuelle Sekundärnutzung der Strafexpeditionen in Form von Raub- und Beutegewinnen, Schutzgelderpressung oder sexueller Gewalt. Für die Fasci der Marmorregion ist die „Vermischung von politischer und gewöhnlicher Kriminalität“ gut belegt, in Ferrara setzte Balbo Gangster aus Perugia ein, um seine Feinde am Ort einzuschüchtern, und auch in der Toscana war die Grenze zwischen Camorra und Faschismus nicht immer leicht zu ziehen. „Tuscan fascism fished heavily in the troubled waters of organized crime.“74 Dennoch ist damit nicht alles, und nicht einmal das Wichtigste, gesagt. Schon zeitgenössischen Beobachtern ist aufgefallen, dass die Gewalt im Squadrismus eine Eigendynamik entwickelte, die sie über den Status eines bloßen Mittels hinauswachsen ließ. Der Faschismus, schrieb Erwin von Beckerath 1927, „war eine spontane Einheit des Wollens, Jugend, Bewegung, Aktivität um der Aktivität willen, eine Art l’art pour l’art auf politischem Gebiete.“75 Auch die heutige Forschung sieht das ähnlich, wenn sie dem Gewaltgebrauch bei den Strafexpeditionen attestiert, nicht nur dem Zweck der Vernichtung des Gegners gedient zu haben, sondern auch der Selbstverwirklichung.76 Besonders pointiert drückt dies Sven Reichardt aus, der von einer „Verkehrung der Zweck-Mittel-Relation“ spricht. „Gewalt war für die Faschisten Ausdruck ihres Lebensstils, wobei ihre politische Gewalt als Selbstzweck auftrat und – da Ausdruck einer ganzen Lebensweise – ubiquitär war. Gewalt war also nicht nur das, was die Faschisten am besten konnten, sie war integraler Bestandteil der Identität faschistischer Bewegungen. Es gab keinen Lebensbereich, in dem die ubiquitäre Gewalt 73 Im Winter 1921/22 gelang es den Faschisten, ca. 12– 13% aller Studenten an italienischen Universitäten zu mobilisieren: vgl. Suzzi Valli 2000 (wie Anm. 70), S. 137. 74 Engelmann 1992 (wie Anm. 62), S. 161; Adrian Lyttelton: Faschismus und Gewalt: Sozialer Konflikt und politische Aktion in Italien nach dem Ersten Weltkrieg, in: Wolfgang J. Mommsen und Gerhard Hirschfeld (Hrsg.): Sozialprotest, Gewalt, Terror: Gewaltanwendung durch politische und gesellschaftliche Randgruppen im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1982, S. 303-324, 319; Frank M. Snowden: The Fascist Revolution in Tuscany 1919-1922, Cambridge etc. 1989, S. 163. Interessanterweise bezeichnen sich die lokalen Führer der Camorra noch heute mit dem für den Faschismus typischen Begriff des „Ras“: vgl. Roberto Saviano: Gomorrha. Reise in das Reich der Camorra, München 2009, S. 95. 75 Erwin von Beckerath: Wesen und Werden des fascistischen Staates, Berlin 1927, S. 25. 76 Vgl. Alberto Aquarone: Violenza e consenso nel fascismo italiano, in: Storia contemporanea 10, 1979, S. 145-155, 146 f.
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keine Rolle spielte. Dieser Tatsache entsprach, daß Gewalt zum Inhalt des eigenen Lebensstils wurde. Gewalt war integraler Bestandteil der faschistischen Identität und nicht bloß ein notwendiges Mittel zum Zweck.“77 Was in der Gewalt gesucht und durch ihre Ausübung bestätigt wurde, war kein bestimmtes Ziel, sondern ein ‚verbindendes antibürgerliches Lebensgefühl‘.78 In diesem Gefühl fand der squadrista sein Selbst, aber auch den Zugang zu anderen, fungierte doch die Gewaltanwendung als Aufnahmebedingung in eine Gruppe Ebenbürtiger, die sich weit mehr als über gemeinsame sachliche Interessen oder Ideologien über die permanente reale und symbolische Ausübung von Gewalt definierte.79 Die Squadra: Das war eine Kleingruppe von meist 20 bis 50 Männern, die oft durch Freundschaftsnetze, nicht selten auch durch familiäre Beziehungen miteinander verbunden waren, eine „gewählte Verwandtschaft“, der man nicht, wie bei einem Verein, nur mit einem Segment der Persönlichkeit angehörte, sondern ganz und gar;80 das war eine ‚Subkultur der Gewalt‘ (Reichardt), die die an ihr Beteiligten total integrierte und zu permanenter Einsatz- und Opferbereitschaft nötigte: nicht immer nur in externer Richtung, im Rahmen der Aggression nach außen, sondern auch intern in der durch ritualisierte Handlungsmuster, durch „derbe Trinksitten und gewaltbestimmte Verhaltensweisen“ bestimmten männerbündischen Geselligkeit.81 Als eine tief in die Alltagswelt eingegrabene „militante Tatgemeinschaft” innerhalb der faschistischen Bewegung war die Squadra mehr als nur ein Zweck- oder Gesinnungsverein. „Die enge Gruppenbindung machte sie zu einem emotional wichtigen Bestandteil der Lebenswelt. Sie war eine politische, sakralisierte und emotionale Gruppe zugleich.“82
77 Sven Reichardt: Formen faschistischer Gewalt. Faschistische Kampfbünde in Italien und Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, in: Sociologus 51, 2001, S. 55-88, 81. 78 Vgl. Jens Petersen: Das Problem der Gewalt im italienischen Faschismus, 1919-1925, in: Mommsen und Hirschfeld 1982 (wie Anm. 74), S. 325-348, 334. 79 Vgl. Lyttelton 1982 (wie Anm. 74), S. 320. 80 Vgl. Reichardt 2002 (wie Anm. 4), S. 410 ff.; Suzzi Valli 2000 (wie Anm. 70), S. 138. 81 Vgl. Reichardt 2002 (wie Anm. 4), S. 462. 82 Ebd., S. 409. Diese Anbindung an die Lebenswelt macht die faschistischen Gemeinschaften freilich noch nicht zu charismatischen Gemeinschaften, steht sogar in Widerspruch dazu, insofern für diese gerade eine Preisgabe der lokalen, verwandtschaftlichen und beruflichen Sozialbeziehungen charakteristisch ist: vgl. Winfried Gebhardt: Charisma als Lebensform. Zur Soziologie des alternativen Lebens, Berlin 1994, S. 48. Eher schon kommt dieser Strukturform die Institution der SA-Heime nahe: vgl. Reichardt 2002 (wie Anm. 4), S. 468 ff.
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Für soziale Beziehungen, bei denen die Einstellung des sozialen Handelns derart prädominant „auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht“, bietet die Webersche Soziologie den Begriff der „Vergemeinschaftung“ an.83 Da dieser Begriff jedoch im Rahmen der Soziologischen Grundbegriffe relativ bestimmungsarm bleibt und nicht weiter aufgefächert wird, wie dies bei der Vergesellschaftung durch Kategorien wie Zweck- und Gesinnungsverein, Sekte und dergleichen geschieht, hat dieses Angebot in der Faschismusforschung wenig Beachtung gefunden. Stattdessen rekurriert man auf Herman Schmalenbachs Ausführungen über die soziologische Kategorie des „Bundes“, die, im Jahr des Marsches auf Rom erschienen, dem Fascio wie auf den Leib geschrieben zu sein scheinen.84 So verdienstlich indes Schmalenbachs Phänomenologie des Bundes im Einzelnen auch sein mag, sie basiert, was oft übersehen wird, auf der Soziologie von Ferdinand Tönnies, deren bekanntes Dual von Gemeinschaft und Gesellschaft zwar mit dem Bund um eine dritte Kategorie erweitert, gleichwohl als solches nicht in Frage gestellt, ja gegen konkurrierende Konzeptionen wie diejenige Max Webers verteidigt wird.85 Gegen Webers Ansatz beim sinnhaften, also bewussten sozialen Handeln behauptet Schmalenbach die Existenz einer natürlichen, organischen Sozialität, die im Unbewussten wurzele und die Individuen immer schon zu Gliedern eines vorgeordneten Kollektivs mache –Tönnies’ „Gemeinschaft“. Von ihr sei nicht nur die Sphäre der durch autonome, zweckrational agierende Individuen bestimmten „Gesellschaft“ abzugrenzen, sondern auch die Sphäre der aus Gefühlserlebnissen hervorgehenden Verbände, für die Schmalenbach die Bezeichnung „Bund“ vorschlägt. Von den gemein83
Weber 1976 (wie Anm. 5), S. 21. Vgl. Schmalenbach 1922 (wie Anm. 4). Zur Übertragung auf den Faschismus vgl. Duverger 1959 (wie Anm. 55), S. 145 ff.; Gentile 1989 (wie Anm. 4), S. 525; Reichardt 2002 (wie Anm. 4), S. 390 ff. 85 Tönnies hat sich deshalb über diese Ergänzung erfreut gezeigt, auch wenn er sie im Kern für überflüssig hielt. Bund, wie Schmalenbach ihn beschreibe, sei „eine geistige oder näher moralische Körperschaft von gemeinschaftlichem Charakter“, wobei freilich der Begriff der Gemeinschaft insofern eine Sinnänderung gegenüber früheren Auffassungen erfuhr, als er nun mit Verhältnissen „unmittelbarer gegenseitiger Bejahung“ gleichgesetzt wurde. Vgl. Ferdinand Tönnies: Vorrede zur 6. und 7. Aufl. (1925), in ders.: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. Neudruck der 8. Aufl. von 1935, 3. unv. Aufl., Darmstadt 1991, S. XLII f. Eine Kritik an Schmalenbach aus Tönnies’scher Perspektive auch bei Rudolf Heberle: Zur Theorie der Herrschaftsverhältnisse bei Tönnies, in: Kölner Vierteljahrshefte für Soziologie 5, 1925, S. 51-61, 53 f. 84
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schaftsartigen Verbänden sei der Bund sowohl durch die Qualität der konstitutiven Gefühlserlebnisse unterschieden, die immer eine Sache des Bewusstseins seien, als auch durch das für die Gemeinschaft typische „Frühersein des Ganzen“ gegenüber den Teilen, das für den wesenhaft aus separierten, sich allererst zusammenschließenden Individuen bestehenden Bund nicht gelte; von den gesellschaftsartigen Verbänden wiederum durch die emotionale Motivierung des Zusammenschlusses sowie die durch denselben erreichte Verschmelzung, die eine Aufhebung der Sonderung der Individuen bewirke.86 Aus der Perspektive der Weberschen Soziologie enthält dieser Vorschlag einige Voraussetzungen, die wegen ihres holistischen und essentialistischen Charakters unannehmbar sind. Weber hat zwar Tönnies’ Werk durchaus geschätzt, die Annahme eines „Wesenwillens“ und die daraus folgende Tendenz, Gemeinschaft oder Vergemeinschaftung als Konterkategorie zu Gesellschaft oder Vergesellschaftung zu verwenden, jedoch verworfen.87 Vergemeinschaftung ist nach den Soziologischen Grundbegriffen eine modale Kategorie, die eine mögliche Form aller sozialen Beziehungen benennen soll, also auch solcher, die eine „Vergesellschaftung“ darstellen.88 Da mit ihr aber wiederum ein Kreis sozialer Beziehungen eingefangen wird, der von der Mutter-Kind-Dyade bis zur patriotischen oder nationalistischen Vereinigung reicht, ergibt sich das Bedürfnis nach einer weiteren Untergliederung, wie sie im Bereich der Vergesellschaftung mit dem Begriff des Vereins gegeben ist. Mit Blick auf die Dignität der Schmalenbachschen Phänomenologie lässt sich dies auch so ausdrücken: Kann der Begriff des Bundes aus der Architektonik der Tönnies’schen Soziologie herausgelöst und in diejenige der Soziologischen Grundbegriffe Webers übertragen werden? Hilfreich dazu ist ein Blick in einen Text, den Max Weber einige Jahre vor den Soziologischen Grundbegriffen verfasst hat: die so genannte „Rechtssoziologie“ und hier speziell den § 2 über „Die Formen der Begründung subjektiver Rechte“. In diesem Abschnitt stellt Weber der für die moderne Marktwirtschaft, aber auch für das Vereinsleben typischen Form der freien Vereinbarung durch „Zweckkontrakte“ einen anderen, urwüchsigen Kontrakttypus gegenüber, „den stets auf universelle Qualitäten des sozialen Status der Person, ihrer Eingeordnetheit in einen die ganze Persönlichkeit um86
Vgl. Schmalenbach 1922 (wie Anm. 4), S. 71 ff. Vgl. Stefan Breuer: Max Webers tragische Soziologie, Tübingen 2006, S. 289 f. 88 Vgl. René König: Soziologie in Deutschland, München und Wien 1987, S. 146, 187. 87
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fassenden Verband, abzielenden“ Verbrüderungs- oder Statuskontrakt.89 „Der Unterschied äußert sich folgendermaßen: Alle jene urwüchsigen Kontrakte, durch welche z. B. politische oder andere persönliche Verbände, dauernde oder zeitweilige, oder Familienbeziehungen geschaffen wurden, hatten zum Inhalt eine Veränderung der rechtlichen Gesamtqualität, der universellen Stellung und des sozialen Habitus von Personen. Und zwar sind sie, um dies bewirken zu können, ursprünglich ausnahmslos entweder direkt magische oder doch irgendwie magisch bedeutsame Akte und behalten Reste dieses Charakters in ihrer Symbolik noch lange bei. Die Mehrzahl von ihnen (namentlich die soeben beispielsweise erwähnten) sind ‚Verbrüderungsverträge‘. Jemand soll fortan Kind, Vater, Frau, Bruder, Herr, Sklave, Sippengenosse, Kampfgenosse, Schutzherr, Klient, Gefolgsmann, Vasall, Untertan, Freund, mit dem weitesten Ausdruck: ‚Genosse‘, eines anderen werden. Sich derart miteinander ‚Verbrüdern‘ aber heißt nicht: daß man sich gegenseitig für konkrete Zwecke nutzbare bestimmte Leistungen gewährt oder in Aussicht stellt, auch nicht nur, wie wir es ausdrücken würden: daß man fortan ein neues, in bestimmter Art sinnhaft qualifiziertes Gesamtverhalten zueinander in Aussicht stellt, sondern: daß man etwas qualitativ anderes ‚wird‘ als bisher, – denn sonst wäre jenes neue Verhalten gar nicht möglich.“ Sichergestellt werden kann dies entweder unter Zuhilfenahme magischer Denkmuster durch Rituale der Blutsbrüderschaft oder bestimmte Aufnahmeriten oder/und durch die Unterstellung aller Beteiligten „unter die Gewalt einer alle gemeinsam schirmenden und, im Fall des verbrüderungswidrigen Handelns, bedrohenden ‚übersinnlichen‘ Macht“, die im Eid beschworen wird.90 In seiner Stadtsoziologie hat Weber eine Reihe solcher Eidverbrüderungen (coniurationes) angeführt.91 Man mag einwenden, dass Webers Ausführungen über die durch Status- und Verbrüderungskontrakte gestifteten sozialen Beziehungen auf vormoderne Zustände gemünzt sind, in denen persönliche Beziehungen an 89
Weber 1976 (wie Anm. 5), S. 403. Ebd., S. 401 f. 91 Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Die Stadt, hrsg. von Wolfgang Nippel, Tübingen 1999. MWG Bd. I/22-5, S. 125, 129 f., 199. Nur am Rande sei darauf hingewiesen, dass Weber in den älteren Manuskripten von Wirtschaft und Gesellschaft noch einer anderen Terminologie folgt, die ihn dazu führt, die geschilderten Phänomene auch als „Vergesellschaftungen“ anzusprechen. Zum terminologischen Neuansatz nach 1918/19 vgl. Klaus Lichtblau: ‚Vergemeinschaftung‘ und ‚Vergesellschaftung‘ bei Max Weber, in: Zeitschrift für Soziologie 29, 2000, S. 423-443. 90
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angebbare äußere Tätigkeiten geknüpft, sozial überwacht und institutionalisiert sind.92 Doch erstens lassen sich die genannten Merkmale mutatis mutandis auch auf moderne, funktional differenzierte Ordnungen übertragen, in denen die Individuen Identifikation und Verhaltenssicherheit durch freiwillige, sozial nicht mehr regulierte persönliche Beziehungen erreichen,93 und zweitens müsste derselbe Einwand dann auch auf Schmalenbach bezogen werden, dessen Phänomenologie des Bundes exakt dieselben Phänomene abdeckt wie Webers Typus des Statusvertrages. Auch bei Schmalenbach wird der Bund vom do-ut-des-Charakter der Zweckkontrakte unterschieden und durch „schlechthinige Hingabe, Opferbereitschaft, rest- und rückhaltloses Sichschenken, nicht zunächst von Sachen, sondern des Selbst“ bestimmt;94 auch bei ihm werden die magischen Rituale der Blutsbrüderschaft, die Eidverpflichtung, die Freundschaftsschwüre, als wesentliche Mittel herausgestellt, eine im Kern labile Gefühlsbeziehung auf Dauer zu stellen.95 Gegenüber Schmalenbachs Begriffsbildung genießt die Webersche aber nicht nur den Vorteil, dass sie ohne die holistischen und essentialistischen Voraussetzungen der Tönnies’schen Soziologie auskommt, sondern auch, dass sie die mit Bund gemeinten Phänomene als Vergemeinschaftung zu deuten und damit in ein begriffliches Kontinuum einzufügen vermag, das neben der horizontalen, durch Verbrüderung oder Freundschaft bestimmten Ebene auch die vertikale Ebene berücksichtigt, die für bündische Zusammenschlüsse typisch zu sein pflegt: die Führer-Gefolgschafts-Struktur, die sich aus der freiwilligen Unterordnung der im Bund Vergemeinschafteten unter einen selbst gewählten, meist charismatischen und daher dem Zwang zur Bewährung unterliegenden Führer ergibt.96 Bei Weber schließt die 92 Zu diesem Typus der „ritualisierten Freundschaft“, der in zahlreichen ethnologischen und kulturanthropologischen Studien beschrieben worden ist, vgl. die erhellenden Ausführungen von Friedrich H. Tenbruck: Freundschaft. Ein Beitrag zu einer Soziologie der persönlichen Beziehungen, in ders.: Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft. Der Fall der Moderne, Opladen 1990², S. 227-250, 242 ff. 93 Vgl. ebd., S. 239. 94 Schmalenbach 1922 (wie Anm. 4), S. 73. 95 Vgl. ebd., S. 77. 96 Besondere Aufmerksamkeit hat diese Struktur vor allem in den Selbstverständigungsdiskussionen der Bündischen Jugend in Deutschland gefunden, wo sie mitunter gegen die als „Gemeinschaft“ angesprochene horizontale Dimension ausgespielt worden ist: vgl. etwa Adalbert Erler: Der bündische Gedanke im deutschen Recht, in: Die Kommenden 3, 1928, F. 29; Werner Laß: Ketzerische Jugend, ebd. 4, 1929, F. 34; Fritz Anker: Die GefolgschaftsStruktur als Prinzip in der Geschichte, ebd. 5, 1930, F. 28; Gerhard Warneck: Führer und
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„emotionale Vergemeinschaftung“ ausdrücklich die charismatische Herrschaft ein, während sie bei Schmalenbach nur durch Anlehnung an die im Übrigen verworfene Webersche Systematik hereinkommt.97 Kurzum: Es spricht manches dafür, die Morphologie der Soziologischen Grundbegriffe im Bereich der Vergemeinschaftung durch die Kategorie des Bundes zu ergänzen, die als Parallelerscheinung zum Verein verstanden wird, sich von diesem aber durch den Status- und Verbrüderungskontrakt und das darauf beruhende Herrschaftsverhältnis unterscheidet. 3. So zutreffend es nun freilich ist, in der Verselbständigung der Gewalt und der darüber vermittelten Vergemeinschaftung den Kern des squadrismo zu sehen, so problematisch sind doch die hieran anknüpfenden Deutungen, die im squadrismo die „wahre, einzig reale Kraft des Faschismus“ ausmachen, mit deren Existenz zugleich „das Wesen des Faschismus“ bestimmt sei.98 Zu dieser Sichtweise tendieren nicht nur jene Darstellungen, die sich um die dichte Beschreibung der Kampfbünde verdient gemacht haben,99 sondern auch die eingangs erwähnten geistesgeschichtlichen Deutungen, die den Gefolgschaft, ebd.; Wolfgang Ehrig: Die Gefolgschaft als soziologische Erscheinung, ebd. Allgemein zur Rolle des Führertums in den Bünden: Felix Raabe: Die Bündische Jugend, Stuttgart 1961, S. 48 ff. 97 Vgl. Schmalenbach 1922 (wie Anm. 4), S. 97 f.; Weber 1976 (wie Anm. 5), S. 141. In dieser Öffnung auf Herrschaft besteht eine der wesentlichen Neuerungen, die das 19. und 20. Jahrhundert dem Bundesbegriff hinzugefügt hat. Historisch ist dieser nämlich zunächst vor allem durch Konnotationen geprägt, die ihn zum „Ausdruck fundamentaler Opposition gegen herrschaftlich-feudale und gegen kirchliche Zwänge“ prädisponiert haben. Seit dem 15. Jahrhundert steht Bund für ein „Vertragsmodell (…), das von der grundsätzlichen Gleichberechtigung der vertragschließenden Parteien ausging, jedenfalls herrschaftliche Beziehungen zwischen den Verbundenen ausschloß“: Hardtwig 1997 (wie Anm. 48), S. 101 f. Die Umpolung im herrschaftlichen Sinne könnte mit dem Aufkommen des politischen Geheimbundes im 19. Jahrhundert zusammenhängen, der nach Simmel ganz wesentlich durch das „Prinzip der Hierarchie“ und „eine Art absoluter Herrschaft“ über die Mitglieder charakterisiert ist: vgl. Georg Simmel: Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft, in ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, 5. Aufl., Berlin 1968, S. 257-304, 290, 299. 98 „cuius existentia involvit essentiam“, wie Tasca in Umkehrung des Satzes von Spinoza sagt: Tasca 1969 (wie Anm. 16), S. 196, 382. 99 Vgl. Gentile 1989 (wie Anm. 4), S. 534; Reichardt 2002 (wie Anm. 4), S. 13. Explizit heißt es mit Bezug auf den Faschismus: „Tatsächlich war der Faschismus eher Glaube denn Programm. Es war weder eine gemeinsame ökonomische Interessenlage noch eine in sich konsistente Ideologie, sondern vor allem eine im Gefühl begründete Einheit, die die Faschisten zusammenhielt“ (S. 595).
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Faschismus als reinen Voluntarismus und Aktivismus, als irrationale Revolte gegen den ‚relativen Rationalismus‘ des parlamentarischen Systems, als Sieg des Mythos über den Verstand, des Lebens über den Mechanismus, der Gemeinschaft über die Gesellschaft auffassen. Dass der squadrismo zeitweilig eine beachtliche Eigendynamik entfaltet hat, für die solche Deutungen durchaus adäquat sind, bedeutet indes nicht, dass der Faschismus in ihm aufgegangen wäre. Wie Adrian Lyttelton gezeigt hat, muss das Verhältnis vielmehr als Spannungsverhältnis gesehen werden, das einmal mehr in Richtung einer Dominanz der ersteren, ein anderes Mal mehr in Richtung der letzteren ausschlagen konnte.100 In Mantua, Lucca und in gewissem Grad in Florenz gelang es den Kommandeuren der Squadre, den politischen Arm der Bewegung unter ihre Kontrolle zu bringen, wohingegen in Bologna, Ferrara und vor allem in Mailand die Verhältnisse genau umgekehrt lagen. Dort fungierten die Kampfbünde als Instrumente der Fasci, von Zweck- und Gesinnungsvereinen also, in deren Führung im Allgemeinen ein klares Bewusstsein darüber herrschte, was man mit der Gewalt wollte. Gewiss variierte dieses Bewusstsein von Ort zu Ort beträchtlich. In Bologna etwa dominierte, wie bereits erwähnt, mit Grandi ein nationalrevolutionärer Idealismus, der sich am Vorbild der Verfassung von Fiume orientierte und den Faschismus in der Nachfolge Mazzinis und Garibaldis sah;101 wohingegen der Ras von Ferrara, Italo Balbo, eher ein karrieristischer Opportunist war, der mithilfe der Grundeigentümer an die Macht zu kommen gedachte.102 In Mailand wiederum beherrschte Mussolini die politische Bühne, der mit wachsender Sorge registrierte, dass sich der squadrismo gerade durch seine Erfolge gegen die sozialistischen Institutionen überflüssig zu machen drohte bzw. durch wachsende Konflikte mit der Staatsmacht mögliche Bündnisse mit anderen politischen Akteuren gefährdete. In allen diesen Fällen wurde die Gewalt zwar im Prinzip bejaht, zugleich aber bestimmten Zwecken sachlicher oder persönlicher, materieller oder ideeller Art untergeordnet, was im Fall Mussolinis sogar zu einer scharfen Kritik an den Verselbständigungstendenzen des squadristischen Terrors führte. Der Squadrismus, ließ er sich im Sommer 1921 immer wieder vernehmen, sei „nicht 100 101
Vgl. Lyttelton 1988 (wie Anm. 61), S. 73. Vgl. Gentile 1989 (wie Anm. 4), S. 287, 348, 378; Nello 1987 (wie Anm. 39), S. 144 ff., 155
ff. 102
Vgl. Corner 1975 (wie Anm. 62), S. 174, 192, 207; Claudio G. Segre: Italo Balbo. A Fascist Life, Berkeley etc. 1987.
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mehr der Faschismus, der von mir konzipiert wurde“, er sei keine Befreiung, sondern Tyrannei, keine Rettung der Nation, sondern Verteidigung der dunkelsten, dumpfesten und erbärmlichsten Kasten, die in Italien existierten.103 Man müsse die Bewegung von jenen Individuen befreien, die den Faschismus als „eine Verteidigung bestimmter persönlicher Interessen und als eine Organisation der Gewalt um der Gewalt willen“ interpretierten,104 sei doch die Gewalt „für uns kein System, kein Ästhetizismus und noch weniger ein Sport“.105 Bezogen auf das Verhältnis zwischen Fasci und Squadren bedeute dies: „Die squadre di azione müssen eine Emanation des Faschismus und nicht eine Überwältigung oder ein Ersatz desselben sein.”106 Mit dieser Haltung ist Mussolini, wie oft dargestellt worden ist, zunächst auf wenig Gegenliebe bei den Führern des Provinzfaschismus, den „Ras“, gestoßen. Seine Entscheidung, im Juli 1921 einen Befriedungspakt mit den anderen Parteien zu unterzeichnen, löste einen regelrechten Aufstand gegen ihn aus, der zu seinem zeitweiligen Rücktritt aus dem Zentralkomitee und zu Geheimverhandlungen zwischen Balbo und Grandi mit D’Annunzio führte, von dem sich die Rebellen erhofften, er werde das Vakuum an der Spitze füllen.107 Bei diesem Konflikt handelt es sich jedoch nicht so sehr um eine Auseinandersetzung zwischen Faschismus und Squadrismus (obwohl der Letztere zweifellos in ihr Thema war), als vielmehr um eine solche zwischen verschiedenen Auffassungen des Faschismus, von denen die eine inzwischen eine dauerhafte Platzierung im politischen System anstrebte, wohingegen die andere in ihm weiterhin ein Übergangsphänomen sah, das in naher Zukunft zugunsten einer auf dem Nationalsyndikalismus basierenden sozialen Demokratie verschwinden sollte und bis dahin unter allen Umständen die verhasste Welt der parlamentarischen Politik und der Legalität zu meiden hatte.108 103
Benito Mussolini: La culla e il resto (Il Popolo d’Italia, N. 186, 5.8.1921), in: O.o., Bd. 17, Firenze 1955, S. 89-91, 90. 104 Ders.: Disciplina (Il Popolo d’Italia, N. 176, 24.7.1921), in: O.o., Bd. 17, Firenze 1955, S. 67-68, 67. 105 Ders.: Il primo discorso alla camera dei deputati, in: O.o., Bd. 16, Firenze 1955, S. 431446, 445. 106 Ders.: I nuovi orizzonti del fascismo (Il Resto del Carlino, N. 186, 4.8.1921), in: O.o., Bd. 17, Firenze 1955, S. 84-86, 85. 107 Vgl. Milza 1999 (wie Anm. 7), S. 285 ff.; Renzo De Felice: Mussolini il fascista I, Torino 1966, S. 151. 108 Vgl. De Felice 1966 (wie Anm. 107), S. 166; Gentile 1996 (wie Anm. 9), S. 278.
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Dass sich die Führer des Provinzfaschismus schließlich doch mit Mussolini verständigten, ist durch eine Vielzahl von Gründen bedingt: durch die Verweigerung D’Annunzios, durch die Unverzichtbarkeit Mussolinis, der mit dem Popolo d’Italia immerhin über das einzige überregionale Medium der Bewegung verfügte, durch Widersprüche zwischen den Ras, deren Opposition gegen den Befriedungspakt von durchaus unterschiedlichen Motiven geleitet war, sowie nicht zuletzt durch das Bedürfnis mancher Ras, ihre Kontrolle über die Squadre auch organisatorisch abzusichern. Auch in der Provinz wird man nicht an der Erkenntnis vorbeigekommen sein, dass die emotionale Vergemeinschaftung eine Kleingruppenmentalität begründete, die die Kampfbünde in persönliche Gefolgschaften verwandelte und eine Tendenz zum „permanente(n) Sezessionismus“ begünstigte,109 die à la longue zum Zerfall der Bewegung führen musste; wird man gesehen haben, dass die Festlegung auf rein negative Ziele wie den Kampf gegen die Institutionen der Arbeiterbewegung auf die Dauer nicht ausreichte, um der Bewegung Kontinuität und Einfluss zu sichern. In dieser Lage mochte Mussolinis Insistieren darauf, dass die squadristische Gewalt eine „Episode“ sei, zwar zunächst als verfrüht erscheinen, doch setzte sich während des Konflikts über den Befriedungspakt die Überzeugung durch, dass der Faschismus nur dann Bestand haben würde, wenn man ihn auf ein zentrales Ziel hin ausrichtete, das geeignet war, die unterschiedlichen Strömungen zu aggregieren, sie aus ihren kleinlichen Alltagsstreitigkeiten und Rivalitäten herauszureißen und zu koordinieren. Es heißt deshalb den Ausgang dieses Konfliktes verfehlen, wenn man ihn wie Ernst Nolte als Unterwerfung eines politisch noch ambivalenten Mussolini unter einen vom Squadrismus geprägten Faschismus deutet.110 Wohl musste Mussolini den Befriedungspakt opfern und den Squadre wieder freie Hand lassen, doch erhielt er dafür im Gegenzug die Zustimmung der Provinzfürsten zu seinem Projekt, die faschistische Bewegung in eine Partei umzuwandeln.111 Dass es gerade Mussolini war, der sich wie kein anderer für 109
Reichardt 2002 (wie Anm. 4), S. 415. Vgl. Ernst Nolte: Der Faschismus in seiner Epoche. Die Action française. Der italienische Faschismus. Der Nationalsozialismus, 5. Aufl., München und Zürich 1979, S. 261 ff. 111 Der Vorschlag findet sich zum ersten Mal in einem Artikel, den Mussolini kurz nach seinem Rücktritt aus dem Exekutivkomitee veröffentlicht hat: Verso il futuro (Il Popolo d’Italia, N. 201, 23.8.1921), in: O.o., Bd. 17, Firenze 1955, S. 112-113. Vgl. De Felice 1966 (wie Anm. 107), S. 172. 110
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dieses Projekt stark machte, ja seine ganze politische Existenz mit ihm verband, überrascht nur dann, wenn man ihn auf jene letztlich doch nur sehr kurze Phase seines politischen Lebens festlegt, in der er sich, durch den Ausschluss aus der Sozialistischen Partei persönlich zutiefst verletzt, als Wortführer einer neuen „Antipartei“ gerierte. In Wirklichkeit kehrte Mussolini nur zu seinen Anfängen zurück, die wohl durch Ablehnung der reformistischen Massenpartei, nicht aber der Organisationsform Partei als solcher bestimmt waren. Wiewohl er um 1909/10 inhaltlich in vielem mit den Auffassungen der revolutionären Syndikalisten konform gegangen war, hatte er doch zu keinem Zeitpunkt deren Kritik der Partei geteilt.112 Für ihn war die Revolution nicht als Kette spontaner Massenhandlungen denkbar gewesen, von denen er vielmehr annahm, sie würden stets im Ökonomismus stecken bleiben, sondern nur als ein politischer Prozess, bei dem eine geschulte, quasi professionelle Elite, die in einer Avantgardepartei organisiert war, die Staatsmacht eroberte und so lange mit diktatorischer Gewalt festhielt, bis das Volk reif genug für den Sozialismus war – eine Auffassung, von der mit Recht bemerkt worden ist, dass sie Blanqui und Lenin näher stand als den reformistischen Sozialisten.113 Und wie Blanqui es bei seinen Aktionen stets vorzog, sich programmatisch nicht allzu sehr festzulegen, weil dies nur den revolutionären Willen zersplittere,114 hatte auch Mussolini es für besser gehalten, dem revolutionären Willen zunächst die erforderliche organisatorische Gestalt zu geben, bevor genauer bestimmt wurde, was mit der zu erobernden Staatsmacht anzufangen sei. Es war deshalb konsequent und durchaus kein Zeichen für Irrationalismus, wenn die Faschisten auf ihrem 3. Nationalkongress in Rom Anfang November 1921 zuerst die Konstituierung als Partei beschlossen und sich erst anschließend Gedanken über das Programm machten.115 112
Vgl. Gentile 1989 (wie Anm. 4), S. 14 ff.; ders. 1996 (wie Anm. 9), S. 68 f., 80. Vgl. Benito Mussolini: La crisi dell’inazione (La lotta di classe, N. 115, 6.4.1912), in: O.o., Bd. 4, Firenze 1958, S. 121-124, 124. Vgl. Gentile 1996 (wie Anm. 9), S. 80; Milza 1999 (wie Anm. 7), S. 139, 126 f., 132, 154. Zu Blanquis Theorie der revolutionären Elite vgl. Karl Hans Bergmann: Blanqui. Ein Rebell im 19. Jahrhundert, Frankfurt und New York 1986, S. 86 f. 114 Vgl. Bergmann 1986 (wie Anm. 113), S. 134. Mussolinis durchaus grundsätzlich gemeinte Weigerung, Politik systematisch-weltanschaulich zu begründen, hat in Blanqui ein Vorbild. Dessen Satz: „Was den praktischen Sozialismus angeht, gehört er keiner besonderen Sekte, keiner Kirche an. Er nimmt, was ihm paßt, aus jedem System; er hat keine Voreingenommenheit für eine bestimmte Richtung und will das, was existiert, umstürzen”, könnte wörtlich auch bei Mussolini stehen. Vgl. ebd., S. 558. 115 Vgl. Milza 1999 (wie Anm. 7), S. 291. 113
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Mit der Gründung des Partito Nazionale Fascista (PNF) wurde der Primat der Vergesellschaftung über die Vergemeinschaftung festgeschrieben. Zwar kam man dem squadrismo insoweit entgegen, als man die Partei auf kampfbündlerische Weise als „una milizia volontaria posta al servizio della Nazione“ definierte.116 Das hieß jedoch nicht, dass die Partei gleichsam im Großen sein sollte, was die Squadre im Kleinen waren – ein „Bund“ –,117 sondern nur, dass man entschlossen war, sich durch die Betonung des paramilitärischen Elements von den anderen, zivilen Parteien zu unterscheiden, ohne diesem damit freilich auch den Vorrang gegenüber der politischen Führung zu verleihen. Tatsächlich war genau das umgekehrte Verhältnis intendiert. Schon wenige Tage nach der Parteigründung wurde durch das Zentralkomitee des PNF ein Generalkommando der Squadre di combattimento gebildet, das für die Konstituierung, Organisation und Disziplin der Kampfbünde zuständig sein sollte.118 Unter seiner Federführung entstand ein Organisationsstatut, das eine einheitliche Uniformierung, eine hierarchische Staffelung in Squadren, Centurien, Kohorten und Legionen sowie eine engmaschige Befehlsstruktur festlegte und noch vor dem Marsch auf Rom sukzessive durch weitere Maßnahmen ausgebaut wurde: darunter vor allem die Einführung einer strengen Disziplinarordnung, die die Rangordnung scharf betonte und die demokratische Führerwahl eliminierte. „Die Führer“, hieß es in kategorischem Ton, „werden von der übergeordneten Rangstufe ausgewählt und den Einheiten der faschistischen Miliz zugewiesen…“119 Die Wirkung dieser Maßnahmen ist gewiss nicht zu überschätzen. Auf lokaler Ebene bestand neben der fest gefügten Milizorganisation auch weiterhin ein spontaner Squadrismus fort, der sich nur mühsam unter Kontrolle bringen ließ, und auch die straffer organisierten Einheiten ließen sich nur schwer von ihrer gewohnten terroristischen Praxis abbringen.120 Noch der Mord an dem PSU-Führer und Abgeordneten Matteotti am 10.6.1924 zeigte, dass sich eine lange eingeübte ‚Subkultur der Gewalt‘ nicht mit einem Mal abstellen ließ, am wenigsten von einer Führung, die so doppelgleisig 116
Gentile 1989 (wie Anm. 4), S. 392. So aber Emilio Gentile: The Problem of the Party in Italian Fascism, in ders.: The Struggle for Modernity. Nationalism, Futurism, and Fascism, Westport und London 2003, S. 89-107, 93. 118 Vgl. Gentile 1989 (wie Anm. 4), S. 387 ff.; Reichardt 2002 (wie Anm. 4), S. 182 ff. 119 Zit. n. Nolte 1979 (wie Anm. 110), S. 325. 120 Vgl. Engelmann 1992 (wie Anm. 62), S. 198, 201. 117
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operierte wie diejenige Mussolinis, die auf das Druckmittel der Gewalt ebenso wenig verzichten wollte wie auf die Mittel der Legalität. Gleichwohl: Mit dem Entschluss, eine politische Partei zu bilden, hatte der Faschismus sich für die Institutionalisierung und gegen einen Squadrismus entschieden, der mit seiner antistrukturellen Gewaltpraxis, seinen Kompetenzanmaßungen und seiner Appropriation herkömmlicher Hoheitsgewalten eben jenen Staat zu zerstören drohte, zu dessen Eroberung man sich anschickte. Einmal im Besitz dieser Gewalten, ließ die faschistische Führung keinen Zweifel daran, dass die Zeit des squadrismo vorbei war. Schon Anfang 1923 wurde per königlichem Dekret die Freiwilligenmiliz für die nationale Sicherheit (M.V.S.N.) ins Leben gerufen, die die paramilitärischen Einheiten der Partei in eine direkt dem Regierungschef unterstehende Organisation überführte, deren Struktur weitgehend dem klassischen Modell eines bürokratischen Heeres entsprach. Sämtliche andere Organisationen militärischen Charakters jedweder Art wurden verboten, so dass zumindest de jure – und, wie sich zeigen sollte, bald auch de facto – das staatliche Gewaltmonopol wieder hergestellt war. Die mehr oder minder charismatischen Gefolgschaftsstäbe aus der Zeit des Bürgerkriegs waren damit entlegitimiert. Was von ihnen übrig blieb, wurde durch die Einfügung in die Milizorganisation formal legalisiert und mit sekundären Ordnungsaufgaben und Repräsentationsfunktionen betraut. 1924 wurde sie vollends in einen „Appendix der Armee“ verwandelt und dem Generalstab des Heeres unterstellt.121 Natürlich vollzog sich diese Entwicklung nicht gänzlich widerstandslos. Als nach der Ermordung Matteottis das Regime in eine Krise geriet, die bald existenzbedrohliche Ausmaße annahm, war dies das Signal für die bis dahin eher latente Opposition der intransigenti, ihre Kritik am kompromisslerischen Kurs der Parteispitze öffentlich zu machen und ultimativ die Radikalisierung der faschistischen Revolution zu fordern: die Reinigung der Partei von den seit 1922 hinzugekommenen Opportunisten und Karrieristen, ihre Umwandlung in eine elitäre Gesinnungs- und Glaubenspartei, die sich auf einen erneuerten squadrismo stützen sollte, die Unterwerfung des Staates unter die Partei und die vollständige fascistizzazione des öffentlichen Lebens.122 Zum 121
Vgl. Alberto Aquarone: La Milizia volontaria nello stato fascista, in ders. und Maurizio Vernassa (Hrsg.): Il regime fascista, Bologna 1974, S. 85-111, 100, 107; vgl. S. 402 ff. in diesem Band. 122 Vgl. Wolfgang Schieder: Der Strukturwandel der faschistischen Partei Italiens in der Phase der Herrschaftsstabilisierung, in ders. (Hrsg.): Faschismus als soziale Bewegung, 2. Aufl.,
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Repräsentanten dieser Forderungen nach einer seconda ondata, einer zweiten Welle der Revolution, wurde der Ras von Cremona, Roberto Farinacci, der bereits wenige Wochen nach dem Marsch auf Rom seine Sorge artikuliert hatte, der Faschismus könne von den in ihn einströmenden nationalistischen, liberalkonservativen und moderaten Kräften erstickt werden.123 Sekundiert wurde dieses Anliegen durch eine Reihe von „integralistischen“ Intellektuellen, die zumeist aus dem Futurismus kamen, inzwischen aber eine gleichsam invertierte, ins Nationalistische und Passatistische gewendete Version desselben vertraten, die das Regime durch eine Rückkehr zum ursprünglichen, „historischen“, spontanen und gewalttätigen Provinzfaschismus erneuern wollte: Curzio Suckert (Malaparte), Mino Maccari, Mario Carli, Emilio Settimelli, später auch Julius Evola.124 Dass diese Intransigenten und Integralisten relativ mühelos marginalisiert werden konnten, hatte verschiedene Gründe. Das Gros der Squadristen fand zu Protesten wenig Anlass, weil die Unterhaltskosten der Truppe vom Steuerzahler getragen wurden, der auf diese Weise für die Patronageinteressen der Partei in die Pflicht genommen wurde. Wie viel der Staat bzw. das Regime sich dies kosten ließ, zeigt die Tatsache, dass die dafür im Staatshaushalt ausgewiesenen Beträge sich zwischen 1924/25 und 1927/28 verdreifachten.125 Die integralistischen Intellektuellen wiederum waren sich lediglich in der Opposition gegen die normalizzazione einig, hatten ansonsten aber kaum Gemeinsamkeiten. Orientierten sich die einen am idealen Modell einer hierarchischen Gemeinschaft mit monarchischer Spitze, die auf den Substruktionen der Modernität errichtet werden sollte, so verlangten andere eine zweite Gegenreformation, die die Werte der mediterranen, lateinischen Zivilisation gegen den zersetzenden, für Kapitalismus und Demokratie verantwortlichen ‚nordischen‘ Geist wieder in Geltung setzen sollte, während wieder andere die Rückkehr zum vorchristlichen, heidnischen Imperialismus
Göttingen 1983, S. 69-96, 73 ff.; Patricia Chiantera-Stutte: Von der Avantgarde zum Traditionalismus. Die radikalen Futuristen im italienischen Faschismus von 1919 bis 1931, Frankfurt und New York 2002, S. 108 ff. 123 Vgl. Roberto Farinacci: Oggi siamo tutti fascisti, in: Cremona nuova, 9.12.1922. Zit. n. Chiantera-Stutte 2002 (wie Anm. 122), S. 103. Zu Farinacci vgl. Harry Fornari: Mussolini’s Gadfly, Roberto Farinacci, Nashville 1971. 124 Vgl. Chiantera-Stutte 2002 (wie Anm. 122), S. 111 ff., 190 ff. 125 Vgl. Ernst Wilhelm Eschmann: Der faschistische Staat in Italien, Breslau 1930, S. 44.
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predigten.126 Schließlich muss auch die geschickte Regie Mussolinis berücksichtigt werden, der sich zunächst scheinbar auf die Seite der Extremisten schlug, mit ihrer Hilfe den Übergang von einer noch konstitutionellen Regierung zur Diktatur bewerkstelligte und im Februar 1925 sogar Farinacci zum Generalsekretär des PNF ernannte. Um das Subversionspotential der Partei auf die nationale Ebene zu heben und so für seine Zwecke einsetzbar zu machen, sah dieser sich genötigt, zunächst eine umfassende hierarchische Zentralisierung durchzuführen, die zwar hier und da seine Hausmacht vergrößerte, zugleich aber eben jenes Instrument bürokratisierte und veralltäglichte, in dem die intransigenti den entscheidenden Hebel gegen die Bürokratisierung und Veralltäglichung des Faschismus sahen. Mussolini musste deshalb nur abwarten, bis Farinacci dank seiner eigenen Maßnahmen die Unterstützung seiner Gefolgschaft verlor.127 Schon 1926 konnte er ihn ohne großen Widerstand durch Augusto Turati ablösen, unter dessen Führung sich die Umwandlung des PNF in eine „bürokratische Massenorganisation von Karrieristen und angepaßten Mitläufern, die nicht vorrangig politisch motiviert waren“, vollendete.128 Nicht dass der faschistische Staat fortan auf die Legitimierungschancen verzichtet hätte, die im Modus der emotionalen Vergemeinschaftung lagen; die von ihm inszenierten Rituale und Zeremonien, der Kult um den charismatischen Führer, die gesamte „Sakralisierung der Politik“, die Emilio Gentile eindrucksvoll geschildert hat, bezeugen das Gegenteil.129 Aber es handelt sich eben um Inszenierungen, um „manufactu-
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Vgl. Paolo Buchignani: Settimelli e Carli dal futurismo al fascismo, in: De Felice 1988 (wie Anm. 14), S. 177-219; Alexander De Grand: Curzio Malaparte: The Illusion of the Fascist Revolution, in: Journal of Contemporary History 7, 1972, S. 73-89; Richard Drake: Julius Evola and the Ideological Origins of Radical Right in Contemporary Italy, in: Peter Merkl (Hrsg.): Political Violence and Terror, Berkeley 1986, S. 61-89; A. James Gregor: Mussolini’s Intellectuals. Fascist Social and Political Thought, Princeton 2005, S. 191 ff. Zum Ganzen auch Chiantera-Stutte 2002 (wie Anm. 122), S. 98 ff.; Gentile 1996 (wie Anm. 9), S. 335 ff. 127 So beschuldigte Malaparte Farinacci der Demagogie und Disziplinlosigkeit und warf ihm vor, die Partei nur zu seinem persönlichen Aufstieg benutzt zu haben. Einige Zeit später schwenkte auch Settimelli in seiner Zeitschrift L’Impero auf diese Linie ein: vgl. Fornari 1971 (wie Anm. 123), S. 137, 154. 128 Schieder 1983 (wie Anm. 122), S. 87. 129 Vgl. Emilio Gentile: Il culto del Littorio: La sacralizzazione della politica nell’Italia fascista, 1993. Englische Übers.: The Sacralization of Politics in Fascist Italy, Cambridge, Mass. und London 1996.
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red charisma“130, dessen unsichere Grundlage den „Duce“ spätestens in den 30er Jahren zum Hasardeur werden ließ.
II. Deutschland 1. In Deutschland trat der Faschismus sogleich fertig ins Dasein, ohne die für Italien so charakteristische Such- und Experimentierphase durchzumachen. Hitler musste nicht erst wie Mussolini eine Partei gründen und dies gegen eine massive Opposition durchsetzen. Er fand sie vielmehr bereits vor, in Gestalt der seit Januar 1919 bestehenden Deutschen Arbeiterpartei (DAP).131 Und obschon es danach noch einige Zeit dauerte, bis daraus die bekannte „Führerpartei“ wurde, geschah dies doch auf einem organisatorischen Fundament, das in den Jahren 1919 und 1920 gelegt wurde. Seit Ende 1919 verfügte die DAP über einen besoldeten Geschäftsführer, Rudolf Schüßler, eine Namens- und Mitgliederkartei sowie eine feste Geschäftsstelle. Der Arbeitsausschuss wies eine funktionale Gliederung auf, und seit dem 24.2.1920 gab es darüber hinaus ein eigenes Programm, das, von Drexler und Hitler verfasst, von Letzterem auf der Versammlung im Hofbräuhaus öffentlich verkündet wurde.132 Im Oktober desselben Jahres konstituierte sich die Partei durch Gründung eines nationalsozialistischen Arbeitervereins e.V. förmlich als juristische Person mit einer im Vereinsregister eingetragenen Satzung, um auf diese Weise die Voraussetzung zum Erwerb einer eigenen Zeitung, des Völkischen Beobachters, zu schaffen. Als „Ziel und Zweck des Vereins“ wurde bestimmt: „alle körperlich und geistig arbeitenden deutschen Volksgenossen, die deutschen Blutes (arischer Abstammung) sind, zu sammeln, um gemäß 130
Vgl. Ronald M. Glassman: Manufactured Charisma and Legitimacy, in ders. und Vatro Murvar (Hrsg.): Max Weber’s Political Sociology. A Pessimistic Vision of a Rationalized World, Westport und London 1984, S. 217-235. 131 Vgl. Reginald Phelps: Hitler and the Deutsche Arbeiterpartei, in: American Historical Review 68, 1963, S. 974-986; Dietrich Orlow: The History of the Nazi Party: 1919-1933, Pittsburgh 1969, S. 11 ff.; Hellmuth Auerbach: Hitlers politische Lehrjahre und die Münchener Gesellschaft 1919-1923, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 25, 1977, S. 1-45; ders.: Regionale Wurzeln und Differenzen der NSDAP 1919-1923, in: Horst Möller u. a. (Hrsg.): Nationalsozialismus in der Region, München 1996, S. 65-86. 132 Vgl. Georg Franz-Willing: Die Hitler-Bewegung. Der Ursprung 1919 bis 1922, Oldendorf 1974, S. 102 ff. Text des Programms in Albrecht Tyrell: Führer befiehl... Selbstzeugnisse aus der ‚Kampfzeit‘ der NSDAP 1969, ND Bindlach 1991, S. 23 ff.
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dem Parteiprogramm in gemeinsamer Zusammenarbeit durch Erziehung zur politischen Reife, durch körperliche Ertüchtigung und Pflege der sittlichen Kräfte, den einzelnen und damit die Gesamtheit auf eine höhere und glücklichere Kulturstufe zu bringen.“ 133 Im Sinne der Soziologischen Grundbegriffe Max Webers liegt damit eine Vergesellschaftung vor, die gleich mehrere Bestimmungen erfüllt: die eines auf sozialer Schließung beruhenden Zweck- und Gesinnungsvereins und einer darauf aufbauenden Partei. Die nähere Betrachtung zeigt indes, dass damit noch keine endgültige Entscheidung über die politische Gestalt des Nationalsozialismus getroffen war. Dem Programm vorangestellt war eine Einleitungsformel, die die 25 Punkte ausdrücklich als „Zeitprogramm“ vorstellte und dies mit einer deutlichen Relativierung der Organisationsform Partei verband. „Die Führer lehnen es ab, nach Erreichung der im Programm aufgestellten Ziele neue aufzustellen, nur zu dem Zweck, um durch künstlich gesteigerte Unzufriedenheit der Massen das Fortbestehen der Partei zu ermöglichen.“ Die Organisationsform Partei, das legt diese Formulierung nahe, wurde als Konzession an die aktuelle Politik verstanden, als ein notwendiges Übel, dem man sich anbequemte, obwohl man eigentlich über den Parteien stand und einen Zustand anstrebte, in dem Parteien überflüssig sein würden. So sah es Drexler, wenn er über den Völkischen Beobachter schrieb: „Ich sage absichtlich nicht Parteiblatt weil wir keine Partei sind u. auch nicht werden wollen“,134 so sah es die Schriftleitung des Blattes, die wiederholt hervorhob, dass das Parteiwesen die Gegensätze im Volk aufrechterhalte und deshalb nicht die angemessene Organisationsform für völkische Politik sein könne, und so sah es zunächst auch Hitler, wenn er die selbst gestellte Frage: warum „schon wieder eine Partei, warum dieser Titel?“ mit der Auskunft beantwortete, man wolle damit keine Bewegung schaffen, vielmehr solle die Bewegung ein germanisches Reich deutscher Nation schaffen, worauf die Partei dann in Trümmer gehen möge.135 Bewegung ist hier offensichtlich der übergeordnete, Partei der untergeordnete Begriff. Die frühe NSDAP folgte darin einem Verständnis, das in der völkischen Bewegung, der sie sich zurechnete, seit langem verbreitet war. Schon 133
Vgl. Franz-Willing 1974 (wie Anm. 132), S. 144 ff. Text der Satzung in Tyrell 1991 (wie Anm. 132), S. 31 ff. 134 Anton Drexler an Gottfried Feder, Brief vom 13.2.1921. Zit. n. Werner Maser: Der Sturm auf die Republik. Frühgeschichte der NSDAP, Düsseldorf etc. 1994, S. 485. 135 Vgl. Albrecht Tyrell: Vom ‚Trommler‘ zum ‚Führer‘. Zum Wandel von Hitlers Selbstverständnis zwischen 1919 und 1924 und die Entwicklung der NSDAP, München 1975, S. 91.
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in der Vorkriegszeit waren immer wieder Stimmen laut geworden, die es für einen Fehler hielten, das überparteiliche Anliegen der Bewegung auf dem Wege der Parteibildung zur Geltung bringen zu wollen, und die deshalb der Form des Gesinnungsvereins oder -bundes den Vorzug gaben.136 Auch die Entscheidung im Frühjahr 1919, als neue Massenorganisation des völkischen Antisemitismus einen Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund (DSTB) zu gründen, war maßgeblich von dieser Überlegung bestimmt. Das hinderte diese Organisation nicht, die Konstituierung einzelner völkischer Gruppen als Parteien zu fördern und zu unterstützen, um auf diese Weise ein Maximum an Publizitätschancen wahrzunehmen, änderte aber nichts an der grundsätzlichen Reserve gegenüber dem Parteigedanken. Am deutlichsten kam diese Reserve in der parallel zur NSDAP – und wie diese mit maßgeblicher Unterstützung des DSTB und der Münchner Thulegesellschaft gegründeten – Deutschsozialistischen Partei (DP) zum Ausdruck, die auf eine Initiative des Ingenieurs Alfred Brunner (1871-1936) zurückging.137 In seiner Grundsatzschrift Deutsche Not und Rettung! unterschied Brunner zwei Aspekte: die „lehrende und lernende, die deutschsozialistische Bewegung“ und die „kämpfende und fordernde, die D.S.Partei“. Erstere wurde bestimmt als Träger der Zielvision, der „deutsche(n) Weltanschauung“, die im gesamten öffentlichen Leben zu verbreiten sei; Letztere als Mittel zur Durchsetzung der aus dieser Weltanschauung entspringenden Forderungen im parlamentarischen Staat. Ihr wurde die Aufgabe zugewiesen, „besonders in den Wahlzeiten in Tätigkeit zu treten (…) und in den Zwischenzeiten alle Vorarbeiten für tatkräftige Durchführung der Wahlen“ zu treffen.138 Da die Ziele höher rangierten als die Mittel, lag es nahe, mit anderen Parteien, die derselben Weltanschauung verpflichtet waren, zusammenzuarbeiten und Differenzen, die sich aus der Organisation ergaben, kleinzuschreiben. Durchaus folgerichtig empfahl deshalb der Leiter der Kieler Ortsgruppe dem Vorstand, die „Parteien, die auf völkischer Grundlage stehen und arbeiten, zu einem Bunde zusammenzufassen unter Wahrung jeder Eigenart und der Programme der einzelnen Parteien. Es läßt sich da136
Vgl. unter Bezugnahme auf Theodor Fritsch: Hansjörg Pötzsch: Antisemitismus in der Region. Antisemitische Erscheinungsformen in Sachsen, Hessen, Hessen-Nassau und Braunschweig 1870-1914, Wiesbaden 2000, S. 82 ff. Vgl. auch Uwe Puschner: Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001, S. 270 ff. 137 Zu ihr vgl. Tyrell 1975 (wie Anm. 135), S. 72 ff. 138 Vgl. Alfred Brunner: Deutsche Not und Rettung! Duisburg 1921, S. 12 f.
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durch doch eventuell ein großer Block zusammenschweißen, der völkisch doch sicher mehr erreichen könnte als wir kleine Gruppe.“139 Wie stark auch in der NSDAP die Neigung war, die eigene Identität als Partei zugunsten der Einfügung in die als übergeordnet angesehene völkische Bewegung zurückzustellen, zeigen die Vorgänge im März/April 1921. Bereits im Jahr davor hatte die NSDAP einer Vereinbarung mit der DP zugestimmt, der zufolge sich die Nationalsozialisten Nord-, West-, Ost- und Mitteldeutschlands der DP unterstellen sollten, während die süddeutschen Ortsgruppen der DP mit Ausnahme Nürnbergs gehalten waren, sich der NSDAP anzuschließen. Als Brunner daraufhin vorschlug, beide Parteien zu verschmelzen, erhielt er zunächst das Plazet seiner Partei, die auf ihrem Zeitzer Parteitag am 29.3.1921 der Fusion zustimmte. Die neue Partei, der auch die nationalsozialistischen Parteien Österreichs und der Tschechoslowakei angehören würden, sollte fortan den Namen Deutsche Nationalsozialistische Partei führen und ihren Sitz in Berlin haben.140 Der von der NSDAP als Vertreter entsandte Drexler stimmte diesem Beschluss zu, verfügte freilich nicht über die erforderlichen Vollmachten, um dies verbindlich zu tun. Zu einer endgültigen Vereinbarung, über die am 14. April in München verhandelt wurde, kam es dann nicht, vor allem, weil der inzwischen einflussreich gewordene Hitler darauf beharrte, die Leitung der einheitlichen Partei nach München anstatt nach Berlin zu verlegen.141 Die Neigung, die eigene organisatorische Identität zurückzunehmen, war damit indes noch nicht überwunden. Sie trat vor allem in den kleineren und von München entfernt gelegenen Ortsgruppen immer wieder hervor und konnte von Hitler nur unter erheblichem Einsatz unterbunden werden. Als im September 1921 der Leiter der Ortsgruppe Hannover bei der Zentrale anfragte, ob er nicht mit verschiedenen deutschsozialistischen Gruppen „zwecks Herbeiführung von Einigungsverhandlungen“ in Verbindung treten könne, wies Hitler dies schroff zurück. „Wir haben unbedingt keinen Grund, sogenannte Einigungsverhandlungen herbeizuführen. Am allerwenigsten mit den Deutschsozialisten. Die deutschsozialistische Partei ist ein Fantasiegebilde. Praktischer Wert kommt ihr keiner zu. Seit 2 1/2 Jahren wursteln die Herrschaften herum, das Resultat war und ist überall gleich Null. (…) Was wir brauchen, ist das Herzuziehen kräftiger Massen, am besten aus dem ganz 139
Fritz Wiedt an den Vorstand der DP, Brief vom 3.6.1920, BArch NS/26/839. Franz-Willing 1974 (wie Anm. 132), S. 132 f.. 141 Vgl. Tyrell 1975 (wie Anm. 135), S. 105. 140
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rechten und ganz linken Flügel. Mit derartigen Zwittererscheinungen, wie sie die Deutschsozialisten darstellen, ist uns nicht gedient.“142 Es dürfte nicht unerheblich zur Festigung von Hitlers innerparteilicher Autorität beigetragen haben, dass diese Einschätzung sich im Großen und Ganzen als richtig erwies. Schon im kommenden Jahr lösten sich so viele Ortsgruppen der DP auf, dass der Parteiführung im Herbst 1922 keine Wahl blieb, als die Partei aufzulösen.143 Noch 1921, wenige Wochen nach dem Scheitern der Fusionspläne mit den Deutschsozialisten, war es zu einer weiteren Krise gekommen, die ihre Ursache ebenfalls in dem nur schwach ausgeprägten Sonderbewusstsein der NSDAP hatte. Während einer längeren Abwesenheit Hitlers vereinbarte die Parteispitze ein Treffen mit der nach Selbständigkeit strebenden Nürnberger Ortsgruppe der DP unter Julius Streicher und der Augsburger Deutschen Werkgemeinschaft, die unter der Führung des Studienrates Otto Dickel stand.144 Wieder ging es um die Herstellung einer überverbandlichen Einheit, diesmal in Gestalt einer lockeren Föderation, und wieder stand die, diesmal von Dickel formulierte, Zumutung an die NSDAP im Raum, ihren Namen und darüber hinaus auch Teile ihres Programms zu ändern: seien doch die Bauern, die beim Aufbau Deutschlands eine der wichtigsten Klassen darstellten, „für den Namen Socialist und Arbeiterpartei nicht zu haben“.145 Dass seine eigenen Parteigenossen und selbst Dietrich Eckart diesen Vorschlag allen Ernstes für prüfenswert befanden und erwogen, die NSDAP mit Dickels „Deutscher Werkgemeinschaft des Abendländischen Bundes“ zusammenzuführen, die sich an das Vorbild der Zentralarbeitsgemeinschaft von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden vom Herbst 1918 anlehnte, löste bei Hitler einen Wutanfall aus. Am 11. Juli erklärte er deshalb seinen Rücktritt aus dem Parteiausschuss, drei Tage später seinen Abschied von der „Bewegung“, falls diese nicht seinen Bedingungen folge.146
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Adolf Hitler an Gustav Seifert, Brief vom 6.9.1921, in: Tyrell 1991 (wie Anm. 132), S. 37 f. Vgl. Maser 1994 (wie Anm. 134), S. 232 f. 144 Zu Streicher vgl. Robin Lenman: Julius Streicher and the Origins of the NSDAP in Nuremberg, 1918-1923, in: Anthony Nicholls und Erich Matthias (Hrsg.): German Democracy and the Triumph of Hitler, London 1971, S. 129-159; zu Dickel die biographische Skizze bei Anton Joachimsthaler: Hitlers Weg begann in München 1913-1923, München 2000, S. 374 f. 145 Otto Dickel, Brief an Julius Streicher vom 3.9.1921. Zit. n. Tyrell 1975 (wie Anm. 135), S. 122. 146 Vgl. Franz-Willing 1974 (wie Anm. 132), S. 158 ff.; Tyrell 1975 (wie Anm. 135), S. 123 ff. 143
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Der Ausgang des Konflikts ist oft genug dargestellt worden und kann deshalb hier knapp resümiert werden. Um sein wichtigstes Zugpferd zu halten, stimmte der Parteiausschuss sämtlichen Forderungen Hitlers zu, die auf eine Neustrukturierung der NSDAP zielten. Der derzeitige Ausschuss sollte zurücktreten und Hitler „den Posten des ersten Vorsitzenden mit diktatorischer Machtbefugnis zu sofortiger Zusammenstellung eines Aktionsausschusses“ überlassen, „der die rücksichtslose Reinigung der Partei von den in sie heute eingedrungenen fremden Elementen durchzuführen hat.“ München sollte ein für allemal „Sitz der Bewegung“ bleiben und jede Änderung des Namens oder des Programms „auf die Dauer von sechs Jahren“ vermieden werden. Jeder weitere Versuch eines Zusammenschlusses mit anderen gleichgerichteten Verbänden habe künftig zu unterbleiben. „Für die Partei kann es niemals einen Zusammenschluß mit denjenigen geben, die mit uns in Verbindung treten wollen, sondern nur deren Anschluß.“147 Man mag mit Albrecht Tyrell der Auffassung sein, dass Hitlers Vorgehen in diesem Fall weniger einer gezielten Taktik zur Durchsetzung seines persönlichen Führungsanspruchs entsprungen sei, als vielmehr einer Affekthandlung angesichts des drohenden Verlustes seiner Ausnahmestellung in der Partei. Im Ergebnis aber waren mit der formellen Annahme dieser Bedingungen, die auf einer außerordentlichen Mitgliederversammlung am 29.7.1921 bestätigt wurde, die Weichen für eine Transformation der NSDAP in Richtung einer Partei neuen Stils, einer „Führerpartei“ gestellt, die sich nach innen wie nach außen von dem für die völkische Szene typischen Vereinsstil mit zumeist kollegialer Führung unterschied. Was die Innenseite betrifft, so ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass die Insistenz auf der Unantastbarkeit des Programms alles andere als die Entscheidung für den Typus einer „Programm-“ oder „Weltanschauungspartei“ bedeutete.148 Unantastbarkeit hieß in diesem Fall: Unterbindung der Diskussion und damit faktisch: Installierung eines Auslegungsmonopols, das den Parteiführer, also Hitler, in den Rang des einzigen authentischen Interpreten des Programms erhob, der allein jederzeit bestimmen konnte, welche Aspekte desselben und welche der in der Partei zirkulierenden Ideen
147
Adolf Hitler an die Parteileitung, Brief vom 14.7.1921. Zit. n. Franz-Willing 1974 (wie Anm. 132), S. 164. 148 Vgl. Tyrell 1975 (wie Anm. 135), S. 93 f.; Wolfgang Schieder: Die NSDAP vor 1933. Profil einer faschistischen Partei, in: Geschichte und Gesellschaft 19, 1993, S. 141-154, 142.
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der aktuellen Situation entsprachen.149 Hitler hat dies später nicht zu Unrecht in eine Parallele zur katholischen Kirche gerückt und sich damit selbst die päpstliche Unfehlbarkeit in Glaubensdingen zugesprochen.150 Ernsthaft bestritten wurde sein Monopol nur noch einmal fünf Jahre später, als der Straßer-Flügel den Versuch unternahm, der Partei ein neues programmatisches Profil zu geben, dies aber aufgrund von Hitlers geschickter Regie nicht durchsetzen konnte.151 Danach war die Partei endgültig eine Führerpartei, in der sich die politische Willensbildung strikt von oben nach unten vollzog und sich dabei der persönlichen Bindung der Unterführer an den obersten Führer als Bindemittel bediente.152 Nicht weniger wichtig als die Neuordnung der internen Struktur war die Neubestimmung der Außenbeziehungen, insbesondere des Verhältnisses zwischen Partei und Bewegung. Entscheidend war hier, dass Hitler die NSDAP nicht länger als Teil einer übergreifenden, eben „völkischen“ Bewegung begriff, sondern Partei und Bewegung gleichsetzte, wobei unter Partei selbstverständlich die NSDAP zu verstehen ist. In einer am 7. Januar 1922 in München über die „Entwicklung unserer Bewegung“ gehaltenen Rede nahm Hitler zunächst Bezug auf die „deutschvölkische Bewegung“, der er vorwarf, sich durch ein übertriebenes „Urdeutsch-Gebaren“ von der Masse des Volkes entfernt und auf eine rein literarische, lediglich den Interessen einer „bürgerlich-ideal vornehmen Klasse“ dienenden Ebene begeben zu haben. Ihr entgegengesetzt wurde die neue, „junge Bewegung“, die mit der „Gründung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei“ entstanden sei: „Eine völkische Bewegung auf streng sozialer Grundlage, die breitesten Massen erfassend, in eisenharter Organisation zusammengeschweißt, von blindem Gehorsam erfüllt und brutalem Willen beseelt, eine Partei des Kampfes und der Tat.“153 Die „wirkliche Geburt“ dieser „junge(n) Bewegung“ datierte Hitler einige Tage später vor der General-Mitgliederversammlung der NSDAP auf den 24. Februar 1920 und setzte sie erneut von der völkischen Bewegung als einer „Brutstätte gutgesinnter, aber 149
Vgl. Wolfgang Horn: Der Marsch zur Machtergreifung, Düsseldorf 1980, S. 88 ff. Vgl. Adolf Hitler: Mein Kampf, 40. Aufl., München 1933, S. 512. 151 Vgl. Reinhard Kühnl: Zur Programmatik der nationalsozialistischen Linken: Das StrasserProgramm von 1925/26, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 14, 1966, S. 317-333. 152 Vgl. Schieder 1993 (wie Anm. 148), S. 145 f. 153 Adolf Hitler: Entwicklung unserer Bewegung, in ders.: Sämtliche Aufzeichnungen 19051924, hrsg. von Eberhard Jäckel zusammen mit Axel Kuhn, Stuttgart 1980, S. 541 f. 150
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deshalb nur gefährlicherer Narren“ ab, die sich zur „Feindin jeder Zentralisation und damit aber auch zur Totengräberin ihrer eigenen Zukunft“ entwickelt habe.154 Auch in seiner Denkschrift über den Ausbau der Partei vom 22.10.1922 ist die dort mehrfach angesprochene „junge Bewegung“ identisch mit der „einzige(n) stoßkräftige(n) Organisation“, die sich bislang der „marxistische(n) Welle“ entgegengeworfen habe, der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei.155 Zu kanonischer Geltung erhoben wird diese Identifikation in Mein Kampf, wo Hitler seinen Beitritt zur DAP explizit mit der Kleinheit der Bewegung begründet sowie seiner „Überzeugung, daß gerade aus einer solchen kleinen Bewegung heraus dereinst die Erhebung der Nation vorbereitet werden konnte“.156 Wenn Hitler hier den „inneren Aufbau der Bewegung“ beschreibt, beziehen sich seine Ausführungen auf die Partei, wie auch diese gemeint ist, wenn vor der falschen Vorstellung gewarnt wird, „daß die Stärke einer Bewegung zunimmt durch die Vereinigung mit einer anderen, ähnlich beschaffenen.“ 157 Den in völkischen Kreisen endemischen Vorbehalten gegenüber dem Parteibegriff hält er entgegen, „daß jede Bewegung, solange sie nicht den Sieg ihrer Ideen und damit ihr Ziel erreicht hat, Partei ist, auch wenn sie sich tausendmal einen anderen Namen beilegt.“158 Hieran schließt sich seine bekannte Kritik an den „deutschvölkischen Wanderscholaren“ und „völkischen Johannesse(n) des zwanzigsten Jahrhunderts“ an, denen er vorhält, sich in weltanschaulichen Quisquilien verloren zu haben, anstatt sich entschlossen dem politischen Kampf zu stellen. Zwar seien bestimmte Elemente der völkischen Weltanschauung auch für den Nationalsozialismus verbindlich, doch „nicht in einer unbegrenzten Freigabe der Auslegung einer allgemeinen Anschauung, sondern nur in der begrenzten und damit zusammenfassenden Form einer politischen Organisation“, wie sie mit der NSDAP gegeben sei.159 Durch die bewusste und entschiedene Selektion von „Kernideen“ sowie deren Umgießung „in mehr oder minder dogmatische
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Ders.: General-Mitgliederversammlung und Parteitagung der NSDAP, München, 23.1. 1922, ebd., S. 549. 155 Ders.: Denkschrift (Ausbau der Nationalsoz. Deutschen Arbeiterpartei), in: Tyrell 1991 (wie Anm. 132), S. 50 f. 156 Ders. 1933 (wie Anm. 150), S. 243. 157 Vgl. ebd., S. 383 f. 158 Ebd., S. 395. 159 Ebd., S. 423.
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Formen“160 grenzte sich die NSDAP aus der völkischen Bewegung als einer ‚lehrenden und lernenden‘ (Brunner) und mit verschiedenen Verbandsformen kompatiblen Bewegung aus und beanspruchte für sich selbst, Partei und Bewegung zu sein – ein Anspruch, wie er deutlich genug im Titel des zweiten Bandes von Mein Kampf formuliert ist: Die nationalsozialistische Bewegung.161 Die Ansicht, die Besonderheit der NSDAP im Parteienspektrum läge darin, dass sie sich weit weniger als Partei denn als Bewegung verstanden habe,162 wäre von hier aus gesehen dahingehend zu modifizieren, dass sie die Bewegung als Partei verstanden hat. Als Partei war die NSDAP, mit Weber zu reden, „primär in der Sphäre der ‚Macht‘ zu Hause“ und auf ein Handeln ausgerichtet, das insofern „stets eine Vergesellschaftung“ enthält, als es auf „ein planvoll erstrebtes Ziel“ ausgerichtet ist, „sei es ein ‚sachliches‘: die Durchsetzung eines Programms um ideeller oder materieller Zwecke willen, sei es ein ‚persönliches‘: Pfründen, Macht und, als Folge davon, Ehre für den Führer und Anhänger oder, und zwar gewöhnlich, auf dies alles zugleich“.163 Während sich freilich in der Phase der Machteroberung das Spektrum der sachlichen Ziele insofern erweiterte, als es von mehreren in der Partei vertretenen Ideologien determiniert wurde, war es in der Anfangsphase noch wesentlich enger zugeschnitten: auf einige Topoi aus dem Repertoire des völkischen Nationalismus, die vor allem die angebliche Herrschaft des Leih- und Börsenkapitals skandalisierten (Gottfried Feders „Zinsknechtschaft“), auf das Phantasma einer jüdischen Weltverschwörung, wie es um 1920 durch die Protokolle der Weisen von Zion geschürt wurde,164 auf die vor allem von der baltendeutschen Emigration forcierte Deutung des Bolschewismus als einer Manifestation dieser Ver-
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Ebd., S. 423 f. Vgl. ebd., S. 407. 162 Vgl. Dieter Hein: Partei und Bewegung. Zwei Typen politischer Willensbildung, in: Historische Zeitschrift 263, 1996, S. 69-97, 87. 163 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Gemeinschaften, hrsg. von Wolfgang J. Mommsen i. Z. m. Michael Meyer, MWG I/22-1, Tübingen 2001, S. 269. 164 Zum Einfluss der Protokolle auf das Weltbild führender NSDAP-Funktionäre vgl. Wolfram Meyer zu Uptrup: Kampf gegen die „jüdische Weltverschwörung“. Propaganda und Antisemitismus der Nationalsozialisten 1919-1945, Berlin 2003, freilich mit der Tendenz, das gesamte in der NSDAP anzutreffende Ideenspektrum auf das Wahnsystem der Protokolle zu reduzieren. Weder der neonationalistische noch der nordizistische Flügel hat der Abwehr der vermeintlichen jüdischen Weltverschwörung die Priorität zugemessen, wie sie für die Propaganda der unmittelbaren Nachkriegszeit typisch ist. 161
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schwörung165 sowie nicht zuletzt auf deren religionspolitische Dramatisierung durch Dietrich Eckart, der in apokalyptischer Manier die Gegenwart zum Schauplatz des Endkampfes zwischen Licht und Finsternis, Gott und Satan, Christentum und Judentum stilisierte.166 Unter dem Eindruck dieser Topoi hat Hitler den Schluss gezogen, in einen „Kampf auf Leben und Tod“ gestellt zu sein, der die üblichen Zwecke einer politischen Partei – die Erringung einer Majorität auf legalem Wege und darüber vermittelt die der politischen Macht im Staat – in den Hintergrund drängte.167 Angesichts der mit der „Bolschewisierung Deutschlands“ drohenden „Vernichtung der gesamten christlich-abendländischen Kultur überhaupt“ konnte das parteimäßige Handeln vorerst nur ein Etappenziel kennen: die augenblickliche Mobilisierung der Nation durch permanente Agitation und Propaganda, die Weckung aller noch vorhandenen Abwehrkräfte und ihre organisatorische Bündelung zum Zweck der „Vernichtung und Ausrottung der marxistischen Weltanschauung“. Auf dieses Ziel hin legte Hitler die Organisationsform der Partei aus – die alles Deliberieren und Räsonnieren ausschaltende charismatisch-plebiszitäre Herrschaft des Führers –, auf dieses Ziel auch die Mittel: die Schaffung eines umfassenden Propagandaapparats sowie den Aufbau einer „Organisation rücksichtslosester Kraft und brutalster Entschlossenheit, bereit, jedem Terror des Marxismus einen noch zehnfach größeren entgegenzusetzen, die sogenannte ‚Sturmabteilung‘ der Bewegung.“168 Cha165
Vgl. Johannes Baur: Die Revolution und die ‚Weisen von Zion‘. Zur Entwicklung des Russlandbildes in der frühen NSDAP, in: Gerd Koenen und Lew Kopelew (Hrsg.): Deutschland und die Russische Revolution 1917-1924, München 1998, S. 165-190; Ernst Piper: Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe, München 2005, S. 15, 55 ff. Zur Verbreitung dieser Deutung in der völkischen Publizistik sowie weit darüber hinaus bis in die Preußischen Jahrbücher oder die Kreuzzeitung vgl. Walter Jung: Ideologische Voraussetzungen, Inhalte und Ziele außenpolitischer Programmatik und Propaganda in der deutschvölkischen Bewegung der Anfangsjahre der Weimarer Republik – Das Beispiel Deutschvölkischer Schutz- und Trutzbund. Phil. Diss. Göttingen 2000, S. 163 ff. 166 Vgl. Claus-Ekkehard Bärsch: Die politische Religion des Nationalsozialismus, München 1998, S. 52 ff. 167 Zu dieser apokalyptischen Dimension im Denken des frühen Hitler vgl. Jürgen Brokoff: Die Apokalypse in der Weimarer Republik, München 2001, S. 127 ff. Von „Endzeit-Denken“ und „konkreter Eschatologie“ spricht Frank-Lothar Kroll: Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich, Paderborn 1998, S. 55. 168 Hitler: Denkschrift (1922), in: Tyrell 1991 (wie Anm. 132), S. 50. Ähnlich bereits ders. am 27.1.1921: „Ist die Errichtung einer die breiten Massen erfassenden völkischen Zeitung eine nationale Notwendigkeit?“ wo als Folge der „drohende(n) bolschewistische(n) Überschwemmung“ die „Diktatur einer rücksichtslosen Minderheit“ erwartet wird, gegen die „nur mehr
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risma, Propaganda und Terror im Rahmen einer Organisation, die noch am ehesten dem Typus der „Glaubenspartei“169 entspricht – das war zwar noch nicht die Partei faschistischen Typs, aber ein bedeutender Schritt dorthin. 2. Es gehört zu den eingespielten Redeweisen über die NSDAP, ihre Nähe zu „bündischen“ Mustern hervorzuheben, wobei dieser Begriff gern mit „Gemeinschaft“ assoziiert wird. Schon 1930 attestierte eine Denkschrift des preußischen Innenministeriums der NSDAP, sie unterscheide sich von allen anderen Parteien grundsätzlich, indem sie ihre Mitglieder „nicht nur in der einen Richtung der Willensbildung bei Wahlen und Abstimmungen (erfasst), sondern sozusagen in allen Lebensbeziehungen“, mithin in jener „ganzen Breite des Daseins“, die nach Tenbruck typisch für persönliche Beziehungen ist.170 Eben diese Eigenschaft, so die Denkschrift weiter, begründe ihren spezifischen „Doppelcharakter als politische Partei und als politischer Bund“.171 Wenig später deutete ein inzwischen zum Klassiker avanciertes Werk der Parteisoziologie den NS als „gegebene Fortsetzung der Jugendbewegung“, „die in den rationalen Programmparteien nicht Fuß fassen konnte und gerade in den bündischen Elementen des Nationalsozialismus (in seiner betont personellen Bindung an den Führer u. a.) Verwandtes zu spüren glaubte“.172 Auch für so unterschiedliche Geister wie Heinz Marr und Ernst Fraenkel lag das Spezifikum der NSDAP darin, dass sie dem ‚bündischen Prinzip‘, verkörpert vor allem durch SA, SS und HJ, Eingang in den „Raum legaler Politik“ verschafft habe.173 Noch heute wird immer wieder die Kontinuität beschworen, die den Nationalsozialismus mit der bündischen Bewegung der Weimarer
die nackte Gewalt, die Majorität an brutaler Macht“ helfe. In: Hitler 1980 (wie Anm. 153), S. 300 f. Zum Ganzen Tyrell 1975 (wie Anm. 135), S. 87 ff. 169 Zum Begriff der Glaubenspartei als einer regelmäßig, aber nicht unvermeidlich mit dem Typus der charismatischen Partei identischen Organisationsform vgl. Weber 1976 (wie Anm. 5), S. 168. 170 Vgl. Tenbruck 1990 (wie Anm. 92), S. 227. 171 Denkschrift des Preußischen Ministeriums des Innern über die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei als staats- und republikfeindliche hochverräterische Verbindung, in: Staat und NSDAP 1930-1932. Quellen zur Ära Brüning. Eingel. von Gerhard Schulz. Bearb. von Ilse Maurer und Udo Wengst, Düsseldorf 1977, S. 96-155, 98. 172 Sigmund Neumann: Die politischen Parteien der Weimarer Republik (1932), 5. Aufl., Stuttgart 1986, S. 80. 173 Vgl. Marr 1934 (wie Anm. 3), S. 450 f.; Fraenkel 1974 (wie Anm. 4), S. 224 ff.
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Republik verbunden habe, sei es mehr auf weltanschaulich-ideologischer Ebene, sei es mehr im „Habitus“, in den Ritualen oder im Lebensstil.174 Eine unmittelbare Bestätigung scheint diese These zunächst in den zahlreichen Karrieren zu finden, die von den Bünden der Jugendbewegung und mehr noch von den Wehrverbänden der Weimarer Republik in die Spitzenpositionen der NSDAP und ihrer angegliederten Organisationen geführt haben; Beispiele dafür sind, um den Text von allzu vielen Einzelheiten zu entlasten, im Anhang zusammengestellt. Aus diesem gewiss beachtlichen Anteil lässt sich indes noch nicht auf eine generelle Imprägnierung der NS-Organisationen mit bündischen Mustern schließen. Denn erstens waren die Bünde, aus denen sich dieses Personal rekrutierte, in der zweiten Hälfte der Weimarer Republik bereits von einer starken Ideologisierung geprägt, in deren Gefolge die spezifisch bündische Vergemeinschaftung hinter wertund zweckrationalen Motiven, also: Formen der Vergesellschaftung, zurücktrat;175 und zweitens fiel der Anteil ehemals Bündischer von Organisation zu Organisation ganz unterschiedlich aus. Kombiniert man die Informationen zu den Personen mit dem Stand des Wissens über die Führungseliten und Organisationsstrukturen, so ergibt sich ein differenziertes Bild, das von kaum oder gar nicht bündisch geprägten NS-Gliederungen bis zu solchen reicht, die einen gewissen Einfluss bündischer Muster erkennen lassen. Für die erste Variante stehen HJ und SS, für die zweite die SA. Von den 876 Lebensläufen aus dem Führungspersonal der HJ, die Michael Buddrus rekonstruiert hat,176 weisen nur 37 einen bündischen Hintergrund auf, was zum einen mit dem für diesen Verband typischen Prinzip ‚Jugend soll von Jugend geführt werden‘ zusammenhängen mag, das viele Angehörige der Kampfbünde oder der Älterenorganisationen der Bündischen Jugend schon aus Altersgründen ausschloss, zum andern mit dem Charakter der HJ als Massenorganisation, die schon Ende 1933 auf 2,3 Mil-
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Vgl. Michael H. Kater: Bürgerliche Jugendbewegung und Hitlerjugend in Deutschland von 1926 bis 1939, in: Archiv für Sozialgeschichte 17, 1977, S. 127-174; Matthias von Hellfeld: Bündische Jugend und Hitlerjugend. Zur Geschichte von Anpassung und Widerstand 19301939, Köln 1987, S. 70; Michael Wildt: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, 2. Aufl., Hamburg 2003, S. 137 f. 175 Vgl. Stefan Breuer und Ina Schmidt: Die Kommenden. Eine Zeitschrift der Bündischen Jugend (1926-1933), Schwalbach 2010. 176 Vgl. Michael Buddrus: Totale Erziehung für den totalen Krieg. Hitlerjugend und nationalsozialistische Jugendpolitik, 2 Bde., München 2003, Bd. 2, S. 1111 ff.
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lionen Mitglieder anschwoll, um bis 1939 auf 8,7 Millionen anzusteigen.177 Ein derartiger Zustrom ließ sich nur durch eine strikte Hierarchisierung und Zentralisierung bewältigen, wofür die HJ freilich schon vor der Machtübernahme die Weichen gestellt hatte: Hatte sie doch anstelle der für die Bünde typischen engen Freundschaftsbindung aller Mitglieder die „Aufrechterhaltung der zur Pflicht gemachten Kameradschaft“ gesetzt, mithin eines Organisationsprinzips, das auf der Austauschbarkeit von Personen und dem Primat des Kampfes nach außen beruht.178 Auch wenn die HJ gewisse Formelemente der Bündischen Jugend kopierte – vom Aufbau der Einheiten über die Formen von Fahrt, Lager, Geländespiel und Heimarbeit bis hin zur Symbolsprache und zur Ikonographie –,179 ihr Organisationsprinzip mit seiner Betonung militärisch-bürokratischer Muster und seiner Ersetzung der Erziehungsgemeinschaft durch bloßen Drill war von Anfang an nicht bündisch und löste deshalb auch bei den Bünden mindestens soviel Ablehnung und Widerstand aus wie Bereitschaft zur Mitwirkung.180 In der bündischen Zeitschrift Die Kommenden, die dem Nationalsozialismus durchaus wohlwollend gegenüberstand, hieß es schon 1931 warnend: „Der Kurs der Hitlerjugend ist herumgeworfen. Aus der nationalsozialistischen Jugendbewegung ist die Jung-SA gemacht. Aus einer Geistes- und Körperschule macht man bestenfalls eine Militärkaserne mit politischen Instruktoren, die um das körperliche Wohl ihrer Zöglinge besorgt sind. In einigen Gauen sind bereits ehemalige Kadettenoffiziere die maßgebenden Führer. Die weitere Entwicklung liegt klar auf der Hand.“181
177
Vgl. Arno Klönne: Jugend im Dritten Reich. Die Hitler-Jugend und ihre Gegner, München 1990, S. 68, 84 ff., 34, 66. Zur Entwicklung dieser Organisation zuletzt: Michael Kater: Hitler-Jugend, Darmstadt 2005. 178 Vgl. von Hellfeld 1987 (wie Anm. 174), S. 34. 179 Vgl. Klönne 1990 (wie Anm. 177), S. 72, 103. Eine gewisse Sonderrolle scheint dabei allerdings das Deutsche Jungvolk gespielt zu haben, das vor 1933 überwiegend von Mitgliedern der Bündischen Jugend aufgebaut wurde und sich nicht auf die Adaption von äußerlichen Elementen beschränkte: vgl. ebd., S. 118 ff. 180 Zum bündischen Widerstand nach 1933 vgl. ebd., S. 198 ff.; von Hellfeld 1987 (wie Anm. 174), S. 119 ff. 181 Ekkehard: Wohin gehst du, Hitlerjugend? in: Die Kommenden 6, 1931, F. 42.
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Entgegen anders lautenden Bekundungen182 war auch die SS kein Bund. Zwar wiesen ihre verschiedenen Verbände und Institutionen im Vergleich zur HJ einen etwas höheren Anteil an ehemals Bündischen auf,183 wie auch die Organisationsstruktur einige Gemeinsamkeiten mit Bünden zeigte: z. B. die Freiwilligkeit des Eintritts, die Einbeziehung der ganzen Person und auch ein gewisses Gruppengefühl.184 Dies alles aber war nicht entscheidend. Das maßgebliche Motiv für die Bildung dieses Verbandes war zunächst rein zweckrational: das Interesse am Schutz der Person Hitlers, der durch die SA nicht hinreichend gewährleistet erschien. Erst Jahre nach der Einrichtung der ersten Stabswache 1923 rückte mit der Ernennung Himmlers zum RFSS (6.1.1929) ein neues, nun wertrationales Motiv in den Vordergrund: die Hochschätzung des ‚nordisch-germanischen Blutes‘, von dem Himmler überzeugt war, dass es der „Träger der schöpferischen und heldischen, der lebenserhaltenden Eigenschaften“ des deutschen Volkes und damit die Grundlage für einen „neuen Adel“ sei.185 Dieses Wertprinzip, das Himmler mitsamt seiner Begründung aus dem Gedankengut der „nordischen Bewegung“ übernahm,186 wurde Ende 1931 durch den sogenannten „Verlobungsund Heiratsbefehl des RFSS“ zum zentralen Zugehörigkeitskriterium der Organisation, die sich dadurch als ein „nach besonderen Gesichtspunkten ausgewählter Verband deutscher nordisch-bestimmter Männer“ konstituier182
Vgl. etwa den Bericht des SS-Sturmmannes Dr. Schlösser über die Ausführungsbestimmungen zu den Nürnberger Gesetzen vom 25.9.1935: „Die SS soll der Sippenbund des rassisch wertvollsten Teiles unseres Volkes werden, bei der selbstverständlichen Voraussetzung der soldatischen Grundhaltung und klarer weltanschaulicher Ausrichtung.“ Zit. n. Isabel Heinemann: Rasse, Siedlung, deutsches Blut. Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung, Göttingen 2003, S. 85. 183 Unter den 47 Höheren SS- und Polizeiführern, die Ruth Bettina Birn untersucht hat, hatten fünf einen bündischen Hintergrund; bei den von Michael Wildt rekonstruierten Lebensläufen aus dem RSHA ist das Verhältnis 32:3, bei den Rasseexperten des RuSHA 100:14 (vgl. die Literaturangaben im Anhang). 184 Zum Letzteren vgl. Heinemann 2003 (wie Anm. 182), S. 18 f. 185 Heinrich Himmler: Rede bei der SS-Gruppenführertagung in Posen am 4.10.1943. Zit. n. Josef Ackermann: Heinrich Himmler als Ideologe, Göttingen etc. 1970, S. 108; ders.: Rede auf der Gruppenführerbesprechung in München im Führerheim der SS-Standarte Deutschland, 8.11.1937. Zit. n. Peter Longerich: Heinrich Himmler. Biographie, Berlin 2008, S. 365. Vgl. Eckart Conze: Adel unter dem Totenkopf. Die Idee eines Neuadels in den Gesellschaftsvorstellungen der SS, in ders. und Monika Wienfort (Hrsg.): Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, Köln etc. 2004, S. 151-176. 186 Vgl. dazu Hans-Jürgen Lutzhöft: Der Nordische Gedanke in Deutschland 1920-1940, Stuttgart 1971.
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te.187 Was anfangs nur für die unverheirateten Mitglieder galt, die eine Ehe schließen wollten – die Anforderung, die rassische und erbbiologische Wertigkeit des Paares mittels Abstammungsurkunden sowie einer rassenanthropologischen und gesundheitlichen Untersuchung zu dokumentieren –, wurde 1932/33 für alle Beitrittskandidaten zur Regel gemacht und auch für diejenigen verpflichtend, die bereits Mitglied der SS waren. Die Prüfung erfolgte durch das eigens für diesen Zweck eingerichtete „Rassenamt der SS“, das sich in den folgenden Jahren zu einem der drei Hauptämter der SS entwickelte, dem „Rasse- und Siedlungshauptamt“ (RuSHA). Zum Leiter berief Himmler mit Richard Walther Darré den bekanntesten nationalsozialistischen Exponenten der „nordischen Bewegung“; zum stellvertretenden Leiter den Reichswehroffizier Dr. Horst Rechenbach, der seine Erfahrungen in der Musterung von Rekruten mitbrachte; zum wissenschaftlichen Leiter der Abteilung Rassenkunde den Münchner Rassenwissenschaftler Dr. Bruno K. Schultz, der wie Darré und Rechenbach zum Nordischen Ring gehörte, darüber hinaus als Schriftleiter der Zeitschrift Volk und Rasse tätig war. Unter ihrer Regie nahm das RuSHA rasch die Struktur einer bürokratischen Behörde mit zahlreichen Fachämtern an, die mithilfe standardisierter Musterungskriterien ihr Personal rekrutierte und ein erhebliches Maß an zeitlichen und finanziellen Ressourcen auf dessen weltanschauliche Schulung verwandte, auch wenn dann in der konkreten Umsetzung vieles hinter den Erwartungen zurückblieb.188 War eine nach derart sachlichen, wie immer auch ideologischen Prinzipien erfolgende Vergesellschaftung nicht mit bündischen Beziehungsmustern vereinbar, so gilt dies nicht weniger für die entgegengesetzten personalistischen Züge der SS, für die die Bezeichnung „sultanistisch“ angemessen wäre, hätte Max Weber in seiner Herrschaftssoziologie diesen Terminus nicht für eine Form der traditionalen Herrschaft reserviert. Eine Tradition im Sinne eines eingelebten normativen Gefüges gab es jedoch nicht, nur das höchst persönliche, in nicht geringem Maße von abstrusen Ideen wie der Welteislehre oder okkultistischen und spiritistischen Privatmythologien bestimmte Weltbild des Reichsführers SS, das dieser, wie sein Biograph notiert, „in einer verblüffenden Art und Weise (...) auf die von ihm geführte Organisation“ übertrug, welche dadurch „ein Teil seiner Selbst“ wurde.189 Diese Organisation war 187
Zit. n. Heinemann 2003 (wie Anm. 182), S. 51. Vgl. ebd., S. 51 ff., 55 ff.; Longerich 2008 (wie Anm. 185), S. 323 ff., 366 f. 189 Vgl. Longerich 2008 (wie Anm. 185), S. 395. 188
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nicht nur völlig unübersichtlich und in allem auf ihren Führer als letztentscheidende Instanz zugeschnitten, sie war darüber hinaus gänzlich unkalkulierbar, da dieser Führer allein seinem Ermessen folgte. Himmler verfolgte die Strategie, die Mitglieder seines Stabes durch Gunstbeweise, Privilegien und Sonderkonditionen von sich abhängig zu machen, er griff ordnend in ihre privatesten Beziehungen ein, gab sich mal als großzügiger, über Schwächen hinwegsehender Patron, mal als strenger, aber gerechter Vater, dann wieder als mahnender und korrigierender Lehrer. Den umfangreichen Apparat, über den er gebot, versuchte er „durch ausufernde, zum Teil in absurder Weise Nebensächlichkeiten berücksichtigende Weisungen, durch unzählige Einzelfallentscheidungen oder durch direkte Eingriffe zu lenken“,190 so dass man es in der Tat nicht so sehr mit einer bürokratischen, nach festen Regeln kontrollierten Institution zu tun hatte, als mit einem personalistischen Verband, in dem nicht einmal die Rassendoktrin gewisse Verbindlichkeiten stiften konnte. Die Rasseprüfungen erfolgten nicht bloß entlang der vorgegebenen anthropometrischen Kategorien, sondern hatten stets auch den „Gesamteindruck“ zu berücksichtigen, den der jeweilige Proband und darüber hinaus sein familialer Kontext vermittelte, womit den subjektiven Wertungen der Prüfer Tür und Tor geöffnet war.191 Angesichts der dabei waltenden Asymmetrie erscheint der Begriff des Bundes, der immer auch eine Form der Verbrüderung impliziert, unangebracht.192
190
Ebd., S. 309. Vgl. ebd., S. 463, 620. 192 Das gilt auch für den oft als Alternative verwendeten Begriff des Ordens, der zwar mit Blick auf die wertrationale Grundierung, die hierarchische Struktur wie auch die Reglementierung der Lebensweise besser geeignet zu sein scheint, aber schlecht mit dem arbiträren Zug der Führung vereinbar ist. Ein Orden ist nach Weber nur denkbar in der Anbindung an einen Anstaltsbetrieb, der über die Spendung oder Versagung von Heilsgütern das „Monopol legitimen hierokratischen Zwangs“ in Anspruch nimmt, vulgo: die Kirche (Weber 1976 [wie Anm. 5], S. 29). Die NSDAP aber, an die die SS gebunden war, war eine Partei, eine auf freier Werbung beruhende Vergesellschaftung, der man zugehören konnte oder nicht – also keine „Anstalt“. Der von den Nationalsozialisten ab 1933 beherrschte Staat war zwar ein Anstaltsbetrieb, aber, erstens, ein politischer, kein hierokratischer (auch wenn er auf psychischen Druck keineswegs verzichtete) und, zweitens, ein solcher, der sein Monopol legitimen physischen Zwangs zunehmend einbüßte, wie dies vor allem Franz Neumann herausgearbeitet hat. Himmler selbst hat die Bezeichnung Orden für die SS wohl prinzipiell akzeptiert, zugleich aber relativiert und modifiziert: „Das Wort Orden wird mir zu oft verwendet. Es ist damit nicht ein Orden, dass wir es Orden heißen. Ich hoffe, dass wir in 10 Jahren ein Orden sind und auch nicht ein Orden nur von Männern, sondern ein Orden von Sippengemeinschaften. Ein Orden, zu dem die Frauen genauso notwendig 191
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In den Führungsstäben der SA lag der Anteil derjenigen, die aus Wehrverbänden kamen, bei mehr als zwei Fünfteln (41,3%).193 Das ist nicht nur ein Beleg für die Zugehörigkeit der SA zur paramilitärischen Fronde gegen den parlamentarisch-republikanischen Staat, es ist auch ein Indiz für eine gewisse Affinität zu bündischen Mustern, waren die Wehrverbände doch keine Kopie der Armee, deren Funktionsfähigkeit auf sachlichen Prinzipien – in erster Linie der durch den politischen Anstaltsbetrieb gesicherten rationalen Disziplin – beruhte, sondern Zusammenschlüsse von Freiwilligen, die Kohärenz und Gehorsam über persönliche Beziehungen – Freundschaft und Gefolgschaft – herstellten und deshalb stets auf ein gewisses Maß an Gegenseitigkeit angewiesen waren. 1927 statuierte der Oberste SA-Führer (OSAF), Franz Pfeffer von Salomon, in einer seiner zahllosen „Grundsätzlichen Anordnungen“ (GRUSA), dass die unteren Einheiten „aus Freunden, Arbeitskollegen, Sportkameraden“ zu bestehen hätten, „die nahe voneinander wohnen und beruflich arbeiten“.194 Die Führung setzte damit ganz bewusst auf das Kleingruppenprinzip, das schon das Erfolgsgeheimnis der italienischen Squadre gewesen war. Kleinere Einheiten von sechs bis zwölf Mann sowie die etwas größeren „Stürme“ sollten Zellen bilden, die durch ständige Nähe und rastlosen Einsatz ein Gefühl der Verbundenheit entwickeln und dabei doch in ihre örtliche Lebenswelt eingelassen bleiben würden: in bestimmte Stadtviertel oder auch Dorfgruppen, die über informelle institutionelle Zentren wie Sturmlokale, Suppenküchen und SA-Heime verfügten, von denen sich das Netzwerk der Mitglieder leicht mobilisieren ließ.195 Für viele der oft entwurzelten, arbeits- und perspektivlosen jungen Männer nahm die SA die Züge einer „Ersatzfamilie“ an, in der ein väterlicher Führer den Tag strukturierte, die Ziele wies und nicht selten auch den Zugang zu wichtigen Ressourcen vermittelte, und in der sich zugleich eine Brüderhorde mittels forcierten Alkoholkonsums sowie bewusst inszenierter „Kampferlebnisse“ in den Zustand eines „permanenten Enthusiasmus“ versetzte.196 Zweckrationale Erwägungen wie etwa die Hoffnung auf Versorgung sollen damit ebenso dazu gehören wie die Männer.“ Zit. n. Gudrun Schwarz: Eine Frau an seiner Seite. Ehefrauen in der „SS-Sippengemeinschaft“, Hamburg 1997, S. 19. 193 Vgl. Bruce Campbell: The SA Generals and the Rise of Nazism, Lexington, Kentucky 2004, S. 228. 194 Zit. n. Reichardt 2002 (wie Anm. 4), S. 401. 195 Vgl. ebd., S. 435 ff. 196 Vgl. ebd., S. 422 ff., 455, 655; Peter Longerich: Die braunen Bataillone. Geschichte der SA, München 1989, S. 120.
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wenig heruntergespielt werden wie ideologische Motive, etwa die Überzeugung von der Dignität der eigenen Nation oder vom Unwert der Feinde, namentlich der „Internationalen“ (Marxisten, Plutokraten, Juden). Insgesamt aber stehen diese für Vergesellschaftungen typischen Motive deutlich zurück hinter der Hochschätzung des Aktivismus als solchen und dem dadurch vermittelten, „unter dem äußeren Druck der bürgerkriegsähnlichen Situation gewachsene(n) Zusammengehörigkeitsgefühl. Dabei war die Bindung an die kleine Gruppe wichtiger als die Loyalität gegenüber der Gesamtorganisation; das im Aufbau der SA vorherrschende Prinzip, gewachsene Kleingruppen möglichst nicht auseinanderzureißen, kam dieser Einstellung entgegen. Man kann daher durchaus auch von einer bandenähnlichen Mentalität der SA sprechen, die sich nicht zuletzt in der großen Bedeutung zeigte, die den Führern dieser kleinen Gruppen (also den Schar-, Trupp- und Sturmführern) beigemessen wurde.“197 Neben diesen Unterführern, die oft mythische Verehrung genossen, besaß die SA freilich auch Oberführer, und diese stammten, wie Bruce Campbell gezeigt hat, nicht nur aus bündischen Verbänden, sondern auch, und zwar zum stärkeren Teil, aus den Kreisen professioneller Militärs. Rund ein Drittel war schon vor dem Ersten Weltkrieg Soldat in der kaiserlichen Armee gewesen, drei Viertel hatten am Krieg teilgenommen, fast alle dabei Kampferfahrung erworben. Auch nach 1918 setzte sich dies fort. Von 177 Männern, zu denen sich Informationen ermitteln ließen, waren 74 (41,8%) in einem Freikorps, weitere fünf Prozent in einer Bürgerwehr oder einer Zeitfreiwilligeneinheit198 – Formationen, in denen zwar eine gewisse Dezentralisierung der Militärverfassung und eine damit verbundene Abschwächung der Disziplin zum Ausdruck kamen, die aber nichtsdestotrotz den staatlichen Anspruch auf das Monopol der legitimen physischen Gewaltsamkeit artikulierten und in Struktur und Aufbau dem Armeemodell nachgebildet waren.199 Dieser starke 197 Longerich 1989 (wie Anm. 196), S. 137. Dass die Mitgliedschaft in der SA nicht notwendigerweise „a deep commitment to the Nazi cause“ involvierte, zeigt Richard Bessel. „Joining an SA group could be a rather ill defined affair, and frequently the stipulation that storm troopers be members of the NSDAP was ignored.“ Auch die hohe Fluktuation deutet in diese Richtung. In der schlesischen SA bspw. gehörten im August 1932 nur etwa zwei Drittel der Organisation länger als zwei Monate an. Vgl. Richard Bessel: Political Violence and the Rise of Nazism. The Storm Troopers in Eastern Germany 1925-1934, New Haven und London 1984, S. 46 f. 198 Vgl. Campbell 2004 (wie Anm. 193), S. 228; vgl. auch Bessel 1984 (wie Anm. 197), S. 41 f. 199 „The free corps in general were formed at the initiative and under the direction of the army and navy high command. They were full-time military units under the control of the
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Einfluss von Militärs zeigte sich schon 1923 in den Bestrebungen Ernst Röhms, der als Reichswehroffizier und stellvertretender Führer eines Wehrverbandes (Reichsflagge) darauf hinarbeitete, die aktivsten Wehrverbände unter einem einheitlichen Kommando zusammenzufassen und auf eine militärische Aktion gegen die Republik auszurichten, wodurch die SA weit stärker als von Hitler gewünscht in Richtung Militarisierung und Eingliederung in die Wehrbewegung gedrängt wurde. 200 Er kam erneut zur Geltung in Röhms 1924/25 unternommenem Versuch, die Mitglieder der noch unter Verbot stehenden SA in den von ihm gegründeten „Frontbann“ zu integrieren, der einmal mehr eine strikte Zentralisierung der Wehrverbände ermöglichen sollte.201 Und er war schließlich auch die eigentliche Ursache des 1933/34 zwischen Hitler und Röhm eskalierenden Konflikts, der von ganz anderer Natur war als derjenige, der 1921 zwischen Mussolini und dem squadrismo entbrannt war. Denn Röhm, der seit Anfang 1931 die SA als Stabschef führte, repräsentierte in diesem Konflikt nicht die Ansprüche, die aus ihren spezifisch bündischen Vergemeinschaftungsformen an die nationalsozialistische Revolution folgten, sondern die Konsequenzen, die sich aus seinem Versuch ergaben, die Parteitruppe in eine Parteiarmee umzuwandeln – Bemühungen, deren voller Sinn sich erst dann enthüllt, wenn man sich vor Augen führt, dass nach Röhms Überzeugung „in einem Machtstaat (...) der Soldat die erste Stelle einnehmen“ musste.202 Schon ein Jahr nach seinem Amtsantritt hatte er die SA auf ihren dreifachen Umfang gebracht (260 000 Mann), um sie im folgenden Jahr noch einmal um weitere 200 000 Mann zu vergrößern.203 Nach der Machtübernahme schwoll diese Mammutorganisation durch die Inkorporation sämtlicher Wehrverbände auf 4,5 Millionen an, von denen nicht einmal ein Drittel der Partei angehörte.204 Die Organisationsstruktur lehnte sich eng an militärische Vorbilder an. Die Zentrale behielt sich sämtliGerman government and its representatives. Free corps members were paid, clothed, equipped, and housed at government expense, and they served under regulary military discipline. Service in the free corps counted as regular military service in terms of seniority, promotion, decorations etc. (...) Free corps units were formed by the military as temporary units and were intended to serve only until order was restored and the regular army could be reestablished” (Campbell 2004 [wie Anm. 193], S. 15 f.). 200 Vgl. Longerich 1989 (wie Anm. 196), S. 22, 44. 201 Vgl. ebd., S. 45 ff. 202 Ernst Röhm. Zit. n. ebd., S. 181. 203 Vgl. ebd., S. 111, 159. 204 Vgl. ebd., S. 184.
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che Personalentscheidungen bis hinunter zum Sturmführer vor und gab ihre Anweisungen in einem eigenen „SA-Verordnungsblatt“ bekannt.205 In Analogie zur Heeresdienstvorschrift wurde eine SA-Dienstvorschrift eingeführt, zu der im April 1933 eine eigene Dienststrafgewalt sowie im Dezember 1933 eine SA-Gerichtsbarkeit hinzukamen. Ebenfalls dem Heer abgeschaut war die Einrichtung einer SA-Feldpolizei, um von weiteren Parallelen, wie den Grußvorschriften, dem Rang- und Abzeichenwesen oder der Aufstellung immer neuer Spezialformationen, zu schweigen.206 Was in Italien zunächst durch die Parteiführung, dann durch die vom Parteiführer geleitete Regierung erzwungen wurde – die Umwandlung der antistrukturellen Gewaltbünde in eine nach bürokratischen Regeln funktionierende Miliz –, wurde auf diese Weise in Deutschland vom Pendant des squadrismo gleich selbst besorgt. Konfliktträchtig wurde diese Konstellation dadurch, dass die Führer dieser Miliz nicht gesonnen waren, den ihnen gebührenden Platz eines „Appendix der Armee“ einzunehmen, vielmehr nach einer alternativen Militärverfassung strebten, bei der die SA in einer ersten Stufe als gleichberechtigtes bewaffnetes Organ neben die Reichswehr treten würde, dem vor allem der Grenzschutz obliegen sollte, um dann in einer zweiten Stufe zum eigentlichen Heer nach Schweizer Muster ausgebaut zu werden, in das die Reichswehr überführt werden sollte.207 Diese Ambitionen, die sowohl in den Reden und Schriften Röhms unverhüllt zum Ausdruck kamen als auch in den vermehrten Waffenkäufen der SA-Führung sowie ihren Versuchen, die von der Reichswehr für den Grenzschutz angelegten Waffendepots unter ihre Kontrolle zu bringen, waren nicht nur mit den Vorstellungen der professionellen Militärs inkompatibel, sondern auch mit denjenigen Hitlers, der sich längst für den Aufbau einer Wehrpflichtarmee entschieden hatte und Röhms Milizplänen endgültig am 28.2.1934 die Absage erteilte.208 Dass sie in gewisser Weise auch mit den Vorstellungen der eigenen Basis nicht vereinbar waren, an der sich eine wachsende Unzufriedenheit mit den Veralltäglichungstendenzen der nationalsozialistischen Revolution im Allgemeinen und der Zentralisierung, Hierarchisierung und Bürokratisierung der eigenen Organisation
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Vgl. ebd., S. 113. Vgl. Wolfgang Sauer: Die Mobilmachung der Gewalt, in: Karl Dietrich Bracher u. a.: Die nationalsozialistische Machtergreifung, 3 Bde., Frankfurt etc. 1974, Bd. 3, S. 223, 264, 267. 207 Vgl. ebd., S. 330; Longerich 1989 (wie Anm. 196), S. 186. 208 Vgl. Longerich 1989 (wie Anm. 196), S. 204. 206
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im Besonderen aufstaute, zeigt die Leichtigkeit, mit der Hitler am 30. Juni 1934 seinen Enthauptungsschlag gegen die SA-Spitze führen konnte. 3. Eine auf Zwecke der Agitation und der Wehrertüchtigung ausgerichtete Jugendmassenorganisation, eine elitäre Weltanschauungstruppe und ein zwischen bündischer Vergemeinschaftung und paramilitärischer Vergesellschaftung schwankender Kampfverband: Ein derart heterogenes Ensemble wäre kaum zusammenzuhalten gewesen, wenn die NSDAP stets die Glaubenspartei geblieben wäre, die sie bis zum Hitler-Ludendorff-Putsch von 1923 war. Als Hitler jedoch im Februar 1925 die Partei neu gründete, hatte er nicht vor, dieselben Fehler noch einmal zu begehen. Der Hauptfehler war aus seiner Sicht der von Anfang an zum Scheitern verurteilte direkte Angriff auf das staatliche Gewaltmonopol. Dieses in Zukunft zumindest formell zu respektieren (was die faktische Vorbereitung auf den Bürgerkrieg nicht ausschloss), hieß: das Schwergewicht auf die legalen Mittel des Machtgewinns zu verlagern, den Kampf um Wählerstimmen. Das aber bedeutete wiederum, dass die Partei nicht länger das sein konnte, was sie vor dem Marsch auf die Feldherrenhalle war oder besser gesagt sein wollte: eine Elitepartei, ein Zusammenschluss auserlesener, von der allgemeinen Dekadenz noch nicht erfasster Glaubenskämpfer, die dem vorgeblichen Terror des ‚Systems‘, des jüdisch-bolschewistischen Weltfeindes, mit Gegenterror zu begegnen und dafür ihr Leben einzusetzen bereit waren. Anstelle eines Blanquismus von rechts, das war die Lehre, die Hitler aus dem Debakel von 1923 zog, musste eine neue Taktik und vor allem eine neue Partei treten, die zwar weiterhin durch das Führerprinzip bestimmt sein sollte, sich in Zukunft aber ganz auf die Eroberung der Massen konzentrieren würde. Diese Neujustierung erfolgte nicht von einem Tag auf den anderen. Viele der Reden, die Hitler 1925 und 1926 hielt, bedienten nach wie vor die gleichen Topoi eines paranoiden Antisemitismus, die schon seine Bierhallenauftritte grundiert hatten. Gleichwohl ist bereits aufmerksamen zeitgenössischen Beobachtern wie Carlo Mierendorff aufgefallen, dass die NSDAP im Reichstagswahlkampf von 1930 nicht mehr im gleichen Maße wie früher auf die antisemitische Karte setzte und stattdessen stärker den Antikapitalismus (besser: Antiplutokratismus) und Antimarxismus betonte – eine Beobachtung, die seither durch verschiedene Analysen der NS-Propa-
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ganda ihre Bestätigung gefunden hat.209 Selbst in der SA, die immer wieder durch antisemitische Pöbeleien, Schändungen auf jüdischen Friedhöfen und an Synagogen sowie Anschläge auf jüdische Warenhäuser und Geschäftsleute auffiel, geschah dies eher situativ, aus Ressentiment anstatt aus ideologisch verdichteter Überzeugung.210 Nur ein Siebtel der von Peter Merkl untersuchten SA-Männer sah im Antisemitismus eine vorrangige ideologische Frage oder gar den Kern einer Weltanschauung.211 Das Motiv der vermeintlichen rassischen Unterminierung des deutschen Volkes gar, das in Hitlers frühen Reden eine so zentrale Rolle spielte, blieb zwischen 1930 und 1933 auf den Stürmer beschränkt. „Plakate, in denen das Gespenst des Rassentodes beschworen wurde, waren Ausnahme. Trotz Hitlers Fixierung auf eine biologische Vorstellung der Geschichte konzentrierte sich die antisemitische Propaganda der NSDAP primär auf wirtschaftliche Fragen. In der Außenpropaganda schien man Hitlers und Rosenbergs abstrusen biologischen Rassentheorien keine Mobilisierungskraft zuzutrauen.“212 Ein weiteres Indiz für die Abkühlung des Glutkerns, der die Glaubenspartei vor 1923 emporgetrieben hatte, ist die Neuakzentuierung des Antimarxismus. Dieser blieb zwar erhalten, verlor aber seine apokalyptische Zuspitzung und richtete sich jetzt weniger gegen den Bolschewismus als Exponenten der jüdischen Weltverschwörung als vielmehr gegen die Sozialdemokratie. Hinter der nicht abreißenden Serie von Diatriben, die von nationalsozialistischer Seite gegen die SPD abgefeuert wurden, standen nicht mehr die Glaubensfragen, die den Kampf gegen den Kommunismus stimuliert hatten, sondern wahltaktische Überlegungen, die darauf spekulierten, dass viele Wählerinnen und Wähler über die magere sozialpolitische Erfolgsbilanz der SPD enttäuscht und deshalb anfällig waren für die Verhei209
Vgl. Carlo Mierendorff: Was ist der Nationalsozialismus. Zur Topographie des Faschismus in Deutschland, in: Neue Blätter für den Sozialismus 2, 1931, S. 150; Ian Kershaw: Ideology, Propaganda and the Rise of the Nazi Party, in: Peter D. Stachura (Hrsg.): Hitlers Machtergreifung 1933, London 1983, S. 162-181, 167; ders.: Antisemitismus und NSBewegung vor 1933, in: Hermann Graml u. a. (Hrsg.): Vorurteil und Rassenhaß. Antisemitismus in den faschistischen Bewegungen Europas, Berlin 2001, S. 29-47, 31, 40 ff.; Oded Heilbroner: The Role of Nazi Antisemitism in the Nazi Party’s Activity and Propaganda. A Regional Historiographical Study, in: Yearbook of the Leo Baeck Institute 35, 1990, S. 397439; Gerhard Paul: Aufstand der Bilder. Die NS-Propaganda vor 1933, Bonn 1990, S. 236 ff. 210 Vgl. Reichardt 2002 (wie Anm. 4), S. 642. 211 Vgl. Peter H. Merkl: Political Violence under the Swastika. 581 Early Nazis, Princeton 1975, S. 32 f., 322 f., 453, 457, 522 f., 592. 212 Paul 1990 (wie Anm. 209), S. 238.
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ßungen eines anderen, nationalen Sozialismus.213 Wie der Wahlausgang 1930 zeigte, ging diese Spekulation auf, gelang es der NSDAP doch, jeden zehnten SPD-Wähler von 1928 zu sich hinüberzuziehen. Insgesamt sind zwischen 1928 und 1933 über drei Millionen Wähler und Wählerinnen von der SPD zur NSDAP gewandert.214 Das soll die in der Summe noch wesentlich größeren Gewinne nicht verdunkeln, die die NSDAP bei den bürgerlichen Parteien erzielte, muss aber allen Deutungen entgegengehalten werden, die von einer klaren Klassen- oder Standesbindung ausgehen. Gewiss: Die Idee einer „Wiedereroberung der proletarischen Masse für eine nationalistische Partei“215 gehört zu den frühesten Leitmotiven Hitlers, die sich schon in seinen ersten politischen Äußerungen nachweisen lassen. In der alten völkischen, auf den städtischen Mittelstand ausgerichteten NSDAP hatte sie indes nur begrenzte Resonanz gefunden, die kaum über Lippenbekenntnisse hinausging, im Übrigen auch von Hitler selbst fortwährend konterkariert wurde, der nicht anstand, „das Schicksal des Mittelstandes“ mit dem „Schicksal des deutschen Volkes“ gleichzusetzen.216 Nach 1925 dagegen, verstärkt ab 1930, kam in der NSDAP eine neue, jüngere Generation zu Wort, die sich nicht mehr am herkömmlichen völkischen Nationalismus orientierte, sondern an dem seit 1925 unter den Wehrverbänden und Teilen der Bündischen Jugend aufkommenden, vor allem die Gewinnung der Arbeiterschaft akzentuierenden „neuen Nationalismus“.217 Auch wenn Hitler deren Ambitionen auf eine Neuausrichtung des Programms blockierte, nahm er doch ihre Impulse auf und räumte ihnen entscheidenden Einfluss auf die Gestaltung des Erscheinungsbildes der Partei ein. Gregor Straßer, der gemeinsam mit seinem Bruder Otto 1925/26 einen Entwurf vorgelegt hatte, der umfangreiche Nationalisierungen der Industrie vorsah,218 wurde 1926/27 Reichspropagandaleiter, dann bis 1932 Reichsor213
Vgl. ebd., S. 225. Vgl. Jürgen W. Falter: Hitlers Wähler, Darmstadt 1991, S. 110, 116. 215 Paul 1990 (wie Anm. 209), S. 17. 216 Adolf Hitler: Die Politik der Vernichtung unseres Mittelstandes. Rede vom 28.9.1922, in: Hitler 1980 (wie Anm. 153), S. 698. 217 Vgl. der Sache nach, wenn auch zu sehr im Sinne eines innervölkischen Gegensatzes gedeutet: Orlow 1969 (wie Anm. 131), S. 47 f. Näher dazu Stefan Breuer: Neuer Nationalismus in Deutschland, in: Uwe Backes (Hrsg.): Rechtsextreme Ideologien in Geschichte und Gegenwart, Köln 2003, S. 53-72; Nationalismus und Faschismus. Frankreich, Italien und Deutschland im Vergleich, Darmstadt 2005, S. 162 ff. 218 Vgl. Kühnl 1966 (wie Anm. 151). 214
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ganisationsleiter der NSDAP und war in dieser Funktion für die Organisation sämtlicher Wahlkämpfe der Partei verantwortlich;219 der aus dem Straßer-Kreis kommende Joseph Goebbels wurde 1926 Gauleiter von Berlin und 1930 Reichspropagandaleiter; die Leitung seiner Hauptabteilungen besetzte er mit jungen Aktivisten wie Heinz Franke (*1903), Horst DreßlerAndreß (*1899) und Arnold Raether (*1899), die ihre politische Sozialisation im Wiking-Bund, im Jungdeutschen Orden und im Stahlhelm erfahren hatten.220 Unter ihrer Federführung wurde die NSDAP zu einer Partei, die die Eierschalen der völkischen Glaubenspartei abstreifte und zu einer Volkspartei mutierte, die Einbrüche in die Klientel aller Milieuparteien erzielte, darunter auch der sozialistischen Parteien. Das Geheimnis ihres Erfolges lag dabei nicht zuletzt in der Virtuosität, mit der sie auf den Registern der Vergesellschaftung und der Vergemeinschaftung zugleich spielte. Zweckrational und damit vergesellschaftend war der Appell an die Interessen eines breiten Spektrums von Zielgruppen, das den Landadel ebenso umfasste wie die Landarbeiter und die Bauern, den städtischen Mittelstand ebenso wie die Industriearbeiterschaft; zweckrational auch die Verheißung des sozialen Aufstiegs, sei es in Form einer Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess, wie dies viele Arbeitslose ersehnten, sei es in Form einer Übernahme in die Reichswehr, wie sie zumal in den Führungsriegen der SA erhofft wurde. Wertrational und damit ebenfalls vergesellschaftend war die in flagrantem Widerspruch hierzu propagierte Abwertung der Interessenorientierung, die dem an die Adresse der „Systemparteien“ gerichteten Vorwurf zugrunde lag, zu reinen Interessenparteien verkommen zu sein, welche das Allgemeinwohl aus dem Auge verloren hätten,221 war die permanente Beschwörung der Volksgemeinschaft und des Vaterlandes als des einzigen Gottes auf Erden.222 Auf Vergemeinschaftung schließlich war der gesamte Stil der Propaganda angelegt, die Mobilisierung gefühlsgeladener Bilder und Pseudomythen, die stark antithetisch angelegt waren und tief in den Vorrat religiöser Symbole und Metaphern griffen; die Evozierung von ritueller Reinigung, Erlösung und Wiedergeburt; die ästhetische Inszenierung liturgisch durchgeformter Massenversammlungen und Aufmärsche, die dar219
Vgl. Udo Kissenkoetter: Gregor Straßer und die NSDAP, Stuttgart 1978, S. 120. Vgl. Paul 1990 (wie Anm. 209), S. 71, 75, 280. 221 Vgl. ebd., S. 90. 222 Vgl. Adolf Hitler: Reden, Schriften, Anordnungen. Februar 1925 bis Januar 1933, hrsg. vom Institut für Zeitgeschichte, München etc. 1994, Bd. III.1, S. 110. 220
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auf angelegt waren, die Distanz der Teilnehmer aufzuheben und ihre rationalen Kräfte so weit zu reduzieren, dass sie für das Charisma der Rede empfänglich waren; die Formierung temporärer Erlebnisgemeinschaften, in denen nicht der Diskurs über Inhalte im Vordergrund stand, sondern die Verschmelzung von Fremden im Massenrausch, in der kollektiven Ekstase.223 In dieser Spannweite war die NSDAP um 1930 konkurrenzlos. Wenn die NSDAP im Gefolge dieser Entwicklung mehr und mehr molluskenartige Züge annahm, so soll dies doch nicht heißen, dass die ursprünglichen Motive und Impulse gänzlich ausgelöscht worden seien. Das ist natürlich nicht der Fall. Hitler hat an einem großen Teil seiner zwischen 1919 und 1923 gefassten Überzeugungen und Ideen zweifellos auch nach 1925 festgehalten und daraus immer wieder weitreichende Entscheidungen abgeleitet, wie dies mit Recht speziell für die Verbindung von eliminatorischem Antisemitismus, Rassen- und Lebensraumideologie geltend gemacht worden ist.224 Dass eine charismatische Führerpartei schon von ihrer Struktur her der Verwirklichung subjektiver Absichten und Ziele eine Fülle von Chancen bietet, sollte jedoch nicht dazu verleiten, die Systematik und die Verbindlichkeit dieser Absichten und Ziele zu überschätzen. Mit Blick auf das NSVerbrechen kat’exochen, den Mord an den europäischen Juden, ist gezeigt worden, dass es sich nicht um die Durchführung eines von vornherein feststehenden Plans handelte, sondern um einen Prozess, in dem Zielvorstellungen mehrmals korrigiert, Schritte zur Umsetzung geplant, geprüft und wieder fallengelassen wurden.225 Auch auf zahlreichen anderen Politikfeldern gab es wohl Vorgaben der Führung, aber diese waren weder so einheitlich noch so präzise wie oft angenommen; Lösungen und Strategien mendelten sich erst allmählich heraus, unter ständiger Beteiligung von Experten und Deutungseliten, die die Konturlosigkeit selbst zentraler Begriffe des „Nationalsozialismus“ als Einladung verstanden, die Interpretationsspielräume schöpferisch auszugestalten.226 In diesem Sinne lässt sich die Entwicklung der NSDAP als eine Variation zu Herbert Spencers Gesetz der Evolution auffassen, die statt 223
Vgl. Paul 1990 (wie Anm. 209), S. 120 ff., 251 f. Vgl. etwa Andreas Hillgruber: Die ‚Endlösung‘ und das deutsche Ostimperium als Kernstück des rassenideologischen Programms des Nationalsozialismus, in: Wolfgang Wippermann (Hrsg.): Kontroversen um Hitler, Frankfurt 1986, S. 219-247. 225 Vgl. Christian Gerlach: Krieg, Ernährung, Völkermord, Hamburg 1998, S. 293. 226 Vgl. Lutz Raphael: Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft: Weltanschauungseliten und Humanwissenschaftler im NS-Regime, in: Geschichte und Gesellschaft 27, 2001, S. 5-40, 28 f. 224
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von inkohärenter Homogenität zu kohärenter Heterogenität von kohärenter Homogenität zu inkohärenter Heterogenität führt.
Anhang: Karrierewege von der Bündischen Bewegung der Weimarer Republik in die NS-Eliten 1. Bündische Jugend: Mitglieder der Adler und Falken stiegen auf in das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS (Horst Rechenbach, Adolf Babel), wurden SS-Hauptscharführer und Lektor im Rassenpolitischen Amt der NSDAP (Kurt Holler), SS-Hauptscharführer im SD (Alfred Pudelko) und SS-Hauptsturmführer und SD-Mitarbeiter (Georg Scherdin) oder Reichshauptstellenleiter der Hauptstelle Weltanschauung im Amt Rosenberg und dessen Verbindungsmann zum SD-Hauptamt (Matthes Ziegler); Angehörige der Artamanen wurden SS-Brigadeführer und Leiter des Hauptschulungsamtes der NSDAP (Friedrich Schmidt) oder nahmen in der Reichsjugendführung Positionen als Referenten und Abteilungsleiter ein (Rudolf Proksch, Ernst Schulz, Albert Wojirsch). Aus dem Mitbegründer des Kronacher Bundes wurde der Leiter der sprachsoziologischen Abteilung im SS-Ahnenerbe (Georg Schmidt-Rohr); aus dem Führer des Wandervogels/Deutscher Bund ein Mitarbeiter im Amt Rosenberg (Erich Kulke); aus dem Bundesfeldmeister des Deutschen Pfadfinderbundes Westmark der Führer der NS-Frauenschaft und Reichstagsmitglied für die NSDAP (Gottfried Krummacher); aus dem Bundesführer der Schilljugend für Österreich der SA-Obersturmbannführer und Leiter des Gauamtes für Kommunalpolitik des Gaues Salzburg und Gauhauptstellenleiter für das Fürsorge- und Wohlfahrtswesen (Robert Lippert). Studentische Wehrschafter avancierten zum Abteilungsleiter in einer dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda angegliederten Stelle (Theodor Adamheit); Mitglieder des Jungnationalen Bundes zu Inspekteuren der Reichsjugendführung (Günther Blum, Lydia-Maria SchürerStolle). Auch in die Spitzen von HJ und BDM führten einige Wege, wie z. B. diejenigen von Rudolf Martin Schmidt (Adler und Falken), von Artur Grosse und Gotthart Ammerlahn (Jungnationaler Bund), Hein Schlecht (Freischar Schill) oder Werner Georg Haverbeck (Ernst-Moritz-Arndt-Bund).227 227
Vgl. dazu im Einzelnen die Kurzbiographien in Buddrus 2003 (wie Anm. 176), Bd. 2, S. 1111 ff. sowie Breuer und Schmidt 2010 (wie Anm. 175).
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2. Wehrverbände: Ehemalige Ehrhardt-Brigadisten bzw. Mitglieder des Bund Wiking sind u. a. der Chef des Erfassungsamtes im SS-HA und spätere HSSPF Rußland-Mitte Kurt von Gottberg; der Leiter des SS-Abschnitts III (Ost) Hans Kobelinski; der Gauleiter von Hamburg und SS-Obergruppenführer Karl Kaufmann; der Führer der SA in Mitteldeutschland und spätere Reichskommissar und Ministerpräsident von Sachsen Manfred von Killinger; der SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS Friedrich-Wilhelm Krüger; der Rassereferent im RuSHA und Chef der Amtsgruppe D im SSHauptamt Rudolf Jacobsen; die Führer im RuSHA Richard Schill und Franz Vietz; der Gauleiter von Ostpreußen und Reichskommissar für die Ukraine Erich Koch; die SA-Führer Adolf-Heinz Beckerle, Dietrich von Jagow, Hans Günther von Obernitz, Fritz Vielstich und Werner von Fichte; die HJ-Führer bzw. RJF-Mitglieder Gerd Kurt Wegner und Willi B. Becker sowie – last, but not least – der von Ehrhardt der NSDAP zur Verfügung gestellte erste SAFührer Marineleutnant a.D. Hans-Ulrich Klintzsch. Von Roßbach her kommen der Inspekteur für das Reit- und Fahrwesen beim SS-Führungshauptamt und Kommandeur der SS-Kavalleriedivision Hermann Fegelein; der Kommandant von Auschwitz SS-Obersturmbannführer Rudolf Höß; der Chef des Amtes II – Bauten des Hauptamts Haushalt und Bauten der SS Hans Kammler; der Mitarbeiter im RSHA Kurt Stage; der Reichsleiter, SS-Obergruppenführer und SA-Obergruppenführer Martin Bormann; der SS-Oberstgruppenführer und Generaloberst der Polizei Kurt Daluege; der Führer im RuSHA SS-Obersturmbannführer Otto Heidt sowie die SA-Obergruppenführer Edmund Heines und Wolf-Heinrich Graf von Helldorf. Eine Oberland-Vergangenheit haben der Leiter der Leibstandarte Adolf Hitler und Panzergeneral der Waffen-SS Joseph „Sepp“ Dietrich; der Generalinspekteur der Verwaltung des Reichsprotektorats Böhmen-Mähren und HSSPF Warthe Heinz Reinefarth; der Chef des RuSHA Richard Hildebrandt; der Reichsführer SS Heinrich Himmler; der Reichsärzteführer Gerhard Wagner; der SSStandartenführer Emil Maurice; der RuS-Führer Südwest bzw. Warthegau Herbert Hübner; der RuS-Führer und spätere Leiter des Sippenamtes im RuSHA Richard Kaaserer; der RuSHA-Stabsführer Guntram Pflaum; der Geschäftsführer der Reichskulturkammer Hans Hinkel; der SA-Obergruppenführer und Gauleiter von Magdeburg-Anhalt Rudolf Jordan; der Reichstierärzteführer und SS-Gruppenführer Friedrich Weber; der SS-Hauptsturmführer Hans Johann Beck sowie die Referenten der RJF Lothar Freiherr Fellner von Feldegg und Karl Haiding. Auch andere Kampfbünde haben Perso154
nal für die NS-Eliten gestellt: etwa der Stahlhelm mit Erich von dem BachZelewski (SS-Obergruppenführer und Chef der Einsatzgruppe B im Russlandfeldzug), Ludolf von Alvensleben (Adjutant des RFSS und HSSPF Elbe), Hermann Dunkel (SS-Führer im RuSHA), Erich Husmann (Schulungsleiter im RuSHA), Hermann Reischle (Führer im RuSHA), Andreas von Flotow (Führer der SA Ostsee), Elhard von Moroziwicz (SA-Gruppenführer im Stab der OSAF), Richard Reckewerth (RJF); der Wehrwolf mit Otto Kumm (SSBrigadeführer), Paul Hinkler (Gauleiter der NSDAP von Halle-Merseburg, Polizeipräsident von Altona, später Wuppertal), Hans Gründeberg (Gauinspektor und Gauamtsleiter der NSDAP, MdR), Paul Binus (Standartenführer der SA in Neustadt und MdL) u. v. a; die Reichs(kriegs)flagge mit Edmund Trinkl (RSHA), Hermann Aulbach, Karl-Walter Kondeyne, Helmut Stellrecht (alle RJF); der Jungdeutsche Orden mit Viktor Lutze (späterer Stabschef der SA und Nachfolger von Ernst Röhm), Alwin Wipper (RSHA); Walter Gross (Leiter des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP); Reinhard Höhn (SS-Standartenführer und Oberführer, Hauptamtsleiter im SD-Hauptamt), Wilhelm Saure (RuSHA), Walter Scholz (RuS-Führer Breslau), Lühr Hogrefe (HJ-Führer Nordsee-Oldenburg), Erwin Baumann, Christian Krüger, Albert Merklein (alle RJF); der Tannenbergbund mit Viktor Brack (Stabsleiter im Braunen Haus, verantwortlich für Durchführung der T4-Aktion); die Schwarze Reichswehr mit Oberleutnant a. D. Paul Schulz (Stellv. d. Reichsorganisationsleiters I), Polizeihauptmann a. D. Walther Stennes (SA-Führer Oberost); der Frontbann mit Ernst Röhm (Oberster Stabschef der SA).228
228
Die Angaben basieren auf den Personenglossaren in Peter Hüttenberger: Die Gauleiter. Studien zum Wandel des Machtgefüges in der NSDAP, Stuttgart 1969, S. 213 ff.; Ruth Bettina Birn: Die Höheren SS- und Polizeiführer, Düsseldorf 1986, S. 330 ff.; Wildt 2003 (wie Anm. 174), S. 933 ff.; Heinemann 2003 (wie Anm. 182), S. 609 ff.; Buddrus 2003 (wie Anm. 176). Ergänzend wurden herangezogen: Hermann Weiß (Hrsg.): Biographisches Lexikon zum Dritten Reich, Frankfurt 1998; Ronald Smelser und Enrico Syring (Hrsg.): Die SS: Elite unter dem Totenkopf. 30 Lebensläufe, 2. durchges. und aktualisierte Auflage, Paderborn etc. 2003; Campbell 2004 (wie Anm. 193); Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich, Darmstadt 2003; Bernhard Sauer: Goebbels ‚Rabauken‘. Zur Geschichte der SA in BerlinBrandenburg, in: Berlin in Geschichte und Gegenwart. Jahrbuch des Landesarchivs Berlin 2006, hrsg. von Uwe Schaper, S. 107-164; ders.: Freikorps und Antisemitismus in der Frühzeit der Weimarer Republik, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 56, 2008, S. 5-29; Roger Uhle: Neues Volk und reine Rasse. Walter Gross und das Rassenpolitische Amt der NSDAP (RPA) 1934-1945, Phil. Diss. Aachen 1999; Dietrolf Berg: Der Wehrwolf 19231933. Vom Wehrverband zur nationalpolitischen Bewegung, Toppenstedt 2008, S. 365 f.
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„Deutscher Faschismus“ – Das italienische Vorbild in der radikalen Rechten der Weimarer Republik
Von einer rechtsradikalen Partei, die so erfolgreich nach der politischen Macht griff wie der italienische Faschismus, sollte man meinen, dass sie auch den rechtsradikalen Parteien anderer Länder als Vorbild hätte gelten müssen. In Deutschland, wo die Vorgänge in Italien so intensiv verfolgt wurden wie in keinem anderen Land,1 war dies jedoch nur sehr bedingt der Fall. Bei den Deutschnationalen widmete zwar der Kreis um Alfred Hugenberg, der 1928 die Parteiführung übernahm, von Anfang an dem „System Mussolini“ hohe Aufmerksamkeit, die zunächst durchaus mit Bewunderung gepaart war,2 doch wich diese in dem Maße einer Ernüchterung, wie das 1
Vgl. Jens Petersen: Der italienische Faschismus aus der Sicht der Weimarer Republik, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 55/56, 1976, S. 315360; Wolfgang Schieder: Das italienische Experiment. Der Faschismus als Vorbild in der Krise der Weimarer Republik, in: Historische Zeitschrift 262, 1996, S. 73-125; Maurizio Bach: Faschismus und Führerkult – Ein problematischer italienischer Export, in: Franziska Meier (Hrsg.): Italien und Europa. Der italienische Beitrag zur europäischen Kultur, Innsbruck u.a. 2007, S. 187-194. 2 Vgl. das im Scherl-Verlag erschienene Buch von Ludwig Bernhard: Das System Mussolini, Berlin 1924, S. 131 f. Bernhard (1875-1935) gehörte um die Jahrhundertwende zu Hugenbergs Posener Kreis und blieb auch während der Weimarer Republik Hugenberg eng verbunden, über dessen Konzern er ein Buch veröffentlichte (Der Hugenberg-Konzern. Psychologie und Technik einer Großorganisation, Berlin 1928). Zu seiner Biographie vgl. Heidrun Holzbach: Das „System Hugenberg“. Die Organisation bürgerlicher Sammlungspolitik vor dem Aufstieg der NSDAP, Stuttgart 1981, S. 36. Auch ein weiteres Mitglied dieses Kreises, Hans Meydenbauer (1873-1932), warb zu dieser Zeit für den italienischen Faschismus. Vgl. seine Aufsätze: Faschistische Eindrücke, in: Preußische Jahrbücher Bd. 201, Juli 1925, H. 1, S. 105-109; Faschistischer Fortschritt, ebd., Bd. 202, November 1925, S. 271-275. Zur Person vgl. die knappen Angaben bei Holzbach 1981, S. 35. Zustimmend äußerte sich aus Hugenbergs Umgebung immerhin noch 1931 Reinhold Quaatz (1876-1953), dem am Faschismus vor allem die ‚preußischen‘ Züge gefielen: vgl. seinen Artikel „Italienischer Nationalismus“, in: Das Freie Deutschland. Nationale Zeitschrift für Politik und Wirtschaft, Nr. 8 vom 21.11.1931, S. 242-249.
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Regime den Wirtschaftsliberalismus staatlichen Einschränkungen unterwarf. 1931 sah Bernhard das System an der Schwelle zum „Staatssozialismus“ und warnte deshalb vor einer Nachahmung. Ein gut funktionierender Parlamentarismus sei einem gut geleiteten Faschismus allemal vorzuziehen.3 Bei den Völkischen dämpfte der Reichswart schon früh alle etwa aufkommende Begeisterung und erklärte sich außerstande, „etwas Gemeinsames, geschweige denn eine übernationale Solidarität zwischen beiden Bewegungen zu entdecken.“ Mussolini habe als Freimaurer, Sozialist und Pazifist begonnen und diese Eierschalen nie ganz abgestreift. Bis heute sei er „niemals wirklich für einen Kampf gegen das Judentum in Betracht gekommen.“4 „Mit dem italienischen Faszismus“, so der Mitbegründer der Deutschvölkischen Freiheitspartei Artur Dinter in seiner ersten Rede im thüringischen Landtag am 29.2.1924, „hat die völkische Bewegung nichts, aber auch gar nichts gemein, als die nationale Einstellung“.5 Auch die Nachfolgeorganisation dieser Partei, die 1925 gegründete Deutschvölkische Freiheitsbewegung, grenzte sich deutlich von der faschistischen Methode des gewaltsamen Umsturzes ab und erklärte, ein Mussolini sei in Deutschland nicht möglich; den Vorgaben Ludendorffs folgend,6 sah man Italien ganz im Würgegriff der „überstaatlichen Mächte” (Rom, Juda und Freimaurertum) und verbuchte den Faschismus auf der Seite der Feinde Deutschlands7 – eine Auffassung, die mit Blick auf die Südtirolpolitik auch vom Alldeutschen Verband geteilt wurde.8 Selbst in der NSDAP, deren Führer gern als der deutsche Mussolini präsen3
Vgl. Ludwig Bernhard: Der Staatsgedanke des Faschismus, Berlin 1931, S. 35, 42. Reichswart 4, 1923, Nr. 49. 5 Mecklenburger Warte / Rostocker Zeitung 18, 1924, Nr. 54. 6 Zur Sichtweise Ludendorffs vgl. etwa die Beiträge: Mussolini und die Freimaurerei, in: Deutsche Wochenschau 5, 1928, Nr. 19; Rom, Mussolini und wir, ebd. 6, 1929, Nr. 8; Sozialismus, Bolschewismus, Faschismus I-II, in: Ludendorffs Volkswarte 1, 1929, Nrn. 6 und 8. Ferner, besonders pointiert: Erich Ludendorff: Weltkrieg droht auf deutschem Boden, München 1930. 7 Vgl. den ungezeichneten Artikel: Mussolini in jüdischer Hand, in: Mecklenburger Warte / R.Z.18, 1924, Nr. 214; Reinhold Wulle: Deutsche Politik 1925, Berlin 1926, S. 14; [o. V.]: Sozialismus oder Faschismus? Hitler und Italien; Hitler und Rom, in: Deutsche Nachrichten 4, 1929, Nr. 11; Fritz Hilgenstock: Faschistische oder deutsche Staatsform? (Unsere Waffen, 21. Folge. Rüstzeug der Deutschvölkischen Freiheitsbewegung), Berlin 1930; ders.: Die Entwicklung des Faschismus, in: Mecklenburger Warte / R.Z. 25, 1931, Nr. 7; Reinhold Wulle: Völkisch oder faschistisch? in: Deutsche Nachrichten 8, 1933, Nr. 7. 8 Vgl. Hertha Schemmel: Der Faschismus im Licht des Alldeutschen Gedankens, in: Alldeutsche Blätter 39, 1929, S. 77-79. 4
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tiert wurde und sich wohl auch selbst so verstand,9 war die Distanz erheblich. Zumal der Völkische Beobachter war in seiner Anfangszeit ein Spiegelbild der in der völkischen Publizistik kursierenden Vorwürfe, dass der Faschismus die Italianisierungspolitik in Südtirol mittrage, sich zu sehr den Einflüssen der Freimaurer, der römischen Kirche, der jüdischen Plutokratie öffne, dem Futurismus zu breiten Raum gebe usw. usw.10 Erst nach der Neugründung der NSDAP 1925, und auch dann nur mit begrenzter Tiefenwirkung gegenüber nach wie vor bestehenden Widerständen, hat sich Hitler mit seiner Auffassung durchsetzen können, der zufolge Italien der gegebene Bündnispartner Deutschlands und die NSDAP die deutsche Parallele zum italienischen Faschismus war.11
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Vgl. die Zeugnisse bei Jens Petersen: Hitler – Mussolini. Die Entstehung der Achse Berlin – Rom 1933-1936, Tübingen 1973, S. 113 f.; Hans Woller: Machtpolitisches Kalkül oder ideologische Affinität. Zur Frage des Verhältnisses zwischen Mussolini und Hitler vor 1933, in: Wolfgang Benz u. a. (Hrsg.): Der Nationalsozialismus, Frankfurt 1993, S. 42-63; Schieder 1996 (wie Anm. 1), S. 108 ff. 10 Vgl. Karl-Egon Lönne: Der ‚Völkische Beobachter‘ und der italienische Faschismus, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 51, 1971, S. 539-584. Typisch für die völkische Publizistik sind etwa die ungezeichneten Artikel im Hammer: Was ist es um Jaurès und Mussolini? (22, 1923, Nr. 495-497); Zum Kapitel Mussolini (ebd., Nr. 498); Mussolini in den Händen der Finanzjuden (23, 1924, Nr. 534); Mussolini im goldenen Netz? (ebd., Nr. 518); Die Völkischen und der Faschismus (ebd., Nr. 530); Mussolini, Freimaurerei und Rechtsprechung (24, 1925, Nr. 562); im Reichswart: Gedanken zu Mussolini (4, 1923, Nr. 49); Mussolini (7, 1926, Nr. 46); Bolschewismus – Faschismus (8, 1927, Nr. 45); Mussolini und der Vatikan (10, 1929, Nr. 7); im deutschvölkischen Deutschen Tageblatt bzw. der Mecklenburger Warte: Marsch auf Rom (16, 1922, Nr. 255); Mussolini in jüdischer Hand (18, 1924, Nr. 214). Zur Kritik der Rolle des Futurismus im Faschismus vgl. aus nationalsozialistischvölkischer Sicht Adolf Dresler: Der politische Futurismus als Vorläufer des italienischen Faschismus, in: Preußische Jahrbücher 217, 1929, S. 334-342. 11 Die Widerstände konnten sowohl wirtschafts- wie rassenpolitisch begründet sein. Vgl. für die erste Variante den Beitrag von „Dr. W.“ in den von Goebbels herausgegebenen Nationalsozialistischen Briefen: Fascismus und Nationalsozialismus im Ringen um die Gestaltung des neuen Staates (29. Brief vom 1.12.1926), der dem Faschismus vorwirft, vor dem Privateigentum an den Produktionsmitteln haltgemacht zu haben, oder die Polemik Erich Kochs gegen Hans Reupkes Schrift Der Nationalsozialismus und die Wirtschaft (Sind wir Faschisten? in: Arbeitertum, 1.7.1931). Für einen so prominenten NS-Ideologen wie Alfred Rosenberg blieb das faschistische Italien in rassenpolitischer Hinsicht auch weiterhin ein zweifelhafter Kandidat und galt selbst noch in der Zeit der Achse als Hort des „römisch-syrischen Christentums“: vgl. Petersen 1973 (wie Anm. 9), S. 276; Ernst Piper: Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe, München 2005, S. 154 f.
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Wesentlich positiver war dagegen die Einstellung zum Faschismus in jenem Teil der Rechten, der aus dem deutschen combattentismo erwuchs, jenem gewaltigen Reservoir überzähliger, nicht verwendungsfähiger Krieger, das sich anfangs in den Freikorps und Zeitfreiwilligenverbänden und Einwohnerwehren, später dann in den zahlreichen Wehr- und Kampfbünden organisierte, deren Anhängerschaft die NSDAP lange Zeit um ein Vielfaches übertraf.12 Im Kreis dieser Bünde, die in der Nachkriegszeit nicht nur Aufgaben der Grenzsicherung übernahmen, sondern auch im Innern zur Domestizierung der extremen Linken eingesetzt wurden, lizenziert und finanziert durch den Staat, wurde mehrfach die Forderung nach einem „Marsch auf Berlin“ erhoben, der nach dem Vorbild Mussolinis den Parlamentarismus in die Knie zwingen und durch eine rechte Diktatur ablösen sollte,13 wurden Pläne ventiliert, an der deutschen Ostgrenze durch hand-
12 Beim Hitler-Ludendorff-Putsch im November 1923 hatte die NSDAP rund 55 000 Mitglieder, ein Stand, den sie nach ihrer Wiederzulassung erst 1927 wieder erreichte. 1929 lag die Zahl immer noch bei 121 000: vgl. Michael H. Kater: The Nazi Party. A Social Profile of Members and Leaders 1919-1945, Cambridge, Mass. 1983, S. 263. Die Wehr- und Kampfbünde (Stahlhelm, Jungdeutscher Orden, Wehrwolf, Wiking, Oberland, Reichsflagge, Tannenbergbund) haben diese letztere Zahl deutlich übertroffen: nach Kurt Finker um das Sechsfache, nach vorsichtigeren Schätzungen, die für den Stahlhelm nur von 250 000 und für die übrigen Verbände von insgesamt 110-120 000 Mitgliedern ausgehen, immerhin noch um mehr als das Dreifache. Vgl. Kurt Finker: Die militaristischen Wehrverbände in der Weimarer Republik, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 14, 1966, S. 357-377; Joachim Tautz: Militaristische Jugendpolitik in der Weimarer Republik. Die Jugendorganisationen des Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten: Jungstahlhelm und Scharnhorst, Bund deutscher Jungmannen, Regensburg 1998, S. 89. Nach Klaus Hornung: Der Jungdeutsche Orden, Düsseldorf 1958, S. 51 und 59, liegt die Mitgliederzahl dieses Verbandes zwischen 75 000 (1925) und 37 000 (1932). Der Wehrwolf, der Mitte der 20er Jahre noch 60 000 Mitglieder hat, ist 1929 auf ein Viertel dieses Bestandes geschrumpft (vgl. Dietrolf Berg: Der Wehrwolf 1923-1933. Vom Wehrverband zur nationalpolitischen Bewegung, Toppenstedt 2008, S. 65, 235). In dieser Größenordnung bewegen sich auch der Tannenbergbund und die Verbände der Bündischen Jugend: vgl. Frank Schnoor: Mathilde Ludendorff und das Christentum. Eine radikale völkische Position in der Zeit der Weimarer Republik und des NS-Staates, Egelsbach etc. 2001, S. 207; Stefan Breuer: Resonanzen der Kulturkritik. Am Beispiel der Bündischen Jugend, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 1, 2007, S. 271-290. 13 Vgl. am Beispiel der „Schwarzen Reichswehr“ 1923: Bernhard Sauer: Goebbels ‚Rabauken‘. Zur Geschichte der SA in Berlin-Brandenburg, in: Berlin in Geschichte und Gegenwart. Jahrbuch des Landesarchivs Berlin 2006, S. 107-164, 109. Für eine Münchner Parallele in der Arbeitsgemeinschaft der Vaterländischen Kampfverbände vgl. Volker Berghahn: Der Stahlhelm. Bund der Frontsoldaten, Düsseldorf 1966, S. 41.
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streichartiges Vorgehen ein ‚deutsches Fiume‘ zu etablieren,14 wurde schließlich auch das Projekt eines „deutschen Faschismus“ diskutiert, das zwar über eine ephemere Bedeutung nicht hinausgelangte, doch gerade für die vergleichende Analyse Interesse beanspruchen kann.
I. In der zweiten Hälfte der Weimarer Republik erschienen in der rechten Publizistik mehrere Beiträge, die sich unter der Überschrift „Deutscher Faschismus“ mit der Übertragbarkeit des italienischen Vorbilds beschäftigten. Den Auftakt machte im April 1927 Helmut Franke mit einer dreiteiligen Artikelserie im Arminius, auf die schon im folgenden Monat Heinrich von Gleichen im Gewissen antwortete. Drei Jahre später setzte Max von Binzer die Sache im Deutschen Adelsblatt erneut auf die Tagesordnung, nachdem er bereits 1928 in dem in Lausanne erscheinenden Jahrbuch des Centre International d’Etudes sur le Fascisme Parallelen zum Faschismus bei den Alldeutschen, den Deutschnationalen, im Konservatismus und im Stahlhelm ausgemacht hatte. Ein weiterer Artikel von Willy Hellpach erschien im November 1932 im Sonderheft der Europäischen Revue zum Thema „Zehn Jahre Faschismus“.15 Während Hellpach, Professor der Psychologie an der Universität Heidelberg, sich als schlechter Prophet erwies, der Deutschland auf dem Weg zu 14 So Duesterberg im Juli 1925 im Stahlhelm-Bundesvorstand. Vgl. Finker 1966 (wie Anm. 12) , S. 369. 15 Vgl. Helmut Franke: Der deutsche Faschismus. Versuch einer Gesamtdarstellung, in: Arminius 8, 1927, H. 14-16; Heinrich von Gleichen: Deutscher Faschismus? in: Gewissen 9, 1927, Nr. 19; Max von Binzer: Deutscher Faschismus, in: Deutsches Adelsblatt 48, 1930, Nr. 25; ders.: Les courants d’opinion fascistes en Allemagne, in: Centre International d’Etudes sur le Fascisme: Annuaire 1928, S. 187-204; Willy Hellpach: Deutscher Fascismus? In: Europäische Revue 8, 1932, H. 11. Näher zum Arminius und zum Gewissen: Stefan Breuer: Italia docet: sed quid? Le fascisme italien dans les écrits néonationalistes sous la République de Weimar, in: Olivier Dard und Etienne Deschamps (Hrsg.): Les relèves en Europe d’un aprèsguerre à l’autre, Bruxelles 2005, S. 53-75. Zum Centre International d’Etudes sur le Fascisme vgl. Beate Scholz: Italienischer Faschismus als ‚Export‘-Artikel (1927-1935). Ideologische und organisatorische Ansätze der Verbreitung des Faschismus im Ausland, Diss. Trier 2001, S. 225 ff. Zur Europäischen Revue vgl. Ina Ulrike Paul: Konservative Milieus und die Europäische Revue, in: Michel Grunewald und Uwe Puschner (Hrsg.): Das konservative Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1890-1960), Bern 2003, S. 509-556.
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einer konservativen Demokratie sah und schlechterdings niemanden zu erblicken vermochte, „der einen echten Fascismus verwirklichen kann und will“, fiel das Urteil Heinrich von Gleichens schon ambivalenter aus. Der Gründer und Leiter des Deutschen Herrenklubs, der unter Franz von Papen einen erheblichen Teil der Regierung stellen sollte, attestierte der Bewegung Mussolinis immerhin den „Karakter (sic) eines genialen Experiments“, dessen Anfang durchaus gelungen sei. Ein „deutscher Faschismus“, wie er vor allem von der Frontkämpferbewegung zu erwarten sei, könne davon lernen, doch müsse beachtet werden, dass er sich nicht wie in Italien von einer persönlichen Diktatur aus organisieren lasse, „die auf Befehl wieder das alte Frontheer einberuft.“ Worauf es ankomme, sei die „Dreieinigkeit von Frontkämpferbewegung, nationalistischer Oberschicht und dem Symbol unseres geschichtlichen Erbes“ herzustellen. Wenn dies geschehen und die gegenwärtige Verfassung überwunden sei, „dann ist nicht ein deutscher Faschismus Wirklichkeit geworden, sondern ein deutscher Staat – das Reich.“ Nichts mehr von Ambivalenz war dagegen bei Max von Binzer zu spüren, dessen Beitrag den Höhepunkt einer regelrechten Werbekampagne für den Faschismus markiert.16 Die Bewegung Mussolinis erschien ihm als „eine starke Parallele zu unserer deutschen Stahlhelm-Bewegung, nur mit dem Unterschied, daß der Faschismus sein Ziel erreicht hat“. Auch die Grundsätze des Regimes fanden seine volle Zustimmung, glaubte er doch, „etwas vom Geist des alten Potsdam“ darin zu erkennen.17 Zwar sei manches noch nicht vollendet, zwar sei auch die italienische Politik alles andere als deutschfreundlich, wie sich in Südtirol zeige, doch enthalte der Faschismus als 16 Max von Binzer (1866-?) war ein ehemaliger Grenadieroffizier, der von 1895-1897 als Geschäftsführer des Deutschen Ostmarkenvereins in Posen fungierte und anschließend als Redakteur bei verschiedenen Zeitungen arbeitete, u. a. der Danziger Allgemeinen Zeitung und den Berliner Neuesten Nachrichten. Von 1927-1930 war er deutscher Korrespondent des Centre International d’Etudes sur le Fascisme und 1932 (aber nicht mehr 1933) Mitglied der Berliner Gesellschaft zum Studium des Faschismus (s. u.). Von ihm im Deutschen Adelsblatt zum Thema: Faszismus, 44, 1926, Nrn. 21, 22, 23; Faschismus und Vatikan, 45, 1927, Nr. 4; Faschismus und Monarchie, 45, 1927, Nr. 10; Der deutsche Adel und der Faschismus, 45, 1927, Nrn. 27, 28; Konservativ und faschistisch, 46, 1928, Nr. 7; Faschismus und Monarchie, 46, 1928, Nrn. 35, 36; Der faschistische Staat und die Wirtschaft, 47, 1929, Nrn. 21, 22; Der italienische Nationalismus der Vorkriegszeit und sein Erbe, der Faschismus, 48, 1930, Nr. 1; Faschismus und Privatwirtschaft, 49, 1931, Nr. 23. Ferner: Der italienische ‚Staat der nationalen Gesellschaft‘, in: Gewissen 9, 1927, Nr. 9; Mussolini, in: Deutschlands Erneuerung 15, 1931, H. 5; Die Führerauslese im Faschismus, Langensalza 1929. 17 Ders.: Der deutsche Adel und der Faschismus (wie Anm. 16).
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Weltanschauung „Keime (…), deren universeller Charakter nicht geleugnet werden kann.“ „Gut, man kann den italienischen Faschismus nicht nach Deutschland übertragen, wenn aber ein deutscher Faschismus die von ihm erhobenen Forderungen ebenso in die Tat umzusetzen versteht, wie es der italienische getan hat und täglich tut, dann her mit dem deutschen Faschismus, lieber heute als morgen!“18 In die gleiche Richtung wiesen die Überlegungen Helmut Frankes, die schon ein Jahr nach ihrer Erstveröffentlichung in erweiterter Form in einem Sammelband erschienen, der sich zum Ziel setzte, über „Wesen und Stand der faschistischen Bewegung und über den Ursprung ihrer leitenden Ideen und Triebkräfte“ zu informieren.19 Die dort ausgebreiteten Gedanken zeichneten sich nicht durch Originalität aus. Sie deuteten, ganz auf der Linie Spenglers, den Faschismus als „ins Italienische übertragenes Preußentum“, dem freilich attestiert wurde, durch die Übertragung eine „Modernisierung und Universalisierung“ erfahren zu haben. Dadurch sei es nunmehr auch in Deutschland möglich geworden, das Preußentum aus seiner Verbindung mit dem Konservatismus zu lösen und das konservative Preußentum durch das „faschistische Preußentum“ zu ersetzen. Der von diesem zu errichtende Staat, hieß es weiter unter Verwendung einer von Ernst Jünger häufig gebrauchten Formel, werde „autoritativ, diszipliniert, gegliedert, sozial und wehrhaft“ sein und sich zum „Raumimperialismus“ bekennen, „zum göttlichen Recht eines Volkes, sich friedlich oder mit Gewalt Raum zu verschaffen“. Der Weg dorthin werde nicht über Parteien, Wahlen und Parlamente führen, sondern über die Gewalt, worunter der Verfasser vor allem die gewaltsame Vernichtung der herrschenden Elite, insbesondere der Intellektuellen, durch die neue, faschistische Elite verstand. Für diesen revolutionären Akt sei der deutsche Faschismus allerdings gegenwärtig noch nicht reif, da er viel Kraft in internen Auseinandersetzungen verbrauche und dabei an äußerer Macht immer mehr verliere. „Das Jahrzehnt der Vorfeldkämpfe wird aber bald abgeschlossen sein, wenn die faschistische Schicht und ihre Führer mit den geistigen Trägern des deutschen Faschismus verschmolzen sein werden. Die Ideologie und die Methoden der halbfaschistischen Gruppen seit 1918 schildern, heißt, von einer Übergangszeit berichten, getragen von hohem Idealismus und Opfergeist, von Erfolgen und Mißerfolgen glei18
Ders.: Deutscher Faschismus (wie Anm. 15). Vgl. Carl Landauer und Hans Honegger (Hrsg.): Internationaler Faschismus, Karlsruhe 1928. 19
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chermaßen, endigend in einer Zeit scheinbar völliger Auflösung, in der aber sich die zentrale Idee immer mehr herauskristallisiert. Es ist nur eine Frage der Zeit und der Persönlichkeit, bis aus der bewegenden Idee des deutschen Faschismus der deutsche Faschismus geworden ist.“20 Man könnte diesen Text als Machwerk eines Einzelgängers beiseite schieben, zumal sein Verfasser, Helmut Franke, in Deutschland keine weiteren Spuren hinterlassen hat. Noch im gleichen Jahr verließ er das Land in Richtung Lateinamerika und starb dort wenig später – nach einem Bericht der Standarte in Mexiko, nach einer Meldung des Jungdeutschen hingegen in Paraguay, wo er als Marineinstrukteur tätig gewesen sei.21 Aber Helmut Franke war nicht irgendwer, sondern ein exemplarischer Vertreter des deutschen combattentismo, der es kurzzeitig sogar zu einem beachtlichen publizistischen und politischen Einfluss brachte. Geboren 1899, war er im Krieg Seeoffizier, um sich anschließend an verschiedenen Freikorpseinsätzen in Deutschland und im Baltikum zu beteiligen. Seinen später veröffentlichten Skizzen und Miniaturen aus dieser Zeit ist zu entnehmen, dass er die Vorstellung nicht weniger Freikorpsführer teilte, es sei das beste, „das ‚rote‘ West- und Norddeutschland aufzugeben, an der Oder eine neue Westfront aufzurichten und dort im Verein mit Rußland die deutschen Kräfte zu sammeln und Widerstand zu leisten oder in Ehren und – kurz – unterzugehen.“22 Ein weiterer Text, entstanden während der Ruhrkämpfe 1920, macht deutlich, dass für Franke der Feind keineswegs nur jenseits der Grenzen stand. Um erfolgreich den Kampf gegen den Versailler Vertrag aufzunehmen, sei es erforderlich, zuvor die innere Einheit Deutschlands wiederherzustellen („von den Deutschnationalen bis zum nationalen Flügel der mehrheitssozialistischen Partei“), die vor allem durch den Kommunismus be20 Helmut Franke: Deutscher Faschismus, ebd., S. 40-65, 50 f., 40, 63, 48, 64 f. Zu Spenglers Sicht des italienischen Faschismus vgl. Stefan Breuer: Anatomie der konservativen Revolution, Darmstadt 1993, S. 129 f.; Michael Thöndl: Das Politikbild von Oswald Spengler (1880-1936) mit einer Ortsbestimmung seines politischen Urteils über Hitler und Mussolini, in: Zeitschrift für Politik 40, 1993, S. 418-443. Interessante Perspektiven in umgekehrter Blickrichtung bei dems.: Die Rezeption des Werks von Oswald Spengler (1880-1936) in Italien bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 73, 1993, S. 572-615. 21 Vgl. Standarte 4, 1929, H. 4; Der Jungdeutsche 10, 1929, Nr. 106. Einige biographische Hinweise auch bei Lena K. Osteraas: The New Nationalists: Front Generation Spokesmen in the Weimar Republic, Ph. D. Columbia University 1972, Ann Arbor 1976, S. 73 ff., 89 ff., die Franke allerdings ohne Belege in Bolivien umkommen lässt: vgl. ebd., S. 221. 22 Helmut Franke: Staat im Staate, Magdeburg 1924, S. 63.
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droht werde. Die Forderung nach „Vernichtung des Kommunismus“ bildete fortan eine Konstante in Frankes Denken,23 ebenso wie die damit verbundene Vorstellung, allein eine Diktatur gewährleiste „die vollständige Vernichtung der Demagogen“, da jede andere Regierungsform „Hemmungen der Energie und Moral“ kenne.24 Den deutschen Verhältnissen am angemessensten erschien Franke dabei die „Diktatur der einstigen Frontsoldaten“ als wichtiger Schritt dazu, „wie in Italien, die Gründung der Partei der Frontsoldaten, der Partei jener, die für den Staat geblutet haben, die das Vorrecht vor allen anderen haben, den Staat zu formen und zu beherrschen, für den sie sich geopfert haben“.25 Es lag von hier aus gesehen nahe, dass Franke sich dem „Stahlhelm“ anschloss, dem im September 1919 gegründeten Bund der Frontsoldaten. Aufgrund seiner journalistischen Erfahrung – 1921/22 war er eine Zeit lang als Mitherausgeber der renommierten Kulturzeitschrift Die Grenzboten beschäftigt – wurde er im November 1923 Redakteur der Bundeszeitung des Stahlhelm und kurz darauf Generalsekretär des Bundesführers Franz Seldte, der sich zu dieser Zeit für die Errichtung einer nationalen Diktatur, sei es unter dem Reichskanzler Stresemann, sei es unter dem Reichswehrchef Hans von Seeckt, einsetzte.26 Sicherlich nicht ohne Wissen Seldtes setzte Franke einen detaillierten Entwurf für diese Diktatur auf, dessen wichtigste Forderungen Eingang in einen in der Bundeszeitung veröffentlichten Artikel fanden.27 Darin wurde der Stahlhelm zum „zeitweilige(n) Gegner des parlamentarischen Systems“ erklärt und die Bildung eines vierköpfigen Direktoriums gefordert, das sich aus einem Wirtschafts-, Außen-, Ernährungs- und Polizeidirektor zusammensetze und darüber hinaus die Frontsoldaten an der Lösung der staats-, wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen „ausschlaggebend“ beteiligen sollte. Neben drakonischen Strafen für diverse Vergehen wurden ein Siedlungsprogramm für Frontsoldaten, ein einjähriger Arbeitsdienst für Hand- und Kopfarbeiter, eine hohe Luxussteuer, die Einführung des deutschen Rechts und ähnliches mehr verlangt, um auf diese Weise den Staat zu festigen und den Primat der Außenpolitik zu garantieren. 23
Vgl. ebd., S. 153. Ders.: Wir brechen die Bahn!, Leipzig 1926. 25 Ders.: 1924 (wie Anm. 22), S. 183, 164. 26 Vgl. Berghahn 1966 (wie Anm. 13), S. 43 f. 27 Vgl. Helmut Franke: Stahlhelm und Innenpolitik, in: Der Stahlhelm 6, 1924, Nr. 2. Auch in Franke 1926 (wie Anm. 24), S. 59 ff. 24
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Dem Bundesvorstand des Stahlhelm, der noch gut das Verbot in Erinnerung hatte, das den Verband von Juli 1922 bis Januar 1923 lahm gelegt hatte, war ein derart offenes Bekenntnis zur Verfassungsfeindlichkeit zu riskant, weshalb er Franke noch im Januar 1924 zum Rücktritt von seinen Posten drängte.28 Der Abschied wurde ihm gleich doppelt versüßt: mit der Zusage, seine bisher erschienenen Aufsätze als Buch im Stahlhelm-Verlag herauszubringen und mit einer Studienreise nach Italien und Spanien im April und Mai 1924, um die geschätzten Diktaturen vor Ort in Augenschein zu nehmen. Das Ergebnis der Italienreise, freilich weniger ein Erfahrungsbericht als die Kurzfassung des Buches von Ludwig Bernhard,29 durfte Franke ein Jahr später als zweiteiligen Aufsatz in der Bundeszeitung veröffentlichen, der jeweils auf der Titelseite erschien.30 In der Summe kaum mehr als eine Sammlung von Streiflichtern, die das Phänomen des Agrarfaschismus nahezu völlig ausblendete, mündete es noch in eine gemischte Bilanz, die zwar deutliche Sympathien für das Regime erkennen ließ, zugleich aber davor warnte, die faschistischen Methoden ohne weiteres nachzuahmen. In Deutschland fehle es an einer Persönlichkeit wie Mussolini, wie überhaupt an einer politischen Kultur, die der Jugend Entfaltungsmöglichkeiten biete; deutsche Schwerfälligkeit und ein Hang zur Tiefe trügen ein Übriges dazu bei, einer faschistischen Bewegung Hindernisse in den Weg zu legen. Auch der Versailler Vertrag wirke sich hemmend aus, während andererseits das Nationalbewusstsein immerhin entwickelter sei als in Italien. Der Bericht schloss mit den Worten: „Wir wollen hören, prüfen, kritisieren, sichten, lernen und, was brauchbar ist, übernehmen.“ Schon bald nach den Italien-Aufsätzen entschied sich die Stahlhelmführung mit Blick auf die bislang unzureichende intellektuelle Profilierung des Verbandes, Franke erneut mit publizistischen Aufgaben zu betrauen.31 Vom 6. September 1925 an erschien die Bundeszeitung mit einer regelmäßigen Sonderbeilage unter dem Titel „Die Standarte. Beiträge zur geistigen Vertiefung des Frontgedankens“, als deren Leiter in der Kopfzeile „Gracchus“
28
Vgl. Berghahn 1966 (wie Anm. 13), S. 76. Vgl. Bernhard 1924 (wie Anm. 2). 30 Vgl. Helmut Franke: Das System des Faszismus, in: Der Stahlhelm 7, 1925, Nrn. 23 und 24. Auch in Franke 1926 (wie Anm. 24), S. 71 ff. 31 Vgl. Die Schriftleitung: Standarte, in: Der Stahlhelm 7, 1925, Nr. 35. 29
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angegeben war, ein Pseudonym für Helmut Franke.32 In einem offenbar programmatisch gemeinten, mit seinem wirklichen Namen gezeichneten Artikel über „Revolution ohne Methode“ erklärte Franke die Zeit der Putsche im Stil Kapps und Hitlers für vorüber und forderte eine tiefere, methodische Vorbereitung der „national-sozialen Revolution“. Diese könne nur dann erfolgreich durchgeführt werden, wenn es zuvor gelungen sei, die geistige Führungsschicht des Landes zu gewinnen, wozu es der „Methode eines geistigen Faschismus“ bedürfe, der „Interpretierung einer typisch deutsch vertieften Idee in gemeinverständliche Formen“.33 Zu diesem Zweck versammelte er in seiner Beilage ein eindrucksvolles Aufgebot an intellektuellen Repräsentanten des deutschen combattentismo, von Franz Schauwecker über Friedrich Wilhelm Heinz bis zu Ernst Jünger, die nicht nur durch ihre literarische Verarbeitung des Kriegserlebnisses, sondern auch durch ihre Sympathie für den Faschismus bekannt waren. Schauwecker hatte im März 1925, wenige Wochen nach Mussolinis Übernahme der Verantwortung für den Mord an Matteotti und dem Übergang zur Einparteiendiktatur, Mussolini eine beispiellose Eloge gewidmet, in der er ihn als „Mann des Schicksals“, als Synthese von Gott und Teufel pries, der mit seiner Neubegründung des Staates auf revolutionärem Wege ein Werk vollbracht habe, das nur mit demjenigen Beethovens, Michelangelos und Mohammeds vergleichbar sei.34 Zwar erschien ihm der Faschismus ebenso wenig auf andere Länder übertragbar wie Franke, doch vermochte diese Einschränkung keineswegs den Eindruck vorbehaltloser Bewunderung zu schmälern, den der Artikel vermittelte. Ähnliches gilt für Heinz, der Mussolini und seinen Faschismus zu „uritalienische(n) Erscheinungen“ erklärte, die faschistische Diktatur auch nur als Übergangsstadium gelten lassen wollte, gleichwohl hier die Keime einer neuen, aristokratischen Verfassung ausmachte, deren Ausstrahlungskraft „eine Kette von Revolutionen in den
32 Zur Aufdeckung des Pseudonyms vgl. Helmut Franke: Das Schicksal der „Standarte“, in: Arminius 7, 1926, H. 41. 33 Helmut Franke: Die Revolution ohne Methode, in: Die Standarte Nr. 3, 20.09.1925. 34 Vgl. Franz Schauwecker: Mussolini, in: Gewissen 7, 1925, Nr. 13. Zu Schauwecker (18901964) vgl. Ulrich Fröschle: „Radikal im Denken, aber schlapp im Handeln“? Franz Schauwecker: Aufbruch der Nation, in: Thomas F. Schneider und Hans Wagener (Hrsg.): Von Richthofen bis Remarque: Deutschsprachige Prosa zum I. Weltkrieg, Amsterdam und New York 2003, S. 260-298.
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europäischen Kulturstaaten einleiten“ werde.35 Ernst Jünger wiederum hatte im Gewissen das Ausbleiben eines Einsatzes der Frontsoldaten im nationalrevolutionären Sinne auf das Fehlen einer Persönlichkeit vom Schlage Mussolinis zurückgeführt und aus seiner Sympathie für den Marsch auf Rom keinen Hehl gemacht.36 In der Standarte konzentrierten sich diese Autoren freilich mehr darauf, das Frontsoldatentum politisch mobil zu machen, und überließen es anderen, immer wieder auf das italienische Vorbild hinzuweisen. Das geschah etwa in einem mit „Scaevola“ unterzeichneten Artikel, der die Aufgabe der Bünde darin sah, „die Staatsidee zu formen, die, in Beispielen gesprochen, uns die Ueberlegenheit und das Recht zur Härte gibt, wie der Faschismus Italien, der national-bäurische Kommunismus Rußland.“37 Ein anderer erklärte unter dem Pseudonym „Mars“ geistige Ideen zwar für gut und schön, mahnte aber den entschlossenen Willen zur Tat an. „Der Faschismus wäre tot ohne Mussolini und seine Schwarzhände (sic!)“.38 Ein gewisser „Bob“ würdigte Mussolinis Revolution als eine preußische,39 während ein Dr. Martin Marth den neuen Syndikalismus Italiens als endlich erreichte Gleichberechtigung von Kapital und Arbeit feierte.40 Franke goss dann zwar wieder ein wenig Wasser in den Wein, wenn er seine Skepsis gegenüber der Idee eines internationalen Faschismus erklärte und dies mit heftigen Ausfällen gegen die italienische Politik in Südtirol verband, druckte aber dann doch in voller Länge die „Carta del lavoro“ ab.41 35 Vgl. in Wiking 4, 1924, Nr. 14, 1. Dezemberfolge, den ungezeichneten Artikel „Krise der Diktatur?“ sowie die ebenfalls ungezeichnete Buchbesprechung zu Ferdinand Güterbog: Mussolini und der Faschismus. Die Artikel in diesem Heft dürften sämtlich aus der Feder von Heinz stammen, der für den Inhalt verantwortlich zeichnete. Zu Heinz (1899-1968) vgl. Susanne Meinl: Nationalsozialisten gegen Hitler. Die nationalrevolutionäre Opposition um Friedrich Wilhelm Heinz, Berlin 2000. 36 Vgl. Ernst Jünger: Revolution und Frontsoldatentum, in: Gewissen 7, 1925, Nr. 35. Jetzt in ders.: Politische Publizistik 1919-1933. Hrsg., kommentiert und mit einem Nachwort von Sven Olaf Berggötz, Stuttgart 2001, S. 63. Zu Jünger (1895-1998) vgl. zuletzt: Helmuth Kiesel: Ernst Jünger. Die Biographie, München 2007; Heimo Schwilk: Ernst Jünger. Ein Jahrhundertleben. Die Biographie, München und Zürich 2007. 37 Scaevola: Zukunft der Bünde, in: Die Standarte Nr. 5, 4.10.1925. 38 Mars: Kopf und Knüppel, in: Die Standarte Nr. 6, 11.10.1925. 39 Vgl. Bob: Aktivistische Bohème, in: Die Standarte Nr. 15, 13.12.1925. 40 Vgl. Dr. Martin Marth: Frontsoldat und Gildenstaat. Der Frontsoldat und Syndikalismus, in: Die Standarte Nr. 9, 28.02.1926. 41 Vgl. Die Standarte Nr. 8, 21.02.1925.
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Die aggressive Sprache, die in der Standarte gepflegt wurde, verdeckte allerdings die unterschiedlichen Nuancen, die schon zu diesem Zeitpunkt vorhanden waren. Während Franke aus seinen Erfahrungen immerhin soviel gelernt hatte, dass es geschickter war, sich in sensiblen Fragen nicht festzulegen – allen voran derjenigen, ob die angestrebte national-soziale Revolution im Wege des „Massenaufmarschs“ und der gewaltsamen Aktion durchzuführen war oder im Wege eines „trockenen Faschismus“, d. h. eines systematischen „Hineinschieben des ‚Staates im Staate‘ in den bestehenden Staat“, –42 kannte Jünger derlei Bedenken nicht. Für ihn schied das ‚trockene‘ oder, wie er es nannte, ‚kalte Verfahren‘, der Marsch durch die staatlichen Institutionen, aus, da es die Anerkennung des Staates bedeute. Stattdessen sei das ‚warme Verfahren‘, die Revolution, zu bevorzugen – ein Weg, der die Frontsoldaten zunächst dahin führen müsse, sich zu einer selbständigen Macht zu entwickeln, „die eines Tages mächtiger sein wird als der Staat“. Auf diese Weise werde ein „Sturmblock“ geschaffen, um den sich die Masse zum revolutionären Akt zusammenschließen werde. „Wir schätzen keine langen Reden, eine neue Hundertschaft ist uns wichtiger, als ein Sieg im Parlament. Zuweilen feiern wir Feste, um die Macht geschlossen paradieren zu lassen und um nicht zu verlernen, wie man Massen bewegt. Schon erscheinen zu diesen Festen Hunderttausende. Der Tag, an dem der parlamentarische Staat unter unserem Zugriff zusammenstürzt, und an dem wir die nationale Diktatur ausrufen, wird unser höchster Festtag sein.“43 Bekundungen wie diese, die kein Einzelfall waren, lösten im Stahlhelm berechtigte Besorgnisse aus. Ganze Landesverbände protestierten gegen die Beilage und verhinderten deren Verteilung, bis die Bundesführung, auch um ein neuerliches Verbot des Bundes abzuwenden, die Beilage einstellen ließ.44 Da man auf die jungen Wilden jedoch nicht völlig verzichten wollte, zumal deren Ansichten der Führung so exzentrisch wiederum nicht erschienen, verständigte man sich darauf, die Standarte in Zukunft als selbständige Wochenschrift herauszubringen, zwar nur noch in einer gegenüber der Bundeszeitung deutlich verkleinerten Auflage von ca. 2000 Exemplaren, dafür aber 42
Franke 1925 (wie Anm. 33). Ernst Jünger: Der Frontsoldat und die innere Politik, in: Die Standarte Nr. 13, 29.11.1925 = Jünger 2001 (wie Anm. 36), S. 151 f. 44 Vgl. Helmut Frankes Bericht über die Vorgänge in: Franke 1926 (wie Anm. 32) sowie Karl Prümm: Die Literatur des Soldatischen Nationalismus der 20er Jahre, 2 Bde., Kronberg/Ts. 1974, S. 340. 43
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finanziert vom Stahlhelm und gedruckt im Frundsberg-Verlag, einem Unternehmen Seldtes.45 Helmut Franke blieb Herausgeber, erhielt aber mit Jünger, Schauwecker und Wilhelm Kleinau drei Mitherausgeber, von denen die beiden Letzteren eng mit dem Stahlhelm verbunden waren.46
II. Die neue Standarte machte dort weiter, wo die alte aufgehört hatte. Und das hieß: Sie bemühte sich um eine politische Aktivierung der Kampfbünde im nationalrevolutionären Sinne, wie sie in programmatischer Weise gleich im ersten Heft von Ernst Jüngers Bruder Friedrich Georg umrissen wurde. Gefordert wurde dort eine „Ausbreitung der Kampfbünde in alle Schichten des Volkes“, eine „Erweiterung der Kampfbünde durch Aufstellen eigener Wirtschaftsorganisationen“, wie nationalistischer Gewerkschaften, Betriebsräte, Konsumvereine“, die „Bildung einer Zentrale der Kampfbünde“ sowie ein einheitlicher Zusammenschluss in einem „Zentralführerrate mit dem Zwecke der Verschmelzung aller Kampfbünde zu einem einzigen, Deutschland umfassenden Verbande.“47 Dass damit erhebliche Zumutungen an die Wehrverbände verbunden waren, sprach Helmut Franke aus, wenn er die herkömmlichen Kriegervereine auf den Aussterbeetat setzte und eine Verjüngung der vaterländischen Verbände durch die aus ihnen hervorwachsende „faschistische Schicht“ postulierte.48 Ernst Jünger spitzte dies in seinen Beiträgen noch zu, wenn er von einer „Revolutionierung“ der Kampfbünde sprach und ihnen ins Stammbuch schrieb: „Weniger Gemütlichkeit, weniger 45 Vgl. Berghahn 1966 (wie Anm. 13), S. 92. Die Auflage der Bundeszeitung lag nach neueren Schätzungen niedriger als die von Berghahn angegebenen 150 000 Exemplare, nämlich nur bei 85 000: vgl. Tautz 1998 (wie Anm. 12), S. 51. 46 Schauwecker war von 1924 bis 1935 in der Bundeszeitung für die Redaktion der Beilagen „Unterhaltender Teil“, „Helden und Zeiten“ sowie „Männer und Zeiten“ zuständig; Kleinau war von 1924 bis 1926 und dann wieder ab 1933 Hauptschriftleiter der Bundeszeitung und gehörte zu den engen Vertrauten Seldtes, über den er 1933 einen Lebensbericht verfasste. Vgl. Sigmund Graff: Gründung und Entwicklung des Bundes, in: Der Stahlhelm. Erinnerungen und Bilder aus den Jahren 1918-1933, hrsg. im Auftrag des Gründers und Bundesführers Franz Seldte, 2 Bde., Berlin 1933, Bd. 1, S. 19-107, 47, 56. 47 Friedrich Georg Jünger: Die Kampfbünde, in: Standarte 1, 1926, H. 1. Zu F. G. Jünger (1898-1977) jetzt Ulrich Fröschle: Friedrich Georg Jünger und der ‚radikale Geist‘. Eine Fallstudie zum literarischen Radikalismus der Zwischenkriegszeit, Dresden 2009. 48 Vgl. Helmut Franke: Sterbender Kriegerverein, in: Standarte 1, 1926, H. 1.
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Mitglieder, mehr Aktivität!“49 Seinem Aufruf „Schließt Euch zusammen!“ antworteten zahlreiche Bünde in positivem Sinne, ohne dass daraus freilich organisatorische Konsequenzen erwuchsen.50 Die Gründe für diese mangelnde Resonanz liegen teils in den Bünden selbst, die letztlich zu sehr auf ihre Selbständigkeit bedacht waren, als dass sie sich einer kollektiven Führung unterzuordnen bereit gewesen wären, teils bei der Standarte, die sich im Sommer 1926 für mehrere Monate ihrer Wirkungsmöglichkeiten beraubte, als sie die Mörder von Erzberger und Rathenau zu nationalistischen Märtyrern erhob und sich damit ein dreimonatiges Verbot einhandelte.51 Franke und Jünger, die inzwischen anscheinend die Hoffnung verloren hatten, den Stahlhelm in ihrem Sinne verändern zu können, sahen darin die Gelegenheit, endgültig aus dem Schatten dieses Verbandes herauszutreten. Sie schieden aus dem Herausgebergremium der Standarte aus und wechselten zu dem von Wilhelm Weiß herausgegebenen Arminius, einem bis dahin eher der völkisch-antisemitischen Szene zuzurechnenden Blatt, das nun jedoch von Grund auf umgestaltet und als Konkurrenzorgan der Standarte aufgezogen wurde. Der Stahlhelm seinerseits entschloss sich, die Standarte nach Ablauf der Verbotszeit auch ohne Franke und Jünger fortzuführen. Zwar war fortan von einer Revolutionierung der Kampfbünde weniger die Rede, doch wurde an dem von Franke eingeschlagenen philofaschistischen Kurs festgehalten, was sich sowohl in expliziten politischen Bekenntnissen als auch in einer Intensivierung der Berichterstattung über das italienische Vorbild niederschlug. Wilhelm Kleinau, der für den politischen Teil des Blattes zuständig war, verlangte von den Bünden den Willen, „die Macht im Staate zu übernehmen, im Sinne, wenn auch vielleicht nicht mit den Mitteln des italienischen Faszismus“,52 nahm aber auch diese Einschränkung gleich wieder zurück, indem er „einen deutschen Faschismus für ein Mittel zur Verwirklichung des nationalistischen – wie übrigens auch des volkskonservativen – Staatsgedankens“ erklärte. Da eine grundlegende Veränderung der Verhält49 Ernst Jünger: Die nationalistische Revolution, in: Standarte 1, 1926, H. 8 = Jünger 2001 (wie Anm. 36), S. 215. 50 Vgl. Ernst Jünger: Schließt Euch zusammen! In: Standarte 1, 1926, H. 10 sowie die in den folgenden fünf Heften abgedruckte Debatte, die in Heft 17 mit einem weiteren Beitrag von Jünger abgeschlossen wurde: Jünger 2001 (wie Anm. 36), S. 216 ff., 223 ff. 51 Vgl. Osteraas 1972 (wie Anm. 21), S. 201. 52 Wilhelm Kleinau: Bünde und Parlament, in: Standarte 2, 1927, H. 15.
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nisse durch den Parlamentarismus nicht zu erwarten sei, müssten alle Versuche einer Änderung draußen im Volke ansetzen und gegen das Parlament gerichtet sein. „Sie müssen die Tendenz haben, eine Persönlichkeit oder eine Gruppe zu Einfluß oder Herrschaft zu bringen, die fähig ist, kompromißfrei – sagen wir schon: diktatorisch – den Zustand zu schaffen, der unserm Staatsdenken entspricht. Man kann diese Methode faschistisch nennen.“53 Derselben Ansicht war Hans Henning Freiherr Grote (1896-1946), der von 1923 bis 1925 Führer des Stahlhelm-Gaues Anhalt, danach zeitweise Landesverbandsführer in Magdeburg-Anhalt war und zu dieser Zeit als Pressechef des Stahlhelm fungierte.54 Für ihn markierte zwar die Italianisierungspolitik in Südtirol einen wesentlichen Konfliktpunkt, doch hinderte ihn dies nicht, den italienischen Faschismus „als eine geistige Bewegung in den stärksten Ausmaßen“ vorzustellen, die engste Parallelen zu dem aufweise, was „das organisierte nationalistische deutsche Frontsoldatentum“ anstrebe.55 Auch in Deutschland, ließ sich ein weiterer Autor vernehmen, könnte einmal „eine Wandlung kommen, die der faschistischen entspräche. Auch in Deutschland könnte sich eines Tages die Irredenta der Frontsoldaten und enttäuschten Proletarier gegen eine haltlose Regierung wenden und sie entsetzen. Dann würde Mussolini sicherlich auf einmal ganz andere Worte finden, wenn er von Deutschland spricht. Wir würden ihm näher stehen als das verlogene Gesindel von Genf, als die Ausbeuter von Versailles, als die Charlatane einer deutschen Republik. Und die Front zweier nationalistischer Völker in der Mitte Europas gegen den glaubenslosen, liberal verkommenen Westen, würde mit seiner jungen unbedingten Kraft nicht zu werfen sein.“ Aus diesem Grund seien die aus der Südtirolproblematik entspringenden Vorbehalte gegen den Faschismus als „michelhaft“ und „sentimentales Ge-
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Wilhelm Kleinau: Feststellungen, in: Standarte 2, 1927, H. 16. Vgl. Tautz 1998 (wie Anm. 12), S. 17. Als „Pressechef des Stahlhelm” wird er in seinem Beitrag zu der von Ernst Jünger ausgelösten Zusammenschluss-Debatte vorgestellt: vgl. Standarte 1, 1926, H. 12. 55 Vgl. Hans Henning Frhr. Grote: Italien und der deutsche Nationalismus, in: Standarte 2, 1927, H. 8; Faschismus am Ende? in: Standarte 2, 1927, H. 5. Ferner ders.: Heer und Faszismus in Italien, in: Standarte 3, 1928, H. 13. Grote hat auch den Hammer als Publikationsort nicht verschmäht: vgl. Faschismus und Nationalismus, in: Hammer 31, 1932, Nr. 719/720. – Zur Kritik an der Südtirolpolitik vgl. auch o.V.: Zustand, in: Standarte 2, 1927, H. 2; H. 17. 54
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tue“ beiseite zu schieben – ein Gedanke, wie ihn bekanntlich auch Hitler gegen starke Strömungen in der NSDAP forcierte.56 Vorbildcharakter wurde dem italienischen Faschismus auch auf wirtschafts- und sozialpolitischem Gebiet bescheinigt. Habe es anfangs so ausgesehen, so „Hans Hansen“, als müsse bei der engen Verbindung des Faschismus mit der Schwerindustrie die Arbeiterfrage zurücktreten, so sei inzwischen klar, dass „die sozialistische Frage, die Frage einer neuen Wirtschaftsordnung“, im Faschismus nicht untergegangen, sondern nur „nationalistisch diszipliniert“ worden sei. „Hier hat politischer Instinkt den dogmatisch-theoretisierenden Trieb zuchtvoll gebändigt und gezeigt, daß auf komplizierten Lebensgebieten das Tempo einer Revolution verhalten sein muß. Der Erfolg ist so schlagend, daß im Januar die ehemaligen marxistischen Gewerkschaftsspitzen sich zur Mitarbeit am korporativen Staat entschlossen.“57 Ein namentlich nicht gezeichneter, vermutlich von Kleinau stammender Beitrag rückte die in Italien angepeilte berufsständische Gliederung in die Nähe von Ideen, wie sie auch in der Führungsspitze des Stahlhelm, allen voran von Heinz Brauweiler, ventiliert würden,58 während Gerhard Günther, ein prominenter Repräsentant des Hamburger Nationalistenklubs, dem italienischen Experiment dieselbe Stimmungsrichtung bescheinigte, die dem deutschen Nationalismus eigen sei. „Denn das, was wir Nationalismus nennen, ist eine internationale Erscheinung von höchster Modernität, die sich weltanschauungsmäßig in dem im Entstehen begriffenen biologischen Weltbild ausdrückt. Was an Kräften, die in dieser Richtung angesetzt sind, in Italien am Werk ist, hat auch in unserer Bewegung seine Ent-
56 Hans van Berk: Erbfeind Italien, in: Standarte 1, 1926, H. 17. Der Verf. heißt mit vollem Namen Hans Schwarz van Berk (1902-1973) und ist vermutlich mit jenem Hans Hansen identisch, der mit seinem Artikel über „Nationalistische Märtyrer“ (1, 1926, H. 20) das Verbot auslöste. 57 Hans Hansen: Wirtschaftsordnung, in: Standarte 2, 1927, H. 3. 58 Vgl. o.V.: Zustand, in: Standarte 3, 1928, H. 11. Daran ist soviel richtig, dass Brauweiler, zu dieser Zeit Schriftleiter der Bundeszeitung, zwar in der Tat zu den wichtigsten Befürwortern einer berufsständischen Ordnung gehörte, dies aber zugleich mit einer deutlichen Distanzierung vom italienischen Faschismus verband. In seiner fünfteiligen Artikelserie „Um den Faschismus“, die 1928 im ersten Jahrgang des Ring erschien (H. 34-39), räumte er lediglich in der Gegenstellung zum Liberalismus eine Gemeinsamkeit ein, kam aber im Übrigen zu dem Ergebnis: „Für Deutschland erscheint der Weg und die Methode des italienischen Faschismus unmöglich“ (H. 35).
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sprechung.“59 Als sich im Frühjahr 1927 eine Deutsche Faschistische Korrespondenz konstituierte, mit der dezidierten Absicht, „für eine ganz bestimmte innen- und außenpolitische Linie, insbesondere im ‚Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten‘ zu wirken, auf dessen Boden sie nicht nur ideologisch steht, sondern zu dem sie sich bei aller völligen Selbständigkeit – auch organisatorisch bekennt“,60 wurde dies von der Standarte mit dem Argument zurückgewiesen, das Blatt und sein Herausgeber seien industriefreundlich und nähmen die Bezeichnung ‚Faschismus‘ zu Unrecht in Anspruch.61 Ihren deutlichsten Ausdruck fand die profaschistische Linie der Standarte indes in den Berichten aus Rom, mit denen ein gewisser „Gelimer“ zwischen April 1926 und März 1929 die Standarte versorgte.62 Die insgesamt 24 Artikel deckten ein breites Themenspektrum ab, von der italienischen Frontkämpfer-Bewegung über die Jugendverbände und Fasci all’ estero bis zum Verhältnis von Papst und Duce, und zeichneten sich durch Informationsgehalt und Sachkenntnis aus. Ihre Grundeinstellung gegenüber dem 59
Gerhard Günther: Deutschland und Mussolinis Arbeitsverfassung, in: Standarte 2, 1927, H. 8. 60 Deutsche Faschistische Korrespondenz, Nr. 4, 1927, zit. n. Der Jungdeutsche 8, 1927, Nr. 88. Ein Periodikum dieses Titels ist in deutschen Bibliotheken nicht nachgewiesen. Seine Existenz ergibt sich jedoch nicht nur aus weiteren Berichten im Jungdeutschen (vgl. im selben Jahrgang die Nrn. 89, 97, 100, 103), sondern auch aus dem Briefwechsel zwischen Ernst Jünger und Friedrich Hielscher: vgl. Ernst Jünger an Friedrich Hielscher, Brief vom 6.4.1927, in: Ernst Jünger und Friedrich Hielscher: Briefe 1927-1985, hrsg. von Ina Schmidt und Stefan Breuer, Stuttgart 2005, S. 28, 329 f. 61 Vgl. Die Standarte 2, 1927, H. 5. („Briefwechsel“). 62 Wer sich hinter dem Pseudonym verbirgt, ist bis heute ungeklärt. Die früher von mir geäußerte Vermutung, es könne sich um Albert Mirgeler (1901-1979) handeln, wird durch die unveröffentlichten Erinnerungen Mirgelers widerlegt, die keinen Hinweis auf einen Italienaufenthalt vor 1929 enthalten. (Ich danke der Tochter Albert Mirgelers, Pia Mirgeler, für einen Einblick in diese interessanten Erinnerungen.) Alles, was sich gegenwärtig sagen lässt, ist, dass es sich um einen Deutschen handelt, der nach eigenem Bekunden Kriegsteilnehmer war, in den 20er Jahren in Rom lebte, für einen Rechtsnationalismus i. S. des auch von der Standarte propagierten neuen Nationalismus eintrat und sich dabei besonders für die Integration der katholischen Volksteile einsetzte. Da er von den Honoraren der Standarte wohl kaum seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte, muss Gelimer entweder vermögend oder berufstätig gewesen sein. Das hartnäckig festgehaltene Pseudonym deutet auf letzteres. Als Tätigkeiten, die eine Geheimhaltung der Identität erforderlich machen, kommen u. a. die Arbeit als Korrespondent einer größeren Zeitung in Frage oder aber die Zugehörigkeit zum diplomatischen Dienst, etwa an der deutschen Botschaft in Rom. Da vermutlich niemand die Akten des Auswärtigen Amtes durchpflügen wird, nur um herauszufinden, wer Gelimer war, wird die Entschlüsselung dieses Pseudonyms wohl dem Zufall überlassen bleiben.
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Faschismus war positiv. Gleich der erste Text begann mit der Feststellung, dass die „Ideenwelt, mit der wir den Typus des neuen deutschen Menschen beleben, (…) nirgends so viele verwandte Züge wie beim italienischen Faschismus“ findet. Das bezog sich zuvörderst auf den Elitenwechsel, welchen der Faschismus bewirkt habe – „er hat die Jungen nach vorn gebracht, an die Macht, an die Verantwortung!“ –, schloss aber auch die soziale Zusammensetzung dieser neuen Elite ein, ihre Öffnung gegenüber „Arbeitersöhnen“, auch und gerade solchen, die ihre politische Sozialisation, wie Mussolini und Rossoni, in der sozialistischen Bewegung erfahren hätten. Eben diese Herkunft sei es ja gewesen, die die Führer des Faschismus befähigt habe, „dem roten Gespenst“ entgegenzutreten. Das gewalttätige Vorgehen der squadre, die Gelimer mehrfach mit den deutschen Freikorps verglich, fand dabei volle Zustimmung. Das „eigentliche, man möchte sagen das europäische Verdienst des Faschismus“ liege in der Demonstration, dass die von der Linken ausgehende Gefahr nicht mit polizeilichen Mitteln zu beseitigen sei, sondern nur auf dem Weg der Selbsthilfe: „diese Wunde heilt nicht durch Salben und Pflästerchen, sie muß ausgebrannt werden.“63 Eine Revolution der Jugend, die dem „System der jungen Kräfte“ zum Durchbruch verhilft „gegen Bürokratie und akademische Vorrechte“,64 eine politische Revolution, die einem Teil der proletarischen Elite die Beteiligung an der staatlichen Macht ermöglicht, ohne dabei den Kapitalismus, den Motor des wirtschaftlich-technischen Fortschritts, zu ersticken65 – diese seine Qualitäten verdankte der Faschismus vor allem zwei Faktoren: seiner Verbindung mit dem Nationalismus und dem Genie Mussolinis. Der Nationalismus, der für Gelimer identisch war mit dem Rechtsnationalismus der Associazione Nazionalista Italiana, habe dem Faschismus die Ideen und die guten Köpfe geliefert, darüber hinaus für Beziehungen zur Industrie gesorgt, die die Aktionen der Schwarzhemden finanziert habe. Auch den Ausgleich mit der Kirche und der Monarchie verbuchte Gelimer auf diesem Konto, desgleichen die Bestrebungen zur Stärkung der staatlichen Autorität. Mit umso größerer Sorge wurden deshalb die erfolgreichen Versuche des intransigenten Faschismus um Farinacci registriert, „die vom Nationalismus Herkommenden wieder aus den leitenden Stellungen zu verdrängen, wie es 63
Gelimer: Brief aus Rom, in: Standarte 1, 1926, H. 5. Ders.: Deutscher und italienischer Nationalismus, in: Standarte 2, 1927, H. 15. 65 Vgl. ders.: Faschismus Anno V, in: Standarte 2, 1927, H. 1; Faschismus und soziale Frage, in: Standarte 2, 1927, H. 7. 64
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ihnen mit Federzoni, Cantalupo, Italo Foschi u. a. tatsächlich gelungen ist“.66 Früher oder später könne dies noch einmal zu einer Machtprobe führen – eine Möglichkeit, deren Notwendigkeit Gelimer unterstreicht, indem er immer wieder auf den Mangel an Staatlichkeit verweist, der die Zukunft des Regimes bedrohe. Dieser Mangel sei nicht bloß der italienischen Mentalität zuzuschreiben, sondern auch dem Faschismus selbst, der noch immer zu sehr am überlebten squadrismo festhalte, den selbstherrlichen Führern in der Provinz zuviel Freiraum lasse und das Gewaltmonopol des Staates zu wenig respektiere.67 Für ein endgültiges Urteil sei es deshalb noch zu früh. Erst wenn der soziale Bau des Faschismus einmal eine wirkliche Wirtschaftskrise überstanden habe, könne man ihn sich zum Vorbild nehmen; „vorher ist Vorsicht dringend geboten!“68 Umso wichtiger und unentbehrlicher erschien Gelimer deshalb die Person Mussolinis, die er mit nachgerade hymnischen Worten feierte. Sein Maß, hieß es etwa im Dezember 1927, „überragt alle, beschwichtigt die Gegensätze, zügelt den der Entwicklung vorauseilenden Tatendrang, baut auf mit einer Kühnheit, einer Sicherheit, die nur der Verblendete nicht bewundern kann.“69 Beispiellos seine Energie und Durchsetzungsfähigkeit in der Innenpolitik, vorbildlich seine Initiativen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Nur in der Außenpolitik zeige er Schwankungen und Unsicherheiten, namentlich gegenüber Deutschland.70 In der Summe aber: „ein Führer in unsrer führerlosen Zeit, in seinen Grenzen genial, in seinem Aufgehen in der Sache bewundernswert; aus tiefstem Herzen wünschen wir unserm Volke einen Mann, der von diesem Vorgänger gelernt hat, auch von seinen Fehlern.“71 Über dieser Feier des charismatischen Führers sollte man freilich nicht übersehen, dass das Lob der Person nur insoweit galt, als sie eine bestimmte Sache verkörperte: den neuen Nationalismus. Mussolini, dieser Name stand nach Gelimer für die Fähigkeit des faschistischen Nationalismus, den Klassenkampf zu überwinden und die Arbeiterschaft zu nationalisieren, negativ durch die Eliminierung des Internationalismus, positiv durch die Lösung der 66
Vgl. ders. 1927 (wie Anm. 64). Vgl. ders. 1927 (wie Anm. 65); Abgott Mussolini, in: Standarte 1, 1926, H. 13. 68 Ders.: Mussolinis ständischer Staat, in: Standarte 1, 1926, H. 11. 69 Ders.: Die faszistischen Stände, in: Standarte 2, 1927, H. 21. 70 Vgl. ders. 1926 (wie Anm. 67); Die italienische Frontkämpfer-Bewegung, in: Standarte 1, 1926, H. 19. 71 Ders. 1926 (wie Anm. 67). 67
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sozialen Frage. Er stand im Weiteren für die Wiederherstellung der im Krieg verwirklichten „Fronteinheit“ durch Überbrückung der weltanschaulichreligiösen Gegensätze. Eben darin könne der faschistische Nationalismus, mutatis mutandis, Vorbildcharakter auch für Deutschland beanspruchen: „Darum kann, wer das Beispiel Italiens vor Augen hat, nicht oft genug mahnen, daß daran gedacht wird, in die junge Führerschicht des deutschen Nationalismus beizeiten Kräfte einzureihen, die von der echten Arbeiterschaft und aus den katholischen Volksteilen herkommen, die doch beide im Frontkrieg treu ihren Mann gestanden haben! Geschieht das nicht, so werden die Gegner immer wieder vom ‚Potsdam-protestantischen Faszismus‘ sprechen können; gerade bei der nächsten Aufgabe, der Niederzwingung des roten Preußen unter die Reichsgewalt, müssen wir suchen auf diesem Wege vorwärtszukommen.“72
Der Stahlhelm ließ sich solche Hinweise angelegen sein. Zwar bewies er gegenüber der Standarte, die sich im Untertitel als „Zeitschrift des neuen Nationalismus“ präsentierte, nur wenig Loyalität: Als im Herbst 1928 die Auflage stark zurückging und sich auf etwa siebenhundert Exemplare zubewegte, zögerte er nicht, ihr die Unterstützung zu entziehen und das Blatt an den Ring-Verlag zu verkaufen, der daraus ein Kopfblatt für sein eigenes Flaggschiff, den Ring, machte.73 Die profaschistische Haltung aber blieb davon unberührt, mehr noch: Sie steigerte sich insofern, als sich nunmehr die Bundesführung ganz offiziell zu ihr bekannte. Was man noch 1926 nur die jungen Wilden sagen ließ und selbst allenfalls hinter geschlossenen Türen gestand – „Wir sind doch Faschisten“ hieß es auf einer Sitzung des Bundesvorstands aus dem Munde Hans Ludwigs, eines engen Vertrauten Seldtes –,74 demonstrierte man nun in aller Öffentlichkeit. Der brandenburgische Landesverband schickte im November 1929 eine Delegation nach Italien, die vom Generalsekretär des PNF empfangen wurde; obwohl daraufhin die Bundesführung auf Distanz ging und verfügte, dass kein Angehöriger des Stahlhelm im Ausland als dessen Vertreter figurieren dürfe, ohne dazu von der Bundesführung ermächtigt zu sein, schickte der gleiche Landesverband ein Jahr später eine weitere Delegation nach Rom, die diesmal von keinem Geringeren als dem Duce empfangen wurde. Der Leiter der Gruppe, der 72
Ders. 1927 (wie Anm. 64). Vgl. Der Jungdeutsche 9, 1928, Nr. 211. 74 BArch, R 72/45190, Bl. 128. Zu weiteren Äußerungen in diesem Sinne vgl. Berghahn 1966 (wie Anm. 13), S. 135, 215. 73
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Führer des Stahlhelm-Gaues Westprignitz Hans Ulrich Heinke, erklärte in seiner Rede, der Stahlhelm mache „im Kampf gegen Liberalismus und Marxismus“ die „faschistischen Ideen in deutschem Sinne“ zur „Grundlage seines inneren Aufbaus und seines staatspolitischen Gedankens“.75 Während die Presseabteilung des Stahlhelm davon noch abrückte, bekräftigte Heinkes Vorgesetzter Elhard v. Morozowicz, Führer des Landesverbandes Brandenburg und ab März 1930 überdies des Jungstahlhelm, das Bekenntnis zu Mussolini, indem er die italienische Aufrüstung öffentlich zum Vorbild erhob.76 Im gleichen Jahr oder ein Jahr später erhielt Morozowicz nach Informationen von Klaus-Peter Hoepke eine Einladung nach Italien und wurde von Mussolini zu einer langen Unterredung empfangen.77 Otto Pertz, Beisitzer im Vorstand der Stahlhelm-Selbsthilfe, erklärte unmittelbar nach den Septemberwahlen von 1930: „Die Entscheidung im mitteleuropäischen Raum liegt zwischen dem Bolschewismus und dem deutschen Stahlhelm-Faschismus.“78 Heinrich Mahnken, Führer des Landesverbandes Westmark, sah im Frühjahr 1932 in der militärischen Jugenderziehung in Italien sowie den Methoden der faschistischen Politik, wenn nicht das unmittelbare Vorbild, so doch das einzig positiv brauchbare Beispiel, das „eine unmittelbare und starke Bedeutung für den Stahlhelm“ habe, „und zwar sowohl für grundsätzliche Auffassungen wie für sofortige praktische Maßnahmen“.79 Ähnliche Töne waren in der Stahlhelm-Presse zu vernehmen. So brachte der Stahlhelm-Student, das Organ des Stahlhelm-Studenten-Ringes Langemarck, einen Leitartikel über „Preußentum und Faschismus“ aus der Feder des Hauptschriftleiters Eduard Stadtler, der den Ehrgeiz hatte, zum ‚deutschen Mussolini‘ zu werden und deshalb im Mai 1930 die Entlassung 75 Hans Ulrich Heinke: Gemeinsamkeit der nationalen Idee, in: Der Tag, 14.11.1930, zit. n. Josef Schröder: Zur Italien-Reise einer brandenburgisch-pommerschen Stahlhelmgruppe im November 1930. Ein Beitrag zu Renzettis Wirken, in: Thomas Stamm-Kuhlmann u. a. (Hrsg.): Geschichtsbilder. FS Michael Salewski, Stuttgart 2003, S. 119-132, 122. 76 Vgl. Tautz 1998 (wie Anm. 12), S. 223. Zu Morozowicz (1893-1934), der zugleich Mitglied der DNVP, des Ring-Kreises und des Deutschen Herrenklubs war und 1928 die berüchtigte Rede hielt, die als „Haßbotschaft von Fürstenwalde“ in die Geschichte eingegangen ist, vgl. ebd., S. 210 ff. 77 Vgl. Klaus-Peter Hoepke: Die deutsche Rechte und der italienische Faschismus, Düsseldorf 1968, S. 293. 78 W. Eberhard von Medem: Staatspolitische Ziele des Stahlhelm, in: Der Tag, 21.9.1930, zit. n. Tautz 1998 (wie Anm. 12), S. 281. 79 Heinrich Mahnken an Stahlhelm, B.d.F., Bundesführer und Bundeskanzler, Brief vom 6.4.1932, zit. n. ebd., S. 206.
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von Seldtes faschismuskritischem Berater Heinz Brauweiler erwirkte,80 und auch die Bundeszeitung zog mit: im November 1930 mit einem Leitaufsatz von Giuseppe Renzetti, der die Fasci all’estero in Deutschland vertrat, und im Juli 1932 mit einem Artikel des Duce höchstselbst über die Idee des Faschismus.81 In der Anfang 1932 in Berlin gegründeten, spätestens seit Januar 1933, aber vermutlich schon früher, vom italienischen Staat subventionierten „Gesellschaft zum Studium des Faschismus“ war der Stahlhelm mit zahlreichen prominenten Repräsentanten vertreten, darunter Duesterberg, Morozowicz, Stadtler und Wagner, der Nachfolger Brauweilers, ferner den Verbandsliteraten Schauwecker und F. W. Heinz sowie dem Studienmitglied Wilhelm Kleinau. Der Vorsitzende der Gesellschaft, Herzog Carl Eduard von Sachsen-Coburg und Gotha, gehörte seit 1926 dem Stahlhelm an und war seit 1930 Mitglied des Bundesvorstands. Schon im Oktober 1929 hatte er eine Reisegesellschaft des Stahlhelm und der DNVP nach Italien geführt, die dort von faschistischen Führern empfangen worden war.82 Die Reisedi80 Vgl. Eduard Stadtler: Preußentum und Faschismus, in: Der Stahlhelm-Student Jg. 1929/1930, Nr. 9/10; Berghahn 1966 (wie Anm. 13), S. 147. Zu Stadtlers Ambitionen vgl. Joachim Petzold: Wegbereiter des deutschen Faschismus. Die Jungkonservativen in der Weimarer Republik, Köln 1983, S. 157, 182. 81 Vgl. Giuseppe Renzetti: Italien und Deutschland, in: Der Stahlhelm 12, 1930, Nr. 46; Benito Mussolini: Die Idee des Faszismus, in: Der Stahlhelm 14, 1932, Nr. 26. Näher zur Rolle Renzettis: Woller 1993 (wie Anm. 9), S. 51 ff.; Schieder 1996 (wie Anm. 1), S. 106 f.; ders.: Faschistische Diktaturen. Studien zu Italien und Deutschland, Göttingen 2008, S. 223 ff. 82 Vgl. BArch R 72-45217, Bl. 149 ff. Zur Gesellschaft zum Studium des Faschismus vgl. Hoepke 1968 (wie Anm. 77), S. 295 ff.; Dieter Fricke (Hrsg.): Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (17891945), 4 Bde., Bd. 3, Köln 1985, S. 51-54; Andrea Hoffend: Zwischen Kultur-Achse und Kulturkampf. Die Beziehungen zwischen ‚Drittem Reich‘ und faschistischem Italien in den Bereichen Medien, Kunst, Wissenschaft und Rassenfragen, Frankfurt 1998, S. 95 ff. Auch diese Gesellschaft lässt sich zumindest von ihren Ursprüngen her dem combattentismo zuordnen. Treibende Kraft und führender Kopf war Waldemar Pabst (1880-1970), der Führer der Gardekavallerieschützen-Division, der im Januar 1919 Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ermorden ließ, an der Entstehung der Einheiten der Technischen Nothilfe beteiligt war, zu den Hauptakteuren des Kapp-Putsches zählte und nach seiner Flucht nach Österreich die dortige Heimwehr aufbaute. Nach seiner Ausweisung aus Österreich 1930 plante er die Gründung einer „Weißen Internationalen“ mit Sitz in Rom und dem faschistischen Italien als Führungsmacht. Die Gesellschaft zum Studium des Faschismus war als nationaler Zwischenschritt zu einer derartigen Organisation gedacht. Vgl. Manfred Wichmann: Die Gesellschaft zum Studium des Faschismus. Ein antidemokratisches Netzwerk zwischen Rechtskonservativismus und Nationalsozialismus, in: Bulletin für Faschismus- und Weltkriegsforschung 31/32, 2008, S. 72-104.
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plomatie, die in wechselseitigen Einladungen von Stahlhelm-Vertretern nach Italien und Repräsentanten faschistischer Organisationen zu verschiedenen Feiern und Treffen der Frontsoldaten ihren Ausdruck fand, wurde im November 1932 in Rom mit einem Treffen zwischen Seldte und Mussolini während des internationalen Kongresses zum zehnjährigen Jubiläum des Marsches auf Rom gekrönt.83 Wenn nach alledem die pro- oder philofaschistische Einstellung des Stahlhelm außer Zweifel steht, bleibt gleichwohl immer noch die Frage, ob sich der Verband damit, wie zumal die politische Linke überzeugt war, in die faschistische Bewegung eingereiht hat und gar als „Hauptträger des Faschismus“ gelten kann.84 Davon kann nach den hier zugrunde gelegten Kriterien nicht die Rede sein. Der Stahlhelm war keine Partei, sondern ein Zweckverein, der sicherlich auch allgemeinpolitische Zielsetzungen verfolgte, in erster Linie aber auf die Durchsetzung der sozialpolitischen Interessen seiner Klientel ausgerichtet war und darüber hinaus gewisse Gemeinschaftsbedürfnisse der Veteranen befriedigen wollte. Von der Parteipolitik hielt er aus einem grundsätzlichen Affekt gegen alles, was mit einer pluralistischen Willensbildung zusammenhing, Abstand, was sich u. a. in der Distanzierung von den „Parteivölkischen“ oder in der Weigerung, sich den Vereinigten Vaterländischen Verbänden Deutschlands anzuschließen, ausdrückte.85 Das schloss die Mitgliedschaft von Stahlhelmern in Parteien nicht aus, war auch mit der Teilnahme der Einzelnen an Wahlen vereinbar, stand aber der Festlegung des Bundes auf eine bestimmte Partei entgegen.86 Selbst die Beteili83
Vgl. Hoepke 1968 (wie Anm. 77), S. 293; Schieder 1996 (wie Anm. 1), S. 107. Vgl. etwa die Einschätzung des Reichsbanner-Führers Karl Mayr: Die faschistische Entwicklung in Deutschland, in: Julius Deutsch (Hrsg.): Der Faschismus in Europa. Eine Übersicht, Wien 1929, S. 24-31. Die Formel vom „Hauptträger“ findet sich im Referentenmaterial für die Fraktion der KPD im Roten Frontkämpferbund, BArch RKO 386, Bl. 427, zit. n. Tautz 1998 (wie Anm. 12), S. 9. Diese Sichtweise hat auch die DDR-Forschung geprägt: vgl. etwa Kurt Finker: Die militaristischen Wehrverbände in der Weimarer Republik und ihre Rolle bei der Unterdrückung der Arbeiterklasse und bei der Vorbereitung eines neuen imperialistischen Krieges (1924-1929), Habilitationsschrift Potsdam 1964, S. 439; Bernhard Mahlke: Zum Anteil des Stahlhelm an der Vorbereitung, Einrichtung und Festigung der faschistischen Diktatur in Deutschland (1929-1934/35), Diss. Potsdam 1967, S. 164. 85 Vgl. Tautz 1998 (wie Anm. 12), S. 40 f., 137. 86 Bekannt ist die Nähe des Ersten Bundesführers zur DVP, des Zweiten zur DNVP. Unter den Mitgliedern gab es zweifellos viele Nationalsozialisten, doch erteilte der Bundesvorstand am 10.6.1930 explizit den Befehl, aus der NSDAP auszutreten. Das war zwar nur eine Reaktion auf eine vorangegangene Weisung der NSDAP, Doppelmitgliedschaften aufzugeben, 84
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gung an der Harzburger Front widerspricht dem nicht, verband der Stahlhelm dies doch mit der Erwartung einer autoritären Lösung, die dem Parteiwesen ein Ende machen werde, womöglich sogar, wie etwa Eduard Stadtler hoffte, unter der Führung des Stahlhelms.87 Die Einbindung in das Präsidialkabinett Hitlers erfolgte erst nach langem Sträuben, als alle anderen Lösungen erfolglos durchgespielt waren: vom Versuch des Zweiten Bundesführers Duesterberg, selbst das Präsidentenamt zu übernehmen bis zur Minderheitsregierung Papens, der Seldte noch am Vorabend ihrer Katastrophe den Rücken zu stärken bemüht war. 88 Dass der Stahlhelm sich überhaupt auf eine Regierung Hitler einließ, war wohl nur der Überredungskunst Papens zu verdanken, der gemeinsam mit Hugenberg die Gewähr für eine Zähmung der Nationalsozialisten im autoritären Sinne zu bieten schien. Von der organisatorischen Struktur her war der Stahlhelm durch eine Mischung aus bürgerlichem Honoratiorenregiment und bürokratischer Verwaltung bestimmt und ließ die charismatischen Züge vermissen, die für faschistische Parteien ausschlaggebend sind. Auch in Bezug auf die bevorzugten Mittel muss eher die Differenz als die Nähe zum Faschismus betont werden. Der Stahlhelm war wohl eine paramilitärische Organisation, die sich als stille Reserve der Reichswehr verstand, die Wehrsportpläne ihrer Ortsgruppen diskret unterstützte und vermutlich auch illegal Waffen hortete.89 Zu einem Einsatz dieses Potentials in Form von Strafexpeditionen, Überfällen und Stadtbesetzungen, wie sie für den italienischen Squadrismus typisch waren, kam es jedoch nicht. Der Stahlhelm hielt sich zwar die Option offen, aber immerhin eine Reaktion: vgl. Tautz 1998 (wie Anm. 12), S. 361. Erst spät, bei den preußischen Landtagswahlen vom 24.4.1932, hat der Stahlhelm seine parteipolitische Neutralität aufgegeben und sich an die DNVP gebunden: vgl. ebd., S. 376. 87 Vgl. ebd., S. 357. 88 Duesterbergs Kandidatur für das Amt des Reichspräsidenten 1932 war von starker Polemik gegen das der NSDAP zugeschriebene Streben nach einer ‚nationalbolschewistischen Parteidiktatur‘ begleitet. Seldte wiederum stellte sich auf dem 13. Frontsoldatentag am 3. und 4.9.1932, knapp eine Woche vor dem Wiederzusammentritt des Reichstages, demonstrativ hinter die Regierung Papen, die zu diesem Zeitpunkt von der NSDAP nicht weniger heftig bekämpft wurde als von der KPD. Noch im November desselben Jahres lehnte der Stahlhelm „Hitler als Kanzler in jeder Form“ ab, da er „Parteiführer“ sei und der Wehrverband „keine Parteiregierung“ wolle: vgl. ebd., S. 366 f., 380 f., 435. 89 Vgl. Wilhelm Kleinau: Der politische Kampf des Stahlhelm, in: Stahlhelm. Erinnerungen und Bilder aus den Jahren 1918-1933. Hrsg. im Auftrage des Gründers und Bundesführers Franz Seldte, 2 Bde., Berlin 1933/1934, Bd. 2, S. 17-75, 19; Berghahn 1966 (wie Anm. 13), S. 132 f.; Tautz 1998 (wie Anm. 12), S. 142 ff.
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mit Kräften zu paktieren, die aus ihrer Verachtung der Legalität keinen Hehl machten, schreckte aber davor zurück, die Grenze selbst zu überschreiten. Und das lässt es, alles in allem, gebotener erscheinen, von Pro- oder Philofaschismus zu sprechen als von Faschismus.
III. Gilt dies auch für den Kreis um Helmut Franke und Ernst Jünger, der 1926 von der Standarte zum Arminius wechselte und seitdem keine Gelegenheit ausließ, dem Stahlhelm seine ‚bürgerliche und damit liberalistische Natur‘ vorzuhalten und ihn als Ansammlung von Vereinsmeiern zu verspotten, deren vordringlichstes Anliegen die „Pflege der Gemütlichkeit“ sei?90 Hält man sich an das Selbstverständnis dieser Gruppe, hat man es seit dem Wechsel mit dezidierten Faschisten zu tun. Helmut Franke, der in der Standarte noch eine durchaus ambivalente Haltung eingenommen hatte, gab im Arminius seine Vorbehalte auf und sprach explizit von „unseren faschistischen Tendenzen“ bzw. der „kommenden faschistischen Bewegung“. Die „faschistischen Massen“ forderte er auf, die liberalen und konservativen Führer zu stürzen und sich stattdessen endlich „faschistischen Führern“ anzuschließen. Wenig später gab er einem ‚oppositionellen Wehrverbandsführer‘ das Wort, der den „faschistische(n) Staat“ zum „Staat von Morgen“ erklärte, der für Deutschland seine besondere, deutsche Ausgestaltung erfahren werde. 91 Im April 1927 widmete er den Prinzipien des „deutschen Faschismus“ die eingangs erwähnte Artikelserie, um anschließend Kapitän Ehrhardt als einen der drei Führer der ‚deutschen faschistischen Bewegung‘ zu feiern, neben Ludendorff und Hitler.92 Friedrich Georg Jünger erklärte den Marsch auf Rom zum Beginn einer neuen Ära, die vom reinen, absoluten Nationalismus geprägt sein werde.93 Ernst Jünger, der sich den Faschismusbegriff bis dahin nicht zu eigen gemacht und lieber vom neuen Nationalismus gesprochen hatte, schwenkte ebenfalls um und propagierte nun den 90
Ernst Jünger: Stahlhelm am Kreuzwege, in: Arminius 8, 1927, Nr. 9. Vgl. Helmut Franke: Die deutschnationalen Türhüter, in: Arminius 8, 1927, H. 7.; ders.: Aufmarsch der Neuen Kräfte, in: Arminius 8, 1927, H. 8; Ein oppositioneller Wehrverbandsführer: Alles für die Nation! In: Arminius 8, 1927, H. 9. 92 Vgl. Helmut Franke: Ehrhardt in Leipzig, in: Arminius 8, 1927, H. 18. 93 Vgl. Friedrich Georg Jünger: Das Fiasko der Bünde, in: Arminius 7, 1926, H. 41. 91
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„Vorstoß im faschistischen Sinne“. Die „Aufgaben des deutschen Faschismus“, dem es „endlich und offen ein Zentrum zu errichten“ gelte, bestünden darin, in den Bünden „der heroischen Weltanschauung eine neue Kampfbasis zu schaffen“, die „Gemeinschaft einer neuen Weltanschauung“.94 Im Januar 1927 erklärte er in einer Rede vor dem Münchner Tannenbergbund das faschistische Italien zum einzigen Staat in Europa, dem das nationalistische Arbeitertum die Form gegeben habe. Zwei Absätze weiter heißt es, noch pointierter: „Wir dürfen wohl sagen, daß der Marsch auf Rom für den neuen Willen, der innerhalb der Völker aufzuleben beginnt, von derselben Bedeutung ist, wie sie die Eroberung der Bastille für das Bürgertum darstellte.“95 Und noch im August desselben Jahres ist in einer Polemik gegen Kurt Hiller vom Faschismus als einer „neuen Erscheinungsform des Nationalismus“ die Rede.96 Im gleichen affirmativen Sinne sprachen sich auch andere Autoren des Blattes aus, so Bruno Fricke,97 Wladimir v. Hartlieb,98 A. W. Becker,99 Carl Cranz,100 Georg Schröder101 und vor allem Adolf Dresler, dessen Italienaufsätze im Arminius eine ähnliche Schlüsselstellung einnahmen wie die Beiträge Gelimers in der Standarte.102 Bei näherer Betrachtung löst sich freilich dieser „deutsche Faschismus“ in ein Ensemble äußerst heterogener und miteinander kaum zu vereinbarender Bestrebungen auf. Adolf Dresler beispielsweise, der den Arminius mit Berichten über das Verhältnis von berufsständischer Volksvertretung und 94 Ernst Jünger: Der Nationalismus der Tat, in: Arminius 7, 1926, H. 41 = Jünger 2001 (wie Anm. 36), S. 252, 255. 95 Ders: Der neue Nationalismus, in: Völkischer Beobachter, 23./24.1.1927, Beil. = Jünger 2001 (wie Anm. 36), S. 285 ff. 96 Ders.: Das Ziel entscheidet, in: Arminius 8, 1927, H. 32 = Jünger 2001 (wie Anm. 36), S. 349 ff. 97 Vgl. Bruno Fricke: S. A. Roßbach: Die Bestimmung, in: Arminius 8, 1927, H. 17. 98 Vgl. Wladimir v. Hartlieb: Vom Neuen Wert, in: Arminius 8, 1927, H. 8. Hartlieb veröffentlichte im gleichen Jahr das Buch: Italien. Alte und Neue Werte. Ein Reisetagebuch, München 1927, das vom Arminius wärmstens empfohlen wurde. 99 Vgl. A.W. Becker: Wesen des Faschismus, in: Arminius 7, 1926, H. 43. 100 Vgl. Carl Cranz: Mussolinis Kampf um Raum, in: Arminius 8, 1927, H. 13. 101 Vgl. Georg Schröder, Rom: Römischer Brief, in: Arminius 8, 1927, H. 27; Römischer Brief, in: ebd., H. 33. 102 Vgl. (mit schwankender Schreibweise des Namens) Arthur Dreßler: Berufsständische Volksvertretung und nationale Gewerkschaften, in: Arminius 8, 1927, H. 5; Adolf Dreßler: Mussolinis Schwarzhemden, in: ebd., H. 11; Adolf Dresler: Die Wirtschaftspolitik des Faschismus, in: ebd., H. 13; ders.: Raumnot als Kraft, in: ebd., H. 15; Faschismus und Familienleben, in: ebd., H. 20.
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nationalen Gewerkschaften sowie mit Analysen der Wirtschafts-, Raum-, Bevölkerungs- und Familienpolitik in Italien versorgte, gehörte zu den Exponenten des völkischen Flügels in der NSDAP,103 der dem Faschismus nicht nur wegen seiner Südtirolpolitik, sondern vor allem auch wegen seiner zu judenfreundlichen Haltung kritisch gegenüberstand und daraus nachgerade Wesensgegensätze ableitete: „Der National-Sozialismus“ hieß es etwa in Dreslers Mussolini-Monographie, „ist völkisch-sozial, der Faschismus ist jüdisch-kapitalistisch-imperialistisch.“104 Georg Schröder wiederum war ein Mitglied des „Jungkonservativen Klubs“ und stand dem Ring-Kreis um Heinrich von Gleichen nahe, der, bei aller Sympathie für Mussolini, von einem deutschen Faschismus nichts wissen wollte und stattdessen auf eine Restauration der Monarchie setzte.105 Die größte Kluft öffnete sich indes zwischen den beiden Hauptherausgebern, Helmut Franke und Ernst Jünger, von deren Zusammenarbeit das Schicksal des Blattes abhing, da der dritte Herausgeber, Wilhelm Weiß, im Januar 1927 die Aufgabe des leitenden Redakteurs beim Völkischen Beobachter übernahm und dort für den Gesamtinhalt verantwortlich war, mithin kaum mehr Zeit gehabt haben dürfte, sich um den Arminius zu kümmern.106 Franke stand schon vor dem Wechsel zum Arminius in enger Verbindung zu Kapitän Ehrhardt, dem Führer der gleichnamigen Brigade und Chef der illegalen Organisation Consul, die 1921/22 durch die Attentate auf Erzberger und 103
Adolf Dresler, geb. 1898, war seit 1921 Mitglied der NSDAP. In der Regimezeit war er Leiter der Hauptgeschäftsstelle der Reichspressestelle der NSDAP und Mitglied des Präsidialrates der Reichspressekammer: vgl. Joseph Wulf: Presse und Funk im Dritten Reich, Reinbek 1966, S. 110, 120, 143 f.; Wolfgang Müsse: Die Reichspresseschule – Journalisten für die Diktatur? Ein Beitrag zur Geschichte des Journalismus im Dritten Reich, München etc. 1995, S. 225. 104 Adolf Dresler: Mussolini, Leipzig 1924, S. 58. 105 Zu Schröders Mitgliedschaft im Jungkonservativen Klub vgl. den Hinweis in: Gewissen 10, 1928, Nr. 7, 12.2. Ferner Heinrich von Gleichen: 1927 (wie Anm. 15). Schröder hat sich auch im Gewissen sowie im Ring zum italienischen Faschismus geäußert: vgl. Zur geistigen Vorgeschichte des Faschismus, in: Gewissen 3, 1927., Nr. 32, 8.8. Der faschistische Staatsaufbau, in: ebd., Nr. 51, 19.12.; Die Zukunft des faschistischen Staates, in: Der Ring 1, 1928, H. 12; Das faschistische Beispiel für unsere Ostmark, ebd., H. 15; Nationalsozialismus und Faschismus sind nicht gleich!, in: Der Ring 7, 1934, H. 15. 106 Zu Wilhelm Weiß (1892-1950), schon 1923 Teilnehmer des Marsches auf die Feldherrenhalle und nach zeitweiliger Unterbrechung seit August 1926 wieder NSDAP-Mitglied, vgl. BArch, BDC, R Pers. N0104; RKK 2100, Box 0480, File 01; Joachim Lilla u. a.: Statisten in Uniform. Die Mitglieder des Reichstags 1933-1945. Ein biographisches Handbuch, Düsseldorf 2004, S. 719 f.; Müsse 1995 (wie Anm. 103), S. 63, 115 u. ö.
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Rathenau auf sich aufmerksam gemacht hatte.107 Nach einer längeren Abwesenheit, durch die er sich der Strafverfolgung durch die Justiz entzogen hatte, war Ehrhardt im Januar 1926 wieder nach Deutschland zurückgekehrt und mit den Resten seiner Verbände, die seit 1923 unter der Bezeichnung „Bund Wiking“ firmierten,108 im Oktober 1926 in den Stahlhelm eingetreten, um im Schutz der Legalität weiterhin seinem Ziel – dem Umsturz der durch den Versailler Vertrag und die Weimarer Verfassung begründeten Nachkriegsordnung – nachzugehen.109 Seine neue Strategie verzichtete vorerst auf die Mittel des Putsches oder des Terrors. Sie sah stattdessen einen Zusammenschluss der Kampf- und Wehrbünde unter einheitlicher Führung vor und eine Umsetzung der so geschaffenen Macht in den Aufbau von Druckpositionen, vermittels deren die national orientierten Parteien – von der Deutschen Volkspartei über Deutschnationale und Bayerische Volkspartei bis zu den Deutschvölkischen und den nationalen Elementen im Zentrum – zur Bildung einer nationalen Einheitsfront gezwungen werden sollten, die den Parlamentarismus auf legalem Wege überwinden würde.110 Ob Franke, wie in der Literatur verschiedentlich behauptet wird,111 bereits der Brigade Ehrhardt angehört hat, lässt sich weder bestätigen noch widerlegen. Immerhin wartet sein 1924 erschienenes Buch Staat im Staate mit breiten Exzerpten aus einer Ehrhardt-Schrift auf, und auch die vom Wiking in seiner Bundeszeitschrift veröffentlichte Sondernummer zum Gedächtnis der Brigade Ehrhardt enthält einen Artikel aus seiner Feder, der auf gewisse Insiderkenntnisse schließen lässt.112 Stimmte schon die im März 1925 von Franke entworfene Lagebeurteilung, welche die „Nationalsozialen Bünde: Stahlhelm, Jungdeutscher Orden, Wehrwolf, Wiking in Reih und Glied mit
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Vgl. Gabriele Krüger: Die Brigade Ehrhardt, Hamburg 1971; Martin Sabrow: Die verdrängte Verschwörung. Der Rathenau-Mord und die deutsche Gegenrevolution, Frankfurt 1999. 108 Zum Bund Wiking vgl. den Artikel in Fricke (wie Anm. 82), Bd. 1, 1983, S. 368-373. 109 Vgl. Berghahn 1966 (wie Anm. 13), S. 108 f.; Otto Ernst Schüddekopf: Nationalbolschewismus in Deutschland 1918-1933, Frankfurt etc. 1973, S. 191. 110 Vgl. Nationale Einheit tut not! Arbeitsprogramm des Kapitäns Ehrhardt und der ihm angeschlossenen Verbände, März 1926, in: Akten des Reichskommissars für die Überwachung der öffentlichen Ordnung (RKO), BArch R 1507/389, Bl. 138. 111 Vgl. Osteraas 1972 (wie Anm. 21), S. 72; Meinl 2000 (wie Anm. 35), S. 94. 112 Vgl. Franke 1924 (wie Anm. 22), S. 111 ff.; Hermann Ehrhardt: Deutschlands Zukunft. Aufgaben und Ziele, München 1921; Helmut Franke: Marinebrigade Ehrhardt am 13.3.1920, in: Der Vormarsch 1, 1927, H. 1, ohne Datum, ca. März 1927.
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den Parteien“ gesehen hatte,113 weitgehend mit den Intentionen Ehrhardts überein, so lag erst recht der im April 1927 skizzierte „deutsche Faschismus“ auf dieser Linie. Danach sollte sich die Rechte in drei große Gruppen gliedern, die je unterschiedliche Felder zu bestellen hätten: Die Nationalsozialisten, die Völkischen und der Tannenbergbund sollten sich unter der Führung Hitlers zusammenschließen, den antisemitischen Kampf einstellen (!) und das Proletariat organisieren. Ein aus den Wehrverbänden zu bildender „Deutscher Kampfbund“ sollte sich ganz auf die Aufgabe der Wehrhaftmachung des deutschen Volkes und den künftigen Kampf um Raum konzentrieren. Die Rechtsparteien, von der DNVP über die DVP bis zum Zentrum, sollten unter Einschluss der Reichswehr ein Bündnis gegen die Linke schließen und „in dauernder Zusammenarbeit die Republik zum christlichen sozialen Volksstaat gestalten“; darüber hinaus sollten sie den Deutschen Kampfbund im Parlament vertreten und zugleich über die Delegation von Vertretern in die Führungsspitzen der Wehrverbände dessen Politik steuern.114 Als Markenzeichen für diese Strategie fungierte, wie schon in der Standarte, der Begriff des „legalen Faschismus“, dessen vordringlichste Aufgabe es sei, „den Klassenkampf (zu) verhindern und die Klassenbildung zurück(zu)schrauben“.115 Vollkommen anderer Ansicht waren in dieser Beziehung die Brüder Jünger. Ernst Jünger hatte, wie erwähnt, schon im November 1925 das von ihm so genannte „kalte Verfahren“ der Machtgewinnung abgelehnt, bei dem die Bünde ihre Stimmen einer der nationalen Parteien zuführen oder selbst als Partei auftreten würden. Das von ihm bevorzugte „heiße Verfahren“ war das „revolutionäre“, der Versuch, „mit allen Mitteln (...) Nationalisten an die Spitze des Staates zu bringen, und zwar in Stellungen, die unabhängig von der Gunst oder Mißgunst der Massen sind“, deutlicher gesagt: auf den Wegen, die Kapp, Ehrhardt und Hitler 1920 bis 1923 beschritten hatten, nur methodischer. „Wir wollen keine Partei bilden, wir wollen nicht wählen, das hieße den Staat anerkennen, das hieße eins seiner Organe werden, statt gegen ihn gerichtet zu sein“.116 Nur wenige Tage, nachdem Ehrhardts Arbeits113
Franke 1926 (wie Anm. 24), S. 144. Vgl. Helmut Franke: An Hittler (sic) und Stegerwald, in: Arminius 8, 1927, H. 1. Als „Deutscher Kampfbund“ firmierte übrigens bereits 1923 ein Zusammenschluss von SA, Bund Oberland und Reichsflagge. 115 Ders.: Der deutsche Faschismus, H. 14 (wie Anm. 15); vgl. ders. 1926 (wie Anm. 48). 116 Ernst Jünger 1925 (wie Anm. 43). 114
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programm bekannt geworden war, forderte Ernst Jüngers Bruder Friedrich Georg in der Standarte die nationalistische Bewegung auf, „sich endlich unbedingt klar zu machen, daß das System der gegenwärtigen, politischen Parteibildung nicht durch politische Parteien zerstört werden kann. Der Nationalismus darf seine Kampfkraft nicht liberalistisch entwickeln. Er muß die Überwindung des Partei- und Klassenstaates schon damit manifestieren, daß er sich von jeder Parteibildung fernhält und jede Betätigung in den Parlamenten aufgibt“.117 Ernst Jünger, der den Putschisten Ehrhardt wiederholt seiner Wertschätzung versicherte und noch 1929 die O.C. als den unerbittlichsten Feind des Liberalismus pries,118 zog im August 1926 nach. In der letzten Nummer der Standarte, die einen Tag nach Verhängung des Erscheinungsverbotes noch ausgeliefert werden konnte, solidarisierte er sich zunächst mit den Einwänden gegen den „Parteiismus“, wie sie besonders in der Publizistik des Jungdeutschen Ordens gepflegt und übrigens auch gegen den italienischen Faschismus mobilisiert wurden,119 warf dann den Nationalsozialisten, für die er ebenfalls früher manches anerkennende Wort gefunden hatte, ein ‚Nassauern am Parlamentarismus‘ vor und bezog diesen Vor117 Friedrich Georg Jünger: Die Kampfbünde, in: Standarte 1, 1926, H.1. Ausgerechnet dieser gegen Ehrhardt gerichtete Aufsatz wurde übrigens im Wiking (5, 1926, Nr. 15, 24.4.) abgedruckt und deshalb später von der Preußischen Regierung als Beweismittel für die nach wie vor bestehenden revolutionären Absichten Ehrhardts verwendet: vgl. Der Preußische Minister des Innern: Denkschrift Bund Wiking, Berlin 1926, Anlage 37. 118 So heißt es etwa zum Kapp-Putsch: „Was Ehrhardt damals wollte, nämlich kurzen Prozeß machen, das war vorzüglich“: Ernst Jünger 1925 (wie Anm. 43). Zur O.C vgl. das Vorwort Jüngers zu dem von ihm herausgegebenen Band: Der Kampf um das Reich, Berlin 1930, ein Werk, das auch sonst durch die Glorifizierung der Putschzeit hervorsticht. 119 Mussolini, so argumentierte der „Hochmeister“ des Jungdeutschen Ordens, Artur Mahraun, habe zwar Italien vor den „Entartungserscheinungen der parteiistischen Demokratie“ gerettet, dem Land jedoch keine neue Ordnung gegeben, sondern nur eine neue Partei, unter deren Herrschaft sich die verrotteten Zustände wiederholten, nur mit anderer Zielrichtung. „Alle bösen Eigenschaften des Parteiismus erlebten eine neue Auflage“, wie zumal der Mord an Matteotti zeige. Vgl. Artur Mahraun: Mussolinis Fehler, in: Der Jungdeutsche 3, 1924, Nr. 16; ders.: Lernt von Italien!, ebd., Nr. 17. Deutlich positiver fielen die Stellungnahmen zum französischen Faisceau aus, der allerdings auch gegenüber dem Italofaschismus Distanz hielt. Vgl. A. Victor von Koerber: „Reims“. Tagung der französischen Faschisten, in: Der Jungdeutsche 7, 1926, Nr. 152 und Nr. 157; ders.: Der Staat, die Plutokratie und das Volk, ebd., Nr. 292; August Abel: Die Schwenkung Valois´, ebd., 8, 1927, Nr. 123; ders.: Der französische Faschismus, ebd., Nr. 152. Zum Faisceau und seinen Beziehungen zum italienischen Faschismus vgl. Allen Douglas: From Fascism to Libertarian Communism. Georges Valois against the Third Republic, Berkeley 1992, S. 127.
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wurf schließlich auch auf Ehrhardt. „‚Das einzig legale Mittel ist die Wahl‘. Diesen Satz können wir zu Beginn des Programms von Ehrhardt lesen, eines Mannes, der den großen Ruf, den er in unseren Kreisen besitzt, doch wohl ganz anderen Mitteln verdankt. Wir schlagen vor, daß dieser Satz dahin verändert wird: ‚Das einzige Mittel, von dem wir keinen Gebrauch machen wollen, ist die Wahl.‘ Das ist ein Satz, wie er in ein nationalistisches Programm gehört“.120 Aus der Priorität, die dem antiparlamentarischen, revolutionären Kampf zugemessen wurde, ergab sich als weitere Differenz, dass Jünger zumindest für die nächste Etappe auch solche Kräfte als Bündnispartner zu akzeptieren bereit war, die dem Nationalismus entgegengesetzte Ziele verfolgten. Für ihn stand schon z. Zt. der ersten Standarte fest, dass der eigentliche Gegner nicht die Revolution war und auch nicht die linken Parteien und Verbände; wäre die Revolution mehr Revolution gewesen, hätte sie entschieden – wie etwa in Russland – die Verteidigung der Nation und womöglich deren Expansion zu ihrer Sache gemacht, hätte sie Jünger an ihrer Seite gefunden, egal, wie sozialistisch oder kommunistisch sie gewesen wäre.121 Jünger lehnte es deshalb ab, zum gegenwärtigen Zeitpunkt den 1919 verlorenen Bürgerkrieg gegen die Linke im nachhinein noch gewinnen zu wollen; die eigentlichen Hindernisse für den Nationalismus, so schrieb er, lägen nicht im „marxistischen Bollwerk“.122 In späteren Texten verlangte er, „daß man den Kommunismus nicht in einer Weise bekämpft, die den gegenwärtigen Staat entlastet“; ja er forderte, „auch mit Kommunisten zu verhandeln, denn dort sehen wir sehr wesentliche Kräfte, um die gerungen werden muß“.123 Wohl am klarsten brachte er die Frontlinie, die ihm vorschwebte, im September 1929 zum Ausdruck, als er in Schwarzschilds Tagebuch schrieb, „daß alle revolutionären Kräfte innerhalb eines Staates trotz der größten Gegensätze unsichtbare Verbündete sind. Welche von ihnen auch siegen möge – ihr Sieg schafft ein Medium, in dem die Tat, wenn auch in gefährlichster Luft, zu atmen vermag. Die Ordnung ist der gemeinsame Feind, und es gilt zunächst, den luftleeren 120 Ernst
Jünger: Von den Wahlen, in: Standarte 1, 1926, H. 21 = Jünger 2001 (wie Anm. 36), S. 243. 121 Vgl. Ernst Jünger: Die Methode der Revolution, in: Die Standarte 1, 1925, H. 8 = Jünger 2001 (wie Anm. 36), S. 117 ff. 122 Ernst Jünger 1925 (wie Anm. 43). 123 Ernst Jünger 1926 (wie Anm. 94); ders.: Was Herr Seldte sagen sollte, in: Arminius 7, 1926, H. 44 = Jünger 2001 (wie Anm. 36), S. 253, 269.
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Raum des Gesetzes überhaupt zu durchbrechen, damit Aktion auf Aktion sich zu entfalten und aus den chaotischen Reserven sich zu speisen vermag. Daher kommt mir eine Feindschaft, wie sie heute etwa zwischen den Nationalsozialisten und den Kommunisten gepflegt wird, schon aus taktischen Gründen unverständlich vor. Sie ist ein Beweis, daß in diesen beiden Bewegungen noch viel mehr bürgerliche, am System interessierte Elemente sich verbergen, als sie selbst wahrhaben möchten“.124 Für Ehrhardt und seine Gefolgsleute dagegen hatte die Gegenrevolution Vorrang. Wenn Ehrhardt, wie oben zitiert, zur Bildung eines schwarz-weißroten Blocks gegen den schwarz-rot-goldenen Block aufforderte, dann stand dies in der Tradition der O.C., die in ihrer Satzung die „Bekämpfung alles anti- und internationalen, des Judentums, der Sozialdemokratie und der linksradikalen Parteien“ als zentrales Ziel benannt hatte.125 Ehrhardt selbst hatte es offen ausgesprochen, dass der linke Radikalismus in grundsätzlicher Gegnerschaft zur bürgerlichen Gesellschaftsordnung und Staatsverfassung überhaupt stehe und deshalb ausgeschaltet werden müsse.126 Derselben Ansicht war Helmut Franke. Zwar betonte dieser, ganz im Sinne des neuen, auf Inklusion ausgerichteten Nationalismus, die Notwendigkeit, die Arbeitermassen „zu einem lebendigen Teil der Nation zu machen“ und hielt dafür sogar die positive Mitarbeit einer starken Arbeiterpartei und starker Gewerkschaften für denkbar, doch bezog sich dies bei näherer Betrachtung erst auf eine Arbeiterschaft der Zukunft, da vor der Reform der, wenn schon nicht gewünschte, so doch für unvermeidbar gehaltene „Terror“ stand: die „Vernichtung des Kommunismus, Linkssozialismus, Linkspazifismus“, die Reinigung der Nation von den notorischen Verrätern und Schwächlingen, zu denen Franke neben der politischen Linken auch die Intellektuellen rechnete.127 Die deutlichen Hinweise auf die angestrebte „Diktatur der Mitte“ und die Führerschicht, die langsam aus dem Bürgertum hervorwachse,128 lassen klar er-
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Ernst Jünger: ‚Nationalismus‘ und Nationalismus, in: Das Tagebuch 10, 1929, Nr. 38, S. 1555 f. = Jünger 2001 (wie Anm. 36), S. 506. 125 Gotthard Jasper: Aus den Akten der Prozesse gegen die Erzberger-Mörder, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 10, 1962, S. 430-453, 439. 126 Vgl. Ehrhardt 1921 (wie Anm. 112), S. 21, 11. 127 Vgl. Franke 1926 (wie Anm. 24), S. 113, 110, 114, 47; in diesem Sinne auch seine späteren Ausführungen in: Reichswehrglück und Reichswehrende, Arminius 7, 1926, H. 46; Franke 1928 (wie Anm. 20), S. 48. 128 Vgl. Franke 1926 (wie Anm. 24), S. 31, 49.
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kennen, dass der deutsche Faschismus in der Version Frankes einen weitaus stärkeren bürgerlichen Klassencharakter besaß als bei Jünger.129 Jünger wäre wohl bereit gewesen, diese Differenz zu tolerieren, wenn er sich nicht von Franke getäuscht gefühlt hätte. Im April 1927 erfuhr er durch Friedrich Hielscher, dass das Geld, mit dem Franke in den Arminius eingestiegen war, nicht dessen eigenes war, wie er gegenüber Jünger behauptet hatte, vielmehr aus einem Kredit stammte, den er von Ehrhardt und dessen Leuten erhalten hatte.130 Diese hätten laut Hielscher Franke einige Monate gewähren lassen, nunmehr aber selbst die Kontrolle übernommen und die Zeitschrift in den neu geschaffenen Arminius-Verlag überführt, der im Besitz eines Strohmanns von Ehrhardt sei.131 Franke sei nur noch nominell 129
Dass Franke dabei allerdings, ähnlich wie Ehrhardt, weniger zum ‚alten‘, bürgerlichen Nationalismus als zu völkischen Positionen tendierte, zeigt sein Schwanken zwischen Progression und Regression, die Abwehr der reflexiven Modernisierung bei gleichzeitiger Bejahung der einfachen Modernisierung. Indizien dafür sind die bei den Völkischen so beliebte Unterscheidung zwischen einem angeblich gesunden Unternehmerkapitalismus und dem Finanzkapitalismus der Banken und Börsen, die Polemik gegen „Hochkapitalismus“ und „Händlerkapitalismus“ bei Festhalten an der „Individualwirtschaft“ und der Systemautonomie der Wirtschaft, die Mühelosigkeit, mit der Franke von der Klage über die Versklavung des Menschen durch die Technik zur Forderung nach „Stärkung der Inlandsproduktion, Hebung der Inlandskonsumtion und Technisierung der Landwirtschaft“ übergeht. Nimmt man weitere einschlägige Topoi hinzu, wie die Feindschaft gegen Bürokratie, Großstadt, Luxus, Rationalismus, Materialismus, Amerikanismus etc., so ist klar: Helmut Franke musste sich nicht verleugnen, als er im August 1926 zu einem so fest in der völkischen Szene verwurzelten Blatt wie dem Arminius wechselte (vgl. Franke 1924 [wie Anm. 22], S. 152, 169 f., 186 f.; 1926 [wie Anm. 24]. S. 164, 61, 108; 1928 [wie Anm. 20], S. 61, 58, 42. Zur idealtypischen Abgrenzung von altem, neuem und völkischem Nationalismus vgl. Stefan Breuer: Grundpositionen der deutschen Rechten 1871-1945, Tübingen 1999). Für Ernst Jünger dagegen war dieser Wechsel ein Bruch, den er denn auch bald korrigierte. 130 Vgl. Ernst Jünger an Friedrich Hielscher, Brief vom 6.4.1927, in: Jünger/Hielscher 2005 (wie Anm. 60), S. 14 ff.; Ernst Jünger an Friedrich Friedmann, Brief vom 11.4.1927, ebd., S. 23 f. Unhaltbar ist dagegen die Ansicht von Osteraas 1972 (wie Anm. 21), S. 221, Frankes Anteile am Arminius seien an Jünger und Hielscher verkauft worden, die ihrerseits das Geld von Ehrhardt bekommen hätten. 131 Die Nachricht vom Besitzerwechsel sprach sich schnell herum, denn am 29.5.1927 sah sich Ehrhardt genötigt, öffentlich zu erklären, dass er am Arminius nicht wirtschaftlich beteiligt sei. Dass Hielschers Informationen zutreffend waren, wird jedoch durch einen Bericht der Polizeidirektion München an den Reichskommissar für Überwachung der öffentlichen Ordnung bestätigt. Dort heißt es: „Der ‚Arminiusverlag‘ ist seit 1.10.1926 in hiesigem Registergericht nicht mehr eingetragen. Wie hier vertraulich bekannt wurde, ist Kapitän Ehrhardt als stiller Teilhaber in den ‚Arminius‘ eingetreten. Seine Erklärung im ‚Arminius‘ No. 22 v. 29.5.1927, dass er am ‚Arminius‘ wirtschaftlich nicht beteiligt ist, entspricht demnach nicht den Tatsachen. Nach hier
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Herausgeber, und auch für Jünger sei in Zukunft eine engere Anbindung an die Ehrhardtsche Politik geplant, die weniger an der Klärung von Grundsatzfragen des Nationalismus als an der Erreichung kurzfristiger Ziele interessiert sei; das Grundsätzliche solle nur mehr zur Verdeutlichung der praktischen Forderungen dienen. Alle Hefte würden demgemäß einen vom „Chef“ – Ehrhardt – rechtzeitig zu befehlenden Charakter mit bestimmten Meinungsäußerungen erhalten. Jünger sei dazu ausersehen, im Mai den Vorstoß Ehrhardts zu einer praktischen Studentenpolitik einzuleiten, wobei man um der Zugkraft seines Namens willen bereit sei, ihm einen gewissen Spielraum zu gewähren.132 Das war eine Perspektive, die sich ein Ernst Jünger nicht bieten ließ. Da er neben dem Ärger über Frankes Unaufrichtigkeit noch einen anderen Grund hatte, wütend zu sein – die Rede ging von unterschlagenen Briefen –, stellte er Ehrhardt und dessen Leuten ein Ultimatum, mit dem Ziel, Franke aus dem Arminius zu verdrängen.133 Gleichzeitig begann er mit Hielscher Pläne für eine eigene Zeitschrift zu ventilieren, für die zeitweise sogar an Hugenberg als Geldgeber gedacht war.134 Nach einigem Hin und Her schied er Ende April aus der Herausgeberschaft aus. Sein Zorn war so groß, dass er gegenüber Hielscher sogar erwog, öffentlich gegen Ehrhardt aufzutreten, entweder über die Faschistische Korrespondenz oder, wenn dies nicht möglich sei, über die Nationalsozialisten – ein Vorhaben, von dem Hielscher ihm sogleich dringend abriet.135 Die Wogen glätteten sich zwar wieder, als Liedig, der Adjutant Ehrhardts, alle Hebel in Bewegung setzte, um Jünger zu besänftigen und zu diesem Zweck eigens Hielscher nach Leipzig schickte. Aber obwohl ihm signalisiert wurde, dass alle seine Forderungen erfüllt würden, obwohl Franke gekündigt und die Rolle Hielschers in der Redaktion aufgewertet wureingegangenen Nachrichten soll die Finanzierung durch ihn, bzw. den Wikingbund geheim gehalten werden. An Stelle des bisherigen Nachrichtenblattes des Wikingbundes ‚Der Vormarsch‘, das seit 1. April 1927 nur einmal erschien, soll nunmehr der ‚Arminius‘ treten“ (Schreiben vom 25.7.1927, BArch, R 1507/390, Bl. 327). 132 Friedrich Hielscher an Ernst Jünger, Brief vom 6.4.1927, in: Jünger/Hielscher 2005 (wie Anm. 60), S. 15. 133 Vgl. Ernst Jünger an Hermann Ehrhardt, Brief vom 11.4.1927, ebd., S. 22; Ernst Jünger an Friedrich Friedmann, Brief vom 11.4.1927, ebd., S. 23 f. 134 Vgl. Ernst Jünger an Friedrich Hielscher, Brief vom 15.4.1927, ebd., S. 28 ff. 135 Vgl. Ernst Jünger an Friedrich Hielscher, Brief vom 28.4.1927, ebd., S. 42 ff.; Friedrich Hielscher an Ernst Jünger, Brief vom 29.4.1926, ebd., S. 45 f.
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de,136 blieb Jünger im entscheidenden Punkt hart. Er schrieb wohl noch weiter Artikel für den Arminius, kehrte aber nicht mehr in die Reihe der Herausgeber zurück. In seinen Texten machte er darüber hinaus unmissverständlich klar, dass er weder mit dem „deutschen Faschismus“ noch mit dem Faschismus schlechthin etwas zu tun haben wollte. Hatte er sich gegenüber Hielscher bereits brieflich ablehnend über Frankes Aufsätze geäußert – „Übrigens, wenn die Leute den Frankeschen Faschismus lesen und nicht über uns lachen, müssen sie schon recht wenig Kritik besitzen“137 –, so hieß es in seinem vorletzten Beitrag zum Arminius dezidiert: „Es hat uns geraume Zeit ein Bild in Bann gehalten, das überwunden werden muß: das Vorbild des in Mussolini verkörperten Faschismus“. Die deutsche Revolution sei von der italienischen grundverschieden, eine Bewegung, die längerer und tieferer geistiger Vorbereitung bedürfe, ganz besonders auch der „Sammlung derer, die wieder glauben können“, deren Wille zur Macht auch durch die Kräfte der Seele getragen sei und durch eine Empfänglichkeit für den „Name(n) des Reiches“ – übrigens eine kaum überhörbare Reverenz gegenüber Hielscher.138 Drei Jahre später bezeichnete er den Faschismus als einen „späte(n) Zustand des Liberalismus, ein vereinfachtes und abgekürztes Verfahren, gleichsam eine brutale Stenographie der liberalistischen Staatsverfassung, die für den modernen Geschmack zu heuchlerisch, zu phrasenhaft und vor allem zu umständlich geworden ist.“ Für Deutschland sei „der Faschismus ebensowenig wie der Bolschewismus gemacht, sie reizen an, ohne daß sie befriedigen werden, und man darf von diesem Lande schon hoffen, daß es einer eigenen und strengeren Lösung fähig ist.“139 Für Franke zahlte sich die Treue zu Ehrhardt nicht aus. Da sein Name nicht über den gleichen Prestigewert verfügte wie derjenige Jüngers und dieser seine weitere Mitarbeit von der Ausschaltung Frankes abhängig machte, ließ Ehrhardt ihn fallen. Seine Ausschaltung aus dem Arminius vollzog sich schrittweise. Das Impressum weist ihn ab Heft 15 (10.4.1927) nur noch als Herausgeber und Hauptschriftleiter aus; als verantwortlich für den redaktionellen Teil zeichnet mit Friedrich Friedmann ein Gefolgsmann 136 Friedrich
Hielscher an Ernst Jünger, Brief vom 5.5.1927, ebd., S. 49 f. Jünger an Friedrich Hielscher, Brief vom 15.4.1927, ebd., S. 30. 138 Ernst Jünger: An die Freunde, in: Arminius 8, 1927, H. 35 = Jünger 2001 (wie Anm. 36), S. 363 f. 139 Ernst Jünger: Über Nationalismus und Judenfrage, in: Süddeutsche Monatshefte 27, H. 12, Sept. 1930 = Jünger 2001 (wie Anm. 36), S. 591. 137 Ernst
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Ehrhardts. Vierzehn Tage später ist Franke nur noch als Herausgeber genannt, und wiederum zwei Wochen darauf erscheint sein Name weder auf dem Titelblatt noch auf der Rückseite.140 Gegenüber Jünger erklärte er in einem Telegramm vom 5.5., als Herausgeber zurückgetreten zu sein.141 Danach scheint Franke noch einen Versuch unternommen zu haben, mit Unterstützung der Nationalsozialisten ein weiteres Blatt aufzuziehen, scheiterte aber, nicht zuletzt aufgrund einer Intervention Jüngers, der Hitler und Goebbels vor Franke warnte.142 Noch im gleichen Jahr verließ er Deutschland.
IV. So viele persönliche Züge der Streit im Arminius auch trug, er war doch zugleich in sachlicher Hinsicht symptomatisch für die tiefgreifende Polarisierung, die in der zweiten Hälfte der 20er Jahre in der bündischen Bewegung Deutschlands Platz griff. Während der Stahlhelm seine Vorbehalte gegen die Parteien zunehmend abschwächte und seine Bereitschaft zum Bündnis mit den Kräften der extremen Rechten durch eine pro- bzw. philofaschistische Haltung signalisierte,143 markierten die kleineren Bünde immer entschiedener ihre Distanz hierzu. Das geschah zum Teil unter Verwendung von Argumenten, wie sie auch in der völkischen Bewegung zirkulierten, etwa durch eine Betonung der Unterschiede zwischen dem Staatszentralismus der Italiener und dem völkischen Empfinden der Deutschen, durch ein 140 Vgl.
Arminius 8, 1927, H. 19. Vgl. Ernst Jünger an Friedrich Hielscher, Brief vom 6.5.1927, in: Jünger/Hielscher 2005 (wie Anm. 60). 142 Vgl. ebd. Mit Schreiben vom 10.5.1927 ließ Goebbels Jünger wissen, dass er die Warnung verstanden hatte. „Was Sie mir über Herrn Franke mitteilen, kommt mir nicht so ganz unerwartet. Ich war bei der Unterredung Frankes mit Hitler zugegen. Hitler hat sich durchaus nicht ihm gegenüber in Bezug auf das projektierte nationalsozialistische Führerblatt gebunden. Von einer Zusage kann gar keine Rede sein. Herr Hitler hat aber den dringenden Wunsch geäussert, Sie einmal persönlich kennen zu lernen. Vielleicht ergibt sich demnächst eine Gelegenheit dazu. Mit deutschem Gruß Ihr sehr ergebener Dr. Goebbels“ (NL Ernst Jünger, DLA). Zu diesem Treffen ist es freilich ebenso wenig gekommen, wie zu demjenigen, das für Juni 1926 in Leipzig geplant war. 143 Noch weiter ging die Anpassung an den ‚Parteiismus‘ beim Jungdeutschen Orden, der sich 1930, wenn auch nur für kurze Zeit, mit der Deutschen Demokratischen Partei zur Deutschen Staatspartei zusammenschloss: vgl. Fricke (wie Anm. 82), Bd. 3, 1985, S. 138 ff. 141
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Ausspielen des antikatholischen bzw. ‚antirömischen Affekts‘, wie er nicht erst seit dem Kulturkampf, seither aber besonders virulent war oder durch wortreiche Klagen über den ethnokratischen Charakter des Faschismus, wie er sich vor allem in der Südtirolpolitik zeige.144 Was aber „subjektiv den maßgebenden Abstand zum ‚faschistischen‘ Nationalismus (schuf), dessen Kennzeichen das Festhalten am kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsgefüge, vor allem aber am älteren Nationalstaatsgedanken bildeten“, war, wie Klaus-Peter Hoepke in seinem bis heute unübertroffenen Überblick über das Verhältnis der deutschen Rechten zum italienischen Faschismus formuliert hat, die „scharfe Akzentuierung der ‚sozialistischen‘ Komponente im ‚neuen Nationalismus‘“.145 Das will wohl verstanden sein, denn erstens handelte es sich nicht um Sozialismus schlechthin, sondern nur um eine Verstärkung egalitärer, die Inklusion betonender Züge innerhalb eines rechtsnationalistischen, d. h. weiterhin auf Ungleichheit setzenden Denkmusters; und zweitens wies der neue Nationalismus in dieser Beziehung eine beachtliche Bandbreite auf, die von einer bedingten Anerkennung kapitalistischer Wirtschaftsformen bis zu einer vollständigen Unterwerfung derselben unter staatliche Planung reichte.146 Neue Nationalisten fanden sich deshalb nicht nur im Lager der ‚antifaschistischen‘ kleineren Bünde, sondern auch dort, wo man den Faschismus prinzipiell bejahte, wie das Beispiel der Stahlhelmliteraten Schauwecker und Heinz lehrt,147 oder dasjenige des Mit144
Vgl. etwa für den Wehrwolf die Belege bei Berg 2008 (wie Anm. 12), S. 278, 300 f., 321, 354. Der Führer des Wehrwolf, Fritz Kloppe, hat noch im Februar 1933 Kontakt mit einigen kleineren oppositionellen Rechtsgruppen vom Widerstandskreis über den Jungdo bis zur Schwarzen Front aufgenommen, um über eine „heimliche Front“ gegen den „Faschismus“ zu verhandeln: vgl. ebd., S. 351. Reiches Anschauungsmaterial für die Polemik gegen den ethnokratischen Charakter des Faschismus bietet vor allem die überbündische Zeitschrift Die Kommenden, in der von 1926 bis 1928 der völkische Nationalismus dominierte, um anschließend vom neuen Nationalismus überlagert zu werden. Vgl. u. a. (o.V.): Botschaft der Mütter Südtirols an die deutschen Frauen des Reiches, 1, 1926, F. 3; Werner Wirths: Deutschsüdtirol, 1, 1926, F. 8; diverse ungezeichnete Artikel in 1, 1926, F. 42; Heinrich Rembe: Die Wahrheit über Südtirol, 5, 1930, F. 20; H.: Schweigen über Südtirol, 6, 1931, F. 48 sowie die mit „A.S.“ gezeichnete Reihe „Südtiroler Brief“, 7, 1932, F. 43; 8, 1933, F. 5; F. 9-10; F. 17. 145 Hoepke 1968 (wie Anm. 77), S. 232 f. 146 Vgl. dazu näher: Breuer 1999 (wie Anm. 129), S. 117 ff. Das mag die Grenze zu den Völkischen flüssig erscheinen lassen, doch fehlt dem konkurrenzkapitalistisch orientierten Flügel der neuen Nationalisten sowohl der Akzent auf Mittelstandsinteressen, der für die Völkischen typisch ist, als auch die schroffe Abwehr der reflexiven Modernisierung. 147 Vgl. Franz Schauwecker: Deutsche allein. Schnitt durch die Zeit, Berlin 1931, S. 179 f.; Italien – Mussolini, in ders.: So ist der Friede. Die Revolution der Zeit in 300 Bildern, Berlin
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herausgebers des Deutschen Volkstums, Albrecht Erich Günther, der die faschistische Machtübernahme als „Kairos“ feierte,148 als die einmalige Chance, „die Menschen des Massenzeitalters in den nationalen Staat zu verfassen“– unter der Führung nicht nur der „genialen Persönlichkeit Mussolinis“, sondern auch und vor allem der im nationalrevolutionären Männerbund organisierten „Jungmannschaft“.149 Obschon also ein gewisses Minimum an Gemeinsamkeiten im bündischen Selbstverständnis wie auch in der neonationalistischen Ideologie bestehen blieb, kam es doch insofern zu einer Polarisierung, als von einer wachsenden Zahl von Autoren das Verhältnis des Faschismus zur bürgerlichkapitalistischen Ordnung zum Gegenstand einer zunehmend schärferen Kritik gemacht wurde. Ernst Jünger war in dieser Beziehung keineswegs der einzige, bei dem sich ein Sinneswandel ausmachen lässt. Hartmut Plaas etwa, der Adjutant Kapitän Ehrhardts, feierte noch im Juli 1927 „die faschistische Idee“, die sich im großen Führer und seiner Elite verkörpere und forderte den „deutsche(n) Faschismus“ auf, den Weg über die Weltanschauung zu nehmen, um ‚geschichtlich durchzuschlagen‘.150 Gut ein halbes Jahr später erschien ihm dagegen „die italienische Herrschaftsform des Fascismus (...) praktisch als eine Herrschaft des Kleinbürgers über Kapital und Arbeit“, die nachzuahmen „nicht die Aufgabe des Deutschen Nationalismus sein“ könne. „Denn die Erneuerung Deutschlands wird nicht durch eine Revolution des Mittelstandes erfolgen. Die letzten Jahre haben zu deutlich die politische Impotenz dieser Schicht erwiesen. Mit dieser Ablehnung des Mittelstandsfascismus entfällt also auch der Vorwurf, daß unsere Arbeit stets die eines 1928, S. 105-112; Mussolini, in: Stahlhelm-Sender, H. 31, 28.7.1933; Friedrich Wilhelm Heinz: Sprengstoff, Berlin 1930, S. 102 ff.; Die Nation greift an, Berlin 1933, S. 81. Ablehnend jedoch ders.: Deutschland, Rußland und die ‚unterdrückten Völker‘. Zum asiatischen Studentenkongreß in Rom, in: Buch und Gewehr, Januar 1934. 148 Albrecht Erich Günther: Wird der Faschismus bleiben? In: Deutsches Volkstum 34, 1932, S. 7-13. Zu Günthers Faschismus-Deutung vgl. auch ders.: Begegnung mit dem Faschismus, in: Deutsche Handelswacht 38, 1931, Nr. 17; Der Fascismus, in: Die junge Mannschaft 1, 1931, H. 5; Der italienische Nationalismus, ebd., H. 6; Hoepke 1968 (wie Anm. 77), S. 25 ff. 149 Albrecht Erich Günther: Einleitung zu Guido Bortolotto: Faschismus und Nation. Der Geist der korporativen Verfassung, Hamburg 1932, S. 9, 7; vgl. auch ders.: Geist der Jungmannschaft, Hamburg 1934. 150 Hartmut Plaas: Gedanken über Wikingertum, in: Der Vormarsch 1, 1927, H. 2, Juli. Zu Hartmut Plaas (1899-1944) vgl. die biographische Skizze in Ina Schmidt: Der Herr des Feuers. Friedrich Hielscher und sein Kreis zwischen Heidentum, neuem Nationalismus und Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Köln 2004, S. 42 ff.
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Hausknechts für das Kapital sein wird.“151 Im Übrigen sei auch die „Niederwerfungstaktik“ mit einer „elementar-revolutionären Bewegung“ nicht zu vereinbaren.152 Ernst von Salomon, auch er ein Mitglied der Ehrhardttruppe, bejahte zunächst den Faschismus als universell gültigen Ausdruck einer neuen, zugleich heldischen und staatssozialistischen Lebensform, lenkte dann aber unter dem Einfluss seines Mentors Hielscher auf eine Betrachtungsweise um, die stärker die westlerisch-imperialistische Zielsetzung und die patriotisch-chauvinistischen Methoden des Faschismus betonte.153 Für den Führer der Bündischen Reichschaft, Kleo Pleyer, dem der italienische Faschismus noch 1926 als Beispiel einer erfolgreichen Erhebung der Frontsoldaten galt, war er 1931 zu einer Gefahr geworden, da er den Nationalsozialismus verfälsche, Deutschland in die geistige Gefolgschaft Italiens bringe und damit sowohl die „Verrömerung Deutschlands“ als auch die „Westlerei“, die Unterwerfung unter den westlichen Kapitalismus, fördere.154 Die Zeitschrift Die Tat, die 1929 den Faschismus als „das erste revolutionäre Experiment der Mittelklasse“ feierte, das nur noch nicht recht funktioniere, wies zwei Jahre später während ihrer Liaison mit Otto Straßers Schwarzer Front den Universalitätsanspruch des Faschismus zurück: Eine Parteidiktatur, wie sie Mussolini errichtet habe, sei letztlich nichts weiter als ein „Endprodukt des Liberalismus“, das den deutschen Verhältnissen unangemessen sei.155 151
Ders.: Reichsbanner und Rotfront, in: Der Vormarsch 1, 1928, H. 9, Februar. Ders.: Rote Klassenfront, in: Der Vormarsch 2, 1929, H. 10, März. 153 Vgl. Ernst Friedrich (d. i. Ernst von Salomon): Der Faschismus als Lebensform, in: Deutsche Front 5, 1928, 2. September-Ausgabe. Auch in: Das Landvolk 1, 1929, Nr. 75; Ernst von Salomon: Nationalismus und Irredenta, in: Der Vormarsch 2, 1929, H. 10, März. Zu Salomon (1902-1972) vgl. Markus Josef Klein: Ernst von Salomon. Eine politische Biographie, Limburg a. d. Lahn 1994. 154 Vgl. Kleo Pleyer: Das faschistische Italien und wir, in: Das Dritte Reich 3, 1926; OstenWesten-Mitte, in: Bündische Welt 4, 1931, F. 3; vgl. auch ders.: Entscheidungsjahr 1933, in: Die Bündischen 1, 1933, H. 1, Januar. Zu Pleyer (1898-1942) vgl. Helmut Heiber: Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands, Stuttgart 1966, S. 389 ff.; Hoepke 1968 (wie Anm. 77), S. 218 ff. Zur Bündischen Reichschaft vgl. Werner Kindt (Hrsg.): Dokumentation der Jugendbewegung, Bd. 3: Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933. Die bündische Zeit, Düsseldorf und Köln 1974, S. 1242 ff. 155 Vgl. Hans Zehrer: Grundriß einer neuen Partei, in: Die Tat 21, 1929, H. 9, S. 653; Rechts oder Links, in: Die Tat 23, 1931, H. 7, S. 533; Autoritär oder was sonst? ebd. 24, 1933, H. 12, S. 1029 ff. Brieflich begrüßte Zehrer den Faschismus immerhin als eine Erscheinung, „die revolutionär vieles von dem zu verwirklichen sucht, was wir in Deutschland evolutionär und in grösserem Zeitraum ebenfalls anstreben“: Hans Zehrer an Ernst Wilhelm Eschmann, Brief vom 30.9.1929, zit. n. M. Frederik Plöger: Soziologie in totalitären Zeiten. Zu Leben und 152
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Bei anderen stand diese Ansicht von Anfang an fest oder wurde gleich fertig übernommen. Für Friedrich Hielscher, Herausgeber von Zeitschriften wie Der Vormarsch und Das Reich, war das faschistische Italien ein Bundesgenosse des Westens und damit der bürgerlich-kapitalistischen Welt, gegen den „Mißtrauen“ und Skepsis angebracht waren.156 Außerhalb Italiens, so das Fazit seiner Besprechung des Buches von Landauer und Honegger über den internationalen Faschismus, gebe es keinen Faschismus; zumal Frankes Beitrag über den angeblichen ‚deutschen Faschismus‘ ein Fehlgriff sei.157 Für Ernst Niekisch, der mit seiner Zeitschrift Widerstand über ein deutlich größeres Publikum und darüber hinaus mit den Oberlandkameradschaften auch über ein eigenes bündisches Fundament verfügte, war der Faschismus eine „Verteidigung der bürgerlichen Zivilisation“, ein ‚Gewächs des Liberalismus‘ und überdies „in jedem seiner Züge katholisch“.158 Auch in den Reihen des nationalsozialistischen Dissidententums setzte sich diese Auffassung durch. War für Erich Rosikat noch 1928 die „faschistische Methode“ des Kampfes gegen die marxistischen Parteien und Verbände ein immerhin legitimes Verfahren, die Arbeitermassen nach rechts zu ziehen, das aber zu seiner vollen Wirksamkeit der Ergänzung durch die „sozialistische Methode“ bedürfe –
Werk von Ernst Wilhelm Eschmann (1904-1987), Münster 2007, S. 221. Bei Eschmann, der mit zahlreichen Arbeiten zum Faschismus hervorgetreten ist, auch Mitglied der Gesellschaft zum Studium des Faschismus war, überwog allerdings die Neigung zu einer eher singularisierenden Betrachtungsweise, die in der Erkenntnis kulminierte, „daß weder aus Rom noch aus Moskau Formeln kommen, die unsere Notwendigkeiten erfüllen.“ Vgl. Der Faschismus und die Mittelschichten, in: Die Tat 21, 1930, H. 11, S. 847 ff.; Der faschistische Staat in Italien, Breslau 1930, S. 114 ff.; Der Faschismus in Europa, Berlin 1930, S. 84. Dazu auch, mit umfangreichen bibliographischen Angaben: Plöger 2007, S. 279 ff. 156 Vgl. o.V. (Friedrich Hielscher): Die letzten vier Wochen. Südtirol, in: Der Vormarsch 2, 1929, H. 8, Januar; Besprechung zu Franz Schauwecker, So ist der Friede, ebd. 157 Vgl. Friedrich Hielscher: Die letzten Wochen, in: Das Reich 2, 1931, Nr. 12, September; Der Vormarsch 2, 1928, H. 1, Juni. Zu Friedrich Hielscher (1902-1990) vgl. Schmidt 2004 (wie Anm. 150). 158 Ernst Niekisch: Entscheidung, Berlin 1930, S. 77; Hitler, ein deutsches Verhängnis (1932), in ders.: Politische Schriften, Köln und Berlin 1965, S. 29. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten änderte Niekisch seine Haltung allerdings. Als er 1935 bei einem Besuch in Rom zu einer Audienz bei Mussolini eingeladen wurde, schlug er diesem eine Allianz der ‚proletarischen Völker‘ Deutschland, Italien und Rußland vor und stieß damit durchaus auf Zustimmung. Vgl. Ernst Niekisch: Gewagtes Leben. Begegnungen und Begebnisse, Köln und Berlin 1958, S. 262 ff. Zu Niekisch (1889-1967) vgl. Birgit RätschLangejürgen: Das Prinzip Widerstand. Leben und Wirken von Ernst Niekisch, Bonn 1997.
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des entschiedenen Antikapitalismus –,159 so handelte es sich einige Jahre später für Otto Straßer nur mehr um eine „liberal-reaktionäre“ Bewegung, um den „letzte(n) Versuch des kapitalistischen, imperialistischen und liberalistischen Systems (...), seine Herrschaft über das deutsche Volk aufrechtzuerhalten.“160 Artur Grosse, Presse- und Schulungsleiter der Gauleitung der HJ in Berlin, der sich 1930 der Sezession Otto Straßers anschloss und die Leitung der als Gegenorganisation zur HJ konzipierten „Nationalsozialistischen Arbeiter- und Bauernjugend“ übernahm, deutete in gleicher Weise den Faschismus als „letzte Stufe des nationalen Kapitalismus“, die „die nationale Profitrate ‚garantierte‘ und die internationale zugleich ‚sicherte‘ – auf Kosten des Volkes“.161 Die „Schwarze Front“, die die bewegenden Kräfte der kommenden deutschen Revolution nicht in den Parteien, sondern in Bund und 159
Vgl. Erich Rosikat: Die Lehren der Maiwahlen für die parteivölkische Bewegung, BArch PK K 0061. Rosikat (1890-1934) war 1925 stellvertretender Gauleiter von Schlesien. Im Rahmen der Berliner Arbeiterzeitung, die zum Kampf-Verlag der Brüder Straßer gehörte, redigierte er die Beilage Völkische Bauernschaft und beeinflusste maßgeblich den agrarpolitischenTeil des Programmentwurfs der Brüder Straßer von 1926. 1927 wurde er von Hitler aus der NSDAP ausgeschlossen. Vgl. Albrecht Tyrell: Führer befiehl... Selbstzeugnisse aus der ‚Kampfzeit‘ der NSDAP (1969), ND Bindlach 1991, S. 144 f.; Udo Kissenkoetter: Gregor Straßer und die NSDAP, Stuttgart 1978, S. 97 f.; Johnpeter Horst Grill: The Nazi Party’s Rural Propaganda Before 1928, in: Central European History 15, 1982, S. 149-185, 166. 160 Wir suchen Deutschland. Ein freier Disput über die Zeitkrisis zwischen Gerhard SchultzePfaelzer und Otto Straßer, Major Buchrucker, Herbert Blank, Leipzig und Zürich 1931, S. 148, zit. n. Hoepke 1968 (wie Anm. 77), S. 233; o.V.: Kampf dem Faschismus! Die tödliche Gefahr für den Nationalsozialismus, faschistische Reaktion oder deutsche Revolution, in: Deutsche Revolution 1931, Nr. 4, 25.1., zit. n. Patrick Moreau: Nationalsozialismus von links. „Die Kampfgemeinschaft revolutionärer Nationalsozialisten“ und die „Schwarze Front“ Otto Straßers 1930–1935, Stuttgart 1985, S. 64. Schon vor Otto Straßers Sezession aus der NSDAP waren die von ihm bzw. Gregor Straßer geleiteten Nationalsozialistischen Briefe durch eine kritische bis ablehnende Haltung gegenüber dem Faschismus geprägt: vgl. etwa Dr. W.: Fascismus und Nationalsozialismus im Ringen um die Gestaltung des neuen Staates, in: Nationalsozialistische Briefe, 1.12.1926; Erich Rosikat: Faschistenlegende, ebd., 15.5.1927; Otto Straßer: Nationalsozialismus und Staat, ebd. 4, 1928-29, H. 13; Reinhold Muchow: Rutenbündel und Davidstern. Der judenfreundliche Faschismus, ebd., H. 23; Bodo Uhse: Faschismus oder Nationalsozialismus, ebd., 5, 1929-30, H. 18. Allgemein zur Haltung der NS-Linken gegenüber dem Faschismus: Reinhard Kühnl: Die nationalsozialistische Linke 1925-1930, Meisenheim a. G. 1966, S. 203 ff.; Hoepke 1968 (wie Anm. 77), S. 197 ff. 161 Artur Grosse: Die deutsche Position, in: Die Kommenden 6, 1931, F. 50. Zu Grosse (1906-1990) vgl. BArch PK D 0194; ZA VI-3964, Akte 5 sowie die Angaben in Moreau 1985 (wie Anm. 160), S. 46 f., 67. Dass er 1931 in die KPD eingetreten sei, wie Moreau behauptet, hat Grosse später in einer Mitteilung an die Deutsche Verlagsanstalt dementiert. Vgl. seine Postkarte vom 6.3.1985, in: IfZ München, ZS 2393.
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Orden sah,162 machte den „deutschen Faschismus“ bereits in der Regierung Papen aus und erklärte es nur für eine Frage der Zeit, bis das Zentrum und die NSDAP auf dessen Linie einschwenken würden.163 Einige Ortsgruppen der von Straßer gegründeten Kampfgemeinschaft Revolutionärer Nationalsozialisten sahen deshalb auch keinen Grund, warum sie sich nicht an der kommunistischen „Antifa“-Bewegung beteiligen sollten.164 Derselben Tendenz konnte man am linken Rand der rechten Jugendbünde begegnen. Auf dem zur Gründung eines Weltbundes der Jugend anberaumten Treffen im holländischen Ommen im August 1928 setzten sich die „Jungnationalisten“ – Hans Ebeling und Werner Laß – von dem Versuch der deutschen Führerschichten ab, „mit faschistischen Mitteln oder vermittels Mißbrauches der Person Hindenburgs (...) den nachbismarckischen Imperialismus durch Anschluß Deutschlands an die imperialistischen Westmächte zu erneuern“.165 Der Vorkämpfer, die Zeitschrift von Ebelings Jungnationalem Bund, definierte den Faschismus als „die grundsätzliche Bejahung und das Erhaltungsstreben der kapitalistischen Wirtschaftsordnung mit allen zu Gebote stehenden Mitteln“ und sah für die Gegenwart nur die Wahl zwischen Sozial-Faschismus und National-Faschismus einerseits, der proletarischen Revolution andererseits.166 Der von Werner Laß herausgegebene Umsturz erklärte den Faschismus zu einem „Umweg, der einen letzten Rettungsversuch der sterbenden bürgerlich-kapitalistischen Welt bedeutet“, dem nur im Bündnis mit dem organisierten Proletariat Einhalt geboten werden könne.167 Karl Otto Paetel, 1930 Schriftleiter der Kommenden und Gründer der Gruppe Sozialrevolutionärer Nationalisten, atta-
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Vgl. o.V.: Wir stehen ahnend an der Wende! In: Die schwarze Front 7, 1932, Nr. 13. Vgl. Hildebrand: Faschismus oder Nationalsozialismus? In: Die schwarze Front 7, 1932, Nr. 17. Hinter dem Pseudonym Hildebrand verbirgt sich Alfred Griksch Franke, der Schwiegersohn von Gregor Straßer. 164 Vgl. Moreau 1985 (wie Anm. 160), S. 64 f. 165 Erklärung der deutschen Jungnationalisten, in: Die Kommenden 3, 1928, F. 45. 166 Der Vorkämpfer 3, März 1932; Juni 1932. Zu Ebeling (1897-1968) vgl. die biographischen Angaben im Kommentar zu Jünger/Hielscher 2005 (wie Anm. 60), S. 395 f. 167 Der Umsturz 1, Nr. 3, Dezember 1931; Nr. 8/9, Juli 1932. Werner Laß (1902-1999) war u. a. Hilfsredakteur bei Standarte und Arminius und Zweiter Bundesführer der Schilljugend, von der er sich 1927 abspaltete, um die Freischar Schill zu gründen. Von Januar 1930 bis Juni 1931 gab er zusammen mit Ernst Jünger die überbündische Zeitschrift Die Kommenden heraus. Zur Biographie vgl. den Kommentar zu Jünger/Hielscher 2005 (wie Anm. 60), S. 335 ff. 163
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ckierte den Faschismus als „Selbstschutzorganisation des Bestehenden“.168 Er verstehe es nicht, die Führungskräfte des Proletariats einzubauen, sei in seiner Wirtschaftsordnung lediglich eine Reform am Kapitalismus, in seiner ständisch getarnten Staatsordnung eine Diktatur über das werktätige Volk und verewige dadurch die Teilung der Nation in Herrscher und Beherrschte, weshalb der revolutionäre Nationalismus nicht anders sein könne als „antifaschistisch“, im Bündnis mit der KPD.169 Es war von hier aus gesehen nur konsequent, wenn Paetel 1932/33 zur Publikation Antifaschistischer Briefe überging und in seiner Zeitschrift Sozialistische Nation Artikel brachte, die sich über die „Niederknüppelung der revolutionären Arbeiterschaft Norditaliens durch die Faschisten“ empörten und sich offen auf die Seite der Gegner der Fasci schlugen, der Arditi del popolo.170 Paetels inoffizieller Nachfolger bei den Kommenden, Roderich von Bistram, widmete dem Thema Faschismus im September 1932 ein ganzes Heft, das mit einem Text von Mussolini eingeleitet wurde. In seinem Kommentar würdigte Bistram den Marsch auf Rom als „das klassische Beispiel einer nationalen Revolution“, als „Ausdruck eines einzigen, auf ferne Zukunftsziele gespannten Willensimpulses“, mit dem sich Italien wieder Re-
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Karl Otto Paetel: Das Nationalbolschewistische Manifest, Berlin 1933, S. 19. Zu Paetel (1906-1975) vgl. Franz-Joseph Wehage: Karl Otto Paetel. Biographie und Werk eines Literaturkritikers mit einer umfassenden Bibliographie seiner Werke, Bern 1985. 169 Karl Otto Paetel: Nationalismus und K.P.D., in: Die Kommenden 7, 1932, F. 38. 170 Vgl. Georg Osten: Deutscher Nationalismus und Sowjetrußland, in: Die Sozialistische Nation 1, 1931, H. 3/4; o.V.: „Peer Gynt“: Lehren des antifaschistischen Kampfes, in: Die Sozialistische Nation 2, 1932, Nr. 3/4, April. Weniger konsequent war dann allerdings die Artikelserie über den internationalen Faschismus, die Paetel unter seinem Pseudonym Wolf Lerson im Nachfolgeorgan der Kommenden, der Zeitschrift Wille zum Reich, veröffentlichte: vgl. ebd. 9, 1934, die Folgen 13-17, 20; 10, 1935, Folgen 2, 3. Selbst bei größtem Wohlwollen ist hier nichts von „Sklavensprache“ zu entdecken, wie Paetel dies später für sich in Anspruch genommen hat (Versuchung oder Chance? Zur Geschichte des deutschen Nationalbolschewismus, Göttingen etc. 1965, S. 169). Der Faschismus wird vielmehr ganz im Gegenteil als Beseitigung einer „durch das Auseinanderfallen von Kapital und Arbeit geschaffene(n) Gefahrensituation für die Gesellschaft“ dargestellt und als Ausdruck einer „die Welt überflutenden Welle nationalen Selbstbehauptungs- und sozialen Reformwillens und -bedürfnisses“ affirmiert. Die hieran anschließende Abwertung des italienischen Faschismus zugunsten des Nationalsozialismus bedient sich sämtlicher Argumente aus dem Arsenal der völkischen Faschismuskritik. Vgl. Wolf Lerson: Faschismus oder Preußentum? Eine Klärung der deutschen Situation, in: Wille zum Reich 9, 1934, F. 13.
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spekt verschafft habe.171 Erheblich relativiert wurde dieses Lob jedoch durch die Einschränkung, dass der Faschismus sich mehr oder weniger in der „Bewehrung eines vorgesetzten Staates“ erschöpfe und vor der entscheidenden Aufgabe Halt mache: der „Inangriffnahme und Lösung der zeitgeschichtlichen Aufgabe der sozialen Neugliederung seiner Volkskraft“.172 In ihrer faschistischen Form, so Bistram in einem Vortrag auf einem Treffen verschiedener Bünde in Thüringen im Juli 1932, erschöpfe sich die nationale Revolution in der Anbetung des Staates, ohne auf die Gegensätze im wirtschaftlichen und kulturellen Feld überzugreifen.173 Eine Übertragung dieses Modells auf die ganz andersartigen Aufgaben, die sich in Deutschland stellten, sei deshalb abzulehnen: „‚In Italien kam es darauf an, sieglosen Siegern, Treulosen gegen Bundesgenossen, ganzen Schichten von musikalischen Schwätzern durch einen erzwungenen bewahrsamen Selbstrespekt im Augenblick der Wende ein rasches neues politisches Ansehen zu verschaffen.‘ In Deutschland gilt es, ein mündig gewordenes Volk in die allein seiner Art gemäßen (!) bündische Gesetzlichkeit nach der Wertordnung von Führer und Gefolgschaft hineinzubauen. Und nicht autoritäre Machtansprüche von oben und faschistische Zwangsjacke von unten vermögen die deutsche Geschichte aus dem Ewigkeitsplan des Weltgeschehens herauszudrehen. Wer einen Hauch der Geschichte-wirkenden Kräfte verspürt hat, der stellt sich in den Strom der gestaltenden Schöpfermacht und weicht auch der Gewalt nicht: Deutschland muss bündisch sein – oder es wird in den Wettern des anbrechenden Chaos zerklirren. Auch-revolutionäre Kräfte, die außerhalb der Versailles-Weimarer Ordnung sich zu stellen den Mut nicht haben, die ihr Genüge finden an den Gegebenheiten der Zeit, fallen dem werdenden Deutschland in den Rücken. Wer die deutsche Ordnung aufgibt zu Gunsten eines irgendwie gearteten deutschen Faschismus, der kämpft wider das kommende Deutschland. Mögen es wenige sein, die trotzig abseits stehen; an diesen Unbedingten, diesen Wenigen aber wird der Faschismus zerbrechen. Und gingen sie selbst auch dabei zugrunde.“174 171
Roderich von Bistram: Italienischer und „deutscher“ Faschismus, in: Die Kommenden 7, 1932, F. 37; Politik und Rassenfrage, ebd., F. 16. Zu dem in Lettland geborenen, seit 1919 in Deutschland lebenden Bistram (1886-1968), der von 1931 bis 1933 maßgeblich die Kommenden prägte, vgl. Stefan Breuer und Ina Schmidt: Die Kommenden. Eine Zeitschrift der Bündischen Jugend (1926-1933), Schwalbach 2010, S. 103 ff. 172 Ders.: Bündische Frontenbildung, in: Die Kommenden 7, 1932, F. 25. 173 Ders.: Politische Lage und bündische Frontenbildung, ebd., F. 31. 174 Redaktionelle Anmerkung zu R. S.: Deutschland und der Faschismus, in: Die Kommenden 7, 1932, F. 37.
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Je radikaler freilich die sozialrevolutionären Ambitionen der neonationalistischen Bünde wurden, desto größer wurde das Lager derer, die ihnen als Faschisten galten. Es umfasste für die meisten neben der NSDAP bald auch deren Bündnispartner in der Harzburger Front, also die DNVP und den Stahlhelm sowie den so genannten Regierungsfaschismus von Brüning über Papen bis zu Schleicher.175 Manche Organe wie der Vorkämpfer, der Umsturz oder die Sozialistische Nation zogen den Kreis noch weiter und fügten in ihn auch noch den oppositionellen Nationalsozialismus von Otto Straßer sowie die Sozialdemokratie ein, die ganz im Sinne der kommunistischen Doktrin als Vertreterin des Sozialfaschismus hingestellt wurde.176 Bei soviel Ultraradikalismus konnte es nicht ausbleiben, dass am Ende auch derjenige, der die Absetzungsbewegung des sozialrevolutionären Neonationalismus vom Faschismus eigentlich eingeleitet hatte, diesem zugeschlagen wurde. Für den von Harro Schulze-Boysen herausgegebenen Gegner war Ernst Jünger im März 1932 nur mehr „einer der faschistischen Theoretiker“.177 Und das war keineswegs positiv gemeint. 175
Vgl. ders.: Bündische Frontenbildung; Lausanne – Arbeiterfront, in: Die Kommenden 7, 1932, F. 29. Zum „Regierungsfaschismus“ vgl. Der Vorkämpfer 3, 1932, Augustheft. Mit Bezug auf Brüning sprach Die schwarze Front vom „Kleinen Faschismus“: 6, 1931, Nr. 12. Wie stark dabei insbesondere die Stoßrichtung gegen die NSDAP war, lässt sich dem Bericht über eine Führertagung der Eidgenossen entnehmen, dem Älterenbund der von Werner Laß geführten Freischar Schill. Auf dieser Tagung wandte man sich explizit gegen die „Faschisierung des Nationalismus“, insbesondere gegen die „byzantinische(n) Führerauffassung des deutschen Faschismus“: vgl. Die Kommenden 6, 1931, F. 4. Einige Monate später heißt es in der gleichen Zeitschrift auf der Titelseite: „Seit die NSDAP, in Nachahmung des italienischfaschistischen Vorbildes, ihren eigenen Machtbestand in einem Kompromiß mit den Mächten deutscher Vergangenheit und internationaler Fesselung zu verankern sucht, regen sich in bündischen Kreisen der deutschen Jugend Zweifel an der Zielsicherheit ihrer heutigen Führung. Es ist nicht verwunderlich, daß die ganz Unentwegten ihren neuen Stützpunkt bei den Linksradikalen suchen und sich dem Kommunismus moskowitischer Prägung offen zuwenden“: o.V.: Front der Kommenden, in: Die Kommenden 6, 1931, F. 32. 176 Vgl. Der Umsturz 1, 1931, Nr. 1, September; Nr. 4, Dezember; Der Vorkämpfer 2, 1931, September; 3, 1932, Februar, Juni. 177 „Kaban“: Zur Ideologie des Faschismus, in: Gegner 6, 1932, H.4/5, März. Harro SchulzeBoysen kam vom Jungdeutschen Orden her. Während des Nazi-Regimes gehörte er zur sogenannten Roten Kapelle. Vgl. Louis Dupeux: ‚Nationalbolschewismus‘ in Deutschland, 1919 bis 1933, München 1985, S. 383 ff.; Alexander Bahar: Sozialrevolutionärer Nationalismus zwischen Konservativer Revolution und Sozialismus. Harro Schulze-Boysen und der ‚Gegner‘-Kreis, Koblenz 1992; Hans Coppi: Harro Schulze-Boysen – Wege in den Widerstand, Koblenz 1995; ders. und Geertje Andresen (Hrsg.): Dieser Tod paßt zu mir. HarroSchulze-Boysen – Grenzgänger im Widerstand. Briefe 1915-1942, Berlin 1999.
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V. Aus dem combattentismo, aus dem in Italien Faschismus und Squadrismus hervorgegangen sind, ist in Deutschland nichts Vergleichbares entstanden. Wohl übte auf die auch hier zahlreichen Wehr- und Kampfbünde das Vorbild des Faschismus eine starke Anziehungskraft aus und steigerte sich mitunter sogar bis zu der Forderung nach einem „deutschen Faschismus“. Im Schatten des seit 1923 wieder erstarkenden Leviathan polarisierte sich jedoch das Feld. Während die einen, allen voran der Stahlhelm, eine Strategie verfolgten, die das staatliche Gewaltmonopol respektierte, setzten die anderen auf Revolution und gerieten damit in Gegensatz zur Legalität. Entsprechend unterschiedlich gestaltete sich die Berufung auf den Faschismus. Wies er für die einen den Weg, wie man gedeckt durch die Legalität dennoch zu einer Rechtsdiktatur gelangen konnte, stand er für die anderen für eine erfolgreiche politische Mobilisierung durch eine bündisch strukturierte Elite. Da diese letzteren indes zu keiner wirklichen Praxis fanden, wofür schon die polizeiliche und justizielle Überwachung sorgten, investierten sie ihre Energien überwiegend in ideologische Grabenkämpfe, die die ohnehin bereits vorhandene Zersplitterung verstärkten und die Identifikation mit dem Faschismus untergruben. Zwischen dem Kriegerverein, der auf die bündische Militanz ebenso verzichten zu können glaubte wie auf den Anschluss an eine politische Partei, und den nationalrevolutionären Bünden, deren Gesinnungsradikalismus sich ständig weiter hoch schraubte, öffnete sich auf diese Weise ein Raum, der demjenigen besondere politische Chancen bot, der es verstand, Verein, Bund und Partei nicht länger gegeneinander zu profilieren, sondern zu kombinieren, zu einem handlungs- und arbeitsfähigen Gefüge zu integrieren. Dies ist gegen Ende der 20er Jahre erst der NSDAP gelungen; und sie war es dann auch, die, bei aller selbstbewussten Betonung der Unterschiede, das Anforderungspotential eines „deutschen Faschismus“ am ehesten erfüllte.
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Nationalsozialismus als Regime: Die Charismatisierung des Staates im Dritten Reich
I. Das Herrschaftsgefüge der NS-Diktatur wurde von Anfang an von einem tiefgreifenden Spannungsverhältnis zwischen charismatischer Legitimation und Machtschöpfung auf der einen Seite und der bürokratischen Rationalität der staatlichen Verwaltung auf der anderen Seite geprägt. Mit der Institutionalisierung charismatisch legitimierter Befehls- und Loyalitätsstrukturen wurden daher schon bald nach Hitlers Regierungsübernahme im Jahre 1933 auf nahezu allen Ebenen des politischen Systems, sowohl im Parteiapparat der NSDAP wie im Verwaltungssystem des Reiches insgesamt, die heftigsten Konflikte um Machtanteile, Entscheidungskompetenzen und administrative Handlungsspielräume ausgetragen. Die Umwandlung der NSDAP von einer revolutionären Partei der demagogischen Massenmobilisierung in eine die Staatsgewalt monopolisierende Regierungspartei gab vielfach, auch in den eigenen Reihen, Anlass zu Machtkonflikten. Wie schon oft zuvor in der Geschichte von Revolutionen und Staatsstreichen drohte auch der nationalsozialistischen Bewegung nach der erfolgreich verlaufenen Machtübernahme eine Spaltung in zwei gegensätzliche Lager: in die Fraktion der „alten Kämpfer“, die eine „zweite Revolution“ forderten,1 einerseits und in die auf einen möglichst dauerhaften Erhalt der Staatsmacht und ihrer persönlicher Ämter bedachten und daher weniger intransigenten Kräfte andererseits. Die blutige Zerschlagung der sich am stärksten mit dem gewalttätigen Aktionismus und den männerbündischen Organisationserfahrungen der „Kampfzeit“ identifizierenden Parteiarmee,2 der SA unter der Führung Ernst Röhms, im Juni 1934, ist nur das bekannteste Beispiel für die Machtkonflikte, die unmittelbar nach Hitlers
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Vgl. Ian Kershaw: Hitler 1889-1936, Stuttgart 1998, S. 634 f., 640. Vgl. in diesem Band S. 144 ff.
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Übernahme der Regierungsgewalt in der nationalsozialistischen Bewegung aufbrachen.3 Nicht nur kollidierten dabei die Machtbestrebungen Röhms, der unter dem Druck der Macht- und Versorgungsansprüche eines Heeres von etwa viereinhalb Millionen, größtenteils arbeitslosen SA-Kämpfern seine „Revolutionsarmee“ als „dritten Machtfaktor“ neben der Reichswehr und der regulären Polizei etablieren wollte, mit der politischen Strategie Hitlers.4 Auch die soziale Binnenorganisation dieses für die nationalsozialistische Bewegung der frühen dreißiger Jahre wohl typischsten Männerbundes, in dem sich auch noch nach Hitlers offizieller Verkündung des Endes der „nationalsozialistischen Revolution“ die Intransigenten sammelten und auf eine „zweite Revolution“ hofften, zeugt von erheblichen Anpassungsschwierigkeiten an den gleichsam postrevolutionären politischen Alltag.5 Ein Passus aus einem im Jahre 1936 unter dem Titel „Schicksal SA“ erschienenen Roman bringt die innere Verfassung der „braunen Kämpfer“ nach erfolgter politischer Wende anschaulich zum Ausdruck: „Der SA-Mann wandelt sich vom Staatsfeind zum Staatsbürger. Was bedeutet das? Es bedeutet, daß die Männer der SA, die endlose Jahre gegen den Staat der Vergangenheit gekämpft hatten, nun beginnen sollen, am Aufbau des neuen Reiches zu helfen. Das wäre eine Selbstverständlichkeit. Sie ist es, und die SA ist zu ihr bereit. Aber dennoch bedeutet sie für diese SA eine große innere Wandlung. Und das ist so, weil die Männer der SA in dem jahrelangen harten und erbitterten Kampf gegen die Macht des Staates zu revolutionären Menschen geformt wurden, in denen die Auflehnung zum Prinzip geworden ist. Das ist jetzt eine Gefahr, die nicht zu vermeiden war. Für den Kampf der SA waren keine Bürger zu gebrauchen. Landsknechte, Idealisten, Menschen voller Unruhe, ewige Soldaten haben ihn ausgefochten. Ihr unruhiges Blut fließt auch jetzt noch in der SA. Kann es so schnell zur Ruhe kommen? 3
Vgl. Kershaw 1998 (wie Anm. 1), S. 629 ff. Die historischen Zusammenhänge sind ausführlich dargestellt bei: Peter Longerich: Die braunen Bataillone. Geschichte der SA, München 1989, vgl. insb. Kap. IV. Die SA als verhinderte „Revolutionsarme“ (1933-1934), S. 165-219. 5 Am 6. Juli 1933 erklärte Hitler in einer Ansprache vor den Reichsstatthaltern die sogenannte nationalsozialistische Erhebung für beendet. Die Revolution, so verkündete der „Führer“, sei „kein permanenter Zustand“; den „freigewordenen Strom der Revolution“ müsse man jetzt „in das sichere Bett der Evolution herüberleiten“. Zugleich machte Hitler die Reichsstatthalter ausdrücklich dafür verantwortlich, „daß nicht irgendwelche Organisationen oder Parteistellen sich Regierungsbefugnisse anmaßen, Personen absetzen und Ämter besetzen“ (zitiert nach ebd., S. 182). 4
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Aber es ist nicht nur das (...). Alles ist auf einmal ganz anders geworden. Der nationalsozialistische Staat ist geboren. In ihm sind seine Führer die Minister, die Beamten sollen Diener seines Staates sein, und die Polizisten sind seine Kameraden geworden, die er grüßen muß.“6 Die von Hitler im Sommer 1934 unter Einsatz der Reichswehr und Himmlers SS durchgeführte Exekution der SA-Führung und die Unterdrückung ihrer Bataillone, die in der Folgezeit auf den Status eines paramilitärischen Sportverbandes herabgestuft wurden,7 bedeutete vor allem den „definitiven Stopp der Parteirevolution von unten, der Hitler den Weg zur Perfektionierung des Führerabsolutismus freimachte“.8 Die Ereignisse im Zusammenhang des „Röhm-Putsches“ ließen sich als Normalisierung der regimeinternen Machtbeziehungen nach erfolgtem Staatsstreich deuten, wenn die anschließende politische Entwicklung des Dritten Reiches es gestatten würde, von einem ungebrochenen Prozess der Veralltäglichung der nationalsozialistischen Führerherrschaft im Weberschen Sinne zu sprechen.9 Tatsächlich kann von einem solchen Prozess der institutionellen Normalisierung im NS-Staat jedoch keine Rede sein. Reichskanzler Hitler und seine engsten Gefolgsleute errichteten bekanntlich nicht nur eine Einparteiendiktatur unter weitgehender Ausschaltung des Parlaments und der Öffentlichkeit sowie unter Aushöhlung des Rechtsstaates nach dem Vorbild des mehr als zehn Jahre älteren italienischen Fascismo. Auch öffnete die charismatische Machtübernahme Hitlers nicht nur den Weg zur Verwirklichung einer absolutistischen Führerautokratie, die sich zum Vollzug ihrer Herrschaftspläne der 6
Fritz Stelzner: Schicksal SA, München 1936, S. 186 f.; vgl. Longerich 1989 (wie Anm. 4), S. 189 f. 7 Zur SA unter Röhms Nachfolger Viktor Lutze vgl. Mathilde Janin: Zur Rolle der SA im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, in: Lothar Kettenacker und Gerhard Hirschfeld (Hrsg.): Der Führerstaat: Mythos und Realität, London und Stuttgart 1981, S. 329-360. 8 Martin Broszat: Der Staat Hitlers. Grundlegung und Entwicklung seiner inneren Verfassung, München 1983, 10. Aufl., S. 272. 9 Die organisatorische Entwicklung der SA nach der nationalsozialistischen Machtergreifung trägt deutlich Züge eines Transformationsprozesses von charismatisch qualifizierten Verwaltungsstäben. Dieser wurde unter dem Druck von enttäuschten materiellen und sozialen Sicherungsbestrebungen der Stabsangehörigen sowie unter der Voraussetzung von Anpassungsschwierigkeiten an die Erfordernisse des politischen wie ökonomischen Alltags eingeleitet (dazu ausführlich Longerich 1989, wie Anm. 4). Die Organisationsgeschichte dieses paramilitärischen Stabsverbandes ist geradezu ein Musterbeispiel für Konflikte im Veralltäglichungsprozess von charismatisch qualifizierten Gefolgschaftsleuten unter dem Druck der vor allem auf kontinuierliche materielle Versorgung abzielenden „Alltagsinteressen“ von Stabsmitgliedern.
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bürokratischen Strukturen des modernen Verwaltungsstaates bediente. Wie die Entwicklung des faschistischen Regimes in Italien exemplarisch zeigt, wir werden darauf noch zurückkommen (siehe unter 313 ff.), hätte die Konstituierung einer bürokratischen Diktatur wahrscheinlich sehr rasch auch in Deutschland die neuen Machthaber mit unhintergehbaren verwaltungseigenen Sachzwängen und bürokratischen Einschränkungen bei der Durchsetzung ihrer politischen Projekte konfrontiert. Das Charisma des „Führers“ wäre vermutlich bald schon den „Bedingungen des Alltags und den ihn beherrschenden Mächten“,10 vor allem den bürokratischen Handlungsrationalitäten und wirtschaftlichen Interessen, ausgeliefert gewesen. Demgegenüber gründete die historische Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Führerdiktatur auf dem gerade auf institutioneller Ebene folgenreichen Umstand, dass Hitlers Charisma während seiner gesamten Herrschaftszeit ungebrochen blieb und die charismatisch legitimierte politische Machtergreifung sich in einem tiefgreifenden Strukturwandel der verwaltungsstaatlichen Vollzugsapparate fortsetzte. Mit Brechung des staatlichen Regierungs- und Bürokratiesystems durch vom „Führer“ geschaffene politische Sonderorganisationen oder die mit staatlichen Exekutivaufgaben betrauten Gliederungen der Partei entstand auf allen Ebenen der zentralen wie peripheren Staatsverwaltung eine politisch-administrative Doppelstruktur von bis dahin unbekannter destruktiver Dynamik. Die bis in die letzten Kriegstage hinein wirksame Vervielfältigung militärischer, polizeilicher und administrativer Sonderexekutivorganisationen der mannigfaltigen partikularen, territorialen wie sektoralen Herrschaftsstruktur des Dritten Reiches kam einer fortgesetzten charismatischen Machtergreifung im Verwaltungsunterbau des Staates gleich. Bei diesem Prozess durchsetzten extra-bürokratische und charismatisch qualifizierte Stabsorganisationen die gesamte staatliche Verwaltungsordnung, von den Reichsministerien über die Mittelinstanzen der Landes- und preußischen Provinzialverwaltungen bis hinab zu den Selbstverwaltungsstrukturen der Gemeinden. Mit der institutionellen Verzahnung bürokratiefremder Machtgebilde mit bürokratischen Vollzugsorganen des Staates und der Länderverwaltungen gelang den nationalsozialistischen Gewalthabern auf der anderen Seite aber auch die Eingliederung der regulären Staatsadministration in 10 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß, Teilband 4: Herrschaft (Max Weber Gesamtausgabe Abt. I Bd. 22-4), Tübingen 2005, S. 490.
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das neue, gleichsam charismatisierte Herrschaftsgefüge der Führerdiktatur. Diese durch den Aufbau bürokratieexterner Sonderexekutivorganisationen entstandene, auf Verwaltungs- wie auf Regierungsebene duale, charismatischbürokratische Herrschaftsstruktur der nationalsozialistischen Einparteiendiktatur verhinderte oder verzögerte, so unsere These, in der Konsequenz die Veralltäglichung des charismatischen Prozesses in den Jahren nach 1933. Das blieb nicht ohne Reibungen und Konflikte. Die gleichsam gebremste Veralltäglichung barg allerdings auch bestandsbedrohende Konfliktpotentiale. Diese entzündeten sich tagtäglich neu beim Zusammenprall von Organisationsstrukturen mit konträrer Rationalität innerhalb des staatlichen Verwaltungsgefüges, den bürokratisch verfahrenden Ebenen einerseits und den charismatisch selbstermächtigten Organisationen andererseits. Es liegt somit nahe, die institutionelle Durchsetzungsfähigkeit der personalisierten Führerdiktatur ebenso wie die damit einhergehende systeminterne Destruktionsdynamik, die das nationalsozialistische Regime besonders in den Kriegsjahren charakterisierte, soziologisch durch die skizzierten binnenstrukturellen Konstellationen von gegensätzlichen charismatisch-bürokratischen Herrschaftsrationalitäten zu erklären.11 In einer ersten Annäherung an diese Frage beschreiben und analysieren wir in diesem Kapitel zunächst die grundlegenden Strukturmerkmale und exemplarischen Organisationsformen der im Nationalsozialismus aktiven Stäbe primär unter typologischen Gesichtspunkten. Mit Bezug auf Max Webers Theorie der charismatischen Herrschaft entwickeln wir dann Hypothesen zur spezifischen binnenstrukturellen Dynamik der teils charismatisch gebrochenen, teils auf bürokratischen Strukturen aufbauenden unteren Herrschaftsstruktur des Dritten Reiches. Im Mittelpunkt steht die Frage, auf welche Weise und mit welchen Wirkungen das Charisma Hitlers die politische Dynamik der Führerdiktatur bestimmte.12 11
Zu der These, dass die Veralltäglichung des Charisma im Nationalsozialismus vornehmlich durch die Mobilisierung eines beständigen politischen und gesellschaftlichen Ausnahmezustandes vor allem im Krieg verlangsamt und verzögert wurde, vgl. Norbert Elias: Über die Vorstellung, daß es einen Staat ohne strukturelle Konflikte geben könne, in: ders.: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft, Anhang I, Darmstadt 1975, 2. Auflage, S. 413 ff. 12 Für Anwendungen des Charisma-Modells auf den Nationalsozialismus vgl. vor allem Joseph Nyomarkay: Charisma and Factionalism in the Nazi Party, Minneapolis 1967; M. Rainer Lepsius: Das Modell der charismatischen Herrschaft und seine Anwendbarkeit auf den „Füh-
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II. Das einige Zeit in der deutschen Nachkriegshistoriographie vorherrschende Geschichtsbild, das der Diktatur in Deutschland einen ins Extrem gesteigerten Verwaltungszentralismus sowie eine durch quasimilitärische Befehlshierarchien konsequent durchrationalisierte Herrschaftspraxis zuschrieb, ist durch neuere Forschungen zur Regierungs- und Verwaltungsstruktur immer mehr hinterfragt worden. Bei näherer Betrachtung der Herrschaftspraxis der nationalsozialistischen Machtelite wurde zunehmend deutlich, dass das interne Machtgefüge, insbesondere aber die Verwaltungsorganisation sowie die politischen Entscheidungsstrukturen des Führerstaates, insgesamt weitaus uneinheitlicher, fragmentierter und unkoordinierter waren, als es die nationalsozialistische Führerideologie und der allenthalben inszenierte Führerkult suggerierten. Dem Mythos von der monolithischen Einparteiendiktatur setzte vornehmlich Martin Broszat mit seiner richtungweisenden Analyse des HitlerStaates ein differenziertes und wohl auch realitätsnäheres Bild von der Herrschaftsstruktur dieses historisch einzigartigen Diktaturregimes gegenüber. Broszat begreift das „institutionelle Gestrüpp“ und den „organisatorischen Dschungel“ vor allem des späteren NS-Reiches als Resultat der „zunehmenden Auflösung des staatlichen Charakters des Regimes, seine(r) progressiven Zergliederung in immer neue Aktionszentren, die nach dem Bewegungsgesetz des Führerprinzips jeweils dazu tendierten, benachbarte Kompetenzen aufzusaugen und sich zu verselbständigen.“ Diese Prozesse hätten „zunehmend die rationale Gesamtorganisation der Herrschaft zerstört und die partikulare, auf die jeweiligen Ressortzwecke und -ideologien bezogene Egozentrik verstärkt.“13 Über die zutiefst „widersprüchliche Organisations-,
rerstaat” Adolf Hitlers, in: ders.: Demokratie in Deutschland. Soziologisch-historische Konstellationsanalysen. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 1993, S. 95-118; Kershaw 1998 (wie Anm. 1), S. 9 ff.; Ludolf Herbst: Der Fall Hitler – Inszenierungskunst und Charismapolitik, in: Wilfried Nippel (Hrsg.): Virtuosen der Macht. Herrschaft von Charisma von Perikles bis Mao, München 2000, S. 171-191; Michel Dobry: Hitler, Charisma and Structure: Reflections on Historical Methodology, in: António Costa Pinto, Roger Eatwell und Stein Ugelvik Larsen (Hrsg.): Charisma and Fascism in Interwar Europe, London 2007, S. 19-33; Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1914-1949. Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten, Bd. 4, München 2008. 13 Broszat 1983 (wie Anm. 8), S. 438.
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Rechts- und Herrschaftsstruktur des Hitler-Regimes“14 bestehen in der Nationalsozialismusforschung heute kaum mehr grundlegende Kontroversen. Die empirischen Ergebnisse von mehreren Jahrzehnten Quellenforschung zur Entstehung, Entwicklung und zum Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes sind vielgestaltig und detailliert.15 Fasst man ihre Resultate unter den uns hier interessierenden Gesichtspunkten der spezifischen organisatorischen Ausprägungen der nationalsozialistischen Führerdiktatur zusammen, dann sind insbesondere folgende allgemeine Struktureigentümlichkeiten von herrschaftssoziologischer Bedeutung. Bezogen auf das zentrale Regierungs- und Verwaltungssystem des Deutschen Reiches gilt weitgehend als unumstritten, dass trotz der extremen Zentralisierung aller Regierungsgewalt mit der Etablierung der Führerdiktatur die obersten Steuerungsinstanzen des politisch-administrativen Systems zum Teil mit beträchtlichen funktionalen Veränderungen konfrontiert wurden. Insbesondere auf den Ebenen der Reichsministerien und der Kanzleien wurden, spätestens nach dem Fortfall der Kabinettssitzungen und mit der Einführung des sogenannten Umlaufverfahrens bei der Reichsgesetzgebung,16 die einheit14
Ebd., S. 424. Unsere Analyse des nationalsozialistischen Herrschaftssystems stützt sich, neben den in Fußnote 12 angegebenen Titeln, auf die folgenden historischen Gesamtdarstellungen: Heinz Höhne: Der Orden unter dem Totenkopf. Die Geschichte der SS, München 1967, 4. Auflage; Reinhard Bollmus: Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Zum Machtkampf im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, Stuttgart 1970; Peter Hüttenberger: Die Gauleiter. Studien zum Wandel des Machtgefüges in der NSDAP, Stuttgart 1969; Ian Kershaw: The Nazi Dictatorship. Problems and Perspectives of Interpretation, London 1985; Lothar Kettenacker und Gerhard Hirschfeld (Hrsg.): Der Führerstaat: Mythos und Realität, London/Stuttgart 1981; Dieter Rebentisch und Karl Teppe (Hrsg.): Verwaltung contra Menschenführung. Studien zum politisch-administrativen System, Göttingen 1986; Lothar Gruchmann: Justiz im Dritten Reich. 1933-1940. Verwaltung, Anpassung und Ausschaltung in der Ära Gürtner, München 1987; Dieter Rebentisch: Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg, Stuttgart 1989. Wichtige neuere Arbeiten stammen von Kershaw 1998 (wie Anm. 1); ders.: Hitler 1936-1945, Stuttgart 2000; Oliver Volckart: Polykratische Wirtschaftspolitik. Zu den Beziehungen zwischen Wirtschaftsministerium, Arbeitsministerium, DAF und Reichsnährstand 1933-1939, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 90, 2003, S. 174-193; Rüdiger Hachtmann: „Neue Staatlichkeit“ – Überlegungen zu einer systematischen Theorie des NSHerrschaftssystems und ihrer Anwendung auf die mittlere Ebene der Gaue, in: Jürgen John u. a. (Hrsg.): Die NS-Gaue. Regionale Mittelinstanzen im zentralistischen ‚Führerstaat‘, München 2007, S. 56-79; Wehler 2008 (wie Anm. 12). 16 „Während vom 30. Januar 1933 – Hitlers Regierungsantritt – bis Ende März noch 32 (d. h. durchschnittlich jeden zweiten Tag) Sitzungen der Reichsregierung stattfanden, sank deren Zahl in den drei Monaten von April bis Juni 1933 auf insgesamt 20. Nachdem das Kabinett 15
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liche Handlungsfähigkeit der traditionellen Regierungseliten eingeschränkt und die Koordinationsfähigkeit der obersten Verwaltungsinstanzen erheblich behindert. Dies „bewirkte, daß die ‚Reichsregierung‘ als kollegiales Gremium der Minister und damit als Träger politischer Entscheidungsgewalt zu bestehen aufhörte und in eine Polykratie vertikal nebeneinander stehender Fachressorts zerfiel, die der Führergewalt einzeln unterstanden. Das Kabinett verwandelte sich in eine Anzahl nach Ressorts organisierter Apparate zur Durchführung des souveränen Führerwillens. (...) Das Verfahren, das mit dem Seltenerwerden und schließlich mit dem Fortfall der Kabinettssitzungen bei der Regierungsgesetzgebung angewandt wurde, beschränkte die Zusammenarbeit zwischen den Reichsministern auf das Mindestmaß der erforderlichen Koordination und verlagerte die Vorarbeiten der Gesetzgebung in verstärktem Maße von der Ebene der Reichsregierung auf die der Ministerialbürokratie in den einzelnen Ressorts.“17 Trotz der extremen Zentralisierung der Regierungsgewalt durch Hitler und ihrer Transformation in eine reguläre institutionelle, nicht mehr kontrollierbare Willkürherrschaft, gehören Entscheidungsschwächen, vor allem aber auch administrative Koordinationsmängel, zu den Hauptcharakteristika des Machtzentrums im nationalsozialistischen Staat. Die binnenstrukturellen Wirkungen der damit verbundenen Umbildung des Regierungszentrums, insbesondere der verwaltungsbezogenen politischen Entscheidungsprozesse und des führerimmediaten Kanzleisystems nach der Durchsetzung charismatischer Führungs- und Organisationsprinzipien, erörtern wir weiter unten ausführlich. Ein zweites allgemeines Strukturmerkmal des NS-Systems stellt das bereits in den dreißiger Jahren intensiv diskutierte Verhältnis zwischen Partei und Staat dar. Franz Neumann hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Erhebung der NSDAP zur einzigen Staatspartei und zur Körperschaft des öffentlichen Rechts nach der nationalsozialistischen Machtübernahme im Wesentlichen als ein Problem der politischen Machtverteilung zwischen (...) Ende Juni 1933 seinen Koalitionscharakter verloren hatte, nahm die Häufigkeit der Kabinettssitzungen zusehends ab; bis zum Jahresende tagte das Kabinett noch 20mal, im Jahre 1934 insgesamt 19mal, 1935 12mal, 1936 ganze 4mal und 1937 6mal; die letzte Sitzung fand am 5. Februar 1938 statt“. Lothar Gruchmann: Die ‚Reichsregierung‘ im Führerstaat. Stellung und Funktion des Kabinetts im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, in: Klassenjustiz und Pluralismus. Festschrift für Ernst Fraenkel zum 75. Geburtstag am 26. Dezember 1973, hrsg. von Günther Doeker und Winfried Steffani, Hamburg 1973, S. 193. 17 Ebd., S. 193 f.
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dem Herrschaftsverband der Partei und der Verwaltungsorganisation des Staates zu verstehen sei.18 Während im faschistischen Italien, wie wir noch sehen werden, Mussolinis Partei eine gegenüber der staatlichen Exekutive eindeutig politisch untergeordnete Rolle spielte und im sowjetrussischen Herrschaftssystem die Kommunistische Partei das administrative System insgesamt ideologisch und politisch kontrollierte, blieb im Dritten Reich der Kampf zwischen NSDAP und Staat um das politische Primat bis zuletzt unentschieden und damit als offener Konflikt virulent. Zwar wurden mit dem im April 1933 verabschiedeten Gesetz zur „Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ die in einer unkontrollierten Praxis der Ämterusurpation und der politischen Säuberung des Beamtenapparates durch regionale und örtliche Kommissare der NSDAP ausufernden Herrschaftsansprüche der Partei gegenüber der öffentlichen Verwaltung einer gewissen Rechtskontrolle unterworfen. Der großen Gefahr indes, dass die staatliche Personalpolitik weitgehend von der Partei kontrolliert und damit die Funktionseinheit des staatlichen Verwaltungsapparates sukzessive zerstört würde, wurde kaum ernsthaft entgegengewirkt.19 Die nationalsozialistische Einparteiendiktatur begründete in der Folge somit ein spannungsreiches dualistisches Herrschaftssystem. Dies bedeutete vor allem die Existenz „zweier koexistierender souveräner Gewalten, die beide Loyalität beanspruchen und zweierlei Recht schaffen.“20 Der Hinweis auf den Funktions- und Loyalitätsdualismus als Folge der Kollision und Verschränkung zweier um das administrative Vollzugsmonopol konkurrierender politischer Verbandstypen – der Parteiorganisation mit ihrer gemischt charismatischen und oligarchischen Struktur auf der einen und der regulären Staatsbürokratie auf der anderen Seite – stellte ohne Zweifel ein bis zum Zusammenbruch des Systems ungelöstes „Grundproblem des Hitler-Staates“ (M. Broszat) dar.21
18 Franz Neumann: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944. hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Gert Schäfer, Frankfurt 1984, S. 96. 19 Vgl. Broszat 1983 (wie Anm. 8), S. 250. 20 Neumann 1984 (wie Anm. 18), S. 103. 21 Vgl. dazu Peter Diehl-Thiele: Partei und Staat im Dritten Reich. Untersuchung zum Verhältnis von NSDAP und allgemeiner innerer Staatsverwaltung. 1933-1945, München 1969. Zur Entwicklung der NSDAP in der Regimezeit außerdem Armin Nolzen: Die NSDAP, der Krieg und die deutsche Gesellschaft, 1939-1945, in: Militärgeschichtliches Forschungsamt Potsdam (Hrsg.): Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 9.1, München 2004, S. 99-193.
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Dennoch ist die Herrschaftsstruktur des Führerstaates dadurch noch nicht hinreichend beschrieben. Der Umstand, dass Durchsetzungschancen wie Machtanteile Hitlers die Spaltung der staatstragenden Eliten in untereinander rivalisierende Machtgruppen herrschaftsstrategisch zur Voraussetzung hatte,22 erfordert eine präzisere Bestimmung der tatsächlichen Machtverteilung im nationalsozialistischen Reich als es die Auffassung vom Partei-StaatDualismus ermöglicht. Angesichts der Tatsache, dass Hitlers „Führerstellung (...) sich oberhalb der Organisationsform von Partei und Staat (befand)“23 und er beide wechselseitig zum Zwecke der eigenen Machtdurchsetzung nutzte, erscheint es angebracht, mit Broszat von einem „Trialismus Partei-StaatFührerabsolutismus als der Grundfigur des NS-Regimes“ zu sprechen.24 Das bürokratische Vollzugsmonopol des Staatsverbandes wurde somit zusätzlich zur NSDAP noch durch eine dritte, wiederum extrastaatlich, aber originär charismatisch begründete Souveränitätsquelle gebrochen. Erst durch diese triadische Herrschaftskonstellation wurden die politischen Machtverhältnisse im Regierungssystem des Deutschen Reiches grundlegend verschoben. Darüber hinaus wurde die institutionelle Balance des überkommenen Regierungs- und Verwaltungssystems aus den Angeln gehoben und in der Folge davon eine in der neuzeitlichen Staatsgeschichte25 beispiellose Herrschaftsform etabliert: die durch das Personalcharisma Adolf Hitlers legitimierte, auf einer Personalunion von Exekutive und Legislative beruhende, teils bürokratisch, teils extrabürokratisch unterbaute charismatische Führerdiktatur. Auch basierte die folgenreiche Zerstörung des rechtsstaatlichen wie des verwaltungsstaatlichen Ordnungssystems, von der Unabhängigkeit der Gerichte bis zur Verwaltungsgerichtsbarkeit und unabhängigen Finanzkontrolle, mit der Herrschaftspraxis der nationalsozialistischen Gewalthaber nicht in erster Linie auf dem konfliktreichen Nebeneinander von Staats- und Parteibürokratie. Ernst Fraenkel hat auf überzeugende Weise dargelegt, dass die Beseitigung der formalen Rechtsbindungen 22 Vgl. die herrschaftssoziologische Analyse von Norbert Elias, der dazu bemerkt, dass „der Konkurrenzkampf zwischen Fraktionen der Monopoleliten um Prestige, Wirtschafts- und andere Machtchancen, deren Vergebung letzten Endes in der Hand eines Einherrschers liegt, (...) zu den normalen Erscheinungen jeder Einherrschaft auf dem Wege zur Konsolidierung (gehört)“. Elias 1975 (wie Anm. 11), S. 415. 23 Diehl-Thiele 1969 (wie Anm. 21), S. 23. 24 Broszat 1983 (wie Anm. 8), S. 246. 25 Vgl. Wolfgang Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 2000.
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staatlichen Handelns im NS-Regime auf einer mit den Doppelhierarchien von Partei und Staatsbürokratie nicht identischen Dualität von konkurrierenden Rechtssystemen beruhte. Fraenkels Doppelstaatsthese gründet auf der Annahme, dass im Dritten Reich im Zuge der Verschmelzung der Funktionsbereiche von Partei- und Staatsorganisation zwei parallel existierende Rechtssysteme entstanden, der „Maßnahmestaat“ und der „Normenstaat“. „Unter ‚Maßnahmestaat‘ verstehe ich das Herrschaftssystem der unbeschränkten Willkür und Gewalt, das durch keinerlei rechtliche Garantien eingeschränkt ist; unter ‚Normenstaat‘ verstehe ich das Regierungssystem, das mit weitgehenden Herrschaftsbefugnissen zwecks Aufrechterhaltung der Rechtsordnung ausgestattet ist, wie sie in Gesetzen, Gerichtsentscheidungen und Verwaltungsakten der Exekutive zum Ausdruck gelangen.“26 Zu den maßnahmestaatlichen Funktionsbereichen der Hitler-Diktatur par excellence gehörte auch der gesamte Machtbereich der Himmlerschen SS. Dieser funktional außerordentlich differenzierte, politisch weitgehend verselbständigte Organisationszusammenhang, in dem sich polizeiliche Kontroll- wie Repressionsgewalten, auf massenhafter Sklavenarbeit gründende Wirtschaftsunternehmungen sowie militärische Stabseinheiten, vor allem in den im Krieg annektierten Gebieten, verbanden, konstituierte eine nebenstaatliche Gewaltherrschaft, wie sie in der Geschichte des okzidentalen Staates zweifellos ihresgleichen sucht. Weitere Beispiele für solcherart rechtsenthobene und verwaltungsunabhängige Machtstrukturen, auf die wir weiter unten noch ausführlicher zu sprechen kommen, sind unter vielen anderen: der Stab des Stellvertreters des „Führers“ Rudolf Heß und die daraus entstandene spätere Parteikanzlei unter Martin Bormanns Leitung; die gesamte „Vierjahresplan“-Organisation Hermann Görings; die Stäbe des Generalbeauftragten für das deutsche Straßenwesen Fritz Todt; die Stäbe des Generalinspektors für die Reichshauptstadt Albert Speer und dessen späteres Rüstungsministerium sowie die Organisation des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz Fritz Sauckel. Auch Joseph Goebbels’ Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda war nach Funktion und Organisation kein klassisches Ministerium, sondern trug deutlich einen maßnahmestaatlichen Charakters im Sinne Fraenkels, was ebenso für viele 26
Ernst Fraenkel: Der Doppelstaat. Recht und Justiz im „Dritten Reich“, Frankfurt 1984, S. 21; vgl. aber auch Stefan Breuer: Ernst Frankel und die Struktur faschistischer Herrschaft. Zur Kritik der Doppelstaats-These, in: Hartmut Aden (Hrsg.): Herrschaftstheorien und Herrschaftsphänomene, Wiesbaden 2004, S. 39-54.
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territorialen Herrschaftsträger des Nationalsozialismus, wie etwa die Gauleiter, Reichskommissare und Reichsstatthalter, galt. Die monströsen Auswüchse, die diese maßnahmestaatliche Organisationsvielfalt vor allem in den späten Kriegsjahren im Zusammenhang mit der Massentötung der europäischen Juden und der millionenfachen Versklavung von Arbeitskräften in den Konzentrationslagern hervorbrachte, konnten Ernst Fraenkel bei der Abfassung seiner Schrift noch nicht in ihrer ganzen Tragweite bekannt sein. Die Erkenntnis aber, dass die je nach politischer Zweckmäßigkeit alternierende Instrumentalisierung maßnahmestaatlicher sowie normenstaatlicher Vollzugsapparate seitens der Funktionsträger des Führerstaates die Willkür und Effizienz der nationalsozialistischen Herrschaftsstrategie insgesamt ganz außerordentlich verstärkten, bezeichnet zweifellos ein konstitutives Strukturmerkmal der deutschen Führerdiktatur.27 Zusätzlich zu der hervorgehobenen doppelten Brechung der funktionalen Regierungs-, Rechts- und Verwaltungseinheit des Deutschen Reiches infolge der Institutionalisierung der Doppelhierarchien von Partei und Staatsbürokratie sowie der Dualität von maßnahme- und normenstaatlichen Vollzugsebenen, fragmentierte die Etablierung der Führerdiktatur auch auf besondere Weise die territoriale Einheit. Die Aufsplitterung der Reichsstruktur wurde nicht erst durch die Ein- und Neugliederung der annektierten Länder im Osten vollzogen.28 Die Einsetzung der Reichsstatthalter neben den alten Länderministerien nach der Gleichschaltung der Länder, die bis zuletzt in der Schwebe gebliebenen vielfältigen Überschneidungen zwischen den Macht- und Verwaltungsgrenzen der Gaue, der preußischen Provinzen sowie der Länder- und Reichsstatthalterbezirke schufen eine unübersichtliche und konfliktreiche Verteilungsstruktur von Territorialgewalten mit neofeudalem Anstrich. Diese Situation verschärfte zusätzlich die Machtkonflikte zwischen den zentralen Instanzen der Reichsverwaltung und den eng mit der Partei vernetzten Partikularherrschaften der Oberpräsidenten, den verschiedenen „Arten“ von Reichsstatthaltern (mit und ohne Gauleiterfunktion, mit und ohne Auftrag zur Führung der Landesregierung) sowie den Landesministern. Die Aufteilung und Abgrenzung der raumgebundenen Hoheitsgebiete blieben im Dritten Reich grundsätzlich auch dem „jeweiligen 27
Vgl. Michael Wildt: Die politische Ordnung der Volksgemeinschaft. Ernst Fraenkels „Doppelstaat“ neu betrachtet, in: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung 12, April/Mai 2003, S. 45-61. 28 Dazu ausführlich: Rebentisch 1989 (wie Anm. 15), bes. Kap. III und IV.
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Machtkampf und Durchsetzungsvermögen“ (M. Broszat) der neuen Gebietsherren, insbesondere freilich der ausschließlich dem „Führer“ gegenüber verantwortlichen Gauleiter überlassen.29 Die sich vielfältig überschneidenden Funktionsbereiche und Herrschaftsfelder des nationalsozialistischen Systems wurden folglich auf allen Ebenen von Ämterkonkurrenz und Kompetenzkonflikten durchzogen. Diese Machtkämpfe destabilisierten die bürokratische Geschlossenheit der überkommenen staatlichen Verwaltungsstruktur und untergruben letztlich deren bürokratische Rationalität. Auch gründete der Zusammenhalt der nationalsozialistischen Führungselite, sowohl der führerunmittelbaren Kerngruppe wie der dezentralen Satrapien des Regimes, paradoxerweise mehr auf der Kohäsionskraft persönlicher Machtrivalitäten, unablässiger Fehden und struktureller Herrschaftsverzahnungen als auf den Gemeinsamkeiten der bei jeder Gelegenheit beschworenen nationalsozialistischen Weltanschauung und politischen Ziele. Zur Bezeichnung dieser zentrifugalen Tendenzen von Hitlers Diktatur hat sich in der historischen Forschung der Terminus Polykratie eingebürgert.30 Um die Frage, ob das Dritte Reich insgesamt eher als führerzentrierte Monokratie oder als im Wesentlichen polykratisches Netzwerk verschiede29 Vgl. Broszat 1983 (wie Anm. 8), S. 160 f.; ferner Hüttenberger 1969 (wie Anm. 15); Jeremy Noakes: ‚Viceroys of the Reich‘? Gauleiters 1925-1945, in: Anthony McElligott und Tim Kirk (Hrsg.): Working towards the Führer, Manchester und New York 2003, S. 118-152; John u. a. 2007 (wie Anm. 15). 30 Vgl. Broszat 1983 (wie Anm. 8), S. 363 ff.; Peter Hüttenberger: Nationalsozialistische Polykratie, in: Geschichte und Gesellschaft, 2, 1976, S. 417 ff. Die Kontroverse zwischen der traditionellen und der sog. „revisionistischen“ Richtung der Nationalsozialismusforschung markiert den bisher am weitesten entwickelten Stand der Diskussion um die Charakteristika der Herrschaftsstruktur des Dritten Reiches. Einen ersten Höhepunkt erreichte die Debatte im Jahre 1979 auf der Konferenz des Deutschen Historischen Instituts London zum Thema „Herrschaftsstruktur und Gesellschaft im Dritten Reich“. Die Beiträge sind veröffentlicht in: Kettenacker und Hirschfeld 1981 (wie Anm. 15). Besonders die methodische Kritik der „Revisionisten“ sowie deren Bemühungen um eine Bilanz des nach vielen Jahrzehnten historischer Forschung erreichten Kenntnisstandes haben zahlreiche originelle Forschungsfragen aufgeworfen. Mit dieser Debatte lebte darüber hinaus auch das alte Forschungsdesiderat wieder auf, „die Tragfähigkeit des Begriffs (Polykratie, M. B.) in einem intensiver gezogenen Vergleich zwischen Deutschland und Italien zu überprüfen“ (Klaus Hildebrand: Monokratie oder Polykratie? Hitlers Herrschaft und das Dritte Reich, in: Kettenacker und Hirschfeld 1981 [wie Anm. 15], S. 93); vgl. auch Rebentisch 1989 (wie Anm. 15), S. 6 ff.; Wolfgang Schieder: Adolf Hitler, in: ders.: Faschistische Diktaturen. Studien zu Italien und Deutschland, Göttingen 2008, S. 253-264.
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ner, relativ autonomer, untereinander rivalisierender Machtzentren zu beurteilen sei, kristallisierten sich richtungweisende „strukturgeschichtliche“ Forschungspositionen heraus. Die Diskussion der Historiker konzentriert sich dabei vor allem auf die nach wie vor stark kontrovers beurteilte Stellung und tatsächliche Entscheidungsmacht Adolf Hitlers wie auf die nach wie vor umstrittene systemische Integrationskraft des Mythos von der Allgewalt des „Führers“.31 Die vielleicht wichtigsten methodischen Implikationen dieser Auseinandersetzung hat Tim Mason herausgearbeitet.32 Jene Kontroverse offenbare nach Masons Auffassung zwei gegensätzliche methodologische Grundkonzeptionen. Dem traditionellen Historikerverständnis entspräche dabei eine im Kern „intentionalistische“ Geschichtsinterpretation, dem eine „funktionalistische“ Problemsicht gegenüberstehe. Mason unterscheidet zwischen einer personenbezogenen, die politischen Integrationsfunktionen und den Willkürraum der persönlichen Machtposition des „Führers“ betonenden und einer institutionalistisch ausgerichteten Erforschung der Herrschaftsstrukturen des Nationalsozialismus. Masons Kritik der „intentionalistischen“ Methode geschichtlicher Deutung richtet sich hauptsächlich gegen die verbreitete Auffassung, die durch komplexe historische, gesellschaftliche und institutionelle Voraussetzungen bestimmten Entscheidungsprozesse und Herrschaftsstrukturen ließen sich durch eine Rekonstruktion der Weltbilder, Motivmuster, Willensbekundungen und Entscheidungen der jeweiligen individuellen Herrschaftsträger angemessen erfassen. Dieser Art biographisch orientierter Forschung mangele es letztlich, so seine Auffassung, an historischer Erklärungskraft. Die Problemstellung der funktionalistischen Gegenposition fasst Mason wie folgt zusammen: „The central point (...) is an insistence upon the fact that the way in which decisions are reached in modern politics is vital to their specific outcome, and thus vital to the historian for an understanding of their meaning. Only in retrospect and without consideration of decision 31 Vgl. Klaus Hildebrand: Das Dritte Reich, München 1987, 3. Auflage, S. 135 ff. Rebentisch nimmt diese Frage im Zusammenhang seiner verwaltungsgeschichtlichen Analyse der nationalsozialistischen Herrschaft wieder auf: Rebentisch 1989 (wie Anm. 15), S. 395 ff.; vgl. auch Manfred Funke: Starker oder schwacher Diktator? Hitlers Herrschaft und die Deutschen. Ein Essay, Düsseldorf 1989. 32 Tim Mason: Intention and Explanation. A Current Controversy about the Interpretation of National Socialism, in: Kettenacker und Hirschfeld 1981 (wie Anm. 15), S. 23 ff.
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making do policies appear to unfold over the years with a necessity, which is coherent. Nor, given the high degree of interdependence between all sections of public life, can this be a matter of individual decisions to be taken as ‚case studies‘ or ‚models‘...“33 Zahlreiche Studien zur inneren Verfassung des Hitler-Staates beschäftigen sich mit den von Mason angesprochenen institutionellen Voraussetzungen der politischen Entscheidungsprozesse.34 Einen entscheidenden Schritt weiter in die strukturanalytische Richtung gehen indessen jene Arbeiten, die sich schwerpunktmäßig mit der lange Zeit in der Forschung vernachlässigten Verwaltungswirklichkeit des Dritten Reiches auseinandersetzen.35 Aus herrschaftssoziologischer Perspektive von besonderer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang die gelegentlichen Hinweise auf eine Art inhärente Destruktionsdynamik, die die polykratische Struktur der nationalsozialistischen Herrschaft auf dieser Ebene freigesetzt habe. So wurde beispielsweise hervorgehoben, dass die zentrifugalen und polykratischen Machtgebilde offenbar „aus vermeintlich nur taktischen und flüchtigen Wendungen der Politik entstandene institutionelle Wirklichkeiten“ begründet hätten, die danach „mechanisch weiterwirkten“.36 In die gleiche Richtung einer institutionellen Eigendynamik zielt auch die folgende These: „While it is possible to identify the decisions and the reasoning behind them which originally set these dynamics in motion (...), one must ask whether they did not later emancipate themselves from their creator. If it is true, or even only a useful hypothesis, that the process of Nazi territorial expansion created its own momentum, and that this momentum could at best be guided but not held under control by the leadership, than the relative importance of Hitler’s musings on alternative goals, strategies and power constellations is diminished.“37 Im Kontext der geschichtswissenschaftlichen Debatte um Genesis und Praxis des Holocaust schließlich geriet die Frage nach dem vermeintlich „selbstinduzierten Automatismus“ als Ergebnis einer unkontrollierten „Ei33
Ebd., S. 27. Zum Beispiel Alfred Kube: Pour le Mérité und Hakenkreuz. Hermann Göring im Dritten Reich, München 1986; Gruchmann 1987 (wie Anm. 15). 35 Vgl. vor allem: Kurt G. A. Jeserich, Hans Pohl und Georg-Christoph von Unruh (Hrsg.): Deutsche Verwaltungsgeschichte. Bd. IV, Das Reich als Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 1985; sowie Dieter Rebentisch: Innere Verwaltung, 1985, in: Jeserich, Pohl und Unruh, S. 732-773; ders. und Karl Teppe 1986 (wie Anm. 15); ders. 1989 (wie Anm. 15). 36 Broszat 1983 (wie Anm. 8), S. 439. 37 Mason 1981 (wie Anm. 32), S. 33. 34
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gendynamik“ institutioneller Machtkonflikte zunehmend in das Blickfeld.38 Die Diskussion gelangte indessen bislang zu keinen befriedigenden Ergebnissen hinsichtlich der Ablauforganisation des Holocaust. Eine bedeutsame Struktureigentümlichkeit des nationalsozialistischen Regimes und seiner Organisationspraxis trat jedoch deutlicher in das Bewusstsein: die inhärente Systemtendenz zur „kumulativen Radikalisierung“ besonders der kriegs- und rassenpolitischen Programmatik sowie der zu ihrer Verwirklichung eingesetzten Mittel. „Der Zustand notorischer Unsicherheit“, schreibt Hans Mommsen, „über die jeweils erkämpfte Machtposition, der von Hitler eher gewohnheitsmäßig als absichtlich gefördert wurde und der im weiten Umfang einfach ein Resultat der Unfähigkeit der Nationalsozialisten war, sich in ein einmal geschaffenes institutionelles Gefüge einzupassen, bewirkte bei den Satrapen des Regimes einen beständigen Wettlauf um die Gunst des Führers. Er veranlasste fast alle hohen Funktionäre des Regimes, sich durch die Propagierung radikaler Maßnahmen hervorzutun, sofern sie auf der Linie der Hitlerschen Tiraden lagen und – was wichtig war – nicht andere, dominante Interessen innerhalb des Systems in Frage stellten (...) [D]ie kumulative Radikalisierungstendenz, die sich eben aus der andauernden Führungsrivalität herleitete, fand daher ein besonderes Ventil in der Judenfrage.“39 Auf den Holocaust soll im vorliegenden Text jedoch nicht näher eingegangen werden. Stattdessen konzentriere ich mich im Folgenden auf die Grundstrukturen und inhärenten Dynamiken des nationalsozialistischen Herrschaftssystems, wie sie besonders im Zusammenhang der bereits angesprochenen Dualität von Partei und Staat sowie besonders auch in dem institutionalisierten Spannungsverhältnis zwischen Verwaltungsrecht und rechtsenthobenen Sonderverwaltungen zum Ausdruck kam. Unser Fokus richtet sich vor allem auf die Auswirkungen der gleichsam überstaatlichen Suprematie des Führerabsolutismus und die Folgen der Fragmentierung der territorialen und sektoralen Regierungsstrukturen. Einer theoriegeleiteten Institutionenanalyse der Hitler-Diktatur hat, unter Verwendung von Max Webers Charismabegriff, insbesondere M. Rainer
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Zusammenfassend: Hildebrand 1987 (wie Anm. 31), S. 200 ff. Hans Mommsen: Hitlers Stellung im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, in: Kettenacker und Hirschfeld 1981 (wie Anm. 15), S. 56; vgl. dazu auch Martin Broszat: Hitler und die Genesis der „Endlösung“. Aus Anlass der Thesen von David Irving, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 27, 1979, S. 739-775. 39
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Lepsius den Weg gewiesen.40 Lepsius argumentiert, dass nicht nur die Person Hitlers als subjektiv charismatisch qualifizierter Herrschaftsträger zu verstehen sei, sondern dass der gesamte Prozess des Aufstiegs der nationalsozialistischen Bewegung und ihrer Machtbefestigung als ein sozialer Vorgang der Charismatisierung des politischen Ordnungssystems zu analysieren sei. In theoretischer Hinsicht wendet Lepsius damit Webers soziologische Konzeption der charismatischen Führung als eine die Strukturen gesellschaftlicher Beziehungen grundlegend verändernde, „revolutionierende Herrschaftsform“ stringent an: „Die Webersche Perspektive richtet sich nicht auf eine Analyse der Persönlichkeit des Charismaträgers, sondern auf die Struktur der charismatischen sozialen Beziehung.”41 Die Strukturveränderungen, welche Hitlers charismatische Machtübernahme einleiteten, gründeten sich nach Lepsius im Wesentlichen auf drei soziopolitische Prozesse, die in der Konsequenz nicht nur das Weimarer Regierungssystem, sondern das gesamte institutionelle Gefüge des Staates folgenreich zerstörten. Den ersten Vorgang, der in der Suspendierung der Weimarer Reichsverfassung durch die „Reichstagsbrandverordnung“, dann im „Ermächtigungsgesetz“, schließlich in der „Gleichschaltung“ der Länder entscheidende Höhepunkte hatte, beschreibt Lepsius als einen Prozess der „Destruktion formaler Regeln und institutioneller Differenzierungen“. Hitlers „Machtübernahme“ im Frühjahr 1933 vollzog sich demzufolge aufgrund einer Herrschaftsstrategie, die eine Beseitigung konstitutioneller Verfahrensregelungen sowie institutioneller Repräsentationsformen des politischen Systems zum Ziel hatte. Diese Herrschaftsstrategie war wesentlich durch das politische Charisma von Hitlers Person legitimiert. Mit dem Ende der Weimarer Parteien, der Konstituierung des ersten plebiszitär gewählten Reichstages und vor allem mit der Verselbständigung des „Führers“ zu einer vom Regierungskabinett im Grunde unabhängigen Entscheidungsinstanz erfolgte außerdem die Beseitigung „jeder Art kollektiver Entscheidungsfindung“ und die „Auflösung formaler Koordinationsverfahren und institutionalisierter Konfliktlösungen“. Unter diesen Voraussetzungen leitete die nationalsozialistische Machtergreifung nach Lepsius einen folgenreichen Ersatz von institutionell strukturierter durch personale Führung ein. „Je geringer die Institutionalisierung, desto größer die Personalisierung der Führung und je stärker diese durch unmittelbar persönliche Loyali40 41
Lepsius 1993 (wie Anm. 12). Ebd., S. 95 f.
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tätsbindungen an den Führer strukturiert wird, desto größer die Charismatisierung der Führung.“42 Die für charismatische „Revolutionen“ typische Personalisierung der Verwaltungsstrukturen durch die außerbürokratische Rekrutierung von Stabsangehörigen und durch den Aufbau von rechtsenthobenen sowie technokratischen Stabsorganisationen schufen eine Situation, in der die „dualen Verwaltungsstrukturen“ irrationale, rein machtpolitische Entscheidungen, eine allgemeine Desorganisation sowie im Grunde von niemandem mehr koordinierte Implementationsprozesse überwogen. In der Charismatisierung des Regierungs- und Verwaltungssystems und in der Transformation des republikanischen Verfassungs- und Rechtsstaates in eine charismatisch legitimierte Führerdiktatur sieht Lepsius drittens eine der wichtigsten Voraussetzungen für die destruktive Dynamik des nationalsozialistischen Systems: Um der wachsenden Desorganisation des Systems entgegenzuwirken, wurde alltäglicher Terror zu einem funktionalen Erfordernis der charismatischen Führung im NS-System.43 Ausgehend von der Annahme, dass „during his role Hitler successfully tamed the bureaucracy, not the other way around, as many expected“44, richtet Lepsius seine Aufmerksamkeit auf die Durchdringung der bürokratisch-legalen Verwaltungsstruktur mit charismatisch legitimierten Herrschaftsansprüchen. Diese analytischen Gesichtspunkte aufgreifend, richten wir in diesem Kapitel unsere Aufmerksamkeit auf die Prozesse der Deinstitutionalisierung, die das überkommene Regierungs- und Verwaltungssystem des Deutschen Reiches während der zwölfjährigen Herrschaft Hitlers einer oft beschriebenen inneren Desintegration durch skrupellose politische Parvenüs preisgab. Wir konzentrieren uns auf die führerunmittelbaren Stabsorganisationen, die in der Praxis wesentlich zur Charismatisierung in den politischen Machtzentralen wie in den staatlichen Verwaltungsstrukturen beitrugen. Schon wenige Monate nach Hitlers Machtübernahme wurde mit dem Parteigesetz vom Mai 1933, das der NSDAP ein ausschließliches „Organisationsprivileg“ einräumte, der charismatisch legitimierte Herrschaftsanspruch der nationalsozialistischen Bewegung gleichsam zum überstaatlichen Herrschaftsmonopol erhoben. Hitlers Partei „wurde nicht nur zur einzigen poli42
Lepsius 1993 (wie Anm. 12), S. 108 f. Ebd., S. 108 44 M. Rainer Lepsius: Charismatic Leadership: Max Weber’s Model and its Application to the Rule of Hitler, in: Carl F. Graumann und Serge Moscovici (Hrsg.): Changing Conceptions of Leadership, New York: 1986, S. 53-66. 43
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tischen Partei erklärt, sondern konnte die Machtmittel des Staates zur Unterdrückung aller anderen Bestrebungen benutzen. Außerdem schloß das Privileg auch das Recht ein, alle anderen quasipolitischen Organisationen entweder aufzulösen (Gewerkschaften) oder deren Führer durch Nationalsozialisten zu ersetzen (Innungen).“45 Dabei ist beachtenswert, dass die nationalsozialistische Regierung in den Jahren nach der Machtübernahme nicht lediglich eine Neubesetzung politisch relevanter Ämter in der Ministerialbürokratie und in den Landesverwaltungen durch Nationalsozialisten – soweit sich dafür fachkompetente Leute in den eigenen Reihen finden ließen – betrieb.46 Darüber hinaus wurde bekanntlich eine gezielte Einrichtung neuer, dem charismatischen Herrschaftstyp entsprechender Organisationsgebilde auf allen Ebenen der sektoralen und territorialen Gebietskörperschaften eingeleitet. Eines der auffälligsten Merkmale dieser Prozesse charismatischer Machtbildung war, dass sie die spezifischen Führungs- und Organisationsstrukturen der NSDAP weitgehend beibehielten und auf den Staat übertrugen. Die führerunmittelbaren Stabsorganisationen waren streng hierarchisch nach dem „Führerprinzip“, mit unumschränkter Autorität nach unten und bedingungslosem Gehorsam nach oben, organisiert. Außerdem waren die internen Autoritätsverhältnisse auf einer strikt persönlichen Loyalitätsverpflichtung gegenüber den Kadern und natürlich gegenüber dem „Führer“ gegründet. Mit diesen charismatisch legitimierten Machtschöpfungen eröffneten sich für die nationalsozialistische Parteielite nicht nur ganz außerordentliche Durchsetzungschancen im staatlichen Bereich, sondern damit wurde auch ein grundlegend neues Geflecht von Autoritätsbeziehungen im Bereich der staatlichen Exekutive mit einer eigenen Spannungsdynamik geschaffen. Zu den herausragenden Stabsorganisationen des NS-Systems zählte zweifellos die SS unter Himmlers Führung. „Deutlicher als in irgendeinem 45 Arthur Schweitzer: Parteidiktatur und überministerielle Führergewalt, in: Jahrbuch für Sozialwissenschaft, Bd. 21, 1970, S. 50. 46 „Bis 1936 wurden nach einer offiziellen Publikation z. B. in Preußen fast alle politischen Beamten durch Nazis ersetzt: alle Oberpräsidenten, 94% der Regierungspräsidenten, 81% der Landräte. Von den 97 beibehaltenen Landräten (19%) waren 80 in die NSDAP eingetreten. Von den höheren Beamten der preußischen Innenverwaltung hatten 12,5% aus politischen Gründen, weitere 15,5% aus organisatorischen Gründen ihre Stellung verloren“. Bernd Wunder: Geschichte der Bürokratie in Deutschland, Frankfurt 1986, S. 139; vgl. Hans Mommsen: Beamtentum im Dritten Reich. Mit ausgewählten Quellen zur nationalsozialistischen Beamtenpolitik, Stuttgart 1966, Kap. 3, S. 39 ff.
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anderen Bereich der Staatsgewalt wurde hier die in der NS-Bewegung ausgebildete Funktionsweise des personalen Führer-Gefolgschaftsverhältnisses zum Strukturelement eines Machtapparates, den man mit Recht als die klarste Verkörperung der außerhalb von Partei und Staat stehenden ‚Führergewalt‘ bezeichnet hat.“47 Die Entwicklung der SS, die sich bekanntlich rasch zu einem vollständig rechtsenthobenen und extreme Gewaltpotentiale freisetzenden Willkürorgan des Hitler-Staates ausbildete, veranschaulicht besonders die im Dritten Reich ausgeprägte doppelte Tendenz: der Verzahnung von spezifisch nationalsozialistischen Herrschaftsorganen mit der staatlichen Verwaltungsordnung bei gleichzeitiger Verselbständigung und Freisetzung der daraus hervorgegangenen Organisationsfusionen. Die Durchführung politischer Sonderaufgaben im Vollzug der „Führergewalt“ und die Appropriationen von staatlichen Exekutivkompetenzen, vor allem in den Zuständigkeitsbereichen der politischen Polizei, der inneren Verwaltung und, nach Kriegsausbruch, der militärischen wie zivilen Besatzungsverwaltung, führten im Laufe der Zeit zu einer funktionalen Ausdifferenzierung des Machtapparates der SS. Mit den berüchtigten Stabsorganisationen des Sicherheitsdienstes, der Gestapo, der Waffen-SS und des Reichskommissars für die Festigung des deutschen Volkstums, Ahnenerbe und Lebensborn, Konzentrationslager und Wirtschaftsunternehmungen bildete es einen Staat im Staate: „[E]s gab kaum einen Lebensbereich der Nation, in den Ämter und Gefolgsleute Heinrich Himmlers nicht vordrangen. Immer labyrinthischer wurde das Gefüge der SS-Organisationen, immer verwirrender und verschachtelter das System des SS-Apparates.“48 Ein anderes Beispiel für jenen einzigartigen Prozess der bürokratischen Verzahnung und gleichzeitigen organisatorischen Verselbständigung ist die „Dienststelle des Stellvertreters des Führers“. Rudolf Heß’ Aufstieg in diese führerimmediate Position veranschaulicht exemplarisch die organisatorische 47
Broszat 1983 (wie Anm. 8), S. 269. Höhne 1967 (wie Anm. 15), S. 369; vgl. Hans Buchheim: Die SS – das Herrschaftsinstrument, in: Hans Buchheim, Martin Broszat und Helmut Krausnick: Anatomie des SS-Staates, Bd. 1, München 1984, 4. Auflage, S. 15 ff.; Armin Nolzen: „... eine Art von Freimaurerei in der Partei“?: die SS als Gliederung der NSDAP, 1933-1945, in: Die SS, Himmler und die Wewelsburg, hrsg. von Jan Erik Schulte, Paderborn 2009, S. 23-44. Zu wichtigen Teilaspekten vgl. Michael Wildt: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002; Jan Erik Schulte: Zwangsarbeit und Vernichtung. Das Wirtschaftsimperium der SS, Paderborn 2001; Hermann Kaienburg: Die Wirtschaft der SS, Berlin 2003. 48
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Dynamik charismatisch qualifizierter Stäbe an der obersten Spitze von Hitlers Führerstaat. Im Auftrag des „Führers“ und unter Berufung auf dessen Willen gelang es dem ehemaligen Leiter der „Politischen Zentralkommission der NSDAP“ in seiner Eigenschaft als Führerstellvertreter und in der förmlichen Stellung eines Reichsministers (ohne Geschäftsbereich, aber mit dem Recht, an Ministerbesprechungen und Kabinettssitzungen teilzunehmen), entscheidende staatspolitische Initiativen zu ergreifen. Besonders nachdem 1935 die Kompetenzen des Stellvertreters, an der Gesetzgebung mitzuwirken, auf alle Ausführungsbestimmungen und Durchführungsverordnungen ausgedehnt wurden und nachdem auf Grundlage eines Führererlasses die Beteiligung des Stellvertreters an der Beamtenernennung vorgeschrieben wurde, entfaltete sich an der Spitze des Systems eine rege Organisationstätigkeit.49 Auf der Basis der erfolgreichen Verschränkung der Zuständigkeitsbereiche der Dienststelle des Stellvertreters mit denjenigen der obersten staatlichen Regierungsämter entwickelte sich Heß’ Stab rasch zu einer organisatorisch weitgehend verselbständigten Zentralinstanz der politischen Kontrolle der Reichsverwaltung und zahlreicher nachgeordneter Parteigliederungen. Schon bevor der Stabsleiter des Stellvertreters, Martin Bormann, auch formell die Leitung dieser Stabsorganisation übernahm – und später dann zur überaus mächtigen Parteikanzlei ausbaute –, hatte Heß seinen Machtbereich organisatorisch in eine Vielzahl verwaltungspolitisch höchst effizienter, technokratischer Einzelstäbe untergliedert. Dazu zählten neben dem weitverzweigten Netzwerk von Gauverbindungsleuten unter anderem der „Volksdeutsche Rat“, die „Dienststelle Ribbentrop“ mit zahlreichen Mitarbeitern, der Stab des „Beauftragten für Wirtschaftsfragen“ unter der Leitung von Albert Pietsch, Philipp Bouhlers „Parteiamtliche Prüfungskommission zum Schutz des NS-Schrifttums“, das „Hauptarchiv der NSDAP“, das „Rassenpolitische Amt der NSDAP“, das „Hauptamt für Kommunalpolitik“, der „Persönliche Beauftragte des Stellvertreters des Führers für alle Fragen der Technik“ unter der Leitung Fritz Todts, die mit Entlassungen und Berufungen von Hochschullehrern befasste „Hochschulkommission der NSDAP“ (in der übrigens Carl Schmitt in seiner Eigenschaft als Hochschulreferent des Reichsjustizkommissars mitwirkte). 49
Dabei handelte es sich nicht nur um politische Beamte, sondern um alle planmäßigen höheren Ministerialbeamten vom Regierungsrat aufwärts sowie um sämtliche Beamte der übrigen Behörden vom Ministerialrat aufwärts (vgl. Rebentisch 1989 [wie Anm. 15], S. 73 ff.; Mommsen 1966 [wie Anm. 46], S. 77 ff.).
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Viele dieser Dienststellen entwickelten ein Eigenleben und siedelten sich als organisatorisch verselbständigte und im Grunde führerimmediate Sonderexekutivbehörden in Kompetenzbereichen der regulären Staatsverwaltung an. Dazu gehört auch Albert Speers besonderer Stab des „Beauftragten für das Bauwesen“. Speers Aufstieg vom „Innenausstatter“ von Parteigebäuden und „Bühnenbildner“ der Nürnberger Parteitage zum „Hofarchitekten“ Hitlers und dann zum Reichsrüstungsminister zeigt exemplarisch den Differenzierungs- und Verselbständigungsprozess führerunmittelbarer Sonderstäbe im Dritten Reich. Seit dem Jahre 1936 setzte Speer, durch Hitlers „Aufträge“ legitimiert und wohl auch unterstützt durch ein gewisses Maß an eigenem Charisma, einen Prozess in Gang, der auf dem Gebiet des Städtebaus und der Raumordnung die Umgehung der staatlichen wie der kommunalen Bauverwaltung zur Voraussetzung hatte.50 Bei seiner Ernennung zum „Generalinspekteur für die Neugestaltung der Reichshauptstadt“ verfügte Speer bereits über eine komplexe, im Ganzen von außen nicht mehr kontrollierbare Stabsorganisation mit direkten und weitreichenden Verwaltungs- wie Exekutivkompetenzen. Kaum einer von Hitlers Günstlingen hat die persönlichen Aufträge und Ermächtigungen des „Führers“, insbesondere während der Kriegszeit, so extensiv zum eigenmächtigen Aufbau selbstgeleiteter und unabhängig vom normativen Ordnungssystem der Ministerialverwaltung operierender Unternehmungen und Organisationen genutzt wie Speer. Dabei überschritt er, wie Rebentisch feststellt, „von Anfang an und ohne jede Bedenken die Grenzen zwischen der normativen Staatsordnung und terroristischer Gewaltanwendung“.51 Einen guten Eindruck von diesen rüstungspolitischen Organisationsformen und -praktiken vermittelt Speer selbst in seinen Erinnerungen. Nur wenige Tage nach Fritz Todts Unfalltod und Speers Ernennung zu seinem Nachfolger „in allen seinen Ämtern“ (Hitler) entwarf der Reichsrüstungsminister in seinen ersten Amtstagen einen eigenen „Organisationsplan“: „Dessen vertikale Linien (umfassten) die einzelnen Fertigprodukte, wie Panzer, Flugzeuge oder U-Boote, also die Rüstung der drei Wehrmachtsteile (...). Diese senkrecht stehenden Säulen wurden von zahlreichen Ringen umschloßen, von denen jeder eine Gruppe der für alle Geschütze, Panzer, Flugzeuge und andere Rüstungsgeräte notwendigen Zulieferungen darstellen 50
Vgl. Jörg-Detlef Kühne: Bauverwaltung zwischen Städtebau und Raumordnung, in: Jeserich, Pohl und Unruh 1985 (wie Anm. 35), S. 823 ff. 51 Rebentisch 1989 (wie Anm. 15), S. 387.
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sollte. Hier, in diesen Ringen, dachte ich mir beispielsweise die Fertigung der Schmiedestücke oder der Kugellager oder der elektrotechnischen Ausrüstung zusammengefaßt. Als Architekt an dreidimensionales Denken gewohnt, zeichnete ich dieses Organisationsschema perspektivisch auf.“52 Mit dieser Konzeption befreite Speer seine rüstungspolitische Planung von den ministeriellen Traditionen mit ihren einschränkenden normativen und bürokratischen Strukturen, die von den nachgeordneten Behörden des Reichsrüstungsministeriums ausgingen. Doch die beträchtliche Kapazitätsausweitung in der Rüstungsproduktion, die in den ersten Jahren von Speers Aktivität als Rüstungsminister und „Generalbevollmächtigter für Rüstungsaufgaben im Vierjahresplan“ erzielt werden konnten,53 ist darüber hinaus zusätzlich auf die erfolgreiche Integration der Selbstverwaltungskapazitäten der rüstungspolitisch relevanten Wirtschaftsunternehmungen zurückzuführen. Diese waren primär technokratischen Effizienzkriterien verpflichtet, wurden unternehmerisch geführt und griffen auf verwaltungsunabhängige Planungsorganisationen zurück. Dazu bemerkt Speer: „Mit der Vollmacht Hitlers versehen, mit einem friedfertigen Göring im Hintergrund, konnte ich an den Ausbau der von mir geplanten umfassenden ‚Selbstverantwortung der Industrie‘ gehen, so wie ich sie in meinem Schema skizziert hatte. Es gilt heute als sicher, daß der unerwartet schnelle Anstieg der Rüstungsproduktion auf die Einführung dieser Organisation zurückzuführen ist, deren Grundsätze jedoch nicht neu waren. Sowohl Generalfeldmarschall Milch wie auch mein Vorgänger Todt waren bereits dazu übergegangen, hervorragende Techniker aus den führenden Werken der Industrie mit der Leitung von Teilgebieten der Rüstung zu beauftragen. (...) Im Dachgeschoß des Ministeriums Todt saß ein alter Mitarbeiter Rathenaus, der im ersten Weltkrieg in dessen Rohstofforganisation tätig war und später über deren Ausbau eine Niederschrift verfaßt hatte. Von ihm bezog Dr. Todt Erfahrungen. Wir bildeten ‚Hauptausschüsse‘ für die Waffenarten und ‚Hauptringe‘ für die Bereitstellung der Zulieferung. Dreizehn Hauptausschüsse bildeten schließlich als vertikale Bauglieder die Säulen meiner Rüs52
Albert Speer: Erinnerungen, Frankfurt 1970, 7. Auflage, S. 219. Vgl. dazu Alan S. Milward: Die deutsche Kriegswirtschaft 1939-1945, Stuttgart 1966, S. 6; Hildebrand 1987 (wie Anm. 31), S. 74 f.; Jonas Scherner: Das Ende eines Mythos? Albert Speer und das sogenannte Rüstungswunder, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 93, 2006, S. 172-196; Adam Tooze: Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus, München 2007, S. 634 ff. 53
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tungsorganisation. Sie wurden von ebenso vielen Häuptlingen zusammengehalten. Neben den Hauptausschüssen richtete ich Entwicklungskommissionen ein, in denen die Offiziere des Heeres den besten Konstrukteuren der Industrie gegenübersaßen. Die Kommissionen sollten Neukonstruktionen beaufsichtigen, produktionstechnische Verbesserungen schon während der Entwurfsarbeit vornehmen und unnötige Entwicklungen unterbinden.“54 Den Kulminationspunkt seines Einflusses erreichte Speer allerdings im September 1942, als er den „Erlaß des Führers über die Konzentration der Kriegswirtschaft“ erhielt, der ihm erlaubte, die gesamte für die Rohstoffbewirtschaftung und industrielle Produktion zuständige Hauptabteilung des Reichswirtschaftsministeriums in die Organisation des Ministeriums Speer, das sich fortan „Ministerium für Rüstung und Kriegsproduktion“ nannte, zu überführen.55 Ein weiteres Beispiel für eine organisatorisch verselbständigte Sonderbehörde aus den Kriegsjahren, in denen die Einsetzung immer neuer Sonderbeauftragter die Verwaltungsstruktur des Reiches immer mehr fragmentierte und immer unübersichtlicher werden ließ, ist die im März 1942 erfolgte Ernennung des thüringischen Gauleiters Fritz Sauckel zum „Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz“.56 Nach seiner Nominierung und nach vorläufiger Beendigung unvermeidlicher Auseinandersetzungen um Kompetenzen, unter anderem mit Görings „Vierjahresplan“-Organisation und mit der Reichskanzlei, zog Sauckel mit einem Stab von Vertrauensleuten aus seiner Weimarer Gauzentrale in das Reichsarbeitsministerium um. Von dort aus entsandte Sauckel eine Reihe von Beauftragten in die ihm zugewiesenen Abteilungen des Ministeriums. Rasch baute Hitlers neuer Generalbevollmächtigter unter dem bezeichnenden Namen „Europa-Amt“ eine selbständige Arbeitseinsatzverwaltung auf, die nur noch rein formell in das Reichsarbeitsministerium eingegliedert war.57 Worauf es hier ankommt, ist, dass binnen eines Jahres 54
Speer 1970 (wie Anm. 52), S. 223. Vgl. Rebentisch 1989 (wie Anm. 15), S. 391. 56 Vgl. Walter Naasner: Neue Machtzentren in der deutschen Kriegswirtschaft 1942-1945. Die Wirtschaftsorganisation der SS, das Amt des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz und das Reichsministerium für Bewaffnung und Munition, Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, Boppard 1994; Steffen Raßloff: Fritz Sauckel: Hitlers „Muster-Gauleiter“ und „Sklavenhalter“, Erfurt 2007; Tooze 2007 (wie Anm. 53), S. 593 ff. 57 Vgl. dazu Rebentisch 1989 (wie Anm. 15), S. 354 ff. Außerdem Willi A. Boelcke: Arbeit und Soziales, in: Jeserich, Pohl und Unruh 1985 (wie Anm. 35), S. 802 ff. 55
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Sauckel die mit den Arbeitseinsatzfragen befassten Stellen des Reiches vollständig unter seine Kontrolle brachte und damit eine nicht mehr nach Maßgabe regulärer Verwaltungsverfahren kontrollierbare, praktisch autonome rüstungswirtschaftliche Lenkungsbehörde schuf. In Zusammenarbeit mit den Organen von Speers Ministerium, den Gauleitern und mit Hilfe eines Netzes von Beauftragten, die er bei den Dienststellen der Militär- und Zivilverwaltungen ernannte, konnte Sauckel seine Konzeption eines „innereuropäischen Arbeitsaustausches“ in der Gestalt der Zwangsrekrutierung von Millionen „Fremdarbeitern“ in den besetzten Gebieten für den Einsatz in der deutschen Rüstungswirtschaft in die Praxis umsetzen. Die Reihe der Beispiele ließe sich fortsetzen,58 und dies nicht nur für die uns hier vorrangig interessierende Spitzenebene des politischen Systems der nationalsozialistischen Führerdiktatur, sondern auch für die Ebenen der territorialen sowie sektoralen Mittelinstanzen des Reichsaufbaus, etwa unter Berücksichtigung der Rolle der Gauleiter, der verschiedenen Typen von Reichsstatthaltern, der Stäbe des Reichsprotektors, des Generalgouverneurs, der Reichskommissariate und der Spitzen der Zivilverwaltungen in den annektierten Gebieten.59 Wenden wir uns stattdessen den zentralen Strukturmerkmalen des nationalsozialistischen Regimes unter dem Gesichtspunkt der Allokation von Organisations- und Exekutivkompetenzen zu. Von besonderem Interesse erscheint zunächst, dass die Konstituierung zahlreicher führerimmediater Sonderstäbe im Dritten Reich zu einer massiven Vervielfältigung partikularer Machtzentren geführt hat. Diese konkurrierten nicht nur in den meisten Fällen untereinander um Ressourcen und vor allem um möglichst exklusive Handlungsermächtigungen durch den 58 Aus der Vorkriegszeit ließe sich noch der „Generalinspekteur für das deutsche Straßenwesen“ Dr. Fritz Todt nennen und für die Zeit unmittelbar nach Kriegausbruch die Organisation des „Reichskommissars für den sozialen Wohnungsbau“, die zahlreichen Sonderbehörden aus dem Machtbereich des Beauftragten für den Vierjahresplan Hermann Göring oder auch Rosenbergs berüchtigter „Einsatzstab für die besetzten Gebiete“ anführen. 59 Dazu ausführlich Broszat 1983 (wie Anm. 8), S. 130 ff.; Rebentisch 1989 (wie Anm. 15), Kap. III-V. Zu den Gauleitern vgl. neben der weiter oben angeführten Literatur noch: Walter Ziegler: Gaue und Gauleiter im Dritten Reich, in: Horst Möller u. a. (Hrsg.): Nationalsozialismus in der Region, München 1996, S. 139-159; Martin Moll: Steuerungsinstrument im ‚Ämterchaos‘? Die Tagungen der Reichs- und Gauleiter der NSDAP, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 49, 2001, S. 215-273. Zu den Kommissaren vgl. Rüdiger Hachtmann und Winfried Süß (Hrsg.): Hitlers Kommissare. Sondergewalten in der nationalsozialistischen Diktatur, Göttingen 2006.
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„Führer“. Sondern deren Kompetenzbereiche überschnitten sich zudem durchweg mit den traditionellen Zuständigkeitsbereichen der Ministerialbürokratie und der allgemeinen Reichsverwaltung. In nahezu allen Vollzugsbereichen der Reichs-, Landes- wie Kommunalverwaltungen entstanden – durch die Pluralität von auf unterschiedlichen Legitimitätsgrundlagen handelnden Entscheidungsträgern öffentlicher Autorität – vielfältige Konfliktlinien, vor allem zwischen herkömmlichen bürokratischen und neuen charismatisch qualifizierten Verwaltungsorganisationen. Die im Spannungsfeld von nationalsozialistischen Parteimächten, führerunmittelbaren Sonderbehörden und Instanzen der regulären Staatsverwaltung auf allen Ebenen ausgetragenen, sich im Laufe der Jahre und insbesondere in der letzten Kriegsphase zusehends verschärfenden Führungsrivalitäten, Machtkämpfe und Kompetenzkonflikte manifestierten sich in einer unübersichtlichen Ämtervielfalt. Die damit verbundene Aufsplitterung des inneren Ordnungsgefüges des Deutschen Reiches löste die organisatorische Geschlossenheit des staatlichen Verwaltungssystems zunehmend auf und ließ die gesamte institutionelle Struktur gleichsam im ständigen Fluss erscheinen. Durch das Nebeneinander von bürokratischem Zentralismus und sektoralen wie territorialen Partikulargewalten bildete sich ein hinsichtlich seiner politischen Legitimations- wie administrativen Organisationsstrukturen polykratisches Herrschaftssystem heraus, dessen Grundlagen auf gegensätzlichen Legitimationsmustern, Führungsstilen sowie Organisationsprinzipien beruhten. Neben den zentripetalen, nach formalrechtlichen Prozeduren verfahrenden, kompetenzen- und behördenmäßig routinisierten, im engeren Sinne bürokratischen Vollzugsstrukturen des preußisch-deutschen Verwaltungsstaates, entwickelte sich ein Konglomerat zentrifugaler, in ihrer Organisationskraft höchst dynamischer, teils staatliche Kompetenzen usurpierender, teils selbst neue Herrschaftsräume definierender Entscheidungs- und Exekutivorgane. Ihrer inneren Struktur nach basierten diese im Kern auf rein persönlichen Loyalitätsverhältnissen, informellen Führungspraktiken und weitgehend rechtsenthobenen Verfahrensweisen. Das Gesamtsystem der nationalsozialistischen Diktatur erweist sich somit hinsichtlich seiner politischen Legitimations- und administrativen Durchsetzungsstruktur als ein organisatorisch gemischtes System. Vieles spricht dafür, dass insbesondere dessen interne Machtverteilung jene spezifische Konfliktdynamik freisetzte, die nach Auffassung vieler Historiker zu einer „zunehmenden Zersetzung des Staatswesens und Auflösung der inne230
ren Geschlossenheit (...) des politischen Systems zugunsten partikularer Machthaber“ geführt hat.60 Lepsius fasst diesen Sachverhalt folgendermaßen zusammen: Im nationalsozialistischen Herrschaftssystem „we see the interesting mixture of a prevailing bureaucratic structure and a number of newly created agencies with undefined competence for specific tasks (...) two types of administrative structures worked side by side. The one was reduced to ordinary routine tasks, the other designated for accomplishing the goals of the leader.“61 Im Folgenden betrachten wir die internen Organisationsstrukturen dieser führerunmittelbaren Stäbe und ihre Machtstellung im Ordnungsgefüge der Reichsverwaltung genauer. Die organisatorische Verselbständigung der kommissarischen Sonderbehörden und Verwaltungsstäbe ist in erster Linie als Funktion einer bürokratisch ungehemmten technokratischen Effizienzsteigerung zu verstehen. Sonderbehörden wurden zumeist ad hoc auf Initiative des „Führers“ bzw. seiner nächsten Gefolgsleute eingerichtet, um politische Ziele, die besondere Mittel und Techniken erforderten und den Routinen der Verwaltung entgegenstanden, zu verwirklichen. Die organisatorische Herauslösung aus dem staatlichen Verwaltungszusammenhang wurde mit den außergewöhnlichen Erfordernissen gerechtfertigt. So wurde beispielsweise die Reichsbehörde des Generalinspekteurs für das deutsche Straßenwesen, aus der dann in den Kriegsjahren die Organisation Todt hervorging, zunächst zum Bau eines Reichsautobahnnetzes gegründet. Ausgestattet mit weitreichenden Anordnungsbefugnissen gegenüber der bestehenden regulären Straßen- und Bauverwaltung, entwickelte sich diese Sonderorganisation zu einer technokratischen Modellorganisation eines führerunmittelbaren Zentralorgans außerhalb der Organisation der Reichsregierung. Sie war der Kontrolle der Staatsverwaltung, insbesondere der öffentlichen Baubehörden, damit weitgehend entzogen. Die Todts Führungsapparat „unterstehenden zahlreichen Baustellen, Kontaktfirmen und Autobahnlager bildeten ein riesiges staatliches Bauunternehmen, das sich gleichzeitig aber, durch die Gesetzgebungs- und Anordnungskompetenz seines Chefs, die erforderlichen verwaltungsmäßigen Sonderbedingungen für eine möglichst effektive Durchführung seines Auftrages sichern konnte.“62
60
Mommsen 1981 (wie Anm. 39), S. 54. Lepsius 1986 (wie Anm. 44), S. 63. 62 Broszat 1983 (wie Anm. 8), S. 330. 61
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III. Der Aufbau von Sonderstäben wurde im Staate Hitlers natürlich zumeist zur Durchführung von außergewöhnlichen, besonders rassen- und rüstungspolitischen Projekten, der Zwangsarbeit, der paramilitärischen Ausbildung und der Bekämpfung der politischen Gegner in Angriff genommen. Hitler erteilte dazu in aller Regel eigenmächtig, d. h. zumeist ohne Absprache mit den zuständigen Ressortministern oder Verwaltungsbehörden, bestimmten Gefolgsleuten einen persönlichen Auftrag in Form eines „Führererlasses“, „Führerbefehls“, einer „Sonderermächtigung“ oder einer „Generalvollmacht“. Auf die Rolle des „Führerbefehls“ als typischen Modus der charismatischen Entscheidungsfindung gehen wir weiter unten, im Zusammenhang der Analyse des Kanzleisystems, noch näher ein. Der unmittelbare Führerauftrag und die vorrangig an technischen Effizienzkriterien orientierten Planungsziele dieser „besonderen Maßnahmen“ rechtfertigten darüber hinaus auch außerordentliche organisationspolitische und programmpolitische Handlungsfreiheiten der jeweils damit beauftragten Leiter und ihrer Verwaltungsapparate. Dabei wurde überwiegend in einer Grauzone rechtsenthobener Entscheidungsgewalten, oft aber auch schlechterdings außerhalb jeglicher rechts- und verwaltungsstaatlicher Legalität operiert. Unter diesen Voraussetzungen entstanden Organisationsstrukturen, die „nach den Kategorien bürokratischer Staatsverwaltung praktisch undefinierbar waren“.63 In der Tat entwickelten sich mit den verselbständigten Sonderbehörden organisatorische Mischformen, die zum einen bürokratische Amtsorganisationsprinzipien mit privatwirtschaftlichen Managementfunktionen verbanden, insbesondere bei den wirtschaftspolitischen Lenkungsbehörden, wie z. B. Görings Organisation des Vierjahresplanes oder die schon mehrfach erwähnte Organisation Todt. Zum anderen bildeten sich Verwaltungsstrukturen heraus, die aus einer Verschmelzung von Parteiorganisation und Staatsämtern hervorgingen, wie beispielsweise die Hitlerjugend, nachdem sie zur Pflichtjugendorganisation erhoben worden war, oder der Reichsarbeitsdienst unter der Führung Konstantin Hierls nach der Einführung der gesetzlichen Arbeitsdienstpflicht.64
63
Ebd., S. 376. Vgl. Michael H. Kater: Hitler-Jugend, Darmstadt 2005; Kiran Klaus Patel: „Soldaten der Arbeit“. Arbeitsdienste in Deutschland und den USA 1933 – 1945, Göttingen 2003. 64
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Ihrer inneren Struktur nach entsprachen diese organisatorisch verselbständigten Verwaltungsapparate weitgehend dem nationalsozialistischen Führerprinzip, was nicht nur die außerordentliche Machtfülle der Organisationsleitung legitimierte und eine quasimilitärische Befehlsstruktur etablierte, sondern darüber hinaus auch weitgehend unbürokratische Organisationspraktiken privilegierte. Dazu gehörte, dass die Entscheidungsprozesse in der Regel informeller Natur waren und kollektive, zumal kollegiale Beschlussfassungen prinzipiell ausschlossen. Geordnete Zuständigkeiten und verlässliche Befugnisse blieben Ausnahmen, formale Rekrutierungskriterien oder Avancement-Regelungen fehlten zumeist vollständig. Die Auswahl des Personals sowie Beförderungen und Aufgabenverteilung wurden in den meisten Fällen nach Maßgabe ausschließlich persönlicher Vertrauensbeziehungen zum Stabsleiter und in der Regel von diesem persönlich getroffen. Die Personalpolitik wurde dabei aber keineswegs immer nur von Parteiinteressen oder ideologischen Gemeinsamkeiten bestimmt. Anstelle von Parteimitgliedern wurde oft technisch oder verwaltungspraktisch besonders qualifizierten Kräften der Vorrang gegeben und in der Regel mehr Wert auf persönliche Loyalität gegenüber dem jeweiligen Leiter gelegt. Dies ist beispielsweise für Görings Personalpolitik in der Organisation des Vierjahresplanes gut belegt: Der „Zweite Mann im Reich“, von dem man erwarten würde, dass er seine Stabsmitglieder vor allem aus Parteikreisen rekrutierte, hat „kaum Parteileute mit den neuen Aufgaben betraut (...), sondern neben Fachkräften der privaten Wirtschaft vor allem (...) bewährte Vertrauensleute aus seinem Stab, dem Luftfahrtsministerium und dem Preußischen Staatsministerium“ übernommen.65 Auch Speer legte, nachdem er zum Reichsrüstungsminister ernannt worden war, größten Wert darauf, in erster Linie mit technisch und betriebswirtschaftlich qualifizierten Stabsleuten arbeiten zu können, unabhängig von deren parteipolitischem Engagement. Dabei konnte sich Speer auf Hitlers Rat stützen, sich bei der Bewältigung der Rüstungsaufgaben möglichst viel der Industrie zu bedienen, da sich dort die wertvollsten Kräfte finden ließen. Speer bemerkt in seinen Erinnerungen: „Dieser Gedanke war mir nicht neu, denn Hitler hatte schon oft betont, daß man große Aufgaben am besten unmittelbar von der Wirtschaft in Angriff nehmen lasse, da die Ministerialbürokratie, gegen die er eine beträchtliche Aversion hatte, deren Initiative nur hemme. Ich benutzte die günstige Gelegen65
Kube 1986 (wie Anm. 34), S. 160.
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heit, ihm in Gegenwart Bormanns zu versichern, daß ich meine Arbeit überwiegend von Technikern der Industrie durchführen lassen wolle. Dazu sei aber notwendig, daß diese nicht auf Parteizugehörigkeit geprüft würden, denn bekanntlich seien viele von ihnen der Partei fremd. Hitler stimmte zu, beauftragte Bormann, meinem Wunsch zu entsprechen, und so blieb, wenigstens bis zum Attentat des 20. Juli 1944, mein Ministerium von den unangenehmen Prüfungen der Parteikanzlei Bormanns verschont.“66 Im Allgemeinen waren eigenständige Exekutivorganisationen im NSStaat somit vor allem durch das Fehlen berechenbarer und verbindlicher Verfahrensregeln charakterisiert. Selbst der für eine geregelte bürokratische Amtsführung unerlässliche Schriftverkehr und die entsprechende Aktenmäßigkeit der Verwaltungsarbeit wurden vielfach auf Veranlassung der Organisationsleiter, so z. B. explizit in Görings Amtsbereich67 und stillschweigend für die meisten geheimen Sonderaktionen der SS, auf ein Minimum reduziert. Fasst man die wichtigsten Strukturmerkmale der organisatorisch verselbständigten Sonderexekutivapparate des Dritten Reiches zusammen, so ist festzuhalten, dass sie fast ausnahmslos nicht nach den Prinzipien bürokratisch geregelter Amtsführung und formal geordneter Aufgabenerledigung operierten. Anstelle streng festgelegter Amtspflichten dominierte eine vorwiegend an technokratischer Effizienz orientierte, weitgehend rechtsenthobene, verwaltungsmäßig kaum mehr kontrollierbare und im Wesentlichen informelle sowie personalisierte Entscheidungs- und Organisationspraxis. Zu den gemeinsamen Merkmalen dieser außeralltäglichen Machtgebilde zählen also in erster Linie a) die führerimmediate Stellung, b) die durch den „Führerauftrag“ charismatisch qualifizierten Führungsstile, c) die bürokratiefremden Organisationsstrukturen sowie d) in der Regel eine verfahrensmäßig kaum eingeschränkte Verfügbarkeit über Ressourcen. Zur Verdeutlichung der inneren Konfliktdynamik der nationalsozialistischen Herrschaftsstruktur ist als ein weiteres gemeinsames Strukturmerkmal jener Stabsorganisationen noch deren programmatische Frontstellung gegenüber den bestehenden staatlichen Verwaltungsressorts hervorzuheben. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass unter der Etablierung der überministeriellen Führungsgewalten Konflikte mit der regulären Ministerialbürokratie und den ihr nachgeordneten Behörden, die für die entsprechenden 66 Speer 1970 (wie Anm. 52), S. 218. Auf die Rolle Bormanns und der Parteikanzlei kommen wir weiter unten zurück, S. 296 ff. 67 Kube 1986 (wie Anm. 34), S. 149.
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Ressortbereiche ein legales behördliches Kompetenzmonopol beanspruchen und auf eine reguläre Verwaltungsgerichts- sowie Etatkontrolle insistieren konnten, nicht ausbleiben konnten. Exemplarisch lässt sich dies Spannungsverhältnis an der Hitlerjugend zeigen. Deren gezielt betriebener Ausbau zur Obersten Reichsbehörde stieß natürlich immer wieder auf starke Widerstände auf Seiten des Reichsministeriums des Inneren, des Reichsfinanzministeriums sowie vor allem des Reichserziehungsministeriums.68 Die letztlich nur wenig erfolgreichen Bemühungen gegen die häufig als Eigenmächtigkeit beklagten Vorgehensweisen der nationalsozialistischen Führer in der Beamten- und Innenpolitik und gegen jede Form außerstaatlicher Kompetenzanmaßungen und administrativer Verselbständigungen, die die Reichsverwaltungseinheit und das ministerielle Regierungsmonopol in Frage stellten, waren schon früh Gegenstand der historischen Forschung zur Bürokratie im Nationalsozialismus.69 Nur unter der Voraussetzung vieler Zugeständnisse und Rückzieher im Einzelnen „gelang es der Verwaltung, insbesondere dem Reichsinnenminister Frick, die Grundsätze des Berufsbeamtentums wie die Einhaltung der Laufbahnordnungen, der Eingangsprüfungen und eines Mindestalters bei Beförderungen grundsätzlich aufrechtzuerhalten.“70 Auch die schließliche Kapitulation des Reichswirtschaftsministers Schacht, angesichts der alle formal geregelten Kompetenzgrenzen ignorierenden Entscheidungs- und Organisationsgewalten des ausgedehnten Göringschen Machtbereiches, verdeutlicht die destruktive Dynamik jenes Prozesses der organisatorischen Verselbständigung von verwaltungsunabhängigen Sonderbehörden. Als „Musterbeispiel der Verquickung von Staat und Partei“71 sei an dieser Stelle nur noch der Reichsarbeitsdienst erwähnt, der, hervorgegangen aus dem „Arbeitsdienst“ der NSDAP, sich 1934 mit etwa 30 Gauarbeitsleitungen als staatlichen Dienststellen aus dem herkömmlichen Verwaltungszusammenhang, den Landesarbeitsämtern, gänzlich herauslöste und als formell und sachlich eigenständige Arbeitsdienstverwaltung neu gegründet hatte. Dass insbesondere der Aufbau von überministeriellen Parallelverwaltungen in bestimmten Bereichen der Staatsverwaltung die administrativen Zuständigkeiten und traditionellen Machtpositionen der bürokratischen 68
Vgl. Broszat 1983 (wie Anm. 8), S. 335. Vgl. u. a. Mommsen 1981 (wie Anm. 39), S. 62-80; Diehl-Thiele 1969 (wie Anm. 21), S. 1 ff.; Broszat 1983 (wie Anm. 8), S. 334. 70 Wunder 1986 (wie Anm. 46), S. 141. 71 Ebd., S. 332 ff. 69
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Funktionseliten unterminierte, liegt auf der Hand. In der Verwaltungssoziologie werden Doppelhierarchien vor allem als Systeme zur externen politischen Kontrolle bestehender Verwaltungsstrukturen angesehen. Dabei „wird die Verwaltung zusätzlich auf allen Ebenen von außen gesteuert und kontrolliert, und zwar durch eine parallel zu ihr organisierte politische Hierarchie. Ein solches System der Doppelhierarchie findet sich in der Regel, wenn in einer Gesellschaft eine mächtige politische Partei die uneingeschränkte Führungsrolle beansprucht. (...) Mit der externen politischen Kontrollhierarchie wird die im administrativen Instanzenzug verlaufende Steuerung und Kontrolle partiell durchbrochen und damit ein zentrales Merkmal bürokratischer Organisation tendenziell aufgehoben.“72 Außer den bereits erwähnten führerunmittelbaren Reichsbehörden entstanden im nationalsozialistischen Herrschaftssystem bekanntlich solcherart Doppelhierarchien auf nahezu allen Ebenen der Staatsverwaltung: So intervenierten SA-Kommissare in Behördenvorgänge der Kommunal-, Bezirksund Kreisämter sowie in den entsprechenden Polizeidienststellen; die Gauleiter und Reichsstatthalter konkurrierten mit den Kreis- und Landesregierungen, aber auch mit Instanzen der Staatsministerien um Entscheidungs- und Exekutivmacht; die Landräte mussten allenthalben mit Eingriffen in ihre Hoheitsbereiche seitens der Gauleiter rechnen, und selbst die Bürgermeister konnten sich in aller Regel nur schwer der Amtsanmaßungen der NSDAP-Kreisleiter erwehren.73 Staatsbeamte, die zugleich Parteimitglieder waren, unterstanden zudem einer doppelten Disziplinargerichtsbarkeit, insofern sie gegebenenfalls sowohl von den öffentlich-rechtlichen Instanzen als auch von speziellen Parteigerichten zur Verantwortung gezogen werden konnten.74 Abgesehen von den das gesamte Herrschaftssystem des Dritten Reiches durchziehenden Kompetenzkonflikten zwischen Parteiäm72
Renate Mayntz: Soziologie der öffentlichen Verwaltung, Heidelberg/Karlsruhe 1978, S. 77 f. Zum System der Doppelhierarchien auf den mittleren Regierungs- und Verwaltungsebenen vgl. statt vieler: Diehl-Thiele 1969 (wie Anm. 21); Horst Matzerath: Nationalsozialismus und kommunale Selbstverwaltung, Stuttgart 1970, S. 228 ff.; Albert von Mutius: Kommunalverwaltung und Kommunalpolitik, in: Jeserich, Pohl und Unruh 1985 (wie Anm. 35), S. 1056 ff. sowie die Fallstudien in Rebentisch und Teppe 1986 (wie Anm. 15); zur doppelhierarchischen Struktur der zentralen Regierungsinstanzen sowie über die Rolle der Partei-Kanzlei Näheres weiter unten, S. 243 ff. 74 Vgl. Diehl-Thiele 1969 (wie Anm. 21), S. 55 ff.; Mommsen 1966 (wie Anm. 46), S. 103 ff.; Donald M. McKale: Der öffentliche Dienst und die Parteigerichtsbarkeit der NSDAP, in: Rebentisch und Teppe 1986 (wie Anm. 15), S. 237 ff. 73
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tern und Staatsbehörden, beleuchtet auch das Phänomen der „overlapping spheres of competence and jurisdiction“75 gut die institutionelle Eigendynamik des systeminternen Machtverhältnisses zwischen der bürokratischen Elite und den nationalsozialistischen Machtgruppen. Unter der erwähnten verwaltungswissenschaftlichen Annahme, dass die Herausbildung von Doppelhierarchien im Allgemeinen auf Strategien der politischen Gegensteuerung gegen bürokratische Amtsprärogative der Staatsbeamtenschaft hindeutet, stellt sich das Problem des Verhältnisses von Bürokratie und nationalsozialistischer Machtelite nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Politisierungszumutungen nach Maßgabe der NS-Beamtenideologie bzw. der Ausprägungen spezifischer berufsständischer Resistenzen dagegen auf der Gegenseite. Aufschlussreicher ist es, wenn man dieses Spannungsfeld unter der Perspektive der institutionellen Verschränkung von nach Legitimations- wie Organisationsprinzipien heterogenen, teils bürokratisch, teils extrabürokratisch organisierten Vollzugsinstanzen einer charismatisch legitimierten Führungselite betrachtet. Im Hinblick auf die Stellung der staatlichen Verwaltungsbürokratie sind dann beispielsweise die spezifischen Potentiale und Mechanismen dessen einzubeziehen, was Arnold Brecht treffend als „bureaucratic sabotage“ bezeichnet hat und in der neueren Verwaltungssoziologie auch als Ausprägungen einer Art „institutioneller Opposition“ analysiert wird: „Die Wirksamkeit der institutionellen Opposition ist deshalb so außerordentlich hoch einzuschätzen, weil sie in das Entscheidungssystem im engeren Sinne eingebaut ist oder zumindest direkten Zugang zu den Entscheidungsstellen genießt. Im Gegensatz zu den Betroffenen an der Basis hat diese Opposition weder Organisations- noch Artikulationsprobleme und kaum Informations- und Kommunikationsschwierigkeiten zu überwinden.“76 Ohne Berücksichtigung dieser Aspekte kann vor allem das grundlegende Verhältnis von politischer Führung und Verwaltungsmacht im modernen Staat nicht angemessen erfasst werden. „Verwaltungsmacht“ meint in unserem Zusammenhang jene bereits von Max Weber an der Schwelle zur ersten deutschen Republik analysierte, im Kern auf dem faktischen Monopol von Fachwissen, Dienstwissen und Geheimwissen basierende, weitgehend eigenständige, verbandsmäßig geschlossene und gegenüber externen gesellschaft75
Nyomarkay 1967 (wie Anm. 12), S. 26. Fritz W. Scharpf: Planung als politischer Prozess. Aufsätze zur Theorie der planenden Demokratie, Frankfurt, 1973, S. 66. 76
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lichen wie politischen Kontroll- und Demokratisierungsforderungen weitgehend immunisierte „Beamtenherrschaft“. „In einem modernen Staat liegt die wirkliche Herrschaft, welche sich ja weder in parlamentarischen Reden noch in Enunziationen von Monarchen, sondern in der Handhabung der Verwaltung im Alltagsleben auswirkt, notwendig und unvermeidlich in den Händen des Beamtentums. (...) Während die unteren Staffeln der Amtshierarchie durch die übergeordneten kontrolliert und kritisiert werden, versagt (...) gerade gegenüber den obersten, also den mit der ‚Politik‘ befassten, Stellen alle Kontrolle, technische wie politische überhaupt.“77 Tatsächlich spricht vieles dafür, dass sich das Problem der Verwaltungsmacht und ihrer politischen Kontrolle für Hitlers Führungselite von Anfang an in besonderer Schärfe stellte. Nachdem selbst im Weimarer Regierungssystem parlamentarische oder vergleichbare institutionelle Instrumentarien einer effizienten politischen Kontrolle der Bürokratie kaum rudimentär entwickelt waren,78 erweiterte sich ab 1933 zunächst zwangsläufig der ohnehin große politisch-administrative Handlungsspielraum der Staatsbürokratie. Nach der Regierungsübernahme der extrem und erklärtermaßen bürokratiefeindlichen, radikal gegen politische sowie administrative Regierungsroutinen aufbegehrenden Nationalsozialisten79 konnte es nicht ausbleiben, dass sich die faktischen Machtchancen der bürokratischen Elite gegenüber der in der administrativen Leitung der Regierungsgeschäfte im Grunde unerfahrenen nationalsozialistischen Regierung relativ vergrößerten. Darauf weist bereits Franz Neumann hin, wenn er bemerkt, dass „die Nationalsozialisten (...) einer Anhäufung staatlicher, bei einer Bürokratie mit hoher Qualifikation und langjähriger Erfahrung zentralisierten Macht gegenüberstanden.“80 Für die regimetypischen Konfliktpotentiale erscheinen somit unter dieser Perspektive nicht nur die verwaltungsinternen Auseinandersetzungen 77 Max Weber: Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland. Zur politischen Kritik des Beamtentums und Parteiwesens, in: Max Weber: Zur Politik im Weltkrieg. Schriften und Reden 1914-1918 (Max Weber Gesamtausgabe Abt. I Bd. 15), Tübingen 1984, S. 450. 78 Vgl. zur gesellschaftlichen und politischen Stellung der preußisch-deutschen Staatsbürokratie im wilhelminischen Deutschland und in der Weimarer Zeit: Wunder 1986 (wie Anm. 46), insb. Kap. II-III; Wolfgang Rung: Politik und Beamtentum im Parteienstaat. Die Demokratisierung der politischen Beamten in Preußen zwischen 1918 und 1933, Stuttgart 1965. 79 Hitlers persönliche Abneigung gegen Beamtentum, Verwaltung und jeglichen juristischen Formalismus ist geradezu sprichwörtlich. Vgl. dazu mit zahlreichen Zitaten aus Tischgesprächen und Monologen Hitlers: Rebentisch 1989 (wie Anm. 15), S. 31 ff. 80 Neumann 1984 (wie Anm. 18), S. 107.
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um die beamtenpolitischen Politisierungszumutungen und personalpolitischen Interventionen der nationalsozialistischen Machthaber von zentraler Bedeutung,81 als vielmehr der Umstand, dass die ideologische Distanz der nationalsozialistischen Elite zur Bürokratie eine dauerhafte funktionale Allianz mit den etablierten Mächten der Staatsverwaltung von vornherein erheblich erschwerte, wenn nicht gänzlich ausschloss. Die Nationalsozialisten gingen selbst unvermeidbare Kompromisse mit den staatlichen Verwaltungsorganen, wenn überhaupt, nur nolens volens ein. In den für ihre Herrschaftsstabilisierung zentral wichtigen Politikbereichen jedoch – insbesondere der gesellschaftlichen Massenorganisationen, der Kriegsvorbereitung, der Bekämpfung der politischen Feinde und der Judenpolitik – suchte und erprobte Hitlers Führungskreis zumeist organisationspraktisch und verwaltungspolitisch alternative Lösungen zu den bürokratischen Standardverfahren, womit eine „Umgehung“ der Staatsbürokratie oder zumindest eine wirkungsvolle Kontrolle der zuständigen Verwaltungsorgane möglich erschienen.82 Nur durch unkonventionelle Methoden des bürokratieexternen Aufbaus von eigenmächtigen und charismatisch legitimierten Stabsstrukturen ließen sich die strukturell gegebenen Einfluss- und Machtchancen der regulären Staatsverwaltung eindämmen. Nach Kriegsausbruch konnte diese Herrschaftsstrategie im Zusammenhang mit der rüstungswirtschaftlichen Planung, der militärischen und zivilen Okkupationsverwaltungen wie zuletzt des „totalen Kriegseinsatzes“ naturgemäß auf immer umfassenderen Verwaltungsgebieten und Territorien zur Anwendung gelangen.83
IV. Das Spannungsverhältnis zwischen Staatsverwaltung und nationalsozialistischer Führung erweist sich somit als ein grundlegender Strukturkonflikt des NS-Systems. Demgegenüber gilt die Frage, ob und bis zu welchem Grade 81
Dazu ausführlich Wunder 1986 (wie Anm. 46), S. 138 ff. Das relativiert auch die Ansätze, die gerade die Rationalität und organisatorische Effizienz der Bürokratie als Voraussetzung für den Holocaust betonen, vgl.: Zygmunt Bauman: Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 2002. 83 Willi A. Boelcke: Die Verwaltung im Zweiten Weltkrieg, in: Jeserich, Pohl und Unruh 1985 (wie Anm. 35), S. 1112 ff.; Klaus Oldenhage: Die Verwaltung der besetzten Gebiete, in: ebd., S. 1132 ff; ferner Rebentisch 1989 (wie Anm. 15), S. 117 ff. 82
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die deutsche Beamtenschaft sich mit der nationalsozialistischen Politik identifizierte oder sich den Regimeanforderungen widersetzte als eher zweitrangig. Es gehört zweifellos zu den erstaunlichsten Organisationsleistungen der Nationalsozialisten, dass es ihnen gelang, unabhängig von oder neben den beamtenpolitischen Maßnahmen zur Kontrolle des Beamtentums, ein überaus verzweigtes System von eigenlegitimierten und verwaltungsunabhängigen Sonderorganisationen aufzubauen. Insbesondere auf dieser Grundlage gelang es den nationalsozialistischen Gewalthabern, die zweifellos bestehenden Obstruktionspotentiale der staatlichen Bürokratie erfolgreich einzuschränken, für sich selbst einen relativ großen Willkürraum innerhalb der Staatsverwaltung zu etablieren und besonders ihren außeralltäglichen und kriminellen Politikzielen relativ große Verwirklichungschancen zu eröffnen. Die bisher deutlich gewordenen Strukturbesonderheiten der nationalsozialistischen Führerdiktatur verdeutlichen, dass die Durchsetzung von Hitlers Machtanspruch auf einem tief in das Herrschaftssystem des Dritten Reiches eingeschriebenen Strukturantagonismus basierte: dem Konflikt zwischen den Verwaltungsrationalitäten der regulären Staatsbürokratie einerseits und den weitgehend unberechenbaren und rechtsenthobenen Sonderexekutivorganisationen, die überwiegend im direkten oder indirekten Führerauftrag tätig wurden, andererseits. Die Institutionalisierung von verwaltungsunabhängigen „Maßnahme“-Stäben im Inneren des Staatsapparates vollzog sich im Rahmen eines außerordentlich dynamischen Machtkampfes um politische Handlungsspielräume und administrative Durchsetzungschancen zwischen der charismatisch legitimierten nationalsozialistischen Machtelite, deren Funktionsträger um jeden Preis eine möglichst umfassende politische Kontrolle der staatlichen Verwaltungen und des öffentlichen Dienstes anstrebten, und den Rängen der Bürokratie, die sich nicht willens zeigten, ihre angestammten Machtpositionen aufzugeben. Letztere bemühten sich vor allem um die Verteidigung ihrer herkömmlichen politischen Einflussmöglichkeiten und administrativen Rationalität. Über die tatsächlichen Durchsetzungschancen der Ziele und Aspirationen der nationalsozialistischen Machtelite wurde letztlich in diesem Kreis entschieden. Das Problem der Machtbildung im Dritten Reich stellt sich somit nicht primär unter dem Gesichtspunkt der bürokratiebestimmten „Dispersion“ von Machtansprüchen84 oder unter der Perspektive der „partiellen Resis84
Für diese Position vgl. Edward Peterson: The Limits of Hitler’s Power, Princeton 1969.
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tenz“ des preußisch-deutschen Beamtentums gegenüber den Politisierungszumutungen der nationalsozialistischen Führungskader.85 Die Entwicklung, die zu einer materiell und formell kaum mehr begrenzten Erweiterung der Herrschaftspotentiale des „Führers“, seiner unmittelbaren Gefolgsleute und der ihnen wiederum subordinierten Kader geführt hat, ist vielmehr im Zusammenhang vielschichtiger Transformationsprozesse von ursprünglich charismatisch qualifizierten, verwaltungsunabhängigen und rechtsenthobenen Stabsorganisationen im Binnenbereich des nationalsozialistischen Regierungssystems zu analysieren. Unter dieser Voraussetzung ist davon auszugehen, dass insbesondere die Institutionalisierung verwaltungsunabhängiger Führungs- und Organisationsstrukturen innerhalb der Staatsverwaltung die politisch-administrative Durchschlagskraft der nationalsozialistischen Führung in ihrer (destruktiven) Wirkung enorm potenzieren musste. Angesichts des institutionellen Beharrungs- und Abwehrvermögens des verwaltungsstaatlichen Regierungssystems, das die deutsche Beamtenschaft freilich nicht gegenüber der politischen und ideologischen Verführung durch die Machthaber immunisierte,86 war die praktische Durchsetzung des nationalsozialistischen Machtanspruches indessen nur um den Preis eines relativ hohen Konfliktniveaus innerhalb des Staatsapparates zu erlangen. Unter der Annahme also, dass sich im Dritten Reich die Institutionalisierung von ursprünglich charismatischen Organisationszusammenhängen nicht in einem staatlich und verwaltungsorganisatorisch unstrukturierten Raum vollzog, stellt sich das Problem ihrer Veralltäglichung auf besondere Weise. Hinzu kommt nämlich, dass es keinen Zweifel an dem ungebrochenen Fortwirken der politischen Integrationskraft von Hitlers Charisma geben kann. Die Transformationen der charismatisch qualifizierten Stabsorganisationen in den Jahren nach der Machtergreifung vollzogen sich jedenfalls nicht entsprechend einer eindimensionalen Entwicklungslogik. Von einer veralltäglichenden Bürokratisierung der Vollzugsstrukturen der Führerdiktatur kann schon deshalb nicht ohne Einschränkung gesprochen werden, weil alle führerimmediaten Sonderbehörden und Stäbe nicht als bürokratische Behörden im strengen Sinne klassifizierbar sind.87 Eher schon kann von 85
Dazu Rebentisch und Teppe 1986 (wie Anm. 15), S. 31 f. Vgl. Mommsen 1966 (wie Anm. 46). 87 Davon zu unterscheiden wären allerdings die uns hier nicht näher beschäftigenden Organisationsstrukturen der NSDAP und deren Bürokratisierungs- und Oligarchisierungstendenzen. Dazu Neumann 1984 (wie Anm. 18), S. 11 ff. 86
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einer Charismatisierung der überkommenen bürokratischen Verwaltungsstrukturen gesprochen werden, insofern sich Hitlers Führerdiktatur letztlich auf der Grundlage eines Einbaus der Reichs- und Länderverwaltungen in das neu geschaffene charismatische Regierungssystem durchsetzte. Im Ergebnis haben wir es also auf der Ebene des Gesamtsystems mit Merkmalen eines strukturellen Synkretismus von bürokratischen und charismatischen Legitimations- wie Organisationsprinzipien zu tun. Vieles spricht somit dafür, dass der Prozess der Veralltäglichung der nationalsozialistischen Herrschaftsstäbe sich nach Maßgabe einer institutionellen Konfliktdynamik vollzog, die an strategischen Scharnierstellen des staatlichen Verwaltungssystems besonders charismatisch qualifizierten Stabsorganisationen außergewöhnliche Durchsetzungschancen eröffnete. Mit diesen authentischen Machtschöpfungen wurde zugleich eine institutionelle Dynamik freigesetzt, die das gesamte überkommene Regierungs- und Verwaltungssystem schrittweise desintegrierte und die Rationalität der bürokratischen Verwaltungsstruktur untergrub. Darüber hinaus setzte sich in diesem Prozess der Charismatisierung der Staatsverwaltung im Dritten Reich eine Eigengesetzlichkeit der fortgesetzten Machtappropriation durch, die mit der Institutionalisierung eigenlegitimierter und verwaltungsunabhängiger Parallelapparate die Durchsetzungschancen der zentralen Führungsorgane, in erster Linie natürlich des Herrschaftsanspruchs Adolf Hitlers, erheblich erweiterte. Damit gelang es, die „überragende Machtstellung der vollentwickelten Bürokratie“ (Max Weber) erfolgreich zurückzudrängen und einen Willkürraum für die nationalsozialistischen Führungsspitzen und deren Stäbe zu schaffen. Die fortgesetzte charismatische Machtergreifung auf den verschiedenen Ebenen des politisch-administrativen Systems zeigt somit, dass sich im Dritten Reich ein beispielloser Prozess der Brechung und Unterhöhlung bürokratischer Herrschaftsstrukturen durch die Etablierung eines charismatisch legitimierten Führerabsolutismus mit extrabürokratischen Stabsorganisationen vollzog. Von diesem Prozess der Charismatisierung war die Führungsspitze im Umkreis des obersten Machthabers, Adolf Hitler, am ersten und auch am nachhaltigsten betroffen. Insbesondere das Kanzleisystem, das unmittelbar dem Reichskanzler unterstand, wurde von den beschriebenen Prozessen der Machtbildung und den sie begleitenden Machtkonflikten bestimmt.
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Führerunmittelbare Stabsorganisationen im NS-Regime
I. Die klassische Monarchie zeichnete sich in ihrer Spitzenstruktur dadurch aus, dass sie einerseits „außerhalb des Hofes und Regierungssitzes (...) lediglich teilweise, gelegentlich nur in Ansätzen (ein) zentralisiertes Verwaltungssystem“ ausgebildet hatte. Andererseits ist sie aber „ohne Hofhaltung mit einem Souverän im Mittelpunkt nicht vorstellbar“.1 Nachdem Adolf Hitler die höchsten Prärogative der Staatsmacht, das Amt des Reichskanzlers mit dem des Reichspräsidenten vereinigt hatte und damit zur höchsten überstaatlichen Entscheidungsinstanz geworden war, bildete sich in Deutschland ein autokratisches Herrschaftszentrum heraus, welches gewisse Strukturähnlichkeiten mit vorbürgerlichen, besonders höfischen Regierungsformen aufwies. Als eines der unterscheidenden Merkmale fällt aber sogleich vor allem die weitgehende Aufhebung der traditionellen Kommunikations- sowie Umgangsformen in der Spitze des Dritten Reiches auf. Die grundlegende Bedeutung, die in monokratischen Herrschaftssystemen den symbolischen Routinen und besonders auch dem Zeremoniell und der höfischen Etikette für die Machtbalance, Prestigeabstufungen und Affektbeherrschung zukommt, hat Norbert Elias am Beispiel der sozialen Beziehungen am Hofe Ludwig XIV. dargestellt.2 Die an adligen wie bürgerlichen Maßstäben gemessene Stillosigkeit von Hitlers Lebensführung und seine nahezu alle Konventionen des professionellen wie menschlichen Umgangs in Kreisen der Führungseliten weitgehend außer Acht lassenden Arbeits- und Regierungsformen wurden schon häufig 1
Emanuelle Le Roy Ladurie: Die klassische Monarchie in Frankreich, in: Merkur. Zeitschrift für europäisches Denken 41, 1987, S. 777. 2 Vgl. Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft, Anhang I, 2. Auflage, Darmstadt 1975.
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hervorgehoben.3 Angesichts der nahezu unbegrenzten Machtfülle, mit der die Position des „Führers und Reichskanzlers“ verbunden war, mussten Hitlers persönliche Eigenarten, seine häufig als bohèmehaft charakterisierte Lebensführung und die, vor allem nach dem Tod Hindenburgs, zunehmende Regellosigkeit und Unstetigkeit seiner Amtsführung folgenschwere politische Auswirkungen zeitigen.4 Unter der Voraussetzung, dass die Verhaltenskonventionen der alten Eliten von den Nationalsozialisten weitgehend ignoriert und außer Kraft gesetzt wurden, drückte sich Hitlers persönliche Machtvollkommenheit in beispielloser Willkür und Anmaßung gegenüber den bürokratischen, diplomatischen sowie militärischen Eliten aus. Hinzu kommt, dass sich die nationalsozialistische Machtelite mit einer funktional differenzierten, hierarchisch abgestuften und in sich sowohl institutionell wie ständisch geschlossenen Staatsbürokratie mit einem ausgeprägten esprit de corps konfrontiert sah, die dem administrativen Vollzug der Machtansprüche der Nationalsozialisten durchaus Widerstand entgegensetzen konnte. Doch auch für die Nazi-Diktatur gilt, wie Ladurie für den Absolutismus feststellte, dass „das Amt (...) die Macht durch die Macht in Schranken (weist)“, denn „der König kann den Beamten nur äußerst schwer absetzen, wodurch die Monarchie (...) eindeutig eingeschränkt wird“.5 Größere politisch-administrative Handlungsfreiheiten ließen sich unter diesen Voraussetzungen letztlich nur durch eine institutionelle Loslösung vom bürokratischen Unterbau des herkömmlichen Regierungssystems, sozusagen durch eine institutionelle Entkopplung der Machtspitze, gewinnen. In der nationalsozialistischen Autokratie konnte in dem sozialen Raum im unmittelbaren Umfeld des Souveräns selbstverständlich keine auch nur der höfischen ähnliche Regierungsstruktur entstehen, die etwa vermittelt über ein traditionelles Regelsystem, wie die Etikette, den Arbeitsstil der Organe geprägt und die Machtverteilung unter den Positionsinhabern ausbalanciert hätte. Durch den nahezu alle Konventionen der alten Regierungselite suspendierenden, ungehemmten politischen Aktivismus, mit dem Hitler und seine 3
Dazu Sebastian Haffner: Anmerkungen zu Hitler, München 1978. Vgl. Martin Broszat: Der Staat Hitlers. Grundlegung und Entwicklung seiner inneren Verfassung, München 1983, 10. Aufl., S. 697 ff. u. S. 912 ff.; Hans Mommsen: Hitlers Stellung im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, in: Lothar Kettenacker und Gerhard Hirschfeld (Hrsg.): Der Führerstaat: Mythos und Realität, London/Stuttgart 1981, S. 67 ff.; Joachim Fest: Hitler. Eine Biographie, Berlin 1973. 5 Le Roy Ladurie 1987 (wie Anm. 1), S. 777. 4
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Gefolgsleute nach der Übernahme der Staatsmacht Arbeitsgewohnheiten, Amtsordnungen und auch Umgangsgepflogenheiten ignorierten,6 entstand schon bald nach der Machtübernahme Hitlers ein singuläres Machtgebilde von zunächst eigentümlich unbestimmter sozialer Struktur im Zentrum des Regierungs- und Verwaltungssystems: „Zwischen der Spitze der politischen Macht und den arbeitenden bisherigen höchsten Stellen entstand ein leerer Raum, der durch neue, überministerielle Gebilde ausgefüllt werden musste, und zwar durch solche, die dem stark personalisierten Charakter dieser, dem Charisma eigene Art von Machtfülle und Machtausübung gemäß waren. Das konnte praktisch keine Behörde im Sinne einer rational und sachlich durchdachten Amtsordnung, sondern nur persönliche Stäbe sein, gleichgültig unter welcher Benennung sie geführt wurden. Als übliche und in gewissem Sinne typische Kennzeichnung bildete sich die Bezeichnung „Kanzlei“ heraus.“7 Die Vereinigung der Position des Reichskanzlers, des Reichspräsidenten (nach dem Tod Hindenburgs) und des Führers der NSDAP in der Person Adolf Hitlers konzentrierte fraglos eine beispiellose Machtfülle in der Hand des Regierungschefs. Mit diesem Prozess der personalen Machtkonzentration einher ging ein gezielter Ausbau der Spitzenorganisation des NSStaates. Der Monopolisierung aller Herrscherprärogative durch Hitler selbst stand die Aufteilung der täglichen Regierungsarbeit und Routinetätigkeiten in mehrere, zum Teil mit der Vereinigung der obersten Staatsfunktionen übernommene, zum Teil umgebildete oder neugeschaffene Kanzleien, Büros, Sekretariate und Adjutanturen gegenüber. Durch den organisatorischen Ausbau des neoabsolutistischen Zentrums entstand eine gänzlich neue institutionelle Herrschaftsfiguration. Im Umfeld des institutionell völlig verselbständigten „Führers“ kristallisierten sich im Einzelnen vier Kanzleien: die „Reichskanzlei“, die „Präsidialkanzlei“, die „Dienststelle des Stellvertreters des Führers“ (die spätere „Parteikanzlei“) sowie die „Kanzlei des Führers der NSDAP“. Während die ersten beiden Kanzleien noch der traditionellen Regierungsstruktur des Kaiserreichs entstammten, entstand mit der „Kanzlei des Führers“ unter der Leitung Philipp Bouhlers, insbesondere aber mit dem Stab des „Stellvertreters des Führers“ bzw. der „Parteikanzlei“, eine gänzlich neuartige Instituti6
Vgl. Fest 1973 (wie Anm. 4), S. 533 ff. Carl Schmitt: Der Zugang zum Machthaber, ein zentrales verfassungsrechtliches Problem (zuerst 1947), in: ders.: Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924-1954. Materialien zu einer Verfassungslehre, Berlin 1973, S. 432.
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onenkonstellation. Diese zeigt auf exemplarische Weise für die Ebene des Regierungszentrums die im vorangegangen Abschnitt erörterte und für das nationalsozialistische Herrschaftssystem insgesamt charakteristische charismatische Machtdurchsetzung mittels extrabürokratisch legitimierter und rekrutierter Herrschaftsstäbe. Eine entscheidende, sich nahezu unvermittelt auf den politischen Entscheidungsprozess des Regimes auswirkende Rolle spielte in der neugeschaffenen charismatisch-absolutistischen Zentralgewalt im Staate Hitlers das Problem des Zugangs zum Diktator, mithin die Chance zur persönlichen Vorsprache, die Möglichkeit mit dem obersten Machthaber gleichsam unter vier Augen zu sprechen. Auf die grundlegende Bedeutung dieses Problems hat bereits Carl Schmitt im Rahmen verfassungsrechtlicher Erörterungen hingewiesen: „Je mehr sich die politische Macht an einer einzigen Stelle und in der Hand einer einzigen Person konzentriert, um so mehr wird der Zugang zu dieser Stelle und dieser Person das wichtigste politische, organisatorische und verfassungsrechtliche Problem. (...) Durch die aufs äußerste getriebene Vereinigung aller Macht in der Hand Hitlers war auch die Frage des Zugangs zu ihm zum wichtigsten innenpolitischen Problem des Dritten Reiches erhoben.“8 Mit der weitgehenden Außerkraftsetzung konventioneller Umgangsformen an der Regierungsspitze und mit der Auflösung institutionell geregelter Kommunikations- wie rationaler Koordinationsstrukturen verschärfte sich das Problem des Zugangs zum Machthaber auf eine für charismatische Herrschaftsformen typische Weise. Zwei Aspekte sind besonders hervorzuheben: zum Einen die charakteristische soziale Beziehungslosigkeit und die damit verbundene fortschreitende Wirklichkeitsenthobenheit des „Führers“, zum Anderen die sich parallel dazu erweiternden Organisations- und Machtchancen im Binnenbereich der führerunmittelbaren Vollzugsstäbe. Insbesondere aufgrund der nurmehr auf „höchstpersönlichen“ Beziehungen und Gunsterweisen gründenden Kontaktstruktur des charismatisierten Regierungszentrums wurden einzelnen Funktionsträgern im unmittelbaren sozialen Umkreis des „Führers“ einzigartige Positionschancen eröffnet. Diese Möglich8
Schmitt 1973 (wie Anm. 7), S. 430; vgl. außerdem: Joseph Nyomarkay: Charisma and Factionalism in the Nazi Party, Minneapolis 1967, S. 31; Arthur Schweitzer: Parteidiktatur und überministerielle Führergewalt, in: Jahrbuch für Sozialwissenschaft, Bd. 21, 1970, S. 58; Peter Longerich: Hitlers Stellvertreter. Führung der Partei und Kontrolle des Staatsapparates durch den Stab Heß und die Parteikanzlei Bormann, München 1992.
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keiten entsprangen nicht primär individuellen politischen oder administrativen Ressourcen oder formalen Qualifikationen, sondern basierten zu einem beträchtlichen Teil auf spezifischen innerinstitutionellen Okkasionen. Unter der Voraussetzung, dass „wer den unmittelbaren Zugang zum König hat, (...) teil(nimmt) an seiner Macht“,9 erwies sich insbesondere die Chance, einen mehr oder weniger direkten persönlichen Zugang zu Hitler zu finden und damit häufiger und stetiger als andere Gelegenheit zu einem informellen Vortrag oder zu einem vertraulichen Gespräch mit dem obersten Machthaber zu erhalten, von entscheidender Bedeutung für die Verteilung von Macht- und Einflusschancen unter Hitlers Gefolgsleuten. Nachdem im vorangegangenen Abschnitt die Verwaltungsbürokratie des deutschen Staates und die nationalsozialistischen Stabsorganisationen in ihrer gegenseitigen Frontstellung im Vordergrund standen, werden nun die Strukturbesonderheiten des neoabsolutistischen Entscheidungsprozesses näher betrachtet. Dabei muss die oberste und letzte Quelle charismatischer Autorität, der „Führer“, in den Mittelpunkt der Analyse gerückt werden. Im Vordergrund stehen die genannten Kanzleien des „Führers“. Untersucht werden vor allem die organisatorischen Prozesse der charismatischen Machtbildung, ihre institutionelle Umbildung und die personale Steigerung von Herrschaftschancen im sozialen Interdependenzgeflecht des autokratischen Zentrums. Zwei Aspekte dieser autokratischen Figuration sind dabei zu unterscheiden: In einem ersten Schritt werden jene Vorgänge analysiert, die sich aufgrund der besonderen institutionellen Machtbeziehungen entwickelten. Dabei interessieren vornehmlich die Voraussetzungen und Ausprägungen des institutionellen Wechselspiels zwischen den vier Kanzleien und der obersten Machtinstanz, dem „Führer“, im Prozess der fortgesetzten charismatischen Machtergreifung. Im Anschluss daran sollen die okkasionellen Prozesse der personalen Machtbildung im sozialen Interaktionszusammenhang der führerunmittelbaren Positionsinhaber herausgearbeitet werden. Diese positionsdynamische Figuration des Entscheidungszentrums wird vornehmlich mit Bezug auf die Machtbeziehungen unter den dem „Führer“ räumlich und sozial am nächsten stehenden Gefolgsleuten und Dienern erörtert. Beide Aspekte konstituieren aber erst zusammen die strukturelle Transformation der Autoritätsbeziehungen im institutionellen Spitzengebilde der charismatischen Einherrschaft. Der Entscheidungs- und 9
Schmitt 1973 (wie Anm. 7), S. 438.
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Handlungsspielraum selbst der an Machtchancen reichsten Autokratie und des mächtigsten Diktators wird, so unsere zentrale These, von den konkreten Ausprägungen dieser spezifischen institutionellen Figurationen und von den besonderen Risiken ihrer Positionsdynamik bestimmt.
II. Zu den folgenreichsten Prozessen der Entdifferenzierung des deutschen Regierungssystems nach der Ausschaltung des Reichstages und der Etablierung der nationalsozialistischen Einparteiendiktatur zählt der Bedeutungsverlust des Kabinetts als kollegiales Beratungs- und Entscheidungsgremium der Reichsregierung. Darüber hinaus wurde sowohl jede formelle und später sogar jede informelle Verständigung und Absprache der Ressortchefs untereinander weitgehend unterbunden als auch der unmittelbare Kontakt der einzelnen Minister zum Reichskanzler unterbrochen.10 Als unmittelbare Folge davon „verlagerte (sich) einerseits die Gesetzgebungsinitiative und -vorarbeit in viel stärkerem Maße auf die Ministerialbürokratie, die, ungehemmt durch Kabinetts- oder Führerweisungen, in zahlreichen Fragen minderer politischer Bedeutung Gesetze und Durchführungsverordnungen selbst produzieren und, wie der wachsende Umfang des Reichsgesetzblattes im Dritten Reich zeigt, die Gesetzgebungsmaschinerie auf vollen Touren laufen lassen konnte.“11 Analog zur polykratischen Fragmentierung des zentralen Regierungssystems wurde die „Loslösung der Führergewalt vom Reichskabinett, die Hitler von den täglichen Geschäften der Reichsregierung distanzierte“,12 10 Vgl. dazu Broszat 1983 (wie Anm. 4), S. 349 ff. und vor allem Lothar Gruchmann: Die ‚Reichsregierung‘ im Führerstaat. Stellung und Funktion des Kabinetts im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, in: Klassenjustiz und Pluralismus. Festschrift für Ernst Fraenkel zum 75. Geburtstag am 26. Dezember 1973, hrsg. von Günther Doeker und Winfried Steffani, Hamburg 1973, S. 192 ff. Zu den Meisterstücken von Hitlers divide-et-impera-Politik gehört zweifellos, dass es ihm wohl tatsächlich gelang zu verhindern, dass sich mehr als zwei Gauleiter zu einer Besprechung zusammenfanden und dass sich die Minister auch nur zu Bierabenden trafen (vgl. Peter Diehl-Thiele: Partei und Staat im Dritten Reich. Untersuchung zum Verhältnis von NSDAP und allgemeiner innerer Staatsverwaltung. 1933-1945, München 1969, S. 228; Gruchmann 1973, S. 202). 11 Broszat 1983 (wie Anm. 4), S. 359. 12 Gruchmann 1973 (wie Anm. 10), S. 12.
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vom Bedeutungszuwachs einer besonderen bürokratischen Vermittlungsinstanz begleitet: der Reichskanzlei. Praktisch übernahm ihr Leiter, der frühere Staatsekretär und spätere Reichsminister Hans-Heinrich Lammers, in den Jahren des Dritten Reiches die Funktionen eines „official coordinator among the ministries, and between the ministries and the party-chancellory“, was annähernd der Position eines Vize-Kanzlers gleichkam.13 Lammers, vormaliger Landrichter aus Oberschlesien, promovierter Verwaltungsoffizier im kaiserlichen Generalgouvernement in Warschau, seit dem Jahre 1922 Ministerialrat und Referent für Staats- und Verfassungsrecht im Reichsministerium des Innern, war der erste Beamte, den Hitler unmittelbar nach Übernahme des Reichskanzleramtes ernannte. Von dem überzeugten Monarchisten, der im März 1932 von der DNVP zur NSDAP übergewechselt war, erwartete sich Hitler in erster Linie einen politisch loyalen Beamten, der es verstehe, „für die Staatsnotwendigkeiten die juristische Untermauerung zu finden (...), sodaß er sich so gut wie überhaupt nicht darum zu kümmern brauche.“14 Lammers übernahm als Staatssekretär die Leitung jener zentralen Regierungsorganisation, die sein Amtsvorgänger Hermann Pünder einmal als „Schaltwerk von Politik und Verwaltung im Reich“ bezeichnet hatte.15 Es stellt sich die Frage, wie und mit welchen Konsequenzen die Etablierung einer charismatischen Machtgruppe im zentralen Regierungsapparat des Reiches das institutionelle Gefüge der Spitzenverwaltung veränderte. Auf welchen Organisationsprinzipien beruhten die politischen Einflusschancen und die Machtstellung der Reichskanzlei? Welchen Beitrag leistete diese Instanz zur (Vor-)Strukturierung des charismatischen Entscheidungsprozesses? Wie und unter welchen Bedingungen veränderte sich schließlich ihre Position in der institutionellen Konstellation des als Doppelhierarchie organisierten führerunmittelbaren Kanzleisystems? Ein Blick in das innere Getriebe dieser Organisationsstruktur soll diese Fragen beantworten helfen.16 13
Edward Peterson: The Limits of Hitler’s Power, Princeton 1969, S. 28. Henry Picker (Hrsg.): Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier, 3. Aufl., Stuttgart 1976, S. 275. 15 Dieter Rebentisch: Hitlers Reichskanzlei zwischen Politik und Verwaltung, in: ders. und Karl Teppe (Hrsg.): Verwaltung contra Menschenführung. Studien zum politisch-administrativen System, Göttingen 1986, S. 71. 16 Die Behördengeschichte der Reichskanzlei hat von Historikerseite in den 1980er Jahren im Zusammenhang eines stärkeren Interesses an der allgemeinen Verwaltungsgeschichte des Dritten Reiches größere Aufmerksamkeit gefunden. Vgl. dazu vor allem: Dieter Rebentisch: 14
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Die Reichskanzlei wurde im Jahre 1878/79 auf Initiative Bismarcks als „Central-Bureau zur unmittelbaren Verfügung des Reichskanzlers behufs seines Geschäftsverkehrs mit den Reichsbehörden und Ministerien errichtet“.17 Mit der Ausweitung der Ressortbereiche und der zunehmenden Selbständigkeit der Staatssekretäre, die im Kaiserreich gemeinsam mit dem Reichskanzler praktisch die Reichsregierung bildeten, schien die Errichtung eines eigenen Vermittlungssekretariats geboten. Die institutionelle Differenzierung des jungen nationalstaatlichen Regierungssystems, besonders die Herausbildung einzelner, im eigenen Aufgabenbereich relativ selbständiger Fachressorts, die späteren Reichsministerien, unterlagen den den kommunikationstechnischen Bedingungen jener Zeit geschuldeten Beschränkungen, besonders in Bezug auf die Möglichkeiten direkter persönlicher und mündlicher Absprachen unter den Ressortvertretern. Dies erschwerte nicht nur den dienstlichen Verkehr der Ämter untereinander, sondern behinderte auch die zentrale Verwaltungskoordination und den politischen Abstimmungsund Entscheidungsprozess des Reichskanzlers. Diese Umstände machten, wie Bismarck in seiner Antragsbegründung ausführte, „einen förmlichen Schriftwechsel notwendig, der bisher dem Kanzler persönlich obliegt.“ Darüber hinaus erforderten die „Geschäfte, welche mehrere Ressorts gleichzeitig berührten, (...) eine einheitliche schrift-
Reichskanzlei und Parteikanzlei im Staat Hitlers. Anmerkungen zu zwei Editionsprojekten und zur Quellenkunde der nationalsozialistischen Epoche, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 25, 1985, S. 611 ff.; ders: Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg, Stuttgart 1989, S. 46 ff.; vgl. außerdem: Hermann von Stutterheim: Die Reichskanzlei, in: Paul MeierBenneckenstein (Hrsg.): Das Dritte Reich im Aufbau. Übersichten und Leistungsberichte, Bd. II/3. Staat und Verwaltung. Der organisatorische Aufbau, Teil IV, Berlin 1942, S. 159 ff.; Otto Meissner: Der Schicksalsweg des Staatssekretärs unter Ebert, Hindenburg, Hitler, Hamburg 1950, S. 387 ff.; Hans Mommsen: Beamtentum im Dritten Reich. Mit ausgewählten Quellen zur nationalsozialistischen Beamtenpolitik, Stuttgart 1966, S. 62 ff.; ders.: Aufgabenbereich und Verantwortlichkeit der Reichskanzlei. Dr. Wilhelm Kritzinger, in: Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte, Bd. 2, Stuttgart 1966a; Diehl-Thiele 1969 (wie Anm. 10), S. 241 ff.; Longerich 1992 (wie Anm. 8). 17 Zitiert nach Stutterheim 1942 (wie Anm. 16), S. 161. Die Reichskanzlei ist nicht mit dem Reichskanzleramt zu verwechseln, das im Jahre 1867 als Bundeskanzleramt des Norddeutschen Bundes errichtet und von 1871 bis 1879 als oberste Instanz für die Verwaltung sämtlicher innerer Angelegenheiten des Reiches fungierte. Vgl. Rudolf Morsey: Die oberste Reichsverwaltung unter Bismarck 1867-1890, Münster 1957, S. 63 ff.
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liche Bearbeitung, wie nicht minder diejenigen, welche unter den verschiedenen Ressorts überhaupt nicht zu klassifizieren sind.“18 Die Gründungsdokumente verdeutlichen, dass es sich bei der Reichskanzlei nicht um eine Reichsbehörde mit eigener politischer Sachzuständigkeit, vergleichbar etwa einem Ministerium, handelte. Diese Institution entstand vielmehr als ein Sekretariat, dem es vornehmlich oblag, die Entschließungen, Anordnungen und Weisungen des Reichskanzlers sachlich auszuarbeiten und auf den formalen Amtswegen an die zuständigen Stellen zu übermitteln. Diese Mediatisierungsfunktion begründete die herausgehobene interministerielle Stellung der Reichskanzlei; sie konstituierte sich somit im Wesentlichen als ein zentrales Vermittlungsbüro, als eine administrative Koordinationsstelle für die Regierungstätigkeit des Reichskanzlers. Die Stellung der Reichskanzlei änderte sich nach Hitlers Übernahme des Reichskanzleramtes im Januar 1933 nicht grundlegend. Auch im „Führerstaat“ blieb sie im Wesentlichen ein bürokratisches Vermittlungssekretariat, deren wichtigste Aufgabe darin bestand, „den Verkehr zwischen dem Führer und den Ministerien zu bewerkstelligen“ sowie als „Informationsund Befehlsorgan des Regierungschefs“ zu wirken.19 Abgesehen von der Neubesetzung der meisten Positionen des höheren Dienstes nach Lammers’ Amtsantritt,20 zählt lediglich die Umstrukturierung der zuvor in die Reichskanzlei integrierten Präsidialkanzlei zu den einschneidenden Eingriffen der nationalsozialistischen Führung. Das frühere Büro des Reichspräsidenten wurde nach Hitlers Übernahme des Reichspräsidentenamtes, unter Umbenennung in „Präsidialkanzlei des Führers und Reichskanzlers“, vor allem auf die Wahrnehmung von „repräsentativen und formellen Angelegenheiten des Reichsoberhaupts, wie der Beamtenernennung, Gnadensachen und die Ordens- und Titelverleihung, beschränkt.“21 Die folgenreichsten Veränderungen der Reichskanzlei in den zwölf Jahren von Hitlers Herrschaft betrafen hingegen in erster Linie ihren allmählichen Funktionswandel im Spannungsfeld zwischen dem charismatischen Führungsanspruch Adolf Hitlers auf der einen Seite und den formalrechtlich-bürokratischen Rationalitätsanforderungen der Reichsgesetzgebung und der Reichsverwaltung auf der anderen Seite. Dabei ist von besonderer Bedeutung, dass die bürokratische Grund18
Zitiert nach Stutterheim 1942 (wie Anm. 16), S. 161. Ebd., S. 179. 20 Vgl. Rebentisch 1986 (wie Anm. 15), S. 77 ff. 21 Meissner 1950 (wie Anm. 16), S. 338. 19
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struktur des Behördenaufbaus der Reichskanzlei bis in die späten Kriegsjahre weitgehend unangetastet blieb. Es veränderte sich aber die institutionelle Position der Reichskanzlei im Führerstaat dadurch, dass ihre „überministerielle“ Stellung eine Stärkung erfuhr, wobei sie zunehmend neuartige Einflussmöglichkeiten erschließen und „eine Verwaltungsmacht eigener Prägung“22 begründen konnte. Dass diese führerunmittelbare Vermittlungsinstanz in den Vorkriegsjahren ihre traditionelle Schlüsselstellung im Dritten Reich erhalten und der im Jahre 1937 zum Reichsminister ernannte Lammers in eine der einflussreichsten Positionen im Herrschaftszentrum der Diktatur Hitlers gelangen konnte, verdankt sich in erster Linie einer binnenstrukturellen Dynamik der Umformung spezifisch bürokratischer Machtchancen. Die Erweiterung des politischen Einflusses und die Verselbständigung der Reichskanzlei in der Frühphase des Dritten Reiches gründeten folglich nicht, wie im Hitlerstaat sonst üblich, auf charismatischen Legitimations- und Handlungsvoraussetzungen. Im Gegensatz dazu basierten die neuen Machtchancen im Kern auf drei amtspezifischen Strukturen: a) auf den bürokratischen Handlungsroutinen der Behörde; b) auf der Einführung des sogenannten „Umlaufverfahrens“ anstelle der kollektiven Beschlussfassung über Gesetzesvorlagen im Ministerrat; und schließlich c) auf der Regelung der Vortragsmöglichkeiten beim Regierungschef durch den Chef der Reichskanzlei. Diese bürokratiespezifischen Machtpotentiale bezeichnen wir in Anlehnung an Max Weber als „Amtsmechanismen“.23 Diese Mechanismen sind freilich nicht zu verwechseln mit den auch in der Reichskanzlei während der Zeit des Dritten Reiches beobachtbaren bürokratieeigenen Obstruktionsstrategien, wie etwa Verschleppungstaktiken, dilatorische Sachbearbeitungen oder die Nutzung von Ermessenspielräumen.24 Auch sind die organisationsspezifischen Handlungsroutinen, auf die 22
Rebentisch 1986 (wie Anm. 15), S. 69. Weber verwendet diesen Terminus im Zusammenhang der Illustration allgemeiner Mechanismen der Verwaltungsmacht: „Auch der absolute Monarch und in gewissem Sinne gerade er am meisten ist der überlegenen bürokratischen Fachkenntnis gegenüber machtlos. Alle zornigen Verfügungen Friedrich des Großen über die ‚Abschaffung der Leibeigenschaft‘ entgleisten, sozusagen, auf dem Wege zur Realisierung, weil der Amtsmechanismus sie einfach als dilettantische Gelegenheitseinfälle ignorierte.“ (Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß, Teilband 4: Herrschaft (Max Weber Gesamtausgabe Abt. I Bd. 22-4), Tübingen 2005, S. 217). 24 Vgl. dazu ausführlicher Rebentisch 1986 (wie Anm. 15), S. 83 ff. 23
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es hier besonders ankommt, zu unterscheiden von den allgemeinen Funktionsprinzipien bürokratischer Organisation, zu denen Max Weber bekanntlich die kontinuierliche Behördentätigkeit mit festen Kompetenzen, die Amtshierarchie als Basis der monokratischen Organisation, die Aktenmäßigkeit der Verwaltung, die Trennung von Büro und Privathaushalt des öffentlich Bediensteten, die fachgeschulte Amtstätigkeit und schließlich die hauptamtliche Erledigung der Amtsgeschäfte durch den Beamten zählte.25 Der formale Zuständigkeitsbereich der Reichskanzlei nach Maßgabe der Geschäftsordnung der Reichsministerien veranschaulicht die wichtigsten Handlungsroutinen und beleuchtet die damit verknüpften bürokratischen Machtchancen. Die amtspezifischen Handlungsroutinen der Reichskanzlei bildeten sich vornehmlich im Zusammenhang der behördlichen Verarbeitung der Geschäftseingänge, sei es seitens der verschiedenen Ministerialverwaltungen oder seitens anderer Reichsämter, sei es von Seiten der Bevölkerung. Mit in den späteren Jahren des Dritten Reiches durchschnittlich über 200.000 Gesamteingängen jährlich und einer Bearbeitungskapazität von etwa 600 Akten täglich akkumulierte diese Behörde beträchtliche Informationsbestände aus nahezu allen Bereichen der Reichsverwaltung.26 Die besondere interministerielle Stellung gestattete der Reichskanzlei Einblicke in die Behördenvorgänge nahezu der gesamten Reichsverwaltung, wie sie wohl selbst kein Reichsministerium besaß. Das damit angesammelte „Dienstwissen“ bildete eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Erledigung ihrer behördlichen Hauptaufgaben, nämlich die Unterrichtung des Reichskanzlers über die Routinetätigkeit der Reichsregierung und vor allem über die laufende Gesetzgebung. „Je seltener Kabinettssitzungen stattfanden, umso mehr war Hitler als Regierungschef darauf angewiesen, daß er über die Erledigung der Aufgaben in den verschiedenen Ressorts durch den Chef der Reichskanzlei unterrichtet wurde.“27 Ihre Funktion als wichtigstes Informationsorgan des Regierungschefs kam auch bei der formalrechtlichen Vorbereitung der Regierungsvorlagen und der Protokollführung in den Kabinettssitzungen zum Tragen. Zur Erfüllung dieser Funktion fiel die Aufgabe, „dem Führer die Unterlagen für 25
Vgl. Weber 2005 (wie Anm. 23), S. 157. Die Angaben stammen aus von Stutterheims Bericht aus dem Jahre 1942. Als Vergleichszahlen für die Jahre 1932 und 1933 gibt er 51.500 bzw. 375.000 Amtseingänge an (Stutterheim 1942 [wie Anm. 16], S. 191 f.). 27 Rebentisch 1986 (wie Anm. 15), S. 73. 26
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seine Entschlüsse und Anordnungen in konzentriertester Form und geeigneter zeitlicher Ordnung zu unterbreiten (...), in erster Linie dem Chef der Reichskanzlei zu“.28 Die damit gegebenen Möglichkeiten der Selektion der Vorgänge, ihrer Kontextuierung und Gewichtung, wie auch die Handhabe der Präsentation der Sachverhalte beim Vortrag bei Hitler eröffneten dem Chef der Reichskanzlei, insbesondere in Angelegenheiten der Reichsverwaltung und der Reichsgesetzgebung, ganz außerordentliche persönliche Einfluss- und Machtbildungschancen. Zu dieser Konzentration der verwaltungsbezogenen Informationsverarbeitung in Hitlers Machtzentrum kam als weiterer Komplex der bürokratischen Handlungsroutinen der Reichskanzlei die formelle Vorbereitung der Gesetzesentwürfe hinzu, soweit sich Hitler nicht verwaltungsunabhängiger und verselbständigter Gesetzgebungs- und Befehlsmodi bediente.29 Als oberste führerunmittelbare Koordinationszentrale der Gesetzgebung gewann die Reichskanzlei somit eine Schlüsselstellung als bürokratische Vermittlungsinstanz zwischen dem „Führer“ und der gesamten staatlichen Verwaltungsmaschinerie des Reiches. Eine solche Funktion hatte sie zuvor niemals besessen: Erst die Verringerung der Zahl der Kabinettssitzungen hatte eine entsprechende Zunahme der Aufgaben und Steigerung der Verantwortlichkeit des Chefs der Reichskanzlei zur Folge. Eine besondere Konfliktlösungskompetenz wuchs der Reichskanzlei in diesem Zusammenhang noch dadurch zu, dass Hitler über Gesetzesvorlagen immer erst dann zu entscheiden pflegte, nachdem alle Ressortkontroversen bereinigt worden waren. Es gehörte zu den exklusiven Aufgaben des Chefs der Reichskanzlei, darauf zu achten, dass über die Beratungsgegenstände ein Konsens unter den beteiligten Reichsministern bestand. Als faktische Geschäftsführung der Reichsregierung und Zentralinformationsstelle des „Führers“ gelangte die Reichskanzlei somit in eine einzigartige Machtstellung, „die vor allem bei der Vermittlung von Streitfällen wirksam wurde, wenn lediglich durch die Art der Behandlung die Weichen in die eine oder in die andere Richtung gestellt wurden.“30 Diese mit der privilegierten Informationsverarbeitung und der faktischen Geschäftsführung der Reichsregierung verbundenen behördenmäßi28
Stutterheim 1942 (wie Anm. 16), S. 183. Letzteres betraf vornehmlich den Parteiorganisationsbereich, die Außenpolitik, die Kriegsführung sowie die Rassen- und Judenpolitik. 30 Rebentisch 1986 (wie Anm. 15), S. 83. 29
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gen Handlungsroutinen verdeutlichen somit einige der wichtigsten organisationsspezifischen Machtquellen der Reichskanzlei. Obgleich „ihr Chef (...) aus eigener Machtkompetenz keine Sachentscheidungen treffen und keine Weisungen an die Reichsminister erteilen (konnte)“,31 eröffneten schon die spezifischen Handlungsroutinen unter Hitlers Führung neue institutionelle Einflussmöglichkeiten für den Chef der Reichskanzlei. Diese können als bürokratische Machtbildungschancen im engeren Sinne bezeichnet werden, denn sie entsprangen in erster Linie der bürokratieeigenen Informationsverarbeitung sowie der spezifischen Aufmerksamkeitsverteilung des Amtes. Freilich bedürfte es eingehender Quellenstudien, um die konkreten Selektionsmuster dieser bürokratischen Problemdeutung näher zu ermitteln, was hier nicht geleistet werden kann. Neuere quellengeleitete Forschungen zur politischen Rolle der Reichskanzlei im Dritten Reich erbrachten aber zahlreiche Beispiele dafür, dass sich unter den amtspezifischen Voraussetzungen der „selektiven Perzeption“32 die Aktivitäten der Behörde teils restriktiv, teils dilatorisch auf die Durchsetzungschancen des „Führerwillens“ auswirkten. Die neuere verwaltungssoziologische Forschung thematisiert solcherart strukturelle Aspekte der bürokratischen Eigenmacht als Mechanismen der bürokratiebestimmten Verschiebung von Politikzielen: „Für den Inhalt des tatsächlichen Organisationshandelns, des Outputs des Systems, ist es von entscheidender Bedeutung, wer bzw. welche Ebene in einer Organisation die operativen Ziele formuliert... Bei einem (...) von oben nach unten laufenden Konkretisierungsprozess sind auf den einzelnen Organisationsebenen vielfache Ansatzpunkte für eine inhaltliche Beeinflussung der operativen Zielformulierung gegeben, u. a. durch die eigenen Zielinterpretationen der Mitglieder (...) (der jeweiligen Verwaltungsabteilungen, M. B.) und durch die auf verschiedenen Ebenen einsetzenden Einflußversuche externer Gruppen und Instanzen ... Im Bereich der Ministerialverwaltung ist damit das Primat der Politik, der faktische Einfluß der (...) politischen Leitung
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Gruchmann 1973 (wie Anm. 10), S. 186. Vgl. dazu Fritz W. Scharpf: Planung als politischer Prozess. Aufsätze zur Theorie der planenden Demokratie, Frankfurt a. M. 1973, S. 26: „Wir wissen theoretisch und aus zahlreichen empirischen Einzelbeobachtungen, daß die Problemwahrnehmung und Problemverarbeitung durch die am Entscheidungsprozeß Beteiligten notwendigerweise selektiv erfolgen, und daß diese Selektivität sowohl durch individuelle als auch durch organisationsstrukturelle Bedingungen beeinflußt und gesteuert wird.“ 32
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bzw. die faktische Verbindlichkeit der vom Gesetzgeber dekretierten Programmziele gefährdet.“33 Auch ohne hier die konkreten Muster der amtseigenen Realitätswahrnehmung, Informationsverarbeitung und die Organisationsziele der Reichskanzlei im Einzelnen benennen zu können, ist doch anzunehmen, dass das Primat der charismatischen Führung im Dritten Reich in vielen Bereichen der alltäglichen und verwaltungsbezogenen Regierungsroutinen – nicht aber der maßnahmestaatlichen und militärischen Handlungsfelder – durch die selektive Informationsbearbeitung und die prinzipiell regelorientierten Verfahrenspraktiken der Reichskanzlei nachhaltig unterminiert werden konnte. Gleichzeitig bedeutete die institutionelle Verselbständigung des autokratischen Zentralsystems für die Reichskanzlei einen beträchtlichen eigenen Macht- und Einflusszuwachs auf dieser Ebene, den sie insbesondere auf der Basis ihrer exklusiven Koordinations- und Konfliktregelungskompetenzen zur Geltung bringen konnte. Zusätzliche bürokratische Machtchancen eröffneten sich für den Verwaltungsstab der Reichskanzlei durch seine Schlüsselstellung im Prozess der „negativen Koordination“. Bei diesem Prozess „entwickeln die einzelnen Einheiten ihre Handlungsprogramme selbständig, die fertigen Programme werden schließlich von den anderen Einheiten auf störende Auswirkungen auf den eigenen Bereich überprüft; in bilateralen oder multilateralen Auseinandersetzungen und Verhandlungen wird dann der Versuch unternommen, derartige Störungen auf ein Minimum zu reduzieren.“34 Nachdem die Reichsgesetzgebung nicht mehr durch kollektive Entscheidungen der Ressortchefs zustande kommen konnte sowie auch der direkte Kontakt zwischen den einzelnen Ministern und dem Regierungschef faktisch unterbunden war, entbehrte der Gesetzgebungsprozess, soweit die Gesetze nicht vom „Führer“ selbstherrlich kraft charismatischer Eigenlegitimation verkündet wurden, in der Regel jeder formal geordneten und sachbezogenen politisch-administrativen Koordination. Gesetzesinitiativen wurden in den meisten Fällen im Umlaufverfahren inhaltlich konkretisiert und zur Entscheidungsreife gebracht. Gesetzesvorlagen bedurften also der schriftlichen Zustimmung aller beteiligten Ressortchefs, deren Kommunika33
Renate Mayntz: Probleme der inneren Kontrolle in der planenden Verwaltung, in: dies. und Fritz W. Scharpf: Planungsorganisation. Die Diskussion um die Reform von Regierung und Verwaltung des Bundes, München 1973, S. 94 f. 34 Ebd., S. 108.
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tionsmöglichkeiten untereinander aber erheblich eingeschränkt waren, bevor sie zur definitiven Beschlussfassung gelangen konnten. Dabei oblag es wiederum dem Chef der Reichskanzlei, „darauf zu achten, daß über die Beratungsgegenstände vorher ein Benehmen unter den beteiligten Reichsministerien stattgefunden hat und wenn auch keine Einigung, so doch eine völlige Klarstellung unausgleichbarer Meinungsverschiedenheiten und der Gründe für die einander gegenüberstehenden Meinungen erzielt worden ist.“35 In der legislativen Praxis des Führerstaates bedeutete dies, dass der reguläre, institutionell vermittelte Gesetzgebungsvorgang weitgehend vom Problem- und Konfliktlösungsmonopol des Chefs der Reichskanzlei abhängig war. Soweit keine anderslautenden „Führerentscheidungen“ die jeweilige Situation eventuell umdefinierten, blieb es zumeist im Ermessen des Chefs der Reichskanzlei, darüber zu befinden, wann und ob ein Gesetzentwurf inhaltlich „entscheidungsreif“ war und dem „Führer“ zur Unterschrift vorgelegt werden konnte. Diese bürokratiebestimmte Konflikt- und Problemlösungskompetenz des Chefs der Reichskanzlei erweist sich somit als Struktureffekt jener aufwendigen, aber faktisch die bürokratische Organisationsmacht der Reichskanzlei (und nicht nur dieser Reichsbehörde) festigenden „negativen Koordination“. Durch die Schlüsselstellung beim Prozess der negativen Koordination der Routinegesetzgebung verfügte sie faktisch über ein letztinstanzliches Prüfungs- und Vortragsrecht. Damit wirkte sie letztlich als ein formal nicht vorgesehenes „Kontrollorgan der Gesetzgebung“ oder geradezu als „Zentralstelle der Führergesetzgebung“ (D. Rebentisch). Einschränkend muss aber hinzugefügt werden: soweit es sich um die „normenstaatliche“ Gesetzgebung handelte. Die charismatische und „maßnahmestaatliche“ Rechtsschöpfung ebenso wie die Arkanbeschlüsse des „Führers“ blieben freilich auch den bürokratischen Kontrollmöglichkeiten der Reichskanzlei, trotz der Mitzeichnungsrechte ihres Chefs, prinzipiell entzogen. Dieser Umstand veranlasste Lammers auch mehrmals dazu, eine Veröffentlichung und formelle Registrierung von Hitlers Geheimgesetzen, die ja materielles Recht unter anderem in den Bereichen der Volkstumspolitik, der Rassenpolitik, der SS-Organisation sowie zahlreicher interner Verwaltungsangelegenheiten schufen, zu erwirken. Lammers konnte sich nicht durchsetzen und so kam es hin und wieder vor, dass Ausführungs- oder Durchführungsvorschriften formuliert werden mussten, ohne dass die Rechtsgrundla35
Stutterheim 1942 (wie Anm. 16), S. 188.
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ge genannt werden durfte. Lammers behalf sich dann mit der Formel: „Aufgrund besonderer Ermächtigung durch den Führer.“36 Die dritte bürokratische Machtquelle des Chefs der Reichskanzlei entsprang der räumlichen Nähe zum „Führer“ und der damit verbundenen Möglichkeit, sich anstelle der Reichsminister und kraft seines faktischen Vorrechts auf Immediatvortrag beim Regierungschef häufiger als die meisten anderen staatlichen Amtsträger des Regimes Zutritt und in Fragen der Verwaltungspolitik und der Gesetzgebung ein gewisses Gehör zu verschaffen. Während in der Weimarer Zeit nicht nur die Reichsminister, sondern auch die einzelnen Referenten der Reichskanzlei ein unmittelbares Vortragsrecht beim Reichskanzler beanspruchen konnten, brachte es Hitlers Führungspraxis mit sich, dass sich in den Vorkriegsjahren ein exklusives Vortragsprivileg des Chefs der Reichskanzlei durchsetzte. Hitler wünschte im Allgemeinen, besonders aber in Krisenzeiten, nicht mit den Routinevorgängen der Verwaltung behelligt zu werden. Dementsprechend lag es hauptsächlich beim Chef der Reichskanzlei, „darüber zu befinden, ob und in welcher Form dem Führer ein unmittelbares Eingreifen anzuempfehlen ist, inwieweit er auf alle Fälle von Vorgängen im öffentlichen Leben unterrichtet werden muß.“37 Unter den allgemeinen Voraussetzungen der institutionellen Desintegration des Regierungssystems und der Fragmentierung des Gesetzgebungsprozesses konnte dieses Vortragsrecht des Chefs der Reichskanzlei zu einer auch politisch überaus einflussreichen Position ausgebaut werden. In der Tat kann mit einer gewissen Plausibilität angenommen werden, dass Lammers Behörde spätestens bis zur Stalingrad-Krise weitgehend „Kriterien der Verwaltungsrationalität zur Geltung“ bringen konnte.38 Selbst Lammers hatte jedoch keinen völlig ungehinderten Zugang zum „Führer“; einen solchen besaßen nur sehr wenige Gefolgsleute Hitlers.39 Jedenfalls hing aber der Einfluss, den Lammers in Fragen der Gesetzgebung und der Verwaltungspolitik (auf andere Politikbereiche hatte er kaum nennenswerten Einfluss) ausüben konnte, davon ab, wie oft er zu Hitler vorgelassen wurde. Neueren Quellenforschungen zur zeitlichen Verteilung von Zugangschancen in Hitlers Herrschaftszentrum ist zu entnehmen, dass Lammers bis zu seiner Ernennung zum Reichsminister im Jahre 1937 in 36
Rebentisch 1986 (wie Anm. 15), S. 90. Stutterheim 1942 (wie Anm. 16), S. 189. 38 Rebentisch 1986 (wie Anm. 15), S. 93. 39 Darauf wird im nachfolgenden Abschnitt ausführlicher eingegangen. 37
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Abständen von wenigen Tagen Gelegenheit zu Sachvorträgen bei Hitler hatte. In außenpolitischen Krisenzeiten verlängerten sich die Abstände zwischen den Vorträgen; so konnte er beispielsweise während der Sudetenkrise im gesamten September und Oktober des Jahres 1938 nicht ein einziges Mal zu Hitler vordringen.40 Festzuhalten ist allerdings, dass jede Einflussmöglichkeit seitens des Chefs der Reichskanzlei im Wesentlichen auf dem bürokratisch legitimierten Zugangsmonopol gründete. Dieses musste in dem Moment zerfallen, in dem sich mächtige Konkurrenten um den Zugang zu Hitler aus seiner unmittelbaren Gefolgschaft auch in verwaltungsbezogenen Politikbereichen einzumischen begannen und durchzusetzen vermochten. Tatsächlich veränderte sich die soziale Verteilung der Zugangschancen im Machtzentrum Hitlers grundlegend infolge der Umstrukturierung des Herrschaftsgefüges während des Krieges und als direkte Konsequenz von Hitlers zunehmenden Aufenthalten in den Führerhauptquartieren. Wir werden im nächsten Abschnitt näher erörtern, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Auswirkungen gerade auf diesem Terrain in der Spätphase des Dritten Reiches ein unerbittlicher Machtkampf zwischen der Verwaltungsbürokratie der Reichskanzlei und dem charismatisch qualifizierten Verwaltungsstab der Parteikanzlei ausbrach. Es sei nur vorweggenommen, dass sich der institutionelle Machtkonflikt dieser beiden „Instrumente der Führerexekutive“ (Rebentisch) schließlich an der informellen Neuregelung des Zugangs zum Machthaber in den Kriegsjahren zugunsten des machtbewussten „Leiters der Parteikanzlei und Sekretärs des Führers“, Martin Bormann, entschied. Damit wurde einer der zentralen Amtsmechanismen der Reichskanzlei, das bürokratische Zugangsprivileg der Staatskanzlei, gleichsam in eine Relaisschaltung für die Machtappropriationen einer bürokratieexternen und direkt charismatisch qualifizierten Stabsorganisation transformiert. Bevor aber die sich mit dem Ausbau der Parteikanzlei herausbildende neue institutionelle Spitzenfiguration eingehender behandelt wird, soll noch einmal unterstrichen werden, dass die Reichskanzlei nach der nationalsozialistischen Machtergreifung im Wesentlichen als bürokratische Organisation fortbestand. In der Tat spricht Vieles dafür, dass „... die Bedeutung der Reichskanzlei für die Verwaltungsgeschichte der nationalsozialistischen Epoche (...) zunächst darin (bestand), daß sie in dem wuchernden Ämterpluralismus und 40
Vgl. Rebentisch 1986 (wie Anm. 15), S. 95.
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Kompetenzenwirrwarr des Führerstaates ein unerläßliches Mindestmaß an sachlich gebotener wechselseitiger Abstimmung zu bewahren suchte.“41 Darüber hinaus zeigen die Organisationsstrukturen und Verfahrensweisen, dass in der Reichskanzlei selbst unter den Voraussetzungen des autokratischen Regierungssystems eigenständige, spezifisch bürokratische Machtpotentiale ausgebaut werden konnten. Als wichtigste Voraussetzungen zur Durchsetzung dieser genuin bürokratischen Einflusspotentiale sind soziologisch vor allem drei Strukturmerkmale relevant: zum einen das bürokratische Informationsprivileg, die amtseigenen Verfahrensroutinen und der Mechanismus der selektiven Perzeption; zum anderen der prozedurale Vorteil des Umlaufverfahrens und der Mechanismus der „negativen Koordination“ im Gesetzgebungsprozess; schließlich das institutionell geregelte Zugangsprivileg. Diese „Amtsmechanismen“ der Reichskanzlei bildeten die wichtigsten Voraussetzungen ihrer bürokratischen Eigenmacht und institutionellen Selbstbehauptung mindestens bis zur radikalen sozialen wie organisatorischen Umstrukturierung des Führungszentrums nach Hitlers „militärischer Machtergreifung“ (Walter Warlimont) während des Krieges. Die folgende Analyse der mit der Reichskanzlei um Macht- und Durchsetzungschancen konkurrierenden Parteikanzlei soll nun zeigen, welche Dynamik der Machtappropriation und -kumulation sich in dieser spezifischen institutionellen Konfliktkonstellation entfalten konnte.
III. Auf charismatischer Mobilisierung beruhende soziale Bewegungen tendieren nach Max Webers Theorem der „Veralltäglichung des Charisma“ dazu, sich als institutionalisierte Dauergebilde zu etablieren, was eine Art „Kastrierung des Charisma“ und eine „Versachlichung“ der ursprünglich rein führerbezogenen Machtbeziehungen voraussetzt: „Jedes aus den Gleisen des Alltags herausfallende Ereignis lässt charismatische Gewalten, jede außergewöhnliche Fähigkeit charismatischen Glauben aufflammen, der dann im Alltag an
41 Dieter Rebentisch: Innere Verwaltung, in: Kurt G. A. Jeserich, Hans Pohl und GeorgChristoph von Unruh (Hrsg.): Deutsche Verwaltungsgeschichte. Bd. IV, Das Reich als Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 1985, S. 732-773, vgl. S. 735.
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Bedeutung wieder verliert.“42 Im Zusammenhang der Analyse der „charismatischen Herrschaft und ihrer Umbildungen“ hebt Weber verschiedentlich hervor, dass die „institutionelle Wendung“ oder der Prozess der Veralltäglichung des Charisma nicht in regelmäßigen Mustern oder periodisierbaren Stufenfolgen verläuft. Demgegenüber institutionalisieren sich charismatische Autoritätsverhältnisse in variationsreichen Kombinationen mit anderen Herrschaftstypen und prägen, unter den je spezifischen historischen Bedingungen, die unterschiedlichsten strukturellen Mischformen. Weber nennt drei allgemeine Richtungen der Veralltäglichung oder Institutionalisierung charismatischer Bewegungen: die Tendenz zur „Traditionalisierung der Ordnungen“, die Umbildung des „charismatischen Verwaltungsstabes“ und schließlich die Umbildung des „Sinnes des Charisma“ selbst. Hinsichtlich der Transformationen der charismatischen Stäbe erläutert Weber, dass „bei kontinuierlichem Bestand (...) das Herrschaftsverhältnis (...) die Tendenz (hat), sich (...) durch Übergang des charismatischen Verwaltungsstabes (...) in einen legalen oder ständischen Stab; durch Übernahme von internen oder von durch Privileg appropriierten Herrschaftsrechten“ zu verwandeln.43 Eine stringente begriffliche Bestimmung von Misch- und Übergangsstrukturen von charismatischen Verwaltungsstäben im Prozess der Veralltäglichung wird durch ein Problem erschwert, das sich bei der Analyse der Umbildung des Charismas allgemein stellt: „To survive it must change, but in changing it must give up its definitive, essentially charismatic qualities“.44 Die charismazentrierten Gefolgschaftsbeziehungen und Befehlsstrukturen werden bereits in den ersten Schritten der institutionellen Umbildung aufgehoben, und deren außeralltägliche Formen werden zurückgeführt in alltägliche Praktiken der Herrschaftsausübung und Organisation. Daher lassen sich die dabei entstehenden transitorischen Mischformen nur schwer begrifflich trennscharf fixieren. Dennoch sind in historischen Situationen immer wieder Mischstrukturen zwischen den Extremen der charismatischen Verge42 Weber 2005 (wie Anm. 23), S. 670. Für eine detaillierte Analyse der Tendenzen zur „Umbildung“ des Charisma vgl. Wolfgang Schluchter: Religion und Lebensführung. Studien zu Max Webers Religions- und Herrschaftssoziologie, Frankfurt a. M. 1988, S. 535-554; Hubert Treiber: Anmerkungen zu Max Webers Charismakonzept, in: Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte 11, 2005, S. 195-213. 43 Max Weber: Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft, in: Weber 2005 (wie Anm. 23), S. 739. 44 M. A. Thoth: Towards a Theory of Routinization of Charisma, in: Rocky Mountains Social Sciences Journal 9, 1972, S. 93.
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meinschaftung auf der einen und des bürokratischen Aggregatzustandes auf der anderen Seite zu beobachten. Und die Entwicklung des nationalsozialistischen Regimes zeigt deutlich, wie sich unter der Voraussetzung eines bestehenden voll entwickelten staatlichen Verwaltungsapparates das Problem der Veralltäglichung charismatischer Stäbe auf besondere Weise stellte. Es ist bereits mehrfach betont worden, dass im Dritten Reich von einer bruchlosen bürokratischen Integration der Gefolgschaft des „Führers“ und ihrer Herrschaftsorganisationen nicht gesprochen werden kann. Mit der Etablierung der neoabsolutistischen, überstaatlich legitimierten Führersouveränität bildete sich demgegenüber ein spezifisches institutionelles Konglomerat heraus, in dem sich klassische verwaltungsstaatliche Strukturen mit bürokratiefernen, führerimmediaten sowie rechtsenthobenen Stäben verschmolzen finden. Der Sache nach entspricht die aus diesem Transformationsprozess des Regierungszentrums hervorgegangene Organisationsstruktur dem Typus einer angegliederten politischen Verwaltung. Diese Organisationsform weist hinsichtlich ihrer Stabsstruktur gewisse Ähnlichkeiten mit der patrimonialen Herrschaftsform auf. Aufgrund ihrer charismatischen Führungsstruktur darf sie aber nicht mit Webers reinem Typus patrimonialer Herrschaft verwechselt werden, der im Kontext traditionaler Legitimität angesiedelt ist.45 Worauf es hier ankommt, ist, dass sich für ihre sozialen Binnenprozesse, im deutlichen Unterschied zur bürokratischen Rationalität, vornehmlich aufgrund einer durchgängigen Personalisierung der Autoritätsbeziehungen spezifisch okkasionelle Appropriations- und Machtchancen eröffneten. Da in der okkasionellen Struktur ein Hauptmerkmal der charismatischen Spitzenfiguration der nationalsozialistischen Diktatur zu sehen ist, soll dieser Sachverhalt zunächst typologisch näher bestimmt werden.46 Von grundlegender Bedeutung ist zunächst, dass sich charismatisch qualifizierte ebenso wie patrimoniale Herrschaftstäbe aus Funktionären zusammensetzen, denen „neben der eigentlichen Verwaltung persönliche Bedienung und Repräsentation“ obliegt, „und es fehlt, im Gegensatz zur bürokratischen Verwaltung, die berufsmäßige Fachspezialisierung.“47 Der Herr rekrutiert 45
Vgl. Edith Hanke: Einleitung, in: Weber 2005 (wie Anm. 23), S. 1-91. Wir beziehen uns dabei im Wesentlichen auf Max Webers Typus der „angegliederten politischen Verwaltung“ im Kontext der Analyse patriarchaler und patrimonialer Herrschaftsformen: Weber 2005 (wie Anm. 23), S. 246-370. Vgl. Stefan Breuer: Patrimonialismus, in: ders.: Max Webers tragische Soziologie, Tübingen 2006, S. 80-91 47 Weber 2005 (wie Anm. 23), S. 286. 46
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die Stabsangehörigen in erster Linie „aus den ihm persönlich kraft leibherrlicher Gewalt Unterworfenen“.48 Insofern ist „die politische Verwaltung (...) zunächst ‚Gelegenheitsverwaltung‘, mit deren Erledigung der Herr denjenigen Mann – meist einen Hofbeamten oder Tischgenossen – betraut, der ihm im konkreten Fall der persönlich qualifizierte zu sein scheint und vor allem: der persönlich nächststehende ist. Denn ganz persönliches Belieben und persönliche Gunst oder Ungnade des Herrn sind nicht nur der Sache nach – was natürlich überall vorkommt – sondern dem Prinzip nach der letzte Maßstab für alles.“49 Der Stabsangehörige steht somit in einem persönlichen Unterwerfungsund Abhängigkeitsverhältnis zu seinem Herrn. Die Auslese beruht primär auf persönlichem Vertrauen und nicht auf fachlicher Qualifikation. In jedem Fall aber „fehlen die festen bindenden Normen und Reglements der bürokratischen Verwaltung“.50 Im Unterschied zur rationalen Verwaltungsbürokratie findet auch zumeist keine Scheidung zwischen privater und amtlicher Sphäre statt, und verbindliche Kompetenzabgrenzungen fehlen in der Regel vollständig. Der „Gelegenheitsbeamte“ erhält vom Herrn „durch den konkreten sachlichen Zweck umschriebene Vollmachten. (...) Aber sehr häufig in ganz unbestimmter Begrenzung zu anderen Beamten.“51 Das Amt wird kraft „freier Willkür“ des Herrn geschaffen, als dessen „persönliche Angelegenheit“ behandelt und dann als exklusives „persönliches Recht des Beamten, nicht, wie im bürokratischen Staat, (als) Folge sachlicher Interessen: der Fachspezialisierung und daneben des Strebens nach Rechtsgarantien für die Beherrschten“, verwaltet.52 Charismatisch qualifizierte Herrschaftsstäbe mit quasi patrimonialer Binnenstruktur konstituieren sich folglich in der Regel nicht auf Grundlage einer „objektiven Ordnung“, nach Maßgabe formaler Rechtssetzung oder durch auf „unpersönliche Zwecke ausgerichtete Sachlichkeit.“53 Die Machtchancen der Stabsbeamten gründen nicht auf traditionell überlieferten und bürokratisch rationalisierten Handlungsroutinen oder Organisationsprinzipien, sondern primär auf der räumlich-sozialen Nähe zum charismatischen Führer. Im Gegensatz zu den bürokratietypischen 48
Ebd. Ebd., S. 293. 50 Ebd. 51 Ebd., S. 291. 52 Ebd. 53 Ebd., S. 295. 49
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Amtsmechanismen übernimmt, steigert und sichert der charismatisch qualifizierte Stab Herrschaftschancen im Zusammenhang zumeist fallweiser sozialer Interaktionsprozesse im charismatischen Führungszentrum oder durch Privilegierung aufgrund persönlicher Aufträge seitens des Charismaträgers. Dabei ist wichtig, dass sich die appropriierten Entscheidungs- und Machtpositionen nach Maßgabe der „Veralltäglichungsinteressen des Verwaltungsstabes“54 sowie des Rationalisierungsbedarfs der Herrschaftsausübung zu einer auf Bestandswahrung und Kontinuität abzielenden Organisationsstruktur verfestigen können. Die personalisierten Führer-Gefolgschaftsverhältnisse werden im Allgemeinen allmählich durch eine zunehmend formalisierte und routinemäßige Ordnung, die sich gleichsam zwischen den obersten Gewalthaber und die Gefolgsleute schiebt, vermittelt. Solcherart Prozesse der Deinstitutionalisierung und gleichzeitig neuer Ordnungsbildung finden sich nahezu in Reinform beim Kanzleisystem im NS-Regierungszentrum. Insbesondere die Stabsorganisation des Stellvertreters des Führers, die daraus später hervorgegangene Parteikanzlei und die Kanzlei des Führers stellen solche Mischtypen einer auf charismatischen Autoritätsverhältnissen gründenden, quasi patrimonialen Institutionalisierung von personalen Machtverhältnissen dar. Diese Apparate können typologisch weder als rein bürokratische noch als genuin charismatische Organisation angemessen gefasst werden,55 sondern sie müssen im Zusammenhang der eigentümlich ambivalenten Organisation- und Interaktionformen betrachtet werden, die sich um Hitlers Führerherrschaft bildeten. So war die überragende Machtstellung des Stellvertreterstabes bzw. der späteren Parteikanzlei im nationalsozialistischen Herrschaftssystem das Ergebnis eines beispiellosen Prozesses der personalen Kompetenzenappropriation und der Machtdurchsetzung in der sozio-institutionellen Binnenfiguration des autokratischen Zentrums.
54 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 1976, S. 144. 55 Vgl. Armin Nolzen: Charismatic Legitimation and Bureaucratic Rule: The NSDAP in the Third Reich, 1933-1945, in: German History 23, 2005, S. 494-518, mit der allerdings irrigen Prämisse, eine Kopräsenz charismatischer und bürokratischer Strukturen in einer einzigen Organisation sei „not prefigured in Max Weber’s sociology of rule” (S. 514). Webers Herrschaftssoziologie bietet keine Gattungsbegriffe, sondern Idealtypen, die darauf gemünzt sind, den jeweiligen Anteil einer spezifischen Struktur an solchen Mischungen erkennbar zu machen.
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Organisationsgeschichtlich gehen ihre Ursprünge auf den unmittelbar nach der Übernahme der Staatsmacht in Berlin zum Zwecke der „Aufrechterhaltung der Verbindung zwischen der Reichsleitung (der NSDAP, M. B.) in München und den Amtsstellen der Reichsministerien, insbesondere der Reichskanzlei“, eingerichteten „Verbindungsstabs der NSDAP“ zurück.56 Nach der Ernennung von Hitlers früherem Privatsekretär Rudolf Heß zum Stellvertreter des „Führers“, im April des Jahres 1933, ging daraus dann die Dienststelle des Stellvertreters des Führers hervor. Daraus entwickelte sich, nach Heß’ politischer Selbstliquidierung durch seinen Englandflug im Mai 1941, als Konsequenz der organisatorischen Verselbständigung dieses Stabes und der einzigartigen personalen Machtentfaltung seines Stabsleiters, dem späteren alleinigen Sekretär des Führers, Martin Bormann, die Parteikanzlei.57 Wie die Reichskanzlei verfügte auch der Stab des Stellvertreters bzw. die Parteikanzlei über keinen eigenen Verwaltungsunterbau mit Exekutivkompetenzen oder ressortmäßig abgegrenzten Sachzuständigkeiten. Somit zeigte sich „auch hier ein Charakteristikum des nationalsozialistischen Regimes: nicht klar abgegrenzte Kompetenzen“.58 Die Parteikanzlei der NSDAP konstituierte sich ebenfalls zunächst als Koordinationsinstanz und Vermittlungsorgan an den Verbindungsstellen zwischen dem „Führer“, der Parteizentrale und dem Staatsapparat. Der Stellvertreter war von Hitler mit einer unspezifizierten Blankovollmacht ausgestattet worden: „Den Leiter der Politischen Zentralkommission, Pg. Rudolf Heß“, so der Wortlaut von Hitlers Verfügung, „ernenne ich zum Stellvertreter und erteile ihm Vollmacht, in allen Fragen der Parteileitung in meinem Namen zu entscheiden.“59 Angesichts der Tatsache, dass bereits Robert Ley von Hitler als Leiter der „Politischen Organisation“ der NSDAP beauftragt worden war, schuf diese Ermächtigung Heß’ die Voraussetzungen für eine langjährige parteiinterne Führungsrivalität zwischen den beiden Stabsleitern. Im Übri56
Diehl-Thiele 1969 (wie Anm. 10), S. 217. Eine detaillierte Organisationsgeschichte des Stellvertreterstabes bzw. der Parteikanzlei liegt bisher nicht vor. Zum Forschungsstand vgl. Rebentisch 1985 (wie Anm. 16). Wir stützen uns vor allem auf folgende Darstellungen: Joseph Wulf: Martin Bormann – Hitlers Schatten, Gütersloh 1962; Peterson 1969 (wie Anm. 13), S. 22 ff.; Diehl-Thiele 1969 (wie Anm. 10), S. 217 ff.; Broszat 1983 (wie Anm. 4), S. 381 ff.; Jochen von Lang: Der Sekretär. Martin Bormann: Der Mann, der Hitler beherrschte. Unter Mitarbeit von Claus Sibyll, Stuttgart 1977; Rebentisch 1989 (wie Anm. 16), S. 68 ff., 371 ff.; Longerich 1992 (wie Anm. 8). 58 Ian Kershaw: Hitler 1936-1945, Stuttgart 2000, S. 568. 59 Vgl. Diehl-Thiele 1969 (wie Anm. 10), S. 207. 57
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gen eröffnete Hitlers Verfügung einen zwar kaum begrenzten, aber auch zunächst strukturlosen Handlungsrahmen für Heß und seine Stabsmitarbeiter – eine hervorragende Situation für die Nutzung des hohen Legitimationspotentials zur Kompetenzenaneignung und Machterweiterung auf Entrepreneur-Art.60 „Wie (...) Heß seine Vollmachten auslegte, blieb weitgehend ihm selber überlassen. Er konnte sich zuständig fühlen als Schlichtungsinstanz für Streitigkeiten zwischen höheren Parteiführern mit der Aufgabe, Hitler von den unerfreulichen permanenten Konflikten zu entlasten. Diese Heß besonders lieb gewordene, seinen Trieb zur Selbstaufgabe befriedigende Funktion, hat er später des öfteren als die ‚Klagemauer der Bewegung‘ bezeichnet.“61 Die eigentümliche Unstrukturiertheit des neuen Organisationsgebildes wird auch daran deutlich, dass im Unterschied zur Reichskanzlei, die bereits seit den Zeiten des Kaiserreichs Koordinationsaufgaben zwischen den einzelnen Reichsministerien und dem Regierungschef wahrnahm, die Parteikanzlei keinen bürokratisch vorgeprägten Verwaltungsapparat mit organisatorisch verfestigten Handlungsroutinen besaß. Zu Beginn verfügte dieser neue Stab noch nicht einmal über eigene Personal- und Organisationsstrukturen; weder besaß die Dienststelle ein auf bürokratischen Informationsbeständen gründendes „Organisationsgedächtnis“ noch formale Kompetenzen. Während die Allokation der Vollzugskompetenzen wie der Informationsressourcen in der Konstitutionsphase des neuen „Kanzleiregiments“ (Rebentisch) zunächst bei der Reichskanzlei verblieben, konzentrierte sich beim Stellvertreterstab ein außerordentlich hohes Maß an überstaatlicher, der charismatischen Souveränität des „Führers“ direkt entstammender politischer Legitimation. Personalrekrutierung wie Organisationsaufbau wurden 60 Die neuere Verwaltungssoziologie bezeichnet diesen Modus bürokratischer Aktivität als Mechanismus des „bureaucratic free enterprise“. Hierbei bestimmt „der Bürokrat als freier Unternehmer... sowohl die Ziele seiner (...) Politik selbst, wie auch die Mittel, resp. Strategien zur Verwirklichung dieser Ziele. ‚Unfrei‘ ist er insofern, als er auf die Zustimmung des formalen Entscheiders, also des Politikers an der Spitze, angewiesen ist, dieser jedoch seinerseits durch schwer rückgängig zu machende Vorentscheidungen (...) in Zugzwang gebracht werden kann. Bürokratische Durchsetzungsstrategien bemühen sich typischerweise um den direkten Zugang zum Machthaber oder versuchen solche Fürsprecher zu mobilisieren, die über den Zugang verfügen“ (Hubert Treiber: Programmentwicklung als politischer Prozess. Zum Verhältnis von Bürokratie und politischer Führung aus der Sicht der empirischen Verwaltungswissenschaft, in: Zeitschrift für Politik 24, 1977, H. 3, S. 232). 61 Rebentisch 1989 (wie Anm. 16), S. 68.
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unter Berufung auf spezielle Führeraufträge und durch Nutzung vor allem von Organisationserfahrungen aus dem Parteizusammenhang realisiert. Angesichts der hohen Fragmentierung der Parteiorganisation, des dezentralen und vielfach zentrifugalen Parteiaufbaus, blieben aber sowohl Macht- als auch Durchsetzungschancen des Stellvertreterstabs zunächst relativ beschränkt. Zwar war „der Stab des Stellvertreters des Führers (…) die hierarchisch höchste Dienststelle in der Parteiorganisation. Sein Leiter war Minister mit allgemeinem Aufsichtsbereich. Trotzdem bildete dieses Amt keine Organisation, mit der die Partei sachlich zu gestalten imstande war. Überall dort, wo auch Macht angetroffen werden konnte, zog sich (...) die Partei zurück. Sie hatte keine reale staatliche Macht. Es ist zu bezweifeln, ob diese höchste Organisation in der Lage war, in einer Krise die Staatsverwaltung zu überwachen, wenn sich schon eine effektive Kontrolle des Staats und seiner Organisationen in einer befriedeten Situation nur auf das Grundsätzliche beschränkte.“62 Dass der Stab des Stellvertreters bzw. die Parteikanzlei trotzdem im Laufe der Jahre zu einer der mächtigsten Stabsorganisationen der HitlerDiktatur ausgebaut werden konnte, gründete im Kern auf zwei spezifischen Strukturvoraussetzungen, die im Kontext der Schaffung charismatisch legitimierter Willkürräume durch die NS-Führungselite außergewöhnlich günstige Bedingungen für die Entfaltung bürokratischer Entrepreneur-Aktivitäten boten. In der Aufbauphase, die im Wesentlichen die Amtszeit Rudolf Heß’ umfasste, profilierte und konsolidierte sich die Stabsorganisation vornehmlich in strategischer Frontstellung gegenüber verwaltungsstaatlichen Instanzen63 und auf Grundlage der diese Stabsorganisation privilegierenden Immediatstellung zum „Führer“. Demgegenüber war die weit überragende Machtstellung der Parteikanzlei in der Spätphase des Regimes, die mit dem präzedenzlosen Aufstieg Martin Bormanns zu einem der mächtigsten Funktionsträger des Dritten Reichs verbunden war, in erster Linie mit der Nutzung von Zugangschancen in Hitlers sozialem Umfeld verbunden. Betrachten wir zuerst die Grundzüge des organisatorischen Konsolidierungsprozesses des Stellvertreterstabes. Seine Institutionalisierung vermittelte sich primär über eine offensive und einzig politisch legitimierte Kompetenzen- sowie Organisationserweiterung und diese erfolgt zu Lasten der Reichskanzlei. 62 Wolfgang Schäfer: NSDAP. Entwicklung und Struktur der Staatspartei des Dritten Reiches, Frankfurt 1956, S. 52; Vgl. dazu Broszat 1983 (wie Anm. 4), S. 65 ff. 63 Vgl. Kershaw 2000 (wie Anm. 58), S. 568.
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Dabei ist überraschend, wie schnell die neue, institutionell gleichsam freischwebende Sonderbehörde mit nur vage bestimmten eigenen Kompetenzstrukturen und, angesichts der Allokation von Vollzugs- wie Beratungskompetenzen bei den älteren Kanzleien, beschränkten Handlungsspielräumen in relativ kurzer Zeit Einfluss und Macht gewinnen konnte. Dies gelang im Wesentlichen dadurch, dass der neue Stab eine dezidiert nichtbürokratische, d. h. herkömmliche Verfahrensmodi auf verwaltungs-, beamten- und gesetzespolitischem Gebiet weitgehend ignorierende Organisationspolitik betrieb. Beispiele dafür sind zum einen die Zuständigkeitserweiterungen und, aus der Sicht der Reichskanzlei, stets: Kompetenzanmaßungen des Stellvertreterstabes im Zusammenhang mit der Ermächtigung Heß’, an der Regierungsgesetzgebung mitzuwirken sowie ein grundsätzliches Mitspracherecht bei den Beamtenernennungen geltend zu machen. Die Dienststelle des Stellvertreters beanspruchte freilich auch noch andere, obwohl niemals formell geregelte Zuständigkeiten, sowohl im Parteibereich wie auf Staatsebene.64 Besonders aber durch die allgemeinpolitisch begründeten Kompetenzansprüche bei der Beamtenernennung und bei der Reichsgesetzgebung, die ebenfalls auf rechts- und verfahrensenthobenen Führeraufträgen beruhten, bemühte sich das neue „Parteiministerium“ um eine Erweiterung des eigenen politisch-institutionellen Willkürraumes. Zugleich mit seiner Ernennung zum Reichsminister erhielt Hitlers Stellvertreter das Recht, die gesamten
64 Genannt seien nur die – allerdings äußerst begrenzten – Koordinations- und Führungsansprüche gegenüber den Gauleitern, der Anspruch auf eine Art parteiinterne Gesetzgebungsbefugnis, die außenpolitischen Ambitionen der „Dienststelle des Beauftragten für außenpolitische Fragen im Stabe des Stellvertreters des Führers“ Joachim von Ribbentrop sowie die politischen Gestaltungs- bzw. Kontrollmöglichkeiten auf den Gebieten der Hochschulpolitik, der „Leibesübungen“ (beauftragt wurde Hans von Tschammer), dem Bauwesen (Albert Speer), der Siedlungspolitik (Wilhelm Ludowici), der Kulturpolitik (Philipp Bouhler), der Wirtschaftspolitik (Albert Pietzsch) sowie im Zusammenhang des von Heß persönlich geleiteten „Volksdeutschen Rates“, der sich mit der Koordination von Initiativen auf dem Gebiet der Politik gegenüber den Volksdeutschen im Ausland beschäftigte. Die Vielfalt der politischen Initiativen, die sich in den Aktivitäten zahlreicher Abteilungen und Beauftragter des Stellvertreterstabes in den Jahren bis 1941 niederschlug, aus denen übrigens später manche eigenständige Sonderbehörde hervorging, lässt die verbreitete Annahme, Heß habe sich politisch weitgehend initiativlos gezeigt und sich lediglich seinen persönlichen und skurrilen Interessen gewidmet, zumindest fragwürdig erscheinen. Vgl. Diehl-Thiele 1969 (wie Anm. 10), S. 201 ff.; Broszat 1983 (wie Anm. 4), S. 389 ff.; Rebentisch 1985 (wie Anm. 41), S. 736 ff.; Kurt Pätzold und Manfred Weißbecker: Rudolf Heß: Der Mann an Hitlers Seite, Leipzig 1999.
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gesetzgeberischen Arbeiten der Regierung nach Maßgabe selbstbestimmter politischer Kriterien zu überprüfen.65 Sämtliche Gesetzgebungsinitiativen mussten ihm, wie den anderen Ressortchefs, rechtzeitig zur Stellungnahme zugeleitet werden. Über die tatsächlichen Durchsetzungsmöglichkeiten dieser politischen Kontrollkompetenz im gesetzgeberischen Entscheidungsprozess lässt sich auf Grundlage der bisherigen Forschung kein klares Bild gewinnen. Es ist nur schwer zu sagen, auf welchen Gesetzgebungsmaterien im Einzelnen und in welcher Weise Heß tatsächlich den Einfluss seiner Dienststelle geltend machen konnte. Soviel kann aber mit Sicherheit gesagt werden: Die Zuständigkeit als solche, also unabhängig von ihren rechtsmateriellen Konsequenzen, rechtfertigte einen nicht unbeträchtlichen Organisationsaufwand im Rahmen der Dienststelle des Stellvertreters. Zielte die Zwischenschaltung des Stellvertreters primär darauf, „zu vermeiden, daß sich alle Dienststellen und Funktionäre der Bewegung direkt an die Reichsbehörden wendeten“,66 erhöhte die damit notwendigerweise verbundene Vervielfältigung der Geschäftsvorgänge im Stellvertreterstab zunächst die Organisationspotentiale der neuen Kanzlei, und zwar unabhängig von den tatsächlich bestehenden rechtspolitischen Interventionsmöglichkeiten. So ist beispielsweise zunächst der organisatorische Aufbau der neuen Stabsorganisation in Berlin praktisch durch Heß’ ausdrückliche Aufforderung an die Parteikader in die Wege geleitet worden, ihn über alle Vorfälle, insbesondere aber über Auswüchse, Eigenwilligkeiten und Korruptionsfälle in der Parteiorganisation, ständig auf dem Laufenden zu halten. Das Resultat war ein Strom von Briefen und Berichten, deren amtliche Bearbeitung es bald schon erforderlich erscheinen ließ, den bisherigen sechs Beauftragten des Stellvertreters weitere zwölf Gauinspektoren beizuordnen, die vor Ort in den Gauen ent65 Während eines gemeinsamen Besuchs der Wagner-Festspiele in Bayreuth im Juli 1934 gelang es Heß, Hitlers Unterschrift für diesen Führererlass zu bekommen: „Ich ordne an, daß der Stellvertreter des Führers, Reichsminister Heß, bei der Bearbeitung von Gesetzesentwürfen in sämtlichen Reichressorts die Stellung eines beteiligten Reichsministers erhält. Sämtliche gesetzgeberischen Arbeiten sind ihm in dem Zeitpunkt zuzuleiten, in dem sie die sonst beteiligten Reichsminister erhalten. Dies gilt auch dann, wenn außer dem federführenden Reichsminister kein anderer beteiligt ist. Reichsminister Heß ist Gelegenheit zu geben, zu Referentenentwürfen Stellung zu nehmen. Auf den Erlaß von Rechtsverordnungen findet diese Anordnung sinngemäß Anwendung. Der Stellvertreter des Führers kann in seiner Eigenschaft als Reichsminister sich durch Referenten seines Stabes vertreten lassen. Diese Referenten sind berechtigt, an seiner Stelle Erklärungen gegenüber den Reichsministern abzugeben.“ (zitiert nach Diehl-Thiele 1969 [wie Anm. 10], S. 231 f.; vgl. Longerich 1992 [wie Anm. 8]) 66 Diehl-Thiele 1969 (wie Anm. 10), S. 220.
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sprechende Tätigkeiten entfalteten.67 Allein schon aufgrund dieser Initiative entstand eine umfangreiche und bald in weitere Unterabteilungen mit spezifischen Sachzuständigkeiten untergliederte Organisation, die sogenannte „parteirechtliche Abteilung“, deren Zuständigkeit sich rasch zu einem generellen Kompetenzanspruch auf dem Personalsektor der Partei erweiterte.68 Zur Ausübung der anderen zentralen Stabsfunktionen, die dem Stellvertreter und seinen Mitarbeitern prinzipiell die Möglichkeit „zu einer umfassenden Kontrolle aller Gesetzespläne der Reichsministerien“ zugestand,69 entstand eine zweite Abteilung. Diese befasste sich primär mit staatsrechtlichen Fragen und untergliederte sich in acht Unterabteilungen, die sachlich nahezu die gesamten verwaltungsrechtlichen und staatspolitischen Ordnungsfunktionen des Reiches bearbeiteten.70 Besonders diese Abteilung bildete sich im zwischenbehördlichen Geschäftsverkehr als politisch verselbständigte Doppelhierarchie neben der Reichskanzlei und den Reichsministerien heraus. Interessanterweise wurde die zweite Abteilung nicht mit Parteimitgliedern, sondern überwiegend mit Berufsbeamten besetzt. Der Leiter dieser Abteilung, Gerhard Klopfer, der aufgrund seiner Position „während des Weltkrieges an der wichtigsten Kontaktstelle zwischen Partei und Staat stand“,71 gab bei seiner Vernehmung nach Ende des Krieges für diesen Sachverhalt folgende Erklärung. Er betonte in seiner Aussage im sogenannten „Wilhelmstraßen-Prozess“,72 dass „...es den an der staatlichen Gesetzgebung beteiligten Amtsleitern der Bewegung an Leuten fehlte, die die Sprache dieses Amtes in die der Ministerien übersetzen konnten (und) die auch die Maschinerie des Staates kannten“.73 In dem zu Beginn der 40er Jahre schätzungsweise 400 Mitarbeiter umfassenden Stellvertreterstab bestand vermutlich die Hälfte des Personals aus Verwaltungsbeamten mit einer juristischen Ausbildung.74 Dieser für die höchste Parteiinstanz ungewöhnlichen perso67
Vgl. Dietrich Orlow: The History of the Nazi-Party, Newton Abbot 1971, S. 78 f. Vgl. Diehl-Thiele 1969 (wie Anm. 10), S. 225. 69 Ebd., S. 232 70 Vgl. den Geschäftsverteilungsplan, ebd., S. 222. 71 Rebentisch 1989 (wie Anm. 16), S. 88, Fn. 196. 72 Vgl. Blasius, Rainer A.: Der Wilhelmstrassen-Prozess gegen das Auswärtige Amt und andere Ministerien, in: Überschär, Gerd R.: Der Nationalsozialismus vor Gericht, Frankfurt a. M. 1999, S. 187-198. 73 Zitiert nach Diehl-Thiele 1969 (wie Anm. 10), S. 221. 74 Für diese Schätzung vgl. Diehl-Thiele 1969 (wie Anm. 10), S. 219. An dieser Stelle finden sich auch einige Zahlen zum Vergleich: Am 1.2.1942 waren in der Reichskanzlei 70, im 68
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nellen Zusammensetzung entsprechend, wurde der Haushalt durch eine Mischfinanzierung gesichert: Einerseits verteilte sich das Budget auf den Haushalt der Reichsministerien, zum anderen verfügte der Stellvertreter über eine eigene Planstelle im Reichshaushalt und über weitere im Sonderhaushalt des „Führers und Reichskanzlers“.75 Das Mitwirkungsrecht des Stellvertreters bei der Gesetzgebung musste zu ständigen Konflikten um formelle Zuständigkeiten und materiale Rechtspositionen vornehmlich mit der Reichskanzlei führen. Zweifellos bedeutete in diesem Kompetenzbereich der organisatorische Ausbau des „Parteiministeriums“ die Institutionalisierung eines „Neben-, Mit- und Gegeneinander(s)“ zweier überministerieller Reichsbehörden.76 Dabei ist aber anzunehmen, dass der Einfluss des Stellvertreterstabes auf dem Gebiet der Gesetzgebung und der Gesetzgebungsverfahren, allerdings nur auf diesen, als verhältnismäßig gering zu veranschlagen war. Keine rechtspolitisch systematischen, aber doch einschneidende punktuelle Interventionen waren von diesem Stab stets zu erwarten. Angesichts des staats- und verwaltungsrechtlichen Problemlösungswissens und aufgrund der in administrativen Handlungsroutinen verfestigten Erfahrungen der Reichskanzlei in Fragen der politischen und juristischen Entscheidungsfindung sowie der Verwaltungsverfahren, was oben als Amtsmechanismus beschrieben wurde, ist wohl eher von einer strukturellen Grundschwäche des Parteiministeriums gegenüber der bürokratischen Reichskanzlei auszugehen. Ferner ist anzunehmen, dass sich die bürokratischen Machtstrategien der Reichskanzlei gerade in diesem Bereich in Form von juristisch spitzfindigen „Verumständlichungen“, bürokratischen „Umwegen“, dilatorischen Verzögerungen von Entscheidungen oder anderen Techniken der Obstruktion besonders erfolgreich durchsetzen ließen.77 Die materielle Organisationsentwicklung des Stellvertreterstabes in seiner Aufbauphase kann freilich nicht ohne weiteres als Tendenz der BürokraReichsjustizministerium 437, im Propagandaministerium 549, im Reichsinnenministerium 687 Beamte und Angestellte beschäftigt, (ebd.). Die Reichskanzlei, die nach Amtsantritt der Regierung Hitler personell kaum expandierte, hatte demgegenüber insgesamt etwa 75 Bedienstete (Rebentisch 1989 [wie Anm. 16], S. 76). 75 Vgl. Diehl-Thiele 1969 (wie Anm. 10), S. 221, Fn. 51. 76 Rebentisch 1989 (wie Anm. 16), S. 96. 77 Zahlreiche Obstruktionsstrategien dieser Art rekonstruiert Rebentisch in den zitierten Studien, offensichtlich wohl auch in der Absicht, die vermeintlich normenstaatliche Integrität des preußisch-deutschen Staatsbeamtentums herauszustellen (vgl. z. B. die zusammenfassende Beurteilung in: Rebentisch 1985 [wie Anm. 16], S. 629).
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tisierung bezeichnet werden. Der Umstand, dass auch dieser Stab sich personell erweiterte und organisatorisch ausdifferenzierte, ist keineswegs identisch mit dem soziologischen Phänomen der „Veramtlichung“ (Max Weber) im engeren Sinne. Die zentralen Strukturmerkmale, die den Stellvertreterstab – und in einem noch stärkeren Maße die spätere Parteikanzlei – demgegenüber als charismatisch qualifizierten Stab ausweisen, lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Zunächst ist auffällig, dass der Stab des Stellvertreters durch Beauftragung von Gefolgsleuten aus dem engsten sozialen Umkreis des „Führers“ und durch diesen selbst spontan ins Leben gerufen wurde. Existenzberechtigungen, wie die Legitimität des Stabes blieben dementsprechend im Wesentlichen vom „Vertrauen des ‚Führers‘“ in die von ihm beauftragten Leitungspersonen, zunächst in Heß, später dann in Bormann, abhängig. Das Personal rekrutierte sich nur zum Teil aus der Beamtenschaft, wobei die Anstellung aber in jedem Falle von der Parteizugehörigkeit und der entsprechenden ideologischen Ausrichtung abhängig gemacht wurde. Zum anderen Teil setzte sich diese Organisation aus Parteifunktionären zusammen, was von Anfang an der Durchsetzung des Personalitätsprinzips Vorschub leistete. Bürokratietypische Einstellungs- wie Qualifikationskriterien traten dabei in den Hintergrund. Auch verfügte der Apparat weder über formell geregelte und rationalisierte Verfahrensmodi noch über normativ festgelegte Zuständigkeitsbereiche: Der Geschäftsverteilungsplan, der ohnehin niemals verbindlich galt, unterlag strengster Geheimhaltung, so dass weder die Reichsministerien noch andere Parteidienststellen genauere Einblicke in den Organisationsaufbau, die Weisungs- und Anordnungsbefugnisse sowie die Finanzen dieser Dienststellen erhielten. Die im Übrigen im Staate Hitlers allgemein praktizierte Geheimhaltung für nahezu alle wichtigen Entscheidungs- und Durchführungsprozesse, von vielen „Führererlassen“ ganz abgesehen, unterstreicht noch die nichtbürokratischen Strukturmerkmale dieser Organisation. Deutlicher aber kommt der Charakter dieses quasi patrimonialen Instruments der Führerexekutive in der offensiven, Verfahrens- und regelindifferenten politischen Intervention im staatlichen Verwaltungssystem zum Ausdruck. Besonders das dem Stellvertreter zustehende Mitwirkungsrecht bei der Ernennung und Beförderung der Staatsbeamten gestattete es seinem Stab, beträchtlichen politischen Einfluss vor allem auf die personelle Zusammensetzung der Ministerialbürokratie und selbst auf die Reichskanzlei geltend zu machen. Aufgrund dieser politischen Selbstermächtigung konn272
ten alle höheren Beamten in den Ministerien, vom Regierungsrat und in den übrigen Behörden vom Ministerialrat aufwärts, sowie alle politischen Beamten vom Apparat des Stellvertreters systematisch auf deren politische Zuverlässigkeit überprüft werden. Der Widerstand von Seiten der dadurch betroffenen Behörden, die größtenteils dem preußischen Beamtenideal der politischen Neutralität verpflichtet waren, war offenbar beträchtlich und nicht gänzlich erfolglos.78 Es konnte nicht ausbleiben, dass sich der Kampf um den Kompetenzanspruch auf beamtenpolitischem Gebiet in der Form eines „fortgesetzten Kleinkrieg(s) in zahlreichen Beförderungsfällen“ abspielte.79 Obgleich der Einfluss dieses Stabes auch in dieser Hinsicht in seinen tatsächlichen Ausmaßen nur schwer abzuschätzen ist, muss davon ausgegangen werden, dass das Veto-Recht des Parteiministeriums bei den Ernennungen von Beamten nicht nur zu spannungsreichen Auseinandersetzungen zwischen den konkurrierenden und nach Maßgabe diametral entgegengesetzter Wert- und Ordnungsvorstellungen entscheidenden Instanzen führte. Sondern auch das verwaltungsstaatliche Ordnungsgefüge des Reiches wurde dadurch in einen sich zunehmend verschärfenden Zustand der institutionellen Verunsicherung versetzt. Der Druck, den Martin Bormann, der die Politisierung der Beamtenschaft später zu einem seiner wichtigsten Ziele auserkor, auf die Verwaltungsbehörden ausübte, wurde daher durchaus treffend als Ausdruck einer Strategie der „permanenten Säuberung“ bezeichnet.80 Insbesondere das Mitwirkungsrecht in Fragen der Beamtenernennung eröffnete dem Stab des Stellvertreters des „Führers“ eine vorzügliche Möglichkeit zum Kompetenz- und Machtausbau, die in den späten Regimejahren
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„Am 24. September 1935 wurde durch einen Erlaß Hitlers, der auch im Reichsgesetzblatt erschien, die Beteiligung des Stellvertreters des Führers bei der Ernennung und Beförderung von Beamten auf staatsrechtlich gültige Weise kodifiziert. Vorausgegangen waren diesem Erlass langwierige und heftige Auseinandersetzungen mit den verschiedenen Reichsressorts, besonders dem Innenministerium und dem Finanzministerium, weil der Stab des Stellvertreters des Führers seit Anfang 1935 darum bemüht war, die ungeregelte und häufig punktuelle nationalsozialistische Ämterpatronage zur personalpolitischen Durchdringung des staatlichen Verwaltungsapparates zu intensivieren und reglementieren.“ (Rebentisch 1989 [wie Anm. 16], S. 73; vgl. dazu auch Mommsen 1966 [wie Anm. 16], S. 78 ff., speziell zu den innerbürokratischen Widerständen S. 104 ff.) 79 Mommsen 1966 (wie Anm. 16), S. 82; vgl. Sigrun Mühl-Benninghaus: Das Beamtentum in der NS-Diktatur bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Zu Entstehung, Inhalt und Durchführung der einschlägigen Beamtengesetze, Düsseldorf 1996. 80 Mommsen 1966 (wie Anm. 16), S. 88
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zu einer vor allem personalpolitischen Schlüsselstellung erweitert werden konnte. Das strukturelle Spezifikum dieser institutionellen Möglichkeiten erweiterter Machtappropriationen seitens des Stellvertreterstabes erschöpft sich allerdings nicht in diesen politischen und ideologischen Eingriffs- und Kontrollmöglichkeiten. Von weitaus größerer Bedeutung erwies sich darüber hinaus die Chance zur maßgeblichen Definition der Einstellungs- und Beförderungskriterien von Staatsbeamten. Die entsprechenden Instanzen des Stellvertreters und der Parteikanzlei – und nur diese – bestimmten in letzter Instanz, ob ein höherer Beamter als politisch zuverlässig im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie und nach Maßgabe der persönlichen politischen Präferenzen der Stabsleitung gelten konnte oder nicht. In dieser Frage verblieb der Reichskanzlei, die ohnehin über kein positives Definitionsrecht in personalpolitischen Angelegenheiten verfügte, nur noch eine nachgeordnete Funktion der Verfahrensabwicklung entsprechend den geltenden Laufbahn- und Beförderungsrichtlinien. Es versteht sich, dass es Heß’ und Bormanns Stab zunächst im Wesentlichen auf den Nachweis einer möglichst aktiven Parteimitgliedschaft ankam, eine der deutschen Beamtentradition widersprechende und auch vielen Beamten glaubhaft widerstrebende berufsund sachfremde Voraussetzung. Aber der zunächst geforderte und später unter Bormanns Federführung auch erfolgreich durchgesetzte Zwang zur Parteimitgliedschaft für Stellen vom Rang eines Ministerialrats aufwärts war nur eine Vorstufe. Bald schon erstreckte sich die Definitionsmacht des Stellvertreterstabs auch auf weniger formale Aspekte der Beamtenexistenz. Die opportunistischen Mitläufer sollten von den überzeugten und engagierten Nationalsozialisten unterschieden werden. Diesem Ziele diente ein weiteres Machtinstrument, nämlich die Errichtung eines stabseigenen Personalreferats, „das in Konkurrenz zum Hauptpersonalamt der NSDAP eine riesige Personalkartei aufbaute“.81 Unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung organisatorischer Machtpotentiale ist der materiale Bestand einer solchen Kartei wichtiger als die direkten Interventionsmöglichkeiten der Kanzlei, denn erst unter der Voraussetzung rationaler Organisationsstrukturen ließen sich Machtpositionen ausbauen und die entsprechenden administrativen Durchsetzungschancen vergrößern.
81
Rebentisch 1985 (wie Anm. 16), S. 624.
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Die Appropriationsstrategien der charismatisch qualifizierten Doppelhierarchie des Stellvertreterstabes verdeutlichen, dass sich diese Stabsorganisation auf der einen Seite von derjenigen der Reichskanzlei aufgrund ihrer nichtbürokratischen Organisationsstruktur unterschied. Der Stab des Stellvertreters ist durch seine Nähe zur obersten Legitimationsquelle im Dritten Reich als charismatisch qualifizierter Stab mit quasi patrimonialen Organisationsstrukturen klassifizierbar. In der Praxis fungierte er letztlich als des „Führers“ mächtigstes und ihm unmittelbar unterstehendes Herrschaftsinstrument. Die Betrachtung der wichtigsten institutionellen Voraussetzungen des Stabsaufbaus hat gezeigt, dass seine Position wie seine Durchsetzungschancen im Spitzengefüge von Hitlers Autokratie im Kern auf spezifischen Organisationspotentialen beruhte. Diese sind jedoch von den typischen bürokratischen Amtsmechanismen zu unterscheiden. Die Erweiterung der Durchsetzungschancen dieses vom bürokratischen Staatsapparat entkoppelten, auf ihn aber einwirkenden Machtgebildes erforderte zunächst den Aufbau rationaler Organisationsstrukturen. Unter der Voraussetzung der charismatischen Einherrschaft sind die entsprechenden Anlässe, sieht man von der „Führer“-Ermächtigung ab, also nicht primär politisch in dem Sinne motiviert, dass sie mit der Verwirklichung präziser politischer Programmziele verbunden gewesen wären. Weder die faktische Kompetenzappropriation noch die tatsächlichen administrativen Durchsetzungschancen, sei es von eigenen politisch-programmatischen oder organisatorischen Zielen, erwiesen sich in der Aufbauphase der Parteikanzlei als besonders vielversprechende Machtressourcen. Stattdessen steigerte der Stab des Stellvertreters des Führers zunächst eigenständige Machtpotentiale mittels organisatorischer Maßnahmen. Dazu zählten vor allem: die arbeitsteilige Differenzierung von Unterabteilungen mit spezifischen Sachzuständigkeiten, der gezielte Personalausbau sowie die Befestigung der Stabsstruktur durch Ansätze eines im Wesentlichen über die Parteigliederungen und Gauleiter vermittelten vertikalen Durchgriffsapparates. Der Stab akkumulierte somit hauptsächlich Organisationsmachtpotentiale, deren Entfaltung einerseits infolge von Kompetenzappropriationen im Konflikt mit der Lammerschen Konkurrenzkanzlei seiner Verselbständigung zur überstaatlichen politisch-ideologischen Kontrollinstanz Vorschub leistete. Andererseits begünstigten aber vor allem die damit gegebenen Möglichkeiten zur politischen Intervention eine Destabilisierung der überkommenen Behörden der obersten Staatsverwaltung. Dadurch wurde nicht nur die Spitzenorganisation des Regierungs- und Verwal275
tungssystems zunehmend der deinstitutionalisierenden Dynamik der charismatischen Führerdiktatur unterworfen, sondern es wurden paradoxerweise auch die Einflussmöglichkeiten regulärer und routinierter Verwaltungsinstanzen auf den Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozess des Diktators selbst sukzessive beschnitten. In den letzten Kriegsjahren wurde sogar die Mitwirkung der Reichskanzlei beim Gesetzgebungsprozess und bei der Information des „Führers“ weitgehend unterbunden. Der Umschlag des Konflikts zwischen bürokratischer Verwaltungsorganisation und charismatischem Stab in einen definitiven Einflussverlust des Chefs der Reichskanzlei gründet zwar auf den erörterten organisatorischen Voraussetzungen, ist aber damit allein nicht erklärbar. Die Institutionenanalyse bedarf somit einer Vertiefung, um die Umbildung des Stellvertreterstabes in eine der machtvollsten Exekutivinstanzen des Führerstaates deutlicher herauszuarbeiten. Unter den besonderen organisatorischen Bedingungen wurden nämlich zudem spezifische strukturinhärente Chancen okkasioneller Machtentfaltung eröffnet. Dieser Prozess gründete auf folgenreichen Umstrukturierungen im Inneren des Stellvertreterstabes nach Heß’ gescheiterter England-Mission. Mit anderen Worten: Sie basierten auf spezifischen Voraussetzungen der sozialen Interaktions- und Kommunikationsstruktur in der Kerngruppe des Diktators, denn der Aufstieg des Stabsleiters Martin Bormann in eine der wohl einflussreichsten Positionen des späten HitlerRegimes war im Wesentlichen durch binnenstrukturelle Transformationsprozesse im sozialen Umfeld des „Führers“ bedingt. Nachdem im Voranstehenden die institutionelle Figuration des Kanzleisystems im Dritten Reich analysiert worden ist, soll nun im Sinne Norbert Elias’ die „positionsdynamische Figuration“ im Machtgeflecht der Einherrschaft Berücksichtigung finden. Denn „erst im Zusammenhang mit der Entwicklungs- und Strukturanalyse einer Position als solcher kann man ein klareres Bild davon gewinnen, welche Rolle einzigartige Eigentümlichkeiten der Person ihres Inhabers bei der Entwicklung der Position und bei der Nutzung ihres elastischen Entscheidungsraumes spielen.“82
82
Elias 1975 (wie Anm. 2), S. 43.
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IV. Die vorangegangene Analyse beleuchtet die inner- und interorganisatorischen Machtbeziehungen im obersten Segment des autokratischen Herrschaftsraumes im Dritten Reich. Dabei gerieten einige grundlegende Voraussetzungen der polykratischen Herrschaftsstruktur von Hitlers Diktatur in den Blick: Zum einen die eigentümliche Autonomisierung von charismatisch qualifizierten Stabsorganisationen im Entscheidungszentrum der Diktatur, zum anderen die deinstitutionalisierende Dynamik der Machtappropriationen auf der Ebene der führerunmittelbaren Mediatisierungsinstanzen. Ferner stand der institutionelle Konflikt zwischen den charismatischen Exekutivorganisationen des „Führers“ und den regulären bürokratischen Verwaltungsbehörden im Vordergrund. Mit der institutionellen Ausformung der charismatisierten Staatsführung durch strukturadäquate Herrschaftsstäbe entstand folglich die Konstruktion einer charismatisch legitimierten Autokratie mit Stabsstrukturen, die viele Ähnlichkeiten mit patrimonialen Strukturen aufweisen. Unter diesen institutionellen Voraussetzungen gelang es der nationalsozialistischen Machtelite, die Vollzugsorgane der überkommenen Staatsbürokratie in die charismatische Herrschaftsstruktur gleichsam einzubauen. Es ist offensichtlich, dass das innere Getriebe dieses hinsichtlich seiner Legitimationsquellen wie seiner Organisationsstrukturen äußerst heterogenen Kanzleisystems aus der Sicht des Diktators vornehmlich die Funktion hatte, die eroberte persönliche Machtvollkommenheit abzusichern. Darüber hinaus diente es als wichtigste, unmittelbar verfügbare Schaltzentrale, um die organisatorische Umsetzung und den vertikalen Durchgriff des „Führerwillens“ zu ermöglichen. Es kann insofern keinen Zweifel darüber geben, dass in der Hitler-Diktatur die besprochenen Kanzleien, als des „Führers“ überstaatliche politisch-ideologische Exekutivinstanzen, grundlegende Herrschaftsfunktionen im Dienste des Gewalthabers versahen. Es ist andererseits aber auch hervorzuheben, dass die Organisationen im Umfeld des Diktators zum Teil eigenständige und in der Praxis vom „Führer“ kaum mehr kontrollierbare, partikulare Machtpotentiale entfalteten, was für einzelne Gefolgsleute des obersten Machthabers ein überaus günstiges Terrain für gleichsam unternehmerische Strategien der Kompetenzenaneignung und Machtdurchsetzung schuf. Dabei ist es aus soziologischer Sicht unerheblich, ob die Leiter oder Stabsangehörigen der Kanzleien selbst einen solchen Prozess in die 277
Wege geleitet haben, ob sie dabei möglicherweise im Widerspruch zu Hitlers Anweisungen oder gar bewusst entgegen des „Führers“ Interessen gewirkt haben. Dies mag gelegentlich, besonders bei höheren Beamten der „alten Schule“, der Fall gewesen sein. Dessen ungeachtet ist soziologisch bemerkenswert, wie sich gerade im Vollzug des „Führerwillens“, und zwar besonders als Folge der Ausführung von „Führerentscheidungen“, mithin eigendynamisch,83 autonome Zwischeninstanzen mit außerordentlicher Machtfülle herausbildeten. Über die allgemeine herrschaftssoziologische Bedeutung von Mediatisierungsinstanzen bemerkte Georg Simmel im Zusammenhang seiner Erörterung einer Typologie von Herrschaftsverhältnissen: Bei einer „Kombination“, in der „eine Mehrzahl von übergeordneten Instanzen, statt einander fremd oder feindlich zu sein, untereinander selbst übergeordnet und untergeordnet sind“, ist das Entscheidende, „ob der Untergeordnete noch ein unmittelbares Verhältnis zu den Höherstehenden von den ihm Übergeordneten besitzt, oder ob die dazwischen geschobene Instanz, die zwar ihm übergeordnet, jener höchsten aber untergeordnet ist, ihn von der letzteren abtrennt und so de facto die übergeordneten Elemente ihm gegenüber allein vertritt.“84 Die spezifischen eigendynamischen Verselbständigungstendenzen von im alltäglichen Verwaltungsbereich von Herrschaftsbeziehungen angesiedelten Ausführungsorganen hat aber vor allem Max Weber genauer untersucht. Wie im modernen Staat die Souveränität der politischen Führung faktisch durch die eigenständige Verwaltungsmacht gefährdet ist, wird auch in charismatischen und patrimonialen Herrschaftsverhältnissen das Machtmonopol des obersten Herrn durch die Appropriationstendenzen seiner Beamten eingeschränkt.85 Dabei ist die Gefahr des tendenziellen Zerfalls der Herrengewalt besonders beim Übergang von der binnenstrukturell nur wenig differenzierten „Gelegenheitsverwaltung“ charismatischer Vergemeinschaftungen in eine institutionell stabilere „angegliederte politische Verwaltung“86 des charismatischen Führers oder der charismatisch qualifizierten 83 Vgl. zum Begriff der „Eigendynamik“: Renate Mayntz und Birgitta Nedelmann: Eigendynamische soziale Prozesse. Anmerkungen zu einem analytischen Paradigma, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 39, 1987, H. 4, S. 648-668. 84 Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 1983 (zuerst 1908), S. 138. 85 Vgl. Wolfgang Schluchter: Aspekte bürokratischer Herrschaft, Frankfurt 1985, S. 75 ff. 86 Weber 2005 (wie Anm. 23), S. 285.
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Gefolgschaftselite besonders groß. „Die Angliederung politischer Geschäfte an die Hausverwaltung hat (...) regelmäßig den Anlaß gegeben zur Entstehung spezifischer, eine Sonderstellung einnehmender Zentralämter, und zwar meist eines einzelnen Zentralbeamten. Dieser Beamte kann verschiedenen Charakter haben. Der Patrimonialismus war, seinem Strukturprinzip entsprechend, der spezifische Ort der Entwicklung des „Günstlings“-Wesens: Vertrauensstellungen beim Herrn mit ungeheuerer Macht, aber stets mit der Chance eines plötzlichen, nicht sachlich, sondern rein persönlich motivierten Sturzes in dramatischen Peripetien sind ihm charakteristisch. Bei Entwicklung von spezifischen Formen eines politischen Zentralamtes ist der in seinem Typus dem patrimonialen Prinzip am reinsten entsprechende Fall der, daß ein Hofbeamter, welcher nach seiner Funktion die am meisten rein persönliche Vertrauensstellung beim Herrn einnimmt, formell oder faktisch auch die politische Zentralverwaltung leitet. So etwa der Hüter des Harems oder ein ähnlich intim mit den persönlichen Angelegenheiten des Herrn befasster Angestellter. Oder eine spezifische Vertrauensstellung entwickelt sich dazu. (...) Im Okzident bildet meist der Kanzler, der Chef der Schreibstube, die zentrale Figur der politischen Verwaltung.“87 Mit Blick auf die Stellung der Kanzleien im Dritten Reich im Verhältnis zur Position des obersten Gewalthabers lässt sich unter Berücksichtigung dieser Weberschen Thesen folgende Hypothese formulieren: Analog zur institutionellen Verselbständigung des Regierungszentrums und zur internen Umbildung der Zentralgruppe der Diktatur im Prozess der fortgesetzten charismatischen Machtergreifung setzte sich in den Binnenstrukturen des führerunmittelbaren Zirkels eine Tendenz zur organisatorischen Einkapselung des Charismaträgers durch. Dieser Prozess entkoppelte den „Führer“ vom staatlichen Regierungs- und Verwaltungssystem, was neuen politischen und administrativen Zwischeninstanzen Chancen zur wirkungsvolleren Durchsetzung eigener Herrschaftsstrategien eröffnete. Dieser Prozess weist wiederum strukturelle Ähnlichkeiten auf mit den von Norbert Elias im Zusammenhang der Analyse der höfischen Gesellschaft Ludwig XIV. analysierten Systemeffekten der zur festen Routine gewordenen Einherrschaft.88 Betrachtet man insbesondere die sozialen und organisatorischen Binnen87
Weber 2005 (wie Anm. 23), S. 413 f. Elias selbst hat in einem der „Höfischen Gesellschaft“ hinzugefügten Anhang auf die strukturelle Vergleichsmöglichkeit des Herrschaftssystems des klassischen Absolutismus mit demjenigen des Dritten Reiches hingewiesen. Vgl. Elias 1975 (wie Anm. 2), S. 405-415. 88
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strukturen der Spitzenfiguration der Hitler-Diktatur, dann lassen sich die Vergleichsgesichtspunkte möglicherweise deutlicher herausarbeiten. Diese beleuchten vor allem die Machtposition des Diktators im „Interdependenzgeflecht“ (Elias) des Herrschaftszentrums und der darin aktiven administrativen und politischen Entrepreneure. Elias hebt dabei besonders das mit der „Positionsdynamik“ der sozialen Beziehungen im Zentrum der Einherrschaft verbundene „Risiko“ für den obersten Souverän in den Vordergrund. Dieses Risiko bestand im Wesentlichen darin, dass die Position des Monarchen im klassischen Absolutismus in das sozial äußerst restriktive System der höfischen Etikette wie des königlichen Zeremoniells im wahrsten Sinne verstrickt wurde: „Etikette und Zeremoniell, an die alle seine (des Königs, M. B.) Schritte gebunden sind, und durch die inmitten des Ansturms der ihn umgebenden Menschen die Distanz genau festgelegt ist, welche er gegenüber ihnen und sie gegenüber ihm zu wahren haben, sind (...) Herrschaftsinstrumente“. Zugleich sind sie aber auch „Ausdrucksformen für den Zwang, den die Herrschaft auf den Herrschaftsträger ausübt... Er konnte nicht andere Menschen dem Zeremoniell und dem Repräsentationszwang als Mittel seiner Herrschaft unterwerfen, ohne sich ihnen zugleich auch selbst zu unterwerfen“.89 Die strukturellen Ähnlichkeiten mit dem Herrschaftssystem des Dritten Reiches betreffen in erster Linie die formalen Ausprägungen der sozialen Beziehungen im autokratischen Zentrum. Die prätendierte Machtvollkommenheit des „Sonnenkönigs“ wurde faktisch beschränkt durch ein kompliziert nach Maßgabe einer „eisernen“ Etikette-Disziplin reguliertes und rationalisiertes soziales Beziehungsgeflecht, in dem man mit Weber das Ergebnis einer rituellen Versachlichung des Charisma sehen kann. Unter diesem Gesichtspunkt bestehen ceteris paribus Strukturaffinitäten zwischen der „Verkettung“ des Königs durch die höfische Etiquette und der erwähnten Einkapselung des charismatischen Diktators durch die ihn umgebenden und seine Herrschaftspläne exekutierenden Stabsorganisationen des Dritten Reiches. In beiden Systemen scheinen die tatsächlichen Durchsetzungschancen selbst der machtreichsten Herrschaftsposition durch spezifische soziale Strukturen in der elitären Kerngruppe bestimmt zu sein. Mit Hilfe von Elias’ Paradigma kann das Problem des positionsspezifischen Risikos für unsere Analyse schärfer herausgearbeitet werden. Dazu bedarf es hier 89
Ebd., S. 210, 207.
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keines systematischen Vergleichs von nationalsozialistischer und klassischabsolutistischer Einherrschaft. Es muss aber zuvor eine Reihe fundamentaler Unterschiede notiert werden. Während Elias bekanntlich die höfische Struktur der absolutistischen Herrschaftsfiguration, in deren Mittelpunkt ein traditionaler Souverän stand, untersucht, ist die Spitzenstruktur des nationalsozialistischen Regimes charakterisiert durch ein modernes Netz von staatlichen Machtbeziehungen, in deren Zentrum ein charismatisch legitimierter Diktator steht. Für die nachstehende Analyse ist diese Strukturdifferenz gegenüber dem klassischen Modell des „Königsmechanismus“ aus folgenden Gründen wichtig. Erstens ist festzuhalten, dass der „Führer“ in einem zwar organisatorisch solide unterbauten, aber sozial nur relativ lose durch bürgerliche Umgangskonventionen der Regierungselite strukturierten Beziehungssystem wirkte. Zweitens ist der für die deutsche Diktatur typische Sachverhalt zu berücksichtigen, dass der Diktator kraft seines Charisma die herkömmlichen in den Regierungs- und Verwaltungskreisen konvenierenden Umgangs- wie Kommunikationsformen, eben die eingefahrenen Regeln, Vorschriften und Verhaltensweisen der Machteliten, folgenreich ignorierte. Dadurch wurden das normative Gefüge von Verpflichtungen und Erwartungen im Regierungszentrum grundlegend umstrukturiert, traditionelle Verhaltensweisen in Frage gestellt und althergebrachte Werthaltungen angegriffen, was die soziale Kohäsion der politisch-administrativen Elite insgesamt unterminierte. Dies hatte drittens zur Folge, dass sich das „Risiko der Einherrschaft“ im Vergleich zum monarchischen Modell verschärfte, insofern nicht von einem fein nuancierten, Affekte disziplinierenden sowie raffiniert Prestige- und Statuschancen regulierenden Balancesystem der Etiquette gesprochen werden kann. Im Unterschied dazu erscheint der innere Zirkel des Führerzentrums als ein labiles soziales Gruppengefüge ohne feste und kalkulierbare Verhaltensregeln sowie verlässliche soziale Beziehungen. Unter diesen Voraussetzungen konnte es freilich nicht ausbleiben, dass sich, nachdem die Konventionen abwertende Dynamik von Hitlers Charisma die bürgerlichen Verhaltenskonventionen der Regierungseliten weitgehend außer Kraft gesetzt hatte, vor allem persönliche Rivalitäten und Interessenkonflikte zwischen den subalternen Herrschafts- und Funktionsträgern zunehmend radikalisierten. Unter den Bedingungen dieser sozialen Entstrukturierung konnten sich viertens in der obersten Spitze der autokratischen Kuppel im hohen Maße personalisierte Einfluss- und Machtpotentiale entfalten, die einzelnen 281
Akteuren außerordentliche Durchsetzungschancen eröffneten. Dabei ist bemerkenswert, wie sich in der Binnenfiguration der charismatischen Stäbe Herrschaftspositionen einzelner Subalterner aufgrund spezifischer Machtsteigerungsprozesse verfestigen ließen. Einen ähnlichen Prozess hatte Carl Schmitt im Auge, als er von einer „objektive(n) Eigengesetzlichkeit jeder Macht gegenüber allen Machthabern selbst und (der) unentrinnbare(n) innere(n) Dialektik von Macht und Ohnmacht, in die jeder menschliche Machthaber hineingerät“, sprach. Den Umschlag der absoluten Macht in partielle Ohnmacht bezeichnet Schmitt als eine „dialektische Entwicklung“: „Der Machthaber selbst wird umso mehr isoliert, je mehr sich die direkte Macht in seiner individuellen Person konzentriert. Der Korridor schneidet ihn vom Boden ab und hebt ihn in eine Stratosphäre hinein, in der er nur noch diejenigen erreicht, die ihn indirekt beherrschen, während er alle übrigen Menschen, über die er Macht ausübt, nicht erreicht und auch sie ihn nicht mehr erreichen... Das ist (...) die äußerste Folgerichtigkeit einer Isolierung des Machthabers durch den unvermeidlichen Machtapparat.“90 In Hitlers Fall kann jedoch weder von einem Zerfall der Herrengewalt noch von einer Verurteilung zur Ohnmacht durch die Macht der Apparate gesprochen werden. Im Gegenteil: In den für das nationalsozialistische Regime wichtigsten Politikbereichen, vor allem in der Judenpolitik sowie in der Kriegsführung, verfügte Hitler bis zuletzt über die unumschränkte Führergewalt. Die exzeptionelle Durchsetzungsfähigkeit der NS-Elite in allen relevanten Politikbereichen, insbesondere auch gegenüber der potentiellen „bürokratischen Opposition“, war gerade durch das auf allen Ebenen des Herrschaftssystems wirksame Zusammenspiel von ungebrochener charismatischer Legitimität des Souveräns und seiner Kommissare sowie bürokratieexterner Stabsstrukturen, die die institutionelle Kohäsion des staatlichen Regierungs- und Verwaltungssystems unterminierten, so außerordentlich. Worauf es in diesem Zusammenhang besonders ankommt, ist die Betonung der spezifischen Interdependenzstruktur, die die Position des charismatischen Diktators mit den entsprechenden Stabsorganisationen konstituiert. Das, wogegen bürokratische Hierarchien gewissermaßen strukturell immunisiert erscheinen, nämlich gegen personale und okkasionelle Machtschöpfungen im rechtsenthobenen Raum, mithin gegen offene Willkür, wird in charisma90 Carl Schmitt: Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber, Stuttgart 2008, S. 20, 26.
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tischen Herrschaftszusammenhängen in eine eigene Machtressource verwandelt und dies sowohl zum Zwecke der politisch-ideologischen Kontrolle der staatlichen Verwaltungsbürokratie wie des Einfluss- und Machtgewinns einzelner Positionsinhaber. Eine solche „Positionsdynamik“ soll im Folgenden am Beispiel der Beziehung zwischen Adolf Hitler und dem „Sekretär des Führers“, Martin Bormann, veranschaulicht werden. Hitlers persönlicher Führungsstil und dessen Regierungspraxis entsprachen ohne Zweifel weitgehend dem klassischen Modell charismatisch legitimierter politischer Führung. Dies gilt sowohl für die suggestive Wirkung des „Führers“ auf Massen wie Getreue, die nationalsozialistischen Botschaften und die historisch-providentielle Mission Hitlers als auch für den Führerkult und die plebiszitäre Konsensbildung.91 In besonderer Weise gilt dies jedoch für jene binnenstrukturellen Herrschaftsbeziehungen, die von Max Weber als „soziologische(r) Charakter der Beziehung des (...) Herrn zu dem Apparat und beider zu den Beherrschten“92 bezeichnet wurden.93 Es bedarf hier keiner detaillierten Auseinandersetzung mit der weitgehend bekannten Biographie Adolf Hitlers, um festzustellen, dass der „Führer“ „im Glauben seiner Anhänger“ als der „Träger spezifischer, als übernatürlich (...) gedachter Gaben des Körpers und des Geistes“94 angesehen 91 Um eine Klassifikation der heterogenen Elemente von Hitlers „synergistic charisma“ bemüht sich Arthur Schweitzer: The Age of Charisma, Chicago 1984, bes. S. 65 ff. Zu den soziobiographischen Gesichtspunkten von Hitlers Personalcharisma im engeren Sinne vgl. Luciano Cavalli: Carisma e tirannide nel secolo XX. Il caso Hitler, Bologna 1982. Vgl. außerdem Ian Kershaw: Hitler and the Uniqueness of Nazism, in: Journal of Contemporary History 39, 2004, H. 2, S. 239-254; Jonathan Steinberg: All or Nothing. The Axis and the Holocaust. 1941-1943, London und New York 1990, S. 181 ff. 92 Weber 2005 (wie Anm. 23), S. 146. 93 Es sei hier daran erinnert, dass der Begriff der „charismatischen Autorität“ nicht primär durch die subjektiven, persönlichkeitszentrierten Dimensionen der Offenbarung und Bewährung des Charismaträgers oder „großer Geschichtspersönlichkeiten“ bestimmt wird. Für Weber bezeichnet dieser Begriff zunächst soziologisch spezifisch strukturierte soziale Beziehungen zwischen dem Träger des Charisma, der „charismatischen Aristokratie“ und der Gefolgschaft. In unserer Analyse verstehen wir daher charismatische Autorität im Wesentlichen als ein Herrschaftsverhältnis. Wir beschränken uns auf jene Grundcharakteristika der „ausgeprägten sozialen Strukturform“ (Max Weber) charismatischer Autorität, wobei ihre typische unkonventionelle, traditionsgebundene Verhaltensformen und Verhaltensregeln durchbrechende, in diesem Sinne revolutionäre Dynamik am deutlichsten zum Ausdruck gelangt: Auf die zugeschriebene „Außeralltäglichkeit“ des charismatischen Führers sowie auf den prinzipiell nicht-bürokratischen Charakter seines Apparates. 94 Weber 2005 (wie Anm. 23), S. 460 f.
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wurde und sich wohl auch selbst so wahrnahm. Hitler wurden von Gefolgsleuten dauerhaft außeralltägliche, ja übermenschliche Eigenschaften zugeschrieben und dessen Gehorsamkeitsansprüche gegenüber seiner Gefolgschaft konnten sich kraft einer auf einem historischen Sendungsbewusstsein beruhenden „Offenbarung“ bewähren. Auch das von Weber hervorgehobene ekstatische Moment der ständigen Erprobung der „charismatischen Qualifikation“ fehlte dem Gebaren dieses modernen Demagogen nicht. Folgenreicher vor allem für die tägliche Regierungsarbeit war jedoch der vielzitierte Umstand, dass der irreguläre Regierungsstil des „Führers“ jeden kontinuierlichen und geordneten Arbeitsablauf der staatlichen Spitzenorgane erschwerte. Nicht nur wurden die alltäglichen Amtsgeschäfte dadurch stark beeinträchtigt, dass Hitler auch in den Funktionen, die er als Regierungschef wahrzunehmen hatte, den dienstlichen Wirkungsbereich nicht von seinem privaten Leben schied: „Er führte seine Dienstgeschäfte inmitten seines Privatlebens und lebte sein Privatleben inmitten seiner Amtsgeschäfte und seiner Amtsführung.“95 Darüber hinaus ist bekannt, dass sich der exaltierte Diktator weder zu einer stetigen Bürotätigkeit, noch zu einem regelmäßigen Aktenstudium, noch zu einer rationalen Zeiteinteilung disziplinieren konnte. Tatsächlich soll Hitler einmal gesagt haben: „Eine einzige geniale Idee sei wertvoller als ein ganzes Leben gewissenhafter Büroarbeit.“96 Hinzu kam seine Angewohnheit, oft die Nacht zum Tag zu machen, was bereits in den Friedensjahren eine regelmäßige und damit koordinationsfähige Regierungsarbeit stark behinderte. Otto Dietrich hat einige Folgen von Hitlers notorischer Disziplinlosigkeit auf die staatliche Maschinerie im Kriege beschrieben: „Pünktlich wurden nur diplomatische Empfänge, veranlasst durch den Chef des Protokolls, durchgeführt. Die meisten anderen Besucher (...) mussten stundenlang in den Vorzimmern, Räumen der Adjutanten oder sonstigen Quartieren warten, bis sie vorgelassen oder wieder fortgeschickt wurden. Minister und höchste Amtsträger wurden oft wochen- und monatelang nicht empfangen. (...) Wen Hitler nicht sehen wollte, dem gelang es in Jahren nicht.“ Durch Hitlers Zeiteinteilung und besonders infolge des Umstandes, dass der „Chef (...) im Allgemeinen sein Schlafzimmer nicht vor 12 Uhr mittags, vielfach auch später (verließ) (...), stand die autoritäre Regierungsmaschinerie regelmäßig am Vormittag still. Wer eine Vorstellung hat gerade von der besonderen Bedeutung der späten 95 96
So bereits sein Pressechef Otto Dietrich: Zwölf Jahre mit Hitler, München 1955, S. 150. Zitiert nach ebd.
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Vormittagsstunden für die Arbeit in den Regierungszentralen und in den Hauptquartieren, weiß, welche Stockungen und Versäumnisse damit verbunden sein können.“97 Dietrich erwähnt als Beispiel aus seinem eigenen Tätigkeitsbereich die dadurch unvermeidbaren Verspätungen bei den Veröffentlichungen von Pressemitteilungen, Stellungnahmen, Dementis usw. zu den politischen und militärischen Ereignissen des jeweiligen Vortags. Diese waren „aus der nationalen und internationalen Diskussion praktisch ausgeschaltet (...), wenn sie nicht rechtzeitig zu der Pressekonferenz und zum Redaktionsschluß der Nachmittagszeitungen vorlagen“.98 Noch folgenreichere Konsequenzen zeitigten jedoch in den Kriegsjahren die ständigen Verspätungen bei der Herausgabe des täglichen Berichts des Oberkommandos der Wehrmacht, der „oft mit so viel Verspätung ausgegeben wurde, daß er nicht mehr in den Zwei-Uhr-Nachrichten des Rundfunks kam und so häufig für die Nachmittagsprogramme ausfiel.“99 Zu den anschaulichsten Beispielen von Hitlers „phänomenalem Mangel an Zeiteinteilung“ (Otto Dietrich) aus der Zeit der Feldzüge zählen die in den militärischen Feldquartieren des „Führers und Obersten Befehlshabers der Wehrmacht“ zur Gewohnheit gewordenen militärischen Lagebesprechungen zu nächtlicher Stunde, wobei die nach einem langen Arbeitstag ermüdeten Generalstäbe oft stundenlange Monologe des „Führers“ über sich ergehen lassen mussten. Walter Warlimont, ehemaliger Stellvertretender Chef des Wehrmachtführungsstabes, gibt in einer detaillierten Rekonstruktion der Geschehnisse im Hauptquartier der deutschen Wehrmacht anschauliche Beispiele für Formen und Folgen von Hitlers „militärischer Machtergreifung“ und ausschweifenden Kommentaren.100 „Bis zur physischen Un97
Ebd., S. 151. Ebd. 99 Ebd. Zum Tagesablauf Hitlers in Berlin und später im Führerhauptquartier „Wolfsschanze“ aufschlussreich: Kershaw 2000 (wie Anm. 58), S. 69, 521. 100 Zu den Umgangsformen nach Hitlers Übernahme des Oberbefehls über das Heer im Dezember 1940 notiert Warlimont zum Beispiel: „Verkörperte Halder bei seinem Vortrag nach Wissen und Urteil, nach Sprache und Haltung die besten Traditionen des Generalstabs, so gefiel Hitler sich demgegenüber in der Rolle des Volkstribunen. Halders Begleitung, stets in der Minderzahl, stand nach militärischem Brauch zu näheren Auskünften auf ihren Fachgebieten sozusagen im Hintergrund bereit; Hitler hingegen sah sich von den immer zahlreicheren Mitgliedern seiner Maison militaire umgeben – unter ihnen neuerdings auch ein Vertreter der Waffen-SS –, die (...) die militärische Haltung weitgehend abgelegt hatten: so Keitel, der grundsätzlich nur auf ein Stichwort, oft nicht einmal auf eine Redepause Hitlers wartete, um ihm unterschiedslos mit Wort und Geste beizupflichten; (...) vor allem jedoch einige der 98
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erträglichkeit aber mußte (...) auf Halder (den Chef des Generalstabes des Heeres nach Hitlers Übernahme des Oberbefehls des Heeres im Dezember 1941, M. B.) – und nicht nur auf ihn allein – der Redefluß Hitlers wirken, in dem Altes und Neues, Wichtiges und Unwichtiges, sich ständig wiederholend, in hemmungslos dahinrauschendem Strom die nächstliegenden, konkreten Fragen und Vorschläge hinwegschwemmte. Dazu kamen häufig ebenso langatmige Ferngespräche mit den oberen Heeresbefehlshabern der Front (...). Auch Minister, Staatssekretäre oder andere nicht-militärische Sachverständige, meist aus dem Bereich des Verkehrswesens, wurden auf kurzen Abruf aus Berlin in die Lagebesprechung beordert, um von Hitler, der wohl glaubte, auf solche Weise die absolute Einheit der Führung zu demonstrieren, befragt, belehrt und bedroht zu werden. Stunden und AberStunden gingen täglich darüber hin, die für die Verantwortlichen unter den Teilnehmern einen ebenso großen Verlust an eigener Arbeitszeit, aber mehr noch an Reserven innerer Kraft mit sich brachten.“101 Von größter Bedeutung erwies sich noch ein anderes Charakteristikum von Hitlers Regierungsweise, nämlich die Entscheidungen, im Großen wie im Kleinen, vor allem in den späteren Jahren, nurmehr in den seltensten Fällen nach eingehender Besprechung mit sachlich kompetenten Beratern oder auch nur nach Konsultation vorbereiteter Unterlagen zu treffen. Auf diesen Umstand lässt sich zum Teil auch die faktische und bald auch formelle politische Aufwertung der Reichskanzlei in den dreißiger Jahren zurückführen, der es schließlich angesichts des Hitlerschen Regierungsstils oblag, die Kontinuität der Regierungsgeschäfte vor und während des Krieges zu sichern.102 Zahlreiche Beobachter hatten den Eindruck, der „Führer“ regiere den Staat und führe seinen Krieg aus dem Stegreif, improvisiere auch wichtigste Entscheidungen sozusagen „zwischen Tür und Angel“ und ad hoc. „In dem eigentümlichen Fluidum von politischem Ernst und privater, fast intimer Zwanglosigkeit, von harter, autoritärer Strenge, künstlerischer Lockerung und persönlicher Unverbindlichkeit (...) fällt Hitler oft ganz impulsiv
anderen ‚Beisteher‘, die, ohne Verantwortung, wie sie meist waren, Hitler vielfach nach Versammlungsart mit Anmerkungen und Zwischenrufen bedienten und dafür immer einer beifälligen Aufnahme sicher sein konnten.“ (Walter Warlimont: Im Hauptquartier der deutschen Wehrmacht 1939-1945. Grundlagen. Formen. Gestalten, Frankfurt 1962, S. 233). 101 Ebd., S. 233 f.; vgl. dazu auch Fest 1973 (wie Anm. 4), S. 912 ff. 102 Vgl. Rebentisch 1989 (wie Anm. 16), S. 53.
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seine Entscheidungen.“103 Dietrich illustriert die „‚fliegende‘ und schwer greifbare Form der Regierungsführung“ unter anderem am Beispiel einer spontanen Ermächtigung seines Sekretärs, Bormann, in einer Bierkneipe, die Frankfurter Zeitung einzustellen. „Veranlassung war die Tatsache, daß Frau Professor Troost sich über ein ihr missfallendes Feuilleton in dieser Zeitung beschwerte.“104 Bei dieser Art Regierungsstil konnte es nicht ausbleiben, dass Hitler Anordnungen erließ, Befehle erteilte oder Erlasse unterzeichnete, die, vollständig oder in Teilen, vorangegangenen Willensbekundungen widersprachen, gültigen Gesetzen oder Verwaltungsvorschriften zuwiderliefen oder bereits in Gang gesetzte Ausführungsprozesse wieder rückgängig machten. Jegliche sachbezogene Systematik und rationale Koordination – ganz zu schweigen von der formalrechtlichen Verwaltungsrationalität – vor allem der zivilen Regierungsarbeit wurden unter diesen Voraussetzungen ad absurdum geführt. In ihren tatsächlichen Konsequenzen für Ausgang und Verlauf von Hitlers Krieg kaum abzuschätzen ist schließlich die Substitution der meisten eingefahrenen und bewährten regierungsunmittelbaren Kommunikations- und Weisungspfade durch jeweils mehr oder minder ad hoc improvisierte, dezentrale und verkehrstechnisch erschwerte Prozesse der Nachrichtenübermittlung, Kontaktaufnahme und administrativen Koordination infolge von Hitlers Rückzügen in die verschiedenen Bunker seiner Hauptquartiere. Hierbei entwickelte der Prozess der institutionellen Entstrukturierung und Entdifferenzierung in den Binnenstrukturen des politisch-administrativen Regierungssystems gewissermaßen seine schlimmsten Auswüchse. Für Hitler wurden bekanntlich gleich mehrere Hauptquartiere in den eroberten Gebieten eingerichtet,105 in denen er sich mit seinen militärischen und zivilen Stäben und Adjutanten zur Führung und Beobachtung des Kriegsgeschehens in größerer räumlicher Nähe zur Front aufhalten konnte. Besondere Bedeutung erlangten die Feld-Hauptquartiere in Rastenburg (Ostpreußen), genannt „Wolfsschanze“, und nahe Winnizia in der Ukraine, genannt „Werwolf“, weil sich Hitler hier nach Beginn des Ostfeldzuges viele 103
Dietrich 1955 (wie Anm. 95), S. 151. Ebd., S. 202 f. 105 Insgesamt soll es 16 gegeben haben. Sie hießen u. a. „Adlershorst“, „Margival“, „Tannenberg“ „Werwolf“, „Wolfsschanze“ und „Wolfsschlucht“. Vgl. Frank W. Seidler und Dieter Zeigert: Die Führerhauptquartiere. Anlagen und Planungen im Zweiten Weltkrieg, München 2000. 104
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Monate aufhielt.106 „Ein dichter Gürtel aus Mauern, Stacheldraht und Minen sicherte ein System von verstreut angelegten Bunkern und Gebäuden, das eine eigentümliche Stimmung von Düsternis und Monotonie umgab. Zeitgenössische Beobachter haben es treffend als eine Mischung aus Kloster und Konzentrationslager beschrieben. Die engen, schmucklosen Räume mit den schlichten Holzmöbeln bildeten einen auffallenden Gegensatz zum dekorativen Pomp vergangener Jahre, zu den weiträumigen Hallen, den großen Perspektiven und all dem effektsicher erdachten Aufwand in Berlin, München oder Berchtesgaden.“107 Die Situation der Führerhauptquartiere ist unter dem Gesichtspunkt der Deinstitutionalisierung des Regierungs- und Verwaltungssystem im Dritten Reich deshalb besonders wichtig, weil zum einen die geographische Entfernung der Quartiere vom Regierungszentrum in Berlin die ohnehin bereits durch die Verselbständigung des autokratischen Zentrums erschwerte politisch-administrative Koordination des zivilen Bereichs der komplexen Staatsmaschinerie zusätzlich behindern musste. „Mit Hitlers wachsender Absonderung“, so Ian Kershaw, „schwand jeder Anschein einer koordinierten Verwaltung des Reichs“.108 Man bedenke nur, dass die Akten und die Zeitungen aus Berlin von einem Kurierflugzeug jeweils vormittags eingeflogen werden mussten. Dieses erreichte bei günstiger Witterung das Hauptquartier frühestens um 10 Uhr, „so daß dann auch erst für die Vertreter der nicht-militärischen Aufgabengebiete die Arbeit auf Hochtouren kommen konnte.“109 Mit der deutlich erschwerten Erreichbarkeit des „Führers“ und seiner Stäbe war aber auch ein folgenreiches Schrumpfen des sozialen Netzwerkes der zivilen Regierungs- und Verwaltungselite verbunden. Im Zentrum der Kommunikationsstruktur im Führerhauptquartier standen die Generalstäbe, die in der Regel ständig präsent und mit eigener verkehrstechnischer Infrastruktur ausgestattet waren und sich mindestens zweimal täglich zu militärischen Lagebesprechungen mit Hitler zusammenfanden. Für Besprechungen 106
Vgl. zur geographischen Lage und den Anlagen der Führerhauptquartiere vor allem Peter Hoffmann: Die Sicherheit des Diktators. Hitlers Leibwachen, Schutzmaßnahmen, Residenzen, Hauptquartiere, München und Zürich 1975; Gute Einblicke in das Geschehen in den Führerhauptquartieren vermittelt auch Warlimont 1962 (wie Anm. 100), z. B. S. 187 ff. 107 Fest 1973 (wie Anm. 4), S. 912 f. 108 Kershaw 2000 (wie Anm. 58), S. 568. 109 Picker 1976 (wie Anm. 14), S. 47.
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von auf den zivilen Sektor bezogenen Problemen stand nur relativ wenig Zeit zur Verfügung, meist nur unmittelbar nach dem Mittagessen. Die Regierungselite war im Grunde lediglich durch die Kanzleichefs Lammers und Bormann mehr oder weniger regelmäßig vertreten,110 so dass mit Hitlers zunehmenden Rückzügen in die Feldquartiere in der Regel auch die amtlichen Kommunikations- und Kontaktstrukturen der staatlichen Regierung und zivilen Verwaltung nahezu vollständig zusammenbrachen, womit sich das Problem des Zugangs zum Machthaber111 erheblich verschärfen musste. Selbst die engsten Gefolgsleute Hitlers, wie z. B. Goebbels, Göring, Himmler, kamen nur gelegentlich persönlich in das Führerhauptquartier, hatten aber ihre Verbindungsleute entsprechend platziert. Der Tagesablauf in der „Wolfsschanze“ veranschaulicht die neue Situation im Herrschaftszentrum der Führerdiktatur nach dem Angriff auf die Sowjetunion:112 Gewöhnlich begann der Tag mit Hitlers Entgegennahme der Meldungen über die nächtlichen Luftangriffe; im Anschluss daran, etwa zwischen 9 und 10 Uhr, ging Hitler auf dem Gelände des Führerhauptquartiers spazieren. Um 11.30 begann die militärische Mittagslagebesprechung, die in der Regel 1-2 Stunden dauerte; nach dem Mittagessen erhielt gelegentlich Lammers eine zeitlich äußerst kurz bemessene Möglichkeit zum Vortrag. Um 18 Uhr begann die Abendlagebesprechung im Arbeitszimmer Hitlers, wobei Probleme des Luftkrieges besprochen wurden. Beim anschließenden Abendessen setzte Hitler meist übergangslos seine Monologe fort. Im zweiten Kasinoraum wurde einmal wöchentlich die „Wochenschau“ vorgeführt, da Hitler im Kriege jegliche Ablenkung und Unterhaltung ablehnte.
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„Nach dem Angriff auf die Sowjetunion versuchte Lammers vergeblich in das Führerhauptquartier eingegliedert zu werden; er erreichte nur, daß er seinen Reichskanzleisalon an den Sonderzug ‚Heinrich‘, Himmlers Kommandozentrale, anhängen durfte und auch in Himmlers Feldquartieren eine Barackenunterkunft zugewiesen erhielt.“ (Dieter Rebentisch 1986 [wie Anm. 15], S. 95). Zum Einfluss Bormanns nach Einrichtung der Führerhauptquartiere vgl. Longerich 1992 (wie Anm. 8), S. 259. 111 Reichspropagandaminister Goebbels entwickelte „ein regelmäßiges System der Führerinformation, in dem er seit Anfang 1942 bei einschneidenden Maßnahmen seines Hauses eine knappe schriftliche Darlegung der Absichten ins Führerhauptquartier sandte und diese vorherige Unterrichtung des Führers mit der Bitte um Genehmigung verband. Diese regelmäßigen, bis Kriegsende auf fast 500 Folgen aufgelaufenen Führerinformationen, wurden mit den großen Typen der sogenannten Führerschreibmaschine auf Bögen mit vorgedrucktem Briefkopf geschrieben.“, Rebentisch 1989 (wie Anm. 16), S. 399. 112 Vgl. die Darstellung Picker 1976 (wie Anm. 14), S. 47 ff.
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Abgesehen von psychischen Aspekten der Hitlerschen Lebensführung verdeutlichen die genannten Struktureigentümlichkeiten der Hauptquartiere, dass die in vielen Darstellungen vermutete persönliche Abriegelung, soziale Selbstisolation sowie der vermeintliche Realitätsverlust Hitlers in der Spätphase des Krieges113 aus soziologischer Perspektive eher als Folgeerscheinungen des konsequenten Außerkraftsetzens von Regierungskonventionen und, in der Folge davon, des Herauslösens aus den institutionellen Koordinations- wie Regelstrukturen der Staatsverwaltung zu verstehen sind. Voranstehende Beispiele sollten den irregulären, die herkömmlichen Arbeitsabläufe und Regierungsformen der bürokratischen, militärischen wie auch der diplomatischen Eliten ignorierenden Regierungsstil Hitlers veranschaulichen. Es ist offensichtlich, dass die Entformalisierung der Regierungskonventionen vor allem die an regelgebundene Arbeitsroutinen gewöhnten höheren Staatsbeamten nachhaltig verunsichern musste. Die „Revolutionierung“ der Umgangsformen im Regierungszentrum – infolge von Hitlers bohèmehafter Missachtung der Konventionen verantwortungsbewusster Regierungsführung – gerinnt unter den Bedingungen charismatischer Autoritätsbeziehungen zu Strukturelementen dieser Herrschaftsform: Der als Charismaträger qualifizierte Führer konstituiert soziale Beziehungen, in denen spezifische Interaktionsformen dominieren, die die überkommenen institutionellen Strukturen umformen und zur Herausbildung neuer, 113
Zum zunehmenden Realitätsverlust Hitlers bemerkt Fest: „Hitlers Neigung zur Realitätsverweigerung gewann mit der Wende des Krieges zunehmend neurotische Züge, zahlreiche Verhaltensweisen machen diesen Sachverhalt mit teilweise einprägsamer Anschaulichkeit greifbar: so die Gewohnheit, im verhängten Salonwagen und möglichst bei Nacht, wie auf der Flucht, das Land zu durchqueren oder selbst bei strahlendem Wetter die Fenster des Lageraums im Führerhauptquartier geschlossen oder gar abgedunkelt zu halten. (...) [A]uch der ständig monologischer entartende Gesprächsstil Hitlers, seine Unfähigkeit zuzuhören oder Einwände aufzunehmen, sowie das verstärkt auftretende Bedürfnis nach exzessiv anschwellenden Zahlenkolonnen, seine rage du nombre rechnen in diesen Zusammenhang. (...) Gleichzeitig weigerte er sich, die Front oder die Stabsquartiere hinter der Front zu besuchen. (...) Zahlreiche gravierende Fehlentscheidungen resultierten denn auch aus der Unkenntnis der Wirklichkeit, da die Standortzeichen von Armeen und Divisionen auf der Lagekarte nichts über Klima, Erschöpfungsgrad oder physische Reserven vermerkten und in der merkwürdig verstiegenen Atmosphäre des Lageraums auch nur selten Angaben über Ausrüstungsbestand oder Nachschub zu erlangen waren (...), (...) sodaß schließlich alle Lagebesprechungen als ‚Schaulagen‘ gelten konnten, wie der Jargon des Führerhauptquartiers die trügerisch arrangierten Lagevorträge vor verbündeten Staatsmännern bezeichnete.“ (Fest 1973 [wie Anm. 4], S. 925 f.)
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stark personenabhängiger und eher netzwerkartiger Kommunikationsstrukturen führen. Mit anderen Worten, Hitlers sprichwörtliche Etikette-Feindlichkeit war gewiss ein Charakteristikum seiner Persönlichkeit; im autokratischen Zentrum der Diktatur wird sie aber gleichzeitig zu einem Strukturmerkmal der Machtbeziehungen. Es entsteht somit nicht einfach nur ein „leerer Raum zwischen der Spitze der politischen Macht und den absinkenden Stellen“, wie Carl Schmitt es ausdrückte, der durch „höchstpersönliche“ Stäbe gleichsam ausgefüllt würde.114 Vielmehr schafft die charismatische Autorität kraft der ihr eigenen, sozusagen revolutionären Dynamik eine „ausgeprägte soziale Strukturform mit persönlichen Organen und einem der Mission des Charismaträgers angepassten Apparat von Leistungen und Sachgütern“.115 Dieser Apparat ist nicht nur, wie im vorangegangenen Abschnitt erläutert, nach Maßgabe nichtbürokratischer Organisationsprinzipien strukturiert. Er bricht auch mit den überkommenen Interaktions- und Kommunikationsmustern der Regierungspraxis. Das Charisma Hitlers strukturierte so die Machtbeziehungen im Regierungszentrum völlig neu. Die sich damit herausbildenden Autoritätsverhältnisse und Kommunikationsstrukturen legten spezifische Machtpotentiale frei, die zuvor durch die bürokratischen Organisationsstrukturen in hohem Maße formalisiert und hierarchisiert waren. Insbesondere für einzelne Funktionsträger entstanden durch diese charismatische Entstrukturierung des Regierungszentrums originäre und kaum mehr kontrollierbare Machtschöpfungschancen.116 An bestimmten Punkten des führerzentrierten Kommunikationsprozesses eröffneten sich damit zum Beispiel Möglichkeiten persönlicher Einflussnahme schon aufgrund der räumlichen oder sozialen Position einzelner Machtinhaber im Interaktionsfeld des charismatischen Führers. Eine dieser strategischen Stellen, wo spezifische Chancen zur Einflussnahme entstanden, ist zweifellos das Antichambre des „Führers“. Tatsächlich wurde der Zugang zum Diktator im Dritten Reich, insbesondere in den Kriegsjahren, zu einem der wichtigsten politischen, sich unvermittelt auf den zentralen Entscheidungsprozess der Diktatur auswirkenden Strukturprobleme der weitgehend etikettelosen Binnenorganisation des Herrschaftssystems. Carl Schmitt hat früh erkannt, welche Bedeutung der Chance zur per114
Schmitt 1973 (wie Anm. 7), S. 432. Weber 2005 (wie Anm. 23), S. 485. 116 Für eine soziologische Theorie der Machtgenese grundlegend: Heinrich Popitz: Phänomene der Macht, Tübingen 1992, insb. S. 185 ff. 115
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sönlichen Vorsprache im Herrschaftszentrum der Führerdiktatur zukam. In der Möglichkeit, mit dem obersten Machthaber „unter vier Augen“ zu sprechen, eine Anweisung, einen Befehl, Lob oder Tadel direkt von ihm zu erhalten, sieht Schmitt geradezu das „wichtigste innenpolitische Problem des Dritten Reichs“.117 Welches sind aber die spezifischen sozialen Strukturen, die die Verteilung der persönlichen Zugangschancen in der autokratischen Figuration der Hitlerschen Diktatur zu einem so eminent wichtigen Faktor der Machtdistribution werden lassen? Für die Vorkriegszeit wurden die institutionellen Autonomisierungstendenzen des Kanzleisystems und die allgemeine Deinstitutionalisierung des Regierungs- und Verwaltungssystems als Folge der Charismatisierung des Herrschaftszentrums hervorgehoben. In den Kriegsjahren erweist sich vor allem die erwähnte Dezentralisierung und räumliche Distanz des politisch-militärischen Führungszentrums unter den partiell den obersten Machthaber isolierenden Bedingungen der Hauptquartierssituation als von größter Bedeutung. In den späten Kriegsjahren wird zusätzlich zu den genannten Aspekten, und diese gleichsam verschärfend, vor allem das Schrumpfen der sozialen Kontaktstruktur im unmittelbaren Umfeld Hitlers relevant. Es ist erstaunlich, mit welch geringer Zahl von Personen Hitler in den späten Jahren der Diktatur direkten und regelmäßigen Umgang pflegte. Abgesehen von den ihn ständig umgebenden Generalstäben und seinen mächtigsten Vasallen, wie Goebbels, Göring, Himmler usw., die Hitler allerdings auch nur unregelmäßig und in den späten Kriegsjahren immer seltener traf,118 war der „Führer“ die meiste Zeit im Grunde lediglich von seinen 117
Schmitt 1973 (wie Anm. 7), S. 430. Rudolf Heß pflegte bereits in der Zeit vor seinem spektakulären England-Flug im Mai 1941 mehr seine eigenen, oft als sonderbar bezeichneten Interessen für die alternative Medizin und kümmerte sich im Grunde recht wenig darum, dem „Führer“ ständig zur Verfügung zu stehen (vgl. Wulf 1962 [wie Anm. 57], S. 56). Dasselbe gilt auch für Göring, der ebenfalls fast ausschließlich eigenen Machtambitionen in seinen Hoheitsbereichen nachging. Infolge der sich besonders nach den gescheiterten Angriffen der Luftwaffe über England zunehmend verschlechternden Beziehungen zwischen ihm und Hitler zog er sich immer mehr in seine Schlösser und Jagdreviere zurück (vgl. Alfred Kube: Pour le Mérité und Hakenkreuz. Hermann Göring im Dritten Reich, München 1986, S. 27-30, 339 ff.). Göring genoss aber trotzdem ein Zugangsprivileg, weil er in seiner Eigenschaft als Oberbefehlshaber der Luftwaffe an den militärischen Lagebesprechungen teilnahm. Auch Himmler, der in der Regel ohne besondere Formalitäten empfangen wurde, wenn er in dringenden Angelegenheiten vorsprechen wollte, kann nicht zur ständigen Umgebung Hitlers gezählt werden. Primär damit be118
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Adjutanten, Chauffeuren, Leibärzten und Sekretärinnen umgeben. Gelegenheit zu regelmäßigen Begegnungen mit dem „Führer“ gab es während der Kriegsjahre im Grunde nur noch bei den militärischen Lagebesprechungen in den Hauptquartieren, bei den Mahlzeiten oder im „Berghof“ in Berchtesgaden bei den nächtlichen informellen Kaminrunden. Doch auch bei diesen Gelegenheiten schrumpfte der Teilnehmerkreis in den letzten Kriegsmonaten zunehmend bis auf seine engsten Mitarbeiter, seine Sekretärinnen, Adjutanten sowie auf mehr oder weniger zufällig anwesende Gäste zusammen.119 Wie bei den Versammlungen des Generalstabs konnte in aller Regel auch bei diesen „gemütlichen“ Anlässen von einem kultivierten Meinungsaustausch der Gäste mit Hitler keine Rede sein. Der bekanntlich weder offenen Widerspruch duldende noch diskretere Einwände wahrnehmende Gastgeber erging sich meist in weitschweifigen und assoziativen Monologen.120 Was für den privaten Hitler-Kreis galt, musste sich im politischen Wirkungsbereich des „Führers“ freilich sehr viel folgenreicher auswirken. In Angelegenheiten der Staatsführung, d. h. abgesehen von den Generalstäben der Wehrmacht, hatten Ende der dreißiger und in den vierziger Jahren, außer Hitlers „Hofarchitekt“ Speer, lediglich zwei Personen mehr oder weniger regelmäßig Zutritt zu Hitler und damit direkten Einfluss auf die verwaltungsbezogenen Entscheidungen des Diktators: Lammers in seiner Eigenschaft als Chef der Reichskanzlei aufgrund des traditionellen exklusiven Rechts auf schäftigt, seinen eigenen Gewaltapparat, die SS, zu lenken, trat er mit Hitler meist nurmehr über einen Mittelsmann, den Adjutanten Wolff, in Kontakt (vgl. Jochen von Lang: Der Adjutant. Karl Wolff: der Mann zwischen Hitler und Himmler, München 1985). Ähnliches gilt für Außenminister von Ribbentrop. Joseph Goebbels, der in Berlin immer einen direkten Zugang zu Hitler genoss, sich indessen seltener im Führerhauptquartier aufhielt, zieht in den letzten Wochen vor der Kapitulation mitsamt Familie zu Hitler, Eva Braun und Bormann in den Bunker unter der Reichskanzlei (vgl. Fest 1973 [wie Anm. 4], S. 1001). Eine besondere Rolle kommt in diesem Zusammenhang zweifellos Hitlers „Hofarchitekten“ und Rüstungsminister Albert Speer zu, der wohl zu den, neben Eva Braun, dem „Führer“ am nächsten stehenden Personen zu zählen ist, wovon dessen Autobiographie ein beredtes Zeugnis ablegt (vgl. Albert Speer: Erinnerungen, Frankfurt a. M. 1970, 7. Auflage). Vgl. zur Verteilung der Zugangschancen ab dem Jahre 1942 auch Rebentisch 1989 (wie Anm. 16), S. 400 f.; Longerich 1992 (wie Anm. 8), S. 146 ff. 119 Vgl. die Augenzeugenberichte von Dietrich 1955 (wie Anm. 95), bes.: Zweiter Teil; Albert Zoller: Hitler privat. Erlebnisbericht seiner Geheimsekretärin, Berlin 1949; sowie für die frühe Berliner Zeit: Speer 1970 (wie Anm. 118), S. 48, 58. 120 Die „eigentümlich verstiegene Atmosphäre“ (Fest) der nächtlichen Kaminrunden beschreiben ausführlich: Dietrich 1955 (wie Anm. 95), S. 229 ff. und Fest 1973 (wie Anm. 4), S. 998 ff.
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Immediatvortrag beim Reichskanzler und Martin Bormann in seiner Funktion als Leiter der Parteikanzlei und späterer Sekretär des „Führers“.121 Einen Eindruck von der außerordentlichen Machtstellung, die den beiden Kanzleichefs von gut informierten Kreisen zugeschrieben wurde, vermitteln Tagebucheintragungen des Reichspropagandaministers aus dem Jahre 1943. Goebbels fühlte sich offenbar in seinen eigenen Einflussmöglichkeiten auf den „Führer“ dadurch erheblich beschnitten, dass Lammers und Bormann im Verein mit dem Chef des Stabes des Oberkommandos der Wehrmacht, General Keitel, – die „Heiligen Drei Könige“, wie er sie abfällig nannte – „eine Art von Kabinettregierung einzurichten und zwischen dem Führer und die Minister eine Wand aufzubauen“ trachteten. Seiner Auffassung nach stand diesen Funktionsträgern, die doch „eigentlich“ nichts weiter als „Sekretäre“ seien, keinesfalls eine „eigenständige Machtvollkommenheit“ zu. Sein Groll richtete sich besonders gegen Lammers, der sich seiner Auffassung nach „als eine Art von Reichskanzler“ aufspielte, als ob er „eine Vorgesetztenrolle den anderen Ministern gegenüber auszuüben habe.“122 Zu den überraschenden Entwicklungen in dieser Machtkonstellation der Kanzleien des Diktators in den Kriegsjahren zählte indessen die beispiellose Machtentfaltung Martin Bormanns an der Spitze des staatlichen Verwaltungssystems. Der ehemalige Stabsleiter des Stellvertreters verstand es außerordentlich geschickt, zweifelsohne erleichtert durch eine langjährige persönliche, quasi familiäre Vertrauensstellung bei Hitler, seine spezifischen Zugangschancen zu einer nahezu unumgehbaren Wächterstellung am Ende des Korridors zum obersten Souverän auszubauen. In den späteren Kriegsjahren war Bormann jedenfalls in Hitlers ständiger Begleitung: als Reisebegleiter, Privatsekretär und einzig verbliebener Verbindungsmann zum gesamten zivilen Sektor. Dies kommt nicht zuletzt auch darin zum Ausdruck, dass auf fast allen Gruppenfotos neben oder hinter Hitler die Gestalt Bormanns zu erkennen ist. Bormann kümmerte sich nicht nur um so gut wie alle Alltagsgeschäfte der zivilen Verwaltung, sondern auch um zahlreiche 121
Bormann wird am 12. Mai 1941, also zwei Tage nach Heß’ Englandflug, zum Dienststellenleiter des Stellvertreterstabes und am folgenden 29. Mai zum Reichsminister ernannt. Bormann firmierte seitdem als „Leiter der Parteikanzlei“. Am 12. 4. 1943 wird Bormann schließlich zum „Sekretär des Führers“ ernannt. 122 Eintragungen vom 2. bzw. vom 18. März 1943 der Goebbels-Tagebücher 1942/43, zitiert nach Diehl-Thiele 1969 (wie Anm. 10), S. 245 bzw. S. 243.; Vgl. auch Rebentisch 1989 (wie Anm. 16), S. 463 ff.
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private Angelegenheiten des Diktators. So war er verantwortlich für Hitlers Kassenführung, für den Ausbau des „Berghofes“, wo er als eine Art Majordomus die „Verwaltung Obersalzberg“ leitete. Bormann war aber auch zuständig für die Lebensmittelversorgung von Hitlers Diätküche.123 Die persönliche Vertrauensstellung, die ständige Nähe, der stetige und ungehinderte Zugang und die für Hitler unentbehrlichen Sekretärsfunktionen ebneten dem lange Zeit unscheinbar im Hintergrund wirkenden, emsigen und geschickten Organisator den Weg in die höchsten Sphären der Macht: „Durch Anpassungswillen, Fleiß und unermüdlich angezettelte Kabalen hatte er sich in den zurückliegenden Jahren bis zum ‚Sekretär des Führers‘ heraufgearbeitet und hinter der anspruchslosen Bezeichnung eine der stärksten Machtstellungen innerhalb des Regimes aufgerichtet. (...) Die undeutlich gezogene Grenze seiner Befugnisse, die er unter Berufung auf den angeblichen Willen des Führers unentwegt erweiterte, sicherte ihm Vollmachten, die ihn tatsächlich zum ‚geheimen Lenker Deutschlands‘ erhoben, während Hitler sich befriedigt zeigte, durch den unaufdringlich wirkenden Sekretär von der Bürde verwaltungstechnischer Routinearbeiten befreit zu sein. Bormann war es alsbald, der sowohl Kompetenzen gewährte oder entzog, Ernennungen und Beförderungen in allen Bereichen durchsetzte, der lobte, kujonierte oder beseitigte, sich bei alldem aber schweigend im Hintergrund hielt und stets eine Verdächtigung, eine Schmeichelei mehr zur Hand hatte als selbst sein mächtigster Gegenspieler. Argwöhnisch überwachte er anhand der Besucherlisten Hitlers Kontakte zur Außenwelt und richtete, dem Zeugnis eines Beobachters zufolge, ‚eine wahre Chinesische Mauer‘ um ihn auf.“124 Bormanns Weg zur Macht ist in vielen Einzelheiten bekannt, so dass hier von einer biographischen Nachzeichnung abgesehen werden kann.125 123
Dietrich 1955 (wie Anm. 95), S. 210 ff. Fest 1973 (wie Anm. 4), S. 925; Die Machtstellung Bormanns hat in der Nachkriegszeit bildreiche Umschreibungen erfahren: Vom „geheimen Lenker Deutschlands“ wird zuerst bei Zoller gesprochen (Zoller 1949 [wie Anm. 119], S. 49); nach Broszat hatte er faktisch „die Regierung übernommen“ (Broszat 1983 [wie Anm. 4], S. 395) und von Lang sieht in ihm den „Mann, der Hitler beherrschte“ (Lang 1977 [wie Anm. 57]). Demgegenüber scheint schon aufgrund der Tatsache, dass Bormann beispielsweise auf dem gesamten Gebiet des militärischwirtschaftlichen Komplexes, sowohl der Wehrmacht, der SS, des Rüstungsministeriums wie des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz, so gut wie keinen Einfluss gewinnen konnte, eine nüchternere Einschätzung geboten (Vgl. Rebentisch 1989 [wie Anm. 16], S. 413). 125 Vgl. z. B. Wulf 1962 (wie Anm. 57); Broszat 1983 (wie Anm. 4), S. 391 ff.; Diehl-Thiele 1969 (wie Anm. 10), S. 209 ff.; Lang 1977 (wie Anm. 57). 124
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Uns interessiert in erster Linie die Beleuchtung der wichtigsten Strukturvoraussetzungen für Bormanns Machtaufstieg in das Führungszentrum von Hitlers Autokratie. Dazu gilt es, die Aufmerksamkeit auf jene spezifischen Machtquellen zu richten, die im Zusammenhang der Organisationsstruktur der Parteikanzlei und in Verbindung mit dem Zugangsprivileg im Herrschaftszentrum einen Prozess der Machtsteigerung als Ergebnis direkter Interaktion mit dem charismatischen Führer ermöglichten. Die Karriere Bormanns erscheint dabei exemplarisch für einen Prozess der interaktionistischen Machtschöpfung in der autokratischen Spitzenfiguration der charismatischen NS-Diktatur. Bormann war kein politischer Führer im eigentlichen Sinne. Er hatte keine politische Karriere in der NS-Bewegung durchlaufen, wobei sich etwa persönliche charismatische Qualifikationen oder besondere Führungseigenschaften hätten bewähren können.126 Immerhin hatte er sich als gewandter Organisator und tüchtiger Parteifunktionär mit gewissen bürokratischen Fähigkeiten hervorgetan.127 Die langjährigen Erfahrungen, die Bormann zunächst im bürokratischen Apparat der NSDAP und später als Stabsleiter der Dienststelle Heß sammeln konnte, befähigten ihn aber schließlich dazu, als Privatsekretär des „Führers“ in die völlig unbürokratische Praxis der Hitlerschen Regierungsführung ein gewisses Maß an Ordnung und amtlicher Regelmäßigkeit zu bringen. Unter diesem Gesichtspunkt kann Bormann tatsächlich als ein „für das Funktionieren des Hitler-Regimes notwendiges Gegenstück“128 des charismatischen „Führers“ bezeichnet werden. Dabei ist jedoch zu beachten, dass Bormanns Machtentfaltung weder auf einer im engeren Sinn bürokratischen Zuständigkeit noch auf entsprechend definierten Kompetenzen oder verbindlichen Entscheidungsvollmachten gründete. Bormanns spezifische Machtchancen beruhten nicht primär auf bürokratietypischen Ressourcen, wie etwa formaljuristisch legitimierte und streng festgelegte Verfahrensweisen oder Exekutivkompetenzen. Sie entsprangen vielmehr in erster Linie der in der Organisation der Einherrschaft strukturell 126
Vgl. Wulf 1962 (wie Anm. 57), S. 57. Der ehemalige Gutsverwalter Bormann, seit 1926 Adlatus des thüringischen Gauleiters, wurde im Jahre 1927 zum Gauobmann und Gaugeschäftsführer ernannt; im Jahr darauf übersiedelte er nach München, wo er als Leiter der „SA-Versicherung“ tätig war, der späteren „Hilfskasse der NSDAP“; im Jahre 1933 wird er dann als Stabsleiter in die Dienststelle des Stellvertreters des Führers kooptiert (vgl. Lang 1977 [wie Anm. 57], S. 44 ff.; Longerich 1992 [wie Anm. 8], S. 165 f.). 128 Diehl-Thiele 1969 (wie Anm. 10), S. 216. 127
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angelegten Möglichkeit, an der Schwelle zwischen dem Diktator und den nächst untergeordneten Ausführungsringen des absolutistischen Staatsgebildes relativ autonome Einfluss-, Definitions- und Durchsetzungschancen gleichsam anzusammeln. Bormanns Schlüsselstellung im Exekutivsystem des Dritten Reiches beruhte im Kern auf einer rationellen und organisatorischen Durchdringung des Vorhofs von Hitlers Herrschaftszentrum,129 wie die von Bormann im Juli 1943 angefertigte Liste der „Aufgabengebiete des Sekretärs des Führers“ zeigt: Sie enthielt neun Punkte, die von der Erledigung zahlreicher persönlicher Angelegenheiten des Führers bis zur Dienstaufsicht über die Hausintendantur und über die Stenografengruppe des Führerhauptquartiers reichten. Politisch bedeutsam war vor allem, dass Bormann nicht nur die „Teilnahme an Besprechungen des Führers“ und den „Vortrag der eingehenden Vorgänge“ für sich beanspruchte, und es somit nicht nur bei der Übermittlung von „Entscheidungen und Meinungsäußerungen des Führers“ beließ, sondern auch die „Schlichtung von Meinungsverschiedenheiten“ und Zuständigkeitsstreitigkeiten zwischen Reichsministern und Chefs oberster Reichsbehörden zu seinen Aufgaben zählte.130 Bormann bearbeitete demnach in seiner Funktion als Privatsekretär des „Führers“ nahezu alle wichtigen (und daneben auch zahllose scheinbar nebensächliche) Angelegenheiten, die sich aus der Regierungstätigkeit Hitlers ergaben. Bormann war es denn auch, der die für Hitlers verwaltungsbezogene Entscheidungen notwendigen Sachdossiers zusammenstellte, der die Posteingänge des „Führers“ und die zahllosen Amtsvorgänge aus den verschiedenen Bereichen des Staates und der Partei zunächst einsah, bevor er sie Hitler weiterleitete. Nahezu alle für Hitler bestimmten schriftlichen oder fernmündlichen Nachrichten bearbeitete zuerst Bormann, bevor sie den Diktator erreichten. Bormann sortierte, ordnete, gewichtete, setzte Prioritäten und wählte die Vorlagen aus. Außerdem war es wieder kein anderer als Bormann, der die Termine des „Führers“ koordinierte und seine Besuchslisten führte. Kurz: Es war ausschließlich Bormann, der selbstverantwortlich mit der praktischen Organisation der Parteikanzlei und mit der Durchführung nahezu aller verwaltungstechnischen Routinearbeiten in den verschiedenen Vorzimmern Hitlers betraut war. Unter diesen Voraussetzungen konnte ein besonderer Typus von Sekretärsmacht entstehen, der primär die 129
Longerich 1992 (wie Anm. 8), S. 155. Vgl. Rebentisch 1989 (wie Anm. 16), S. 461; Lang 1977 (wie Anm. 57), S. 246; Longerich 1992 (wie Anm. 8), S. 174 f. 130
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organisationsstrukturellen und okkasionellen Handlungsspielräume zu nutzen verstand, die sich an der Schwelle des Vorzimmers zum Machthaber heranbildeten. Diese Organisationsmacht war es vor allem, die Bormann unter den Voraussetzungen des weitgehend polykratischen Ämtersystems im charismatischen Regierungszentrums ergriff, und die es ihm in der Praxis ermöglichte, den politisch-administrativen Informationsfluss sowie den Besucherstrom zum „Führer“ wirksam zu kontrollieren und zu kanalisieren.131 Selbstverständlich nutzte er diese Schlüsselstellung auch dazu aus, nach Maßgabe eigener Machtinteressen zu intervenieren. Durch seine unanfechtbare Position als Privatsekretär und als loyaler Vertrauter Hitlers erlangte Bormann eine strategisch entscheidende Vermittlungsfunktion, die es ihm im Laufe der Zeit erleichterte, auch den letzten Zugangskonkurrenten aus dem zivilen Bereich, den Chef der Reichskanzlei, Lammers, aus dem Zentrum der Macht zu verdrängen. Die kaum zu überschätzende Bedeutung des Privilegs auf Immediatvortrag im NS-Staat sowie den weitgehenden Einflussverlust des Chefs der Reichskanzlei veranschaulicht ein Brief Lammers vom 1. Januar 1945: „Mein lieber Bormann! (...) Zu Beginn dieses neuen (...) Jahres möchte ich nicht versäumen, Dir, lieber Bormann, aufrichtigst alles Gute zu wünschen (...). Das Band unserer dienstlichen und persönlichen Verbundenheit scheint sich jedoch (...) zu meinem größten Bedauern etwas gelockert zu haben (...). (Ich) bin vom Führer und seinem Hauptquartier sozusagen völlig ‚abgeschnitten‘. Meinen letzten Vortrag beim Führer hatte ich vor mehr als drei Monaten am 24. September des vergangenen Jahres. Wenn ich auch weiß, daß der Führer infolge seiner Inanspruchnahme durch die unmittelbare Kriegsführung monatelang nicht in der Lage war, meinen oder auch unseren gemeinsamen Vortrag entgegenzunehmen, so hatte ich doch die Pflicht, auf diesen Vortrag zu drängen. Denn es handelt sich ja um Angelegenheiten, deren Erledigung der Führer selbst von mir verlangt, für deren rechtzeitige Erledigung ich ihm gegenüber die Verantwortung trage (...). Handelt es sich doch zum größten Teil um kriegswichtige Angelegenheiten, und viele andere Sachen, auf die dieses Attribut nicht unbedingt zutrifft, die auch im Kriege einmal ihre Erledigung finden müssen, soll nicht (...) schließlich der Ein-
131
Longerich 1992 (wie Anm. 8), S. 165 f.
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druck entstehen, als ob das Funktionieren des Staatsapparates stillgestellt ist...“.132 Einen ungehinderten Zugang zu Hitler besaß Lammers freilich auch vorher keineswegs. Während des Krieges hatte er ohnehin oft wochenlang keine Möglichkeit, zu Hitler zu gelangen. Während des Jahres 1942 traf er noch bei 39 Vortragsgelegenheiten mit Hitler zusammen; von Januar bis September 1943 fanden 18 Begegnungen statt; und in der Zeit danach wurden es immer weniger Gelegenheiten.133 Bormann hingegen, wir erwähnten es bereits, konnte täglich mehrmals ungehindert mit Hitler sprechen. Als Alleinherrscher im Vorzimmer des „Führers“ blockierte Bormann somit die Zugangsschwelle zum Diktator vollständig: Nach der einen Seite hin schirmte er Hitler von lästigen Antichambrierern ab, nach der anderen Seite hin wucherte er gleichsam mit seinem Monopol an Zugangschancen. Unter diesen Voraussetzungen gelang es Bormann, insbesondere unter den Strukturbedingungen des Führerhauptquartiers, zu einem der mächtigsten Funktionsträger der Führerherrschaft zu avancieren, „an dem praktisch jeder vorbei mußte, ohne dessen Hinzuziehung es keinen Führererlaß mehr gab und der schließlich auch in einer kaum noch aufklärbaren Weise den anderen Dienststellen gegenüber mit Willenserklärungen des Führers operieren konnte.“134 Die charismatische Legitimation des höchsten gesetzgebenden Entscheidungsorgans im Dritten Reich, die unbeschränkte Rechtssetzungsbefugnis des „Führerwillens“, destabilisierte nicht nur den gesamten Gesetzgebungsprozess des Reiches,135 sondern konstituierte außerdem besondere Potentiale der verwaltungsunabhängigen und rechtsenthobenen Machtschöpfung im Inneren des autokratischen Zentrums, die sich Bormann auch zunutze machen konnte. Diese waren verknüpft mit dem arbiträren Ent-
132
Zit. n. Diehl-Thiele 1969 (wie Anm. 10), S. 257; zu den Hintergründen dieses Briefes vgl. Rebentisch 1989 (wie Anm. 16), S. 426. 133 Vgl. Rebentisch 1986 (wie Anm. 15), S. 95. 134 Broszat 1983 (wie Anm. 4), S. 394. 135 „Der Führerwille war... sakrosankt und ließ sich auch dann nicht ohne weiteres umgehen, wenn sich die Entscheidungsgrundlagen nachträglich als falsch erwiesen oder sich herausstellte, daß eine praktische Anwendung schwerste Rechtswidrigkeiten und unübersehbare Funktionsstörungen im Verwaltungsablauf hervorrufen mußten.“ (Rebentisch 1989 [wie Anm. 16], S. 408).
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scheidungsstil Hitlers, der nach Max Weber aber die charismatisch legitimierte Rechtssetzung im Allgemeinen charakterisiert.136 Im Staate Hitlers genügte – das ist nur allzu bekannt – eine Willensäußerung, ein Befehl oder eben ein persönlicher Erlass des „Führers“, ja oft schon nur die Berufung auf oder der Glaube an eine spezifische mündliche Auslassung Hitlers, um politische und administrative Prozesse von außerordentlicher Tragweite auszulösen. Insofern den Entscheidungen und Anordnungen Hitlers in der Spätphase des Dritten Reichs immer seltener eine die vorhersehbaren Konsequenzen rational kalkulierende kollektive Lagebeurteilung im Kreis der Führungs- und Regierungsgruppe voranging, waren verheerende Fehlentscheidungen unvermeidlich. Wichtigstes Instrument war der sogenannte „Führerbefehl“ oder „Führererlass“, womit materiales Recht gesetzt wurde. Hitler verstand sich als alleiniger Gesetzgeber; er hielt sich an keinerlei verfassungsrechtliche Beschränkungen. Die Legitimationsquelle war eindeutig charismatisch. Die Reichskanzlei insistierte zwar auf formaljuristische Unterscheidungen zwischen „Führerverordnungen“ und „Erlassen“, was Hitler allerdings völlig gleichgültig war. Im Übrigen ist bemerkenswert, dass weder bei Mitgliedern der Reichsregierung noch unter zeitgenössischen Staatsrechtlern je Zweifel an der prinzipiellen staatsrechtlichen Gültigkeit dieser willkürlichen und unumschränkten Rechtssetzungsprärogative des „Führers“ aufkamen.137 „Der Führerbefehl wurde nicht in einer Kabinettssitzung verkündet. Er wurde auch meist nicht schriftlich ausgefertigt. Ein Führerbefehl war vielmehr alles, was Hitler sagte. Empfing Hitler einen Minister, so kam dieser mit einem Führerbefehl zurück. Niemand war in der Lage zu kontrollieren, ob er den Befehl wirklich erhalten oder ob er ihn sich selbst erteilt hatte. Niemand wagte die Rückfrage. Denn er konnte zwar vielleicht ein Dementi, aber auch die Gegenfrage, ob er an diesem Befehl etwa Kritik üben wolle, erhalten. Das riskierte im Allgemeinen keiner.“138
136
„Die genuine charismatische Herrschaft kennt... keine abstrakten Rechtssätze und Reglements und keine ‚formale‘ Rechtsfindung. Ihr ‚objektives‘ Recht ist konkreter Ausfluss höchst persönlichen Erlebnisses von himmlischer Gnade und gottgleicher Heldenkraft... Sie verhält sich daher revolutionär alles umwandelnd und souverän brechend mit aller traditioneller oder rationeller Norm: ‚Es steht geschrieben, ich aber sage euch!‘“ (Weber 2005 [wie Anm. 23], S. 468). 137 Vgl. Rebentisch 1989 (wie Anm. 16), S. 379. 138 Walter Petwaidic: Die autoritäre Anarchie, Hamburg 1946, S. 14.
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Bei diesen „Umformungen des Rechts durch individuelle Befehle“139 konnten folgenreiche Kollisionen mit dem formalistischen Rechtsverständnis der Staatsverwaltung nicht ausbleiben. So bemerkt Broszat beispielsweise, dass die Staatsverwaltung unter solchen Bedingungen, um an einem rechtlich geordneten Verfahren festhalten zu können, „wenn sie sich nicht selbst aufgeben wollte, manche willkürliche Führerbefehle ‚verwandelte‘ oder leerlaufen ließ“ oder „selbst noch aus den nach Inhalt und Form unzumutbaren Willensbekundungen des Führers (...) herausdestillierte, was immer an Rechtsformalität sich daraus machen ließ.“140 Im Unterschied zu regulären Gesetzen oder Rechtsverordnungen mit ihrem spezifischen formaljuristischen Charakter, aber auch im Gegensatz zu militärischen Befehlen, die sich in der Regel durch exekutive Eindeutigkeit auszeichnen, waren die „Führeranordnungen“ durch ein besonderes Merkmal charakterisiert, das sie für führerimmediate Positionsinhaber (wie etwa Reichsleiter oder Gauleiter) zu einer Machtquelle besonderer Art werden ließ. Soweit Hitlers Erlasse nicht von Staats- oder Parteistellen vorformuliert wurden, bevor sie durch die Unterschrift des „Führers“ definitive Rechtsgültigkeit erlangten, waren diese verbalen Willensbekundungen, Befehle oder Absichtserklärungen nämlich fast ausnahmslos in inhaltlicher Hinsicht höchst interpretationsbedürftig. Zur Dezisionskraft, Willkür, Situationsabhängigkeit und Formlosigkeit kam somit als weiteres konstitutives Strukturmerkmal der charismatischen Gesetzgebung durch den „Führer“ noch ihre strukturelle Deutungsoffenheit hinzu. Dies gilt sowohl für den semantischen Gehalt der meist sprachlich sehr unpräzise formulierten Führerentschlüsse als selbstverständlich auch für die operative Umsetzung ihres Sinnes. Wenn Hitler in seinen politischen Stellungnahmen beispielsweise von der „Ausrottung“ oder „Ausmerzung“ ganzer Volksgruppen, Menschenrassen oder anderer „Regimefeinde“ sprach, so kann zwar davon ausgegangen werden, dass dem politisch Informierten mehr oder weniger bewusst war, was ihm vorschwebte. Die praktische Konkretisierung der oft vage formulierten politischen Pläne und Ideen hing jedoch in den meisten Fällen von einer politisch-programmatischen, insbe139
Franz Neumann: Die Herrschaft des Gesetzes. Eine Untersuchung zum Verhältnis von politischer Theorie und Rechtssystem in der Konkurrenzgesellschaft, Frankfurt 1980 (zuerst 1936), S. 352. 140 Broszat 1983 (wie Anm. 4), S. 323; Vgl. Petwaidic 1946 (wie Anm. 138), S. 14 ff.; Rebentisch 1986 (wie Anm. 15), S. 89 f.
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sondere aber verwaltungsoperativen Interpretation des „Führerwillens“ seitens der mit der Durchführung beauftragten oder sich dazu berufen fühlenden Gefolgsleute bzw. Instanzen ab. Bei der Entwicklung des Euthanasie-Programms zur systematischen Tötung von als „lebensunwert“ angesehenen Existenzen, ebenso wie bei der Radikalisierung der „Judenpolitik“ zum organisierten Holocaust, war der „Führerentschluss“ zu Beginn bezeichnenderweise äußerst unbestimmt. Welche genauen Personenkreise der mörderischen „Sonderbehandlung“ unterworfen, nach welchen Kriterien sie ausgewählt, welche Amtsstellen, Anstalten, Stäbe damit betraut und welche Verfahrenspraktiken schließlich angewandt werden sollten, diese und viele andere in den entsprechenden „Führerbefehlen“ nicht ausgeführten Einzelheiten mussten inhaltlich erst noch präzisiert werden. Eine exemplarische Rekonstruktion der Entwicklung des „Euthanasie-Programms“ im Organisationszusammenhang der „Kanzlei des Führers“ unter der Leitung Philipp Bouhlers gelangt zu folgendem bemerkenswerten Schluss: „[O]hne die ideologisch fixierte negative Einstellung des Nationalsozialismus gegenüber Geisteskranken, (...), und ohne die feste Absicht Hitlers, diese Menschen ermorden zu lassen, wäre die Realisierung der ‚Euthanasie‘ kaum denkbar gewesen. (...) Dennoch scheint die Kanzlei des Führers in enger Zusammenarbeit mit der SS wesentlich zur Realisierung dieses Verbrechens beigetragen zu haben: erstens, indem sie Hitler das Problem durch die Vorlage von Gesuchen ständig vor Augen führte; zweitens, indem sie im Herbst 1938 selbst die Initiative ergriff und durch die Bestellung der Mayer-Gutachten Hitlers Bedenken wegen der zu erwartenden Opposition seitens der Kirchen zu überwinden half; und drittens, indem sie einen Apparat aufbaute, der ‚fern von bürokratischen Hemmungen und formellen Bedenken in nationalsozialistischer Entschluß- und Verantwortungsfreudigkeit an die Arbeit gehen konnte‘.“141
Ähnlich konkretisierte sich aber auch die praktische Bedeutung dessen, was Hitler unter „Endlösung der Judenfrage“ oder „Festigung des Deutschen Volkstums“ in den besetzten Ostgebieten verstand, eigentlich erst im Prozess der behördlichen Interpretation und Operation, mithin im Instanzenweg der organisatorischen Definition und Durchführung. Obwohl Hitler „offenkundig (...) früher als selbst seine engsten Gefolgsleute Begriffe wie 141
Jeremy Noakes: Philipp Bouhler und die Kanzlei des Führers der NSDAP. Beispiel einer Sonderverwaltung im Dritten Reich, in: Rebentisch und Teppe 1986 (wie Anm. 15), S. 235; vgl. Longerich 1992 (wie Anm. 8), S. 204 ff.
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‚Beseitigung‘ oder ‚Ausrottung‘ nicht nur metaphorisch, sondern als Akt physischer Vernichtung verstand“,142 bedurfte es doch einer vielfältigen, schrittweisen und sich möglicherweise auch graduell radikalisierenden Programminterpretation und Zielkonkretisierung, ohne die sich schließlich die Entschlüsse des Führers zur „Endlösung der Judenfrage“ nicht zum Massenmord an den europäischen Juden hätten entwickeln können.143
V. Der vertikale Prozess der Zielinterpretation und -konkretisierung im Herrschaftssystem des nationalsozialistischen Regimes ist im Nachhinein nur schwer durch die verschiedenen Instanzen rekonstruierbar. Im Hinblick auf die autokratische Spitzenfiguration ist jedenfalls beachtenswert, dass es wiederum Bormann war, der, unter den oben dargestellten institutionellen und positionellen Voraussetzungen, eine strategische Schlüsselstellung innehatte. Aufgrund seiner privilegierten Interaktionsposition in der face-to-face-Beziehung mit dem Diktator avancierte er zum obersten Interpreten des „Führerwillens“. Diese Position war, besonders in Verbindung mit dem Zugangsprivileg in der Situation des Führerhauptquartiers, mit spezifischen strukturellen Machtchancen verbunden. Bei näherer Betrachtung der Herrschaftsfiguration und ihrer Positionsdynamik wird deutlich, dass Bormanns außergewöhnliche Stellung nicht zuletzt von selbständigen Interpretationsmöglichkeiten abhing. In der Tat gründete Bormanns Stellung im Wesentlichen auf spezifischen Chancen zur Definition von Führeräußerungen. „Die entscheidende Voraussetzung für Bormanns souveräne Interpretation des 142
Fest 1973 (wie Anm. 4), S. 929. Dazu ausführlich Martin Broszat: Hitler und die Genesis der „Endlösung“. Aus Anlaß der Thesen von David Irving, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 27, 1979, S. 739-775, vgl. S. 739 ff.; Hans Mommsen: Die Realisierung des Utopischen: Die ‚Endlösung der Judenfrage‘ im ‚Dritten Reich‘, in: Geschichte und Gesellschaft 9, 1983, S. 381 ff.; Eberhard Jäckel und Jürgen Rohwer (Hrsg.): Der Mord an den Juden im Zweiten Weltkrieg. Entschlussbildung und Verwirklichung, Stuttgart 1985; Peter Longerich: Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung, München 1998; Christian Gerlach: Krieg, Ernährung, Völkermord. Forschungen zur deutschen Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg, Hamburg 1998; Christopher Browning: Die Entfesselung der „Endlösung“. Nationalsozialistische Judenpolitik 1939 – 1942, München 2003. Zur Beteiligung des Stellvertreters des Führers und der Parteikanzlei vgl. Longerich 1992 (wie Anm. 8), S. 210 ff. 143
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‚Führerwillens‘ war aber nicht nur seine schon fast kongeniale Beziehung zu Hitlers Vorstellungswelt, sondern die Tatsache, daß er durch seine ständige Anwesenheit in der Umgebung Hitlers und durch seine Vertrauensstellung den Zugang zum Diktator weitgehend kanalisieren konnte.“144 Unter diesem Gesichtspunkt erweisen sich einerseits die Zugangsprivilegien als strukturelle Voraussetzungen der Interpretationsmacht und andererseits die Organisationspotentiale der Parteikanzlei als wichtige Durchsetzungsstrukturen dieser Definitionsmacht. Dabei spielten die von Bormann intensiv genutzten „Rundschreiben“ eine entscheidende Rolle. Mit Hilfe unzähliger schriftlicher Auslegungen, Präzisierungen und Erläuterungen von Äußerungen oder Anordnungen des „Führers“ und zahlreicher darauf Bezug nehmender Weisungen und Ausführungsverordnungen in der Form durchnummerierter Rundschreiben formulierte Bormann die Auslassungen des „Führers“ und entwickelte damit durchsetzungsfähige und verwaltungsoperative Zieldefinitionen. So ließ er es sich auch nicht entgehen, selbst seine Ernennung zum Leiter der Parteikanzlei unmissverständlich zu bestimmen,145 womit er zudem seine eigene Machtposition recht anschaulich umschrieb. In einem vertraulichen Schreiben an alle Reichs- und Gauleiter sowie an die Verbandsführer teilte Bormann mit, dass die Arbeit der Parteikanzlei wie früher weitergehe, „... nun aber unter Aufsicht und Obhut des Führers selbst. Laufend werde ich selbstverständlich den Führer über alle wichtigen Vorgänge unterrichten, und ich werde ebenfalls laufend die Reichsleiter, Gauleiter und Verbändeführer über die Entscheidungen und Auffassungen des Führers in Kenntnis setzen; ein großer Teil der von mir in den letzten zwei Jahren herausgegebenen Rundschreiben wurde ohnehin durch meine Tätigkeit beim Führer ausgelöst... Da ich zum engsten Stab des Führers gehöre, soll ich auch weiterhin ständig den Führer begleiten (...), (...) (was) den großen Vorteil (hat), daß auch während des Krieges laufend alle wichtigen Angelegenheiten der Partei und der Reichsleiter, Gauleiter und Verbändeführer an den Führer herangetragen werden können“.146 Das Spektrum von Bormanns souveräner Definitionsmacht reichte von scheinbar belanglosen Parteiangelegenheiten über zahlreiche persönliche
144
Longerich 1992 (wie Anm. 8), S. 157-167; hier S. 165. Ebd., S. 150 f. 146 Zitiert nach Wulf 1962 (wie Anm. 57), S. 127. 145
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Interessen Hitlers,147 wie den Ausbau des „Berghofes“ in Berchtesgaden und die Ausstattung des Sonderzuges, bis hin zu den gewichtigsten politischen Fragen, wie beispielsweise den schwerwiegenden Ausführungsbestimmungen zu den „Nürnberger Rassengesetzen“ oder die Durchführung der nationalsozialistischen Kirchen- sowie Beamtenpolitik. Zwei Beispiele typischer Interventionen Bormanns mögen das Phänomen seiner nahezu unbeschränkten Interpretationsmacht illustrieren. Das erste Beispiel ist dem Erlebnisbericht seiner Geheimsekretärin entnommen. Es wird von dem Fall einer Diätassistentin berichtet, die für Hitlers vegetarische Küche im Jahre 1943 eingestellt worden war. Viele Monate lang sei sie ihrer Kochkünste halber von Hitler gelobt und „hin und wieder zu den Teerunden eingeladen“ worden. „Eines Tages stellte die Gestapo fest, daß der Stammbaum der Dame nicht in Ordnung war. Daß eine Vierteljüdin Hitlers Mahlzeiten zubereitete, war natürlich ein unmögliches Ding“, bemerkt die Sekretärin. Hitler habe es aber nicht gewagt, die Diätköchin einfach fortzuschicken, sondern behauptete zunächst, ihre Küche nicht gut zu vertragen. Er „rührte so gut wie nichts mehr von ihrem Essen an.“ Das Problem blieb verhältnismäßig lange Zeit in der Schwebe. Erst als Hitler im Februar 1944 zu einem längeren Aufenthalt nach Berchtesgaden aufbrach, schickte er die Köchin „in den Urlaub“, ohne aber den wirklichen Grund für seinen Entschluss zu nennen. Er überließ es schließlich seinem Sekretär Bormann, der aller Wahrscheinlichkeit nach auch die geheimpolizeilichen Ermittlungen veranlasst hatte, die Köchin schriftlich darüber aufzuklären, „daß sie den Urlaub als Entlassung anzusehen habe, und zwar wegen ihrer nichtarischen Abstammung.“148 Das zweite Beispiel zeigt, dass Bormanns Definitionsmacht sich keinesfalls nur auf explizite Anweisungen des Führers beschränkte, sondern sich auch auf den unausgesprochenen oder nur angedeuteten Willen des Diktators erstreckte, d. h. auch „rein zufällige Bemerkung(en) Hitlers zum Führererlaß“ umwandelte.149 Bei Tischgesprächen bemerkte Hitler gelegentlich, das deutsche Volk würde sich selbst Schaden zufügen, wenn rassische Mischlinge in der Wehrmacht Dienst täten, womit sie mit deutschen Ariern gleichgestellt wären. Einer solchen Führeräußerung lag dann zum Beispiel 147
Vgl. dazu ebd., S. 58 ff., 79 ff. und 85 ff.; auf neueren Quellen basierend: Longerich 1992 (wie Anm. 8), Kap. IV. 148 Zoller 1949 (wie Anm. 119), S. 135. 149 Wulf 1962 (wie Anm. 57), S. 86; vgl. auch Petwaidic 1946 (wie Anm. 138), S. 15 f.
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Bormanns Rundschreiben Nr. 126/42 vom 14. November 1942 „an die Herren Reichs-, Gau-, Kreis-, Ortsgruppenleiter sowie an alle Verbandsführer“ zugrunde. Unter der Überschrift „Heiratsgenehmigung für Soldaten mit Frauen, die mit Juden verheiratet waren“ beschloss der Leiter der Parteikanzlei gänzlich eigenmächtig: „Der Führer hat entschieden, die Eheschließung eines Soldaten mit einer Frau, die mit einem Juden verheiratet war, ist ohne jede Ausnahme abzulehnen. Eine deutsche Frau, die in ehelicher Gemeinschaft mit einem Juden lebte, hat eine derartige rassische Instinktlosigkeit bewiesen, daß ihre spätere Verbindung mit einem Soldaten nicht mehr in Betracht kommt.“150 Für Bormanns Praxis der eigenmächtigen inhaltlichen Interpretation und verwaltungsoperativen Definition von Äußerungen des „Führers“ mittels amtlicher Zirkulare ließen sich zahlreiche weitere Beispiele anführen. Den ebenfalls von Bormann veranlassten Aufzeichnungen von Hitlers Tischgesprächen kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu. Im Übrigen notierte Bormann unablässig Hitler-Äußerungen. So erinnert sich Albert Speer, dass selbst bei den Teerunden auf dem Obersalzberg Bormann oft seine „weißen Kärtchen, die er immer bei sich trug, aus seiner Rocktasche“ zog: „Denn er notierte alle Bemerkungen Hitlers, die ihm wichtig zu sein schienen. (...) Ich vermutete damals, daß er für eine Biographie Hitlers Material sammelte.“151 Und auch Werner Koeppen, Rosenbergs Verbindungsmann im Führerhauptquartier, bemerkte, dass, „... kaum hatte Hitler irgendeinen Gedanken ausgesprochen, dann formulierte ihn Bormann bereits einige Stunden später als Anweisung oder Anordnung“.152 Dabei griff Bormann nicht nur auf frühere oder aktuelle Äußerungen Hitlers zurück, sondern nutzte auch Vermutungen über potentielle Ansichten des „Führers“ zur eigenen Handlungslegitimation. Der Bezug auf den „erklärten Willen des Führers“ genügte in den meisten Fällen. Bormann brachte auf diesem Wege die für Hitlers Regierungsstil charakteristischen mündlichen Äußerungen in der erforderlichen schriftlichen Form zur administrativen Umsetzung. Im Wilhelmstraßen-Prozess erklärte auch Lammers später, dass viele von Bormann übermittelten Führerweisungen, die in den Berliner Ministerien weitreichende Aktivitäten hervorriefen, sicher oft „auf beiläufigen Gesprächen des Führers bei Tisch oder in der nächtlichen Tee150
Zitiert nach Wulf 1962 (wie Anm. 57), S. 87. Speer 1970 (wie Anm. 118), S. 109. 152 Lew Besymenski: Die letzten Notizen von Martin Bormann, Stuttgart 1974, S. 45. 151
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runde“ beruhten.153 Wäre der Aktenbestand der Parteikanzlei erhalten geblieben,154 könnten heute viele wichtige politische Interventionen, administrative Maßnahmen sowie persönliche Intrigen Bormanns sicher genauer nachgezeichnet werden. Wahrscheinlich ließe sich dem geschichtlichen Bild des skrupellosen und machthungrigen Sekretärs des Diktators dadurch nichts grundlegend Neues hinzufügen. Es könnten aber möglicherweise erhellende Einsichten sowohl zur Rolle Bormanns als „bürokratischen“ Interpreten des charismatischen Führerwillens als auch zum Prozess der interaktionistischen Machtsteigerung kraft spezifischer Zugangsprivilegien und Definitionskompetenzen in der charismatischen Autokratie gewonnen werden. Bormanns Karriere im Antichambre des „Führers“ ist im nationalsozialistischen Herrschaftssystem kein Einzelfall gewesen. Auf ähnlichen Strukturvoraussetzungen beruhten die Macht- und Durchsetzungschancen auch von anderen Gefolgsleuten Hitlers, beispielsweise von Albert Speer und Heinrich Himmler. Mit Bezug auf unsere Leitthese kann somit resümiert werden, dass die regeldurchbrechenden, praktisch nur noch auf „höchstpersönliche“ Beziehungen zum „Führer“ gründenden Kommunikationsstrukturen der führerunmittelbaren Stäbe für einzelne Positionsinhaber in dieser Figuration Machtchancen besonderer Art eröffneten. Es war der Strukturzusammenhang der charismatischen Autokratie, der unter bestimmten Voraussetzungen Opportunitätsstrukturen für personale Machtschöpfungen sowie -erweiterungen und damit für die Herausbildung und Absicherung von Willkürräumen innerhalb der staatlichen Ordnung bot, ohne dass diese formal-rechtlich vorgesehen gewesen wären. Das am Beispiel Bormanns analysierte, charismatischen Herrschaftszusammenhängen eigene Verhältnis von Struktur und Opportunitätsstrukturen sei abschließend mit einigen allgemeinen Überlegungen zusammengefasst. Sieht man von den jeweiligen persönlichkeitsspezifischen Aspekten ab, so tritt als herausragende herrschaftsstrukturelle Voraussetzung etwa von Bormanns Machtkarriere zunächst die privilegierte Interaktionsposition im Verhältnis zum charismatischen Führer in das Blickfeld. Bormanns Machtchancen waren zu einem beträchtlichen Teil mit institutionellen Möglichkeiten verbunden, einen mehr oder weniger direkten Zugang zu Hitler zu finden, damit häufiger und stetiger als andere Gelegenheit zum unmittelbaren 153 154
Zit. nach Rebentisch 1989 (wie Anm. 16), S. 411. Zur Quellenlage vgl. Longerich 1992 (wie Anm. 8), S. 3 ff.
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Vortrag oder zum vertraulichen Gespräch mit dem Diktator zu erhalten. Worauf es dabei ankommt, ist, dass die Machtposition, die Bormann unter diesen Voraussetzungen festigen konnte, nicht im engeren Sinn auf bürokratischen Ressourcen beruhte; sie ist aber auch nicht einfach als Resultat von Entscheidungskompetenzen aufzufassen, die der oberste Machthaber an einen seiner Gefolgsleute delegierte. Vielmehr war gerade der unbeabsichtigte Effekt der charismatischen Umstrukturierung in Hitlers Herrschaftszentrum, dass sich das Zugangsprivileg zu einer okkasionellen Machtchance verdichten konnte. Die Entstrukturierungseffekte der charismatischen Führung selbst brachten es folglich mit sich, dass sich für entsprechend motivierte Aspiranten sozusagen ein Macht-Angebot herausbildete, das von Gefolgsleuten erfolgreich nachgefragt und ausgeschöpft werden konnte. Diese Situation lässt sich, wie Peter Longerich zusammenfassend feststellt, „herrschaftstypologisch aus dem besonderen Spannungsfeld von charismatischer und bürokratischer Herrschaft erklären, in dem die Dienststelle angesiedelt war“.155 Das damit angesprochene generelle Problem des Verhältnisses von Person und Position in Herrschaftszusammenhängen ist auf den verschiedensten Stufen autokratischer Systeme von besonderer Bedeutung. Dabei stellt sich vor allem die Frage nach den tatsächlichen Persönlichkeitsanteilen der Herrschaftsposition oder, umgekehrt, nach den spezifischen Positionsanteilen persönlicher Machtentfaltungen. Mit anderen Worten, es wird das Problem der strukturellen Voraussetzungen von personalen Machtschöpfungen und Machtsteigerungen aufgeworfen. Wie werden objektive Strukturpotentiale, sozusagen latente Machtchancen, in subjektive Handlungsmotive der Positionsinhaber umgesetzt und damit individuell ausgestaltet? Das komplexe Verhältnis von Person und Position in organisierten Handlungszusammenhängen, von „Individualitätsdynamik“ und „Positionsdynamik“, wie Elias dies nennt, kann hier freilich nur abstrakt bestimmt werden. Wichtig ist vor allem, den Stellenwert des theoretischen Problems in unserem empirischen Forschungszusammenhang zu kennzeichnen. Unsere Analyse der Machtstellung des „Führer“-Sekretärs im autokratischen Zentrum des Dritten Reiches unterstützt die Annahme, dass spezifische Machtangebote, die in einer autokratischen Herrschaftsstruktur mit charismatischer Spitze und verwaltungsstaatlichem Unterbau gleichsam 155
Longerich 1992 (wie Anm. 8), S. 261 f.
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eingelassen sind, von benennbaren Personen als eine Art Strukturangebot aufgegriffen (Machtschöpfung) und unter bestimmten Voraussetzungen gesteigert werden können (Machterweiterung). Anstelle der Persönlichkeitsstrukturen, Intentionen und Handlungsfolgen gerät unter dieser Perspektive vor allem der Prozess der Individualisierung strukturangelegter Handlungschancen in den Vordergrund. Handlungsmotive von Positionsinhabern mit spezifischen Herrschaftsfunktionen werden strukturell geprägt, und somit sind Intentionspotentiale in den objektiven Strukturen sozialer Beziehungen, die sich zu Herrschaftsverhältnissen verdichtet haben, vorgebildet. Unter bestimmten Bedingungen können diese in subjektive Handlungsmotive umgesetzt, d. h. individualistisch aufgegriffen und gegebenenfalls gesteigert werden. Danach wären die individuellen Handlungen, Machtmotive und Akkumulationsintentionen primär als Struktureffekte je spezifischer Herrschaftszusammenhänge aufzufassen. Dieser Perspektive entspricht weitgehend ein Organisationsbegriff, der, wie es Charles Perrow an einer Stelle zugespitzt formuliert, auf der theoretischen Prämisse gründet, dass Organisationen „may be things that take on a life for their own organic entities or ‚natural systems‘ in their own right, going their own way and generating leaders who will follow that way“.156 Eine präzisere theoretische Bestätigung für den hier verallgemeinerten empirischen Befund findet man allerdings schon bei Max Weber, der mit seinem Begriff des „Verbandshandelns“ jenes Verhältnis von Person und Position zugleich strukturalistisch und handlungstheoretisch konzeptualisiert hat: „Verband soll eine nach außen regulierend beschränkte oder geschlossene soziale Beziehung dann heißen, wenn die Innehaltung ihrer Ordnung garantiert wird durch das eigens auf deren Durchführung eingestellte Verhalten bestimmter Menschen: eines Leiters und, eventuell, eines Verwaltungsstabes …“.157 Sieht man also ab von den Konstitutionsvoraussetzungen und der Genese komplexer Organisationen, so strukturiert demnach ein einmal existierender Verband soziale Beziehungen nach Maßgabe der Ausprägungen einer „spezifischen Art von Handeln“, eines Handelns nämlich, das „auf die Durchführung der Verbandsordnung eingestellt ist“.158 Hierbei handelt es sich freilich um einen Idealtypus, nicht um eine deskriptive Kategorie, in dem 156
Charles Perrow: Complex Organizations. A Critical Essay, New York 1986, S. 156. Weber 2005 (wie Anm. 23), S. 26 (Hervorhebung: M. B.). 158 Ebd. (Hervorhebung im Original). 157
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Sinne, dass hier eine Kongruenz von Person und Position in der Verbandsstruktur postuliert wird: „Die ‚Existenz‘ des Verbandes haftet ganz und gar (...) an dem Bestehen der Chance, dass ein Handeln angegebener Personen stattfindet, welches seinem Sinn nach die Ordnungen dieses Verbandes durchzuführen trachtet: dass also Personen vorhanden sind, die darauf ‚eingestellt‘ sind gegebenenfalls in jenem Sinn zu handeln“.159 Deutlicher noch konzipiert Weber den allgemeinen Begriff der Organisation als handlungstheoretisch fundierte Strukturkategorie von Herrschaftsverhältnissen, wenn er feststellt, dass „bei allen Herrschaftsformen (...) die Tatsache der Existenz des Verwaltungsstabes und seines kontinuierlichen auf Durchführung und Erzwingung der Ordnungen gerichtetes Handeln für die Fügsamkeit vital ist“, und hinzufügt: „Die Existenz dieses Handelns ist das, was man mit dem Wort ‚Organisation‘ meint“.160 Während Webers Idealtypus des Verbandshandelns von der prinzipiellen Deckungsgleichheit von Person und Position ausgeht, analysiert Georg Simmel das gleiche theoretische Problem unter dem entgegengesetzten Gesichtspunkt, nämlich der Nicht-Übereinstimmung von objektiven Positionsanforderungen bzw. -chancen und den tatsächlichen Handlungen der jeweiligen Positionsinhaber. Hierarchische, monokratische Herrschaftssysteme, mithin „Pyramiden der Über- und Unterordnung“, werden nach Simmel nämlich „stets an der prinzipiellen Schwierigkeit leiden, daß die irrationalen, fluktuierenden Beschaffenheiten der Personen sich mit den wie mit logischer Schärfe vorgezeichneten Umrissen der einzelnen Positionen niemals durchgehend decken werden“.161 Simmel, der eine allgemeine Typologie der Herrschaftsformen unter dem Gesichtspunkt ihrer sozialen Integrationsund Kohäsionskraft entwirft, sieht in dieser prinzipiellen Inkongruenz von Person und Position beim „Aufbau von sozialen Machtskalen“ ein strukturelles „Risiko“ hierarchisch-monokratischer Herrschaftsverbände.162 Eine kongruente Deckung von Persönlichkeitsstrukturen und Machtpositionen kann in der Realität nicht vorausgesetzt werden, sie bleibt im Grunde stets unwahrscheinlich: Zur „grundsätzlichen Inkommensurabilität zwischen der Schematik der Stellungen und den innerlich variablen, niemals in begrifflich festgelegte Formen genau passenden Wesen der Menschen (...), kommt 159
Ebd. Ebd., S. 154. 161 Simmel 1983 (wie Anm. 84), S. 120. 162 Ebd. 160
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noch die Schwierigkeit des Erkennens der für jede Position geeigneten Persönlichkeit (hinzu), und zwar insbesondere deshalb: ob jemand eine bestimmte Machtstellung verdient oder nicht, zeigt sich eben unzählige Male erst dann, wenn er in dieser Stellung ist.“163 Simmels Argument gründet der Sache nach also ebenfalls auf der Annahme, dass den „festgelegten Formen“ eines Herrschaftsaufbaus, in den Positionen der abgestuften Skalen, spezifische Handlungs- und Machtchancen inhärent sind, die von den Positionsinhabern günstigstenfalls, d. h. je nach sich bietender Gelegenheit, aufgegriffen werden. Wie für Weber hängt auch für Simmel die Kohärenz der Organisation in der Praxis von der Deckungsgleichheit von Persönlichkeitsstruktur und Machtposition ab. Wann und unter welchen Voraussetzungen eine solche Kongruenz sich tatsächlich verwirklicht, wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher ist, zeigt sich indessen nur im je konkreten empirischen Fall und ist im Grunde nur a posteriori zu erkennen. Im Falle Bormanns kann eine solche empirische Entsprechung nicht geleugnet werden. Bormann nutzte die strukturell gegebene Chance zur persönlichen Machterweiterung. Der Sachverhalt lässt sich zugespitzt auch so ausdrücken: Weder spezifisch bürokratische noch im engeren Sinn politische Positionen im Herrschaftsgefüge des Dritten Reiches wiesen ihm Machtanteile zu. Bormann transformierte vielmehr seine im Grunde kontingente räumlich-soziale Stellung im face-to-face-Bereich des „Führers“ in eine eigenständige, rechtsenthobene und verwaltungsunabhängige Machtposition. Das Zugangsprivileg erwies sich dabei als konstitutive Voraussetzung der interaktionistischen Machtsteigerung. Dieser Struktureffekt persönlich ergriffener Machtchance und Machtausnutzung wurde im Herrschaftszentrum des Dritten Reiches noch von zwei anderen Strukturmerkmalen der charismatischen Spitzenfiguration verstärkt. Zum einen von der grundsätzlichen Interpretationsbedürftigkeit der Führerentscheidungen und zum anderen von dem Zusammenschrumpfen der Kommunikations- und Kontaktstrukturen in der Situation des Führerhauptquartiers während des Krieges. Vieles spricht somit dafür, dass die Dynamik der Entstrukturierung und Entdifferenzierung des deutschen Regierungssystems im Gefolge der nationalsozialistischen Machtergreifung der Ausdruck eines historisch einzigartigen Prozesses der Charismatisierung eines bürokratischen Institutionenver163
Ebd.
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bandes ist. Die theoretische Annahme, dass charismatische Führerherrschaft in aller Regel, besonders aber unter der Voraussetzung ausdifferenzierter verwaltungsstaatlicher Strukturen, einem Prozess der Veralltäglichung unterliegt, konnte somit für den Fall des Dritten Reiches nicht bestätigt werden. Im folgenden Kapitel soll der Frage nachgegangen werden, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Konsequenzen sich die charismatische Führerdiktatur Mussolinis in Italien vollzog. Dabei interessiert uns wieder in erster Linie der Prozess der Umbildung der überkommenen Institutionenordnung des politisch-administrativen Systems unter besonderer Berücksichtigung der Eigenmacht der bürokratischen Elite.
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Charisma und Veralltäglichung im italienischen Regimefaschismus
I. In Italien gelangte die faschistische Partei im Jahre 1922 auf legalem Wege an die Staatsmacht, und im Rahmen der geltenden Staatsverfassung des Königreiches befestigte die Elite der faschistischen Bewegung in den darauffolgenden Jahren schrittweise ihr Regierungsmonopol. Diese Besonderheit veranlasste einen frühen Beobachter des faschistischen Regimes, den amerikanischen Politikwissenschaftler H. Arthur Steiner, zu der Feststellung, dass „a strange anomaly in authoritarian, antidemocratic Fascist Italy is the construction of a new System of government upon the foundation of the liberal, democratic Statuto granted by King Carlo Alberto on March 4, 1848. That Mussolini brought a Revolution to Italy in 1922 is unquestioned, either by himself or by his opponents, but in the technical sense, the ‚revolution‘ was ostensibly accomplished within the limits of the Constitution.”1 Erst nach fast drei Jahren regulärer und weitgehend verfassungskonformer Regierungsführung begann sich der Fascismo als Einparteiendiktatur zu etablieren, die dann nahezu zwei Jahrzehnte bestand. So unterstreicht auch der Rechtsgelehrte Piero Calamandrei in einer der ersten Nachkriegsanalysen des faschistischen Regimes den Tatbestand, dass „der Aufstieg des Faschismus zur Macht sich formal tatsächlich mit der skrupulösen Beachtung der traditionalen Normen zu vollenden schien: Beratungen, Regierungsauftrag durch den König auf Grundlage der Vorschläge der Parteiführer, Übereinkünfte zwischen den Gruppen zur Mehrheitsbildung, Regie-
1
H. Arthur Steiner: Government in Fascist Italy, Westport 1938, S. 56; vgl. Ernesto Ragionieri: La storia politica e sociale, in: Storia d’Italia, Bd. 4, Dall’unitá a oggi, Hlbbd. 3, Turin 1978, S. 1668-1705.
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rungskoalition, Vertrauensvotum – alles herkömmliche Rituale von Regierungskrisen in parlamentarischen Regimen.“2 Diese politische Voraussetzung der Regimegründung erwies sich als folgenreiche Rahmenbedingung für den späteren Strukturwandel des italienischen Staates. Die Bedeutung dieses Sachverhalts für die innere Dynamik der institutionellen Entwicklung im italienischen Faschismus wird durch die bekannten Begleitumstände der Machtübernahme, die Mussolini als Führer einer bewaffneten Kampforganisation sahen, die den gewaltsamen Umsturz der bestehenden politischen Ordnung androhte, keineswegs eingeschränkt. Weder die Mobilisierung der paramilitärischen Einheiten, der squadri d’azione, während des „Marsches auf Rom“ noch die drohende Rhetorik ihres Führers gestatten es, die Regierungsübernahme im Oktober des Jahres 1922 ohne Einschränkung als Staatsstreich oder gar als gewaltsamen Umsturz zu bezeichnen. Von einem wirklichen Bruch mit den liberalen und rechtsstaatlichen Verfassungstraditionen kann erst nach der Wende des Jahres 1925 und vor allem nach der Verabschiedung der einschneidenden Verfassungsänderungen der darauffolgenden Jahre gesprochen werden.3 Auf institutioneller Ebene vollzog sich der Übergang des liberaldemokratischen Regierungssystems in eine antidemokratische und antiliberale Einparteiendiktatur in erster Linie als Folge der schrittweisen Konzentration der wichtigsten Regierungs- und Legislativgewalten in der Position des Ersten Ministers. In der Konsolidierungsphase des faschistischen Regimes, die etwa den Zeitraum zwischen 1925 bis 1929 umfasste, monopolisierte der Führer des Faschismus und „Erste Minister, Sekretär des Staates und Regierungschef“,4 Benito Mussolini, nahezu alle Exekutivprärogative, übernahm bestimmte, zuvor ausschließlich dem Parlament oder dem Ministerrat vorbehaltene Gesetzgebungskompetenzen, unterdrückte die organisierte politische Opposition und die regierungskritische Presse. Als eines der herausragenden Merkmale der Transformation des alten liberaldemokratischen Sys2
Piero Calamandrei: La funzione parlamentare sotto il fascismo (1948), in: Alberto Aquarone/Mauriozio Vernassa (Hrsg.): Il regime fascista, Bologna 1974, S. 62. Sämtliche italienischen Zitate wurden vom Verfasser ins Deutsche übersetzt. 3 Vgl. statt vieler Renzo De Felice: Mussolini il fascista, Bd. II, L’organizzazione dello Stato fascista. 1925-1929, Turin 1968, S. 297 ff. und Giorgio Candeloro: Storia dell’Italia moderna, Bd. 9, Il fascismo e le sue guerre, Mailand 1986, S. 124 ff. 4 So lautete der Amtstitel Mussolinis vor der offiziellen Einführung der Bezeichnung Duce, die erst 1932 erfolgte; vgl. Alberto Aquarone: L’organizzazione dello stato totalitario, Turin 1965, S. 187.
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tems nach Mussolinis Übernahme der Staatsmacht erwies sich, dass in der Praxis „der gesamte graduelle Prozeß der Zerstörung des liberalen Regimes und der Konstruktion des totalitären Staates (...) von der zunehmenden und konstanten Konzentration der Macht Mussolinis“ bestimmt wurde.5 Spätestens seit Beginn der dreißiger Jahre hing allem Anschein nach das politische Schicksal Italiens von tatsächlich einer einzigen Person, dem Duce, ab, dessen Machtfülle derjenigen eines absoluten Fürsten gleichkam und dessen Entscheidungen scheinbar von keiner übergeordneten Instanz mehr effektiv kontrolliert oder revidiert werden konnten. Obschon mit der Übergabe der Regierungsgewalt an den charismatischen Führer der faschistischen Bewegung der Grundkonsens des demokratischen Regierungssystems somit folgenreich durchbrochen, die „Funktion und Seele der parlamentarischen Institutionen“6 nachhaltig kompromittiert wurden, erwies sich allerdings der strikte und keineswegs nur formale Legalismus von Mussolinis Regierungspraxis, besonders in der Phase der Regimekonsolidierung, aber auch bei der späteren Verfassungs- und Verwaltungspolitik, von grundlegender Bedeutung. Die soziologische Analyse des Prozesses, der Mussolinis Machtappropriation begleitete, sowie der strukturellen Transformationen des staatlichen Herrschaftssystems kann diese spezifischen politischen Konstitutionsvoraussetzungen der institutionellen Dynamik des Regimes nicht unberücksichtigt lassen. Sie ist in Max Webers Kategorien als ein Prozess der Veralltäglichung des Charisma analysierbar. Dabei wird deutlich, dass sich die Veralltäglichung der faschistischen Herrschaftsbeziehungen in der Praxis als ein doppelter Prozess vollzog: als „Durchstaatlichung“ bestimmter Bereiche der Gesellschaft einerseits, zugleich aber auch als „Verstaatlichung“ der revolutionären Bewegung andererseits. Der erste Prozess verwirklichte sich, allgemein gesprochen, vornehmlich als Folge einer beträchtlichen Erweiterung des sozialen Wirkungsfeldes des Staates und eines planmäßigen Ausbaus strikt staatsabhängiger Massenorganisationen, von der Jugendorganisation in der Opera Nazionale Balilla über die staatliche Freizeitorganisation, die Opera Nazionale del Dopolavoro, bis hin zur „Verstaatlichung“ der Wirtschaftsverbände sowie der Lohnarbeiter- und Angestelltengewerkschaften im Rahmen des Stato corporativo. Die Massenorganisationen und sonstigen Verbände des Partito Nazi5
Emilio Gentile: Partito, stato e duce nella mitologia e nell’organizzazione del fascismo, in: Karl Dietrich Bracher/Leo Valiani (Hrsg.): Fascismo e nazionalismo, Bologna 1986, S. 289. 6 Calamandrei 1948 (wie Anm. 2), S. 61.
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onale Fascista (PNF)7 wie auch die vor allem unter verwaltungspraktischen Gesichtspunkten wenig erfolgreiche wirtschaftskorporative Organisationspolitik können hier nur am Rande berücksichtigt werden.8 Es sei nur erwähnt, dass dieser Versuch der staatlichen Durchdringung der italienischen Zivilgesellschaft durch eine systematische Nutzung von staatlichen Organisationsressourcen auf allen Ebenen begleitet und unterstützt wurde. Besonders durch den Ausbau streng hierarchischer Befehlstrukturen sowie zentripetaler Kontrollmechanismen in zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie auf lebensweltlicher Ebene sollte eine technisch effizientere Verwirklichung der Herrschaftsansprüche des politischen Zentrums gewährleistet, der Bewegung in den späteren Jahren ein plebiszitärer Massenkonsens gesichert und die gesamte Staatsmaschine von oben gesteuert werden. Deutlicher noch vielleicht als in der Praxis der Massenmobilisierung großen Stils und der allgemeinen „Militarisierung der Politik“,9 verwirklichte sich insbesondere in der konsequenten Durchsetzung der Prinzipien der zweckrationalen Organisation und der hierarchischen Ordnung in Staat, Partei und
7
Vgl. Wolfgang Schieder: Faschistische Diktaturen. Studien zu Italien und Deutschland, 2008, S. 73 ff. 8 Bei der anhaltenden Kontroverse um das historische Experiment des faschistischen Korporationenstaates sollte nicht übersehen werden, dass unter Historikern in einer grundlegenden Frage weitgehend Übereinstimmung besteht: In der Praxis, d. h. unter institutionellen Gesichtspunkten, gilt der autoritär-etatistische Korporatismus faschistischer Prägung letztlich als gescheitert. In einer richtungweisenden Studie gelangt der Verwaltungshistoriker Sabino Cassese zu dem Schluss, dass „die korporativen Organe aufgrund ihrer internen Struktur und der Kontrollsysteme, denen sie unterworfen waren, sich als inadäquat erwiesen haben, um eine von den Wirtschaftssubjekten selbst realisierte und von diesen geführte ‚Wirtschaftslenkung‘ ins Leben zu rufen. In einem Wort: Die sogenannte ‚Selbstverwaltung der Branchen‘ (...) wurde nicht verwirklicht, der homo corporativus, die korporative Wirtschaft, der korporative Staat und alle anderen lächerlichen Formeln, blieben, trotz lebhaftester Diskussionen und gut zwanzigjähriger umfassender Studien, letztlich Makulatur“ (Sabino Cassese: Corporazioni e intervento pubblico nell’economia, in: ders: La formazione dello stato amministrativo, Mailand 1974, S. 106). Zur Diskussion über das faschistische Korporationensystem vgl. Michele Luminati: Die Wiederentdeckung des Corporativismo. Die neuere italienische Faschismusforschung und der Corporativismo, in: Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte, Jg. 9, 3/4, 1987, S. 184-208; Ilse Staff: Der faschistische Korporativstaat und die ihn bestimmenden Ideologien, in: Aldo Mazzacane u.a. (Hrsg.): Korporativismus in den südeuropäischen Diktaturen, Frankfurt 2005, S. 91-127. 9 Gentile 1986 (wie Anm. 5), S. 272.
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wirtschaftlichen wie beruflichen Interessenverbänden der extreme etatistische Autoritarismus des neuen Regimes.10 Die zweite oben erwähnte Dimension der Umbildung der faschistischen Mobilisierungspotentiale in beständigere Herrschaftsstrukturen realisierte sich demgegenüber vornehmlich als Folge einer rigorosen Politik der bürokratischen Zentralisierung der staatlichen Gewalten. Dabei wurden nahezu sämtliche partikulare, außerstaatliche Machtpositionen und Stabsorganisationen faktisch liquidiert. Auch im Parteiapparat des PNF setzte sich eine ausgeprägte Tendenz zur Bürokratisierung im Sinne Max Webers durch. Die mit diesem Phänomen der „Verstaatlichung“ verbundene institutionelle Entwicklungsdynamik steht im Mittelpunkt der nachstehenden Analyse. Vor der Folie der im vorangegangenen Kapitel erörterten Herrschaftsstrukturen des Dritten Reiches betrachten wir nunmehr die Spitzenorganisation des faschistischen Regimes unter analogen analytischen Gesichtspunkten, mithin unter der Perspektive der institutionellen Veralltäglichungsdynamik des Charisma in der Phase nach der Machtübernahme. Während im Dritten Reich von einer Konsolidierung des autokratischen Herrschaftssystems, von einer Umbildung der charismatischen in eine routinisierte Herrschaft im Grunde nicht gesprochen werden konnte, ist für den italienischen Faschismus vom Gegenteil auszugehen. Spätestens nach dem Plebiszit des Jahres 1929 konnte sich das faschistische Regime als ein institutionell weitgehend etabliertes und in sich relativ gefestigtes politisches Regime mit ausgeprägt bürokratischen Zügen etablieren.11 Da insbesondere in der Spitzenfiguration des Regierungssystems die Spannungen zwischen liberalen und rechtsstaatlichen Traditionsbeständen einerseits und den autokratischen Führungsansprüchen wie Personalisierungstendenzen andererseits am deutlichsten zum Ausdruck gelangten, richten wir die Aufmerksamkeit primär auf diese Konstellation. Dabei konzentrieren wir uns zuerst auf die Prozesse, welche die Durchsetzung des monokratischen Prinzips, mit denen sich im faschistischen Regime die genuin charismatische Regierungspraxis als routinisierte Einherrschaft konsolidierte, beleuchten helfen. Unter dem Gesichtspunkt der damit verknüpften 10
Emilio Gentile spricht in diesem Zusammenhang von einer spezifisch faschistischen „Kultur der Organisation“: Emilio Gentile: Il mito dello stato nuovo dall’antigiolittismo al fascismo, Bari 1982, S. 14. 11 Vgl. vor allem Renzo De Felice: Mussolini il Duce, II. Lo stato totalitario. 1936-1940, Turin 1981, S. 3 ff.
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organisatorischen Struktureffekte im verwaltungsstaatlichen Unterbau des neuen Herrschaftsgebäudes beschäftigen wir uns sodann mit der Frage nach den tatsächlichen Durchsetzungschancen und Handlungsspielräumen des Diktators im politisch-administrativen System. Dabei machen wir uns eine Erkenntnis der vorangegangenen Kapitel zunutze: Wir gehen von der Annahme aus, dass die revolutionäre Durchbrechung konventioneller Regierungspraktiken die autokratischen Verwirklichungsmöglichkeiten des Selbstherrschers zwar erweitert, sich zugleich aber mit der institutionellen Versachlichung der charismatischen Autoritätsbeziehungen neue Routinestrukturen, sei es quasi-patrimonialer, ständischer oder bürokratischer Natur, herausbilden. Unter dieser Voraussetzung muss dann auch nach den institutionellen Restriktionen der veralltäglichten Diktatur gefragt werden. Dabei ist zu beachten, dass „die objektive Notwendigkeit der Anpassung der Ordnungen und der Verwaltungsstäbe an die normalen Alltagserfordernisse und -bedingungen der Verwaltung“, die Max Weber zu den wichtigsten „treibenden Motiven der Veralltäglichung des Charisma“ zählt,12 sich in der Regel als ein äußerst konfliktreicher Prozess erweist. Unter modernen verwaltungsstaatlichen Bedingungen akzentuieren sich diese Konflikte vor allem in den Binnenstrukturen der bürokratischen Apparate. Für die politischen Führungseliten und Kader der charismatischen Revolutionsstäbe stellt sich grundsätzlich das Problem der politischen Kontrolle der regulären bürokratischen Stäbe. Der damit entstehende Machtkonflikt zwischen den bürokratischen Alltagsmächten und den revolutionären Kräften erwies sich auch im italienischen Faschismus als ein Grundkonflikt des Veralltäglichungsprozesses. Über die politische Hegemonie und die tatsächlichen Durchsetzungschancen des politischen Führungsanspruches der neuen Machteliten entschied letztlich, so lautet unsere zentrale Hypothese, die Eigendynamik dieses institutionellen Machtkonfliktes. Wir analysieren deshalb die organisatorischen Voraussetzungen und politischen Konsequenzen der von faschistischen Parteikräften in den ersten Jahren nach der Regierungsübernahme erprobten Strategien der politischen Verwaltungskontrolle und insbesondere die Ziele und Erfolge der faschistischen Bürokratiereformen. Der „Übergang von den charismatischen Verwaltungsstäben und Verwaltungsprinzipien zu den alltäglichen“13 verwirklicht sich Webers Theorie 12 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. 5. revidierte Auflage, Tübingen 1976, S. 147. 13 Ebd., S. 128.
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zufolge durch die Herausbildung von kombinierten Herrschaftsgebilden, was entweder eine „Dilettantisierung der Verwaltung“ zur Folge hat oder sich als Prozess der „Bürokratisierung“ der charismatischen Verwaltungsorganisation verwirklicht.14 Selbst für den Königsweg der Bürokratisierung gilt jedoch, dass sich „die Veralltäglichung (...) in der Regel nicht kampflos (vollzieht). Unvergeßlich sind anfänglich die persönlichen Anforderungen an das Charisma des Herrn, und der Kampf des Amts- oder Erb- mit dem persönlichen Charisma ist ein in der Geschichte typischer Vorgang.“15 Im Verlauf nachrevolutionärer Veralltäglichungskrisen verschärfen sich indessen nicht nur die Konflikte zwischen der etablierten Bürokratie und den revolutionären Stabsorganisationen. Es radikalisieren sich zudem Strukturkonflikte in den Organisationszusammenhängen der charismatischen Bewegung selbst, etwa zwischen politischem Zentrum und Peripherie oder unterschiedlichen Elitefraktionen. Im letzten Teil dieses Kapitels untersuchen wir deshalb die zentralen Ausprägungen der spannungsreichen Auseinandersetzungen zwischen den dezentralen charismatischen Führungs- und Gefolgschaftsfigurationen der faschistischen Bewegung in den italienischen Provinzen auf der einen und dem zentralisierten Regime auf der anderen Seite. Der Ausgang dieser Kämpfe, mithin die Bewältigung des Problems der zentrifugalen Partikulargewalten und die Rolle der verwaltungsexternen Stabsorganisationen, erwies sich am Ende als ausschlaggebend für die strukturelle Beständigkeit. Er war aber auch für die institutionelle Machtverteilung der sich im italienischen Faschismus etablierenden spezifischen Mischorganisation einer charismatisch legitimierten Personaldiktatur mit starken bürokratischen Verwaltungsstäben verantwortlich.
II. Nach der faktischen Entmachtung des Parlaments und der mit polizeistaatlichen Maßnahmen durchgesetzten Kriminalisierung der organisierten politischen Opposition war die Verwirklichung der autokratischen Souveränitätsansprüche des Regierungschefs, dessen Selbstbehauptung als Herr über die staatliche Exekutive, von einer spezifischen institutionellen Figuration be14 15
Ebd. Ebd., S. 146.
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stimmt. Sieht man ab von den Organen der Rechtsprechung und Finanzkontrolle, so setzte sich der oberste Ring der Machtspitze aus der Krone, dem königlichen Militär, dem Regierungskabinett und den Spitzen der Ministerialverwaltungen zusammen. Zudem wurde der Entscheidungs- und Handlungsspielraum des Diktators auf dieser Ebene von den Einflusschancen und Machtpotentialen des PNF begrenzt. Die Verwirklichung des diktatorischen Regierungsmonopols hing somit in erster Linie von der zunehmenden Erweiterung der exekutiven sowie legislativen Prärogative des Regierungschefs und einer Verselbständigung gegenüber dem Kabinett und den Verwaltungsspitzen der Ministerien ab. Das in der Kampfzeit der faschistischen Bewegung erfolgreich erprobte charismatische Führungsprinzip, das Mussolinis bahnbrechenden Machtaufstieg zu Beginn der zwanziger Jahre ermöglichte und der Massenmobilisierung der faschistischen Bewegung ihre revolutionäre Dynamik verlieh, konnte freilich nicht ohne weiteres auf die Staatsführung übertragen werden. In den Reihen seiner Parteigänger und engeren Gefolgschaft legitimierte Mussolinis Charisma gewiss dessen Selbstberufung zum „Retter der Nation“ und später auch den epochemachenden „Führer-Mythos“.16 Außerhalb der engeren faschistischen Gefolgschaft, in der politischen Öffentlichkeit, insbesondere aber unter denjenigen Konservativen und Monarchisten, die den „autoritären Kompromiß“ (Burrin) mit dem Faschismus trugen, den sog. fiancheggiatori, reduzierte sich der Charismaeffekt ohnedies primär auf die ungewöhnliche Popularität, die Mussolini genoss, bestenfalls noch auf überzogene Erwartungen hinsichtlich seines weitgehend unbestrittenen „politi16 Vgl. Philippe Burrin: Politique et société: Les structures du pouvoir dans l’Italie fasciste et l’allemagne nazie, in: Annales ESC, Mai-Juni 1988, Nr.3, S. 615-637; August Bernhard Hasler: Das Duce-Bild in der faschistischen Literatur, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken, Bd. 60, 1980, S. 420-506; Jens Petersen: Mussolini. Wirklichkeit und Mythos eines Diktators, in: Karl H. Bohrer: Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion, Frankfurt 1983, S. 242-260; Piero Melograni: The Cult of the Duce in Mussolini’s Italy, in: Journal of Contemporary History, Bd. 11,4, 1976, S. 221-237; Renzo De Felice: Mussolini il fascista, I, Gli anni del consenso, Turin 1974, S. 460-475; De Felice 1968 (wie Anm. 3), S. 71 ff.; Emilio Gentile: Fascism in Italian Historiography: In Search of an Individual Historical Identity, in: Journal of Contemporary History, Bd. 21, 1986, S. 179-208. Für unsere Problemstellung ist irrelevant, ob Mussolinis Persönlichkeitsstruktur einer „wirklichen Führernatur“ entsprach, was De Felice beispielsweise nachdrücklich verneint, denn „über die Geltung des Charisma“, schreibt Max Weber, „entscheidet die durch Bewährung (...) gesicherte freie, aus Hingabe an Offenbarung, Heldenverehrung, Vertrauen zum Führer geborene, Anerkennung durch die Beherrschten.“ (Weber 1976 [wie Anm. 12], S. 140.
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schen Genies“. Obschon diese Kräfte keine positive und gewiss keine definitive Wendung der sozialen und politischen Krisensituation, in der sich Italien nach Ende des Weltkrieges befand, erhofften, so versprachen Mussolinis Fähigkeiten zur Mobilisierung eines breiten Massenkonsenses und sein außeralltäglicher „politischer Instinkt“, den er beim Machtaufstieg bewiesen hatte, zumindest die Verhütung des Schlimmsten: die Verhinderung einer proletarischen Insurrektion.17 Mit Mussolinis Übernahme der Regierungsverantwortung konnte eine Umbildung der Autoritätsbeziehungen an der Staatsspitze nicht ausbleiben; die Regierungskonventionen, die Entscheidungsstrukturen in Kabinett und Ministerien, die geltende Verfassungsordnung sowie die grundsätzliche Rechtsbindung des Regierungshandelns, besonders in Verwaltungsangelegenheiten, gestatteten keine ungebrochene Fortsetzung der in der Kampfzeit bewährten charismatischen Führungspraktiken. Mussolini konnte in den ersten Jahren des Regimes weder von der leitenden Beamtenschaft und noch weniger von den Ressortleitern bedingungslosen Gehorsam und persönliche Loyalität erwarten. Selbst nachdem die organisierte demokratische Opposition entmachtet und die parlamentarische Regierungskontrolle stark eingeschränkt worden war, ließ sich das Regieren nicht auf reine Willkür oder auf eine „aktuelle Rechtsschöpfung“ durch die charismatische Führergewalt reduzieren.18 Unter der Voraussetzung der unangetastet gebliebenen überstaatlichen Souveränitätsprärogative der Krone und unter den besonderen politischen Bedingungen der bereits erwähnten informellen Allianzverpflichtungen der faschistischen Regierung gegenüber den konservativen Kräften, waren nicht nur der Verwirklichung eines „revolutionären“ Regierungsprogramms zunächst engste Grenzen gesetzt. Angesichts der bestehenden Verwaltungsstrukturen des Regierungssystems konnte es darüber hinaus auch nicht ausbleiben, dass viele charismatische Qualitäten und selbstherrliche Führungsanmaßungen des faschistischen Regierungschefs in der alltäglichen Regierungspraxis transformiert und somit gleichsam gebrochen wurden. 17 Vgl. dazu De Felice 1968 (wie Anm. 3), Kap. I. Zur historischen Ausgangssituation vgl. auch zusammenfassend Schieder 2008 (wie Anm. 7), S. 353 ff. und 377 ff. 18 Als „aktuelle Rechtsschöpfung“ bezeichnet Max Weber (1976 [wie Anm. 12], S. 141) die spezifische charismatische Rechtssetzung „kraft Offenbarung, Orakel, Eingebung oder: kraft konkretem Gestaltungswillen, der von der Glaubens-, Wehr-, Partei- oder anderer Gemeinschaft um seiner Herkunft willen anerkannt wird.“
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In der Tat bremsten vor allem die überkommenen Organisations- und Verfahrensstrukturen der wichtigsten Regierungsorgane die spontane, Konventionen durchbrechende Durchsetzungskraft des Charisma. Die Prozesse der Versachlichung der charismatischen Regierungsführung lassen sich anhand der nach der Machtübernahme durchgesetzten Neubestimmung der Zuständigkeiten und Prärogative des Regierungschefs nachvollziehen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich, im Unterschied zu der weitgehend informellen, irregulären und völlig arbiträren Regierungspraxis Hitlers, Mussolinis Machtentfaltung durch eine strikte Respektierung von formalen Rechtsprozeduren auszeichnete. Der Übergang zur Diktatur im italienischen Faschismus kann deshalb in einem ersten Schritt durch die Analyse der einschlägigen Gesetzesbestimmungen rekonstruiert werden. In der ersten Phase nach der Regierungsübernahme wurde die originäre Führergewalt Mussolinis zunächst durch den formalen Status- und Kompetenzrahmen, der der Regierungsgewalt des Ersten Ministers auferlegt war, begrenzt. Die Entscheidungskompetenzen des Kabinettsvorsitzenden und die damit verbundenen Statuschancen waren erheblich beschränkt durch das konventionelle Regierungsmonopol des Kabinetts, mithin eines kollegialen Gremiums von selbstverantwortlichen Ressortleitern. Es war übliche Regierungspraxis und auch staatsrechtlich geregelt, dass sämtliche politische Vorhaben der Regierung und alle Fragen der Hohen Verwaltung, wie auch die zur Erfüllung ihrer Aufgaben geplanten Maßnahmen, ausnahmslos dem Rat der Minister zur Entscheidung unterbreitet werden mussten.19 Zwar hatten die einzelnen Ressortchefs die Pflicht, dem Kabinettsvorsitzenden die Abschrift jener Ministerialerlasse zur Kenntnis zu bringen, die sie dem König zur letztinstanzlichen Unterschrift vorzulegen beabsichtigten. Im Falle von Meinungsverschiedenheiten konnte der Regierungschef jedoch lediglich die Suspendierung des Verfahrens erwirken, dies aber auch nur zum Zwecke einer Neuvorlage der in Frage stehenden Erlasse im Rat der Minister. Darüber hinaus waren die einzelnen Ressortminister verpflichtet, dem Premierminister sämtliche verwaltungsinterne Rundschreiben, Veröffentlichungen und Berichte vorzulegen, welche die Richtlinien der Regierungspolitik betrafen. Es war jedoch weder im Gesetz vorgesehen noch Gepflogenheit, da die einzelnen Ministerentscheidungen der Zustimmung des Regierungschefs 19 Vincenzo Corsini: La presidenza del Consiglio dei Ministri, Mailand 1935, S. 27 ff.; vgl. insbesondere die königlichen Erlasse vom 27. März 1867, Nr. 3629, vom 25. August 1876, Nr. 3289 und vom 14. November 1901, Nr. 466 (ebd., S. 27).
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bedurften, um Gesetzeskraft zu erlangen. Angesichts dieser restriktiven Entscheidungsbefugnisse stellt sich dann die Frage, welche Regierungskompetenzen und Einflussmöglichkeiten der Erste Minister im Regierungssystem des italienischen Königreichs in der Praxis besaß. Für den Bereich der Gesetzgebung gehörte zu seinen wichtigsten Kompetenzen vor allem die Möglichkeit, dem Parlament Gesetzesentwürfe zu unterbreiten, dies aber nur, soweit sie Angelegenheiten der allgemeinen Staatsverwaltung betrafen. Die eigentlichen Regierungskompetenzen gegenüber dem Ministerkollektiv beschränkten sich im Wesentlichen auf die Einberufung der Kabinettssitzungen, auf die Diskussionsleitung sowie auf die Verwahrung des Registers, in dem die Regierungsentscheidungen verzeichnet wurden. Außerdem besaß der Vorsitzende lediglich noch eine Art minimaler Richtlinienkompetenz, die es ihm gestattete, die Ministerien schriftlich von seinen Entscheidungspräferenzen in gewissen Fragen zu unterrichten und gegebenenfalls die entsprechende Ressortverantwortung unter den Ministerkollegen zu verteilen. Das einzig wirkungsvolle Einflussinstrument, welches mit dieser Position verbunden war, erschöpfte sich somit in der Tagesordnungskompetenz. Lediglich durch das Privileg des Regierungschefs, die Tagesordnung als ganze festzulegen und über die Prioritätenfolge der im Einzelnen zu behandelnden Punkte vorab zu entscheiden, besaß er eine gewisse Einflusschance, insofern er darüber hinaus die Möglichkeit hatte, Maßnahmen, die ein Minister in seinem Kompetenzbereich zu veranlassen beabsichtigte, im Konfliktfalle zu vertagen und damit faktisch den Entscheidungsprozess zu verzögern.20 Die politische und rechtliche Stellung des Regierungschefs in der Zeit vor den Verfassungsänderungen der faschistischen Regierung entsprach somit weitgehend, wie der italienische Staatsrechtler Silvio Trentin hervorhob, den Regierungsgepflogenheiten einer klassischen Kabinettsregierung im parlamentarischen System: „Auf Grundlage dieses Systems fand die Regierung eine solide Vertretung in der Kabinettsrunde, womit sie entsprechend der stets gebotenen politischen Übereinstimmung und der gegebenen Statusgleichheit ihrer Mitglieder eine organische Einheit im engeren Sinne bildete. Das Kabinett war gehalten, seine Aufgaben nach Maßgabe der Be20
Vgl. dazu Corsini 1935 (wie Anm.19), S. 27 ff.; Silvio Trentin: Dallo Statuto Albertino al regime fascista, hrsgg. v. Alessandro Pizzorusso, Venedig 1983 (franz. Erstausgabe 1929), S. 43 ff.; Walter Brechler: Die rechtliche Stellung des italienischen Regierungschefs, Zürich 1949.
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schlüsse des Parlaments zu verfolgen, dem gegenüber es sowohl für die eigenen Entscheidungen wie für diejenigen der Krone ständig verantwortlich war.“21 Die überkommenen Regierungspraktiken sowie die Rechtslage hinsichtlich Aufgaben und Prärogative des Regierungschefs schnürten Mussolinis Bestrebungen zur Selbstbehauptung und zur Verwirklichung des charismatischen Führerprinzips im wichtigsten Organ der Staatsführung somit gleichsam in ein ziemlich enges institutionelles Korsett. Die festgelegten Kompetenzen des Ministerpräsidenten gestatteten selbst keine Durchsetzung eines autoritären Führungsstils im Kabinett; sie eröffneten keinen persönlichen Willkürraum. Über die Entscheidungsprärogative der Staatsführung und über die Koordinationsgewalt der Exekutive verfügte ausschließlich das Ministerkollegium als oberstes kollektives Organ der Beschlussfassung. Dessen Mitglieder wurden zudem formal vom König ernannt und waren grundsätzlich dem Parlament gegenüber verantwortlich. Die Aufhebung des Kollegialitätsprinzips sowie die damit verbundene Durchsetzung des monokratischen Prinzips in Regierungs- und Staatsführung verwirklichten Mussolini und seine engsten Gefolgsleute, worunter der 1925 in die Regierung berufene und langjährige Justizminister Alfredo Rocco eine herausragende Rolle spielte, in erster Linie mittels legaler Verfassungsreformen. Praktisch vollzog sich die Transformation des liberaldemokratischen Rechtsstaates in eine monokratische Führerdiktatur auf dieser institutionellen Ebene durch die Konzentration der Koordinationsgewalt sowie der Maßnahmekompetenz in der Position des Regierungschefs, schließlich durch die fortgesetzten Bemühungen um die Verwirklichung einer effektiven Verwaltungskontrolle durch die politische Führung. Mit anderen Worten: Erst durch die Verlagerung des faktischen Regierungsmonopols vom kollegialen Beratungs- und Entscheidungsgremium auf den Regierungschef, den Ersten Minister Sekretär des Staates (Capo del Governo Primo Ministro Segretario di Stato), vollzog sich an der Spitze des Herrschaftssystems die Konsolidierung der faschistischen Einherrschaft.
21
Trentin 1983 (wie Anm. 20), S. 195.
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III. Betrachten wir zuerst den Prozess der Kompetenzerweiterung hinsichtlich der politisch-administrativen Koordinationsgewalt. Dabei kann von den weitgehend bekannten politischen Voraussetzungen und den veränderten gesellschaftlichen Machtverhältnissen des sogenannten Staatsstreichs vom Januar 1925 im Gefolge der Matteotti-Krise abgesehen werden, und auch die staatstheoretischen Leitideen sowie juristischen Doktrinen, welche die faschistischen Verfassungsreformen der Jahre 1925 und 1926 begründeten und rechtfertigten, können hier vorerst unberücksichtigt bleiben.22 Die entscheidenden Verfassungseingriffe der faschistischen Regierung bestanden im Wesentlichen aus vier Gesetzen, den leggi fascistissime, die allesamt von dem prominenten Rechtsgelehrten und faschistischen Justizminister Alfredo Rocco gleichsam wie aus einem Guss konzipiert und ausgearbeitet wurden:23 dem „Gesetz über die Vollmachten und Prärogative des Regierungschefs“ vom 24. Dezember 1925, dem „Gesetz über die Vollmachten der Exekutive, Rechtsnormen zu erlassen“ vom 21. Januar 1926, dem „Gesetz über die Reformen der Lokalverwaltung“ vom 4. Februar 1926 sowie schließlich dem „Gesetz zur Verteidigung des Staates“ vom 25. November desselben Jahres.24 Mit dem zuletzt genannten Gesetz wurden im Wesentlichen die polizeilichen Repressionsmaßnahmen gegenüber regimefeindlichen Organisationen, Verbänden und Aktivitäten sanktioniert, die Staatsbürgerschaftsrechte der politischen Emigranten aufgehoben, die Todesstrafe unter anderem für Attentate gegen den Regierungschef oder die königliche Familie eingeführt. Außerdem wurde damit eine politische Sondergerichtsbarkeit, das „Sonder-
22 Vgl. dazu im Detail De Felice 1974 (wie Anm. 16), S. 619 ff.; ders. 1968 (wie Anm. 3), Kap. I., S. 3 ff.; Aquarone 1965 (wie Anm. 4), S. 47 ff.; Candeloro 1986 (wie Anm. 3), S. 90 ff. 23 Vgl. Alfredo Rocco: Scritti e discorsi politici, 3 Bde., Mailand 1938; Nazzareno Mezzetti: Alfredo Rocco nella dottrina e nel diritto della rivoluzione fascista, Rom 1930; Paolo Ungari: Alfredo Rocco e l’ideologia giuridica del Rocco fascismo, Brescia 1963; Emilio Gentile: Alfredo Rocco, in: Ferdinando Cordova (Hrsg.): Uomini e volti del fascismo, Rom 1980, S. 305 ff.; Saverio Battente: Alfredo Rocco. Dal nazionalismo al fascismo 1907-1935, Mailand 2005; D’Alfonso Rocco: Costruire lo stato forte. Politica, diritto e economia, in: Alfredo Rocco, Mailand 2005. 24 Vgl. Aquarone 1965 (wie Anm. 4), S. 395 ff., 399 ff., 412 ff. bzw. 421 ff.; Corsini 1935 (wie Anm. 19)
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gericht zur Verteidigung des Staates“, ins Leben gerufen.25 Da diese Gesetzesmaßnahme die Binnenstrukturen des Regierungszentrums nicht direkt veränderte, kann eine ausführlichere Erörterung dieses Verfassungsgesetzes hier unterbleiben. Auch das „Gesetz zur Reform der Lokalverwaltung“ kann zunächst unberücksichtigt bleiben. Von grundlegender Bedeutung für die neue Regierungsstruktur erwies sich dagegen das erste Verfassungsgesetz der faschistischen Regierung, das „Gesetz über die Kompetenzen und Prärogative des Regierungschefs“.26 Damit wurde in erster Linie die Stellung des Regierungschefs a) gegenüber der Krone, b) vis-à-vis dem Ministerrat und c) im Rahmen des parlamentarischen Systems völlig neu definiert. Zunächst wurde im Gesetzestext festgestellt, dass dem „Ersten Minister und Regierungschef durch Berufung seitens des Königs Würde und Amt verliehen wird“, was noch der alten Verfassung entsprach. Hinzu kam jedoch die Formulierung, dass der Regierungschef nunmehr ausschließlich der Krone gegenüber verantwortlich war, was ihn implizit von seiner bisherigen Verantwortlichkeit gegenüber dem Parlament enthob: „Der Regierungschef, Erste Minister und Staatssekretär (...) ist in Fragen der allgemeinen politischen Richtlinien der Regierung dem König gegenüber verantwortlich.“27 Auch die Ministerernennungen, obzwar auf Vorschlag des Regierungschefs, blieben nach wie vor der Krone vorbehalten, mit der folgenreichen Änderung jedoch, dass die Ressortchefs nicht mehr nur dem König und dem Parlament gegenüber verantwortlich waren, sondern außerdem auch vom Regierungschef zur Verantwortung gezogen werden konnten: „Sie sind gegenüber dem König sowie dem Regierungschef verantwortlich für alle Entscheidungen und Maßnahmen ihrer Ministerien.“28 Außerdem wird im Art. 3 des Gesetzes festgelegt, dass es der Erste Minister sein wird, der „die Arbeit der Minister führt und koordiniert, Meinungsverschiedenheiten, die zwischen ihnen entstehen könnten, schlichtet, den Ministerrat einberuft sowie den Vorsitz übernimmt.“29 Darüber hinaus blieb es auch grundsätzlich im Ermessen des Regierungschefs, eventuell die Leitung eines oder mehrerer Ministerien selbst zu übernehmen und gegebe25 Vgl. u. a. Trentin 1983 (wie Anm. 20), S. 283 ff.; Aquarone 1965 (wie Anm. 4), S. 101 ff; De Felice 1968 (wie Anm. 3), S. 139 ff.; Candeloro 1986 (wie Anm. 3), S. 125. 26 Im Wortlaut abgedruckt bei Aquarone 1965 (wie Anm. 4), S. 395 f. 27 Art. 2, Abs. 1, ebd., S. 395. 28 Art. 2, Abs. 3, ebd. 29 Ebd.
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nenfalls per Dekret die entsprechenden Ministervollmachten an Staatssekretäre zu delegieren (Art. 4). Schließlich wird das bisherige Tagesordnungsmonopol des Ministerpräsidenten auch auf die Parlamentsversammlungen übertragen: „Kein Verhandlungsgegenstand darf ohne Zustimmung des Regierungschefs auf die Tagesordnung einer der beiden Kammern gesetzt werden.“30
IV. Vergegenwärtigt man sich die zuvor geltende Rechtslage hinsichtlich Stellung und Kompetenzen des Ersten Ministers, so ist die Tragweite dieser Verfassungsänderung offensichtlich: Das Kollegialitätsprinzip der vorangegangenen Kabinettsregierungen wurde aufgehoben und ersetzt durch eine eindeutige Hierarchie, die den Regierungschef an die Spitze stellte, ihm nunmehr die größte Handlungsautonomie gegenüber den Ministern einräumte und diese dem Kabinettschef strikt unterordnete. Von so gut wie jeder effektiven parlamentarischen Kontrolle freigestellt, konnte der Regierungschef in letzter Instanz nurmehr vom König zur Verantwortung gezogen werden. In einem zeitgenössischen Kompendium zur neuen staatsrechtlichen Position des Regierungschefs wurde das „Gesetz über die Kompetenzen und Prärogative des Regierungschefs“ treffend als Ausdruck der Verwirklichung des „Hierarchie- und Unterordnungsprinzips“ kommentiert. Der einflussreiche faschistische Theoretiker Sergio Panunzio bezeichnete das Ministerpräsidentengesetz sogar als „das revolutionärste Gesetz des Regimes, welches das neue System insgesamt bestimmt.“31 In der Tat war der Capo del Governo nach Inkrafttreten dieses Gesetzes nicht mehr „der primus inter pares der Kabinettregierung, in der er in einer Position der Gleichheit gegenüber den anderen Regierungsmitgliedern gestellt war. Er ist nunmehr tatsächlich der Führer der Regierung, und die Minister fungieren im Rahmen der regierungseinheitlichen Tätigkeit, für die er jedoch alleine verantwortlich zeichnet und zu deren Führung er deshalb allein berechtigt ist, als seine Mitarbeiter.“32 30
Art. 6, ebd., S. 396. Zit n. Ettore Rotelli: La presidenza del consiglio del Ministri. Il problema del coordinamento dell’amministrazione centrale in Italia. 1848-1948, Mailand 1972, S. 323. 32 Corsini 1935 (wie Anm. 19), S. 139. 31
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Im Ergebnis bedeutete diese neue Rechtslage, dass die Kompetenzen des Ersten Ministers zu einem so gut wie unkontrollierbaren Regierungsmonopol ausgeweitet worden waren. Der Regierungschef verfügte über das Recht, Minister zu nominieren und zu entlassen sowie deren Gesamtzahl zu bestimmen; diese waren allein ihm persönlich gegenüber verantwortlich. Seine Vormachtstellung im Ministerrat beinhaltete auch die wichtige Vollmacht, eigenständig verbindliche Weisungen für die gesamte öffentliche Verwaltung zu erlassen, sämtliche interne Rundschreiben, Veröffentlichungen und Berichte zu prüfen sowie gegebenenfalls zu suspendieren. Die Tagesordnungskompetenz wurde dahingehend erweitert, dass der Regierungschef nicht nur selbst Themen zur Diskussion stellen, sondern darüber hinaus auch Vorschläge von Seiten der Minister zurückweisen konnte, falls diese nicht mit seinen politischen Richtlinien übereinstimmten. Außerdem konzentrierten sich alle zuvor dem Kollegium der Minister vorbehaltenen Vollmachten und Prärogative auf die Position des Regierungschefs: die exklusive Entscheidungskompetenz in Fragen der Außenpolitik sowie der Hohen Verwaltung. Hinzu kam die – folgt man Carl Schmitt – letztlich über die tatsächliche Souveränität eines Regierenden entscheidende Definitionsmacht hinsichtlich des Ausnahme- und des Kriegszustandes.33 Nach Inkrafttreten des „Gesetzes über die Kompetenzen und Prärogative...“ konnte es keinen Zweifel mehr darüber geben, wie es Corsini zusammenfassend formulierte, dass „die faschistische Regierung durch eine absolute Suprematie ihres Führers über sämtliche Regierungsorgane, und zwar formal wie material in Ableitung von der rechtlichen Bestimmung seiner Funktionen, charakterisiert ist.“34 Wie wir sahen, wurden die zuvor doch relativ beschränkten Entscheidungsvollmachten des Ersten Ministers im Regierungssystem des liberalen Staates mit der ersten Verfassungsänderung der faschistischen Regierung nicht nur durch die Konstitutionalisierung einer autoritären Richtlinienkompetenz des Regierungschefs erweitert, sondern zudem durch exekutive Weisungs- und Anordnungsbefugnisse gegenüber den Ressortchefs bekräftigt. Mit anderen Worten: Die rechtlich sanktionierten Handlungskompe33 „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ und zwar „im eminenten Sinne einer Entscheidung“ und nach Maßgabe einer „selbständigen Bedeutung der Dezision“. Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre der Souveränität, Berlin 1979 (zuerst 1934), S. 11. 34 Corsini 1935 (wie Anm. 19), S. 165.
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tenzen des faschistischen Regierungschefs eröffneten nun die Möglichkeit einer weitgehenden Koordination des gesamten zentralstaatlichen Exekutivapparates durch den Capo del governo. Erstmals seit Bestehen der italienischen Monarchie konzentrierten sich damit außerordentlich große Macht- und Durchsetzungschancen in dieser Position. Nicht nur wurde das personale Regierungsmonopol des faschistischen Regierungschefs legalisiert, sondern auch die rechtlichen Voraussetzungen für eine folgenreiche Verbindung von originärer Führergewalt und legitimer Regierungssouveränität wurden geschaffen. Damit war ein erster entscheidender Schritt zur Durchsetzung des monokratischen Prinzips im Regierungs- und Verwaltungszentrum des faschistischen Regimes vollzogen. Ein zeitgenössischer Kritiker des neuen Herrschaftssystems fasste diese Entwicklung folgendermaßen zusammen: „Die Regierung ist nach Konzeption und Praxis des Faschismus ein Organ ohne jegliche Autonomie insofern sie keine andere Aufgabe besitzt als diejenige, als technischer Berater (...) bei der Ausübung der Prärogative, die ausschließlich dem Ersten Minister zustehen, mitzuarbeiten und seine Befehle wie Anordnungen auszuführen. Der Erste Minister ist folglich das wirkliche Subjekt der Regierungsaktivität, und auch dank dieser Eigenschaft ist er automatisch an die Spitze der Organisation des kollektiven Lebens gestellt und in die Lage gebracht, den Staat zu personifizieren.“35 Die Konzentration der Koordinationsgewalt über nahezu die gesamte staatliche Exekutive in der Position des Regierungschefs erweiterte in den folgenden Jahren die Verwirklichungschancen der persönlichen Machtambitionen und politischen Programmatik des Capo del governo beträchtlich. Die Verselbständigung der Position des Chefs der Exekutive wurde als konstitutiver Aspekt der sich mit dem faschistischen Zentralismus herausbildenden persönlichen Diktatur, der charismatisch legitimierten Führerherrschaft des Duce, angesehen. Diesen Sachverhalt erkannte bereits früh Robert Michels, der als einer der ersten politischen Soziologen Webers Charismabegriff – allerdings in einer mit Webers methodologischem und theoretischem Verständnis kaum in Einklang zu bringenden affirmativen und wertenden Absicht – auf die Analyse des italienischen faschistischen Regimes anwandte: „Die Anerkennung des Prinzips der Elite wurde dem Fascismus durch den Glücksumstand erleichtert, daß er einen wahren Elite-Menschen zum Duce hatte. Denn an der Spitze der Maschine steht eben eine Persönlichkeit von gro35
Trentin 1983 (wie Anm. 20), S. 197; vgl. Aquarone 1965 (wie Anm. 4), S. 75 ff.
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ßem Ausmaß, die ihr zugleich die weittragende Autorität und den Rhythmus verleiht. (...) Mussolini ist der moderne Grundtypus dessen, was Max Weber unter einem charismatischen Führer verstanden wissen wollte: frei und wildgewachsen hat er sich sein Charisma ohne jegliche erbliche Herleitung und ohne zugewachsene Tradition, aus dem Glauben der Massen an ihn und eigener, selbstgewordener Dynamik geholt; einem Glauben, der bei vielen ans Transzendentale grenzt.“36 Die Analyse der Binnenstrukturen des autokratischen Zentrums im Dritten Reich bestätigte die Annahme, dass unter modernen Staatsbedingungen die Monopolisierung der gesamten staatlichen Koordinationsgewalt in der Position des Regierungschefs neben der potentiellen Erweiterung der individuellen Durchsetzungschancen des obersten Machthabers eine „Positionsdynamik“ (N. Elias) entfaltet, die im alltäglichen Vollzug der Regierungspraxis unvermeidlich auch die Machtchancen der zentralen, sei es bürokratischen oder patrimonialen Herrschaftsstäbe nachhaltig erweitert. Max Weber formuliert diesen herrschaftssoziologischen Sachverhalt im Kontext der „politischen Kritik des Beamtentums und Parteiwesens“ in Deutschlands Kaiserreich folgendermaßen: „Der Monarch glaubt selbst zu regieren, während in Wahrheit das Beamtentum sich des Privilegs erfreut, gedeckt durch ihn, unkontrolliert und verantwortungslos schalten zu können.“37 So argumentiert auch Carl Schmitt, der die Entstehung eines „formierten Behördenapparates“ von der fürstlichen Herrschaftsorganisation, insbesondere des Geschäfts- und Heereskommissarwesens des Dreißigjährigen Krieges, herleitet:
36 Robert Michels: Italien von heute. Politische und wirtschaftliche Kulturgeschichte von 1860 bis 1930, Zürich und Leipzig 1930, S. 266 f; nahezu gleichlautende apologetische Formulierungen finden sich auch in seinem Corso di sociologia politica, Mailand 1927, S. 96. Vgl. Andreas Burtscheidt: Mehr Bewunderung als Kritik? Mussolini und das faschistische Italien in der Analyse von Robert Michels und Edmund Freiherr Raitz von Frentz. In: Zum Ideologieproblem in der Geschichte. Herbert Hömig zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Erik Gieseking [u. a.] (Subsidia Academica, Reihe A: Neuere und neueste Geschichte, Bd. 8), Lauf a. d. Pegnitz 2006, S. 405-418; Timm Gennett (Hrsg.): Der Fremde im Krieg. Zur politischen Theorie und Biographie von Robert Michels 1876-1936, Berlin 2008. 37 Max Weber: Gesamtausgabe, hrsgg. v. Horst Baier, M. Rainer Lepsius, Wolfgang J. Mommsen, Wolfgang Schluchter, Johannes Winckelmann: Abt I: Schriften und Reden, Bd. 15, Zur Politik im Weltkrieg. Schriften und Reden 1914-1918, hrsg. v. Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Gangolf Hübinger, Tübingen 1984, S. 472.
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„Der einzelne Kommissar war dabei nur das Mittel eines von einem sachtechnischen Zweck beherrschten Systems, in dem freilich gerade deshalb das Mittel sich zur Geltung brachte: Der Souverän konnte seinen Absolutismus nur zugleich mit der Konsolidierung und Formierung seines Beamtenapparates einrichten. Dadurch wurde aus dem Kommissar ein ordentlicher Beamter. Mit der Souveränität des Fürsten stabilisiert sich seine Bürokratie“.38
V. Wir haben gesehen, wie sich in der Spitzenorganisation der nationalsozialistischen Diktatur, unter der Voraussetzung einer spezifischen Konstellation von personalisierten Herrschaftsstäben des „Führers“ und rechtsgebundenen bürokratischen Behörden, die Rivalitäten zwischen den Exekutivapparaten bis zur Zerstörung der überkommenen Verwaltungsordnung verschärften. Im Gegensatz dazu, unter den besonderen Voraussetzungen der Herausbildung der monokratischen Zentralisierung im Herrschaftszentrum der italienischen Diktatur, in der keine verwaltungsexternen Stäbe die Regierungskonventionen der regulären Staatsverwaltung durchbrechen konnten, stärkten die personalen Machtappropriationen des Diktators vor allem die bestehenden bürokratischen Apparate und ihre damit verbundenen Machtpositionen. Überdies leitete dieser Prozess einer Bürokratisierung der zuvor im Wesentlichen politisch definierten Staatsfunktionen Vorschub. Solcherart sekundäre Bürokratisierungseffekte sind auf den verschiedensten Ebenen und in den unterschiedlichsten Bereichen des faschistischen Herrschaftsgebäudes nachzuweisen. Wir analysieren im Folgenden jene exemplarischen Bürokratisierungswirkungen, die primär mit der Umstrukturierung der Ministerialspitzen und mit den Veränderungen der Ministerfunktionen beim Übergang zur Einherrschaft verbunden waren. Zunächst muss dazu auf das „Gesetz über die Vollmachten und Prärogative des Regierungschefs“ aus dem Jahre 1925 zurückgekommen werden. Dabei ist ein Passus über die einzelnen Kompetenzen des Regierungschefs gegenüber den Ministern und der Ministerialverwaltung hervorzuheben: Laut Artikel 3 „leitet und koordiniert“ der Regierungschef „das Werk der Minister“; und laut Artikel 4 werden „die Anzahl, die Konstituierung und 38 Carl Schmitt: Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf, Berlin 1964, S. 76.
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die Zuständigkeiten der Minister (...) aufgrund eines Königlichen Erlasses auf Vorschlag des Regierungschefs geregelt. Ein Königlicher Erlaß kann dem Regierungschef die Leitung eines oder mehrerer Ministerien übertragen. In einem solchen Fall kann er die Ministerkompetenzen teilweise einem Staatssekretär übertragen.“39 Die rechtsdogmatische Apologetik des hier schon mehrfach zitierten Kompendiums von Corsini offenbart einen interessanten empirischen Sachverhalt, der ein Grundcharakteristikum der Organisationspraxis des faschistischen Regimes beleuchtet. Corsini bemerkt, dass mit dieser neuen Rechtslage die Ministerverantwortlichkeit gegenüber dem Regierungschef in erster Linie „technischen und administrativen“ Charakters sei.40 Der Sache nach ähnlich argumentiert Trentin, wenn er hervorhebt, dass infolge der neu etablierten Autoritätsstrukturen an der Regierungsspitze die vormalige Autonomie des Kabinetts praktisch aufgehoben und der Ministerrat letztlich auf die Funktionen eines „technischen Beraters“ des Regierungschefs reduziert worden sei.41 In Mussolinis fast zwanzigjähriger Praxis der Staatsführung finden sich zahlreiche Hinweise auf den in diesen Analysen angedeuteten Statusverlust der Minister. Ohne die einzelnen Ministerkarrieren und Regierungsumbildungen, die zahlreichen rimpasti governativi der Regimezeit, hier Revue passieren lassen oder das persönliche Beziehungsgeflecht der Entourage des Diktators in allen Einzelheiten rekonstruieren zu können, lässt sich die mit jenem Grundzug der faschistischen Regierungspraxis verbundene Problematik am Beispiel von Mussolinis einzigartiger Ämterkumulation illustrieren. Bereits zeitgenössische Beobachter kritisierten aus faschistischer Sicht die zeitweilig bis zu acht Ressorts umfassende Bündelung von Ministerkompetenzen in der Hand des Diktators.42 Ihren Höhepunkt fand diese Entwicklung, als Mussolini während des Griechenlandfeldzuges, Januar bis Mai 1941, eine ganze Riege von Ministern und zum Teil engsten Gefolgsleuten kurzerhand zum Frontdienst verpflichtete, darunter den eigenen Schwiegersohn und amtierenden Außenminister Galeazzo Ciano, den Justizminister Dino Grandi, den Erziehungsminister Giuseppe Bottai sowie den Korpora39
Zit. n. Aquarone 1965 (wie Anm. 4), S. 395. Corsini 1935 (wie Anm. 19), S. 146. 41 Trentin 1983 (wie Anm. 20) S. 197. 42 Vgl. Aquarone 1965 (wie Anm. 4), S. 610; Giovanni Giuriati: La parabola di Mussolini nei ricordi di un gerarcha, hrsgg. v. Emilio Gentile, Bari 1981, S. 154. 40
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tionenminister Renato Ricci. Diese ungewöhnliche Maßnahme des Regierungschefs hatte in erster Linie zur Folge, dass Mussolini zusätzlich zu den bereits zuvor persönlich übernommenen Ressortleitungen – Innenministerium, Kriegsministerium, Marineministerium, Luftfahrtsministerium – auch deren Ämter übernehmen musste. Nach Cianos Einschätzung seien Mussolinis Motive für diese aufsehenerregende Maßnahme vor allem in der Absicht begründet gewesen, „ein interessantes Regierungsexperiment zu machen, nämlich direkt mit der Bürokratie zu arbeiten“.43 Bemerkenswerterweise ließ Mussolini nach der Abreise der Minister deren Büros unbesetzt, als wollte er damit demonstrieren, dass sich die wichtigsten Staatsgeschäfte auch ohne amtierende Ressortleiter effizient leiten ließen. Tatsächlich soll Mussolini in einer Unterredung mit Bottai seine Entscheidung damit begründet haben, dass er seinen Landsleuten zeigen wolle, „wie man ein Land nur mit Hilfe der Generaldirektoren regiert“.44 Ungeachtet der persönlichen Motive aber, die Mussolinis „Begierde, alle Macht in seiner Hand zu konzentrieren und eine unglaubliche Zahl von Ministerien und Funktionen persönlich zu kumulieren“,45 genährt haben mögen, verdient der Sachverhalt, dass der Diktator die politische Leitung der Staatsverwaltung nahezu ausschließlich in seiner Position als Regierungschef vereinigte, eine nähere Betrachtung. Zunächst ist bemerkenswert, dass dies in der Alltagspraxis der Regierung gleichbedeutend war mit einer folgenreichen Entpolitisierung der Ministerfunktionen, während die konventionellen Ministerfunktionen und damit verbunden die Ministerverantwortung, wie bereits angedeutet, letztlich auf technische Beratung und administrative Durchführung beschränkt wurden. Im Zusammenhang der Analyse von Mussolinis „Vorstellungen der 43
Zit. n. De Felice 1981 (wie Anm. 11), S. 50. Ebd.; Die „Generaldirektoren“ (direttori generali) waren die formal den Staatssekretären untergeordneten Abteilungsleiter der Ministerialverwaltung. Dazu ausführlicher weiter unten. 45 Aquarone 1965 (wie Anm. 4), S. 304. Abgesehen von den bereits erwähnten Ämtern, leitete Mussolini in politischer Selbstverantwortung u. a. noch die folgenden Staatsorgane: den Consiglio di Stato (Staatsrat), die Corte del Conti (Rechnungshof), die Fabbricazioni dii Guerra (Staatliche Kriegsproduktion), die Avvocatura dello Stato (Staatsanwaltschaft), den Consiglio Nazionale della Ricerca (Nationaler Forschungsrat), die Milizia Volontaria per la Sicurezza dello Stato (Nationale Freiwilligenmiliz), die Commissione Suprema di Difesa (Oberster Verteidigungsrat), das Tribunale Speciale per la Difesa dello Stato (Sondergericht für die Verteidigung des Staates), das Istituto Centrale di Statistica (Zentralinstitut für Statistik), vgl. Attilio Tamaro: Venti anni di storia. 1922-1943, Rom 1975, S. 302, Fn. 50. 44
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Machtausübung“ bemerkt Renzo De Felice, dass in der Praxis nahezu alle Regierungsentscheidungen „faktisch immer mehr von ihm (von Mussolini, M. B.) selbst abhingen, von seiner ‚Intuition‘, seinem ‚Weitblick‘, seinen politischen Plänen. Damit durften höchstens noch ‚Technokraten‘ (möglichst ‚reinen Wassers‘, d. h. ohne politische Aufträge und Ambitionen) konkurrieren, die im Übrigen lediglich die Rolle von Beratern zur Lösung einzelner Probleme (und häufig nur einzelner Aspekte eines bestimmten Problems) unter technischen Gesichtspunkten zu übernehmen hatten, in der Regel ohne dabei deren politische Substanz zu berühren, die ebenso ausschließlich der persönlichen Bewertungszuständigkeit des ‚Duce‘ vorbehalten blieb wie die letzte Entscheidung.“46 Ein anderer Aspekt der Entpolitisierung der Ministerfunktionen, im Zusammenhang der Durchsetzung des monokratischen Prinzips anstelle der kollegialen Regierungskoordination, betrifft das Problem der Regierungsverantwortung. Die erwähnte Ämterhäufung schuf nämlich eine unter diesem Gesichtspunkt im Grunde absurde Situation, insofern der Regierungschef nach Maßgabe faschistischen Rechts in seiner Eigenschaft als Minister der persönlich übernommenen Verwaltungsressorts sich selbst gegenüber verantwortlich war.47 Es sei hier nur nebenbei erwähnt, dass mit dieser verfassungspolitisch widersinnigen Situation in der Praxis eine in letzter Instanz „verantwortungslose Regierung“ entstand, eine Regierungsform in der Silvio Trentin zu Recht geradezu ein rechtspolitisches Konstitutivum der faschistischen Version neoabsolutistischer Herrschaft erblickt.48 Dass unter dieser Voraussetzung der Regierungschef, der zudem seiner Herkunft und politischen Erfahrung nach (wenigstens zu Beginn seiner Karriere als Chef der Exekutive) keine klaren Vorstellungen über Rolle und Funktion der öffentlichen Verwaltung eines modernen Staates besaß,49 in die schwierige Lage geriet, täglich administrative Routinearbeiten zu erledigen, die fraglos die Arbeitskapazitäten einer einzelnen Person überfordern mussten, ist angesichts der Komplexität moderner verwaltungsstaatlicher Realitäten evident. Dies bedürfte keiner weiteren Ausführungen, wenn damit nicht ein grundlegendes Strukturmerkmal der von uns in dieser Studie wiederholt hervorgehobenen Alltagsdimension charismatischer Regierungs46
De Felice 1981 (wie Anm. 11), S. 59. Tamaro 1975 (wie Anm. 45), S. 302. 48 Trentin 1983 (wie Anm. 20), S. 147 ff. 49 De Felice 1981 (wie Anm. 11), S. 50. 47
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führung in den Führerdiktaturen beleuchtet würde. Die mit Mussolinis Regierungsstil unvermeidlich einhergehende „Dilettantisierung“ der Verwaltungsleitung ist in der einschlägigen biographischen Literatur ausführlich beschrieben worden. Tamaro bemerkt in diesem Zusammenhang zum Beispiel, dass mit der im Laufe der Jahre zunehmenden Ämterkumulation „die Situation, obzwar verschleiert, in Wirklichkeit unerträglich wurde. Wäre er den Leitungs- sowie Exekutivfunktionen eines jeden Ministeriums nachgegangen, dann hätten am Tag zwanzig Arbeitsstunden nicht genügt: Eine einzige Funktion, der auf die sieben großen, weit auseinanderliegenden Ämter verteilten Exekutive, hätte schon mehr als einen ganzen Arbeitstag erfordert. Er mußte sich also auf wenige essentielle Fragen beschränken, die ihm der Staatssekretär und die Verwaltung unterbreiteten.“50 Renzo De Felice gelangt in diesem Zusammenhang zu dem Ergebnis, dass des Diktators Hauptaktivitäten in den politisch stabilsten Zeiten seiner Regierung, mithin während der sogenannten „Jahre des Konsenses“, in quantitativer Hinsicht wie der Arbeitsintensität nach, sich nicht primär in politischer Tätigkeit im engeren Sinne ausdrückten, sondern sich „nahezu vollständig auf die alltägliche Verwaltungsarbeit, auf die Erledigung von Problemen, die sich Tag für Tag stellten, richteten und sich darin erschöpften“.51 Wichtiger noch: Vor allem unter dem Gesichtspunkt der Durchsetzungschancen des Diktators erweist sich eine auffällige Tendenz zur Bürokratisierung der Ministeriumsleitung insgesamt als eines der folgenreichsten Korrelate der Zentralisierung sämtlicher Entscheidungsprärogative in der Position des Einherrschers. Dieser eminent bedeutungsvolle Systemeffekt und die damit verknüpften Veränderungen der internen Machtbeziehungen in der staatlichen Spitzenfiguration können hier allerdings nur angedeutet und als offene empirische Forschungsfragen thematisiert werden.52 Ein herausragendes Beispiel für die Bürokratisierung der monokratischen Spitze stellt zweifellos die alle zuvor gekannten Auswüchse der italienischen Zentralbürokratie weit in den Schatten stellende maßlose Erweite50
Tamaro 1975 (wie Anm. 45), S. 302. Renzo De Felice: Mussolini il Duce, I. Gli anni del consenso. 1929-1936, Turin 1974, S. 23; vgl. Aquarone1965 (wie Anm. 4), S. 302 ff. 52 Die historische Faschismusforschung hat diesem Problemkomplex bisher so gut wie keine Aufmerksamkeit gewidmet. Vgl. die wenigen Hinweise bei Aquarone 1965 (wie Anm. 4), S. 302 und De Felice 1981 (wie Anm. 11), S. 49 ff.; Stefano Sepe: Lineamenti di storia dell’amministrazione italiana (1861-2002), Mailand 2003; Giovanni Melis: Storia dell’amministrazione italiana: 1861-1993, Bologna 1996. 51
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rung der präsidialen Stabsorganisationen, der Presidenza del Consiglio del Ministri, dar. Diese unterstanden unmittelbar dem Regierungschef und fungierten als dessen wichtigste Ausführungs- und Koordinationsapparate. Die überministerielle Position, die Funktionen der zentripetalen Koordination sowie das spezifisch bürokratische Organisationsprofil der Präsidialstäbe entsprachen weitgehend denjenigen der deutschen Reichskanzlei in Weimarer Zeit.53 Nur setzte sich der imposante institutionelle Expansionsprozess dieser interministeriellen Koordinationsorgane in Italien erst allmählich durch, nämlich parallel zur Stärkung und Verselbständigung der Exekutive, vor allem während des Ersten Weltkrieges,54 sodann aber unaufhaltsam als irreversibles Appropriationsprodukt, mit der Verwirklichung der monokratischen Regierungspraxis im faschistischen Diktaturregime. „Auf die institutionelle Ordnung der Presidenza del Consiglio wirkte sich vor allem die veränderte konstitutionelle und politische Position des Ministerpräsidenten aus. Es war in der Tat diese Situation, (...) die einen ununterbrochenen Prozeß der Aggregation neuer Organismen und Kompetenzen bei der Presidenza begründete und für die gesamte faschistische Periode legitimierte.“55 Der vielschichtige Prozess der „ununterbrochenen Aggregation“ von vielfältigen neuen Stabsorganisationen im Umfeld des Diktators nach Verabschiedung des „Gesetzes über die Vollmachten und Prärogative des Regierungschefs“ im Jahre 1925 vollzog sich grosso modo im Gefolge dreier Konzentrationsbewegungen: Erstens als Resultat der Angliederung nahezu aller neu geschaffenen führerunmittelbaren Parteiorganisationen sowie parteiunabhängigen Behörden und Ämter (inter-organisatorische Koordinationsfunktionen); zweitens infolge der Verlagerung von ursprünglich der Verantwortlichkeit der Einzelminister obliegenden Zuständigkeiten auf die Position des Regierungschefs (inter-ministerielle Koordinationsfunktionen); und drittens durch die Wahrnehmung der allgemeinen, überstaatlichen, politischen sowie administrativen Angelegenheiten durch den Regierungschef persönlich (über-ministerielle und teilweise auch über-staatliche Koordinationsfunktionen). Insgesamt umfasste die Kanzleiorganisation des Duce im Jahre 1939 annähernd einhundertdreißig Verwaltungsstäbe und -abteilungen! Dazu zählten, um nur einige zu nennen: die Opera nazionale combattenti (Natio53
Vgl. dazu und zum nachstehenden: Rotelli 1972 (wie Anm. 31), S. 257 ff., 258 ff. Ebd., S. 268 ff. 55 Ebd., S. 291 f. 54
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naler Kämpferverband), die Opera nazionale invalidi (Nationaler Kriegsversehrtenverband), die Associazione madri, vedove e famiglia del caduti in guerra (Verband der Mütter, Witwen und Familien von Kriegsgefallenen), die Commissione suprema di difesa (Oberster Verteidigungsrat), das Ufficio stampa (Presseamt), die Associazione tubercolotici di guerra (Verband der tuberkulosekranken Kriegsveteranen), die Milizia volontaria per la sicurezza nazionale (Freiwilligenmiliz für die nationale Sicherheit), die Commissione per un monumento in Roma a Giuseppe Mazzini (Kommission für ein Monument zu Ehren Giuseppe Mazzinis in Rom), die Opera nazionale Balilla (Nationale Jugendorganisation), das Istituto centrale di statistica (Zentrales statistisches Institut), das Istituto nazionale fascista di cultura (Nationales Institut für faschistische Kultur), die Croce Rossa Italiana (Rotes Kreuz Italien), die Reale Accademia d’Italia (Königliche Akademie Italiens), die Opera nazionale del dopolavoro (Nationales Freizeitwerk), der Consiglio nazionale della ricerca (Nationaler Forschungsrat), der Reale Automobile Club d’Italia (Königlicher Automobilclub Italiens), die Segreteria particolare del Capo del Governo (Sondersekretariat des Regierungschefs), die Scuola superiore di malarialogia (Höhere Schule für Malariaforschung), der Commissariato per il turismo (Tourismuskommissariat), die Corte del Conti (Rechnungshof), die Avvocatura dello Stato (Staatsanwaltschaft), das Archivio dello Stato (Staatsarchiv) usw.56 Die Zuständigkeiten dieser Behörden waren exakt abgegrenzt, so dass eine umfassende Liste der in der Presidenza del Consiglio zusammengefassten Kompetenzen und Funktionen erstellt werden könnte. Ohne hier aber im Einzelnen die Zuständigkeiten der Kanzleiorganisationen aufzuzählen, sei nur der allgemeine Kompetenzrahmen dieser Super-Organisation des Duce wiedergegeben. Dazu sind vor allem die Angelegenheiten, welche das Königshaus, die Person und das Amt des Regierungschefs, die Minister und das Parlament betreffen, zu zählen. So weit handelt es sich um eher traditionelle Kompetenzen. Was hingegen im Unterschied zur Vergangenheit eine deutliche Gesamterweiterung der Zuständigkeiten der Presidenza del Consiglio bedeutete, wird vor allem an den Obliegenheiten des Sekretariats und den anderen Ämtern der Presidenza im Verhältnis zu den neu entstandenen Behörden und Organismen ersichtlich.57
56 57
Vgl. Rotelli 1972 (wie Anm. 31), S. 328 ff. Vgl. ebd., S. 348.
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Der Organisationsaufblähung und Kompetenzenanhäufung entsprechend, entwickelte sich der Personalbestand der Presidenza del Consiglio. Auf Grundlage einer Einzelaufstellung der in den diversen Abteilungen der Zentralstäbe tätigen Beamten gelangt man zu einer Gesamtzahl von über 3500 Beschäftigten im Jahre 1939.58 Die mit der unbegrenzten Aufgabenerweiterung und proliferierenden Organisationsentwicklung der Presidenza in den fast zwei Jahrzehnten des Regimes verbundenen verwaltungsrechtlichen Diskussionen und Konstitutionalisierungsbestrebungen (zeitweilig wurde die Gründung eines eigenständiges Präsidialministeriums und sogar die Schaffung eines dem Regierungschef direkt unterstellten „Gesetzgebenden Büros“ erwogen)59 brauchen hier nicht weiter verfolgt zu werden. Hervorzuheben ist aber der eminent bürokratische Charakter dieser komplexen Kanzleiorganisation. Im krassen Unterschied zu den regellos ineinander geschobenen, untereinander um Kompetenzen und Machtchancen rivalisierenden charismatisch qualifizierten Stäben und bürokratischen Verwaltungsapparaten des autokratischen Zentrums im Dritten Reich, war die monokratische Spitze des faschistischen Regimes klar hierarchisch nach abgegrenzten und abgestuften Funktionsbereichen strukturiert. Die Kanzleistäbe des Duce arbeiteten weitgehend entsprechend den Prinzipien des klassischen Modells bürokratischer Verwaltung: regelorientiert, rechtskonform und regierungsloyal. „Trotz des Wandels der Institutionen infolge des ‚parlamentaristischen‘ Übergangs in das faschistische Regime, blieb die Ordnungsstruktur der Presidenza sowohl hinsichtlich der Organisation ihrer Dienste wie im Hinblick auf die Rekrutierung ihres Personals unverändert.“60 Die Organisationsentwicklung der Presidenza del Consiglio erweist sich somit als eines der evidentesten Beispiele für die vermuteten strukturellen Bürokratisierungseffekte in der Spitzenorganisation der monokratischen Herrschaft, welche die selbstherrlichen Machtappropriationen des italienischen Diktators begleiteten.
58
Vgl. ebd., S. 358 ff. Ebd., S. 363 ff. 60 Ebd., S. 382. 59
338
VI. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass das „Gesetz über die Vollmachten und Prärogative des Regierungschefs“ in einem Passus die grundsätzliche Möglichkeit des Regierungschefs kodifizierte, gegebenenfalls Ministerkompetenzen an Staatssekretäre zu delegieren. Durch die persönliche Ämterhäufung veranlasst, machte Mussolini von diesem Recht natürlich extensiv Gebrauch. Unter dem Gesichtspunkt der politischen Verantwortung entstand somit in der Praxis die sonderbare Situation, dass die bereits de facto entpolitisierte Ministerialleitung nunmehr von den definitions- und funktionsgemäß ohne eigene politische Verantwortung tätigen Staatssekretären bzw. direttori generali der Ministerialbürokratie sozusagen in eigener Regie übernommen wurde. Weitreichende ministeriale Entscheidungskompetenzen gerieten folglich in die Hände der leitenden Ministerialbeamten, während die politischen Führungspositionen faktisch vakant blieben und bestenfalls nur punktuell vom Regierungschef persönlich wahrgenommen werden konnten. Auf die wichtigsten Konsequenzen dieser Verlagerung von Entscheidungs- und Koordinationsprärogative in der Spitzenorganisation der Staatsbürokratie hat bereits vor dem endgültigen Zusammenbruch des Regimes der zeitweilige Sekretär des PNF und Staatsminister, Giovanni Giuriati, aufmerksam gemacht. In seinen noch vor Kriegsende verfassten Erinnerungen bezeichnete Giuriati die Ämterhäufung Mussolinis als „den Grundfehler seiner Regierung“. In seinen Ausführungen präzisierte der ehemalige Vertraute Mussolinis sodann: „Gewiß, in dem von Mussolini angewandten System bedingten und blockierten sich die direktiven und die exekutiven Funktionen gegenseitig. (...) Diese konstitutionelle Monstrosität hatte eine äußerst schädliche Wirkung für den Staat, genauer zwei Folgen, die logisch miteinander verbunden sind: Eine gewisse Zahl wichtiger Verwaltungsorganismen verblieben in der Praxis ohne eine vom öffentlichen Recht vorgesehene Leitung (Anarchie), und die Personen, welche Mussolini in den einzelnen Ämtern vertraten, besaßen eine Kommandogewalt, ohne dafür die entsprechende, vom Gesetz vorgesehene Verantwortung zu übernehmen (Willkür).“61 Auch die praktischen Folgen dieser aus faschistischer Sicht das Staatsideal der Revolution deformierenden Entwicklung hat Giuriati deutlich er61
Giuriati 1981 (wie Anm. 42), S. 154.
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kannt. In einer späteren ausführlichen Kritik der Regimeentwicklungen bemerkte der bereits zur Fronde gegen Mussolini entschlossene Giuriati, dass jene Situation letztlich „den direttori generali eine solche Autorität und Unabhängigkeit verliehen hat, daß ich nicht zögere, sie als gefährlich für den Staat zu bezeichnen.“62 Den Generaldirektoren der Ministerialverwaltung ist in der historischen Verwaltungsforschung bisher so gut wie keine Aufmerksamkeit gewidmet worden, so dass über deren Aufgaben und Kompetenzbereich nur wenig bekannt ist. Über die tatsächlichen Einflussmöglichkeiten und Machtpotentiale der direttori generali, die neben mancher Sonderverwaltungsbehörde, wie etwa dem staatlichen Rechnungshof, den Staatseisenbahnen, der Post und Telegraphenverwaltung sowie der Handelsmarine, insgesamt im Jahre 1939 nahezu 90 regierungsunmittelbare Organisationseinheiten leiteten, kann somit nur spekuliert werden. Dass diese bürokratischen Spitzengebilde nähere empirische Untersuchungen, vor allem unter dem Gesichtspunkt der Konstituierung und Akkumulation von Verwaltungsmachtpotentialen, verdienten, ist somit hier nur als Forschungsdesiderat hervorzuheben. Die erwähnten zeitgenössischen und historiographischen Hinweise rechtfertigen aber eine Hypothese, die auf spezifische strukturelle Bedingungskonstellationen der autokratischen Machtentfaltung im Verwaltungssystem des italienischen Staates hinweist. Wie wir gesehen haben, transformierte die Dynamik der Durchsetzung des monokratischen Prinzips das herkömmliche Regierungssystem dergestalt, dass sich potentiell die Koordinationsmacht der Exekutive in der Position des Regierungschefs konzentrierte. Die nahe liegende Annahme, dass sich damit zugleich auch die praktischen Durchsetzungschancen und der charismatische Führungsanspruch des neuen Selbstherrschers nennenswert erweiterten, entspricht aber nur teilweise der Wirklichkeit. Berücksichtigt man die praktischen Auswirkungen, die mit der Routinisierung der Regierungsführung unter der Voraussetzung der Entpolitisierung der Ministeriumsleitung verbunden waren, so ist vielmehr davon auszugehen, dass sich in der Praxis gleichzeitig eine Tendenz zur Bürokratisierung auch der genuin politischen Koordinationsund Leitungsfunktionen durchsetzte. In der Alltagspraxis bedeutete dies jedenfalls eine unvermeidbare, empirisch aber nur schwer konkretisierbare, Erweiterung des Einfluss- und Machtbereiches der Staatsbürokratie in der neu entstandenen monokratisch62
Ebd., S. 222.
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charismatischen Konstellation. Was sich auf den ersten Blick wie eine Verwirklichung von charismatischen Herrschaftsansprüchen und Organisationsprinzipien an der Spitze der staatlichen Exekutive ausnahm – die formalrechtlich kodifizierte Durchsetzung des monokratischen Prinzips als zentralisierte Koordinationsmacht Mussolinis –, erwies sich in Wirklichkeit als ein Prozess der Bürokratisierung auch von ursprünglich politischen Führungspositionen. Dieser Bürokratisierungseffekt nimmt schließlich selbst den obersten Charismaträger nicht aus; auch diese Position wurde gleichsam von den Verwaltungsroutinen absorbiert. Es kann also gefolgert werden, dass die Verwirklichung des monokratischen Prinzips in der Regierungsexekutive des faschistischen Staates zugleich die legalen Voraussetzungen für eine eigenständige Machtentfaltung der Staatsverwaltung schuf, gleichsam als eine Art entgegenwirkender Tendenz zur ursprünglichen autokratischen Machtakkumulation des Diktators.
VII. Deutlicher fassbar wird das Problem der Eigenmacht der Bürokratie, die den Entfaltungsmöglichkeiten des charismatischen Selbstherrschers im Faschismus enge institutionelle Grenzen setzte, wenn man die Strategien zur Kontrolle der Verwaltungsexekutive durch das politische Zentrum in Betracht zieht. In diesem Zusammenhang ist das bereits erwähnte zweite Verfassungsgesetz der faschistischen Regierung, das „Gesetz über die Vollmachten der Exekutive, Gesetzesnormen zu erlassen“, vom Januar 1926, besonders lehrreich. Wir betrachten zunächst den Inhalt und im Anschluss daran die auffälligsten Organisationswirkungen. Im Kern zielte dieses Gesetz darauf ab, der Regierung, d. h. unter den oben besprochenen Voraussetzungen in erster Linie Mussolini, bestimmte Gesetzgebungskompetenzen, die zuvor ausschließlich den Organen der Legislative, dem Parlament, vorbehalten waren, zu übertragen. So wird im Artikel 1 festgestellt, dass die Regierung grundsätzlich Rechtsnormen erlassen kann, die a) die Durchführung von Gesetzesbestimmungen, b) die Exekutivprärogative der Regierung und c) die Organisation sowie die Funktionen der gesamtem staatlichen Verwaltung, und zwar unabhängig von der geltenden Rechtslage, betreffen. Im Artikel 3 wird dann präzisiert, dass in den bezeichneten Kompetenzbereichen die Exekutive zudem eigenständig 341
Normen mit rechtsbindender Kraft erlassen kann, soweit die Regierung dazu laut geltendem Recht befugt ist sowie „in außergewöhnlichen Fällen, in denen Dringlichkeitsgründe und absolute Notwendigkeit es erfordern.“ Es ist offensichtlich, dass mit diesem Verfassungsgesetz das Verhältnis zwischen exekutiver und legislativer Gewalt innerhalb gewisser Grenzen grundlegend neu bestimmt wurde. Die Verwirklichung des monokratischen Prinzips wurde durch die Konzentration bestimmter Legislativkompetenzen in der Position des Regierungschefs begleitet. Damit erweiterten sich zusätzlich die potentiellen Durchsetzungschancen des Diktators, dem nunmehr auch eine selbständige Gesetzgebungskompetenz zustand. Dass sich damit die Exekutive im wahrsten Sinne des Wortes über das Gesetz stellte und Funktionen der Legislative übernahm, ist evident und bedarf keiner weiteren Ausführungen. Die Tragweite dieses Eingriffs in die konventionelle Praxis der Gewaltenteilung der liberaldemokratischen Staatsverfassung liegt auf der Hand. Silvio Trentin fasste die veränderte verfassungsrechtliche Situation 1929 wie folgt zusammen: „Tatsächlich ist die Regierung im gegenwärtigen italienischen Regime kein exklusives Organ der Exekutivmacht: sie ist nämlich zugleich ein Organ der legislativen Gewalt, und das wichtigste zudem. Vor allem nimmt sie teil an der Gesetzgebung durch die willkürliche Anwendung des Initiativrechts, das dem Ersten Minister als persönliches Privileg zusteht, ein Recht, das ihn zum Herrn über die Kammern und einzigen Interpreten der sozialen Erfordernisse, die gegebenenfalls eine Änderung des geltenden Rechts erforderlich machen, erhebt.“63 Auf den ersten Blick scheint mit dem „Gesetz über die Vollmachten der Exekutive, Gesetzesnormen zu erlassen“ die mit dem Führungsanspruch Mussolinis verbundene „spontane Gesetzgebung“ (Max Weber), die voluntaristische Rechtsetzung und die „aktuelle Rechtsschöpfung“, was den charismatischen Herrscher per definitionem von traditionalen und legalen Autoritäten unterscheidet, institutionalisiert. Besonders aber mit dem zitierten Passus über das Eingriffsrecht der Exekutive in staatspolitischen Ausnahmesituationen setzte sich der neoabsolutistische Souveränitätsanspruch des charismatischen Diktators wirkungsvoll durch. In der Möglichkeit zur letztinstanzlichen Bestimmung des sogenannten Ausnahmezustandes verwirklichte sich schließlich auch im italienischen Faschismus die nurmehr an technischen Effizienzkriterien orientierte Maßnahmegewalt der neuen mo63
Trentin 1983 (wie Anm. 20), S. 198 f.
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nokratischen Herrschaft, die die bestehende Rechtsordnung im Extremfall als Ganze zur Disposition der Exekutivorgane stellte. Diese Situation entspricht exakt dem von Carl Schmitt vorgeschlagenen staatsrechtlichen Begriff der Diktatur, demzufolge „der Inhalt der Tätigkeit des Diktators darin besteht, einen bestimmten Erfolg herbeizuführen, etwas ‚ins Werk zu richten‘: der Feind soll besiegt, der politische Gegner beruhigt oder niedergeschlagen werden. Immer kommt es auf die ‚Lage der Sache‘ an. Weil ein konkreter Erfolg herbeigeführt werden soll, muß der Diktator mit konkreten Mitteln in den kausalen Ablauf des Geschehens unmittelbar eingreifen. Er handelt; er ist Exekutive, im Gegensatz zur bloßen Beschlußfassung oder richterlichem Urteil, zu deliberare und consultare.“64 Sieht man aber ab von den staatsrechtlichen Konstruktionen des von Schmitt angenommenen Grenzfalles und betrachtet man die herrschaftssoziologisch relevanten Alltagswirkungen der Konzentration von Maßnahmekompetenzen in der Position des Diktators, so verdienen insbesondere die mit jenem Gesetz verbundenen praktischen Einschränkungen der diktatorischen Machtvollkommenheit Erwähnung. Zunächst ist hervorzuheben, dass die rechtliche Formalisierung der legislativen Kompetenzen als solche bereits der persönlichen Willkür des Charisma gewisse Grenzen setzt. Selbst weitestgehende Rechtsbefugnisse eines Selbstherrschers werden stets beschränkt, wenn sie in Gesetzesform gefasst sind, insofern die Norm selbst prinzipiell mit der Ausnahme auch ihre Geltungsschranken definiert. Gesetzlich geregelte Willkürherrschaft ist immer eine contradictio in adjecto. Ähnlich verhält es sich mit der Legalisierung von charismatischer Willkür. Die charismatische Willkür, die ihren Ursprung sowie ihre Legitimationsgeltung ausschließlich in den subjektiv spontanen Offenbarungen des „begnadeten“ Führers findet, entzieht sich grundsätzlich einer formalen und systematischen Kodifizierung. Eine formal-rechtliche Legalisierung entkräftet somit unvermeidlich das Charisma und manifestiert damit bereits die Tendenz zur Veralltäglichung. Im Unterschied zum Dritten Reich, wo die „spontane Gesetzgebung“ des „Führers“ mit den bekannten destruktiven Folgen im Rechts- und Verwaltungssystem bis zum Ende wirksam blieb, ist bemerkenswert, dass im Herrschaftssystem des italienischen Faschismus der genuine Rechtsdezisionismus des Diktators sich in ein Verfassungsgesetz eingekleidet findet. Die64
Schmitt 1964 (wie Anm. 38), S. 11.
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ser Tatbestand erweist sich als eines der wichtigsten Unterscheidungsmerkmale des Prozesses der Veralltäglichung im italienischen Faschismus gegenüber demjenigen des Dritten Reiches. Darüber hinaus ist bemerkenswert, dass mit dem „Gesetz über die Vollmachten der Exekutive, Rechtsnormen zu erlassen“, keineswegs die Gewaltenteilung vollständig aufgehoben und sämtliche Legislativkompetenzen in der Exekutive konzentriert wurden, wie die zeitgenössische antifaschistische Kritik aus verständlichen Gründen gelegentlich unterstellte.65 In der Formulierung des Gesetzestextes selbst und insbesondere in den entsprechenden Ausführungserlassen wird die Gesetzgebungskompetenz der Exekutive explizit auf bestimmte Geltungsbereiche eingeschränkt. Von fundamentaler Bedeutung erweist sich dabei, vor allem im Vergleich mit der Rechts- und Herrschaftspraxis des Nationalsozialismus, dass von diesem Gesetz sowohl der gesamte Bereich der unabhängigen Rechtsprechung wie auch die Rechtsmaterie der überstaatlichen Finanzkontrolle ausgenommen wurden. Eine ausdrückliche Erwähnung fand zudem, dass mit Bezug auf dieses Verfassungsgesetz die Institutionalisierung von Sondergerichtsbarkeiten ausgeschlossen war.66 Im Hinblick auf die alltägliche Herrschaftspraxis bestand die konstitutive Funktion des zweiten Verfassungsgesetzes demgegenüber vornehmlich in der Kodifizierung eines Maßnahmemonopols der Regierung einerseits und in der rechtlichen Vorbereitung einer durchsetzungsfähigeren Verwaltungskontrolle andererseits. Die Zentralisierung der Maßnahmekompetenz ergänzte in der Praxis die bereits erörterte Konzentration der Koordinationsgewalt in der Position des Regierungschefs, womit die zwei wichtigsten Achsen der Durchsetzung des monokratischen Prinzips in der Spitzenorganisation des faschistischen Regierungssystems bezeichnet sind. Der Begriff Maßnahmekompetenz67 ist in diesem Zusammenhang dem Terminus Gesetzgebungskompetenz vor allem deshalb vorzuziehen, weil damit die letztlich paradoxale Konstruktion einer „legislativen Exekutive“ bzw. einer „exekutiven Legislative“ vermieden werden kann. Der Terminus Maßnahmekompetenz ist aber auch sachlich begründet, insofern jenem Gesetz im Kern eine ausgedehntere Organisationsgewalt des Regierungschefs ent65
Vgl. z. B. Trentin 1983 (wie Anm. 20), S. 209; vgl. Aquarone 1965 (wie Anm. 4), S. 77 ff. Vgl. ebd., S. 402 f. 67 In Anlehnung an Ernst Fraenkel: Der Doppelstaat. Recht und Justiz im „Dritten Reich“, Frankfurt 1984. 66
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sprach, die nicht zuletzt durch den faktischen Funktionsverlust der Ministerpositionen notwendig geworden war. Auf diesen Aspekt weist auch Mussolini selbst in den von ihm unterzeichneten „Durchführungsverordnungen“ hin, indem er hervorhebt, dass, „was damit der Kompetenz der Exekutive überantwortet wird, die Organisationsgewalt betrifft, sei es der Staatsverwaltung oder der öffentlichen Behörden“. Mussolini führt dies dann dahingehend aus, dass es laut Gesetz „von jetzt an in der Macht der Exekutivgewalt (liegt), Organisation wie Funktion der Staatsverwaltungen und des entsprechenden Personals zu bestimmen. (...) So können (...) neue Ämter geschaffen, existierende abgeschafft, unter ihnen die Aufgaben verteilt sowie die Rechtsstellung der Angestellten und die Einstellungen in öffentlichen Ämtern geregelt werden usw. ...“68
VIII. Das „Gesetz über die Vollmachten der Exekutive, Gesetzesnormen zu erlassen“ stärkte somit zweifellos ebenfalls die monokratische Position des Diktators und erweiterte potentiell dessen exekutiven Handlungsspielraum. Es sollte aber nicht übersehen werden, dass die rechtsformale Konzentration von legislativen Teilkompetenzen in jener Position unverkennbar auch einen tief verwurzelten und geradezu unvermeidbar scheinenden Machtkonflikt zwischen der Staatsbürokratie und der politischen Führung zum Ausdruck brachte. Tatsächlich zielte jene Gesetzesverfügung nicht zuletzt darauf ab, die rechtlichen Voraussetzungen für eine wirksamere politische Kontrolle der Verwaltungshierarchie zu schaffen. Es handelte sich insbesondere darum, eine spezifische Machtressource der Ministerialverwaltung einzuschränken, nämlich die gängige Praxis der von der politischen Führung kaum kontrollierbaren Ministerialerlasse oder Dekretgesetze (decreti-legge) zu disziplinieren. Seit den Zeiten der Regierung Giolittis und verstärkt in der Periode der Kriegswirtschaft und Kriegsverwaltung nahmen die Behörden der zentralen Staatsbürokratie mit Hilfe einer Flut von begrenzt problembezogenen und jeweils nur durch verwaltungstechnische Dringlichkeit gerechtfertigten ad hoc-Maßnahmen einen beträchtlichen Einfluss auf die politische und gesell68
Zit. n. Aquarone1965 (wie Anm. 4), S. 402; S. 401.
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schaftliche Entwicklung des Landes.69 Die Praxis der bürokratischen Nebenregierung mit Hilfe von Ministerialerlassen „drang, obzwar noch schüchtern, bereits einige Jahre vor dem Aufkommen des Faschismus in die Rechtssetzungspraxis ein; zur Zeit der verschiedenen Regierungen Giolittis entwickelte sie robuste Wurzeln; und in den Jahren vor dem Marsch auf Rom zählte sie sozusagen bereits zum gewohnheitsmäßigen Verfassungsrecht.“70 Hermann Heller erblickte in seiner staatstheoretischen Abhandlung über das faschistische Herrschaftssystem aus dem Jahre 1931 sogar eine wichtige Ursache der vorfaschistischen Krise des italienischen Rechtsstaates in dieser Besonderheit der Verwaltungspraxis: „Bei der rechtsstaatlichen Legislative heißt Wille zum Recht vor allem Wille zur verfassungsmäßigen Rechtsetzung, also zur Willensübereinkunft. Das italienische Parlament besaß diesen Willen nicht und hatte eigentlich schon vor dem Marsch auf Rom sich selbst ausgeschaltet und auf die Gesetzgebung verzichtet. Der Hinweis auf die Tatsache, daß in den Jahren 1915-1921 nicht weniger als 2945 Dekretgesetze, d.h. Erlasse der Regierung mit Gesetzeskraft erflossen waren, von denen manche acht bis neun Jahre in Kraft blieben, bevor sie durch das Parlament ratifiziert wurden, mag genügen. Der Streit um die Gültigkeit dieser Dekretgesetze war zum Zentralproblem der italienischen Staatslehre geworden und erzeugte in der Gerichtspraxis eine ungeheuere Rechtsunsicherheit.“71 Mit Hilfe der Ministerialerlasse definierte die Staatsbürokratie weitgehend selbständig und oft im eigenen Interesse ihr politisches Aktionsfeld. Damit hatte die Bürokratie vor allem die Möglichkeit, unliebsame Regierungsbeschlüsse im Prozess ihrer verwaltungsmäßigen Durchführung umzuleiten, abzuschwächen oder gar zu boykottieren. Aufgrund des administrativen Informations- und Problemlösungsmonopols der Ministerialverwaltung konstituierte die Dekretgesetzgebung im politischen System des italienischen Königreichs vermutlich einen der wirksamsten bürokratischen „Amtsmechanismen“ (Max Weber). Angesichts der unvermeidlichen Diskontinuitäten in der politischen Führung des Landes, die das parlamentarische Regierungssystem bedingte, und vor allem in Anbetracht der praktischen Inexistenz von verwaltungs69
Vgl. dazu: De Felice 1968 (wie Anm. 3), S. 41. Giuriati 1981 (wie Anm. 42), S. 193. 71 Hermann Heller: Europa und der Fascismus, Berlin und Leipzig 1931, S. 69. 70
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unabhängigen Organen der politischen Verwaltungskontrolle, konnte die Staatsbürokratie bereits lange Zeit vor der faschistischen Machtübernahme eine konsistente Selbständigkeit gegenüber den im engeren Sinne politischen Regierungsorganen behaupten und befestigen. Die relative Autonomie der Staatsbürokratie und der Beamtenherrschaft in der Geschichte des italienischen Staates wird in neueren Forschungen bestätigt. Demgemäß führt beispielsweise Sabino Cassese die historische „Ungleichzeitigkeit“ der institutionellen Geschichte der Staatsverwaltung in Italien gegenüber den dominanten sozialen, ökonomischen und politischen Entwicklungszyklen des Landes auf eben diese relative Autonomie und eigenständige Machtstellung der Staatsbürokratie zurück: „Italien hatte von 1848 bis heute vier Verfassungen, zwei formale und zwei materiale, in chronologischer Ordnung also: das Albertinische Statut, die materiale Verfassung der auf die Erweiterung des Wahlrechts folgenden Periode, die materiale Verfassung des Faschismus (in der das Albertinische Statut in vier faschistische Verfassungsgesetze integriert wurde) und die republikanische Verfassung von 1948. Wenigstens in zwei dieser Epochen, in den Jahren von 1922-23 und von 1945-48 erfuhr das politische Personal drastische Säuberungen. Trotzdem entsprechen diese Daten keiner (...) radikalen Änderung der Struktur der italienischen Verwaltung. Die Verwaltungsgeschichte Italiens hat folglich eigene Entwicklungslinien, die nicht übereinstimmen mit den politischen und konstitutionellen; das Verhältnis zwischen diesen und jenen ist keines von Ursache und Wirkung, sondern muß für jede einzelne Periode, unter Berücksichtigung der reziproken (wenn auch partiellen) Autonomie der zwei Entwicklungsgeschichten, untersucht werden.“72
In der öffentlichen Bürokratiekritik Nachkriegsitaliens waren Verwaltungsmacht und bürokratischer Obstruktionismus in erster Linie mit der weitgehend selbständigen Erlasskompetenz der Ministerialverwaltung identifiziert worden. Es versteht sich, dass besonders die stark antibürokratisch eingestellten Kader des Faschismus diese informelle Entscheidungskompetenz der Bürokratie zum Gegenstand schärfster politischer Kritik machten. Beispielsweise bezeichnete Alfredo Rocco den „Mißbrauch der Ministerialerlasse“ als die „Pest der Verwaltung“, denn „die Bürokratie findet die Erlaßgesetze stets nach ihrem Geschmack, denn sie dispensieren sie von der inhalt72 Sabino Cassese: Introduzione, in: ders. (Hrsg.): Storia della società italiana dall’unità a oggi, Bd. 9, L’amministrazione centrale, Turin 1984, S. 27.
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lichen Vorbereitung, der Reflexion und der Diskussion.“73 Und Giuriati, der aus eigener Anschauung als zeitweiliger Minister für öffentliche Bauten mit den Praktiken dieser Art von Nebenregierung sicher wohlvertraut war, sah darin gar eine bedrohliche „Prärogative der Bürokratie“.74 Mussolini hat das mit dem „Gesetz über die Vollmachten der Exekutive, Rechtsnormen zu erlassen“ verbundene politische Hauptmotiv, nämlich die gesetzliche Vorbereitung einer effizienteren Verwaltungskontrolle, selbst deutlich ausgesprochen. In dem bereits erwähnten Ausführungserlass rechtfertigte der Regierungschef das neue Verfassungsgesetz mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit, die „Übergriffe“ (invasioni) der Exekutivapparate im eigentlichen politischen Entscheidungsbereich dadurch „rigoros“ einzuschränken, dass „die Vollmacht, Dekretgesetz zu erlassen, nur in Ausnahmefallen genutzt werden darf und auch nur aufgrund absoluter Notwendigkeit und Dringlichkeit.“75 Bezeichnenderweise blieb dieses Gesetz, wie kein anderes in der faschistischen Ära, bloße Makulatur und dokumentiert somit einen schwachen politischen Führungsanspruch gegenüber den bürokratischen „Mächten des Alltags“ (Max Weber). Auch in der Erlass-Frage blieb das Primat der Bürokratie während der gesamten Regimezeit so gut wie unangetastet, wie die langjährigen verwaltungsinternen Auseinandersetzungen um die Durchsetzung dieser Verfassungsnorm eindrucksvoll belegen. Das „Gesetz über die Vollmachten der Exekutive, Gesetzesnormen zu erlassen“ blieb in den oberen Verwaltungsrängen jedenfalls so gut wie unbeachtet.76 Angesichts der Taubheit und Widerstände der Ministerialbürokratie gegen die angeordneten Erlassrestriktionen bemühte sich die Regierung deshalb später darum, mit Hilfe einer eigens mit der Untersuchung der Durchsetzungshemmnisse beauftragten Kommission sowie zahlreicher verwaltungsinterner Zirkulare und detaillierter Ausführungsbestimmungen, eine striktere Beachtung jenes Gesetzes in den Reihen der Ministerialverwaltung zu erwirken. Die Kommission wurde jedoch bald schon wieder aufgelöst77 und die Regierungsanordnungen verliefen sich im Sande. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch ein von Mussolini im Jahre 1937 erlassenes Rundschreiben, mit dem zum wiederholten Male und mit größtem Nachdruck die Respektierung des 73
Zit. n. Giuriati 1981 (wie Anm. 42), S. 193. Ebd., S. 192 ff. 75 Zit. n. Aquarone 1965 (wie Anm. 4), S. 407. 76 Vgl. Aquarone 1965 (wie Anm. 4), S. 77 ff. 77 Ebd., S. 80. 74
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Regierungswillens in dieser Frage gefordert wurde und in dem sich der Diktator in aller Offenheit darüber beklagte, dass das „in jeder Hinsicht verwerfliche“ Erlasssystem, „nachdem es in der ersten Zeit weniger beachtet wurde, danach vielleicht mit größerer Allgemeinheit als zuvor wiederaufgenommen worden ist“.78 Im Endeffekt blieben alle Disziplinierungsversuche der Regierung jedoch wirkungslos. „Trotz aller Anstrengungen und wiederholter Regierungseingriffe fuhr die Bürokratie ruhig fort, sowohl Geist wie Buchstabe des neuen Gesetzes unbeachtet zu lassen, und am Ende, im Jahre 1940, mußte nicht sie sich fügen, sondern der faschistische Staat, indem er die praktische Nichtdurchsetzbarkeit eines Teils des Gesetzes vom 31. Januar 1926 (...), also jenes anderthalb Jahrzehnte lang so systematisch von der Bürokratie boykottierten Gesetzes, anerkennen mußte.“79 Eine punktuelle Gesetzesinitiative vermag eingewurzelten Potentialen und verfestigten Strukturen bürokratischer Macht, die sich in jahrzehntelanger Alltagspraxis der Verwaltungsapparate herausgebildet haben, selbstverständlich nur mit begrenzter Wirkung Einhalt zu gebieten. Selbst aufwendigere Maßnahmen zur Umstrukturierung des komplexen staatlichen Verwaltungssystems, wie etwa groß angelegte politische Säuberungen, virtuose Politisierungszumutungen oder der Aufbau von Doppelhierarchien, haben unter den Bedingungen moderner Staatsverwaltung nur bedingt Aussicht auf Erfolg. Vor allem charismatische Herrschaftsansprüche sehen sich mit den unterschiedlichsten Ausprägungen bürokratischer Mächte und politischer Routinestrukturen konfrontiert.80 Das zuletzt besprochene Verfassungsgesetz der faschistischen Regierung ist unter dieser Perspektive vor allem deshalb interessant, weil es den konstitutiven Machtkonflikt zwischen politischer Führung und traditioneller Staatsbürokratie, der das faschistische Herrschaftssystem von Anbeginn durchzog, verhältnismäßig unverstellt zum Ausdruck bringt. Soziologisch wichtig erscheint vor allem, dass sich dieser, die Tiefenstruktur des Verwaltungssystems betreffende, institutionelle Machtkonflikt, unter der Voraussetzung einer charismatisch legitimierten monokratischen Konstellation mit verwaltungsstaatlichem Unterbau, auf besondere Weise akzentuierte, und zwar in zweifacher Hinsicht. Auf der einen Seite beanspruchten der Regie78
Ebd., S. 410. De Felice 1968 (wie Anm. 3), S. 347. 80 Vgl. Günther Roth: Politische Herrschaft und persönliche Freiheit. Heidelberger Max Weber-Vorlesungen, Frankfurt 1987. 79
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rungschef und dessen Gefolgschaft wie selbstverständlich eine autokratische Kommandogewalt über Staat und Partei. Damit erhoben sie gleichzeitig die technisch reibungslose Verwaltungsdurchsetzung von politischen Programmen sowie die bedingungslose Loyalitätsbereitschaft der Staatsbediensteten gegenüber der neuen Regierungsführung zu den Grundwerten ihrer politischen Legitimation.81 Auf der anderen Seite wurde die praktische Verwirklichung dieses Anspruchs auf ein „Primat des Politischen“ durch die Existenz von komplexen verwaltungsstaatlichen Apparaten mit funktionalen Handlungsroutinen und berufsständischen Privilegien erheblich eingeschränkt. Die autokratischen Herrschaftsansprüche kollidierten mit der Komplexität der modernen Verwaltungsorganisation, mit den fest verankerten Amtsmechanismen und den Strukturen der bürokratischen Eigenmacht. Die dadurch entstandenen Konfliktkonstellationen an der Spitze des Herrschaftszentrums sind mit zu den wichtigsten strukturellen Voraussetzungen der Veralltäglichung des Charisma im Spannungsfeld zwischen bürokratischen Traditionsbeständen und „revolutionären“ Führungsansprüchen zu zählen. Die Entwicklungen dieses binnenstrukturellen Machtkampfes entscheiden maßgeblich über die Ausprägungen der Umbildung charismatischer Autoritätsbeziehungen in einer routinisierten Einherrschaft. Die konkreten Wirkungen der transformatorischen Dynamik des politischen Charisma im modernen Staat hängen freilich von zahlreichen und historisch je spezifischen Faktoren ab. In jedem Fall aber, das zeigen Webers Darlegungen zum Idealtypus der „charismatischen Herrschaft“ – die die Umformungen des Charisma auffällig ausführlicher behandeln als das „genuine Charisma“82 –, sind der charismatische Führer und seine persönlichen Stäbe sozusagen mit den Veralltäglichungszwängen der bestehenden Staatsbürokratie konfrontiert, mit Routinisierungsmechanismen also, die die revolutionären Potenzen des Charisma entweder entkräften oder aber den Machtkonflikt zwischen politischer Führung und der Bürokratie verschärfen. Die Entwicklungen im Dritten Reich veranschaulichen, wie sich jener Machtkonflikt unter bestimmten Voraussetzungen bis ins Extrem radikalisieren kann, wenn mit dem ungebrochenen Fortwirken des Personalcharisma des Diktators sowie infolge der nahezu unbegrenzten Handlungsspielräume von rechtsenthobenen und verwaltungsunabhängigen Herrschaftsstäben das 81 Vgl. zur beamtenpolitischen Ideologie des faschistischen Regimes: Pier Giorgio Zunino: L’ideologia del fascismo, Bologna 1985, S. 159 ff.; S. 181 ff. 82 Wolfgang, Schluchter: Religion und Lebensführung, Bd 2, Frankfurt 1988, S. 535.
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überkommene Rechts- und Verwaltungssystem eines Staates desintegriert wird. Im italienischen Faschismus hielten sich demgegenüber die deinstitutionalisierenden Effekte des Charisma, wie wir sahen, in relativ engen Grenzen. Die Gründe dafür sind freilich vielfältig. Unsere bisherige Analyse konzentrierte sich vornehmlich auf die Transformationen des zentralen Regierungssystems in der Veralltäglichungsphase des Faschismus. Dabei wurde deutlich, wie sich der Legalismus der faschistischen Machtübernahme und die weitgehende Entpolitisierung der Ministerialleitung in einer tendenziellen Bürokratisierung der ursprünglich charismatischen Konstellation auswirkten. Auffällig ist, dass die mit der Durchsetzung des monokratischen Prinzips verbundenen Bürokratisierungseffekte auch die institutionellen Möglichkeiten der Verwaltungskontrolle seitens der neuen politischen Führung eng begrenzten. Fraglos erweiterten sich damit potentiell und faktisch der Handlungsrahmen und die Einflussmöglichkeiten der Staatsbürokratie. Es kann somit vermutet werden, dass es insbesondere der Ministerialverwaltung im faschistischen Regime gelang, die eigene Machtstellung zu einer fest verankerten „institutionellen Opposition“ (F. Scharpf) auszubauen.
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Verwaltungspolitik im faschistischen Regime
I. In diesem Kapitel, das der Geschichte der frühfaschistischen Verwaltungsreformen gewidmet ist, sollen die zentralen verwaltungspolitischen Herrschaftsstrategien unter den Gesichtspunkten der Verwirklichungschancen einer effizienten politischen Verwaltungskontrolle betrachtet werden. Damit wird vorübergehend die Ebene der monokratischen Spitzenorganisation verlassen und das Problem der Eigenmacht der Bürokratie aus einem erweiterten Blickwinkel betrachtet. Unsere Aufmerksamkeit richtet sich dabei vornehmlich auf die wichtigsten Strategien der faschistischen Verwaltungspolitik in der Konsolidierungsphase des Regimes:1 auf die verwaltungsrechtspolitischen Aspekte der Reform, auf das Schicksal der bürokratieexternen Interventionsbestrebungen von Organen der faschistischen Partei, auf die technokratischen Dimensionen der faschistischen Verwaltungspolitik sowie schließlich auf die Strategien der berufsständischen Mobilisierung der Staatsangestelltenschaft. Von den Zyklen der verwaltungspolitischen Einkommenspolitik2 sowie von der in der historischen Literatur redundant diskutierten Frage nach dem vermeintlichen Grad der fascistizzazione, der faschistischen Indoktrination,3 kann für unsere Zwecke abgesehen werden. Zum besseren Verständnis der historischen Entwicklung, die hier freilich nur in Grundzügen dargelegt werden kann, wird eingangs knapp auf die Vorgeschichte der faschistischen Verwaltungsreformen, mithin auf den 1
Die späteren Entwicklungen, vor allem im Zusammenhang des Aufbaus von sog. „korporativen Parallelverwaltungen“, können hier nicht berücksichtigt werden. Vgl. dazu Sabino Cassese: Corporazioni e intervento pubblico nell’economia, in: ders: La formazione dello stato amministrativo, Mailand 1974, S. 65 ff. 2 Vgl. dazu Alessandro Taradel: Gli stipendi degli impiegati dello stato dal 1861 all’epoca presente, in: Rassegna parlamentare, Bd. III, 1961, S. 437-456, S. 573-585, S. 734-755. 3 Vgl. Renzo De Felice: Mussolini il fascista, I, Gli anni del consenso, Turin 1974, S. 533 ff.; ders.: Mussolini il fascista, Bd. II, L’organizzazione dello Stato fascista. 1925-1929, Turin 1968, S. 344 ff., ders.: Mussolini il Duce, II. Lo stato totalitario. 1936-1940, Turin 1981, S. 49 ff.
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Beamtensyndikalismus und die Legitimationskrise der Staatsverwaltung um die Jahrhundertwende und nach dem Ersten Weltkrieg eingegangen. Die strenge Disziplin, der die öffentlichen Verwaltungen während der Kriegsjahre 1915 bis 1918 unterworfen wurden, konnte die sich bereits in der Giolitti-Ära zunehmend politisierende und radikalisierende Gewerkschaftsbewegung der Staatsbeamten nur vorübergehend zu einem Burgfrieden zwingen.4 Schon wenige Wochen nach Beendigung des militärischen Konfliktes begannen die zahlreichen Gewerkschaftsorganisationen von Angestellten der verschiedenen Bereiche des öffentlichen Dienstes und der Ministerialverwaltungen erneut damit, ihre Interessenverbände zu mobilisieren und eine politische Kampagne von bis dahin nicht gekanntem Ausmaß einzuleiten.5 Bereits im Frühjahr 1919 wurden zwei mächtige, vermutlich mehr als die Hälfte der im öffentlichen Dienst beschäftigten Arbeiter und Angestellten organisierende, nationale Dachverbände der Beamtengewerkschaften gegründet: die reformsozialistische Confederazione del dipendenti dello stato 6 und der seinem Selbstverständnis nach unpolitische, aber ausdrück-
4
Eine vergleichbare Situation begann zur Jahrhundertwende auch in Frankreich Staatsrechtslehrer und Soziologen zu interessieren. So ist zum Beispiel bemerkenswert, dass neben dem Rechtswissenschaftler Leon Duguit auch Emile Durkheim der Staatsangestelltenfrage einige Aufmerksamkeit widmete. Im Januar und Februar 1908 nahm der Gründungsvater der französischen Soziologie an einer Veranstaltungsreihe der Union de la vérité zum Thema „L’Etat, les factionnaires et le public“ aktiv teil. Bei diesen sog. Libres entretiens kommentierte Durkheim ausführlich die sich in Frankreich ähnlich wie in Italien entwickelnde Problematik des Syndikalismus der Staatsangestellten. Vgl. dazu Emile Durkheim: Textes. 3. Fonctions sociales et institutions, présentation de Viktor Karady, Kap. 2, Paris 1982, S. 157 ff.; Pierre Birnbaum: La conception durkheimienne de l’Etat: l’apolitisme des fonctionnaires, in: Revue française de sociologie, 17 (2), 1976, S. 247 ff.; Stefania Andrini: Amministrazione e sindacato in Emile Durkheim, in: L’educazione giuridica, Bd. IV, Hlbbd. III, hrsgg. v. A. Giuliano/N. Picardi: Perugia 1981, S. 489 ff. 5 Zur Geschichte des italienischen Beamtensyndikalismus bis zum Vorabend des Faschismus vgl. Guido Melis: Burocrazia e socialismo nell’Italia liberale. Alle origini dell’organizzazione sindacale del pubblico impiego (1900-1922), Bologna 1980; ders.: La cultura e il mondo degli impiegati, in: Sabino Cassese (Hrsg.): L’amministrazione centrale, Band 9 der Storia della società italiana dall’Unità a oggi, Torino 1984, S. 301-402 und Stefano Cognetti: Impiego pubblico, associazionismo e riforme in Italia agli inizi del secolo XX, in: A. Giuliano/N. Piccardi (Hrsg.) 1981 (wie Anm. 4), S. 231-247. 6 Melis 1980 (wie Anm. 5), S. 168 und 171.
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lich antisozialistische und berufsständische Sindacato nazionale del pubblico impiego. 7 Mit Hilfe der traditionellen Kampfformen der Arbeiterbewegung, also Streiks, Kundgebungen und Solidaritätsaktionen, kämpften die organisierten Staatsbediensteten um Gehaltserhöhungen, in erster Linie zur Anpassung des Realeinkommens an die nach Kriegsende überproportional gestiegenen Lebenshaltungskosten,8 um die Einführung des Acht-Stunden-Arbeitstages, eine Regelung der wöchentlichen Freizeit und des Jahresurlaubs sowie um die politische Anerkennung der eigenen Interessenorganisationen.9 Darüber hinaus entwickelten die neu gegründeten Interessenverbände der Staatsbeamten aber auch allgemeinere Konzeptionen für eine grundlegende Strukturreform der öffentlichen Verwaltungen. Im Mittelpunkt dieses reformpolitischen Anliegens stand die Forderung nach institutionellen Möglichkeiten für die Staatsangestellten zur Mitsprache an den verwaltungsinternen Entscheidungs- und Kontrollprozessen. Je nach parteipolitischer Orientierung wurden Reformprojekte formuliert, die sich entweder auf korporative Mitbestimmungsmodelle stützten oder auf eine Dezentralisierung der staatlichen Bürokratie in mehr oder weniger autonome Körperschaften des öffentlichen Rechts, in sogenannte enti pubblici autonomi, abzielten. Im Rahmen dieser Debatten thematisierten die Repräsentanten der organisierten Beamtenschaft erstmals auch Partizipationsprojekte, wobei für kurze Zeit sogar die Idee einer Selbstverwaltung der Staatsadministration durch die Staatsbediensteten, ja das utopisch anmutende Projekt einer Substituierung der nationalstaatlichen Verwaltungsordnung durch die gewerkschaftlich organisierten Selbstverwaltungen der Staatsangestellten ernsthaft erwogen wurde.10 Zu den herausragenden Gemeinsamkeiten der beamtensyndikalistischen Reformprogramme dieser Zeit gehörte indessen die Grundüberzeugung, dass jede ernsthafte Bürokratiereform nur unter der Voraussetzung einer durchgreifenden Modernisierung des Staatsapparates wirklich erfolgversprechend sei. „Der Mythos von der ‚technischen Kompetenz‘ tritt zur selben Zeit sowohl in der extremen Linken auf (in den Überlegungen gewisser anarchistischer Minderheitsfraktionen der revolutionären Syndikalisten 7
Ebd., S. 169. Vgl. dazu: Taradel 1961 (wie Anm. 2) 9 Vgl. die Gründungsplattform der Confederazione nazionale degli impiegati e salariati di Stato vom März 1919, ferner Melis 1980 (wie Anm. 5), S. 168. 10 Vgl. ebd., S. 192. 8
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der Vorkriegszeit), als auch in den gemäßigten Bereichen des Klassenlagers und dabei besonders in den Ausarbeitungen der reformistischen Führungsgruppen des Allgemeinen Gewerkschaftsbundes.“11 Nachdem bereits im Sommer 1920 die mit der Kommunistischen Internationale sympathisierende Gewerkschaft der Postangestellten landesweit die Post-, Telegramm- und Telefondienste durch Streikaktionen weitgehend lahmgelegt hatte und es kurz darauf selbst in manchen Ministerien Roms zu organisierten Dienstverweigerungen und taktischen Arbeitsverzögerungen gekommen war, erlebte die Angestelltenbewegung mit den Tarifauseinandersetzungen des darauffolgenden Jahres einen ihrer Höhepunkte: „Der weiße Streik und die Obstruktion wurden jetzt von kollektiven Manifestationen im Inneren der Büros, von nicht genehmigten öffentlichen Demonstrationen bis hin zu den ersten offenen Konfrontationen mit der Polizei und der Königlichen Garde begleitet. (...) Die Widerstandsaktionen verbreiteten sich in allen Ministerien. (...) Überfüllte Versammlungen in den Case del Popolo von Rom erleben die Freilassung ihrer inhaftierten Kollegen und sprechen sich für einen unerbittlichen Kampf aus. Am 4. Mai sind praktisch die Ministerien blockiert, wobei sich selbst die Gerichtsangestellten an den Protestaktionen beteiligen.“12 Dass diese radikalen Kampfformen der Staatsangestelltenbewegung die Regierung und die politischen Eliten des Landes verunsichern und empören mussten, versteht sich von selbst. Unter der Perspektive des nur wenige Jahre später erfolgten faschistischen Staatsstreichs und des Zusammenbruchs des liberaldemokratischen Rechtsstaates, von denen die öffentlichen Verwaltungen freilich nicht unberührt bleiben konnten, verdienen insbesondere die Reaktionen der zeitgenössischen Sozial- bzw. Staatslehre auf das Staatsangestelltenproblem einige Aufmerksamkeit. Dies nicht nur, weil es besonders die italienische Staatsrechtsschule war, die zwischen Jahrhundertwende und erster Nachkriegszeit mit bemerkenswerter Dogmatik die gesellschaftspolitischen Voraussetzungen der allgemeinen Staats- und Liberalismuskrise sowie ihrer Ausprägungen in der Krise der Staatsbürokratie zu erfassen suchte. Die Krisenanalyse der italienischen Staatslehre ist vor allem auch deshalb bedeutsam, weil die später die Staatsdoktrin des Faschismus bestimmende nationalistische Rechte, im Zusammenhang der ideologischen Auseinandersetzungen um rechtspolitische Grundsatzfragen des Staates und 11 12
Ebd., S. 189. Ebd., S. 194.
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besonders des staatlichen Souveränitätsbegriffs, zuerst eine eigenständige administrationspolitische Position entwickelte. Der historische Zusammenhang von allgemeiner Krise des liberalen Staates und Krise der Staatsadministration kann hier nur angedeutet werden.13 Kaum ein anderer zeitgenössischer Beobachter hat dieses komplexe Beziehungsverhältnis deutlicher erkannt als Silvio Trentin, der seine Rede zur Inauguration des akademischen Jahres 1924/25 am Istituto Universitario di Ca’ Foscari in Venedig mit den Worten einleitete: „Wenn es unter den zahllosen Problemen, die zur Zeit im Bereich des öffentlichen Rechts debattiert werden, eines gibt, dessen Ausprägung annähernd die vielfältigen Ursachen der tiefen Krise offenbart, von welcher alle traditionellen Institutionen der Regierung bis aufs Mark ihrer Existenzberechtigung betroffen sind (wobei sie hin und wieder von einer plötzlich auftretenden Subversion bedroht werden), dann hat dieses Problem (darüber kann es keinen Zweifel geben) die Reform der Verwaltungsordnung des Staates zum Gegenstand. Wahrlich, kein anderes Problem verbindet sich auf direktere und unmittelbarere Weise mit der Ordnung der Grundbeziehungen des öffentlichen Lebens, und auf keine vergleichbar bessere Weise gelangen hierbei, obzwar freilich in aller Ungewißheit und Veränderlichkeit ihrer Einzelaspekte, die charakteristischen Orientierungen des nationalen politischen Bewußtseins zum Ausdruck und zur Geltung.“14
In der Tat hatten die gewerkschaftlichen Aktionen sowie die allgemeine Politisierung der Beamtenschaft unter dem dominierenden Einfluss der reformistischen Sozialisten eine tiefgreifende administrationspolitische Legitimationskrise ausgelöst. Nicht nur wurde das konventionelle, noch aus landesfürstlichen Traditionen stammende, einseitige Dienst- und Treueverhältnis zwischen Beamten und Regierung, das jede Form politischer Opposition oder kollektiver Interessenvertretung a priori ausschloss, seiner Grundlage beraubt. Sondern auch die in Italien seit dem Risorgimento un13 Vgl. dazu ausführlich: Giulio Cianferrotti: Il pensiero di V. E. Orlando e la giuspubblicistica italiana fra Ottocento e Novecento, Milano 1980; Cesare Mozzarelli/Stefano Nespor: Giuristi e scienze sociali nell’Italia liberale. Il dibattito sulle scienze dell’amministrazione e l’organizzazione dello stato, Venezia 1981; Luisa Mangoni: La crisi dello stato liberale e i giuristi italiani, in: Studi storici, Bd. XXIII, 1, 1982, S. 75-100; Aldo Mazzacane (Hrsg.): I giuristi e la crisi dello stato liberale in Italia fra Otto e Novecento, Napoli 1986. 14 Silvio Trentin: Dallo Statuto Albertino al regime fascista, hrsgg. v. Alessandro Pizzorusso, Venedig 1983 (franz. Erstausgabe 1929), S. 335.
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bestritten vorherrschende Institutionenordnung nationalstaatlicher Herrschaft und zentralistischer Verwaltung wurde ihrer scheinbar unentrinnbaren Naturhaftigkeit entkleidet. Die von der politischen Elite als systemgefährdend empfundene Erosion der traditionellen Loyalitätsbereitschaft der Staatsbeamtenschaft wie des obrigkeitsstaatlichen Führungsanspruches drohte die bereits sozusagen chronisch durch Effizienzprobleme belastete Verwaltungsexekutive in ihren Grundfesten zu erschüttern. Damit stellte die Staatsangestelltenbewegung der Nachkriegsjahre die Regierungen vor eine bis dahin nicht gekannte administrationspolitische Herausforderung. Die Substanz der staatlichen Legitimation und der Grundbestand bürokratischer Loyalität erschienen zutiefst bedroht. Ohne Zweifel war es insbesondere die gewerkschaftliche Bewegung der Staatsdiener, die das traditionell verfestigte Staatsbild der stark von der deutschen Historischen Rechtsschule beeinflussten italienischen Staatslehre15 – die sich am preußischen Modell eines organisch zu unantastbarer Rechtseinheit verdichteten, monolithisch-autoritativen Beamtenstaates orientierte – praktisch in Frage stellte. Die konservativen italienischen Staatslehrer, wie Vittorio Emanuele Orlando und Santi Romano, aber auch die Gründungsväter der politischen Soziologie Italiens, Vilfredo Pareto und Gaetano Mosca, verurteilten die Kämpfe der Staatsangestelltenverbände übereinstimmend als prinzipiell illegitime Angriffe auf die Würde und Integrität des Staates.16 Vor dem Hintergrund der in jenen Jahren als immer drängender empfundenen politischen Partizipationsforderungen der neuen Arbeiter- und Angestelltenbewegungen zeigte sich mit der organisierten Loyalitätsverweigerung im Kontext des Beamtensyndikalismus für die Staatslehre vornehmlich das rechtsdogmatische Problem der Souveränität des Staates in einem neuen, einem dramatischeren Licht. 15
Otto Weiss: La ‚scienza tedesca‘ e l’Italia dell’Ottocento, in: Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento, IX, 1983, S. 9-85; Massimo Severo Giannini: Il pubblico potere. Stati e amministrazioni pubbliche, Bologna 1986. 16 Vgl. z. B. Vittorio Emanuele Orlando: Diritto pubblico generale – Scritti vari (1881-1940), coordinati in sistema, Milano 1954, S. 200 ff; Santi Romano: Oltre lo Stato: discorso inaugurale letto il 18 novembre 1917, Firenze 1918; Ders.: Lo stato moderno e la sua crisi. Saggi di diritto costituzionale, Mailand 1969; Gaetano Mosca: Partiti e sindacati nella crisi del regime parlamentare, Bari 1949; ders.: Il tramonto dello stato liberale, hrsgg. v. Antonio Lombardo: Catania 1971, S. 192 ff.; Vilfredo Pareto: Le trasformazioni della democrazia, Roma 1975 (zuerst 1920).
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Während zum Beispiel Santi Romano in der Staatsangestelltenfrage ein Symptom der allgemeinen Krise des Staatsbegriffs und ein sicheres Vorzeichen einer unaufhaltsamen Erosion der Grundwerte und Basisinstitutionen des liberalen Staates sah, die zu der paradoxalen Situation geführt hätte, dass „das moderne öffentliche Recht sich nicht nur von einer sozialen Bewegung herleitet, sondern von ihr beherrscht wird und sich dieser inzwischen nach eigenen Gesetzen regierenden Bewegung langsam anpaßt“,17 befürchtete Gaetano Mosca bereits den Untergang des Staates: „Denn die Souveränität des modernen Staates wird ausgehöhlt, seine einheitliche Organisation wird durchbrochen und wir werden uns dann einem Zustand der Anarchie nähern, sobald eine Kategorie öffentlicher Bediensteter sich als Eigentümerin jener Funktionen betrachten kann, die sie mit anderen Zielen als den vom Staat vorgegebenen ausübt. (...) Es scheint folglich eine neue Gefahr zu sein, mit der sich seit der Bildung der Angestelltengewerkschaften in den vergangenen zehn oder fünfzehn Jahren alle modernen Staaten konfrontiert sehen.“18 Die Theoretiker des alten Obrigkeitsstaates konnten nur schwerlich hoffen, die Autorität der öffentlichen Gewalt gegenüber den neuen politischen Kräften zu behaupten, solange sich die Staatsführung nicht in der Lage zeigte, den Verwaltungsapparat zu kontrollieren und somit der subversive Beamtensyndikalismus die Fundamente des staatlichen Loyalitätsanspruches gegenüber den eigenen Bediensteten zu unterminieren drohte. Wer die Wiederherstellung von Recht und Ordnung kompromisslos forderte, musste in diesen Jahren vor allem anderen eine autoritäre Reorganisation der öffentlichen Verwaltung auf seine Fahnen schreiben. Es ist deshalb nicht überraschend, wenn es besonders die Wortführer der nationalistischen Rechten waren, die in den ersten Nachkriegsjahren verstärkt die Staatsangestelltenfrage propagandistisch aufgriffen und im Beamtensyndikalismus die staatszersetzenden Kräfte des politischen Liberalismus und des revolutionären Sozialismus schlechthin am Werke sahen.19 17
Romano 1969 (wie Anm. 16), S. 15. Mosca 1971 (wie Anm. 16), S. 207. 19 Zur Geschichte der nationalistischen Bewegung am Vorabend des Faschismus vgl.: Franco Gatea: Nazionalismo italiano, Napoli 1965; R. Molinelli: Per una storia del nazionalismo italiano, Urbano 1967; Francesco Perfetti: Il nazionalismo italiano, Milano 1977; Stefan Breuer: Nationalismus und Faschismus. Frankreich, Italien und Deutschland im Vergleich, Darmstadt 2005, S. 125 ff. 18
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An erster Stelle ist in diesem Zusammenhang Alfredo Rocco, der wohl einflussreichste Staatsrechtstheoretiker des Faschismus und der eigentliche „Baumeister“ der späteren faschistischen Verfassungskonstruktionen, zu erwähnen. Als ideologischer Führer der nationalistischen Bewegung, Theoretiker der korporatistischen Klassenkollaboration und herausragender Rechtsgelehrter konzipierte Rocco mit unvergleichbarer Kohärenz die zentralen sozial-, verfassungs- und rechtspolitischen Prinzipien der nationalfaschistischen Staatsdoktrin. Seine bedeutendsten Beiträge zur Konsolidierung des faschistischen Regimes leistete Rocco aber als Justizminister in den Jahren von 1925 bis 1932. In enger Zusammenarbeit mit Mussolini entwickelte und formulierte Rocco so gut wie alle grundlegenden Verfassungsreformen und Gesetze des Regimes, reformierte gemeinsam mit seinem Bruder Arturo, einem bekannten Strafrechtler, das Strafrecht sowie das Strafverfahrensrecht. Auch nahm Alfredo Rocco entscheidenden Einfluss auf die Entstehung der Lateranverträge.20 Zu den konstitutiven politischen Motiven von Roccos rechtspolitischem Wirken gehörte die Restauration des Primats des Staates, die Wiederherstellung der obrigkeitsstaatlichen Autorität nach Maßgabe des Dogmas von der absoluten Souveränität des Staates. Zu einem seiner berühmtesten Dikta zählt die Formulierung: „Die Souveränität ist des Staates und ausschließlich des Staates, nicht der Individuen, weder als isolierte Einzelne noch als Masse, also auch nicht des Volkes. Aber auch andere Körperschaften, die sich in der Gesellschaft bilden, können sie solange nicht beanspruchen, wie der Staat nicht einzelne Prärogativkompetenzen an diese delegiert.“21 In den Jahren unmittelbar nach dem Krieg verpflichtete insbesondere dieses politische Dogma Rocco und die von ihm ideologisch geführte nationalistische Bewegung zu einem intransigenten Kampf gegen die politische und gewerkschaftliche Bewegung der Staatsangestellten jeglicher Couleur. Die Garantie des staatlichen Loyalitätsanspruches gegenüber der Beamten20 Dazu nach wie vor grundlegend: Paolo Ungari: Alfredo Rocco e l’ideologia giuridica del Rocco fascismo, Brescia 1963; Nicola Tranfaglia: Dallo stato liberale al regime fascista. Problemi e ricerche, Mailand 1973, S. 108 ff., 123 u. 132 ff; Emilio Gentile: Il mito dello stato nuovo dall’antigiolittismo al fascismo, Bari 1982, S. 167 ff.; ferner Nazzareno Mezzetti: Alfredo Rocco nella dottrina e nel diritto della rivoluzione fascista, Rom 1930; vgl. außerdem Anmerkung 23 im vorangegangenen Kapitel. 21 Alfredo Rocco: Scritti e discorsi politici, 3 Bde., Mailand 1938, S. 19 f.
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schaft bedeutete für Rocco eine Bedingung sine qua non für die politische Selbstbehauptung des staatlichen Souveränitätsanspruches: „Die Wahrung der Kontinuität und Ordnung der öffentlichen Dienste ist eine Grundvoraussetzung der Machtausübung, die der Staat von seiner Souveränität herleitet, ja sie stellt dessen eigentliche Existenzberechtigung dar. Es ist somit unmöglich, daß der Staat seine Autorität gegenüber der Allgemeinheit zur Geltung bringen kann, wenn er nicht in der Lage ist, diese gegenüber jenen durchzusetzen, die sich in einem besonderen Untertanenverhältnis zu ihm befinden, nämlich gegenüber seinen Funktionären und Angestellten. (...) Nur unter der Bedingung einer durchgreifenden Bewältigung der Unordnung und der Anarchie in den öffentlichen Diensten erscheint es möglich (...), die Restauration des Staates vorzubereiten.“22 Mit derartigen dogmatischen Vereinfachungen des Verhältnisses von Regierung und Beamtenschaft, die Rocco Ende 1921 der Deputiertenkammer vortrug, konnte sich die nationalistische und faschistische Rechte in jenen Jahren der Zustimmung eines Großteils des konservativen Lagers gewiss sein. Mit der damit verbundenen metaphysischen Reformulierung des etatistischen Souveränitätsdogmas hatte sich indes die nationalfaschistische Staatsdoktrin in der Staatsrechtsdiskussion bereits weitgehend durchgesetzt, mithin jene Staatsauffassung, der die Hypothese von der „Zersetzung“ des Staates durch Liberalismus und Demokratie als Ausgangspunkt für die Begründung eines nationalistischen Mythos vom „neuen und starken Staat“ diente.23 Abstrakte Organisationsideale, wie Autoritarismus, das Hierarchieprinzip und der Zentralismus, die neben den Mythen der Nation und des Duce die politische Ideologie und Programmatik des italienischen Nationalismus und Faschismus seit deren Anfängen nachhaltig geprägt haben, gestatten freilich noch keine Rückschlüsse auf die tatsächlichen Ausprägungen der Herrschaftsstrukturen, wie sie sich nach der Machtübernahme und als Folge der Anpassung der charismatischen Autoritätsbeziehungen und Verwaltungsstäbe an die Alltagserfordernisse der Staatsverwaltung herausgebildet haben. Dennoch kann auch unter den uns hier primär beschäftigenden Ge22
Ebd., S. 676 und S. 687. Vgl. dazu vor allem Alfredo Rocco.: La dottrina politica del fascismo, in: ebd. (wie Anm. 21), S. 1993 ff. sowie die Rekonstruktion der staatstheoretischen Diskussionen vor und während des Faschismus bei: Cianferrotti 1980 (wie Anm. 13); Mangoni 1982 (wie Anm. 13), S. 75-100; Mazzacane 1986 (wie Anm. 13). 23
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sichtspunkten der Durchsetzungschancen von monokratischen Herrschaftszielen nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Staatsideologie und Rechtslehre des Fascismo insbesondere an jene Traditionen der Staatslehre anknüpfte, welche die Idee der Volkssouveränität radikal ablehnten. Nach Maßgabe der nationalistischen und faschistischen Staatsdoktrin sollte der „neue“, der „faschistische Staat“ seine Legitimationsgrundlage in einem rigiden, staatsrechtlich sozusagen fugenfest begründeten absoluten Souveränitätsanspruch und Dezisionismus des Staates finden.24 Zugleich wurde damit im Namen eines neuen Mythos vom ubiquitären und omnipotenten Machtstaat25 ein Herrschaftssystem aufgebaut, das in der Praxis eher dem altpreußischen Obrigkeitsstaat ähnelte und in dem sich mit der Etablierung des monokratischen Prinzips eine folgenreiche zentralistische Bürokratisierung der Staatsorganisation durchsetzte. In erster Linie vom Staat nämlich, von einem „neuen“, einem „starken Staat“, wie es in der Propagandasprache des Faschismus hieß, versprach sich die politische Elite des italienischen Nationalismus und Faschismus – allen voran Mussolini, dessen Exaltationen der potenza sich zu Vorstellungen verdichteten, die im Staat schlechthin die „historische Form der Macht“, den „höchsten Ausdruck der Politik“ und den „Endzweck allen politischen Handelns“ sahen –26 die Verwirklichung der faschistischen Revolution. Mit der rechtsideologischen Doktrin Alfredo Roccos waren auch die grundlegenden Leitideen und politischen Prämissen für die Verwaltungsreformpolitik, mit der sich die faschistische Regierung unmittelbar nach der Machtübernahme zu profilieren suchte, in ihren normativen Grundzügen formuliert.
II. Als erste Gesetzesverfügung der von Mussolini geführten Koalitionsregierung wurde im November 1922 das „Gesetz über die Sondervollmachten der Regierung zur Sanierung der Staatsfinanzen und zur Neuordnung der
24
Vgl. Ungari 1963 (wie Anm. 20) Vgl. Gentile 1982 (wie Anm. 20) und Pier Giorgio Zunino: L’ideologia del fascismo, Bologna 1985. 26 Zit. n. Gentile 1982 (wie Anm. 20), S. 237. 25
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öffentlichen Verwaltung“ verabschiedet.27 Damit sicherte sich die faschistische Regierung jene außerordentlichen, zunächst bis Ende 1923 begrenzten, legislativen Handlungsfreiheiten, die bereits im Jahre 1921 der Regierung Bonomi zur Durchführung einer Reform der öffentlichen Verwaltung vom Parlament zugestanden worden waren.28 Mit Verabschiedung dieses Gesetzes standen den neuen Machthabern effektive rechtliche und politische Möglichkeiten zur Disposition, um eine repressive Verwaltungsreformpolitik zu verwirklichen oder wie es Candeloro ausdrückt: „um den autoritären Charakter des Staates zu akzentuieren, die Kommandohebel in der öffentlichen Verwaltung den Faschisten zu übergeben und die Reihen der öffentlichen Bediensteten zu lichten.“29 Die mit diesem Gesetz verbundenen nahezu unbegrenzten Kompetenzen im verwaltungspolitischen Bereich erhoben es in den Händen der zur Restauration des autoritären Obrigkeitsstaates entschlossenen faschistischen Regierung zu einer Art administrationspolitischem Ermächtigungsgesetz. Ihre Entschiedenheit zur Wiederherstellung von Autorität und Ordnung in den Staatsverwaltungen demonstrierte die neue Regierung in der Praxis zunächst durch eine rigorose und einschneidende Entlassungs- und politische Säuberungspolitik, von der in den ersten Monaten besonders stark die Arbeiter und Angestellten der staatlichen Eisenbahnbetriebe betroffen waren, mithin jene Gruppe von Staatsangestellten, die in der Vergangenheit am häufigsten und wohl auch am erfolgreichsten die Kampfformen der sozialistischen Arbeiterbewegung in Tarifauseinandersetzungen im öffentlichen Dienst angewandt hatten. Nach Berechnungen von De Felice wurden insgesamt bis Ende April 1924 65.274 Angestellte der öffentlichen Verwaltungen entlassen; darunter waren 46.566 Eisenbahnangestellte.30 Diese erste 27 Erlassgesetz vom 23. November 1922, Nr. 1080; vgl. Alberto Aquarone: L’organizzazione dello stato totalitario, Turin 1965, S. 6; Giorgio Candeloro: Storia dell’Italia moderna, Bd. 9, Il fascismo e le sue guerre, Mailand 1986, S. 21. 28 Gesetz vom 13. August 1921, Nr. 1080; Erlassgesetz vom 23. November 1921, Nr. 1741; vgl. Aquarone 1965 (wie Anm. 27), S. 6 f.; Piero Calandra: I pieni poteri per la riforma amministrativa (1922-1924), in: Rivista trimestrale di diritto pubblico, 3, 1975, S. 1343 ff. 29 Candeloro 1986 (wie Anm. 27), S. 21. 30 De Felice 1974 (wie Anm. 3), S. 397. Zur Geschichte der Eisenbahnerbewegung vgl.: Libertario Geurrini: Organizzazioni e lotta del ferrovieri italiani, Bd. I, 1862-1907, Florenz 1957; E. Finzi: Alle origini del movimento sindacale: i ferrovieri, Bologna 1975; Victoria De Grazia: The Culture of Consent. Mass-Organization of Leisure in Fascist Italy, Cambridge 1981, S. 135 ff.; Cesare Mozzarelli/Stefano Nespor 1981 (wie Anm. 13), S. 264 ff.
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große Entlassungswelle in den Monaten unmittelbar nach der Machtübernahme hatte deutlich den Charakter einer politischen Säuberung des öffentlichen Dienstes, mit der das faschistische Regime unverkennbar auf eine erste Eindämmung der anhaltenden Streikaktivitäten der Staatsbediensteten abzielte.31 Abgesehen von diesen sozusagen klassischen Maßnahmen der Loyalitätssicherung mittels politischer Säuberung gewannen die ersten administrationspolitischen Schritte der faschistischen Regierung jedoch auch eine strukturpolitische Tragweite, die auf eine grundlegende verwaltungsrechtliche Neuformulierung des Beamtenstatus und auf eine tiefergehende Reorganisation der zentralen Staatsverwaltung abzielte. So wurde, besonders mit den ebenfalls nur wenige Monate nach der faschistischen Regierungsübernahme verabschiedeten Gesetzesdekreten zur „Hierarchischen Ordnung der Staatsbürokratie“32 sowie zur „Rechtsstellung der Staatsangestellten“,33 nicht nur der faschistische „Verwaltungsautoritarismus“ (Candeloro) gleichsam gekrönt, sondern auch die gesetzlichen Grundlagen für eine erste kohärente Verwaltungsreform seit Gründung des italienischen Einheitsstaates wurden geschaffen. Diese Gesetzesmaßnahmen betrafen in erster Linie vermeintliche Strukturschwächen des verwaltungsinternen Anordnungs- und Leistungssystems. Durch eine rigide, ausdrücklich dem militärischen Rangordnungssystem nachgebildete Hierarchisierung – bei gleichzeitiger Vereinheitlichung der Gehalts-, Leistungs- sowie Beförderungsstufen – sollten die in der politischen Öffentlichkeit immer wieder heftig kritisierten organisatorischen Strukturmängel der italienischen Staatsverwaltungen behoben werden.34 Darüber hinaus wurde mit letzterem Gesetz die bis dahin in wesentlichen Aspekten unbestimmt gebliebene Rechtsform des öffentlichen Dienstverhältnisses präzisiert. Vor allem wurden die Loyalitätsverpflichtungen der Staatsangestellten innerhalb und auch außerhalb des Dienstes sowie die entsprechenden disziplinarrechtlichen Ausführungsbestimmungen neu geregelt. Dabei wurde das öffentlich-rechtliche Dienstverhältnis der Staatsbeamten als „besonderes Unterwerfungsverhältnis“ (soggezione speciale) definiert 31
Vgl. statt vieler: Candeloro 1986 (wie Anm. 27), S. 21. Erlass vom 11. November 1923, Nr. 2395; vgl. Aquarone 1965 (wie Anm. 27), S. 13 f.; Renato Spaventa: Burocrazia, ordinamenti amministrativi e fascismo, Mailand 1944, S. 25. 33 Erlass vom 30. Dezember 1923, Nr. 2960; vgl. Aquarone 1965 (wie Anm. 27), S. 330 34 Vgl. ebd., S. 13; vgl. dazu ausführlich Spaventa 1944 (wie Anm. 32), S. 20 ff.; Calandra 1975 (wie Anm. 28), S. 135 f. 32
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und damit für die Disziplinargerichtsbarkeit der Verwaltungsgerichte die Rechtsstellung der Staatsangestellten neu bestimmt.35 Die Reformulierung der Rechtsstellung der Beamten wurde von der unter italienischen Verwaltungsrechtlern verbreiteten Auffassung geleitet, dass „die Ausübung öffentlicher Funktionen dem Angestellten eine solche Würde verleiht, daß jede Art von Konflikt von vornherein auszuschließen und eine totale Dienstbereitschaft und Identifikation des Beschäftigten mit der Verwaltung wie mit ihren Zielen grundsätzlich gerechtfertigt erscheint.“36 Dass mit diesen verwaltungspolitischen Reformerlassen eine allgemein von liberalen und sozialistischen bis hin zu den radikal nationalistischen Kreisen lange Zeit schon als überfällig angesehene Strukturanpassung des Staatsapparates an die grundlegend veränderten Bedingungen des Verhältnisses von Staat und ziviler Gesellschaft angestrebt wurde, gehört zu den Gemeinplätzen der neueren Verwaltungsgeschichtsschreibung. Auch besteht Übereinstimmung darüber, dass die Bürokratiereform des frühen Faschismus im Grunde allenfalls die von den vorangegangenen liberalen Regierungen entworfenen verwaltungspolitischen Reformpläne verwirklichte und im Übrigen natürlich weit hinter der rhetorischen Radikalität der faschistischen Programmatik zurückgeblieben sei. Ruffilli gelangt zu dem Schluss, dass „das nur teilweise neue Datum (...) darin zu sehen ist, daß eine ‚starke‘ Regierung und ein charismatischer Führer die Verwirklichung der Reformen in die Wege leitete. Das andere, ebenfalls nur partiell neue Datum bestand indessen in der Reduktion jener Reform auf eine Reihe von Maßnahmen zur Stärkung des ‚vertikal-hierarchischen‘ Charakters der Verwaltung und zur Gewährleistung der Konsolidierung der neuen Regierungsmacht unter den Bedingungen einer ‚rebellischen und gespaltenen‘ Gesellschaft.“37 Es bleibt aber festzuhalten, dass im Kontext der frühfaschistischen Verwaltungspolitik erstmals in der italienischen Verwaltungsgeschichte Fragen der Bürokratiereform auch unter der komplexeren Perspektive einer 35 Mario Rusciano: L’impiego pubblico in Italia, Bologna 1978, S. 143; Alfredo Corpacci: La cultura giuridica e il problema del pubblico impiego dal 1909 al 1930: appunti dalle riviste, in: Rivista trimestrale del diritto pubblico, Bd. 3., 1977, S. 1283 ff. 36 Rusciano 1978 (wie Anm. 35), S. 142 f. 37 Roberto Ruffilli: La riforma amministrativa dal 1922-1924 e la crisi del liberalismo amministrativo, in: Rivista trimestrale del diritto pubblico, Bd. XXV, Nr. 3, 1975, S. 1427-1581. Zu den Aktivitäten der vorfaschistischen Reformkommissionen vgl.: Raffaele De Felice: Formazione e evoluzione dello stato giuridico degli impiegati civili dello stato, in: Amministrazione Civile, Jg.V, 1961, S. 177-193.
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Bewältigung von strukturellen Modernisierungsproblemen der italienischen Verwaltungsordnung gestellt wurden – Probleme, die mit zu den wichtigsten Konfliktpotentialen der sich nach Ende des Weltkrieges akzentuierenden Funktions- und Legitimationskrise der Staatsadministration zählten.38 Im Interesse eines tieferen Verständnisses der frühfaschistischen Reformanstrengungen, ihrer politischen Inhalte und strukturellen Dimensionen soll im Folgenden die verwaltungspolitische Problematik dieser Periode näher betrachtet werden.
III. Zunächst ist hervorzuheben, dass die faschistische Reformpropaganda so gut wie alle konstitutiven Topoi der liberalen Bürokratiekritik übernommen hatte und insofern sowohl in konzeptioneller Hinsicht als auch inhaltlich in der Kontinuität des „administrativen Liberalismus“ befangen blieb. Konkret bedeutete dies vor allem eine eindeutig vorgegebene administrationspolitische Problemdefinition. Sowohl das Programm einer quantitativen, personalen und finanziellen Reduktion des Staatsapparates bzw. der Staatsausgaben als auch die Forderungen nach organisatorischer Rationalisierung sowie nach Verwirklichung der formalrechtlichen Grundsätze von Legalität und Regelhaftigkeit in den verwaltungspolitischen Entscheidungsprozessen gehörten bereits zum traditionellen Kernproblembestand des rechts- wie verwaltungspolitischen Liberalismus.39 Bezeichnend für die Reformanstrengungen der faschistischen Regierung war somit, dass sich die Verwaltungs- und Beamtenpolitik sozusagen in einem administrationspolitischen Paradoxon bewegte: Die liberale Problemkontinuität verpflichtete die radikal antiliberale, von einem extremen Autoritarismus und Etatismus beseelte, faschistische Regierung zum Vollzug (und zur Rechtfertigung) einer im Kern antietatistischen und letztlich am liberalen Gesellschaftsmodell orientierten verwaltungspolitischen Reformkonzeption. Selbst die vor allem beamtenrechtlich durchgesetzte neoabsolutistische Wendung jener liberalen Prämissen, mit der das faschistische Regime den Verwaltungsautoritarismus durchzusetzen bestrebt war, konnte diese Aporie der Ausgangssituation nicht auflösen. 38 Capano, G.: La improbabile riforma amministrativa nell’Italia repubblicana, Bologna 1992; Giovanni Melis: Storia dell’amministrazione italiana: 1861-1993, Bologna 1996. 39 Vgl. Ruffilli 1975 (wie Anm. 37), S. 1529 f.
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Doch auch die verwaltungsinternen Machtkonstellationen setzten dem faschistischen Reformeifer in diesen Jahren enge Grenzen. Jeder politische, rechtliche, aber auch so gut wie jeder rein technische oder organisatorische Neuerungsversuch sah sich sofort mit unterschiedlichen Formen verwaltungsinterner Resistenzen konfrontiert. Überflüssig hervorzuheben, dass sich diese Widerstände freilich nicht als antifaschistische Opposition artikulierten, wohl aber, besonders in den oberen Rängen der Verwaltungshierarchie, sofort heftige Reaktionen der Besitzstandswahrung auslösten, worauf weiter unten ausführlicher eingegangen wird. Auch die faschistische Regierung musste jedenfalls jederzeit mit den stummen, aber hartnäckigen Prätentionen und Resistenzen der in vielfacher Hinsicht privilegierten Beamtenschaft rechnen. Beruhte das berufsständische Bewusstsein der Staatsangestellten doch auf der fest verankerten Vorstellung, dass sie aufgrund ihrer besonderen Stellung im Staat einen Anspruch hätten auf „den Erhalt jenes Privilegienzusammenhanges der öffentlichen Verwaltung, welcher die Rechte und die legitimen Interessen der einzelnen Bürokraten zu schützen sowie zugleich die Machtpositionen und die Autonomie der bürokratischen Verwaltung als Ganzer gegenüber der politischen Klasse und den gesellschaftlichen Kräften zu wahren vermag.“40 Abstrahiert man von den autoritären Ausprägungen und Orientierungen der frühfaschistischen Verwaltungsreformpolitik, dann ist besonders das ihr zugrundeliegende juristische, genauer das verwaltungsrechtliche Problemverständnis hervorzuheben. Die Annahme, dass sowohl die Grundprinzipien wie die inhaltlichen Reformziele der von der faschistischen Regierung verwirklichten Verwaltungspolitik zu Beginn der zwanziger Jahre im Wesentlichen dem traditionellen konservativ-liberalen Bürokratie- und Reformverständnis entsprachen, kann im Kern auf diese spezifische Einschränkung zurückgeführt werden. Unter diesen Voraussetzungen mussten dann aber die Möglichkeiten der Artikulation eines eigenständigen Programms zur wirksameren politischen Kontrolle der Verwaltungsexekutive von vornherein erheblich begrenzt erscheinen. Berücksichtigt man zudem den Umstand, dass nach der faschistischen Machtübernahme keine führerimmediaten, rechtsenthobenen oder auch nur verwaltungsunabhängigen Stabsorganisationen, vergleichbar den charismatischen Stäben im Hitler-Regime, in der Spitzenorganisation des italienischen Regierungssystems aufgebaut werden 40
Ruffilli 1975 (wie Anm. 37), S. 1535
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konnten, so wird deutlich, wie begrenzt der Handlungsspielraum der neuen politischen Führung gegenüber den bestehenden bürokratischen Ausführungsorganen gewesen sein muss. Mit der Anerkennung der formalrechtlichen Grundprinzipien der Verwaltungsordnung und mit der Übernahme der im Wesentlichen verwaltungsrechtlich konzipierten Bürokratiereform war im Grunde auch die Richtung, die der Prozess der Veralltäglichung der neuen charismatischen Konstellation schließlich nehmen sollte, bereits vorgezeichnet. Darüber hinaus blieben damit auch die Machtverhältnisse im Binnenbereich des zentralen Verwaltungs- und Regierungssystems weitgehend unverändert. Wie im Folgenden eingehender gezeigt wird, konnten die konservativen Kräfte der Staatsbürokratie in der Praxis ihre strukturelle Überlegenheit in allen wichtigen Bereichen auch gegenüber den radikalen faschistischen Reformkräften nahezu ungehindert zur Geltung bringen. Auf verwaltungsrechtlicher Ebene stellten sich die faschistischen Bürokratiereformer in den ersten Jahren nach der Machtübernahme dieser Herausforderung jedenfalls nicht. Aufgrund der prononciert technokratischen Reformorientierung besonders von Parteikräften wurde der Machtkonflikt zwischen Bürokratie und Faschismus vor allem auf dem Gebiet der verwaltungspolitischen wie -technischen Modernisierungs- und Rationalisierungspolitik ausgetragen. Doch auch in diesem Zusammenhang konnte sich die neue politische Führung gegenüber den bürokratischen „Mächten des Alltags“, denen Max Weber in seiner herrschaftssoziologischen Theorie der Veralltäglichung des Charisma eine so große Bedeutung beimisst, am Ende nicht durchsetzen. Das Scheitern der faschistischen Projekte zur Rationalisierung und Modernisierung der Staatsverwaltung wurde auch in faschistischen Parteikreisen registriert und zum Gegenstand einer radikalen Kritik der Staatsbürokratie und der Veralltäglichungstendenzen der faschistischen Revolution. Die politischen Möglichkeiten, die sich besonders für die faschistische Bürokratiereform aus einer Erweiterung des konventionellen rechtsdogmatischen Horizonts ergeben konnten, hat beispielsweise Ettore Lolini, ein überzeugtes Mitglied des PNF und höherer Beamter der zentralen Finanzverwaltung, früh erkannt.41 In Fragen der Bürokratiereform vertrat Lolini eine selbst aus faschistischer Sicht extreme Position. Darüber hinaus repräsentierte er eine Strömung der faschistischen Verwaltungsreformbewegung, 41
Zu Lolini vgl. Ferdinando Cordova: Le origini dei sindacati fascisti, Bari 1974, S. 217.
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die sich vor allem im faschistischen Parteizusammenhang herausgebildet hatte und deren Reformverständnis er aufschlussreich politisch radikalisierte.42 Lolinis artikulierte seine verwaltungspolitischen Vorstellungen zunächst in einer Reihe scharfer Kritiken an der Beamtenpolitik der faschistischen Regierung. Damit machte er sich als ein früher Kritiker der administrationspolitischen Grundkonzeption, deren verwaltungsrechtliche Borniertheit er wiederholt hervorhob, rasch einen Namen. Ein anderes fundamentales Problem sah Lolini darin, dass die Formulierung der Grundlinien und mehr noch der praktischen Ausführungsbestimmungen den Reformkommissionen bzw. Verwaltungsgremien überlassen blieben, die sich ausschließlich aus verwaltungsintern rekrutierten Mitgliedern, also Beamten, zusammensetzten. Damit wies Lolini auf eine entscheidende institutionelle Restriktion der Bürokratiereform hin, welche auch die in Verwaltungsangelegenheiten so entschieden autoritär auftretende faschistische Führung nicht ignorieren konnte. In der Praxis bedeutete dies nämlich, dass in letzter Instanz die Ragioneria generale dello Stato, eine Art Zentralorgan der staatlichen Finanzverwaltung mit weitgehenden Kontroll- und Regulierungskompetenzen in haushaltspolitischen, aber auch in administrationspolitischen Fragen, exklusiv mit der Erarbeitung und Formulierung der einschlägigen Ausführungsbestimmungen beauftragt worden war. Die Verwirklichung wichtiger Einzelaspekte und die Bearbeitung der Folgeprobleme der verwaltungspolitischen Reformerlasse aus dem Jahre 1923, besonders aber Fragen des Personalbestandes, der Karrieregruppierung, der Gehaltsstufen usw., verblieben weitgehend im exklusiven Kompetenzbereich der Ragioneria. Neben den traditionellen Aufgaben der Kontrolle der Staatsfinanzen gehörte zum Kompetenzbereich der Ragioneria „die Prüfung der das Personal des Staates betreffenden Maßnahmen, zum Zwecke einer Kontrolle der Zahl der Staatsbediensteten und einer Sicherung der Gleichbehandlung nach Maßgabe der verschiedenen Laufbahnordnungen der aktiven wie der pensionierten Beamten.“43 Darüber hinaus gehörte zu ihrem engeren Aufgabenbereich die rechtliche Prüfung sämtlicher Entscheidungen, die die „Rechtsordnung des staatlichen Verwaltungspersonals“ sowie „das Einheitsgesetz und die Ausführungsbestimmungen zur Rechtsstellung der Beamten sowie zur finanziellen Versorgung der Lohnabhängigen des Staates“ betrafen.44 Dieses oberste verwaltungsinterne 42
Ettore Lolini: Per l’attuazione dello stato fascista, Florenz 1928. Marieno D’Amelico (Hrsg.): Nuovo Digesto, Turin 1937-1940, Jg. 1939, S. 1069 ff. 44 Ebd. 43
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Entscheidungsgremium, das dem Finanzministerium unterstand, konnte freilich keinerlei verwaltungsexterner Kontrolle unterworfen werden. Dass sämtliche Verwaltungsangelegenheiten und diese betreffenden Gesetzesentscheidungen wie Ausführungsbestimmungen nurmehr von der faschistischen Regierung kontrolliert werden konnten, ist bereits dargelegt worden. Doch selbst dieses Residuum an politischer Kontrollmöglichkeit beschränkte sich sehr bald fast nur noch auf den Regierungschef persönlich. Ihm allein standen seit den Verfassungsänderungen der Jahre 1925 und 1926, wie wir gesehen haben, alle formalen Entscheidungs- und Kontrollkompetenzen in Verwaltungsfragen zu. Schließlich beinhaltete das „Gesetz über die Befugnisse der Exekutive, Rechtsnormen zu erlassen“, insbesondere jene Gesetze, welche die Exekutive im Allgemeinen, die Organisation und Funktionen der öffentlichen Verwaltung, Personalangelegenheiten sowie die rechtliche und politische Ordnung der parastaatlichen Organisationen betrafen.45 Doch darüber hinaus hatte sich Mussolini noch im Vorfeld der Gesetzesentscheidungen zur Verwaltungsreform mit einem Erlass aus dem Jahre 1923 für alle Maßnahmen, die die personelle Zusammensetzung von Kommissionen zur Bürokratiereform oder etwaige ministerielle Ausführungserlasse betrafen, ein persönliches Vetorecht vorbehalten.46 Lolini ging es indessen nicht primär um verwaltungspolitische Kontrollfragen. Hinter der Kritik an der „buchhalterischen Mentalität der Ragioneria dello Stato, die nach kasuistischer Manier Gesetze erläßt“,47 ist ein brisanteres politisches Problem erkennbar, das die Veralltäglichungstendenz der faschistischen Revolution verdeutlichen hilft. Ein zentrales Motiv von Lolinis Bürokratiekritik verweist nämlich auf dessen frühere Mitarbeit in einer der sogenannten Gruppi di competenza („Sachverständigengruppen“),48 denen besonders in verwaltungspolitischer Hinsicht in den ersten anderthalb Jahren nach dem „Marsch auf Rom“ eine außerordentlich große politische Bedeutung beigemessen wurde. Ursprünglich als eine Art technischer Räte konzipiert, sollten diese verwaltungspolitischen Parteiorgane auf verschiedenen Ebenen die Staatsbzw. Verwaltungsgremien bei der geplanten Transformation des liberalen 45
Candeloro 1986 (wie Anm. 27), S. 138. Der betreffende Regierungserlass findet sich im Wortlaut abgedruckt bei Alberto De Stefani: Una riforma al rogo, Roma 1963, S. 71 f. 47 Lolini 1928 (wie Anm. 42), S. 74. 48 Vgl. dazu Cordova 1974 (wie Anm. 41), S. 217. 46
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politischen Systems vorrangig in technischen, aber freilich auch in politischen Organisationsfragen beraten und unterstützen. Zu ihren Hauptaufgaben gehörte es vor allem, als parteiinterne Studiengruppen zu verschiedenen, je aktuellen tages- bzw. strukturpolitischen Fragen Expertisen anzufertigen und dem Gran Consiglio, dem Faschistischen Großrat, zu unterbreiten. Damit verknüpft war anfänglich die Vorstellung, dass sich über diese verwaltungspolitischen Fachgremien des PNF neue, auf verwaltungspraktischem Gebiet qualifizierte und politisch zuverlässige Kader heranbilden ließen, „denen es zur Ehre und Pflicht gereichen sollte, die technische Reorganisation des gesamten politisch-administrativen Sektors des öffentlichen Lebens in Italien vorzunehmen.“49 Außerdem war für die Gruppi di competenza auch ein besonderer institutioneller Vermittlungsstatus zwischen der Parteiorganisation, den Gewerkschaften und dem Verwaltungsapparat vorgesehen, eine Position, die einige Grundcharakteristika der angestrebten institutionellen Verzahnung dieser gesellschaftlichen Institutionen im korporativen System in nuce vorwegnahm. Mit anderen Worten, aufgrund ihrer professionellen und technischen Kompetenz sowie ihrer verwaltungsexternen und parteiinternen Rekrutierungsbasis sollten sie gleichsam als Basiszellen der faschistischen Korporationen und der neuen staatlichen Planungsbürokratien tätig werden.50 Soweit solche Sachverständigenorgane überhaupt ins Leben gerufen worden waren, blieb ihr politischer Einfluss indes äußerst gering und ihre Lebensdauer begrenzt. Bereits im Sommer 1923 war die Idee, quasikorporative Mediatisierungsgruppen als Parteiorgane mit öffentlich-rechtlichem Status zu schaffen, nicht mehr Gegenstand ernsthafter politischer Planung.51 Lediglich im internen Verwaltungsbereich erlangte die Idee der politischen Sachverständigengruppe, wenn auch nur vorübergehend, noch ein gewisses Maß an praktischer politischer Bedeutung. Eine nationale „Fachgruppe zur Verwaltungsreform“ wurde im Jahre 1922 ins Leben gerufen. Als Vorsitzender wurde Massimo Rocca ernannt, einer der maßgeblichen Initiatoren 49 A. Aquarone: Aspirazioni tecnocratiche del primo fascismo, in: Nord e sud, Bd. XI, N.S., 1964, S. 113. 50 Vgl. David Roberts: The Syndicalist Tradition and Italian Fascism, Chapel Hill 1979, S. 234; Cordova 1974 (wie Anm. 41), S. 101 f. 51 Aquarone 1965 (wie Anm. 27), S. 120; Cordova 1974 (wie Anm. 41), S. 164; Roberts 1979 (wie Anm. 50), S. 234; Adrian Lyttelton: La conquista del potere. Il fascismo dal 1919 al 1929, Bari 1982, S. 249 und 268.
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und eifrigsten Organisatoren dieses Projektes. Zu den Mitgliedern zählte auch Lolini.52 Das Arbeitsresultat dieses verwaltungspolitischen Parteiorgans, eine Zusammenstellung allgemeiner Richtlinien zur Verwaltungsreform, wird schließlich im März 1923 dem Gran Consiglio unterbreitet. Zusammengefasst beinhaltet das Grundsatzprogramm zum größten Teil höchst abstrakte und politisch wirkungslose Vorschläge, wie zum Beispiel diejenigen zur teilweisen Privatisierung von ökonomischen Staatsfunktionen, zur Dezentralisierung der Verwaltungsstrukturen, zur Beschränkung der Zuständigkeiten der Ragioneria Generale, zur Einrichtung einer autonomen Verwaltungsjustiz sowie zur Bildung von sogenannten Consigli di disciplina (DisziplinRäten) in den einzelnen Ministerien. Zwei Programmpunkte sind aber besonders bemerkenswert: Die Forderung nach Einrichtung einer autonomen Verwaltungsjustiz und Disziplinargerichtsbarkeit für Staatsbeamte einerseits sowie die Bestrebungen zur Institutionalisierung von technisch kompetenten Beratungs- bzw. Kontrollinstanzen im Inneren der Ministerialbürokratie, sogenannte Consigli del Ministeri (Ministeriums-Räte), andererseits. Beide Organisationen sollten sich überwiegend aus verwaltungsexternen Mitgliedern sowie Vertretern der faschistischen Gewerkschaften zusammensetzen, womit sowohl Einfluss wie Interventionsmöglichkeiten des PNF garantiert gewesen wären. Außerdem sollte auf oberster Ebene und für die Dauer der Reformprozesse ein „Provisorisches Sonderbüro beim Ratspräsidenten“ zur Koordination und Durchführung der verwaltungspolitischen Reformmaßnahmen, mit ausschließlicher Verantwortlichkeit gegenüber dem Regierungschef, geschaffen werden.53 Es wäre müßig, hier der Frage nachzugehen, ob eine Verwirklichung der Reformvorstellungen, wie sie von der „Sachverständigengruppe“ entwickelt worden sind, auf längere Sicht wirklich den politischen Einfluss auf die faschistische Partei hätte sichern oder ob sich damit eine nennenswerte poli52
Zur Gründung vgl. die Zeitungsnotiz in: Il Giornale d’Italia vom 6. März 1923 unter dem Titel „Il gruppo di competenza per le pubbliche amministrazioni“. 53 Vgl. dazu die Interviews mit Giovanni Preziosi in: L’Epoca vom 17. März 1923 unter dem Titel „La riforma delle pubbliche amministrazioni nelle proposte dei gruppi di competenza“ sowie in Il Giornale d’Italia; außerdem den Zeitungsbericht zur Diskussion der Reformvorschläge im Gran Consiglio: „La riforma burocratica nella relazione del ‚gruppo di competenza‘“, in: L’Epoca vom 27. Februar 1923; ferner Renzo De Felice: Giovanni Preziosi e le origini del fascismo (1917-1931), in: Rivista storica del socialismo, Jg. V, 17, 1962, S. 519; Aquarone 1964 (wie Anm. 49), S. 89.
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tische Kontrolle der Staatsbeamtenschaft über die Staatsbeamtenschaft hätte durchsetzen lassen können. Tatsache ist jedenfalls, dass sämtliche Vorschläge seitens des Gruppo di competenza letztlich unberücksichtigt blieben und die Organisation selbst bald schon aufgelöst wurde.54 Auch über die Gründe für die Einstellung dieser Projekte zur politischen Verwaltungskontrolle kann im Grunde nur spekuliert werden. Höchstwahrscheinlich entsprachen manche Ideen der verwaltungspolitisch ambitionierten Parteileute nicht den Plänen oder Überzeugungen Mussolinis, der übrigens allem Anschein nach kein grundsätzlicher Gegner der überkommenen Bürokratie war,55 stets aber vehement gegen jegliche verwaltungspolitische Dezentralisierungsbestrebung vorging56 und, wie noch zu zeigen sein wird, jeder Stärkung des politischen Einflusses der Partei auf die Staatsverwaltung entschieden entgegenwirkte. Größeres Gewicht bei der Zurückdrängung der faschistischen Radikalismen in Verwaltungsfragen kamen demgegenüber jedoch den fest verankerten Machtpositionen der Staatsbürokratie zu, die sich auf allen Ebenen gegen jede Form der politischen Einmischung, der faschistischen Politisierungszumutung, der externen politischen Kontrolle und selbst der öffentlichen Kritik erfolgreich zur Wehr setzte. Die „lautlose Resistenz“ (Aquarone) der Bürokratie gegen parteipolitische Intervention bekam auch die „Sachverständigengruppe für die Verwaltungsreform“ zu spüren. Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn ihr Wortführer E. Lolini im Rückblick auf seine eigene, letztlich erfolglose Aktivistentätigkeit in der faschistischen Verwaltungsreformbewegung geradezu das Scheitern der faschistischen Revolution prophezeite: „Den politischen Machtübernahmen, den kühnsten Verfassungsänderungen und politischen Reformen einer Revolution ist es oft nicht gelungen, das politische Leben des Volkes tatsächlich zu erneuern, weil die Verwaltungsorgane, die die Revolution Tag für Tag, Stunde für Stunde in die Praxis umsetzen müssen, immer die gleichen geblieben sind und vor allem, weil die Menschen, die diese leiteten, stets aus dem alten Regime kamen und die alte Mentalität besaßen; geschickt gelingt es ihnen stets aufs neue mit formaler Dienstbeflissenheit gegenüber den neuen Herren und mit einer zur Schau getragenen Bescheidenheit, ihre geheime und
54
Vgl. Cordova 1974 (wie Anm. 41), S. 164 und Roberts 1979 (wie Anm. 50), S. 234. Vgl. De Felice 1981 (wie Anm. 3), S. 67 f. 56 Vgl. De Stefani 1963 (wie Anm. 46), S. 67 f. 55
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nahezu unbegrenzte Macht, die in der Substanz sogar diejenige des Ministers überschreitet, zu verbergen.“57 Vor dem Hintergrund des Debakels der gruppi di competenza wird somit ein tieferliegendes politisches Motiv von Lolinis früher Kritik an der faschistischen Verwaltungspolitik deutlich. Als Lolini wiederholt darauf hinwies, dass die faschistische Reform in den alten Strukturen der Bürokratie steckenzubleiben drohte, hatte er vornehmlich das Schicksal der Gruppi di competenza im Blick. Lolini sah in einer Institutionalisierung dieser Fachgruppen und insbesondere in dem Vorschlag, in den Ministerien verwaltungsextern rekrutierte Kontrollgremien und damit eine eigenständige Disziplinargerichtsbarkeit zu institutionalisieren, die effizientere administrationspolitische Alternative zu den herkömmlichen, die innovativen Impulse der faschistischen Verwaltungsreform blockierenden institutionellen Strukturen der Staatsverwaltung. Die Gruppi di competenza sind schließlich noch unter einem anderen Gesichtspunkt von Interesse: Sie drückten bereits in den ersten Monaten nach der faschistischen Machtübernahme die vor allem im administrationspolitischen Kontext offensichtlich werdende Dimension des technokratischen Politik- und Bürokratieverständnisses des Faschismus aus. Diese Tendenz kam zwar ebenfalls auf der politischen Bühne kaum zur Geltung, blieb aber in technisch-administrativer Hinsicht im engeren Sinne nicht gänzlich folgenlos. Abgesehen von den deutlich auf Verschärfung der beamtenrechtlichen Loyalitätsverpflichtung und auf politische Disziplinierung der Staatsangestelltenschaft abzielenden Strategien der faschistischen Regierung, betonten die faschistischen Verwaltungsreformer von Anbeginn die allgemeine Perspektive der eingeleiteten beamtenrechtlichen Rationalisierung in termini einer globalen Modernisierung des Staatsapparates. Nach der Grundkonzeption der liberalen Bürokratiereform zielte die Modernisierung der Staatsbürokratie letztlich auf eine „Anpassung der herkömmlichen absolutistischen Verwaltungsbürokratie auf funktionaler wie struktureller Ebene, an das ‚Projekt‘ der gesellschaftlichen Selbstverwaltung.“58 Im Unterschied dazu übersetzte der frühe Faschismus diesen Entwurf einer politischen Modernisierung in deutlich technokratisch ausgerichtete Leitlinien der bürokratischen Rationalisierung: Aufgrund der essentiell legalistischen Weise, in der die Regierungskrise gelöst wurde, sowie infolge des vagen und unsicheren Charakters seiner eige57 58
Lolini 1928 (wie Anm. 42), S. 46. Ruffilli 1975 (wie Anm. 37), S. 1532.
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nen Programmatik verzichtete der Faschismus in der ersten Phase auf vermeintlich radikale Umstrukturierungen im politischen Gesamtsystem. Stattdessen zielte er darauf ab, sich im Wesentlichen als Träger einer Rationalisierungspolitik im staatlichen Verwaltungsbereich zu präsentieren und für die Einführung produktivistischer Rationalitätskriterien und für eine rigorose technische Effizienzsteigerung in der Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten einzutreten. Diese Politik fand in einer Situation, in der der bürokratische Apparat tatsächlich Zeichen der Desaggregation oder zumindest extremer Verwahrlosung zeigte und die andauernde ökonomische wie soziale Krise der Nachkriegszeit zur allgemeinen Desorganisation und Vernachlässigung vieler zentraler wie peripherer Verwaltungsbereiche beitrug, breite Zustimmung in der bürgerlichen Öffentlichkeit. Unter diesen allgemeinen Voraussetzungen wurden im Rahmen der bürokratischen Reformdiskussion bald Ansätze deutlich, die eine Veränderung der allgemeinen Vorstellungen über Ziele und Mittel der technischen Rationalisierung und organisatorischen Modernisierung der Staatsverwaltung einleiteten. Damit wurde der traditionelle, vornehmlich verwaltungsrechtlich bestimmte Reformhorizont deutlich erweitert, was in politischen wie Verwaltungskreisen das Verständnis über Kriterien und Methoden der Verwaltungsmodernisierung grundlegend veränderte. Diese bemerkenswerte verwaltungspolitische Aufmerksamkeitsverschiebung nach der faschistischen Regierungsübernahme verdeutlicht eine weitere wichtige politische Dimension, die vornehmlich in den technokratischen Legitimationszielen des faschistischen Regimes zum Ausdruck kam und hier als qualitativ neue Perspektive der faschistischen Administrationspolitik hervorzuheben ist. Der in der politischen Satire oft ironisierten fahrplanmäßigen Pünktlichkeit des italienischen Eisenbahnverkehrs in der faschistischen Ära kommt in diesem Zusammenhang eine tiefere Bedeutung zu als gemeinhin angenommen, insofern, wie De Grazia treffend bemerkt, „making the trains run on time was in a very real sense as necessary to the prestige of fascism, if not more so, than affirmations of political loyality to the regime.“59 Das gilt grundsätzlich auch für die Bürokratie. Auch im Rahmen der allgemeinen Staatsverwaltung spielten technische und administrative Effizienzsymbole eine zunehmend wichtige Rolle bei den technokratischen Legitimationsbemühungen des Regimes. Hinzu kommt, dass in diesen Jahren die Frage der 59
De Grazia 1981 (wie Anm. 30), S. 140.
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technischen Verwaltungsmodernisierung in der Öffentlichkeit als dringendes Reformproblem wahrgenommen wurde. Die Situation fasst De Grazia folgendermaßen zusammen: „The state bureaucracy nevertheless faced personnel problems that were closely bound up with transformations and the lack thereof in the nature of bureaucracy labor during the period between the wars. The ‚discipline of respect‘, to use sociologist Michel Crozier’s phrase, which had regulated personnel relations in the nineteenth-century bureaucracy, had been undermined by new hirings, changing administrative procedures, huge salary disparities, and, finally, by the change of the regime itself; yet the ‚discipline of efficiency‘ of the rationally organized twenties century office hierarchy had hardly begun to be established. In this context, the need for mechanisms for building staff solidarity on an entirely new basis was particularly acute.“60 Beeinflusst durch die zu Beginn der zwanziger Jahre besonders in Unternehmerkreisen diskutierten Theorien und Methoden der wissenschaftlichen Arbeitsorganisation wurde auch in manchen oberen Rängen der Ministerialbürokratie ein Interesse für wissenschaftlich-technische Rationalisierungsmethoden geweckt.61 So entwickelte sich zunächst vor allem in den öffentlichen Dienstleistungs- und Versorgungsunternehmen, die unter einem gewissen technischen Effizienzzwang arbeiteten, wie etwa in den staatlichen Eisenbahnbetrieben oder den Post- und Telegraphenämtern, früh ein relativ starkes Interesse für die neuen wissenschaftlichen Rationalisierungsmodelle, die in den Vereinigten Staaten entwickelt und erprobt worden waren. Aber auch in einzelnen Ministerial- und Kommunalverwaltungen waren bereits erste Ansätze eines Interesses an den Anwendungsmöglichkeiten von tayloristischen Organisationsprinzipien in Büro- bzw. Verwaltungsbereichen erkennbar. Zur gleichen Zeit verstärkte sich auf dem italienischen Büromaschinenmarkt das Angebot an modernen Technologien, mit denen mehr oder weniger redundante Grundtätigkeiten der Büroarbeit mechanisiert oder
60
Ebd., S. 141. Zur wissenschaftlich-technischen Rationalisierungsbewegung in den Zwischenkriegsjahren vgl.: Dwight Waldo: The Administrative State. A Study of the Political Theory of American Public Administration, New York 1984; Charles S. Mover: Between Taylorism and Technocracy: European Ideologies and the Vision of Industrial Productivity in the 1920s, in: Journal of Contemporary History, März-April 1970, S. 27-61; zur Rezeption der amerikanischen Scientific-Management-Theorien in Italien vgl. Giulio Sapelli: Organizzazione del lavoro e innovazione industriale nell’Italia tra le due guerre, Turin 1978. 61
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automatisiert werden konnten.62 Die zunehmende Berücksichtigung dieser Impulse im Rahmen der allgemeinen Diskussion über Möglichkeiten der Rationalisierung und Modernisierung der Staatsapparate eröffnete auch für die Faschisten neue Perspektiven für die Bürokratiereform, die in die Richtung einer Verwissenschaftlichung der Reformdiskussion wiesen. Die technischen Möglichkeiten der sog. wissenschaftlichen Arbeitsorganisation zur Verbesserung der Verwaltungsarbeit, im Sinne einer Beschleunigung der Ausführungsprozeduren und einer rationelleren Ressourcenallokation waren auch Gegenstand der Diskussionen in dem Gruppo di competenza für die Verwaltungsreform. Wiederum war es vor allem Lolini, der im Zusammenhang seiner politischen Kritik an dem vorherrschenden juristisch begründeten Reformverständnis dieses Thema in der Öffentlichkeit aufgriff.63 In zwei Grundsatzartikeln aus den Jahren 1923 und 1926 thematisierte Lolini die Fragen der Bürokratiereform explizit als Problem der wissenschaftlichen Rationalisierung der öffentlichen Verwaltungen. Mit Bezug auf F. W. Taylor und auf die Ergebnisse, die die Anwendung der Prinzipien der wissenschaftlichen Arbeitsorganisation auch in den Büroabteilungen von Großunternehmen in den Vereinigten Staaten gezeitigt hätten, forderte Lolini eine Reform der italienischen Staatsverwaltungen nach Maßgabe jener wissenschaftlich-technischen Rationalisierungsmodelle. Darüber hinaus versprach er sich vornehmlich von einem verstärkten Einsatz der auf dem internationalen Büromaschinenmarkt angebotenen modernen Apparate eine deutliche Effizienzsteigerung, langfristige Kostensenkung und auch eine Vereinheitlichung sowie Vereinfachung der Arbeitsprozesse. Dabei dachte er vor allem an jene Büromaschinen, mit denen sich die vielen repetitiven Routinearbeiten in den Verwaltungen teilweise automatisieren bzw. die verwaltungsinternen Kommunikationsprozesse beschleunigen ließen: Neben der Schreibmaschine also vor allem Rechen-, Buchhaltungs- und Registrierautomaten, standardisierte Formulare, differenzierte Karteisysteme sowie Rohrpost und Telefonanlagen.64 In einigen Abteilungen der Post- und Telegraphenämter waren bereits seit mehreren Jahren gezielt Angestellte für Akkordarbeiten eingestellt wor-
62
Vgl. beispielsweise die Werbeanzeigen für Büromaschinen in L’Ufficio Moderno, hrsg. von E.N.I.O.S., insb. „II mercato italiano delle macchine per ufficio“, in. ebd., 1935, H. 1-3. 63 Lolini 1928 (wie Anm. 42), S. 17 ff. und 71 ff. 64 Vgl. Sapelli 1978 (wie Anm. 61), S. 207 ff.
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den.65 Diese ersten Schritte zur Teilautomatisierung und arbeitsteiligen Neuorganisation bestimmter Tätigkeitsbereiche in Post- und Telegraphenämtern, über deren tatsächliche Dimension und praktische Auswirkungen allerdings so gut wie keine verlässlichen Daten vorliegen, wurden durch ein verstärktes Eindringen von nur gering qualifizierten, überwiegend weiblichen Arbeitskräften in den Staatsdienst begleitet.66 In seltener Offenheit bemerkte z. B. im Jahre 1927 ein italienischer Referent auf dem 3. Weltkongress zur wissenschaftlichen Betriebsführung im Zusammenhang seines Berichts über die Einführung von neuen Klassifiziermaschinen in der Buchhaltungsabteilung der staatlichen Eisenbahnverwaltung, dass sich die Verwaltungsleitung von dieser Maßnahme nicht nur eine Beschleunigung und Vereinfachung der Arbeitsabläufe, sondern auch eine bis zu fünfzigprozentige Reduktion des Personals sowie den Ersatz der restlichen männlichen Belegschaft durch weibliche Arbeitskräfte versprach.67 Anhand einzelner Berichte über verwirklichte Rationalisierungsprojekte, wie sie ab Mitte der zwanziger Jahre im renommierten Fachorgan des italienischen Verbandes für wissenschaftliche Arbeitsorganisation dem Ente nazionale italiano per l’organizzazione scientifica del lavoro (E.N.I.O.S.) veröffentlicht wurden,68 lässt sich allerdings ein gewisser Einblick gewinnen in die zu jener Zeit aktuellen Modernisierungsvorstellungen. Auf dem im Jahre 1927 in Rom veranstalteten und von der E.N.I.O.S. organisierten 3. Internationalen Kongress für wissenschaftliche Betriebsführung berichtete L. Picarelli im Rahmen eines Referats über „Wissenschaftliche Organisation der Post- und Telegraphenverwaltung“ über die Grundsätze, die seit der Übernahme des neugeschaffenen Kommunikationsministeriums durch Constanzo Ciano im Jahre 1924 die technischen und organisatorischen Reorganisationen der Post- und
65
Vgl. Melis 1984 (wie Anm. 5), S. 377 Literarische Verarbeitungen der mit der Taylorisierung der Verwaltungstätigkeiten einhergehenden Entfremdungserfahrungen, wie sie beispielsweise Matilde Serao, eine Angestellte des Telegraphenamtes von Neapel, im Jahre 1883 in der Form einer Arbeitsreportage oder N. Jasmar in den „Ricordi di una telegrafista“ im Jahre 1913 veröffentlichten, bestätigen dies. Vgl. dazu Melis 1984 (wie Anm. 5), S. 373 f. 67 O. Valerio: L’impiego delle macchine ‚classificatrici‘ nella contabilitá delle ferrovie italiane dello Stato, in: E.N.I.O.S.: Atti del III. Congresso internazionale di organizzazione scientifica del lavoro, Roma 1927, S. 554 f. 68 Vgl. Gino Olivetti (Hrsg.): L’organizzazione scientifica del lavoro 1926-1937, Mailand 1974. 66
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Telegraphenverwaltung bestimmt hatten.69 Außerdem zählt Picarelli die neu in der Postverwaltung angeschafften Apparate auf. Dazu gehörten neben Fahrrädern und Personenwagen u. a. automatische Stempelmaschinen, pneumatische Rohrpostsysteme, automatische Transportbänder, Frankiermaschinen sowie modernste Briefkästen mit automatischen Entleerungsmechanismen. Der Referent hob noch hervor, dass besonders im Bereich der Buchhaltung, des Postzahlungs- und Postsparverkehrs durch die Einführung von automatischen Rechen- und Buchhaltungsmaschinen große Rationalisierungsfortschritte erzielt werden konnten. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch der Hinweis auf die gewissermaßen komplementären sozialen Funktionen, die eine betriebliche Freizeitorganisation für Postangestelle im Dopolavoro Postelegrafico übernehmen sollte.70 Über einen einzigartigen Modellversuch zur technischen Rationalisierung der Verwaltungsarbeit in einer Ministerialabteilung wird in einem Beitrag der Fachzeitschrift L’organizzazione scientifica del lavoro im Jahre 1927 berichtet. Das Rationalisierungsziel war präzise bestimmt: Es handelte sich darum, die Zeit zu verringern, die ein Amtsschreiben im Behördendurchlauf, d. h. in diesem Falle vom Eingang bis zur Absendung der Rückantwort, in der Ministerialabteilung benötigte. Zu diesem Zweck wurden im Wesentlichen drei organisatorische Veränderungen in der Abteilung durchgeführt. Zum einen war eine Art „gleitender Arbeitszeit“ eingeführt worden, die eine über den gesamten Arbeitstag besser verteilte Präsenz der Angestellten und damit kontinuierlichere Arbeitsprozesse ermöglichte. Zum anderen war generell der Gebrauch der Schreibmaschinen in der Abteilung zur Pflicht gemacht worden. Dies bedeutete, dass für alle Schreibvorgänge direkt eine Kopie des jeweiligen Schriftstücks angefertigt werden konnte, während zuvor alle Texte erst in einem zweiten Arbeitsgang kopiert worden waren. Außerdem wurden die Sachbearbeiter durch diese Maßnahme dazu veranlasst, jeweils die endgültige Form des Schreibens abzufassen und nicht, wie sonst in der italienischen Staatsverwaltung üblich, zunächst handschriftliche Briefentwürfe, sog. minute, zu formulieren, die erst von den Vorgesetzten korrigiert werden mussten, bis sie schließlich, nach Durchlauf aller Hierarchiestufen, zur endgültigen Fassung gelangten. Ferner waren zur Erleichte69
L. Picarelli: L’organizzazione scientifica nella amministrazione delle poste e dei telegrafi, in: E.N.I.OS.: Atti del III. congresso internazionale dell’organizzazione scientifica del lavoro, Roma 1927, S. 1110-1120. 70 Ebd., S. 1117; vgl. De Grazia 1981 (wie Anm. 30), S. 140 ff.
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rung der amtsinternen Verständigung, freilich auch zur Verbesserung der Kontrollmöglichkeiten seitens der Abteilungsleiter, die Einzelbüros in größere Büroeinheiten umgewandelt worden. „Auf diese Weise wurde eine raschere Kommunikation zwischen Vorgesetzten und Untergebenen möglich. Damit sind zugleich auch alle spanischen Wände, die Sessel und Divane, mit denen die verschiedenen Büros möbliert waren, verschwunden. Auch wurde ein Großteil der Amtsdiener überflüssig und entlassen.“71 Die Resultate dieser exemplarischen Reorganisation der Ministerialabteilung nach Maßgabe allgemeiner Grundsätze der wissenschaftlichen Arbeitsorganisation waren in der Tat eindrucksvoll. Der Autor berichtete, dass eine außerordentliche Beschleunigung der Schreibvorgänge erzielt werden konnte: Jedes Amtsschreiben wurde danach innerhalb von drei Arbeitstagen beantwortet. Durch die Abschaffung der handschriftlichen Kopierarbeiten konnten immerhin vier Fünftel der Schreibkräfte eingespart werden. Außerdem wurden noch durch die Anschaffung einer automatischen Buchhaltungsmaschine (der „Monroe“) beachtenswerte Rationalisierungsresultate auch in der Buchhaltungsabteilung erzielt. Ferner wurde eine Statistikabteilung eingerichtet, in der die überzähligen Angestellten aus den anderen Büros zusammengefasst und, nach entsprechender Unterweisung in ministeriumsinternen Ausbildungskursen, an der modernsten amerikanischen Rechenmaschine (der „Powers“) eingesetzt wurden. Die wenigen überlieferten Beispiele für praktisch durchgeführte wissenschaftlich-technische Rationalisierungen von Behörden der öffentlichen Verwaltung genügen freilich nicht, um allgemeingültige Schlussfolgerungen über die tatsächlichen Ausmaße der organisatorischen Rationalisierung und technischen Modernisierung der zentralstaatlichen Bürokratie in Italien in der Zeit zwischen den Weltkriegen abzuleiten.72 Bemerkenswert ist indes, dass sich in diesen Jahren eine Problemverschiebung im Rahmen der bürokratischen Reformdiskussion andeutete, die erstmals die Leistungspraxis und die -normen der öffentlichen Verwaltungen nach Maßgabe technischer Rationalitätskriterien in Frage stellte. Überdies wurde deutlich, wie sich technokratisch ambitionierte Kräfte des PNF im staatlichen Verwaltungsbereich um politische Einflussmöglichkeiten bemühten. Mit den erwähnten Ansätzen zur „Taylorisierung“ und „Amerikanisierung“ auch der staatlichen Verwaltungsorganisation wurde die primär verwaltungsrechtliche bzw. im enge71 72
Ebd., S. 219. Zum Forschungsstand vgl. Melis 1984 (wie Anm. 5), S. 375.
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ren Sinne haushaltspolitische Perspektive der Bürokratiereform, wie sie in der herkömmlichen italienischen Verwaltungsreformpolitik vorherrschend gewesen war, um eine technokratische Dimension erweitert. Dies gilt sowohl für ihre verwaltungsorganisatorischen als auch für die damit verknüpften politischen Implikationen. So wird die administrationspolitische Programmatik, mit ihren beiden Leitzielen: Reduktion des Personalbestandes und Vereinfachung der Verwaltungsdienste, nicht mehr nur ausschließlich als öffentlich-rechtliches bzw. verwaltungsrechtliches Problem behandelt. Sondern die Reformmöglichkeiten werden zunehmend auch nach Maßgabe spezifisch technischer Effizienzkriterien erörtert. In personalpolitischer Hinsicht bedeutete dies nun aber, dass die bisher vornehmlich als Rechtsfiguren behandelten Loyalitätsbeziehungen und Disziplinfragen, von deren rechtsdogmatischer Reformulierung sich die führenden Staatsrechtslehrer und die Verwaltungselite freilich auch Rationalisierungseffekte im verwaltungstechnischen Sinne erhofft hatten, in den Hintergrund traten. Demgegenüber trat die Vorstellung einer bürokratischen Leistungssteigerung durch eine vor allem technisch und organisatorisch zu verwirklichende Intensivierung der Verwaltungsarbeit in den Vordergrund. Die tayloristischen Grundsätze der wissenschaftlichen Arbeitsorganisation und die zunehmende Vermarktung von neuen Büro- und Kommunikationstechnologien veränderten somit die Grundmuster der vorherigen Reformstrategien im Verwaltungsbereich. Im Jahre 1928 – möglicherweise noch unter dem Eindruck des nur wenige Monate vorher mit großem propagandistischem Aufwand in Rom beendeten 3. Weltkongresses für die wissenschaftliche Betriebsführung, dessen Bedeutung Mussolini in einer Abschlussrede emphatisch gewürdigt hatte73 – wurde auf Initiative des Regierungschefs erneut eine interministerielle Kommission zur Verwaltungsreform ins Leben gerufen. Diese Kommission stellte sich die Aufgabe, Probleme und Möglichkeiten der technischen Modernisierung und organisatorischen Rationalisierung der Staatsverwaltung systematisch zu untersuchen und entsprechende Vorschläge für eine effizientere Verwaltungspolitik zu erarbeiten. Nicht jedoch auf den inhaltlichen Arbeitsresultaten, über die so gut wie keine Informationen überliefert sind, sondern auf den außergewöhnlichen Umständen, die zu der überraschenden Auflösung der Reformkommission und zur Vernichtung des erarbeiteten Expertenwissens geführt haben, gründet die historische Bedeutung der Ak73
Vgl. E.N.I.O.S. 1927 (wie Anm. 67).
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tivitäten dieser Kommission. Darüber berichtete ausführlich De Stefani, der Kommissionsvorsitzende und ehemalige Finanzminister. In der Rekonstruktion dieser Vorgänge, die De Stefani unter dem Titel „Eine Reform auf dem Scheiterhaufen“ nach dem Kriege veröffentlichte, beschrieb der eigensinnige Verwaltungsreformer anschaulich das klägliche Ende, welches den Vorschlägen dieses Gremiums beschieden war: „Der Bericht, zusammen mit den Vorschlägen, die man daraus ableiten konnte und einem umfangreichen dokumentarischen Anhang, wurde von der Staatsdruckerei gedruckt. Dabei entstand ein Band mit insgesamt 147 Seiten und einem gelb-orangenen Einband. (...) Wir präsentierten den Bericht am 31. März 1929 morgens dem Duce; die Kommission war vollzählig vertreten und hatte das gelb-orangene Buch mit unseren wohlbegründeten Vorschlägen mitgebracht. (...) Mussolini hörte sich die von mir kurz zusammengefassten Gründe und Vorschläge an, wobei er ein rätselhaftes Schweigen bewahrte – die Ruhe vor dem Sturm… Wir hatten nämlich vergessen, die politischen Aspekte und politischen Konsequenzen zu berücksichtigen – ein unverzeihliches und schweres Manko für acht Parlamentarier der ersten Wahl. (...) Das gelb-orangene Buch ward nie wieder gesehen. Mussolini befahl dem Staatsinspektor Domenico Bartolino, den Text in den Öfen der Staatsdruckerei zu verbrennen. Nur zwei Exemplare blieben, soweit ich weiß, verschont.“74 Mussolinis Einwände bezogen sich laut De Stefani vor allem auf die möglichen Konsequenzen einer forcierten Rationalisierung der Staatsbürokratie, nämlich auf den damit notwendig einhergehenden Personalabbau und auf die Einstellungsrestriktionen im öffentlichen Dienst. Davon wären nach Mussolinis Ansicht hauptsächlich Hochschulabgänger aus dem italienischen Mezzogiorno betroffen gewesen. Diese seien aber besonders zu fürchten, soll der Duce die Kommissionsmitglieder gewarnt haben: „Man muß eine Politik der größten Stellenzahl in der Staatsbürokratie verfolgen, wenn wir uns nicht eine Hungerrebellion aufhalsen wollen, denn der Hunger – ich betone: der Hunger – von Intellektuellen ist der am schwersten zu stillende.“75 Mit der Auflösung der Commissione De Stefani wurde gleichsam ein Schlussstrich unter die verwaltungspolitischen Experimente des Faschismus gezogen, zumindest soweit sie auf eine Veränderung der verwaltungsinternen Macht- und Organisationsstrukturen abzielten. Das offensichtliche 74 75
De Stefani 1963 (wie Anm. 46), S. 12 f. Zit. n. ebd.
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Scheitern sämtlicher Vorhaben, von der praktischen Erfolglosigkeit der Gruppi di competenza für die Verwaltungsreform bis zur Blockierung der technischen Rationalisierungspläne, zeugte gewiss nicht zuletzt von konzeptionellen Schwächen der faschistischen Reformpolitik. Das Scheitern all dieser Bestrebungen veranschaulicht aber auch die konsistenten Abwehrkräfte einer bürokratischen Struktur und eines Beamtenstandes, die sich nicht gleichsam mit einem Handstreich durch die zudem zumeist fach- und verwaltungsfremden faschistischen Reformeiferer umbilden und politisch kontrollieren ließen. Es ist offensichtlich, dass die italienische Staatsverwaltung äußerst erfolgreich eigenständige Machtpositionen auch gegen eine politische Führung behaupten konnte, die, zumindest in den Anfangsjahren, mit groß angelegten Reformprojekten sich um eine durchgreifende politische Kontrolle der Exekutivapparate bemüht hatte. Am Ende zeitigte die Politik der fascistizzazione der Staatsbürokratie, wie De Felice schreibt, eben doch nur höchst fragwürdige Ergebnisse: „In der Tat sah sich das Regime mit einer Staatsbürokratie konfrontiert, die zum größten Teil (auch auf den höchsten Führungsebenen) aus Beamten bestand, welche noch unter dem alten liberal-demokratischen Staat in den Dienst eingetreten und ausgebildet worden waren, und obwohl sie das neue Regime angenommen hatten, blieben sie doch noch, aus Überzeugung, Gewohnheit, Berechnung, moralischer oder praktischer Selbstverteidigung, an viele Grundwerte ihrer Herkunft gebunden. (...) Im Laufe der Zeit (...) wurde jedenfalls zunehmend offensichtlich, daß, was in Wirklichkeit zählte, die traditionale Staatsbürokratie war, während die anderen Verwaltungen, die korporative, die gewerkschaftliche und die der Partei, in dieser Situation schließlich leerlaufen mußten, Hindernisse darstellten und den Staatshaushalt belasteten.“76
Diese Einschätzung De Felices wird auch durch die widersprüchliche Entwicklung bestätigt, die das organisatorisch wohl aufwendigste Projekt zur politischen Kontrolle und Politisierung der Staatsangestelltenschaft nahm: die groß angelegte Politik der berufsständisch-korporativen Mobilisierung der Staatsbeamten in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren. Diese sozialpolitischen Anstrengungen fanden ihren Höhepunkt in dem Aufbau eines formell parteiunabhängigen faschistischen Interessenverbandes der Staatsangestellten, der jedoch überraschenderweise ebenfalls bereits 76
De Felice 1981 (wie Anm. 3), S. 57.
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nach wenigen Jahren seines Bestehens wieder aufgelöst wurde.77 Die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte dieser Organisation soll in unserem historischen Exkurs noch Berücksichtigung finden, weil sie noch einmal exemplarisch jene außergewöhnlichen Spannungen veranschaulicht, welche die totalitären Politisierungs- und Organisationsbestrebungen des Regimes angesichts der eingewurzelten berufsständischen Interessen und Resistenzen der Staatsangestellten hervorriefen. Selbst die verwaltungsextern organisierten Kontrollstrategien der neuen politischen Führung wurden durch die Alltagsmächte der routinisierten Bürokratie am Ende zum Scheitern gebracht.
IV. Victoria De Grazia hat in einer Studie zur staatlichen Freizeitorganisation im Faschismus, der Opera Nazionale del Dopolavoro, eindrucksvoll die gesellschaftspolitische Rolle beschrieben, die insbesondere der Beamtenschaft im Rahmen der mittelständischen Konsensbildungspolitik des Faschismus zugewiesen wurde. „For lack of a labor aristocracy, or any cohesive body of ‚disinterested‘ experts whose formation had been sought by fascist technocrats in the early twenties the regime expected in its own employees to perform the social and political functions of a middle class; in addition to carrying out their regular duties as state servants, they were also expected to act as social mediators between the political elites and the working population as a whole, by serving as vigilant cadres and volunteers in the PNF’s numerous local agencies.“78 Die Mittelstandspolitik des Faschismus war freilich ein facettenreicher Prozess, der, wie De Grazia darlegt, mannigfaltige Organisationen hervor77 Zum faschistischen Syndikalismus und Korporatismus vgl. u. v. a.: Hermann Heller: Europa und der Fascismus, Berlin und Leipzig 1931; Peter Cornelius Mayer-Tasch: Korporativismus und Autoritarismus. Eine Studie zu Theorie und Praxis der berufsständischen Rechtsund Staatsidee, Frankfurt a. M. 1971; Cassese 1974 (wie Anm. 1), S. 65-106; Cordova 1974 (wie Anm. 41); Roberts 1979 (wie Anm. 50); Lorenzo Ornaghi: Stato e corporazione, Milano 1984. 78 De Grazia 1981 (wie Anm. 30), S. 128. Vgl. auch Daniela Giovanna Liebscher: Organisierte Freizeit als Sozialpolitik. Die faschistische Opera Nazionale Dopolavoro und die NS-Gemeinschaft Kraft durch Freude 1925-1939, in: Jens Petersen und Wolfgang Schieder (Hrsg.): Faschismus und Gesellschaft in Italien. Staat, Wirtschaft, Kultur, Köln 1998, S. 67-90.
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brachte und wobei zahlreiche sozial-, wirtschafts- sowie kulturpolitische Strategien erprobt wurden. Zu den herausragenden Merkmalen dieser Politik gehörte aber die eigentümliche Verbindung von tatsächlicher oder auch nur scheinbarer Privilegierung vornehmlich der unteren angestellten Mittelschichten, der Staatsbediensteten und der Industrieangestellten.79 Dabei stand die Politik der mittelständischen Privilegierung im Zusammenhang mit der Herausbildung früher wohlfahrtsstaatlicher Programme und den Anfängen einer teilweise politisch gesteuerten konsumorientierten Massenkultur eindeutig im Vordergrund. Es ist heute weitgehend unbestritten, dass eines der konstitutiven sozialpolitischen Motive der faschistischen Mittelstandspolitik in der ideologischen Frontstellung der faschistischen Eliten und ihrer Parteigänger gegen die Spielarten des proletarischen Klassenkampfes, der gewerkschaftlichen Interessenorganisation sowie des klassenbewussten Syndikalismus zu suchen ist. Auch ist bekannt, unter welchen historischen Voraussetzungen und mit welchen praktischen Erfolgen die staatsvermittelte politische Mobilisierung und die „Politik des Konsens“ (De Felice) in der Welt der Arbeit und der Berufe mit ständisch-korporativen Sozialideen untermauert und legitimiert wurde. Weniger Beachtung gefunden haben dagegen die materialen Seiten der Organisationsgeschichte im Korporationenstaat. Ohne hier diese komplexe Problematik gleichsam durch das Nadelöhr der kurzlebigen Geschichte des faschistischen Staatsangestelltenverbandes ziehen zu wollen, sollen doch die wichtigsten Aspekte der Entwicklung dieser Organisation, die sich im Spannungsfeld der antigewerkschaftlichen Politik des Regimes, der verwaltungskorporativen Ideologien und einer gewissen Eigendynamik der berufsständischen Interessensartikulation ausprägten, kurz skizziert werden. Auch der öffentliche Angestelltenbereich war in den Anfangsjahren des Regimes von den politischen und ideologischen Widersprüchen des faschistischen Syndikalismus, der regimeeigenen Gewerkschaftspolitik, die von zahlreichen Machtkämpfen und vielfältigen programmatischen Ambivalenzen bestimmt waren, nicht ausgenommen. Nachdem Staatsangestellten, die Mitglieder nicht-faschistischer Gewerkschaften waren, bereits seit dem Jahre 1925 die fristlose Entlassung aus dem Staatsdienst drohte80 und im April 1926 ein allgemeines Verbot jeder Form autonomer Interessensorganisation der Staatsbeamten verfügt worden war, wurde dieser Berufsgruppe schließ79 80
Vgl. ebd., bes. Kapitel 5, „Privileging the Clerks“, S. 127 ff. Vgl. Aquarone 1965 (wie Anm. 27), S. 71 f., 393 ff.
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lich im Jahre 1929 definitiv das Streikrecht aberkannt. Mit diesen beamtenpolitischen Maßnahmen hatte sich jene Richtung des faschistischen Korporatismus durchgesetzt, die eine intransigente Repression jeder Form autonomer gewerkschaftlicher Interessensorganisation mit einer ausschließlich staatsvermittelten Integrationspolitik zu verbinden trachtete und in Alfredo Rocco ihren damals prominentesten Wortführer fand. Roccos autoritäretatistischer Verwaltungskorporatismus gründete im Kern auf der Idee einer Legalisierung der Beamtengewerkschaften bei gleichzeitiger Subordination unter die staatliche Aufsicht. Dementsprechend fordert Rocco „eine Anerkennung der Gewerkschaften der Staatsangestellten, die sie unter staatliche Kontrolle stellt, mit einem Beschwerdesystem, das eine Konfliktaustragung jenseits von mit dem Staatsleben inkompatiblen Mobilisierungen und Streiks ermöglicht.“81 Der Aufbau des im Februar 1927 mit Wirkung eines Regierungsdekrets gegründeten „Generalverbandes der faschistischen Staatsangestellten“ (AGFPI) entsprach weitgehend Roccos etatistischer Konzeption der korporativen Beamtengewerkschaft.82 Die Organisationsstruktur dieser unmittelbar der Regierungskontrolle unterstehenden Beamtenorganisation beruhte auf drei Sektoren, die jeweils die zuvor bestehenden Verbände der verschiedenen öffentlichen Angestelltenkategorien zusammenfassten beziehungsweise „eingliederten“ (unter Ausschluss der Eisenbahner und der Lehrerorganisationen), um es in dem im faschistischen Jargon gebräuchlichen Terminus für die Politik der organisatorischen Gleichschaltung (inquadramento) und der ideologischen Subordination von ehemals eigenständigen Verbänden auszudrücken. Die einzelnen Fachorganisationen gliederten sich auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene. Sämtliche Verbandskader wurden gemäß der in der Partei üblichen Praxis nach dem sogenannten hierarchischen Prinzip ernannt oder kooptiert (gerarchizzazione), so auch der langjährige Verbandsvorsitzende und Generalsekretär Aldo Lusignoli. Laut Statut waren sämtliche Verbandsmitglieder gleichzeitig zur Parteimitgliedschaft 81
Rocco 1938 (wie Anm. 21), S. 654; vgl. auch ebd., S. 710 ff. Vgl. den Erlass des Regierungschefs vom 29. Februar 1927 (Autorisierung zur Gründung des AGFP), abgedruckt in: Il Pubblico Impiego, März 1927. Über die Geschichte des faschistischen Staatsangestelltenverbandes ist nur wenig bekannt. Die folgenden Ausführungen basieren auf einer eigenen Auswertung des Verbandsorganes Il Pubblico Impiego und auf der Darstellung von Franco Piodi: Per la storia della burocrazia: l’Associazione generale fascista del pubblico impiego (1927-1931), in: Rivista trimestrale del diritto pubblico, 1977, 1, S. 326356.
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verpflichtet. Formal stellte sich die AGFPI folgende Aufgaben: „a) die Propagierung der Grundprinzipien des Faschismus, soweit sie die Vorgänge und die Funktionsweise des Staates und der öffentlichen Verwaltungen betreffen; b) Koordination und Harmonisierung der Politik der verschiedenen organisierten Angestelltenkategorien; c) Regelung der Binnenverhältnisse zwischen den verschiedenen Organisationen, Diensten und Gruppen, aus denen sich der Verband zusammensetzt, und Kontrolle der Statuten sowie Aktivitäten aller abhängigen zentralen wie lokalen Organismen; d) Repräsentation der einzelnen Organisationen mit Alleinvertretungsanspruch bei den zentralen wie provinziellen Regierungsautoritäten sowie bei den öffentlichen, sowohl parastaatlichen wie gleichgestellten Verwaltungen.“83 Für die von der Parteiführung unablässig geforderte fascistizzazione der Staatsbeamtenschaft – eine Politisierungsforderung, die als radikale Mentalitätsänderung propagiert und wobei jede Form politischen Opportunismus rhetorisch verurteilt wurde – bot der neue Massenverband der Staatsangestellten gewiss eine hervorragende Organisationsbasis. So lässt sich der Grad der politischen Mobilisierung der Staatsbeamten84 in der Zeit des Faschismus grosso modo auch anhand der Entwicklung der Mitgliederzahlen der AGFPI ablesen. Nach Angaben des Generalsekretärs umfasste der Dachverband insgesamt mehr als 90 Provinzsektionen, deren Mitgliederzahl sich von etwa 90.000 im Gründungsjahr auf knapp 250.000 Ende 1929 erhöht und zu Beginn der dreißiger Jahre bereits die Grenze von 300.000 überschritten hatte.85 Bedenkt man, dass in dem Zeitraum zwischen 1921 und 1930 die Zahl der Angestellten im öffentlichen Dienst (ohne die Angehörigen der Streitkräfte, aber einschließlich der ebenfalls nicht in der AGFPI organisierten Eisenbahn- und Postangestellten) insgesamt 543.737 Beschäftigte umfasste, so kann man folgern, dass in den dreißiger Jahren der Organisationsgrad der Staatsangestelltenschaft tatsächlich „nahezu total“ war.86 83
Il pubblico impiego, März 1927, H. l. Über die diversen Mobilisierungswellen der im öffentlichen Sektor beschäftigten Angestellten informiert in historischer Perspektive: Sergio Scamuzzi: Stato italiano, impiegati pubblici e mobilitazione politica, in: Quademi di sociologia, Bd. XXVII, Nr. 2-3-4, 1978, S. 152-184. 85 Aldo Lusignioli: La relazione del segretario generale Aldo Lusignoli, in: AGFPI, Il pubblico impiego, Jg. 3, 23, 1. Dezember 1929, S. 1. 86 De Felice 1981 (wie Anm. 3), S. 57; Sabino Cassese: Questione amministrativa e questione meridionale. Dimensioni e reclutamento della burocrazia dall’unità a oggi, Mailand 1977; Paolo Sylos Labini: Saggio sulle classi sociali, Bari 1974, S. 155. 84
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Es versteht sich von selbst, dass die Mobilisierung und Organisation der Staatsangestellten mit besonderen Loyalitätsanforderungen an diese Kategorie verbunden waren und dass diese Bestrebungen letztlich auf eine verstärkte politische Kontrolle der Beamtenschaft zielten. Unter den Voraussetzungen des faschistischen Korporatismus verschärfte sich zudem das Problem der politischen „Gesinnungskontrolle“, insofern im Falle des AGFPI die politische Führung, mithin der „Arbeitgeber“, und der Interessenverband der Beamten eine organisatorische und politische Einheit bildeten. Diese war zudem noch mit dem kapillaren Herrschaftsapparat des PNF engstens verbunden. Aufgrund des spezifischen öffentlich-rechtlichen Status des Verbandes konnte die politische Kontrolle der Staatsangestelltenschaft indirekt wie eine permanente Säuberung wirken. Politische Loyalität und Verbandsaktivität wurden gleichgesetzt. Als politisch zuverlässig galt vor allem jener Beamte, der sozusagen seinen Konsensbeitrag für das Regime durch die Mitgliedschaft in der AGFPI nachwies. Den Risiken dieser Verpflichtung zur Doppelloyalität konnte sich wohl kaum ein öffentlicher Bediensteter entziehen. Diesen Mechanismus der permanenten Säuberung mittels politischer Mobilisierung, der in den Reihen des faschistischen Staatsangestelltenverbandes so erfolgreich erprobt wurde, beschrieb anschaulich dessen übereifriger Generalsekretär: „Wenn Herr Kunz heute, ohne in der Partei eingeschrieben zu sein und mit einigen Flecken auf der Weste, sich um Mitgliedschaft in unserem Verband bewirbt, dann haben wir eine Waffe in der Hand, und es kann sich als nützlich erweisen, ihn als neues Mitglied in unseren Reihen aufzunehmen, um diesen Herrn Kunz gegebenenfalls, nachdem wir ihn genau in Augenschein genommen und ständig beobachtet haben, wieder aus unseren Reihen zu jagen, denn auf dem Aufnahmeantrag steht der Satz: ‚Mit vorliegendem Antrag verpflichtet sich der Bewerber zur ständigen Hingabe an das faschistische Regime und dazu, den Zielen des Faschismus und unseres Verbandes zu folgen‘“87 Was nun allerdings ein solcher Ausschluss eines Beamten aus dem Verband bedeuten konnte, lässt die folgende, im Amtsblatt des PNF Gerarchia veröffentlichte Stellungnahme Giovanni Giuriatis ahnen, der nur einen allgemein in Parteikreisen anerkannten Grundsatz aussprach, als er schrieb, dass kein Verwaltungsleiter es tolerieren könne, wenn „ein Funktionär unpolitisch ist. Unpolitischsein war ein Verdienst im liberalen Regime, im fa87 A. Lusignoli: Burocrazia: Problemi di regime, in: AGFPI: Il pubblico impiego, Jg. 1, Nr. 10,15, November 1927, S. 11.
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schistischen ist es eine Sünde. Ein Staatsangestellter, der kein klares Bewußtsein von den politischen Zielen für die öffentliche Verwaltung hat und der nicht zur loyalen Arbeit an ihren Verwirklichungen bereit ist, kann kein nützlicher und disziplinierter Mitarbeiter sein.“88 Trotz dieser Strategien der politischen Bewusstseinskontrolle und den massiven Kampagnen zur Politisierung der Beamtenschaft ließen die tatsächlich erzielten Ergebnisse aber offenbar zu wünschen übrig. Die ideologische Überzeugungskraft des Faschismus muss wohl nur relativ schwach in den Reihen der Staatsbeamtenschaft gewirkt haben, wenn Lusignoli in einer Bilanz der Organisationserfolge lakonisch bemerkte, dass „das Verhältnis zwischen der Bürokratie und dem Faschismus zwar nicht auf Feindschaft, wohl aber auf gegenseitigem Mißtrauen beruht.“89 Über den Grad der tatsächlich erreichten fascistizzazione der italienischen Staatsbeamten lassen sich selbstredend kaum substantielle empirische Aussagen machen. Auch kann im historischen Urteil freilich nur schwer zwischen opportunistischem oder forciertem Mitläufertum einerseits und politisch überzeugter Anhängerschaft andererseits unterschieden werden. Es kann aber vermutet werden, dass sich subtile innere Resistenzen der Beamten gegen die faschistischen Politisierungszumutungen entwickelt haben, die eines ihrer Hauptmotive möglicherweise in der Berufsethik der Staatsfunktionäre finden konnte. Besonders die Maxime der grundsätzlich unpolitischen und weitgehend unpersönlichen Amtshandlungen nach Maßgabe formalrechtlicher Verfahrensprinzipien musste einer durchdringenden Politisierung dieser Berufsgruppe im Wege stehen.90 Greifbarer sind demgegenüber aber jene Widerstände der organisierten Beamtenschaft, die sich gegen die Verhinderung einer selbstbestimmten Interessenvertretung der Kategorie richteten. Jedenfalls kann es keinen Zweifel darüber geben, dass die gewerkschaftlichen Organisations- und Kampferfahrungen, welche die Staatsangestelltenschaft, wie wir gesehen haben, seit der Jahrhundertwende prägten, in dem neu gegründeten Beamtenverband nachwirkten. Wie stark noch sieben Jahre nach der faschistischen Machtübernahme und gut zwei Jahre nach Gründung der AGFPI diese Gewerkschaftstraditionen in den Reihen der organisierten Staatsangestellten von den faschistischen Verbandskadern empfunden, der alte „Geist des Syndika88
Zit. n. Piodi 1977(wie Anm. 82), S. 337. Lusignoli 1927 (wie Anm. 87), S. 11. 90 Vgl. Piodi 1977 (wie Anm. 82), S. 334; De Felice 1968 (wie Anm. 3), S. 344 ff. 89
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lismus“ gefürchtet wurde, bezeugt indirekt die Nachdrücklichkeit, mit der Lusignoli im Jahre 1929 Mussolini von den Erfolgen und der politischen Existenzberechtigung des Verbandes zu überzeugen suchte: „Welchen Wert hatte oder hat der Verband, wenn die Regierung ihn nicht braucht und folglich keine Pressionen und Forderungen wünscht? Der Verband hat den faschistischen Geist wach und am Leben gehalten; der Verband hat diese große Belegschaft, die unter anderer Obhut aufgewachsen ist, mit faschistischem Geist durchtränkt; der Verband hat seiner Gefolgschaft einen neuen Begriff von der großen und harten Aufgabe der sublimen Verantwortung vermittelt. Der Verband hat die öffentlichen Angestellten vom streikenden und streikfreudigen Syndikalismus ferngehalten und sie in die Reihen der Faschistischen Partei, die heute den höchsten Ausdruck des Staates darstellt, eingegliedert.“91 In die gleiche Richtung zielten aber auch beispielsweise Giuseppe Bottais Bemühungen um eine Klärung der politischen Stellung des Staatsangestelltenverbandes im Rahmen des faschistischen Korporationenstaates. Manche byzantinische Argumentation des Korporationenministers ist auf die eigentümliche Rechtsstellung des AGFPI zurückzuführen, für den Regelungen galten, die dem Verband sämtliche gewerkschaftliche Aktionsmöglichkeiten untersagten, ihn aber zugleich zur Wahrnehmung der Berufsinteressen der Beamten verpflichteten. Die Zwiespältigkeit dieser Position zwischen verstaatlichtem Gewerkschaftsverband und berufsständischer Interessenorganisation sah man für gewisse Zeit in der vollständigen Subordination unter der Parteiführung aufgehoben, denn, verkündete Bottai: „Es versteht sich, insofern euer Arbeitgeber der Staat ist, könnt ihr die Probleme eurer ökonomischen Verhältnisse nicht in der Weise einer gewöhnlichen Gewerkschaft, deren Gegenseite ein beliebiger Arbeitgeber ist, aushandeln.“92 In der Praxis konnte die Zwiespältigkeit dieser staatlich kontrollierten Interessenorganisation der Staatsbediensteten freilich nicht durch politische Rhetorik so einfach vom Tisch gewischt werden. Die zahllosen Erfahrungsberichte, Beschwerdebriefe und Reformvorschläge von Beamten, die in dem Verbandsorgan veröffentlicht wurden und mit denen in aller Regel handfeste und zum Teil wohl auch durch die schwierige wirtschaftliche Situation 91
Lusignoli 1929 (wie Anm. 85), S. 1 „Discorso pronunziato da S.E. Bottai all’inaugurazione del Congresso dei media condotti a Siena il 17 ottobre 1927“, in: Il pubblico impiego, 1927, S. 2. Zu Bottai vgl. Giordano Bruno Guerri: Giuseppe Bottai, fascista , Milano 1998. 92
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vieler und vor allem unterer Angestellter gerechtfertigte93 Gehalts-, Karriereund Sozialverbesserungen gefordert wurden, brachten das starke Interessenbewusstsein dieser besonderen Berufsgruppe deutlich zum Ausdruck. Obzwar formal sozusagen entsyndikalisiert, fand die Interessensartikulation der Staatsangestellten unverkennbar auch in der neuen, der faschistischen Organisationsform, ein nützliches Forum, ein wirkungsvolles Verbandsorgan und eine eigene Repräsentationsstruktur. Die insistente Beschwerdeund Forderungspolitik der Staatsbeamten blieb trotz vordergründiger Substitution gewerkschaftlicher Gesinnungen durch neue, vornehmlich berufsständische Werte akzentuierende Verbandsideologien jedenfalls unübersehbar. Die offiziellen Verbandsaktivitäten zielten zwar offensichtlich auf die Pflege einer distinkten Standesideologie der Staatsdiener, was sich in der Gründung verbandseigener Wohlfahrtsinstitutionen, Konsumvereine, Freizeitorganisationen und Versicherungsanstalten, den sog. opere assistenziali ausdrückte.94 Doch die Mitglieder drängten im Laufe der Jahre immer stärker auf eine fühlbare Verbesserung der Einkommen und der Wohnsituation sowie der als prekär angesehenen sozialen Lage der Staatsangestellten und ihrer Familien. Es ist zu vermuten, dass sich im Schutze des parastaatlichen Beamtenverbandes, dem eben nicht zuletzt auch die Interessenvertretung oblag, eine organisierte Hausmacht der Beamtenschaft formieren konnte, die in der Tat, wie Piodi schreibt, im faschistischen Staatsangestelltenverband „ein institutionelles Machtzentrum“ fand, „in dessen Innern sie unter der Fahne des Faschismus ihre Interessen verfolgen konnte, obwohl die Verbandsspitze sich aus ‚alten Faschisten‘ zusammensetzte.“95 Es ist somit nicht auszuschließen, dass in dieser Dynamik der Interessensartikulation und Machtbildung ein wichtiges Motiv für die überraschende Auflösung dieses fast ein halbes Jahrzehnt emsig tätigen und nahezu 300.000 Staatsbeamte organisierenden Verbandes zu suchen ist. Tatsache ist jedenfalls, dass im März 1931 die AGFPI im Zusammenhang einer allgemeinen Reorganisation des PNF, umstandslos liquidiert, die nationalen Verbandsführer durch neue Kader aus der Parteibürokratie ersetzt sowie das Verbandsorgan Il Pubblico Impiego eingestellt wurde.96
93
Vgl. Taradel 1961 (wie Anm. 2). Vgl. dazu De Grazia 1981 (wie Anm. 30), S. 140 ff. 95 Piodi 1977 (wie Anm. 82), S. 332. 96 Vgl. dazu ebd., S. 334; De Felice 1974 (wie Anm. 3), S. 222 f. 94
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V. Die voranstehende historische Darstellung der wichtigsten Rationalisierungsbestrebungen und Politisierungsstrategien, mit denen sich die faschistische Elite als innovative Reformkraft zu profilieren suchte und mit denen sich vor allem mittlere Kader der faschistischen Partei um politischen Einfluss und Posten in der öffentlichen Verwaltung bemühten, zeigt, wie in der staatlichen Verwaltungsrealität Italiens auch in der faschistischen Ära politisch motivierte Reform- und Kontrollvorhaben in der Praxis auf beträchtliche Widerstände innerhalb der Beamtenschaft stießen. Diese institutionellen Resistenzen zwangen am Ende insbesondere die mit revolutionärer Ungeduld und ideologischer Verbissenheit verfochtenen verwaltungspolitischen Führungsansprüche der faschistischen Elite zur Kapitulation. Die der bürokratischen Alltagspraxis größtenteils fernen Reformeiferer der zur Staatspartei avancierten faschistischen Bewegung konnten sich jedenfalls nicht gegenüber den Alltagsmächten und ständischen Interessen der Bürokratie durchsetzen, weder im Inneren der Staatsverwaltung noch außerhalb. Die faschistische Verwaltungsreform der frühen zwanziger Jahre muss somit im Großen und Ganzen als gescheitert angesehen werden. Was sich in der Praxis durchsetzen ließ, beschränkte sich weitgehend auf die bereits vor Mussolinis Machtübernahme, auf Grundlage einer kompromissreichen Übereinkunft zwischen den Machteliten des Königreichs, konzipierte Neuformulierung des Beamtenrechts und des Loyalitätsdogmas für die Staatsdiener. Damit wurden aber lediglich die rechtlichen Grundlagen für eine Akzentuierung des obrigkeitsstaatlichen Verwaltungsautoritarismus geschaffen, den die konservativen Eliten seit langem schon gefordert hatten. Selbst die Eindämmung des Beamtensyndikalismus ist eher als Wirkung der mit polizeistaatlichen Mitteln betriebenen Gleichschaltungspolitik zu verstehen, denn als Effekt einer wirkungsvollen ideologischen Kontrolle der Staatsangestelltenschaft durch das neue Regime. Den Politisierungsanforderungen des sich totalitär gebenden Einparteienstaates wurde offenbar nur halbherzig von den Beamten entsprochen, währenddessen sich die organisierte Staatsangestelltenschaft jedoch weiterhin erfolgreich um Kanäle und Ressourcen zur Behauptung ihrer vornehmlich berufsständischen Interessen bemühte. Die beschriebenen Widerstände, Hemmnisse und Abwehrkräfte der Bürokratie sind gewiss im Einzelfall oft auf mehr oder weniger kontingente, historisch singuläre Umstände zurückzuführen, die nur die historiographische Quellen392
forschung im Detail aufzudecken vermag. Herrschaftssoziologisch von Interesse sind hingegen die mit diesen Restriktionen zum Ausdruck kommenden allgemeinen Strukturen der institutionellen Machtbeziehungen: in erster Linie also die Binnenstrukturen des Verhältnisses zwischen politischer Führung und gegebenen oder neu geschaffenen bürokratischen Ausführungsapparaten, sodann die spezifische Konfliktdynamik von unter Umständen nach heterogenen Organisationsprinzipien operierenden Stäben. Die voranstehende Analyse richtete die Aufmerksamkeit hauptsächlich auf die spezifischen institutionellen Transformationseffekte der nach der Regierungsübernahme Mussolinis neuen, charismatisch konstituierten Herrschaftskonstellation mit ihren besonderen außeralltäglichen Führungsansprüchen sowie administrativen Durchsetzungserwartungen. Unter dem Gesichtspunkt der Verwirklichungschancen von verwaltungspolitischen Reform-, Innovations- oder Kontrollvorhaben des politischen Zentrums gegenüber der bestehenden Bürokratie bestätigt unsere Analyse die erstaunlich geringe administrative Durchsetzungskraft der neu etablierten Diktatur. Das offensichtliche Scheitern der faschistischen Verwaltungsreformpolitik, besonders aber der Strategie der permanenten politischen Mobilisierung der Staatsangestelltenschaft „von oben“, womit eine politische Verwaltungskontrolle außerhalb der alltäglichen Routinen der Beamtenexistenz institutionalisiert werden sollte, zeigt, welchen strukturellen Einfluss die Alltagsmächte der Bürokratie auf das politische Handeln der faschistischen Revolutionsregierung auszuüben vermochten. Die institutionendurchbrechende Dynamik des Charisma der faschistischen Diktatur ist somit im Großen und Ganzen als verhältnismäßig gering zu veranschlagen. Darauf deuteten bereits die in den vorangegangenen Abschnitten untersuchten Entwicklungen in der Spitzenfiguration der neoabsolutistischen Führerdiktatur im italienischen Faschismus hin. Im Regierungszentrum wie in der Vertikalstruktur schlug im italienischen Faschismus die nach Max Webers Theorie unvermeidbare Veralltäglichung der charismatischen Machtaneignung die Richtung einer irreversiblen Bürokratisierung ein. Dieser Prozess vollzog sich einerseits dadurch, dass die Innovationspotentiale durch die konsistenten Traditionsund Machtbestände der alten Bürokratie sozusagen neutralisiert wurden. Andererseits entwickelten sich mit der Durchsetzung des monokratischen Prinzips und mit der Eigendynamik der routinisierten persönlichen Diktatur unerwartete Bürokratisierungstendenzen.
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VI. Die charismatisch legitimierte Herrschaftskonstellation wurde, wie wir sahen, beim Übergang zur Führerdiktatur als Regierungsform in eine weitgehend veralltäglichte Herrschaftsstruktur transformiert. Auffällig ist dabei die relativ geringe institutionelle Durchsetzungskraft des Charisma der politischen Führung, namentlich Mussolinis, gegenüber den etablierten „Mächten des Alltags“ (Max Weber), in erster Linie also gegenüber der Staatsbürokratie und ihren Beamtenstäben. Die mit der Monopolisierung der Regierungsprärogative in der Position des Regierungschefs verknüpften neu entstandenen Zentralisierungseffekte konsolidierten die herkömmlichen Strukturen bürokratischer Eigenmacht. Das institutionelle Machtgefüge des staatlichen Verwaltungssystems blieb dabei weitgehend unangetastet. Charismatisch legitimierte Führungsansprüche wie auch Strategien der politischen Verwaltungskontrolle waren in der Praxis nicht oder nur bedingt verwirklichbar. Der Prozess der bürokratischen Veralltäglichung schränkte auch den persönlichen politischen Handlungsspielraum und die Durchsetzungschancen des Diktators im Alltag der Regierungspraxis stark ein. Die oberste Herrschaftsposition wurde gleichsam bürokratisch eingekapselt. Im deutlichen Unterschied zur Herrschaftsstruktur des Dritten Reiches, die auf den verschiedenen Ebenen durch die Konfliktdynamik von rivalisierenden Partikularmächten und rechtsenthobenen Sonderverwaltungen fragmentiert und destabilisiert wurde, entfaltete der charismatische Prozess im italienischen Faschismus keine vergleichbare Dynamik. Der postrevolutionäre „Normalisierungsprozess“ des italienischen Faschismus illustriert somit im Gegensatz zur NS-Diktatur den soziologisch wahrscheinlicheren Fall der Beständigkeit, Integrität und weitgehenden Irreversibilität differenzierter Verwaltungsstrukturen. Der Prozess der Veralltäglichung im italienischen Faschismus bestätigt und veranschaulicht cum grano salis somit auch die Hypothese Max Webers von der historischen Unwahrscheinlichkeit revolutionärer Umwälzungen unter der Voraussetzung komplex ausgeformter Verwaltungsstrukturen des modernen Staates: „Wo die Bürokratisierung der Verwaltung einmal restlos durchgeführt ist, dann ist eine praktisch so gut wie unzerbrechliche Herrschaftsstruktur geschaffen. (...) Indem dieser Apparat, wo immer er über die modernen Nachrichten und Verkehrsmittel (Telegraph) verfügt, eine ‚Revolution‘ im Sinne der gewaltsamen Schaffung ganz neuer Herrschaftsbildungen rein technisch und auch durch seine inne394
re durchrationalisierte Struktur zunehmend zur Unmöglichkeit macht, hat er (...) an die Stelle der ‚Revolutionen‘ die ‚Staatsstreiche‘ gesetzt, denn alle gelingenden Umwälzungen liefen dort auf solche hinaus.“97 Für unsere Analyse ist das Problem indes konkreter zu formulieren und insbesondere vergleichend auf den historischen Sonderfall der autokratischen Zentralstruktur im Dritten Reich zu beziehen. Es stellt sich dann die Frage, ob möglicherweise organisationsspezifische Unterscheidungsmerkmale festzustellen sind, welche die relative Wirkungsschwäche des Charisma in der italienischen Spitzenorganisation, beziehungsweise die außerordentlich starke destabilisierende Kraft des charismatischen Prozesses im NS-System, plausibel begründen können. Mit anderen Worten, welche strukturellen Besonderheiten unterschieden die Spitzenorganisation der hier in Frage stehenden Diktaturregime? Unter dem Vorbehalt unserer eingegrenzten Problemstellung können die national differierenden Strukturbesonderheiten im Kern in termini einer spezifischen Organisationsentwicklung analysiert werden, nämlich unter dem Gesichtspunkt der unterschiedlichen Entwicklungsdynamik, die den Aufbau von charismatisch qualifizierten oder bürokratischen Herrschaftsstäben im Rahmen der bestehenden staatlichen Verwaltungsordnung förderten beziehungsweise behinderten. Im nationalsozialistischen Herrschaftssystem brachte der charismatische Prozess, wie wir sahen, eine quasi-patrimoniale Parallelstruktur hervor, wobei sich im staatlichen Gehäuse Organisationsformen, die auf heterogenen Strukturprinzipien beruhten, folgenreich kreuzten. In der Spitzenorganisation der italienischen Diktatur konnten sich hingegen im Prozess der Routinisierung der charismatischen Konstellationen keine nennenswerten charismatischen Stabsorganisationen in der staatlichen Verwaltung verankern. Es bildete sich somit in Italien keine verwaltungsunabhängige Parallelexekutive heraus, was die Dynamik der charismatischen Machtappropriationen im Regierungs- und Verwaltungssystem nachhaltig schwächen musste. Während in Deutschland infolge der fortgesetzten charismatischen Machtergreifungen im Regierungszentrum eine Mischstruktur entstand, welche die neuen Machtbeziehungen zwar organisa-
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Max Weber: Gesamtausgabe, hrsgg. v. Horst Baier, M. Rainer Lepsius, Wolfgang J. Mommsen, Wolfgang Schluchter, Johannes Winckelmann: Abt I: Schriften und Reden, Bd. 15, Zur Politik im Weltkrieg. Schriften und Reden 1914-1918, hrsg. v. Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Gangolf Hübinger, Tübingen 1984, S. 208 ff.
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torisch stabilisierte, zugleich aber unerwartete Strukturkonflikte erzeugte, ist in Italien das Gegenteil zu beobachten. Die in der Mobilisierungsphase und im ursprünglichen Organisationszusammenhang der faschistischen Bewegung, dem PNF, entstandenen charismatischen Gefolgschaftsstäbe unterlagen nach der Regierungsübernahme Mussolinis einem Prozess der politischen Entlegitimierung und der organisatorischen Regression, was einer folgenreichen Stabilisierung der bürokratischen Macht im Regime zum Durchbruch verhalf. Der Prozess der repressiven Versachlichung des Charisma kann historisch am besten verdeutlicht werden, wenn man das Szenarium der postrevolutionären Veralltäglichungskrise des Faschismus betrachtet, nämlich die weitgehend im Inneren des PNF ausgetragenen Hegemonialkonflikte zwischen den Zentralinstanzen der faschistischen Machtspitze und den dezentralen charismatischen Führungskonstellationen in den Provinzen. Wir erörtern zuerst die historische Konfiguration, dann die wichtigsten Herrschaftsstrategien der verschiedenen Akteure, schließlich einige unerwartete Strukturfolgen der damit entstandenen Positionsdynamik. Unsere Analyse muss wiederum viele andere untersuchenswerte Aspekte der Veralltäglichung ausgrenzen. So können zum Beispiel die Durchsetzung des monokratischen Prinzips in der Parteiführung oder die bald nach der Machtübernahme offenbar werdende Tendenz zur Oligarchisierung der Parteieliten nicht weiter untersucht werden.98 Die nach Max Weber unausbleiblichen inneren Kämpfe, welche mit der Umbildung charismatischer Herrschaftsverbände in alltäglichere Autoritätsbeziehungen aufzubrechen pflegen,99 artikulierten sich im italienischen Faschismus besonders anschaulich in den Auseinandersetzungen zwischen der staatlichen Führungsgewalt und den vornehmlich in lokalen Parteizusam98
Zur Geschichte des PNF in der Regimezeit vgl.: Emilio Gentile: Il problema del partito nel fascismo italiano, in: Storia contemporanea, Bd. XVI, 3, 1984, S. 347-370; ders.: La natura e la storia del PNF nelle interpretazioni dei contemporanei e degli storici, in: Storia contemporanea, Bd. XVII/3, 1985, S. 521-607; ders.: Fascism in Italian Historiography: In Search of an Individual Historical Identity, in: Journal of Contemporary History, Bd. 21, 1986, S. 179-208; ders.: Partito, stato e duce nella mitologia e nell’organizzazione del fascismo, in: K. D. Bracher/Leo Valiani (Hrsg.): Fascismo e nazionalismo, Bologna 1986, S. 265-294; ders.: Le rôle du parti dans le laboratoire totalitarien italien, in: Annales ESC, Jg. 43,3, 1988, 567-592; Paolo Pombeni: Il partito fascista, in: Angelo Del Boca u. a. (Hrsg.): Il regime fascista. Storia e storiografia, Roma 1995, S. 203-219. 99 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. 5. revidierte Auflage, Tübingen 1976, S. 146 f.
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menhängen wirkenden außer- bzw. nebenstaatlichen Gefolgschaftsverbänden. Auch der unvermeidbare Machtkonflikt zwischen Partei und Staat wurde in der Konsolidierungsphase des Regimes im Wesentlichen auf dieser Ebene ausgetragen. Von entscheidender Bedeutung erwies sich dabei aber der Ausgang jener politischen Konfrontationen, die auf der einen Seite die Terrororganisationen der faschistischen Bewegung, die bewaffneten squadre d’azione sahen, während auf der anderen Seite Mussolinis Regierungsstäbe sich um Erhalt bzw. Durchsetzung des staatlichen Führungsmonopols bemühten.100 Die squadre d’azione, die paramilitärischen Einheiten der Bewegungsphase und des mit der Gründung des PNF hervorgegangenen neuen Typs der partito armato („bewaffnete Partei“) agierten in vielen mittel- und oberitalienischen Provinzen als äußerst gewalttätige Schlägertrupps.101 Trotz der Transformation der nur lose organisierten Kampfgruppen in die monolithische und zentralisierte faschistische Partei im Jahre 1921, die laut Statut den squadrismo zur Basisstruktur der neuen Parteiorganisation erhoben hatte, blieb deren charakteristische Struktur weitgehend unverändert.102 „Theoretically, the squads were organized along strict military lines with a rigid chain of command and clearly defined territorial responsibilities. In practice, however, the squads tended to develop along the lines of youth gangs, with highly informal organizations linked to local conditions and direct personal ties of cameraderie and loyality. Usually they comprised bands of adolescent and young men who gravitated around specific bars, cafes, or brothels and who found their sense of group solidarity in shared bonds of kinship and friendship. Each squad reinforced this solidarity by adopting its own distinctive name, banner, membership card, and allegiance to a particular leader.“103 Die Bedeutung dieser männerbündischen Gefolgschaftsverbände für die Eroberung der Staatsmacht kann kaum überschätzt werden: Sie reprä100
Diese Sicht ist in der italienischen Faschismusliteratur weitgehend unumstritten; sie wurde ausführlich in De Felices Studien begründet und dokumentiert; vgl. De Felice 1968 (wie Anm. 3), S. 139-221; ders. 1974 (wie Anm. 3), S. 402 ff; 536 ff., 582 ff., 660 ff., 711 ff. Zum neueren Forschungsstand vgl. in diesem Band, S. 125 ff. 101 Vgl. Lyttelton 1982 (wie Anm. 51), S. 83 ff; De Felice 1974 (wie Anm. 3), S. 34 ff.; zur Dimension der Gewalt im italienischen Faschismus der Bewegungsphase vgl. in diesem Band, S. 25 ff. 102 Vgl. Lyttelton 1982 (wie Anm. 51), S. 114 ff; Gentile 1984 (wie Anm. 98), S. 349 f. 103 Philip V. Cannistraro (Hrsg.): Historical Dictionary of Fascist Italy, London 1982, S. 516.
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sentierten die innovativen und schlagkräftigsten Kampfzellen der Bewegung und spielten eine entscheidende Rolle beim Emporkommen des Faschismus als stärkste politische Kraft nach Ende des Ersten Weltkrieges. In diesen Jahren verbanden die Aktivitäten der neuen bewaffneten Partei mit großer Wirksamkeit reguläre parlamentarische Konsensbildungsstrategien mit einer außerhalb der Legalität operierenden terroristischen Aktionspolitik von bis dahin in Italien ungekannter politischer Gewalttätigkeit.104 Besonders bei der Zerschlagung der sozialistischen Organisationen und der „Belagerung“ der demokratischen Institutionen erwies sich der squadrismo mit seinen ungebundenen Gewaltpotentialen als originäre Organisationsform der charismatischen Bewegung in der Peripherie: „In zahlreichen Regionen konstituierte der squadrismo bereits vor dem Marsch auf Rom eine absolute politische Herrschaft, die auf lokaler Ebene von einem gewählten Führer ausgeübt wurde, dem die Gefolgschaft mit fanatischer Hingabe gehorchte.“105 Komplementär zur zentralen Figuration repräsentierte der squadrismo somit die dezentrale Struktur des charismatischen Prozesses und bildete in der Kampfzeit den wichtigsten Organisationszusammenhang des Faschismus in den Provinzen. Die damit entstandenen lokalen charismatischen Führerkonstellationen und Gefolgschaftsverbände konnten aufgrund ihrer revolutionären Eigenlegitimation in ihren während der „heroischen“ Kampfzeit eroberten Hoheitsgebieten autochthone Herrschafts-“Gehege“ (Carl Schmitt) befestigten und veritable Lokaldiktaturen errichten. In Verbindung mit den lokalen Parteifürsten (wie z. B. Dino Grandi in Bologna, Roberto Farinacci in Cremona, Italo Balbo in Ferrara),106 verkörperten die squadre auch nach dem politischen Sieg Mussolinis noch die Ideale der „permanenten Revolution“, des anti-institutionellen Radikalismus und der 104
Vgl. Lyttelton 1982 (wie Anm. 51), S. 84 ff; ders.: Fascismo e violenza: conflitto sociale e azione politica in Italia nel primo dopoguerra, in: Storia contemporanea, Bd. XIII, Nr. 6, 1982, S. 965-984; Jens Petersen: Il problema della violenza nel fascismo italiano, in: Storia contemporanea, Bd. XIII, Nr. 6, Dez. 1982, S. 985-1008; Paolo Netto: La violenza fascista ovvero dello squadrismo nazionalrivoluzionario, in: Storia contemporanea, Bd. XIII, 6, 1982, S. 1009-1028; vgl. in diesem Band, S. 111 ff. 105 Gentile 1984 (wie Anm. 98), S. 352; vgl. auch Candeloro 1986 (wie Anm. 27), S. 343 ff., 399 ff. 106 Die Lokalfürsten des Provinzfaschismus wurden als „Ras“ bezeichnet: „These local tyrants, who derived their name from the term for Ethiopian chieftains, represented the most extreme form of power taken by Fascism as a movement based on the use of organized violence.“ (Cannistraro 1982 [wie Anm. 103], S. 448).
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oppositionellen „Anti-Partei“ der frühen faschistischen Bewegung.107 In ihren territorialen Herrschaftsbereichen aber beanspruchten diese Partikularmächte nach vollzogenem Staatsstreich eine absolute Führungsgewalt der Parteiorganisation, insbesondere gegenüber den bestehenden Provinz- und Lokalverwaltungen. Mit Hilfe der terroristischen Stäbe des squadrismo und auf Grundlage einer eigenständigen Politik der Elitenallianz waren viele Parteiführer bestrebt, auf lokaler Ebene ein Monopol der Ressourcenallokation, der Jurisdiktion und der politischen Verwaltungskontrolle durchzusetzen. Nach dem „Marsch auf Rom“ eröffneten sich für die Partei vor allem in den mittel- und norditalienischen Provinzen große Chancen für den Aufbau eigenständiger und verwaltungsunabhängiger Herrschaftsstrukturen. Die in den ersten Monaten nach der Machtübernahme zunehmenden eigenmächtigen Eingriffe und Kompetenzanmaßungen der squadristischen Organisationen, z. B. im Zuständigkeitsbereich der kommunalen Polizeiverwaltungen, verdeutlichen diese Tendenz zur Appropriation herkömmlicher Hoheitsgewalten und zur Etablierung einer außer- bzw. nebenstaatlichen Lokalherrschaft, die das staatliche Gewalt- und Rechtsmonopol zu durchbrechen drohte.108 Der Geschichte des squadrismo und der lokalen Entwicklungen des Faschismus kann hier nicht im Detail nachgegangen werden, obwohl eine vertiefende Analyse ihrer spezifischen Organisations- und Führungsstrukturen unter soziologischen Gesichtspunkten zweifellos von größtem Interesse ist.109 Für ein besseres Verständnis der Umbildung der Spitzenorganisation des Diktaturregimes soll die Aufmerksamkeit stattdessen auf die in dieser Konfliktkonstellation sich durchsetzenden Herrschaftsstrategien des politischen Zentrums gerichtet werden. „Wo starke Zentralisierung besonders in politischer Hinsicht erstrebt wird“, schreibt Georg Simmel, „werden Sondervereinigungen der Elemente rein als solche perhorresziert, noch ganz abgesehen von ihren Inhalten und Zwecken; sie machen sozusagen als bloße Einheiten dem Zentralprinzip Konkurrenz, das es sich alleine vorbehalten 107
Vgl. dazu Emilio Gentile: Storia del Partito fascista. 1919-1922. Movimento e Milizio, Bari 1989, besonders die Kap. I und II. 108 Enzo Santarelli: Storia del fascismo, Bd. I, Rom 1973, S. 323 ff.; Lyttelton 1982 (wie Anm. 51), S. 269 ff.; vgl. Roger Engelmann: Provinzfaschismus in Italien. Politische Gewalt und Herrschaftsbildung in der Marmorregion Carrara 1921-1924, München 1992. 109 Vgl. Sven Reichardt: Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln 2002.
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will, die Elemente zur Einheitsform zusammenzufassen. Die Besorgtheit der Zentralmacht vor jedem ‚Sonderbund‘ durchzieht (...) die ganze Staatengeschichte.“110 Die Frühgeschichte des italienischen Faschismus illustriert diese Verallgemeinerung vortrefflich. Dabei stellt sich die Frage, mit welchen Herrschaftsstrategien und vor allem unter welchen Organisationsvoraussetzungen sich die Konflikte zwischen der charismatischen Zentralkonstellation und den lokalen charismatischen Figurationen im Konsolidierungsprozess der monokratischen Diktatur entwickelten. Ohne Zweifel stellte, wie Wolfgang Schieder die Ereignisse der ersten Jahre nach der Machtübernahme zusammenfasst, „nicht die politische Opposition, sondern der PNF für die Regierung Mussolinis das größte innenpolitische Problem dar“, denn „die chaotische Vielfalt der faschistischen Zersplitterung ließ eines ganz offenbar werden, nämlich den Mangel an zentraler Führung in der Partei.“111 Und Alberto Aquarone sieht Mussolini in dieser Periode vor einer seiner schwersten Aufgaben nach der Machtergreifung gestellt: „Eines der diffizilsten Probleme, mit denen sich Mussolini nach der Machtübernahme konfrontiert sah, stellte der faschistische squadrismo dar. Es handelte sich dabei für ihn darum, zwei unterschiedlichen und zum größten Teil gegensätzlichen Anforderungen zu entsprechen: Auf der einen Seite ging es darum, die entschiedene und loyale Parteiarmee weiterhin zu seiner Verfügung zu halten, um jeder Form der Opposition, soweit sie nicht rein verbaler Art war, begegnen zu können und sich damit gegebenenfalls vor einer antifaschistischen Revanche zu schützen; auf der anderen Seite sollte aber das squadristische Phänomen ‚normalisiert‘, d. h. entschieden unter seine Kontrolle gebracht und jenes autonomen, tendenziell anarchischen Charakters 110
Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 1908, S. 303; Georg Simmel hat sich im Rahmen seiner herrschaftssoziologischen Formenanalyse eingehend mit den spezifischen strukturellen Spannungen, oder „Wechselwirkungen“, zwischen dem „monokratischen Prinzip“ der „Einherrschaft“ (ebd., S. 107 ff.) und den vielfältigen Ausprägungen zentrifugaler „Sondervereinigungen“ befasst. Im Bemühen um eine theoretische Systematisierung widmete Simmel der Frage nach der institutionellen Kohäsionswirkung des „Zentralprinzips“ in hierarchisch abgestuften Gruppen- bzw. Herrschaftsformationen (wie beispielsweise im Feudalismus, in Staatsverbänden, Militärorganisationen und im Beamtenwesen) besondere Beachtung. Einen Idealtypus der Eigengesetzlichkeit zentrifugaler Partikularmächte formuliert Simmel vor allem mit dem Paradigma der „geheimen Gesellschaft“ (ebd., S. 256 ff.). 111 Wolfgang Schieder: Der Strukturwandel der faschistischen Partei Italiens in der Phase der Herrschaftsstabilisierung, in: ders. (Hrsg.): Faschismus als soziale Bewegung. Deutschland und Italien im Vergleich, Göttingen 1976, S. 84.
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beraubt werden, der den squadrismo als eigenständige Macht erscheinen (...) und damit zu einer Bedrohung für Mussolinis Vormachtstellung in der faschistischen Bewegung werden ließ.“112 Der Verlauf dieser Krise bestätigt unsere Grundannahme von der durchgängig bürokratischen Integration der Einparteienherrschaft des italienischen Faschismus. Die Anpassung der außeralltäglichen, sowohl nebenstaatlichen wie zentrifugalen Stabsorganisationen an die Alltagserfordernisse der traditionell extrem zentralisierten Verwaltungsorganisation des italienischen Staates vollzog sich im Wesentlichen in drei Etappen: Erstens durch die Gründung einer regulären Milizeinheit des PNF; zweitens durch die Befestigung der regierungsunmittelbaren Stellung der Provinzpräfekten; schließlich drittens durch einen facettenreichen Prozess der allmählichen Liquidierung des PNF als eigenständigen politischen Verband. Es ist hier nicht der Ort, die allgemeine Parteientwicklung und die politischen Schachzüge Mussolinis, die am Ende zur faktischen und irreversiblen Entpolitisierung des PNF führten, wiederzugeben. Worauf es uns hier ankommt, ist vor allem die Betrachtung der Rolle der faschistischen Stabsorganisationen im Prozess der „Normalisierung“ in der Frühphase des faschistischen Regimes.
VII. Der im Dezember 1922 gegründete Gran Consiglio del Fascismo113 (Faschistischer Großrat) gehört zu den originären institutionellen Neuerungen des faschistischen Regimes. Die Hauptmerkmale dieses Führerrates sind dessen verfassungsrechtliche Überstaatlichkeit und die führerimmediate Stellung. Seine Hauptfunktion bestand darin, als politisches Beratungs- und Koordinationsprogramm des Duce zu fungieren. Seine Zusammensetzung spiegelte die Symbiose von faschistischer Partei und Staat wider, insofern ihm die sog. „Revolutionsführer“, hohe Funktionsträger der Partei und staatliche Würdenträger angehörten. Die verfassungsrechtliche Stellung des Gran Consiglio blieb im Grunde bis zuletzt umstritten, nicht zuletzt deshalb, weil er als überstaatliches Koordinations- und Beratungsorgan des Duce die Institutio112
Alberto Aquarone: La Milizia volontaria nello stato fascista, in: Alberto Aquarone/Maurizio Vernassa (Hrsg.): Il regime fascista, Bologna 1974, S. 85. 113 Vgl. Giorgio Candeloro: Storia dell’Italia moderna, Bd. 10, La seconda guerr