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German Pages 250 [251] Year 2008
Thorsten Bonacker · Rainer Greshoff · Uwe Schimank (Hrsg.) Sozialtheorien im Vergleich
Thorsten Bonacker · Rainer Greshoff Uwe Schimank (Hrsg.)
Sozialtheorien im Vergleich Der Nordirlandkonflikt als Anwendungsfall
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1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16110-5
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Inhalt Inhalt
Thorsten Bonacker/Rainer Greshoff/Uwe Schimank Sozialtheorien im fallbezogenen Vergleich: Wie sind soziale Gebilde wie die IRA soziologisch zu erklären? ..........................................7 Sabine Korstian Der Nordirlandkonflikt..........................................................................................................15 Jo Reichertz Terror und Erinnerungskultur. Überlegungen zum Nordirlandkonflikt aus hermeneutisch-wissenssoziologischer Perspektive ........................................................33 Andreas Pettenkofer Die Politik des Martyriums. Ein kultursoziologischer Blick auf die IRA ............................53 Jens Greve Kampf, Legitimität, Nation. Das Wiederaufleben der Gewalt im Nordirlandkonflikt aus der Sicht des Weberschen Forschungsprogramms. ........................................................85 Georg Krücken/Frank Meier Zur institutionellen Struktur des Terrorismus. Neo-institutionalistische Perspektiven auf den Nordirland-Konflikt .................................111 Frank Hillebrandt Die IRA als Praxisfeld ........................................................................................................123 Christian Lahusen Terroristische ‚Ordnungen’: eine funktionalistische Analyse des Nord-Irlandkonflikts....141 Andrea Maurer Wie rational sind terroristische Zusammenschlüsse? Chancen und Grenzen einer rationalen Erklärung von Konfliktdynamiken.......................161 Wolfgang Ludwig Schneider Terrorismus und andere Parasiten. Ein systemtheoretischer Deutungsversuch der Initialphase des nordirischen Konflikts ........................................................................181 Uwe Schimank Polykontexturale Eskalationsdynamik: Die IRA im Licht einer akteurzentrierten Differenzierungstheorie ...................................205
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Inhalt
Marcel M. Baumann und Thorsten Bonacker Für einen Theoriendialog ohne Entscheidungszwang. Nutzen und Grenzen eines fallbezogenen Theorienvergleichs aus Sicht der empirischen Konfliktforschung .............229 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ...........................................................................249
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Sozialtheorien im fallbezogenen Vergleich: Wie sind soziale Gebilde wie die IRA soziologisch zu erklären?
Thorsten Bonacker/Rainer Greshoff/Uwe Schimank Die Soziologie war bislang wenig erfolgreich darin, über ihre verschiedenen Paradigmen hinweg weithin geteilte Beschreibungs- bzw. Erklärungsprobleme zu etablieren, deren Bearbeitung und Erforschung auf der disziplinären Ebene kumulatives Wissen erzeugen lässt. Zwar wird man zwischen den Ansätzen eine breite Übereinstimmung in der Benennung solcher Probleme ausmachen können. Sobald letztere jedoch konzeptuell präzisiert und auf dieser Basis innerdisziplinär diskutiert werden, kommt darin der so genannte multiparadigmatische Zustand der Soziologie zum Ausdruck und zwar auf eine Weise, die das eben genannte Defizit deutlich werden lässt. Denn aus den entsprechenden Diskussionen resultieren kaum klar geschnittene und disziplin-übergreifende Problem(lösungs)perspektiven, welche die aus den verschiedenen Ansätzen stammenden Konzepte zunächst kritisch geprüft, dann aufeinander abgestimmt und schließlich zusammengeführt haben, sondern statt dessen unübersichtliche und ausfasernde Diskussionslagen. Das wird in der Soziologie auch ganz deutlich zum Ausdruck gebracht.1 Die unkoordinierte Vielfalt betrifft alle wichtigen Grundlagenbereiche: die sozialtheoretischen Kerne der verschiedenen Ansätze, also ihre konzeptuellen Ausgangspunkte, weiter ihre methodischen Zugänge zum Sozialen sowie auch ihre erkenntnistheoretischen Positionen und Wissenschaftsverständnisse. Dass es unter solchen Voraussetzungen schwerlich gelingen kann, die Soziologie zu einer ähnlich erfolgreichen Wissenschaft wie Physik oder Biologie werden zu lassen, hat schon vor geraumer Zeit Robert K. Merton festgestellt. Seine Einschätzungen und Verbesserungsvorschläge können heute noch als wegweisend gelten.2 Gleiches gilt für die programmatischen Überlegungen, die der Theorienvergleichsdebatte in den 1970er Jahren zugrunde lagen. Sowohl bei Merton als auch in den Ausgangsüberlegungen zur Theorienvergleichsdebatte ging es um eine Art von Konsolidierung der Disziplin „Soziologie“, die der eben angesprochenen Zerfaserung entgegen wirkende Entwicklungen befördern sollte. Vor allem in der beginnenden Theorienvergleichsdebatte wird die angesprochene Problemlage der Soziologie nicht nur klar gesehen, sondern es werden auch Wege und Punkte benannt, die zu begehen und zu erfüllen sind, um hier Verbesserungen zu bewirken. Die entsprechenden Einschätzungen und Überlegungen wurden allerdings wenig umgesetzt. Da sie teilweise in Vergessenheit geraten sind, obwohl sie für eine genauere Beurteilung der Verfassung der Soziologie wichtige Einsichten vermitteln, soll hier an sie angeknüpft werden.
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Siehe dazu etwa B.S. Turner (1989), Fuchs (1992: 101), Hage (1994: 63f.), Greshoff (1999: 11f.), Haller (1999: 15), Endreß (2002), Schneider (2002: 15), Esser (2004: 8), Joas/Knöbl (2004: 35, 726), J.H. Turner (2006). Vgl. Merton 1967: 23; 1995: 4; zu denken ist etwa an sein Konzept der „Theorien mittlerer Reichweite“ (siehe dazu Greshoff/Lindemann/Schimank 2007).
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Die Theorienvergleichsdebatte ist als eine der letzten großen Selbstverständigungen in der deutschsprachigen Soziologie zu begreifen (Matthes 1978, Schmid 2001).3 Die mit ihr verfolgten Absichten dokumentieren sich insbesondere in dem Papier, welches Karl Otto Hondrich 1974 zum Auftakt der Vergleichsdiskussion verfasst hat. Das Ausgangsproblem für die damalige Vergleichsdebatte bildet eine bestimmte Form des Theorienpluralismus, der seinerzeit als charakteristisch für die Theorieszene in der Soziologie galt. Rolf Klima, auf dessen Forschungen sich Hondrich in seinem Papier bezieht (Hondrich 1976: 33), umschreibt diesen Pluralismus Anfang der siebziger Jahre dahin gehend, dass es in der Soziologie nicht gelungen sei, „von dem ‚Chaos der Meinungen‘ zu einer organisierten Ideenkonkurrenz zu gelangen, in der die aufgestellten theoretischen Ansätze einer rigorosen logischen und empirischen Überprüfung unterworfen werden, so daß man feststellen kann, welche Theorien brauchbar sind und welche nicht“ (Klima 1971: 214). Die Konsequenzen einer derartigen Theorienvielfalt beschreibt Klima als einen „Pseudo-Pluralismus“, da die einzelnen Positionen und ihr Verhältnis zueinander so ungeklärt sind, dass sie nicht als „kritische Instanzen“ füreinander fungieren und sich nicht im Sinne eines Erkenntnisfortschritts wechselseitig fruchtbar in Frage stellen können. Dieser Sachverhalt eines Pseudo-Pluralismus und einer damit einher gehenden undurchsichtigen Theorienvielfalt ist der Hintergrund für die disziplinäre Stimmung, aus der heraus die Theorienvergleichsdebatte Anfang der 1970er Jahre erwächst. Ein unproduktiver wie belastender Theorienpluralismus sollte in einen aufgeklärten und produktiven Pluralismus umgewandelt werden. Das aber war wegen der Unübersichtlichkeit der Vielfalt nicht so ohne weiteres möglich, sondern bedurfte besonderer methodischer Anstrengungen, eben eines Überschaubarkeit erzeugenden Theorienvergleichs. Das Theorienvergleichskonzept, das Hondrich in seinem Papier vorschlägt, zielt daher konsequenterweise auf eine Verhältnisbestimmung der diversen Theorieansätze und zwar dahin gehend, dass darüber aufgeklärt werden soll, ob und in welcher Weise Theoriepositionen komplementär oder konkurrenzhaft zueinander stehen oder einander ersetzen können.4 Mittels der von Hondrich intendierten Verhältnisbestimmungen sollte das unübersichtliche Theorieterrain erkundet, eine Orientierung zwischen den Ansätzen möglich und das „Chaos der Meinungen“ bereinigt werden; die geklärten sollten Ansätze schließlich in einer Theorie höheren Allgemeinheitsgrades integriert werden können (Hondrich 1978: 320329).5 Hondrich hält damit an der Idee des Theorienpluralismus fest und intendiert eine Art 3
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Die zunächst in der Auseinandersetzung vertretenen Ansätze waren die Theorie des kommunikativen Handelns, die funktionalistische Systemtheorie, die handlungstheoretisch-interaktionistisch-phänomenologische Theorie, der verhaltenstheoretische Ansatz sowie die historisch-materialistische Theorie (Hondrich 1976: 20); siehe dazu die einschlägigen Beiträge in Lepsius (1976). Die weiteren Etappen der Vergleichsdiskussion sind dokumentiert in Bolte (1978) sowie Hondrich/Matthes (1978). Ein solches Vergleichen auf Komplementaritäten usw. hin ähnelt dem, was auch „Grund-Verhältnisklärung“ genannt wird. Gemeint ist damit ein Vergleichen, bei dem die Leitunterscheidung „Gleichheit/Alternativität“ zu Grunde liegt (Greshoff 1999: 19-30). Zu beachten ist, dass mit einer Grund-Verhältnisklärung keine Bewertung der verglichenen Gegenstände einhergeht. Diese Vorgehensweise ist im Grunde auch keine andere als die, welche Michael Schmid „eine logische Analyse des wechselseitigen Verhältnisses der unterschiedlichen Theorievorschläge“ nennt (Schmid 1997: 271). Hondrich argumentiert folgendermaßen: „Wie ist die nötige Komplexität (Komplexität gemeint im Sinne von Problemlösungsfähigkeit, d.V.) im System der Wissenschaft herzustellen? Man könnte einfach sagen: durch einen Pluralismus der Theorien, Methoden etc. Aber Pluralismus ist nicht gleichzusetzen mit systematischer Komplexität. Letztere entsteht erst, wenn die Austausch- und Komplementaritätsverhältnisse zwischen verschiedenen Theorien als Systemeinheiten geklärt, diese also, ohne als einzelne zu verschwinden, … in einer Theorie höheren Allgemeinheitsgrades aufgehoben werden. Theorievergleich hat also herauszu-
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von integrativ vermitteltem Pluralismus. Darauf zielt die Idee der „Theorie höheren Allgemeinheitsgrades“ (Hondrich 1978: 329). Darin, dass es zu einer solchen Theorie kommen müsste, war er sich sicher. Er ging davon aus, dass im konsequenten Vergleich die Unterschiede zwischen den verschiedenen Ansätzen entscheidend minimiert werden (Hondrich 1978: 326).6 Wie bekannt, ist es dazu aber nicht gekommen. Die Vergleichsdebatte ist schon bald versandet, ohne zu nachhaltigen Ergebnissen geführt zu haben.7 Das, was zu Beginn intendiert war, ist also nicht verwirklicht worden. Daran hat sich bis heute im Grunde nichts geändert. Es ist bei der „multiplen Paradigmatase“ (Luhmann 1981: 50) geblieben, die sich sogar noch weiter verschärft hat. Ein methodisch fundiertes, über disziplinweit koordinierte Diskussionen gewachsenes Wissen vor allem darüber, in welchen Verhältnissen die grundlegenden Theoriepositionen in ganz elementaren Hinsichten zueinander stehen, hat sich in der Soziologie nicht entwickelt. Das macht sich in jeweiligen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Theoriepositionen immer wieder negativ bemerkbar. Sie sind geprägt von gegenseitigen Fehleinschätzungen, schiefen Gegenüberstellungen und einem „aneinander vorbei Reden“ – alles Dinge, die eine kumulative Wissensentwicklung behindern müssen. Bleibt es bei der gerade beschriebenen Situation, wird die viel beklagte „multiple Paradigmatase“ zementiert und die Möglichkeit einer „rationalen“ Orientierung in der Vielfalt zunehmend illusionär. Und noch etwas scheint dann die Konsequenz zu sein: Solange die Grundlagenverhältnisse so ungeklärt sind wie heute, solange wird es immer wieder aufs Neue Bemühungen geben, exegetisch unter die „Fittiche der Klassiker“ (Luhmann 1981: 5) zu flüchten und bei ihnen konzeptuellen Halt zu suchen. Das führt unter den gegebenen Bedingungen dann dazu, dass die ungeklärte Vielfalt durch „multiple Klassikerauslegungen“ noch zusätzlich vergrößert wird. Alles in allem mag sich dann der – verständliche und wohl auch nicht ganz unberechtigte – Eindruck einer „unreifen“ Disziplin (Kuhn) verfestigen, die ihre Klassiker nicht produktiv beerben kann.
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arbeiten, in welchem Verhältnis – entweder funktionaler Differenzierung (= Komplementarität) oder funktionaler Verdoppelung (= Konkurrenz oder Substituierbarkeit) – verschiedene Theorien zueinander stehen – dies wiederum als Vorbereitung von Theorien höheren Allgemeinheitsgrades“ (Hondrich 1976: 20). Dieser Optimismus von Hondrich, der sich in gewisser Weise schon bei Parsons bestätigt findet („the differences are not so great as they appear at first sight. There is a substantial common basis of theory if we will take the trouble to dig deep enough to find it“ (Parsons 1937: 774)), ist im Grunde nie ernsthaft geprüft worden. Die dafür notwendigen Vergleichsarbeiten wurden bislang nicht unternommen. Der Optimismus von Hondrich kann auch durch eine These von Luhmann Bestätigung finden, der davon ausgeht, dass „das Spiel [um die theoretischen Grundlagen der Soziologie, d.V.] … im Grunde … mit wenigen Figuren gespielt“ wird (Luhmann 1981: 50; eine ähnliche These findet sich bei Joas/Knöbl 2004: 37). Im Zusammenhang mit diesen Positionen wäre nun verschiedenes zu diskutieren. Einmal etwa die im Anschluss an Coleman formulierte These von Michael Schmid, dass es „nur eine Sozialwissenschaft gibt“. Um dieses „Einheits-Konzept“ wirksam werden zu lassen, hält er es für notwendig, „eine ‚Synthese’ der soziologischen Theorie voranzutreiben“ (Schmid 2005: 70). Dafür wiederum misst er, im Prinzip ganz ähnlich wie Hondrich, Theorienvergleichen eine besondere Bedeutung zu (Schmid 2001: 489). Und des weiteren auch die These von Gesa Lindemann, die mittels des Verfahrens eines kritisch-systematischen Theorievergleichs zu dem Ergebnis kommt, dass sich zwischen verschiedenen soziologischen Ansätzen eine Konvergenz dahin gehend abzeichnet, was sie als „das Soziale“ als den zentralen Gegenstand ihrer Konzeptionen begreifen (Lindemann 2005). Die wesentlichen Gründe für dieses Versanden kann man im Aufbau der Debatte sehen. Zum einen war sie hinsichtlich der zu bearbeitenden Themenfelder zu wenig grundlegend bzw. zu voraussetzungsreich angelegt. Sie hatte das Thema „soziale Evolution“ als Ausgangspunkt gewählt und war damit schnell überfordert, weil dieser Ausgangspunkt schon zu viele wichtige Konzepte implizierte, die vorher hätten vergleichend geklärt sein müssen, um eine komparative Verständigung gelingen zu lassen. Zum anderen wurde die Debatte zu wenig als kontinuierlich-stringenter Forschungszusammenhang organisiert und institutionalisiert.
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Nun hat es im Anschluss an die Theorienvergleichsdebatte in den letzten Jahren aber auch Bemühungen gegeben, das Thema „Theorienvergleich“ wiederzubeleben. So wurden in diskursiv organisierten Theorienvergleichsunternehmen Vertreterinnen unterschiedlicher Ansätze zusammen gebracht, um Konzepte zu bestimmten sozialtheoretischen Grundlagenthemen – „Struktur und Ereignis“ sowie „Transintentionalität“ – zu vergleichen und die Vergleichsergebnisse anschließend wechselseitig zu kommentieren.8 Diese Arbeiten sind allerdings primär damit befasst, Konzepte zentraler Dimensionen dessen, was als Soziales den Gegenstand der Soziologie bildet, komparativ zu untersuchen. In ihnen geht es somit weniger um das andere sozialtheoretische Grundlagenthema, nämlich um einen Vergleich von Konzepten, wie dieses Soziale in seiner Entwicklung zu erklären ist. Diese Perspektive wurde 2006 auf der Marburger Theorienvergleichstagung eingenommen, aus deren Kontext die Beiträge dieses Buchs stammen. Auf dieser Tagung ging es darum, unter der gerade genannten Aufgabenstellung verschiedene soziologische Theorieansätze anhand eines empirischen Problemfalles in einen Vergleichshorizont zu stellen. Dabei ist das „in einen Vergleichshorizont stellen“ durchaus wörtlich zu nehmen. Denn in einem notwendigen ersten Schritt war es zunächst nur möglich zu demonstrieren, wie aus der Sicht unterschiedlicher sozialtheoretischer Ansätze mit einem ausgewählten empirischen Problemfall umgegangen wird. Auf der Basis entsprechender Arbeiten, die von diesen Ansätzen nahe stehenden bzw. sie repräsentierenden Wissenschaftlerinnen verfasst wurden, sollte geprüft werden, ob bzw. inwiefern die Konzepte und Methoden der verschiedenen sozialtheoretischen Positionen zu gleichen, ähnlichen oder unterschiedlichen Erklärungen des selben Phänomens führen. Die Anlage dieser Vorgehensweise ist im Wesentlichen auch die für das Buch gültige geblieben. Bevor erläutert wird, durch welche zusätzlichen Schritte der Vergleichshorizont im Buch verbreitert wird, sind erst einmal die Hintergründe von Vorgehensweise und Themenwahl näher darzulegen. Bei der Auswahl des Problemfalls war uns wichtig, dass der exemplarische Erklärungsgegenstand möglichst gleich weit entfernt von allen Ansätzen liegt. Zugleich legten wir Wert darauf, ein gesellschaftlich relevantes soziales Problem auszuwählen, um zeigen zu können, dass soziologische Erklärungen immer auch ein Stück soziologischer Aufklärung der Gesellschaft sind – unabhängig davon, welche Argumentationsmuster sie dabei verwenden. Dies vorausgesetzt, haben wir uns dafür entschieden, die Perspektiven und Erklärungsreichweite allgemeiner Konzeptionen des Sozialen am Phänomen des Terrorismus als eines spezifischen sozialen Gebildes demonstrieren zu lassen. Der konkrete empirische Fall, der hierfür exemplarisch herangezogen wird, ist der der IRA im Nordirlandkonflikt. Thema ist also die Erklärung von Entstehung, Fortführung und Eskalation terroristischer Aktivitäten, von kleinen Gruppen ausgeführt, die wiederum in ein größeres Unterstützungsumfeld in der Bevölkerung eingebettet sind. Ausgewählt wurde dieser Fall – und nicht etwa al-Qaida – auch deshalb, weil zu ihm heute eine räumliche und zeitliche Distanz 8
Vgl. dazu die Beiträge in Greshoff/Kneer (1999) sowie Greshoff/Kneer/Schimank (2003). Anzuführen sind darüber hinaus die Arbeiten, die im Gefolge dieser neueren Vergleichsunternehmungen die Theorienvergleichsthematik noch einmal grundsätzlich-methodisch reflektieren. Neben der Tagung „Was erklärt die Soziologie?“, die 2003 in Hagen im Rahmen der DGS-Sektion „Soziologische Theorien“ veranstaltet wurde (siehe dazu die einschlägigen Beiträge in Schimank/Greshoff 2005), ist hier insbesondere die im gleichen institutionellen Rahmen organisierte Theorienvergleichstagung 2005 in Dresden zu nennen („Vergleich der Theorienvergleiche in der deutschen Soziologie“), auf der verschiedene Ansätze methodischer Theorienvergleiche in Vorträgen vorgestellt und kommentiert wurden (siehe dazu den Bericht von Andrea Hamp in Heft 4 von „Soziologie“ 2005).
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besteht, die es der jeweiligen Theorieperspektive erleichtert, sich, wie man sagt, „sine ira et studio“ auf die Anwendung ihres konzeptuellen Instrumentariums zu konzentrieren. Als – sozusagen – Arbeitshypothese für die Auswahl der Theorieansätze gehen wir davon aus, dass alle ausgearbeiteten Sozialtheorien von ihren Ansprüchen her in Grundzügen erklären können müssen, warum es zu einem derartigen soziale Gebilde kommt und wie es sich reproduziert. Es geht unter dieser Problemstellung also weniger um die Erklärung einzelner terroristischer Akte oder um die Frage, warum jemand zum Attentäter wird, sondern um das kollektive Phänomen des terroristischen Gebildes. Bei dieser Thematik scheint keine Theorie dahin gehend bevorteilt zu sein, dass für sie der Gegenstand leichter zu bearbeiten ist als für irgendeine der anderen. Durch die skizzierte Herangehensweise wird somit nicht nur ein gesellschaftlich relevantes Thema aufgegriffen, sondern auch ein solches, das theoretisch nicht leicht zu erfassen ist. Um hier weiter zu kommen, scheint es so aussichtsreich wie notwendig, verschiedene Theoriepositionen in ihren Problembearbeitungs- wie Problemlösungsqualitäten einschätzen zu können. Damit dies so geschieht, dass die verschiedenen Positionen nachprüfbar voneinander lernen und sich im Sinne eines Erkenntnisfortschritts wechselseitig fruchtbar in Frage stellen können, bedarf es des methodischen Vergleichs im Sinne einer Grund-Verhältnisklärung. In dieser Perspektive, das muss in verschiedenen Hinsichten deutlich betont werden, ist denn auch das Thema „IRA im Nordirlandkonflikt“ ein exemplarischer Gegenstand. Primär geht es darum, allgemeine sozialtheoretische Ansätze hinsichtlich ihrer Grundlagenkonzepte, die in dynamischer Hinsicht die operative und strukturelle Seite sozialer Gebilde in den Blick nehmen lassen, anhand eines empirischen Gegenstandes in einen Vergleichshorizont zu stellen. Die Ansatzvertreter sind deshalb auch nicht als Terrorismus-, sondern in erster Linie als Theorieexperten und -expertinnen angesprochen worden. Und zwar dahin gehend, sich auf ein konkretes Problem einzulassen, ohne dass von ihnen erwartet wird, dass sie sich dafür extensiv in den Stand der Forschung zur IRA einarbeiten. Um gleichwohl den empirischen Bezug in einem vertretbaren Minimum zu gewährleisten, haben wir einen Beitrag von Sabine Korstian gewinnen können. Als Expertin für den Nordirlandkonflikt beschreibt sie darin in den Grundlinien dessen Chronologie. Die Darstellung von Sabine Korstian liegt als gleichsam minimale und gemeinsame empirische Basis allen Arbeiten der verschiedenen Theorieansätze zu Grunde. Diese Arbeiten sind dabei – individuell verschieden ausbuchstabiert – nach folgendem Plan verfasst. Zunächst wird kurz der jeweilige sozialtheoretische Ansatz skizziert. In konkretisierender Herleitung davon wird dann das Erklärungskonzept für den empirischen Fall dargelegt. In dieser Perspektive finden sich in diesem Buch der hermeneutische Ansatz (Jo Reichertz), der kultursoziologische Ansatz (Andreas Pettenkofer), die Weberianische Perspektive (Jens Greve), die Sicht des Neoinstitutionalismus (Georg Krücken/Frank Meier), der Praxistheorie (Frank Hillebrandt), des Funktionalismus (Christian Lahusen), der erklärenden Soziologie (Andrea Maurer), der soziologischen Systemtheorie (Wolfgang Ludwig Schneider) sowie der akteurzentrierten Differenzierungstheorie (Uwe Schimank). Wie oben ausgeführt, wird mit den ansatzspezifischen Beiträgen dieses Buches der Vergleichshorizont anhand des empirischen Problemfalles in einem ersten Schritt eröffnet. Ein systematischer Theorienvergleich kann hier nicht geleistet werden. Diesen gleichwohl zumindest eröffnend resümieren Marcel Baumann und Thorsten Bonacker zum Abschluss des Bandes die Beiträge sowohl in theorievergleichender als auch aus empirischer Perspektive. Zum einen wird dabei gezeigt, wo die Schnittmengen und Gemeinsamkeiten der vor-
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gestellten Erklärungsansätze in Bezug auf den Nordirlandkonflikt sind. Zum anderen diskutieren die Autoren, welche Anregungen sich aus einem Theorienvergleich für die empirische Konfliktforschung ergeben. Dazu, weitere Vergleichsperspektiven einzunehmen und zu kommunizieren, möchten wir die Leser und Leserinnen ausdrücklich anregen. Wenn ein Buch in den Druck geht, ist meist ein längerer Weg zurückgelegt worden. Auf diesem Weg hat sich allerlei ereignet, was das Buch erst möglich machte. Die Herausgeber wollen sich dafür bei ihren verschiedenen Wegbegleitungen bedanken. Zunächst bei den Teilnehmenden an der Marburger Theorienvergleichstagung im Mai 2006. Die dortigen Diskussionen haben uns ermutigt, die vorliegende Publikation überhaupt auf den Weg zu bringen. Sodann bei den Beitragenden zu diesem Buch: vor allem für ihre Aufsätze, aber auch für die Geduld, die von manchen bis zur Veröffentlichung aufzubringen war, Sabine Korstian ist für die Bereitstellung der grundlegenden Informationen über den Nordirlandkonflikt zu danken.Unser Dank gilt weiter Frank Engelhardt dafür, dass er das Buch in das VS-Verlagsprogramm übernommen hat. Und schließlich ist Bettina Kolwe, Ludwig Krüger und Sebastian Wagner zu danken, ohne die die Druckvorlage nicht zum Verlag gekommen wäre.
Literatur Bolte, K.M. (Hrsg.), 1978: Materialien aus der soziologischen Forschung. Darmstadt: Deutsche Gesellschaft für Soziologie. Endreß, M., 2002: Wider die „Balkanisierung“ der Soziologie. Berliner Journal für Soziologie 12: 127-139. Esser, H., 2004: Soziologische Anstöße. Frankfurt a.M./New York: Campus. Fischer, J./Makropoulos, M. (Hrsg.), 2004: Potsdamer Platz. Soziologische Theorien zu einem Ort der Moderne. München: Fink. Fuchs, S., 1992: The professional quest for truth. Albany: State University of New York Press. Greshoff, R., 1999: Die theoretischen Konzeptionen des Sozialen von Max Weber und Niklas Luhmann im Vergleich. Opladen-Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Greshoff, R./Kneer, G. (Hrsg.), 1999: Struktur und Ereignis in theorievergleichender Perspektive. Opladen-Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Greshoff, R./Kneer, G./Schimank, U. (Hrsg.), 2003: Die Transintentionalität des Sozialen. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Greshoff, R./Lindemann, G./Schimank, U., 2007: Theorienvergleich und Theorienintegration – Disziplingeschichtliche und methodische Überlegungen zur Entwicklung eines paradigmenvermittelnden „conceptual framework“ für die Soziologie. Arbeitsgruppe Soziologische Theorie (AST)/CvO Universität Oldenburg, Diskussionspapiere 1 (http://www.uni-oldenburg.de/ast/ download/dp/ast-dp-1-07.pdf). Hage, J., 1994: Sociological theory: complex, fragmented and politicized. S. 52-65 in: J. Hage (Hrsg.), Formal theory in sociology. Albany: State University of New York Press. Haller, M., 1999: Soziologische Theorie im systematisch-kritischen Vergleich. Opladen: Leske + Budrich. Hondrich, K.O., 1976: Entwicklungslinien und Möglichkeiten des Theorievergleichs. S. 14-36 in: M.R. Lepsius (Hrsg.), Zwischenbilanz der Soziologie. Enke: Stuttgart. Hondrich, K.O., 1978: Viele Ansätze – eine soziologische Theorie. S. 314-330 in: K.O. Hondrich/J. Matthes (Hrsg.), Theorienvergleich in den Sozialwissenschaften. Darmstadt-Neuwied: Luchterhand.
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Hondrich, K.O./Matthes, J. (Hrsg.), 1978: Theorienvergleich in den Sozialwissenschaften. Darmstadt/Neuwied: Luchterhand. Joas, H./Knöbl, W., 2004: Sozialtheorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Klima, R., 1971: Theorienpluralismus in der Soziologie. S. 198-219 in: A. Diemer (Hrsg.), Der Methoden- und Theorienpluralismus in den Wissenschaften. Meisenheim am Glan: Hain. Lepsius, M. R. (Hrsg.), 1976: Zwischenbilanz der Soziologie. Enke: Stuttgart. Lindemann, G., 2005: Theorievergleich und Theorieintegration. S. 44-64 in: U. Schimank/R. Greshoff (Hrsg.), Was erklärt die Soziologie? Münster: LIT. Luhmann, N., 1981: Soziologische Aufklärung 3. Opladen: Westdeutscher Verlag. Matthes, J., 1978: Die Diskussion um den Theorienvergleich in den Sozialwissenschaften seit dem Kasseler Soziologentag 1974. S. 7-20 in: K.O. Hondrich/J. Matthes (Hrsg.), Theorienvergleich in den Sozialwissenschaften. Darmstadt-Neuwied: Luchterhand. Merton, R.K., 1967: On Theoretical Sociology. New York/London: The Free Press. Merton, R.K., 1995: Soziologische Theorie und soziale Struktur. Berlin/New York: de Gruyter. Parsons, T., 1937: The structure of social action. Vol. II. New York/London: The Free Press. Schimank, U./Greshoff, R. (Hrsg.), 2005: Was erklärt die Soziologie? Münster: LIT. Schmid, M., 1997: Zum Verhältnis soziologischer und ökonomischer Handlungstheorie. S, 264-292 in: M. Fischer/P. Hoyningen-Huene (Hrsg.), Paradigmen. Frankfurt a.M et al.: Lang. Schmid, M., 2001: Theorienvergleich in den Sozialwissenschaften. Ethik und Sozialwissenschaften 12: 481-494. Schmid, M., 2005: Soziale Mechanismen und soziologische Erklärungen. S. 35-82 in: H.-J. Aretz/C. Lahusen (Hrsg.), Die Ordnung der Gesellschaft. Frankfurt a.M. et al.: Lang. Schneider, W.L., 2002: Grundlagen der soziologischen Theorie. Band 1. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Turner, B.S., 1989: Commentary: Some reflections on cumulative theorizing in sociology. S. 131-147 in: J.H. Turner (Hrsg.), Theory building in sociology. Newbury Park/London/New Delhi: Sage. Turner, J.H., 2006: Sociological theory today. S. 1-17 in: J.H. Turner (Hrsg.), Handbook of sociological theory. New York: Springer.
Der Nordirlandkonflikt
Sabine Korstian Der Konflikt in und um Nordirland hat zwischen 1969 und 1998 über 3 500 Todesopfer gefordert, von denen mehr als die Hälfte Zivilisten waren.1 Fast 3.300 der Opfer starben innerhalb Nordirlands. Die nur etwa 14.100 Quadratkilometer große britische Provinz im Nordosten der irischen Insel mit ihren knapp 1,6 Millionen Einwohnern2 hatte ferner über 40 000 Verletzte zu beklagen, über 18 000 Anklagen wurden wegen „terrorist or serious public order type offences“ erhoben und die Zahl derjenigen, die einmal verhaftet und verhört worden sind, ohne, dass später gegen sie Anklage erhoben wurde, dürfte mehrere Zehntausend betragen. Als staatliche Sicherheitskräfte waren 1980 zum Beispiel 11.500 britische Soldaten zusätzlich zu 7.500 Polizeikräften der Royal Ulster Constabulary (RUC) und noch ein paar Tausend Angehörige der RUC-Reserve und des Ulster Defence Regiment (UDR), eines lokalen „part-time“ Regiments der britischen Armee, im Einsatz.3 Die Sicherheitskräfte haben im Rahmen ihrer umfangreichen Sicherheitsmaßnahmen im Laufe des Konflikts mehr als 350.000 Hausdurchsuchungen durchgeführt, konnten aber weder die fast 1.000 Toten in den eigenen Reihen verhindern, noch über 10.000 Explosionen, noch über 35.000 Schießereien, noch über 20.000 bewaffnete Raubüberfälle, bei denen fast 30 Millionen Pfund erbeutet wurden. Und dies nur innerhalb Nordirlands, denn Überfälle, Anschläge und Morde in der Republik Irland (113 Tote), auf dem europäischen Festland (18 Tote) und in anderen Gebieten Großbritanniens (125 Tote) sind in diesen Zahlen nicht enthalten.4 Die Herausforderer des staatlichen Gewaltmonopols waren republikanische und loyalistische Paramilitärs,5 deren Mitgliederstärke auf jeweils einige Hundert geschätzt wird, wobei die Stärke der paramilitärischen Gruppen in den 1970ern größer war. Mitte der 1970er Jahre lag die vermutete Stärke der (Provisional) Irish Republican Army (PIRA – heute nur noch IRA) bei 1 500, hinzu kamen noch einige Dutzend Mitglieder anderer republikanischer Gruppen. Die größte der loyalistischen Gruppen, die Ulster Defence Association (UDA), konnte zum selben Zeitpunkt bis zu 30 000 Mitglieder vorweisen. Allerdings war sie damals nicht illegal, d.h. diese Zahl konnte sie für Paraden und ähnliches mobilisieren. Zu ihrem „illegal operierenden Arm“, den Ulster Freedom Fighters (UFF), dürften 1
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Diese Angaben beruhen auf dem „Sutton Index of Death“ abrufbar beim „Conflict Archive on the Internet“ (CAIN – www.cain.ulst.ac.uk). Sutton zählte von 1969 bis 2001 und nahm die Opfer außerhalb Nordirlands in die Zählung auf. Seine Gesamtzahl ist 3 524. Die weiteren Angaben beruhen auf Elliott/Flackes (1999: 638-690). Deren Statistiken reichen bis 1998. Für Deutschland – 80 Millionen Einwohner zugrunde gelegt – entspräche dies etwa 160.000 Toten infolge politischer Gewalt! Die Zahlen für die Sicherheitskräfte haben sich im Laufe der Zeit verändert, so waren zeitweise – 1972 – 21.000 britische Soldaten im Einsatz. Die Polizei wurde weiter ausgebaut, während versucht wurde, die Anzahl der Soldaten zu vermindern. „Sutton Index of Death“. CAIN: www.cain.ulst.ac.uk\otholem\organ\azorgan.htm (Kurzbeschreibungen von nordirischen Organisationen, Parteien etc.).
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wesentlich weniger gehört haben. Hinzu kommen noch Mitglieder anderer Gruppen, insbesondere der Ulster Volunteer Force (UFV). Strebten die republikanischen Gruppen ein Ende der britischen Herrschaft und eine Wiedervereinigung Irlands an, so wollten die loyalistischen Gruppen genau dies verhindern. Dabei verloren 394 republikanische und 151 loyalistische Paramilitärs ihr Leben.6 Fast die Hälfte der toten republikanischen Paramilitärs starben durch Republikaner – bei den loyalistischen starben fast zwei Drittel durch Loyalisten. Republikaner waren für den Tod von über 2.000 Menschen verantwortlich – darunter fast aller Opfer unter den Sicherheitskräften – und Loyalisten für den Tod von über 1.000. Diese Zahlen geben einen ersten Eindruck über das Ausmaß des Konflikts und die Stärke der Konfliktparteien. Doch was steckt dahinter? In diesem Beitrag sollen Hintergrund und Verlauf des Konflikts in aller gebotenen Kürze beschrieben werden. Er dient daher als Einstieg in die Thematik, der selber – soweit sich dies ausschließen lässt – nicht theoriegeleitet ist. Dazu soll zunächst die historische Dimension aufgezeigt werden, die auch die ideologischen Ressourcen der Konfliktparteien beinhaltet. Die anschließende Beschreibung Nordirlands bis zu Beginn der „Troubles“ – wie die jüngste Phase des Konflikts um „Ulster“ (Protestanten) bzw. um die „six-counties“ (Republikaner) genannt wird7 – erhellt die sozialen und politischen Dimensionen, die dem Konflikt zugrunde liegen und den Staat in die Krise führten. Die Eskalation des Konflikts ab 1969 und ihre Auswirkungen, die zu seiner Verfestigung führten, thematisiert der darauf folgende Abschnitt. Danach wird die Zeit ab Mitte der 1970er Jahre, als deutlich wurde, dass der Konflikt ein Dauerzustand sein wird, beschrieben und so gezeigt, wie die Konfliktparteien sich darauf eingerichtet und ihren „langen Kampf“ geführt haben. Wie aus der „Pattsituation“ aller Beteiligten der Friedensprozess in den 1990ern wurde, ist Thema des nächsten Abschnitts, bevor abschließend die Stationen des Friedensprozesses kurz dargestellt werden.
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Die historische Dimension
Die historische Dimension8 spielte im Selbstverständnis vieler Nordiren eine herausragende Rolle, denn die Daten der irischen Geschichte „are fixed like beacons in the folklore and mythology of Irishmen. They trip off the tongue during ordinary conversation like the latest football scores in other environment, and are recorded for posterity on gable walls all over Northern Ireland” (Darby 1983b: 13; vgl. auch Arthur 1997). Für irische Nationalisten und Republikaner spiegelt diese Geschichte seit der ersten anglo-normanischen Invasion im 12. Jahrhundert ein fortdauerndes Ringen der unterdrückten irischen – also gälischen – Nation gegen den Einfluss Englands bzw. später Großbritanniens wieder. Für britische Unionisten und Loyalisten dagegen ist sie seit ihrer Ansiedlung im 17. Jahrhundert eine der Selbstbehauptung gegen eine ihnen feindlich gesonnene Umgebung. England wollte damals mit einer intensiven Ansiedlung protestantischer Siedler seine Kontrolle über Irland stärken, wo bis dahin nur ein Teil der Oberschicht den protestantischen Glauben angenommen und 6 7
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„Sutton Index of Death“, daraus auch die folgenden Angaben. Nordirland besteht aus 6 von 9 Grafschaften oder „counties“ der historischen Provinz Ulster. Irland bestand aus 4 Provinzen mit insgesamt 32 Grafschaften. Da Republikaner die Legitimität Nord- und Südirlands verneinten, wird Nordirland „six counties“ und Südirland „26 counties“ genannt. Zur Geschichte Irlands: Townshend (1988); Kee (1982); Beckett (1981).
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damit Loyalität bewiesen hatte. Diese Ansiedlung fand im Nordosten der Insel statt, weil die Macht der dort herrschenden irischen Clans gerade zerschlagen worden war. Der Aufstand gegen die Siedler im 17. Jahrhundert, seine Niederschlagung durch Cromwell, der spätere Versuch des gestürzten katholischen Jakob II., mit Hilfe der Iren seinen englischen Thron zurück zu erobern, dessen Niederlage gegen Wilhelm von Oranien und die darauf folgende Diskriminierung der irischen Katholiken legten den Grundstein für die Rolle der Konfession in der irischen Politik. Der Sieg Williams of Orange ist es, dessen die jährlichen Umzüge – der so genannten „Marching Season“ im Sommer – der protestantischen Orange Order heute noch gedenken, denn seinen Sieg hatte er den Protestanten im Norden zu verdanken. Der gescheiterte Aufstand der United Irishmen 1795 gegen die britische Herrschaft wurde allerdings maßgeblich vom presbyterianischen Mittelstand im Norden getragen. Der Anführer, Theobald Wolfe Tone, gilt Republikanern als Gründungsvater des irischen Republikanismus, der neben dem Streben nach einer Republik seitdem ein Synonym für die Variante des Nationalismus wurde, die propagiert, dass – nach Wolfe Tone – „the connection with england the never failing source of all our political evils“ sei und dass diese Verbindung „must be broken by physical force“. Im Jahre 1795 wurde jedoch auch die Orange Order zur Verteidigung des protestantischen Glaubens gegründet. Auch weiterhin war der sich entwickelnde irische Nationalismus zunächst keine rein katholische Angelegenheit. Tatsächlich waren einige seiner führenden Köpfe – und nicht nur Wolfe Tone – Protestanten. Nachdem Irland 1801 Teil Großbritanniens geworden war, prägten im 19. Jahrhundert mehrere große Kampagnen das politische Leben. Zunächst gab es eine Art „Emanzipationsbewegung“, welcher es gelang, die die Katholiken diskriminierenden Gesetze abzuschaffen. Dann entstand eine eher erfolglose Bewegung zur Landreform, die wiederum die überwiegend katholische Bevölkerung des größtenteils ländlichen Irlands besser stellen sollte, danach die „Home Rule“ Kampagne, die auf konstitutionellem Wege Autonomie für Irland forderte und schließlich eine Bewegung zur „Wiedererweckung“ der irischen Kultur, die 1905 in der Gründung einer neuen Partei, Sinn Fein (gäl.: Ourselves Alone), mündete. Parallel dazu blieb auch die „physical force“ Tradition mit mehreren gescheiteren Aufständen – 1803, 1848 und 1867 – lebendig. Letzterer wurde von einem neuen Geheimbund getragen: der Irish Republican Brotherhood (IRB). Sie war 1858 parallel in Dublin und New York gegründet worden. Die USA waren das Hauptziel der anhaltenden Emigration aus Irland, die während der großen Hungerkatastrophe Mitte des Jahrhunderts ein Massenphänomen geworden war. Seitdem bildeten die irischen Emigranten mit ihrer Unterstützung für Nationalisten und Republikaner eine wichtige Ressource. Die Weichen für die weitere politische Entwicklung wurden um die Jahrhundertwende gestellt. Demokratisierungsprozesse in der Politik hatten zu einer Mobilisierung der Massen geführt, und Konfession und nationale Identität besaßen ein leicht anzusprechendes Mobilisierungspotenzial. Außerdem hatte der Nordosten des Landes, wo Protestanten die Bevölkerungsmehrheit stellten, eine andere Entwicklung durchlaufen: Mit seiner fortgeschrittenen Industrialisierung und gut ausgebauten Infrastruktur war er dem Rest der Insel wirtschaftlich überlegen. Schon im Laufe des 19. Jahrhunderts war Belfast der Anziehungspunkt für Landflucht gewesen, wobei sich die traditionell konfessionell getrennten Arbeiterviertel erhalten haben, so dass Unruhen im 20. Jahrhundert in denselben Vierteln wie früher stattfanden (Boyd 1972). Der Aufstieg eines fundamentalistischen anti-katholischen Zweiges innerhalb der presbyterianischen Kirche – dessen „Erbe“, Reverend Ian Paisley, 1971 die Democratic Unionist Party (DUP) gründete – illustriert den zunehmenden Einfluss
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religiöser Identität auf die Politik ebenso wie die Ausweitung der Orange Order, die vorher einer von mehreren Geheimbünden war, die im agrarischen Irland verbreitet waren. Im Norden des Landes hatte sich eine von Protestanten getragene „Anti-Home-Rule“ Kampagne mit dem Motto „Home Rule is Rome Rule“ entwickelt, die in der Aufstellung einer Freiwilligenarmee, der Ulster Volunteer Force, gipfelte. Da im Süden Nationalisten die Irish Volunteers gegründet hatten, stand Irland bei Ausbruch des 1. Weltkrieges am Rande eines Bürgerkriegs; und England verschob das Inkrafttreten von „Home Rule“. Die IRB und andere Radikale begannen Ostern 1916 einen Aufstand – heute alljährlich zu Ostern von Republikanern mit Umzügen gefeiert –, der nach wenigen Tagen niedergeschlagen wurde. Beispielhaft für zwei ideologische Strömungen des Republikanismus stehen zwei der hingerichteten Anführer: Patrick Pearse vertrat einen romantisierenden Nationalismus, der eng mit der „Erweckung“ der irischen Kultur und einer Opfer-Märtyrer-Mystik verbunden ist; der Gewerkschaftsführer James Connolly hingegen repräsentierte eine Strömung, die republikanische Ideen mit sozialistischen verknüpft. Im Zuge des Osteraufstandes kam es zu einer Radikalisierung im Süden. Sinn Fein wurde die stärkste Partei und die neue, sich aus IRB und Irish Volunteers zusammensetzende IRA begann einen Guerillakrieg, der schließlich 1922 in der Schaffung eines Freistaates im Süden mündete. Doch eine Minderheit der IRA und von Sinn Fein war mit dem erreichten Status, der immer noch eine Hoheit Großbritanniens bedeutete, nicht zufrieden. Dies führte zu dem Bürgerkrieg, an dessen Ende sich 1923 die Gegner des Freistaates geschlagen geben mussten. Im Norden hatte es in der Zwischenzeit die protestantische Bevölkerungsmehrheit geschafft, ihre Interessen durchzusetzen: Sechs der neun Grafschaften, aus denen die Provinz Ulster bestand, verblieben bei Großbritannien, und sie hatten nun ihren eigenen Staat mit eigenem Parlament und eigener Regierung: Nordirland.9 Oder wie es sein erster Premierminister formulierte: „I have always said that I am an Orangeman first and a politician and a member of this parliament afterwards. ... All I boast is that we have a Protestant parliament and Protestant state“10. Die diversen protestantischen Gruppen gingen zunächst in dem neuen Staat auf, indem sie Einheiten der Polizei wurden. Die Orange Order wurde seine gesellschaftliche, die Unionist Party seine politische „Klammer“. Doch obwohl die Union mit Großbritannien und die britische Identität maßgeblich waren, war das Verhältnis zur britischen Politik mit Misstrauen belastet, denn trotz all der Opfer, die man für England gebracht hatte, war es bereit gewesen, die nordirischen Protestanten11 mit „Home Rule“ im Stich zu lassen. Nur der eigenen Initiative war es zu verdanken, dass dies nicht geschehen war. Der südirische Staat gab sich 1937 eine neue Verfassung, in der ganz Irland als „nationales Territorium“ beansprucht und die „besondere Position“ der katholischen Kirche festgelegt wurde. Dies wiederum bestätigte die Befürchtungen der Protestanten, dass erstens der Süden nicht zögern würde, bei nächster Gelegenheit den nordirischen Staat zu zerstören, und zweitens es sich im Süden um einen von Grund auf reaktionären und theokratischen Staat handelte. Im Jahre 1949 rief man im Süden die Republik aus. Beide Staaten blieben sich feindlich gesonnen. Aufgrund ihrer Entstehung und gegenseitigen Ablehnung etablierten sich in beiden Staaten politische Systeme, die auf gegenseitiger Abgrenzung, der Aufrechterhaltung von „Law and Order“ und der Konservierung des Bestehenden beruhten 9 10 11
Zur Geschichte Nordirlands und dem nordirischen Staat: Buckland (1981), Farrell (1980). Sir James Craig, Lord Craigavon, April 1934, zit.n. Farrell (1980: 92). Zum Unionismus und den Protestanten: Shirlow/Mc Govern (1997), Bruce (1992, 1994), Nelson (1984).
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– wie Connolly im Falle einer Teilung vorhergesagt hatte: ein „Carnival of Reaction“. Erst 1965 trafen im Zuge einer vorsichtigen Annäherungspolitik zum ersten Mal die Premierminister beider Staaten zusammen. Im Süden waren die verbliebenen Republikaner verschiedene Wege gegangen. Eine Mehrheit hatte begonnen, sich an den neuen politischen Institutionen zu beteiligen. Diejenigen, die sich mit dem Erreichten nicht zufrieden geben und die staatlichen Institutionen nicht anerkennen wollten, gingen in den Untergrund und nannten sich weiterhin IRA und Sinn Fein.12 Sie blieben eine radikale Splittergruppe, die im Süden für illegal erklärt wurde, sich selbst mehrmals spaltete und immer wieder drohte, in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Die Spaltungen gingen auf Flügelkämpfe zwischen „Rechten“ und „Linken“ zurück oder darauf, dass eine Gruppe sich für das „going political“ entschied – also doch für die Anerkennung des Staates. Die verbliebene IRA startete zwei gewaltsame Kampagnen. Zuerst eine Bombenkampagne in England 1939/40, getreu eines weiteren Mottos von Wolfe Tone: „Englands difficulty is Irelands opportunity“. Die zweite Kampagne begann 1956 und bestand aus Anschlägen an der inneririschen Grenze, woraufhin im Norden und im Süden Internierungen eingeführt wurden. Am Ende der Kampagne musste die IRA 1962 in ihrer Stellungnahme das Desinteresse der irischen Öffentlichkeit zugeben. Beide Kampagnen zeigen, dass Republikaner ihren Hauptfeind in den Briten sahen. Anschläge gegen den südirischen Staat hatten sie eingestellt. Ab 1962 gewann eine linke Orientierung die Oberhand, und statt Gewalt sollte nun politische Agitation und Klassenkampf im Vordergrund stehen. Im Jahre 1969 gab es angesichts der Unruhen in Nordirland die nächste Spaltung, aus der die heutige IRA und Sinn Fein hervorgingen. Was die republikanische Tradition angeht, so hat Sinn Fein Präsident Gerry Adams selbst ihre Bedeutung auf den Punkt gebracht: "There is a feeling that if the Rising of 1916 was, ..., right, then the resistance in 1969 was right and in 1986 is right as well" (Adams 1986: 157). Doch neben diesen ideologischen Aspekten gab es noch mehr, und zwar persönliche Netzwerke zwischen ehemals Aktiven, Erfahrungen mit Untergrundarbeit, Verbindungen in die USA und andere nützliche Ressourcen, von denen später noch eine wichtig werden sollte: die Erfahrung, dass selbst wenn die Aktionen der IRA nicht populär waren, es ihre getöteten oder inhaftierten oder internierten Märtyrer und Helden meist doch wurden.
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Nordirland vor den „Troubles“ – politische und soziale Dimensionen
Der nordirische Staat konsolidierte sich nach blutigen Unruhen mit 232 Toten zu Beginn der 1920er Jahre und trotz des katholischen Drittels seiner Bevölkerung, das ihm größtenteils ablehnend gegenüber stand. Von der „border campaign“ abgesehen, traten Republikaner innerhalb Nordirlands als politische Gruppierung zwar kaum in Erscheinung, aber aufgrund der Entstehungsgeschichte genügte das sporadische Auftauchen, um die Erinnerung an sie sowohl bei Katholiken als auch bei Protestanten lebendig zu halten. Das Zentrum der Republikaner war in Dublin. Diese sahen sich mehr als gesamtirische politische Bewegung. Den Anspruch der politischen Vertretung der katholischen Minderheit übernahm die Nationalist Party, die zwar bis in die 1960er jede Mitwirkung in staatlichen Institutionen verweigerte, aber nicht republikanisch war. Die ablehnende Haltung und die Verweigerung der Mitarbeit schürte jedoch immer wieder den Verdacht, dass die Minderheit eine potentielle 12
Zur republikanischen Bewegung: Coogan (2000), Bell (1999), Taylor (1997), Bishop/Mallie (1989).
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Gefahr für den Staat darstellt, zumal die katholische Bevölkerung eine höhere Geburtenrate als die protestantische aufwies. Tatsächlich stellt sie heute über 40% der Bevölkerung. Die Unionist Party, deren Herrschaft auf der Einheit der Protestanten beruhte, änderte das Wahlrecht zu ihren Gunsten. Formal demokratisch strukturiert wies das Stormontsystem – so benannt nach seinem Parlamentsgebäude – einige Besonderheiten auf: Im Gegensatz zum Wahlrecht für das britische Unterhaus gab es für Kommunalwahlen die Kopplung des Wahlrechts an Besitz, was tendenziell Protestanten bevorzugte, die im Durchschnitt besser gestellt waren. Ferner war die Wahlkreiseinteilung bei einfachem Mehrheitswahlrecht per Wahlkreis so angelegt, dass wiederum Protestanten bevorzugt wurden. So war allerdings nicht nur den Katholiken die Chance auf politische Mitbestimmung verringert und blieb die auf Regierungsbeteiligung verwehrt, sondern ebenso anderen kleineren Parteien. Eine Untersuchung aus den 1960er Jahren vor Beginn der „Troubles“ kam zu dem Schluss, dass aufgrund der konfessionellen Zwietracht alle "chief political institutions are such institutions of discord" (Rose 1971: 113). Die Maßnahmen, die zur Stabilisierung des Systems nötig waren und später von der Bürgerrechtsbewegung angeprangert werden sollten, waren neben dem Wahlrecht insbesondere der "Special Powers Act", der seit 1922 in Kraft war. Die Sicherheitskräfte waren zu über 90% protestantisch. Die RUC blieb für viele Katholiken die Vertreterin und Garantin einer parteiischen Staatsmacht, in deren Augen sie als potentielle Staatsfeinde galten. Noch mehr galt dies für die zu 100% protestantische paramilitärische Einheit Ulster Special Constabulary (USC), die schon Anfang der 1920er Jahre berüchtigt war. Trotzdem verlief das Leben in Nordirland – abgesehen von Unruhen in Belfast in den wirtschaftlich schwierigen 1930er Jahren – relativ ruhig, und die Nordiren waren gesetzestreue Bürger: „In many respects, Protestants and Catholics existed in mutual ignorance .... Peaceful co-existence was usually ensured not only by relative isolation but also by a host of habits and social mechanisms. When Catholics and Protestants did meet, the greatest efforts were made to prevent discussion of any controversial topic (...) Protestants and Catholics in Northern Ireland did not deny each other’s humanity and did share a common culture...” (Buckland 1981: 99). Die nordirische Gesellschaft blieb eine entlang der konfessionellen Linie gespaltene: Schulsystem, Heiratsmarkt, Wohnviertel, Freizeitgestaltung, Arbeitsmarkt, Bildungschancen, politische Parteien und Zugang zu staatlichen Institutionen – für alles blieb die konfessionelle Zugehörigkeit bestimmend. Katholiken blieben strukturell benachteiligt und wurden insbesondere auf dem Arbeitsmarkt und bei der öffentlichen Wohnungsvergabe diskriminiert. Unter den diskriminierenden Effekten der Spaltung litt vor allem die katholische Arbeiterschicht, für die daher damals und später noch galt, dass "as a factor objectively differentiating the two communities, the economic gap is substantial (...) As a source of perception differentiating the two communities, it is one of the most important in Northern Ireland" (Whyte 1990: 66). Ökonomisch ist das Gebiet um Belfast industrialisiert, während die westlichen Teile Nordirlands, wo die Bevölkerungsmehrheit katholisch ist, eher ländlich geprägt geblieben waren. War der Lebensstandard in Nordirland zwar höher als im Süden, so blieb er doch immer schlechter als in Großbritannien. Die Auswirkungen des Niedergangs der wichtigsten Industrien – wie des Schiffsbaus und der Textilindustrie – wurden allerdings durch die Einführung der britischen Sozialgesetzgebung ab 1947 gemildert. Trotzdem war Nordirland die rückständigste Region, und in den 1960er Jahren schlug ein neuer Premierminister einen vorsichtigen Reformkurs ein, der auch eine bessere Integration der Katholiken zum Ziel hatte.
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Die Sozialgesetzgebung kam der katholischen Minderheit zugute und es entwickelte sich aufgrund besserer Bildungschancen eine breitere katholische Mittelschicht. Deren Bereitschaft zur Integration wuchs, und damit auch die Bereitschaft zu politischer Partizipation. Diese gestaltete sich jedoch anders, als es sich die Regierung vorgestellt hatte: Nach dem Vorbild der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung wurden Kampagnen gestartet, die signalisierten, dass man die Benachteiligungen nicht mehr hinnehmen wollte. Was zuerst als Campaign for Social Justice begann, mündete 1967 in die Gründung der Northern Ireland Civil Rights Association (NICRA), die auch politische Reformen einklagte (One Man One Vote), ohne allerdings die Abschaffung des nordirischen Staates als solchen zu propagieren. Auch Republikaner schlossen sich der Bürgerrechtsbewegung an, da sie einen konfessionsübergreifenden Klassenkampf führen wollten. Die Hoffnung, so auch für Protestanten attraktiv zu werden, erfüllte sich allerdings nicht – stattdessen machte dies die Bürgerrechtsbewegung in deren Augen verdächtig. Demonstrationen und Aktionen des "zivilen Ungehorsams" lenkten nicht nur das Interesse der internationalen Medien auf Nordirland, sondern auch die Aufmerksamkeit der Zentralregierung in London, die bis dahin der Stormontregierung freie Hand gelassen hatte. So wuchs zum einen der Druck auf die nordirische Regierung, Reformen durchzuführen. Zum anderen begann die protestantische Einheit mehr und mehr zu bröckeln. Innerhalb der Unionist Party formierten sich die Gegner des Reformkurses. Gleichzeitig trugen auch diese ihre Politik „auf die Straße“, indem sie gegen Aktionen der Bürgerrechtler vorgingen. Dabei hatten sie Teile der Sicherheitskräfte auf ihrer Seite. Immer öfter gerieten die Bürgerrechtler mit ihren Gegnern aneinander. Das und die zögerliche Umsetzung von Reformen radikalisierte wiederum Bürgerrechtler, deren Aktionen immer provokanter wurden und von denen zumindest einige auch zunehmend nationalistisch argumentierten. Vereinzelte Bombenanschläge der 1966 neu gegründeten UFV, die zunächst der IRA zugesprochen wurden, und die ständigen Auseinandersetzungen, die allerdings in der Regel Prügeleien waren, heizten die Stimmung im Land an. Im Frühjahr 1969 war der reformwillige Premier gestürzt worden und das ganze Land politisiert, was in erster Linie die Reaktivierung traditioneller Interpretationen betraf: Der Verdacht von Protestanten, dass die Bürgerrechtler keineswegs Integration, sondern den Sturz des Staates wollten – und auf Seiten der Katholiken, dass sie im protestantischen Staat immer Bürger zweiter Klasse bleiben sollten. Außerdem stand die „Marching Season“ bevor, und die führte diesmal zum Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung: Nach mehreren Unruhen kam es anlässlich eines der Umzüge zu anhaltenden Straßenschlachten zwischen katholischen Bewohnern und Polizei in (London-)Derry,13 der zweitgrößten Stadt in Nordirland, die auch auf andere Orte übergriffen. In Belfast geriet die Lage völlig außer Kontrolle, als die dortigen Straßenschlachten zwischen Katholiken und Protestanten in den Arbeitervierteln zu pogromartigen Übergriffen gegen die Minderheit auswuchsen und ganze Straßenzüge, die an der Grenze dieser Viertel lagen, niedergebrannt wurden. Die landesweit gerade mal 3 000 Mann starke RUC wurde der Lage nicht nur nicht mehr Herr, sondern auch ihre Parteilichkeit wurde wieder deutlich. London beschloss einzugreifen und schickte die britische Armee – „now London would be the new part of the problem“ (Bell 1993: 110). Doch kurzzeitig kam es zu für nordirische Verhältnisse verwirrenden Szenen in den Straßen: Katholiken, die britische Soldaten mit Tee begrüßten; britische Soldaten, die sich mit bekannten Republikanern über den Schutz katholischer Viertel absprachen; Protestanten, die sich mit Sicherheitskräften 13
Für Protestanten „Londonderry“, für Katholiken „Derry“.
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anlegten, wobei der erste Polizist erschossen wurde. Der erste britische Soldat wird im Februar 1971 von der PIRA erschossen werden.
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Eskalation und Verfestigung
Die Unruhen von 1969 hatten Konsequenzen, die den weiteren Verlauf des Konflikts14 maßgeblich bestimmen sollten: Den bis dahin herrschenden Eliten entglitt die Kontrolle über die Ereignisse, denn die Macht lag nun buchstäblich auf der Straße. In den Arbeitervierteln etablierten sich die paramilitärischen Gruppen, die fortan das „troublemaker veto“ innehaben sollten. Die britische Armee blieb bis in die 1990er Jahre als Ordungsmacht auf den Straßen Nordirlands. Das Eingreifen Londons hatte gezeigt, wie angeschlagen das Stormontsystem, das dann 1972 fiel, war. Alte und neue politische Kräfte begannen sich neu zu (re-)organisieren – wie sich in der Gründung neuer Parteien zeigte – und zu positionieren. Dies führte zu einer Fragmentierung und Neuordnung der politischen Landschaft, die neue Führungspersönlichkeiten hervorbrachte, die bis heute die Politik des Landes mitbestimmen. Neben vielen kleineren Parteien und Zusammenschlüssen für Wahlen, die im Laufe der Zeit auftauchen sollten, sind die wichtigsten auf unionistischer Seite die DUP als Abspaltung von der Unionist Party, die sich als Ulster Unionist Party (UUP) reorganisierte und eng mit der Orange Order verbunden blieb. Die UUP blieb die bei weitem stärkste Kraft auf protestantischer Seite bis in die 1990er Jahre. Auf katholischer Seite etablierte sich (Provisional) Sinn Fein, die jedoch zunächst nicht viel mehr als ein Sprachrohr der PIRA war. Auch andere republikanische Gruppen hatten ihre Parteien, die aber im Laufe der Zeit an Einfluss verloren. Weiterhin sammelten sich 1970 reformorientierte und moderate Gruppen in der Social Democratic and Labour Party (SDLP), in der auch die alte Nationalist Party und Teile der NICRA aufgingen. Die SDLP hatte bis in die 1990er Jahre etwa zwei Drittel der katholischen Wählerstimmen hinter sich. Die einzige bedeutende überkonfessionelle Partei ist die 1970 gegründete Alliance Party, für die es ein gutes Ergebnis war, wenn sie 10% erreichen konnte. Die Gewalt auf den Straßen führte zu einer Vertiefung der konfessionellen Spaltung, die sich in einem Rückzug zu den „eigenen Leuten“ manifestierte. Je mehr gewalttätige Vorfälle es gab, umso größer wurde das gegenseitige Misstrauen und das Bedürfnis, in Sicherheit unter „seinesgleichen“ zu sein – bei der Arbeit wie in der Freizeit. Die Anzahl der gemischten Wohngebiete sank in Belfast bis 1972 von 32% auf 23% (Whyte 1990: 33/34), wovon nur ein Teil auf gezielte Vertreibung zurückging. Es vertiefte sich aber auch langfristig die Kluft zwischen Ober- und Mittelschicht auf der einen und den Bewohnern der Arbeiterviertel auf der anderen Seite. Dass Parteien wie DUP und Sinn Fein Zulauf erhielten, lag nicht nur an ihrer radikaleren politischen Haltung, sondern auch daran, dass sie sich gezielt als Parteien des „kleinen Mannes“ und der Benachteiligten der Gesellschaft gaben. Dasselbe gilt für die paramilitärischen Gruppen. Vor allem aber waren die Arbeiterviertel als Hochburgen der Paramilitärs – später zusammen mit den Gebieten entlang der inneririschen Grenze, die auch IRA-Hochburgen waren – diejenigen Gebiete, die am meisten unter dem Konflikt zu leiden hatten. Zwar blieb niemand vom Konflikt verschont, doch 14
Zu den „Troubles“: McGarry/O’Leary (1999), O’Malley (1997), Dunn (1995), Bell (1993), Whyte (1990), Jeffery (1985), Darby (1983a).
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variierte das Ausmaß der Betroffenheit erheblich je nachdem, wo man in Nordirland wohnte: Im besser gestellten Osten Belfasts wurden zum Beispiel 128 Menschen Opfer der „Troubles“; in West Belfast dagegen 623.15 Die überproportionale Belastung gilt für alle Auswirkungen der Gewalt: politische Morde und Anschläge der Paramilitärs, Sicherheitsmaßnahmen wie Verhaftungen und Hausdurchsuchungen, Zusammenstöße mit Sicherheitskräften, sektiererische Unruhen usw. Die loyalistischen Hochburgen wurden insgesamt weniger in Mitleidenschaft gezogen als die der Republikaner, was zunächst einfach daran lag, dass erstere den Sicherheitskräften nicht den Krieg erklärten. Für die meisten Loyalisten und noch mehr für ihre Basis standen die Sicherheitskräfte auf ihrer Seite oder sollten es zumindest, weil der gemeinsame Feind die Republikaner waren. Von Staats wegen – so der Vorwurf von katholischer Seite – schien eine ähnliche Einschätzung bestanden zu haben. So wurde die UDA, die 1972 als Dachorganisation diverser protestantischer Gruppen gegründet worden war, trotz ihrer bekannten Verbindung zur UFF erst 1992 für illegal erklärt. UFF und UVF sollen für die meisten sektiererischen Morde verantwortlich sein. Mit dem Fall Stormonts stieg deren Zahl; sie wurden offiziell zunächst als „motiveless murders“ gehandhabt. Dem Selbstverständnis nach beschützen UFF und UVF ihre Viertel vor der IRA, begegnen dem IRATerror mit Gegenterror und erledigen so gewissermaßen die „Drecksarbeit“. Als „Verteidiger Ulsters“ sahen sie sich als diejenigen, die, falls „die Politiker“ und „die da oben“ – eine Abneigung, die sie mit den republikanischen Paramilitärs gemeinsam hatten – die Interessen der Protestanten verrieten, notfalls mit allen Mitteln für ihre Durchsetzung sorgen würden. Die Verbindungen der Loyalisten zum protestantischen Establishment oder zu einzelnen Personen innerhalb desselben blieben immer diffus und undurchsichtig. Vorwürfe der „collusion“ – also der Zusammenarbeit zwischen Loyalisten und Sicherheitskräften – sind bis heute nicht geklärt. In den katholischen Vierteln Belfasts und Derrys wurden „no-go-areas“ errichtet, die erst 1972 von der britischen Armee aufgelöst wurden. Es hatten sich „Citizen Defense Committees“ gebildet und ein „emergency social system“ (Burton 1978: 29) entwickelt, weil nicht nur die öffentliche Ordnung, sondern auch die Versorgung teilweise zusammengebrochen war. An all dem waren zwar Republikaner beteiligt, aber als Organisation war die IRA – „I RUN AWAY“16- zunächst diskreditiert, weil sie die katholische Bevölkerung nicht beschützt hatte. Das und die schon länger bestehenden Spannungen innerhalb der republikanischen Bewegung führten zu der Spaltung in Provos (PIRA) und Officials (OIRA), wie die Gruppe um die offizielle Führung genannt wurde. Letztere wollte zwar an ihrem Kurs festhalten, beteiligte sich aber auch an der immer weiter eskalierenden Gewalt. 1972 erklärte sie allerdings den Waffenstillstand gegenüber den Briten. Für die Provos war die Verteidigung der katholischen Gebiete nur der erste Schritt, um eine „Offensive“ zu starten. Ihr Nahziel war, die Provinz soweit zu destabilisieren, dass Stormont fiel, um es dann mit den Briten aufzunehmen. Die Provos bestanden aus Traditionalisten aus dem Süden und Norden, die nun Zulauf von jungen Nordiren aus den entsprechenden Vierteln erhielten. Ihnen kam die international medial verbreitete Einschätzung zugute, dass die Katholiken unterstützt werden müssten. Alte Verbindungen in die Republik und die USA waren daher leicht zu reaktivieren, und zu den „Hilfsgütern“ gehörten dann auch Waffen. Den Provos kam
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„Sutton Index of Death“. Berühmtes Graffiti, das zu dieser Zeit an den Hauswänden auftauchte.
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zugute, dass sie als die „wahren“ Erben der republikanischen Tradition angesehen wurden und die bestehenden republikanischen Strukturen übernehmen konnten. Die Provos waren erfolgreich. Ihr Aufstieg ging einher mit einem rasanten Sympathieverlust für die britische Armee in den katholischen Vierteln. Jede Maßnahme der Armee bedeutete Zulauf für die PIRA, und jeder Anschlag der PIRA eine Maßnahme der Armee. Die Einführung von Internierungen im Sommer 1971, von denen fast nur Katholiken betroffen waren, gilt als der Wendepunkt, an dem das Pendel zugunsten der PIRA ausgeschlagen ist. Die endgültige Diskreditierung der Armee in weiten Teilen der katholischen Bevölkerung war der „Bloody Sunday“ im Januar 1972, als 13 Menschen bei einer Bürgerrechtsdemonstration erschossen wurden. Nachdem 1969 und 1970 insgesamt 42 Menschen umgekommen waren, werden bis 1977 beinahe die Hälfte aller Opfer des Konflikts tot sein. Die britische Regierung hatte sich in der Rolle des neutralen Friedensstifters gesehen, der mit Hilfe der Armee „Law and Order“ wiederherstellt und die notwendigen Reformen durchsetzt. Reformen wurden tatsächlich durchgeführt beim Wahlrecht, in der Verwaltung, bei der Polizei – die Abschaffung der USC und Gründung der UDR –, Berichte erstellt über die Ursachen der „Troubles“, doch alle Maßnahmen wurden durch den Gang der Ereignisse wirkungslos. Der alte „Special Powers Act“ wurde durch eine neue Anti-Terrorgesetzgebung ersetzt. Im März 1972 übernahm London die Direktherrschaft. Der Versuch, im Sommer 1972 die PIRA, nachdem diese wie die OIRA einen Waffenstillstand ausgerufen hatte, an den Verhandlungstisch zu holen, scheiterte. Bei einem geheimen Treffen erwirkte die PIRA einen „Special Category Status“ für diejenigen, die wegen politisch motivierter Straftaten verurteilt werden. Der Waffenstillstand hielt jedoch nur wenige Wochen, und die PIRA weitete verstärkt ihre Bombenkampgane nach England aus. London versuchte, die unterstellte „breite politische Mitte“ Nordirlands für ein „power sharing“ Modell zu gewinnen und die Paramilitärs zu isolieren. 1973 erfolgten die Wahlen zu der neuen „assembly“, aus der eine neue Lokalregierung hervorgehen sollte. Ein von verschiedenen protestantischen Gruppen initiierter landesweiter Generalstreik, der gleichzeitig eine Machtdemonstration der Loyalisten war, bewirkte, dass das Modell unmittelbar nach seinem Inkrafttreten 1974 scheiterte (Fisk 1975). Auch die nächsten Versuche, wieder eine Lokalregierung ins Leben zu rufen, waren erfolglos: 1976 brach eine 1975 gewählte „Constitutional Convention“ ihre Arbeit wieder ab, 1980 führte ein ähnlicher Versuch wieder zu keinem Erfolg, eine weitere 1982 gewählte „assembly“ musste 1986 wieder aufgelöst werden.
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Der „lange Kampf“
Mitte der 1970er waren zwar die chaotischen Zustände vorbei und der Höhepunkt der Gewalt war überschritten – ab 1977 herrschte der „acceptable level of violence“17, der um die 100 Opfer oder weniger pro Jahr bedeutete –, doch gab es für niemanden Grund zum Aufatmen. Es war deutlich geworden, dass der gewaltsame Konflikt keine vorübergehende Phase ist, sondern ein Dauerzustand. Die britische Regierung musste sich darauf einrichten, dass sie gegen den Willen der protestantischen Mehrheit nichts ausrichten konnte und eine Rückkehr zum alten System ebenso unmöglich war wie ein schneller Sieg über die PIRA. Die Direktherrschaft war daher keine Übergangslösung mehr, sondern eine längerfristige 17
Die Bezeichnung selbst ist eine Phrase, die von Reginald Maudling, britischer „Home Secretary“ für Nordirland von Juni 1970 bis März 1972, geprägt wurde.
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Aufgabe. Die Sicherheitskräfte mussten immer wieder aufgestockt werden, und die verschärften Sicherheitsmaßnahmen begannen zu greifen. Auch bei der PIRA war der Siegesgewissheit der frühen 1970er Jahren Ernüchterung gewichen. Die Gefängnisse und Internierungslager füllten sich mit Verdächtigen, und die Anklagen über Menschenrechtsverletzungen der Sicherheitskräfte gegenüber Inhaftierten und bei ihren Patrouillen und Einsätzen in den Straßen der „nationalist communities“ waren Alltag geworden. In den „troubled areas“ hatte sich einerseits das Leben ein Stück weit normalisiert, aber andererseits war ein gewisses Maß an politischer Gewalt und der Umgang mit ihren Auswirkungen selber Normalität geworden: Die „peace line(s)“; dass man nicht in protestantische bzw. katholische Viertel geht; „after school riots“ zwischen Armee und Teenagern; „riots“ zwischen katholischen und protestantischen Teenagern; sich vor Leuten, die nicht zum Viertel gehören in Acht nehmen, denn sie könnten Spitzel sein oder zu einer loyalistischen Todesschwadron gehören bzw. einen Bombenanschlag planen; Angehörige im Gefängnis – das und vieles andere war normal geworden. Im ganzen Land gehörten die Auswirkungen des Konflikts zum normalen Leben. Da sich die Provos nicht auf Angriffe gegen die Armee beschränkt, sondern eine Bombenkampagne gestartet hatten, die sich auch gegen ökonomische Ziele richtete, wusste zum Beispiel nun jeder, was bei einer Bombendrohung zu tun ist. Die Hauptleidtragenden waren jedoch die Bewohner der republikanischen Hochburgen. Die Strategie der Briten war „Normalisierung“ und „Ulsterisierung“. Letzteres bedeutete, sich überall, wo es möglich war zurückzuziehen, und vor allem, die Rolle der Armee zu verringern und die der lokalen Sicherheitskräfte zu stärken. Dies führte zu einer Militarisierung der Polizei im Hinblick auf Ausstattung und Aufgaben. Im Zuge der „Normalisierung“ handelte die Londoner Regierung mit der PIRA im Februar 1975 einen neuen Waffenstillstand aus, dessen Auswirkungen und Scheitern im Januar 1976 einer der Gründe ist, wieso es bis zum nächsten fast zwanzig Jahre dauern sollte. Innerhalb der republikanischen Bewegung kam es zu blutigen Fehden zwischen OIRA, die es immer noch als Konkurrenz gab, und PIRA, weiter zwischen OIRA und einer Abspaltung von ihr, der Irish National Liberation Army (INLA), die den Kampf mit den Briten wieder aufnahm. Auch die sektiererische Gewalt zwischen Republikanern und Loyalisten nahm zu. Teile der PIRA wurden unabhängig von der Führung aktiv und hielten sich nicht an Vereinbarungen, andere Teile der republikanischen Bewegung waren schon länger mit der Führung unzufrieden, weil sie durch ihre Strategie die Unterstützung der Bevölkerung bedrohte, die immer unzufriedener damit war, die „Kosten“ der PIRA Kampagne ohne Aussicht auf Erfolg aufgebürdet zu bekommen. Die allgemeine Kriegsmüdigkeit war ein Grund für den Waffenstillstand gewesen. Das neue Chaos des Waffenstillstandes drohte nun, die Unterstützung noch weiter zu gefährden. Die Taktik der Sicherheitskräfte, den Waffenstillstand zu nutzen, um statt der offenkundigen Sicherheitsmaßnahmen ihre „Intelligence“ zu verbessern, wurde der PIRA fast zum Verhängnis, die im Großen und Ganzen immer noch traditionell wie eine Armee strukturiert und daher leicht zu durchschauen und zu infiltrieren war. Schließlich führte dies alles dazu, dass die traditionelle Führung durch eine jüngere, nordirische Führungsriege ersetzt wurde. Die PIRA wurde kleiner, disziplinierter und in Zellen umstrukturiert. Die Zeiten der Massenbeteiligungen und „fließenden Übergänge“ zwischen Bevölkerung und IRA als einer Organisation, wo fast jeder mitmachen durfte und nicht wenige wussten, wer diejenigen waren, waren vorbei. Stattdessen war das Ziel nun eine strikte Geheimorganisation, die es mit der Professionalität ihrer Gegenspieler – den britischen Sicherheitskräften – aufnehmen konnte.
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Die Professionalisierung der PIRA war nur eine Seite der neuen Ausrichtung. Die andere war, die Verankerung in der Bevölkerung durch Dienstleistungen zu stärken: die „social workers with Armalites“ (gebräuchliches Gewehr der PIRA). Bis dahin hatte die PIRA die Verantwortung für „law and order“ – in ihrem Sinne – innerhalb der „nationalist communities“ übernommen, und es hatte sich ein System der „parallelen Justiz“ entwickelt. Mit Hilfe von Sinn Fein wollte man nun durch Beratungs- und Hilfsangebote – wofür die während des Waffenstillstandes in Absprache mit London eingerichteten „incident centres“ genutzt wurden – weitere Teile der Bevölkerung als bisher an die republikanische Bewegung anbinden, ohne dass diese damit direkt den „bewaffneten Kampf“ unterstützen mussten, den ja keineswegs alle befürworteten. Derlei soziales Engagement fiel in den Vierteln, in denen viele Bewohner – nicht zuletzt wegen der politischen Gewalt (Arthur 1990: 54f.) – in einer desolaten sozialen und ökonomischen Situation lebten, auf fruchtbaren Boden. Diese Bemühungen gingen einher mit einer Ausweitung des ökonomischen Engagements der PIRA. Man hatte sich schon durch den Aufbau einer „black economy“, die neben illegaler Aktivität wie Überfälle, Kontrolle und Übernahme der kriminellen Aktivitäten im Viertel, „Revolutionssteuern“ oder Schutzgelderpressung auch Clubs, Werkstätten, Taxiservices und kleinere Unternehmen umfasste, von ausländischer Unterstützung unabhängiger gemacht. Dies wurde nun weiter ausgebaut, und in Gebieten, wo die Arbeitslosenquoten zeitweise über 50% lagen, wurde die republikanische Bewegung Arbeitgeber (Rolston/ Tomlinson 1988). Die Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung zeigte sich 1976 in dem großen Zulauf, den eine neue Friedensgruppe, die Peace People, erhielten. Nachdem sie zunächst durch friedliche Massendemonstrationen auf sich aufmerksam machten und zwei der Gründerinnen den Friedensnobelpreis erhielten, begannen sie damit, in den „troubled communities“ zu arbeiten, „cross-community“ Initiativen ins Leben zu rufen, Hilfsangebote für Familien und Jugendliche einzurichten und ähnliches. Die Peace People waren zwar die international bekannteste, aber nicht die einzige Friedensinitiative. Ähnliche Arbeit leisteten, teils schon seit den 1960er Jahren auch andere Gruppen, die meist einen kirchlichen Hintergrund hatten. Im Laufe des Konflikts kamen noch viele mit unterschiedlichen ideologischen Hintergründen und verschiedenen Schwerpunkten hinzu, seien es Jugendarbeit, Frauengruppen, Hinterbliebengruppen, Traumabewältigung oder Unterstützung von Gefangenenfamilien. Auch die den paramilitärischen Gruppen nahe stehenden Parteien und andere ihnen mehr oder weniger verbundene Organisationen klinkten sich in diese Form des „community work“ ein. Besonders in den „nationalist communities“ setzte sich der Trend der Selbsthilfe, der seinen Ausgang am Anfang der „Troubles“ hatte, weiter durch. Gruppen wie die Peace People jedoch, die sich explizit gegen die Gewalt der IRA aussprachen, hatten es schwer in diesen Gebieten und waren umstritten. Waren andere republikanische Gruppen die direkte Konkurrenz, so waren solche Friedensgruppen ebenso wie weite Kreise der Kirche und natürlich die SDLP die Konkurrenz im Kampf um die „hearts und minds“. Ab Mitte der 1970er Jahre wurde für die republikanische Bewegung ein neues Problem immer akuter, nämlich die Lage in den Gefängnissen. „Normalisierung“ bedeutete ein Ende der Internierung 1975 und die Abschaffung des „Special Category Status“ für ab März 1976 begangene Verbrechen. Den Status gewöhnlicher Krimineller zu haben, hätte zweierlei Probleme mit sich gebracht, ein praktisches und ein ideologisches. Praktisch, weil die politischen Gefangenen sich bis dahin in den Gefängnissen – getrennt nach den jeweiligen Gruppen – weitgehend selbst organisiert hatten. Sie hatten Führungsoffiziere, die für die Kommunikation mit der Gefängnisverwaltung zuständig waren, und strukturierten an-
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sonsten ihren Alltag selbst. Die Gefängnisse waren die „think tanks“ der Bewegung, Kaderschmiede für die neue Führungsriege und Ausbildungsstätte für den Nachwuchs gewesen. Während dieser Aspekt in der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet blieb, galt dies umso weniger für den ideologischen: Für Republikaner waren ihre Gefangenen „Prisoners of War“ (POWs), und sie sahen in der Abschaffung des Statuts eine Taktik der Kriminalisierung, welche die Legitimität ihrer Kampagne unterminieren sollte. Die britische Regierung stand vor dem Problem zu erklären, wieso es spezielle Methoden der Strafverfolgung, spezielle Gesetze und spezielle Gerichte für politisch motivierte Straftaten gab, aber die Gefangenen dann gewöhnliche Kriminelle sein sollten. Mit dem ersten Inhaftierten, der unter die neue Regelung fiel, begann der Protest in den Gefängnissen.18 Er wurde als „blanket-protest“ bekannt, weil sich die Gefangenen weigerten, Gefängniskleidung zu tragen und sich stattdessen nackt in Decken hüllten. Der „blanket-protest“ verschärfte sich Anfang 1978 zum „dirty-protest“ oder „no-wash“, bei dem sich etwa 300 Gefangene zusätzlich weigerten, sich zu waschen, Toiletten zu benutzen und die Einrichtungen ihrer Zellen zerstört hatten. Außerhalb der Gefängnisse bildeten sich „Relative Action Committees“ und andere Initiativen, die sich später unter dem „National H-Block (Männergefängnis)/Armagh (Frauengefängnis) Committee“ vereinten. Unterstützt von Sinn Fein, setzten sie sich für die Forderungen19 der Gefangenen ein und übernahmen die Öffentlichkeitsarbeit. Die katastrophalen Zustände in den Gefängnissen zogen immer mehr Aufmerksamkeit auf sich. Ihren Höhepunkt erreichten die Proteste mit zwei Hungerstreiks, wobei bei dem zweiten 1981 zehn junge Männer ihr Leben ließen. Die Hungerstreikenden erlangten eine enorme Popularität, was sich mit der Wahl des ersten sich im Hungerstreik befindenden Gefangenen ins britische Unterhaus im April 1981 zeigte. Zwei weitere Hungerstreike wurden ins südirische Parlament gewählt. Die Hungerstreiks waren weltweit monatelang Thema, stürzten die britische und die irische Regierung in Krisen und waren ein großer Propagandaerfolg für die republikanische Bewegung innerhalb und außerhalb Nordirlands. In Nordirland kam es wieder zu Unruhen und einer massenhaften Beteiligung daran, wie man es seit Anfang der 1970er nicht mehr gesehen hatte. Die Streiks endeten, weil Angehörige angefangen hatten, gegen den Willen der Streikenden einzugreifen, sobald diese ins Koma gefallen waren. So gesehen kam es vielen Republikanern zunächst wie eine Niederlage vor, weil man keine Konzessionen von der britischen Regierung erwirkt hatte. Doch die Kampagnen um die Gefängnisproteste beschleunigten den Aufstieg Sinn Feins als politische Kraft. Die Wahlerfolge der Hungerstreikenden bewogen Sinn Fein dazu, 1982 erstmals an Wahlen in Nordirland teilzunehmen und ihre Politik der Totalverweigerung aufzugeben, indem man von nun an auf lokaler Ebene seine gewonnenen Sitze einnahm. Die Wahlergebnisse unterstrichen den Anspruch, einen Rückhalt in der Bevölkerung zu haben, denn Sinn Fein konnte etwa ein Drittel der katholischen Stimmen für sich gewinnen. Sinn Fein entwickelte – obwohl jeder wusste, dass es sich um den politischen Arm der IRA handelte – immer mehr ein eigenständiges politisches Profil als Partei der unterprivilegierten katholischen Schicht.
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Zu den Gefängnisprotesten: Campbell et al. (1994), O’Malley (1990), Beresford (1987), Coogan (1980). Die Kampagne propagierte fünf Forderungen: Eigene Kleidung, keine Gefängnisarbeit, freie Zusammenkunft, mehr Besuche und Briefe und dass Möglichkeiten des Straferlasses, die wegen der Beteiligung an den Protesten gestrichen worden waren, wieder zugelassen wurden.
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Vom Patt zum Friedensprozess
Mit der „ballot and bullet“ Strategie taten sich die loyalistischen Gruppen schwerer. Vereinzelte Versuche, ein eigenständiges politisches Profil zu entwickeln und bei Wahlen anzutreten, waren eher erfolglos. Sie waren auch erfolgloser als die Republikaner im Hinblick auf ihre Attraktivität für eine neue Generation von Menschen, die zwar aus den traditionellen Unterstützungsmilieus stammten, aber selber einen sozialen Aufstieg in die Mittelschicht geschafft hatten. Für Protestanten, die grundsätzlich gegen ein vereinigtes Irland waren, gab es genügend Alternativen zur direkten Beteiligung an oder zur Unterstützung paramilitärischer Aktivitäten, denn die loyalistischen Gruppen standen in Konkurrenz zu den Sicherheitskräften und den etablierten Parteien (Bruce 1992: 271). Hinzu kam, dass die loyalistischen Gruppen zersplittert blieben und sogar innerhalb der UDA ideologische Ausrichtungen anzutreffen waren, die von faschistisch bis hin zum anderen Ende des politischen Spektrums reichten – während es der PIRA gelang eine Art Monopolstellung des irischen Republikanismus zu erringen.20 Den eher diffusen Ideologien, deren einziger gemeinsamer Nenner die Ablehnung eines Vereinigten Irlands war, entsprach der reaktive Charakter loyalistischer Gewalt. Ihr „pro-state terror“ erforderte weniger Professionalität, hatte es jedoch umso schwerer, sich zu legitimieren, je erfolgreicher die Sicherheitskräfte gegen republikanische Gewalt waren. Mangelnde Professionalität und Kohäsion machten die Loyalisten einerseits verwundbarer gegen Sicherheitsmasßnahmen des Staates, so dass sich schließlich die Gefängnisse auch mit Loyalisten füllten. Andererseits waren für ihre Aktivitäten wesentlich weniger Aufwand und ausgebildetes „Personal“ nötig, als für die Kampagnen der PIRA. Die erfolgreichen Machtdemonstrationen zu Beginn der 1970er konnten die Loyalisten nicht wiederholen, denn diese waren abhängig von einer breiteren Unterstützung des protestantischen Establishments und der Wahrnehmung gewesen, dass das Land ins Chaos treibt. Geblieben war eine lokale Verankerung, die ähnlich wie die der PIRA auch auf einer eigenen „black economy“ beruhte. Ein „acceptable face“ ihrer Kampagnen aufzubauen und so für weitere Bevökerungskreise attraktiv zu werden – wie es die PIRA zum Beispiel während der Hungerstreiks und durch ihre Arbeit über Sinn Fein und andere Organisationen in der „community“ geschafft hatte –, gelang ihnen nicht. Doch mit dem „Anglo-Irish-Agreement“ (AIA) von 1985 änderte sich die Lage wieder. In dem Abkommen zwischen britischer und irischer Regierung wurde festgelegt: Sobald es eine Mehrheit für ein Vereinigtes Irland in Nordirland gibt, gibt Großbritannien seine Ansprüche auf. Des Weiteren wurde ein Konsultationsrecht der irischen Regierung in nordirischen Angelegenheiten institutionalisiert und festgelegt, dass eine Lokalregierung auf der Basis des „power-sharing“ der „beiden Traditionen“ gebildet werden musste. Obwohl darüber hinaus nicht zuletzt die Bestimmungen für eine gemeinsame Sicherheitspolitik Inhalt des Abkommens waren, waren viele Protestanten alarmiert. Eine Protestwelle schwappte über Nordirland, bei der es wieder zu Massenbeteiligungen kam und Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Protestanten immer öfter auch gewalttätig ausgetragen wurden. Die DUP erhielt als erklärte Gegnerin des Abkommens Zulauf. Loyalistische Gruppen verstärkten wieder ihre Anschläge, und die Zahl sektiererischer Morde an Katholiken nahm zu. 20
Aus der OIRA wurde schließlich die „Workers Party“. Die INLA war zu klein, um dem Druck der PIRA und dem der staatlichen Sicherheitskräfte standzuhalten.
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Republikaner lehnten das Abkommen ebenfalls ab, weil es keinen sofortigen Rückzug der britischen Truppen und keine Vereinigung Irlands in absehbarer Zeit vorsah. Außerdem waren sie diejenigen, die von der verstärkten Zusammenarbeit der Sicherheitskräfte beider Staaten betroffen waren, denn die Republik war – obwohl die IRA auch dort illegal war – ihr Rückzugsgebiet gewesen. Trotzdem konnte die IRA ihre Kampagne und den eingeschlagenen Kurs fortsetzen. Sie war ebenso fest verankert in ihren Hochburgen wie die loyalistischen Gruppen in den ihrigen. Großbritannien konnte die Provinz kontrollieren – jedoch zu einem hohen Preis: Zum einen war der Aufwand für die Sicherheitsmaßnahmen erheblich, zum anderen kosteten nicht nur diese Maßnahmen sehr viel, sondern die ökonomisch schwache Region war ohne britische Finanzhilfe nicht lebensfähig. Gerade die ökonomische Lage in den Hochburgen der Paramilitärs war miserabel geblieben, während gleichzeitig die mit der Gewalt verbundene Instabilität „the most important single factor preventing economic recovery“ (Rowthorn 1987: 132) war. Spätestens gegen Ende der 1980er Jahre war abzusehen, dass das Patt zwischen allen Konfliktparteien und die daraus resultierenden Konsequenzen für Wirtschaft und Gesellschaft nur aufrecht erhalten, aber der Konflikt von niemandem gewonnen werden konnte. Zur selben Zeit wurden regionale und globale Veränderungen spürbar. Neben der Verbesserung des Verhältnisses der beiden EU-Staaten Großbritannien und Irland waren dies zum einen Veränderungen in Irland, das sich langsam vom Armenhaus Europas zum „keltischen Tiger“ mit allen damit verbundenen gesellschaftlichen Veränderungen wandelte, die dazu führten, dass die Lage in Nordirland von immer mehr Menschen eher als Ärgernis angesehen wurde, als Betroffenheit auszulösen. Zum anderen endeten mit dem Kalten Krieg auch seine Deutungsmuster oder verloren zumindest an Plausibilität. Der Konflikt wurde immer weniger in den Kategorien des „anti-imperialistischen Kampfes“ oder der Verhinderung eines „irischen Kuba“ interpretiert oder als rein innere Angelegenheit Großbritanniens gesehen. Beim Aufbruch in die Weltordnung erschien er eher als peinlicher europäischer Anachronismus, der nun endlich aus der Welt geschaffen werden sollte. In den 1990er Jahren erfolgte eine Internationalisierung der Friedensbemühungen. Die USA spielte die Rolle des Vermittlers, und auch die EU engagierte sich massiv mit friedensfördernden Maßnahmen (Hausweddel 2004). Während sich in Nordirland noch alles in den festgefügten Bahnen bewegte – ein immer weiter perfektioniertes staatliches Sicherheits- und Überwachungssystem, Menschenrechtsskandale wie etwa die „shoot-to-kill-policy“, eine auch technisch immer professioneller werdende IRA, hin und wieder ein Mord oder Anschlag, ritualisierte Auseinandersetzung mit Sicherheitskräften oder zwischen Katholiken und Protestanten, das von Abschottung, massiver Militärpräsenz und wirtschaftlicher Misere und Konfliktkultur geprägte Leben in den Hochburgen – ,wurde teils öffentlich in Form von „All-Parteiengesprächen“, bei denen die Radikalen ausgeklammert blieben und teils hinter den Kulissen, wo sie mit einbezogen wurden, der Weg für den Friedensprozess bereitet.21 In der „Downing Street Declaration“ von 1993 bekräftigte die britische Regierung, keine „selfish strategy“ zu verfolgen, und die irische versprach Änderungen ihrer Verfassung im Falle einer friedlichen Einigung der nordirischen Konfliktparteien. Als die IRA Ende August 1994 die „Einstellung ihrer militärischen Operationen“ bekannt gab, war die Skepsis groß. Doch die loyalistischen Gruppen schlossen sich kurze Zeit später dem Waffenstillstand an. Obwohl der 21
Insbesondere Gespräche zwischen dem Sinn Fein Vorsitzenden Gerry Adams und dem SDLP-Vorsitzenden John Hume. Die so genannten „Hume-Adams Talks“.
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Waffenstillstand nicht immer eingehalten oder sogar von der IRA offiziell außer Kraft gesetzt wurde, um spektakuläre Anschläge zu verüben, gingen Gespräche weiter und mündeten 1998 in dem „Good Friday Agreement“, das bis heute die Grundlage des andauernden Friedensprozesses bildet. Es wurde von allen nordirischen Parteien außer der DUP getragen. 6
Friedensprozess
Das „Good Friday Agreement“ legte fest, dass Irland auf seine territorialen Ansprüche verzichtet und eine Wiedervereinigung Irlands möglich wird, sobald es durch Wahlen jeweils im Norden und Süden eine Mehrheit dafür gibt. Ferner, dass bis dahin Nordirland Teil Großbritanniens bleibt und eine neue Regionalregierung entstehen soll, die auf dem Prinzip des „Power-Sharing“ beruht. Außerdem enthält es Regelungen zur Wahrung von Menschenrechten, einer Normalisierung der Sicherheitsapparate, einer Polizeireform und der Entwaffnung aller paramilitärischen Gruppen. Diese Aufgaben wurden teilweise unabhängigen, auch internationalen Kommissionen übertragen. Zunächst wurde in einer Volksabstimmung das Agreement von 71% der Wähler angenommen – fast alle „Nationalisten“ stimmten dafür, während es bei den „Unionisten“ fast so viele Gegner wie Unterstützer hatte. Das Agreement erfüllte Protestanten, deren Bevölkerungsmehrheit in Nordirland immer kleiner geworden war und die in absehbarer Zeit in der Minderheit sein werden, mit Sorge. Eine Minderheit radikalisierte sich, während die „Mainstream“-Unionisten zu Kompromissen bereit waren, aber darauf achten müssen, ihre Anhänger nicht durch zu viele Zugeständnisse an Radikalere zu verlieren. Sinn Fein hatte ebenfalls das Problem, ihre Anhänger von dem Abkommen zu überzeugen. Das Misstrauen gegen Großbritannien und gegenüber Unionisten war groß und so zogen sich die Auseinandersetzungen um die Entwaffnung der IRA bis 2005 hin. Doch im Hinblick auf die Wahlergebnisse war der Friedensprozess für Sinn Fein ein Erfolg, denn sie überholten ab 2001 die SDLP als stärkste katholische Partei. Auf protestantischer Seite löste die DUP die UUP 2003 als stärkste Kraft ab. Die Lokalregierungen, die aus den Wahlen der Jahre nach 1998 hervorgegangen waren, blieben nie lange im Amt; Großbritannien musste immer wieder die Regierung übernehmen. Trotzdem wurden Verhandlungen und der einmal eingeschlagene Kurs weiter geführt. Sinn Fein und DUP einigten sich im März 2007 auf eine gemeinsame Regierung. Dem war die Anerkennung der reformierten nordirischen Polizei und die Aufforderung an die „nationalist community“, diese zu akzeptieren, durch Sinn Fein vorausgegangen. Beides sind Schritte, die man als „historisch“ bezeichnen kann. Damit geht der Friedensprozess, um den hart in den letzten Jahren gerungen wurde und der mehrmals am Rande des Scheiterns stand, zunächst weiter voran. Literatur Adams, G., 1986: The Politics of Irish Freedom. Dingle: Brandon Books. Arthur, P., 1997: „Reading“ Violence: Ireland. S. 234-292 in: D.E. Apter (Hrsg.), The Legitimization of Violence. London: Macmillan. Arthur, P., 1990: Republican Violence in Northern Ireland: The Rationale. S. 48-63 in: J. Darby/N. Dodge/A.C. Hepburn (Hrsg.), Political Violence: Ireland in a Comparative Perspective. Belfast: Appletree.
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7050_book.fm Page ii Wednesday, July 12, 2006 3:27 PM
Terror und Erinnerungskultur. Überlegungen zum Nordirlandkonflikt aus hermeneutischwissenssoziologischer Perspektive1
Jo Reichertz All unser irisches Gequatsche hindert die Geschichte daran zu sterben, wie sie es sollte. Thomas Adcock 1996: 212 And if excess of love Bewildered them till they died? I write it out in a verse – MacDonagh and MacBride, And Connolly and Pearse Now and in time to be, Wherever green is worn, Are changed, changed utterly: A terrible beauty is born. W. Butler Yeats, 25. Sept. 1916
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Was ist die Frage?
„Es kommt nicht darauf an, welche Farbe eine Katze hat, sondern darauf, dass sie Mäuse fängt!“ Diese Maxime des chinesischen Politikers Deng Xiaoping, der maßgeblich die pragmatische Wende in seinem Lande mitgestaltete, stand wohl auch Pate bei der lobenswerten Idee einiger Verantwortlicher der Sektion Soziologische Theorien, als sie bundesweit zu einem Leistungswettbewerb der aktuellen soziologischen Forschungsansätze nach Marburg einluden. Es sollte, so die Initiatoren, ein problembezogener Vergleich sozialtheoretischer Ansätze unternommen werden. Eine gute Idee. Die Fragen, denen sich alle Eingeladenen am Beispiel ‚Nordirlandkonflikt’ stellen sollten, formulierten die Veranstalter der Tagung in etwa so: „Wie lässt sich die Entstehung, Fortführung und Eskalation terroristischer Aktivitäten, die von kleinen Gruppen 1
Dieser Artikel geht zurück auf einen Vortrag, den ich zusammen mit Christian Lüders, der ein ausgezeichneter Kenner der irischen Geschichte ist, halten wollte. Im Vorfeld des Vortrages haben mal wieder die Telefongesellschaften reichlich mitverdient: Argumente wurden ausgetauscht und geprüft. Texte wurden via EMail hin und her geschickt und verbessert. Auf diese Weise entstand ein Text, der deshalb schlussendlich von mir formuliert wurde, weil Christian Lüders wegen anderer Verpflichtungen auf den Vortrag verzichten musste. Viele Gedanken und Argumente dieses Artikels sind von Christian Lüders mitgestaltet worden, an einigen Stellen stammen auch die Worte von ihm. Dennoch hat er darauf verzichtet, als Mitautor zu zeichnen. Ich kann ihm hier nur danken: für seine Bereitschaft, sein Wissen mit mir zu teilen, seine engagierte Art zu diskutieren und seine Freundschaft. Nach der Fertigstellung des Vortrags erschien das Buch ‚Terrorismus und Extremismus’, herausgegeben von Uwe Kemmesis (2006). In den Beiträgen von Böllinger, Eckert und Waldmann finden sich eine Reihe von Argumenten, die gut zu den hier vorgetragenen passen. Danken möchte ich Naziker Bayram und Andrea Degutsch, die beide meinen Text sorgfältig durchsahen und mich auf Fehler und Unverständliches aufmerksam machten.
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getragen und ausgeführt werden, welche wiederum in ein größeres Unterstützungsumfeld in der Bevölkerung eingebettet sind, erklären? Konkret: Wie konnte es Ende der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts zum Wiederaufblühen der IRA kommen und wie konnte sie sich relativ lange halten und so erfolgreich sein?“ Oder in der Sprache des Falles (und das ist schon ein Teil der Umsetzung des problembezogenen Vergleichs von Sozialtheorien aus wissenssoziologischer Sicht): Kann man erklären, „weshalb ein Teil der katholischen Bevölkerung annahm, ihrem Leid am besten durch Gewalt abhelfen zu können“ (Collins 1997: 8)? Beigegeben war dem Einladungsschreiben der Sektion Soziologische Theorien ein Materialreader, der über die wesentlichen Begebenheiten des Nordirlandkonfliktes aus unterschiedlichen Perspektiven unterrichtete. Nun lassen sich die oben genannten Fragen nicht aufgrund der Analyse eines knappen, notwendigerweise selektiven Literaturreaders über die Geschichte des Nordirlandkonflikts ernsthaft beantworten. Eine ernsthafte Antwort ließe sich selbst dann nicht finden, wenn die Literaturbasis umfangreicher und weniger selektiv ausgefallen wäre. Ein Grund für das Scheitern einer umfassenden Deutung der Ereignisse der 60er Jahre ist sicherlich, dass die Geschichtsschreibung des IRA-Terrors immer noch Teil eines gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses ist. Der Diskurs über Schuld und Unschuld der beteiligten Akteure ist noch im Gange und produziert immer wieder neue Beiträge. An diesem Diskurs sind natürlich auch die Wissenschaften und die Wissenschaftler/innen beteiligt: sie haben ihn nicht nur begleitet, beschrieben und analysiert, sondern haben ihn, gerade dadurch, dass sie ihn gedeutet und darüber publiziert haben, auch erheblich mitgestaltet. Die Wissenschaft war weder neutraler Beobachter noch Schiedsrichter, sondern immer auch Partei. Sie bezog und bezieht immer noch Position, auch wenn sie vorgibt, sich der Positionierung zu enthalten. Natürlich wird auch hier die geforderte Vorgabe nicht erbracht werden können – nämlich die ‚wirkliche’ Geschichte der IRA und ihrer Mitspieler Zug um Zug zu rekonstruieren. Der Prozess, der zum langsamen Aufschaukeln bis hin zur Durchführung terroristischer Gewalttaten führte, wird wohl nie mehr hinreichend genau zu rekonstruieren sein2 (aufschlussreich für diese Fragestellung: White 1993). Stattdessen soll hier vorgetragen werden, welche Faktoren aus Sicht einer hermeneutischen Wissenssoziologie (Hitzler/ Reichertz/Schröer 1999) auf jeden Fall bei dem Verstehen und dem Erklären des Nordirlandkonflikts berücksichtigt werden müssen, das heißt, dass es im Folgenden vor allem um die (Re)Konstruktion der zentralen (Handlungs-)Probleme geht, die von den einzelnen beteiligten Akteuren im Verlauf der 60er und 70er Jahre bearbeitet werden mussten. Bei dieser (Re)Konstruktion stütze ich mich wesentlich auf die publizierte ‚Lebensbeichte’ eines IRAAktivisten (Collins 1997), also auf die distanzierte Innenansicht der IRA – wohl wissend und in Rechnung stellend, wie problematisch ein solches Datum ist. Ansonsten wird hier unterstellt, dass die Ereignisse und Akteure nicht einzeln vorgestellt werden müssen. Der implizite Leser, der mir beim Schreiben dieses Artikels vorschwebte, war ein politisch gut
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Das ‚Zusammenspiel’ der verschiedenen Akteure, das schlussendlich den Terror hervorbrachte, vollzog sich gewiss nicht Zug auf Zug, sondern es wurde an verschiedenen Orten, von verschiedenen Akteuren mit unterschiedlichem Wissen und mit unterschiedlichen Interessen ‚gespielt’. Eine schöne Formulierung für solche Prozesse stammt vom Herzog von Wellington. Nach der Schlacht von Waterloo im Jahr 1825 meinte er: „Die Geschichte dieser Schlacht ähnelt sehr der Geschichte eines Balls! Der eine oder andere mag all die kleinen Ereignisse behalten haben, deren großes Ereignis die gewonnene oder verlorene Schlacht war; keiner aber vermag sich der Reihenfolge oder des Zeitpunktes ihres präzisen Eintretens zu erinnern, und darin liegt der ganze Unterschied ihres Wertes oder ihrer Bedeutung“ (zitiert nach Keegan 1991: 135).
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informierter Bürger, der über die Vorkommnisse, die sich in den späten 60er Jahren in Irland und England ereigneten, halbwegs Bescheid weiß. 2
Zum Verfahren der hermeneutischen Wissenssoziologie
Die hermeneutische Wissenssoziologie ist vom theoretischen Selbstverständnis her Teil einer Soziologie des Wissens und methodisch/methodologisch Teil einer hermeneutisch die Daten analysierenden, strukturanalytisch Modell bildenden, qualitativen Sozialforschung. Hermeneutisch ist die hier vorgeschlagene Perspektive, weil sie auf die deutende (Re-) Konstruktion von Sinn zielt und weil sie bei der methodisch angeleiteten Auswertung der erhobenen Daten den Prämissen der ‚sozialwissenschaftlichen Hermeneutik’ (Soeffner 2004a, 2006, Hitzler/Honer 1997) folgt, welche sich in dieser Form durch die Kritik an der ‚Metaphysik der Strukturen’ der objektiven Hermeneutik (z.B. Oevermann et al. 1979, siehe hierzu Reichertz 1988) herausgebildet hat. Im Kern bezeichnen die Begriffe ‚sozialwissenschaftliche Hermeneutik’ und ‚hermeneutische Wissenssoziologie’ die gleiche Forschungsperspektive (siehe hierzu Soeffner 2004a und 2006, Reichertz 1997, Schröer 1994, Hitzler/Reichertz/Schröer 1999). Allerdings ist meines Erachtens der zweite Name angemessener, weil er die Fragerichtung (Wissenssoziologie) in den Mittelpunkt rückt und diesem eine Methode (hermeneutisch) als Attribut zur Seite stellt. Strukturanalytisch ist diese Perspektive, weil das Verhalten der Individuen erst dann als verstanden gilt, wenn der Interpret in der Lage ist, beobachtetes Verhalten auf den vorgegebenen und für den jeweiligen Handlungstypus relevanten Rahmen zu beziehen und es so als sinnvoll nachzuzeichnen. Folglich geht es bei der Rekonstruktion des Handelns um die Sichtbarmachung der (als Wissen abgelagerten) strukturellen, vorgegebenen Handlungsprobleme und -möglichkeiten, die den Protagonisten mit guten Gründen zugeschrieben werden können. Es handelt sich also gerade nicht um eine verkappte intentionalistische Handlungstheorie. Um es zu präzisieren und nahe liegenden Missverständnissen vorzubeugen: Im Zentrum steht selbstverständlich nicht die Rekonstruktion der von den jeweiligen Handelnden gewussten singulären Perspektive. Ein solches Unternehmen wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt. Es geht vielmehr um die rationale Konstruktion der Perspektive, die Akteure in Bezug auf a) eine bestimmte Aufgabenstellung und b) nicht hintergehbare Rahmenbedingungen zu ihrer Bewältigung in einer bestimmten Gesellschaft zwangsläufig einnehmen müssen. Angestrebt wird also die rationale Konstruktion egologischer Perspektiventypen (vgl. hierzu Schütz 1972). Oder anders: Es geht 1.) um die Rekonstruktion der strukturellen Probleme, die Individuen bewältigen müssen, wenn sie in einem bestimmten Rahmen handeln (im Übrigen unabhängig davon, ob sie von diesen Problemen wissen) und 2.) um die Rekonstruktion der durch diese spezifische Struktur eröffneten, aber auch verschlossenen Handlungsmöglichkeiten zur ‚Lösung’ dieser Probleme. Und damit geht es immer auch, und das wird leicht übersehen, um eine Sozial- und Gesellschaftstheorie. Dieses theoretische, methodologische und methodische Konzept hat zum Ziel, die gesellschaftliche Bedeutung jeder Form von Interaktion (sprachlicher wie nichtsprachlicher; face-to-face wie institutionell geformter) und alle Arten von Handlungsprodukten (Kunst, Religion, Unterhaltungen, Geschäftsordnungen, Gegenstände, Produkte, Dienstleistungen, Organisationen etc.) zu (re)konstruieren. Hermeneutische Wissenssoziologie ist somit kei-
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nesfalls allein Textanalyse (transkribierte Interaktion/Kommunikation, Literatur etc.), sondern auch Bild-, Artefakt- und Bewegungsanalyse. All dies leistet die hermeneutische Wissenssoziologie nicht nur, um auf lange Sicht eine Sozial- und Gesellschaftstheorie zu entwerfen, sondern auch, um das Handeln von Menschen und (Menschen in) Organisationen zu verstehen und zu erklären – was auch zu einer Prognose genutzt werden kann. Hermeneutische Wissenssoziologie zielt also in gleicher Weise auf den Einzelfall wie auf den Typus, in gleicher Weise auf die Praxis wie auf die Theorie.
2.1 Sozialtheoretischer Ausgangspunkt Es gibt keine soziale Konstellation, die notwendigerweise an jedem Ort dieser Welt bestimmte Ereignisse oder Dinge produziert und auf eine bestimmte Bahn schickt. Ereignisse wie Produkte und Organisationen entstehen an jedem Ort und zu jeder Zeit in anderer Form. Die Entwicklung von Ereignissen und die Entstehung von Produkten (und deren Aneignung) sind jeweils einzigartig und will man sie verstehen, muss man ihre Entwicklung nachzeichnen. Geschichte entwickelt sich nicht gradlinig, eine Stufe nach der anderen nehmend, sondern sprunghaft – dabei auch die Richtung wechselnd. Sie entwickelt sich durch die Handlungen, Interpretationen, Hoffnungen, Problemlagen und Gelegenheiten von individuellen wie kollektiven Akteuren, die darauf hoffen, durch ihr Handeln ihre Probleme zu bearbeiten oder gar zu lösen. So entsteht eine Form von sozialer Ordnung, in welcher es auch ‚Löcher’ gibt: Ungenauigkeiten, Widersprüche, Rücknahmen, Irrtümer, Selbsttäuschungen und Zufälle. Geschichte entfaltet sich nicht, sie reproduziert in der Aktion nicht immer wieder die gleiche Struktur, sondern Geschichte und Interaktion sind entwicklungsoffene, einander bedingende und einander durchdringende Prozesse, die immer einmal (wieder) Muster bilden, sich dann jedoch immer (wieder) ihren eigenen Weg suchen, bis zum nächsten Muster, das jedoch wieder ein völlig anderes sein kann. Qualitative Sozialforschung im Sinne einer hermeneutischen Wissenssoziologie kann all dies nachzeichnen und festhalten, sie kann die typische Gestalt des konkret Gewordenen, das Muster oder die Figur rekonstruieren, aber sie kann hinter all dem keinen Sinn, keine Rationalität und auch keine Funktion (zum Nutzen des großen Ganzen) erkennen. Die Grundfrage der hermeneutischen Wissenssoziologie fasst Hans-Georg Soeffner in folgende Worte: „Welches Problem wurde aus der Sicht der Akteure wahrgenommen und durch die daran anschließenden gesellschaftlichen Konstruktionen bewältigt, also welche Motive verbanden die Handelnden mit ihrer Selbstzuordnung zu einer Institution, zu einem Verband, zu einer bestimmten Wahrheit” (Soeffner 2004b: Abs. 40)? Um auf diese Frage eine Antwort geben zu können, muss der wissenssoziologische Interpret die Praxis des Handelns und des Lebens Schritt für Schritt nachzeichnen, um so beschreiben und erklären zu können, wie es zu dem kam, was gekommen ist und weshalb etwas in welcher Situation für wen eine ‚Lösung’ darstellte (ausführlicher dazu Reichertz 2005). Aus dieser Sicht besteht die Arbeit des Forschers darin, bei der Beobachtung und Darstellung, die in seiner wissenschaftlichen Kultur vorhandenen Deutungen von Welt (also auch seine wissenschaftliche Kultur) zu verflüssigen. Eine solche verstehende Sozialfor-
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schung ist weder mit der strukturalistisch argumentierenden ‚objektiven Hermeneutik’ noch mit der Systemtheorie in Einklang zu bringen3.
2.2 Die Prämissen einer hermeneutischen Wissenssoziologie Die hermeneutische Wissenssoziologie richtet ihr Augenmerk darauf, wie Handlungssubjekte – hineingestellt und sozialisiert in historisch und sozial entwickelte und auch sozial abgesicherte Routinen und Deutungen des jeweiligen Handlungsfeldes (Muster, Typen, Ordnungen, Strukturen) – diese einerseits vorfinden und sich aneignen (müssen), andererseits diese immer wieder neu ausdeuten und damit auch ,eigenwillig‘ erfinden (müssen). Diese selbständigen Neuauslegungen des vorgefundenen Wissens werden ihrerseits wieder (ebenfalls als Wissen) in das gesellschaftliche Handlungsfeld eingespeist und verändern es. Das Handeln der Akteure gilt in dieser Perspektive erst dann als verstanden, wenn der Interpret in der Lage ist, es aufgrund der erhobenen Daten (Interviews, Beobachtungen, Dokumente etc.) in Bezug auf den vorgegebenen und für die jeweilige Handlungspraxis relevanten Bezugsrahmen zu setzen und es in dieser Weise für diese Situation als eine (für die Akteure) Sinn-machende (wenn auch nicht immer zweckrationale) ,Lösung’ eines Handlungsproblems nachzuzeichnen. Der Begriff ‚Handlungsproblem’ benennt an dieser Stelle ganz formal die Situation, dass menschliche Akteure unentwegt den Pfad ihres Handelns gestalten müssen. Auch wenn theoretisch nicht klar ist, ob das Handeln stetig vor sich hin fließt oder unstetig ‚quantelt’ oder ruckartig von (bewusster) Entscheidung zu Entscheidung springt, so muss doch von den Akteuren in jeder Situation aus der Fülle der Möglichkeiten weiter zu handeln, praktisch eine besetzt werden. Meist folgen die Akteure dabei gedankenlos Traditionen, Routinen oder Rezepten. Manchmal folgen sie aber auch einem inneren Impuls oder werden durch die Dynamik der Interaktion in eine bestimmte Richtung bewegt und manchmal entscheiden sie absichtsvoll, das Für und Wider abwägend, dabei die erwarteten und erhofften Folgen, aber auch die ungewünschten Konsequenzen mit in Rechnung stellend. Sie entscheiden sich in solchen Fällen dann bewusst – vielleicht sogar rational. Zu welcher dieser ‚Lösungen’ Menschen auch greifen mögen, um ihr Problem zu lösen, immer wird ‚Wissen’ helfen, die Lücke zwischen Möglichkeit und Realisation zu schließen.
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Die reflexive Wendung einer auf diese Weise verstandenen Wissenssoziologie hat für die Wissenschaftler (also wissenschaftsintern) zweierlei Konsequenzen: zum einen Freisetzung, zum anderen Verunsicherung. Freisetzung deshalb, weil die Verabschiedung eines exklusiven Wegs zur Erkenntnis strukturell die Suche nach neuen Wegen und Prozeduren eröffnet und zugleich die Konzeptionierung neuer Methodologien ermöglicht. Mithin hob und hebt die reflexiv gewordene Wissenssoziologie die Wissenschaft als gesamtgesellschaftliches Unternehmen auf eine weitere Stufe der Differenzierung. Diese Freisetzung hatte im Windschatten (ebenfalls wissenschaftsintern) zugleich aber auch eine tief greifende Verunsicherung zur Folge: gemessen an dem Stand wissenssoziologisch informierter (Selbst-)Reflexion lassen sich nämlich keine verbindlichen Standards für die Erlangung von Validität mehr angeben: Denn jede Forschungsarbeit muss in dieser Perspektive mit der (weder zu leugnenden noch zu beseitigenden) Tatsache leben, selektiv und damit nur bezogen auf eine Perspektive gültig zu sein. Wissenschaftsextern hat die reflexiv gewordene Wissenssoziologie mit ihrer Erkenntnis wissenschaftlicher Perspektivengebundenheit, die im Übrigen meistens nur in Form eines kruden Wissenspluralismus („Jede Erkenntnis ist gleich gut, deshalb auch beliebig!“) wahrgenommen wurde, ebenfalls eine tiefe Verunsicherung ausgelöst – mit dem paradoxen Ergebnis einer verstärkten Nachfrage von Gültigkeit und dem Verlangen nach Forschungsevaluation.
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Wissen hat in dieser Sicht die Funktion, eine Brücke zu bauen: vom Hier zum Dort. Wissen hilft dem Menschen, vom Hier und Jetzt zum Dort und Bald zu kommen: Es setzt ihn in Bewegung, weil es ihm hilft, in Bewegung zu kommen. Denn immer, wenn sich im Jetzt das Problem des wie-weiter-Handelns stellt, und das tut es immer wieder, dann kommt Wissen zum Einsatz. Unter ‚Wissen’ wird dabei keinesfalls die korrekte Repräsentation einer objektiv gegebenen und unabhängig existierenden äußeren Wirklichkeit verstanden, sondern alles Wissen ist Ergebnis eines spezifischen gesellschaftlichen Konstruktionsprozesses. Das jeweils nur historisch gültige Wissen dient den Mitgliedern einer Interaktionsgemeinschaft als das wichtigste Handwerkszeug (Medium), um sich ihre problematische Umwelt ‚passend’ und handhabbar zu machen. Was für ‚wahr’ gehalten wird und was als ‚wirklich’ gilt, ist demnach Resultat eines gesellschaftlichen Austauschprozesses (grundlegend für diese Perspektive siehe Berger/Luckmann 1977, Soeffner 2004a und 1992). Wissen ist in dieser Perspektive immer mehr als Information (etwas ist so oder so; etwas verhält sich so): Wissen hat immer einen Bezug zum Handeln von Menschen. Wissen sagt nämlich immer auch, was es in einer bestimmten Welt für das Handeln bedeutet, dass etwas so oder so ist: Wissen enthält damit immer eine pragmatische Komponente und damit auch: Sinn. Zu wissen, was eine gemachte Erfahrung für mich und mein Handeln bedeutet, heißt, dieser Erfahrung Sinn zu verleihen. 2.3 Aufgabenstellung Im Folgenden möchte ich diesen wissenssoziologischen und damit auch kultursoziologischen Zugang am Material ausfüllen. Allerdings werde ich dabei auf Daten und Texte zurückgreifen (z.B. ganz wesentlich auf die Lebensbeschreibung eines IRA-Aktivisten – Collins 1997), die nicht in dem Materialreader des Leistungswettbewerbs der aktuellen soziologischen Forschungsansätze in Marburg enthalten waren. Diese Hinzuziehung weiterer Materialien war notwendig, weil der Reader vor allem wissenschaftliche Deutungen enthielt, also keine Daten und weil aus Sicht der hermeneutischen Wissenssoziologie die Hoffnung, sozialtheoretische Überlegungen ohne Bezug auf eine konkrete Praxis, also nur im luftleeren Raum präzise formulierter Theorie zu beantworten, vergebens ist: Statt dessen geht die Wissenssoziologie davon aus, dass sich jede Theorie, wenn sie tragfähig sein soll, auf ein empirisches Phänomen beziehen muss. Eine Trennung von Empirie und Sozialtheorie „würde unseres Erachtens die wechselseitige Ignoranz von Sozialtheorie und sozialwissenschaftlicher Empirie, die wir als Gefahr empfinden, geradezu zementieren. Ohne empirische Fundierung und Kontrolle ginge aber eben das verloren, was die Sozialtheorie von der Philosophie einerseits, dem bloßen Meinungsaustausch andererseits unterscheidet (Joas/Knöbl 2004: 11). Theorie ohne Empirie ist aus dieser Sicht eine brotlose Kunst – mag sie noch so intelligent gebaut sein. 3
Zur Geschichte der IRA
Die wechselvolle Geschichte der IRA, ihr Agieren seit ihrer Gründung im Jahr 1919 sowie ihr Wiederaufleben Ende der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, lässt sich sowohl historisch wie auch theoretisch nicht verstehen ohne den Einbezug der irischen Geschichte,
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der in ihr bewahrten Traditionsbestände sowie der Formen ihrer kulturellen Überlieferung. Wie ein roter Faden zieht sich durch die Geschichte der IRA das Bemühen, sich selbst als – meist einzige – legitime Vertreterin des wahren Anliegens Irlands und des jahrhundertalten Ringens Irlands um eine eigenständige, seit Ende des 19. Jahrhunderts explizit republikanische Identität. „Ich spürte, dass die IRA Resultat der Geschichte der Demütigung dieser Menschen war. Zu dieser Zeit betrachtete ich mich und meine Kameraden als die Racheengel der Geschichte, die den Preis für eine Gesellschaft eintrieben, die sich auf Ungerechtigkeit gründete. Ich war davon überzeugt, dass wir durch unser Handeln dem unterdrückten Zorn unserer Vorfahren Ausdruck verleihen. Ich spürte, der ich Teil einer Organisation war, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, die Unionisten den blinden Hass vergangener und gegenwärtiger Generationen spüren zu lassen“ (Collins 1997: 136). Im Verlauf der Geschichte wurde dieses Deutungsmuster wiederholt mit einer ganzen Reihe von anderen Aspekten vermengt (z.B. Freiheitskampf, Widerstand gegen britische Besatzung, Wahlrechtsreform, soziale Ungerechtigkeiten, Bürgerrechtsbewegung, Religionskonflikt, militärische Auseinandersetzung mit England bzw. den protestantischen Paramilitärs) bzw. in mehr oder weniger gewalttätigen Konflikten profiliert (z.B. Home Rule, Spaltung der IRA zwischen Provos und Officials); dies führte bis heute zu Veränderungen der Organisation, der Strategien und der offiziellen wie inoffiziellen Ziele der IRA bzw. ihrer verschiedenen Abspaltungen. Im Kern ändert dies jedoch wenig daran, dass die IRA kaum vorstellbar wäre, ohne die Besonderheiten der irischen Geschichte und Kultur. Einer der wesentlichen Aspekte der irischen Geschichte und Kultur besteht spätestens seit der anglo-normannischen Invasion unter Heinrich II. im Jahr 1171 bis mindestens in die 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts in dem uneingelösten Versprechen auf eine eigene irische Identität. Über 800 Jahre Unterdrückung irischer Kultur und später die Teilung des Landes in einen weitgehend von England verwalteten und finanzierten Norden und eine über sechzig Jahre vergleichsweise arme Republik, die erst in den vergangenen 20 Jahren und unter Ausnutzung aller Fördermöglichkeiten zu einem bemerkenswerten Wohlstand kam, prägten bis vor kurzem und in Teilen noch heute das irische Selbstbild. Ihren kulturellen Hintergrund und Resonanzboden findet diese vielfach in sich gebrochene Vision eines vereinten Irlands einerseits in den unzähligen Mythen, Legenden, Heldengeschichten und tragischen Erzählungen aus der Geschichte und andererseits in einer bis heute lebendigen Tradition mündlichen Erzählens. 4
Was ist Terror und wie entsteht Terror?
‚Terror’ wird hier verstanden als die geplante, absichtliche, angekündigte oder unangekündigte, mit instrumentellen und/oder symbolischen Mitteln erzeugte Verbreitung von Schrecken durch alle Arten von kollektiven und individuellen Akteuren gegenüber bestimmten Personen, Personengruppen oder jedermann – in einem (von den potentiellen Adressaten) nicht vorherseh-, erwart- und kalkulier- bzw. kontrollierbaren Ausmaß. Terroristische Aktionen haben in verschiedenen Ländern und zu unterschiedlichen Zeiten viele Gesichter und sehr unterschiedliche Formen. Entstehung und Gestalt von Terror sind pfadabhängig, also Ergebnis gesellschaftlicher und historischer Besonderheiten und Entwicklungen. Terrorgruppen sind nie wirklich identisch, sondern sie weisen lediglich ‚Familienähnlichkeiten’ auf, unterscheiden sich jedoch ansonsten in wesentlichen Punkten.
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Wenn ‚Macht’ die Chance ist, den eigenen Willen „innerhalb einer sozialen Beziehung auch gegen Widerstreben durchzusetzen“ (Weber 1972: 28), dann ist jede terroristische Tat Dokument der Machtlosigkeit, da sie den Kampf um die Macht innerhalb der Beziehung aufgegeben hat. Terror ist weder eine militärische Aktion, noch ein Partisanenkampf, noch eine Guerillataktik (vgl. Schmitt 1963, auch Sofsky 2002). Terror zielt in der Regel auch nicht auf die Eroberung oder Zurückgewinnung von Territorien. (Allerdings war dies bei der IRA gerade der Fall: Sie hatte zumindest eine zeitlang das explizite Ziel, die Eingliederung von Nordirland zu erreichen.) Terror richtet sich vornehmlich an drei Adressaten: die Öffentlichkeit, den Feind und die Gruppe, von der man glaubt, dass man sie vertritt. Für die Öffentlichkeit sollen durch die Tat die Missstände ins Bewusstsein gebracht werden, für den Feind ist es die Drohung, dass ausnahmslos jeder Opfer werden kann und für den Freund ist es der Nachweis der weiteren Existenz und eine Aufforderung zur Nachfolge und Unterstützung (‚Propaganda der Tat’). Terror ist demnach nicht das notwenige Resultat bestimmter politischer, wirtschaftlicher und sozialer Bedingungen – auch wenn bestimmte Bedingungen sicherlich förderlich für die Entstehung von Terror sind. Im Fall Nordirland kann man trotz lang anhaltender und massiver Ungerechtigkeiten gegen die katholische Bevölkerung (Wahlrecht, Benachteiligung bei Wohnungen und Arbeitsplätzen, Diskriminierung) nicht davon sprechen, dass es Mitte der 60er Jahre zu einer dramatischen Verschärfung kam, im Gegenteil: O’Neils Reformpolitik strebte eine Verständigung an und hatte erste Schritte erreicht (was Gegenreaktionen bei einer radikalen Gruppe der Protestanten auslöste – Ian Paisley und die UCDC). ‚Gute’ Rahmenbedingungen für das Wachsen von Terror sind u.a.: Es muss eine kleine Gruppe von Menschen geben, die sich massiv von einer anderen, sehr viel mächtigeren Gruppe, mit der man das Territorium teilt (wobei das Territorium auch der gesamte Globus sein kann), in Bezug auf wesentliche Teile des Lebens ungerecht behandelt fühlt. Eine viel zitierte Erklärung für das Entstehen des Terrors auf den Straßen von Ulster entstammt einem offiziellen Report der Regierung von Nordirland. Dort heißt es sinngemäß: „Grund sei die merklich gewachsene katholische Mittelschicht, die sich deutlich weniger mit der – wahrgenommenen oder tatsächlichen – Diskriminierung abzufinden bereit war. Diese Schicht sei auf Grund der Ausweitung des Bildungsangebots für Katholiken nach dem Krieg entstanden und ihr politisches Bewusstsein in den sechziger Jahren erwacht“ (Otto 2005: 87). Die kleine Gruppe besitzt den festen Glauben, dass Verhandlungen nichts bringen werden und dass sie mit direkter offener Gewalt (Krieg oder Aufstand) nicht oder noch nicht die Majorität besiegen kann. Deshalb setzt sie auf ‚symbolträchtige’ Aktionen wie Entführung, Zerstörung von relevanten Gebäuden, gezielte Tötung zentraler Figuren der Gegenseite, Tötung von beliebigen Offiziellen des gegnerischen Systems bis hin zur wahllosen Tötung möglichst vieler Menschen (Bomben, Gift, Feuer, Flugzeuge) – egal ob sie zur Gegenseite gehören oder nicht. Terroristische Aktionen sind also immer Operationen von Gruppen von Aktivisten, die zu einem bestimmten Zeitpunkt zu dem Punkt kommen, bestimmte Taten nicht nur anzudrohen, sondern auch auszuführen. Terroristischen Aktionen liegt deshalb auch stets eine mehr oder weniger rational entwickelte Strategie zugrunde. Was ist nun das Maß für Terror auslösendes Unrecht? Offensichtlich eine ‚gefühlte Benachteiligung’, doch diese ist stets Ergebnis der Interpretation der kleineren Gruppe. Was den einen unerträglich erscheint – Armut, Krankheit, Machtlosigkeit, Hunger, Unterdrückung, Willkür etc. – erscheint anderen (oder auch derselben Gruppe) zu einer anderen Zeit als normal oder zumindest als erträglich. Es gibt also kein objektives Maß für Leid,
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Schmerz, Unterdrückung und Unrecht. Stets sagt auch die Kultur einer Gesellschaft, was unter welchen Umständen erträglich ist bzw. was von wem hingenommen werden muss. Nicht ein bestimmtes Ausmaß an gefühlter Benachteiligung ist der Auslöser von Terror, sondern Terror entsteht aufgrund der Interaktion und Entwicklung von Gruppen, die sich mit den Benachteiligungen auseinandersetzen. Terror ist somit das Produkt eines sozialen Prozesses, wobei sowohl der Interaktionsprozess innerhalb der Gruppe der Aktivisten als auch der Interaktionsprozess zwischen den beteiligten Gruppen zusammen betrachtet werden müssen. Terror ist somit vermeidbar bzw. stets das Ergebnis eines ‚Zusammenspiels’ der verschiedenen ‚Spieler’ auf dem Feld.
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Wer sind die Mitspieler und wem kann man vertrauen?
Wie viele Parteien sind bzw. waren in den 60er Jahren in den Nordirlandkonflikt aktiv verstrickt? Zwei, drei oder mehr? Wer war bzw. fühlte sich in der Minderheit? Wer fühlt sich bedroht in seiner Identität und Existenz? Die Katholiken (in Nordirland) oder die Protestanten in Irland (man erinnere sich an das Massaker von Portadown, bei dem 1641 etwa 12.000 Protestanten von den Katholiken getötet wurden)? Aus meiner Sicht waren im Falle von Irland mindestens sieben Parteien aktiv an der Entwicklung der Ereignisse beteiligt: 1. Aktivisten und Sympathisanten der IRA, 2. Katholiken in Nordirland; 3. Irland, 4. Ulster, 5. die diversen Strafverfolgungsinstitutionen, 6. England und 7. die internationale Öffentlichkeit. Sie alle ‚spielten’ nicht nur miteinander, sondern in einem gewissen Sinne auch ‚zusammen’ und ‚erschufen’ durch ihre aufeinander abgestimmten Interaktionen (wenn auch nicht willentlich) die Besonderheit des IRATerrorismus. Das Besondere und das für die Beteiligten (und natürlich auch für jede Sozialforschung) Schwierige des ‚terroristischen Zusammenspiels’ ist ganz allgemein, dass alle Parteien darauf bestehen, dass man mit ihnen rechnen muss, dass aber das konkrete Handeln (vor allem das der Aktivisten und der Polizei) für die jeweilige Gegenseite unberechenbar ist. Dieses Bemühen um Intransparenz und Unberechenbarkeit führt in der Regel zu sehr genauer gegenseitiger Beobachtung, Infiltration, Bestechung und der systematischen Ausdeutung des Handelns der Anderen. Deshalb müssen sich die Akteure, aber insbesondere die Aktivisten und deren direkte Verfolger sowie mögliche Zielpersonen zu Virtuosen der Intransparenz und Unberechenbarkeit entwickeln – was die Kommunikation erheblich erschwert. Terroristische Aktivisten gefährden in der Regel nicht nur sich selbst, sondern auch die eigene Familie und oft auch Freunde. Sie tragen ein sehr hohes Risiko, für lange Zeit eingesperrt und gegebenenfalls auch gefoltert zu werden. Schlimmstenfalls erwartet sie der Tod. Zugleich ist das Risiko, entdeckt zu werden, für terroristische Aktivisten besonders hoch, da die Gegenseite meist alle verfügbaren Ressourcen nutzt (genaue Ausspähung, Bestechung, Folter, Infiltration, Desinformation, Großfahndungen), um der Terroristen habhaft zu werden. Wegen dieses sehr hohen und sehr handfesten Risikos ist eine der zentralen Fragen innerhalb der Gruppe terroristischer Aktivisten, wem man weshalb trauen kann. Die drakonische und unabwendbare Verräterbestrafung ist ein Mittel, dieses Problem zu lösen. Wesentlich konsequenzenreicher ist jedoch der durch das hohe Risiko und den Zwang zur gemeinsamen Tat strukturell angelegte Zwang zur gegenseitigen Dauerbeobachtung: Zum Ersten muss man seine Mitstreiter genau beobachten, zum Zweiten sich selbst und
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zum Dritten die Führung. Ständig muss man sich vergewissern und auch ernsthaft prüfen, ob man selbst, die anderen und die Führung noch vertrauenswürdig sind, ob alle loyal nur der (richtigen) Sache verpflichtet sind und stets das richtige Tun. Verschärft wird das Beobachtungsproblem noch dadurch, dass jeweils unterstellt werden muss, dass die Beobachteten abweichende Ansichten so gut wie möglich verbergen wollen, was dazu führt, selbst kleinste Details an der Oberfläche als Indikatoren für schwerwiegende Abweichungen im Inneren zu deuten. Dieser Zwang zur intensiven Dauerbeobachtung und zur extensiven Hermeneutik des Gesamtverhaltens der Anderen führt auf der einen Seite zur Ausgrenzung bestimmter Aktivisten (falsche Motive, falsche Methoden etc.), also zur Zersplitterung der Gruppe der Aktivisten, was letztendlich zu Stillstand und Tatenlosigkeit führt, also zum Ende der Gruppe. Auf der anderen Seite erzeugt die Dauerbeobachtung und die Dauerbewährung leicht eine Dynamik immer demonstrativer werdender Loyalitätsbeweise, also einen inneren Druck zum Ausbruch von Gewalttaten. Denn in einer Gruppe, in der alle Teilnehmer sich immer wieder gegenseitig ihre besondere Loyalität und außeralltägliche Verpflichtung auf eine bestimmte Idee demonstrieren müssen, werden leicht die Taten immer drastischer, immer theatraler. Sie eskalieren also, was zum Ausbruch offener terroristischer Aktionen führen kann. Verschärft wird das Problem noch dadurch, dass alle Aktivisten auch das Verhalten ihrer Führung prüfen und bei deren ‚Fehlverhalten’ glauben, das Recht und die Pflicht zu haben, der Führung die Nachfolge aufzukündigen oder sie sogar zu ‚verraten’. Auch das kann einen forcierten Kurs der Führung erzeugen. 6
Zur Legitimation von Mord
Eine der zentralen Beobachtungskategorien untereinander ist die Ausspähung der Handlungsmotivation für terroristisches Handeln: Stellt sich jemand mit Leib und Seele in den Dienst einer Sache oder geht es ihm um Erfolg, Ansehen, persönliche Befriedigung oder gar um Geld? Wirklich vertrauen kann man nur dem, dessen Handeln keinesfalls von Eigennutz gesteuert ist, sondern stark der Wertorientierung verpflichtet ist, die man selbst aufweist: Man glaubt dem, der das Gleiche glaubt wie man selbst. Eines der zentralsten Glaubenselemente ist dabei die Frage, wie die Tötung von Menschen (auch unschuldiger) gerechtfertigt werden kann. Es geht also um die Legitimation des eigenen Verhaltens, das man unter normalen Umständen als völlig unakzeptabel ansehen würde, 1. gegenüber sich selbst, 2. gegenüber den anderen Aktivisten, 3. gegenüber der eigenen Gruppe, 4. gegenüber den Anderen und 5. gegenüber der Öffentlichkeit. Grundfigur solcher Legitimation ist dabei, dass der Einzelne im Namen anderer, Schwächerer zur Tat schreitet und sich gegebenenfalls opfert. Das Selbstopfer als die ultimative Zurückweisung des Eigennutzes ist es dann auch, was die Tötung anderer in gewisser Weise legitimiert. Der Aktivist tötet und stirbt für etwas, das für die ‚Gemeinschaft’ (oder das große Ziel) mehr bedeutet als das aktuelle Gesetz oder gar die Prinzipien der Humanität. Wenn für viele etwas Gutes entstehen soll, müssen auch manchmal Unbeteiligte Leid ertragen – so die Sinnfigur. „Zwar stellten die Nationalisten, die für Gewaltanwendung eintraten, eine Minderheit dar, aber dennoch repräsentierten sie irgendwie das Gewissen der Toten, der in die Fremde Verjagten und der Versklavten. Für mich erweckten sie den zerstörten Teil der irischen Seele zum Leben, der die Leiden weder vergeben noch vergessen würde, die Irland durch die Engländer und ihre schottischen Kolonisten auferlegt worden waren“ (Collins 1997: 283).
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Für die Legitimierung terroristischer Aktionen ist es deshalb auch wichtig, dass sie symbolisch aufgeladen werden, was auch bedeutet, dass alle Elemente der Aktion im Sinne der eigenen Sinnformation (um)benannt werden: ‚Armee’ statt ‚Bande’, ‚Freiheitstat’ statt ‚Mord’, ‚Operation’ statt ‚Entführung’ etc. 7
Was gibt es für die Akteure zu gewinnen?
Die Kultur einer Gesellschaft, auf die sich die Aktivisten des Terrors stützen, muss nicht nur ‚Wege’ anbieten und legitimieren, auf denen Widerstand möglich und gerechtfertigt ist, sondern muss auch Gratifikationen für diejenigen, welche diese Wege beschreiten, bereitstellen. Weshalb sollte man sonst sein Leben aufs Spiel setzen? „Ich fühlte mich wie ein altmodischer Werbesergeant, der die Leute umschmeichelte und beschwatzte, damit sie in die Armee eintraten. Der einzige Unterschied bestand darin, dass ich diesen Rekruten nicht den bei Eintritt in die Streitkräfte üblichen Shilling der Königin anbieten konnte. Alles was ich offerieren konnte, war Gefangenschaft oder Tod, der Ruin der eigenen Existenz und der Familien der Angeworbenen“ (Collins 1997: 126). Die Kultur muss den Einsatz (aus Sicht der Aktivisten) massiv belohnen: Ruhm, Weiterleben, Geld für die Familie. Oft ist es auch die Religion, die sich aufgrund der Verankerung im Transzendenten über die Gesetze und auch über das Leben stellen kann. Sie ist es auch, die den Aktivisten Vergebung all ihrer Sünden und somit den direkten Zugang ins Paradies in Aussicht stellt. Es können aber auch ‚Diesseitsreligionen’ sein, die dies leisten. Allerdings müssen sie geeignet sein, das Töten von Schuldigen wie Unschuldigen zu rechtfertigen und auch diesseitige Belohnungen in Aussicht zu stellen. In säkularen Zeiten ist z.B. der (erzählte) über das eigene Leben hinausgehende Ruhm Ersatz für die Aufnahme in den Himmel. „Sie wussten, dass sie durch ihren Tod den Briten nicht sofort eine Niederlage beibringen konnten, aber sie sahen voraus, dass ihr Opfer dazu beitragen würde, eine Massenbewegung des irischen Widerstandes zu schaffen“ (Collins 1997: 285). In Irland hat es neben der katholischen Religion und dem dieser Religion immanenten Friedensgebot immer parallel dazu eine gälische Tradition der Geschichte gegeben, die Gewalt stets verherrlichte und als notwendiges und legitimes Mittel begriff, sich gegen die ausländischen Eroberer (Engländer, Schotten) zur Wehr zu setzen. „Ich würde niemals am Heiligabend oder während der Feiertage einen Menschen umbringen. Weihnachten ist ein Fest der Lebensfreude, um sich vom Alltag zu erholen, es sich gut gehen zu lassen, Leute zu treffen, aber nicht, um zu töten“ (Collins 1997: 109). „In der Rückschau erkenne ich, dass ich mich damals auf der Suche nach einer Ideologie befand, die die katholische Moral verdrängen konnte, die mich daran hinderte, mich an Gewalttätigkeiten zu beteiligen. Gewiss hatte mich in einer gewissen Hinsicht die katholische Sichtweise der irischen Geschichte, wie ich sie von meiner Mutter übernommen hatte, für republikanische Sympathien anfällig gemacht. Doch im Widerspruch zu der unausgesprochenen Botschaft dieser Geschichtsinterpretation hatte mich die katholische Kirche meine ganze Kindheit über gelehrt, dass Gewalt von Übel sei. Nun aber, da ich bereit war, um einer Sache willen zu töten, mußte ich entdecken, dass mich meine Erziehung mit innerer Abscheu vor dem Morden ausgestattet hatte. Unter geduldiger Anleitung fand ich nun im Marxismus der Revolutionary Communist Group jene Legitimierung der Gewalt“ (Collins 1997: 87).
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Diese gälische Tradition wurde zwar immer von der katholischen Religion aufgegriffen, konnte aber weder von der Religion noch von der englischen Leitkultur gänzlich verdrängt werden. Das ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Gewalttaten in Irland immer zur Grundlage von Heroisierungen werden konnten. „Die besondere Aufgabe der IRA bestand darin, die Traditionen der physischen Gewalt in der irischen Geschichte zu bewahren. Eine weitere wichtige Komponente dieses Strangs des Republikanismus bestand in der Auffassung, dass man die Briten nur gewaltsam aus Irland vertreiben könne. (…) Es machte den Republikanern, die Anhänger der physischen Gewalt waren, nichts aus, dass sie eine Minderheit darstellten, denn sie konnten sich stets mit dem Wissen trösten, dass sie die Fackel der irischen Freiheit am Brennen gehalten hatten. (…) Die IRA verfolgte ihre Wurzeln zurück bis zum Osteraufstand von 1916, bis zur Irish Republican Brotherhood, bis zu den Fenians, bis zu Wolfe Tone und darüber hinaus, ja weit darüber hinaus bis zu den frühsten Zeiten, da das irische Volk den Eindringlingen mit Gewalt Widerstand entgegengesetzt hatte. Wir verfügten über eine umfassende Mythologie des Widerstands durch Gewalttätigkeit“ (Collins 1997: 281f.). Eine solche Tradition fehlte z.B. in Deutschland gänzlich, weshalb die RAF auch Schwierigkeiten hatte, sich und ihr Tun zu rechtfertigen. Sie mussten auf andere Traditionen und Vorbildern zurückgreifen (Vietnam, Südamerika), die aber in Deutschland nicht anschlussfähig waren. 8
Welches Problem löst der Terror?
Terror ist immer eine Aktion, die öffentlich stattfindet und die auf jeden Fall öffentlich werden soll. Terror richtet sich an die Öffentlichkeit. Terror macht bekannt, erinnert, droht. Deshalb ist Terror vor allem eine besondere Art der Kommunikation (siehe auch Schmid/de Graf 1982 und Waldmann 1998, auch Neidhardt 2006) und sie bedarf deshalb immer der Medien. Wenn Terror eine besondere Kommunikationsform der Machtlosen ist, die sich signifikant von individueller oder kollektiver Rache im Affekt unterscheidet und auch nichts mit der blinden Willkür eines Amokschützen oder der Tat eines tief gestörten Menschen zu tun hat, dann gehört zu den erleichternden Rahmenbedingungen für Terror ganz wesentlich die Erfindung des Dynamits, also der Möglichkeit, auch mit kleinem Einsatz demonstrative, theatrale Effekte (viele Tote, großflächige Zerstörung) zu erzielen. Ebenso gehört dazu auch die Erfindung der Massenmedien, also der Möglichkeit, sehr viele der Feinde zu erreichen, um sie zu erschrecken, aber auch viele der Freunde zu unterrichten, dass man noch aktiv ist und zum Dritten, eine wie auch immer geartete (internationale) Öffentlichkeit an das vermeintliche Unrecht, das der Minderheit angetan wird, zu erinnern und ein Eingreifen oder zumindest eine Stellungnahme zu erreichen. Explosionsstoffe und Medien sind jedoch nicht die Ursache für Terror, aber Terror muss zu den Kollateralschäden, den unbeabsichtigten Folgen von Dynamit und Massenmedien, gerechnet werden. 9
Kann Terror alltäglich werden?
Auch wenn Terror sich jeden Tag und oft auch über längere Zeit hinweg jeden Tag ereignen kann, so kann Terror dennoch nicht alltäglich werden. Terror ist das Außerordentliche, das Außergewöhnliche, das Außeralltägliche. Es lässt sich nicht, ohne dass er seine Beson-
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derheit verliert, auf Dauer stellen. Terror weist wie viele soziale Prozesse eine bestimmte ‚Flugbahn’ auf: es gibt einen Beginn, kritische Punkte, Höhe- und Wendepunkte und es gibt ein Ende. So gibt es einen Punkt, an dem die Grenze zum Terror überschritten wird. Ab dann sind die Mitspieler Regeln unterworfen, die sie nicht geschaffen haben und die oft für sie nicht vorhersehbar waren. Manche der Akteure handeln manchmal rational und manche manchmal völlig irrational. So kann die Entwicklung eskalieren und wieder abkühlen und dann wieder eskalieren oder aber die Grenze zu einer verschärfteren Form von Terror überschritten werden. An fast jeder Stelle der Interaktion kann sich die Richtung der Entwicklung verändern – entweder motiviert durch Kalkül, Missverständnisse, Dummheit oder den puren Zufall. Bei dem Nordirlandkonflikt gab es eine Fülle von zu Symbolen geronnenen Ereignissen, die solche wichtigen Stationen der Auseinandersetzung markieren: Battle of Bogside, Bloody Sunday, Internierung, Politische Gefangene, Hungerstreik u.v.a.m.. An allen diesen Punkten hätte die Entwicklung auch eine andere Richtung nehmen können. Dass sie so verlaufen ist, wie sie verlaufen ist, ist kein Beleg für die These, dass sie notwendigerweise so verlaufen musste. Zum Beleg hier ganz kurz verschiedene Phasen der Entwicklung der IRA, die zum einen zeigen, dass die IRA eher zögerlich in den Nordirlandkonflikt geriet und zum anderen belegen, dass deren Aufstieg von einer Reihe von Faktoren abhängig war, die weder so von einer der beteiligten Parteien geplant waren noch ihrer Kontrolle unterlagen. Die IRA, die im Bürgerkrieg 1920-1922 und in den Unruhen von 1935 den Schutz der Katholiken Nordirlands zu ihrer Sache gemacht hatte, blieb 1968 und 1969 fast unsichtbar. Wütende Katholiken übersetzten das Akronym IRA in dieser Zeit auch mit ‚I ran away’. Die Führung der IRA hatte seit 1962 auf eine marxistisch inspirierte Strategie umgestellt, in deren Vordergrund vor allem politische Maßnahmen standen. „Beeindruckt vom sichtbaren Erfolg der Methoden der Bürgerrechtsbewegung gab sie ihre alte militärische Struktur praktisch auf; Einheiten wurden aufgelöst, Paraden und Waffentraining weitgehend eingestellt. Die Führung versuchte die IRA in eine revolutionäre ‚Bürgerarmee’ zu transformieren, deren Kampfmittel vor allem ökonomischer Widerstand (Streiks) und politische Aktionen sein sollten. Infolge dieses Wandels der Ideologie und der Kampfpraktiken war die IRA 1969 in Nordirland schwach: in Belfast bezeichneten sich weniger als 60 Männer als Angehörige der IRA; im Mai 1969 belief sich ihre Bewaffnung in Belfast auf eine Maschinenpistole, eine Pistole und etwas Munition“ (Otto 2005: 96). Im Dezember 1969 kam es zur Spaltung der IRA (PIRA und OIRA). Die PIRA war nicht mehr marxistisch, sondern vor allem katholisch, bejahte die Gewalt und strebte die Angliederung Ulsters an Irland an. Sie war militärisch gegliedert. Später wurden kleine Zellen (Active Service Units) gebildet. „Diese kleinen Einheiten umfaßten vier bis fünf Freiwillige in einer engen ‚Familiengruppe’. In der Zelle sollte es einen Zeugmeister geben, der für die Beschaffung von Waffen und Munition verantwortlich war, einen Nachrichtenoffizier und mindestens zwei Freiwillige, die in der Lage waren, Schießereien und Sprengstoffanschläge durchzuführen. Sie alle sollten in dieser selbstständigen Einheit zusammenarbeiten, um Aktionen zu planen und durchzuführen“ (Collins 1997: 112). Mitte 1970 zählte die PIRA 1.500 aktive Kämpfer. Zunächst hatte für die PIRA der Schutz der katholischen Wohngebiete oberste Priorität. Neben der Verteidigung wollte man gleichzeitig jedoch an der britischen Armee exemplarische Vergeltungsaktionen ausüben. Auch setzte die Führung der PIRA darauf, bei Zusammenstößen von Demonstranten mit der Armee überharte Reaktionen zu provozieren und damit eine Eskalation herbeizuführen.
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„Anfang 1970 trat die Kampagne der PIRA offiziell in ihre zweite Phase ein: der Armeerat sanktionierte die Erschießung britischer Soldaten und nordirischer Polizisten. Daraufhin wurde im Februar der erste Soldat ermordet. Zweite Front der Kampagne war die Zerstörung der kommerziellen Zentren nordirischer Städte durch Bombenanschläge, was die Kosten der britischen Besatzung in die Höhe treiben sollte. Das Gewaltniveau in der Provinz steigerte sich damit noch einmal deutlich“ (Otto 2005: 99). „1972 setzte der Armeerat der PIRA die dritte Phase ihrer Strategie in Kraft, die allumfassende Offensive unter dem siegesgewissen Namen ‚Victory 72’. Die weitere Eskalation sollte durch den massiven Einsatz von Heckenschützenkommandos, Bombenattentaten – zu diesem Zweck erfand die PIRA übrigens auch 1972 die Autobombe – und nach wie vor gezielten Provokationen von Straßenschlachten erreicht werden“ (Otto 2005: 100). Die letztere Strategie führte 1972 zum ‚Bloody Sunday’, der eine massive Belebung des bewaffneten Widerstandes zur Folge hatte. „Hätten die Gefangenen den Status politischer Häftlinge erhalten, dann wäre der Krieg in den Jahren 1982 und 1984 im Sande verlaufen. Stattdessen verliehen die Briten der republikanischen Bewegung einen gewaltigen Auftrieb“ (Collins 1997: 285). Aber trotz zeitweiliger Erfolge musste die IRA einsehen, dass sich mit politisch motivierter Gewalt keine Einheit der Insel herstellen ließ: So übernahm Schritt für Schritt die politische Partei Sinn Fein die Initiative. Erst ließ sich die IRA auf Waffenstillstände ein, dann darauf, die Waffen abzuliefern. „Bis vor kurzem hatte die Sinn Fein nicht viel mehr als einen geselligen Zusammenschluss für IRA-Mitglieder im Ruhestand oder für solche Leute dargestellt, die nicht den Mut hatten, direkt in die IRA einzutreten. Seit den zwanziger Jahren hatte die Sinn Fein niemals wirklich unabhängig von der IRA existiert, nun aber erhob sich die Partei überall im Norden wie ein Invalide, der nach langen Jahren der Bettlägerigkeit des Gehen wieder erlernt. Die IRA entsprach dabei dem früheren Pfleger des Invaliden: in einer gewissen Weise war sie überrascht und erfreut, welche Fortschritte der Patient machte. Aber in einer anderen Hinsicht war sie beunruhigt und besorgt darüber, wohin er sich begeben und in welche Gesellschaft er geraten mochte. Einige der Pfleger hatten es lieber gesehen, daß der Invalide von ihnen abhängig war“ (Collins 1997: 278). 10 Die Bedeutung der Medien und die Folgen ihrer Logik In Irland wurde die geschichtliche Überlieferung lange Zeit von den seanachais (oder shanachie), den Heckenschulen, der Musik, den Erzählungen (siehe hierzu auch Hetmann 1986: 363ff.) und der oralen Überlieferung im Elternhaus getragen. „In den Erzählungen meiner Mutter dagegen ging es um irische Geschichte. (…) In mir erweckte sie einen Groll angesichts der Übeltaten, die die Briten uns angetan hatten – wegen all der Gräueltaten, des Sonderstrafrechts und des Diebstahls unserer Ländereien –, wobei sie allerdings niemals das Wort ‚Republikanertum’ erwähnte. Für sie war der Kampf gegen die Briten ein Kampf um die Bewahrung des rechten Glaubens und nicht ein Kampf um die Schaffung einer Nation. Dennoch weckte sie in mir ein Gefühl für die Ungerechtigkeit der Spaltung Irlands, aber das war nur eines der vielen Übel, die Protestanten den Katholiken angetan hatten“ (Collins 1997: 53). Alle die o.a. Medienberichte bewahrten (in der Sprache der Betroffenen) übereinstimmend das erlittene Unrecht der katholischen Iren und sie erzählten im Ton der Bewunderung von ruhmreichen und gewaltvollen Aufständen sowie von den Taten einzelner Helden
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über die Jahrhunderte hinweg. Eine besondere Rolle spielten die shanachies. Mit den shanachies hatten die Iren ein frühes und von der englischen (herrschenden) Leitkultur unabhängiges Mensch-Medium, das zu den Menschen regelmäßig sprach und das die Orte und die Zeiten überbrückte. Shanachies stellten die mythologischen Muster bereit, an welche die IRA anknüpfen konnte. Die IRA konnte sich der Helden-, Feind- und Opferrollen bedienen und sich selbst und das aktuelle Geschehen darin einfügen und so interpretieren und überhöhen. Ohne diese Tradition lässt sich die Bedeutung der IRA nicht erklären. Die besondere Tradition der shanachies ergibt sich aus dem Umstand, dass die Engländer, die Irland über 800 Jahre besetzt hielten (seit 1209), alles Irische verboten hatten. Hinzu kam, nach der Loslösung von der katholischen Kirche durch Heinrich VIII., die kirchliche Trennung. Dies führte nicht nur zu einem Ausschluss großer Teile der irischen Bevölkerung, die sprach nämlich vornehmlich irisch und nicht englisch, sondern auch – im Vergleich zu anderen europäischen Ländern – zu einem erheblichen Bedeutungsgewinn mündlichen Erzählens und Informierens (z.B. auch in Form der so genannten Heckenuniversitäten). Noch bis Mitte des vergangenen Jahrhunderts gab es in Irland vorrangig durch Erzählung geprägte lokale Kulturen. Das berühmteste Beispiel hierfür sind die BlasketInseln im Süd-Westen von Irland (vgl. Cole Moreton bis hin zu den Originalen z.B. von Peig Sayers, Tomas O’Crohan, Maurice O’Sullivan). Mit dem gezielten Einsatz der weit reichenden Massenmedien (TV, Zeitung, Radio), also Ende der 60er Jahre, begann eine neue Phase der ‚terroristischen’ Kommunikation. Hinzu kam, dass die IRA nicht mehr nur auf die Unabhängigkeit setzte, sondern sich im Rahmen der Bürgerrechtsdebatte bewegte und sich somit an die Weltöffentlichkeit mit Hilfe der Medien wenden konnte und es auch erfolgreich tat. Am 5.10.1968 wurden 400 katholische Demonstranten von Polizisten (der RUC) eingekesselt und systematisch zusammengeschlagen. Ein irisches Kamerateam zeichnete dieses Vorgehen der RUC auf. „Die Bilder der Polizeibrutalität gegen offensichtlich harmlose, unbewaffnete Demonstranten und Unbeteiligte (…) machten der schockierten irischen und britischen Öffentlichkeit deutlich, dass man ein reaktionäres Regime dabei erwischt hatte, wie es im vereinten Königreich elementare Freiheitsrechte unterdrückte. Der 5.10. war nicht das erste Mal, dass nordirische Sicherheitsorgane auf diese Weise handelten; zum ersten Mal jedoch nahm die Öffentlichkeit außerhalb Nordirlands war, was dort geschah. Das war auch der Grund dafür, dass dieser Tag gemeinhin als Startpunkt der ‚Troubles’ bezeichnet wird“ (Otto 2005: 89). Ohne die kulturelle Überhöhung und die Heroisierung des Widerstandes mittels Medien hätte es keine Wiederbelebung der IRA gegeben oder doch nur für sehr kurze Zeit. Insbesondere die neuen Medien sorgten dafür, dass man mit kleinem Aufwand (Terrorakt) eine große Wirkung erzielte (vgl. Neidhardt 2006). Allerdings musste die IRA auch erfahren, dass insbesondere das Fernsehen ein theatrales Medium mit eigener Logik ist, das sich nur dann nutzen lässt, wenn man es richtig bedient (z.B. mit Bildern und Außergewöhnlichkeit), das sich aber auch gegen einen wenden kann. Medien lassen sich nämlich nie völlig instrumentalisieren. Der Kampf um mediale Aufmerksamkeit (mit anderen Terrororganisationen und anderen Tagesnachrichten) lässt sich nur gewinnen, wenn man der Logik der Medien folgt und das eigene Handeln auf die Medien abstimmt. Dies hat auch dazu geführt, dass innerhalb der IRA spezielle Funktionen geschaffen wurden, nämlich PRVerantwortliche, die für Medienkontakte zuständig waren und die für eine ‚angemessene’ Medienpräsenz Sorge trugen. Dennoch konnte die IRA den Kampf um mediale Aufmerksamkeit auf lange Sicht nicht gewinnen. Dafür war die internationale Konkurrenz zu groß
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und zu skrupellos. El Qaida hat später dann gezeigt, wie man strategisch geplant mediale Aufmerksamkeit erzeugt und sich auch noch der Medien als Waffe bedient (Sommer 2003). 11 Über Katzen und Mäuse Was hat nun die hier sehr, sehr kurz dargestellte hermeneutisch-wissenssoziologische Analyse zum Verständnis der Frage erbracht, weshalb Ende der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts viele Menschen in Irland fest glaubten, nur mit Hilfe von Terror ihre Probleme lösen zu können? Ist mit der Katze ‚hermeneutische Wissenssoziologie’ überhaupt irgendeine (soziologische relevante) Maus gefangen worden und wenn ja, was hat man von ihr zu halten? Erst einmal (um einem ganz beliebten Einwand entgegenzutreten) wurde beim Verstehen und Erklären der Ereignisse auf solche Kurzschlüsse, welche die Ursachen von Terror und Gewalt allein in den Besonderheiten von bestimmten Akteuren vermuten, verzichtet: Auch wenn ohne Zweifel Übermüdung, Beziehungskonflikte, emotionale Ausbrüche, psychische Störungen und sogar das Wetter und andere Widrigkeiten den letzten Ausschlag für eine bestimmte Handlung geben, helfen solche ‚Erklärungen’ nicht nur Soziologen nicht, das Vergangene zu verstehen und zu erklären. Allenfalls helfen sie Geschichtenerzählern. Die hier vorgetragene Analyse hat auf solche ‚Zufälligkeiten’ verzichtet und erbracht, dass es keine gradlinige Entwicklung von einem Punkt aus gab, der Anlass oder gar Ursache der Gewalt in Irland war. Die Wurzeln des Terrors verzweigen sich stattdessen vielfältig im Boden der irischen und englischen Geschichte und reichen sehr tief hinab. Ohne diesen Boden hätte es wahrscheinlich keinen Terror im Irland der 60er Jahre gegeben. Aber trotz dieses Bodens war der Terror nicht notwendig. An vielen Punkten hätte er verhindert oder in andere Bahnen gelenkt werden können. Es waren bestimmte Akteurskonstellationen, welche die Gewalt letztendlich hervorbrachten: das ‚Zusammenspiel’ aller Akteure (zu denen auch die Medien gehörten) und die sich daraus ergebenden Interaktionsdynamiken setzten den Terror der IRA in Gang. Ex post kann man verstehen und auch erklären, weshalb es zum Terror in Irland kam, weshalb die irische Geschichte eine gewaltvolle Lösung näher legte als eine politische, weshalb es in den späten 60ern passierte und nicht in den frühen 90ern und welche Rolle die Medien in diesem Prozess spielten. Die Erkenntnisse aus dieser Studie kann man verallgemeinern, man kann abstrahieren und kann sowohl (je nach Erkenntnisinteresse) eine Sozialtheorie oder aber eine Gesellschaftstheorie mit mehr ‚Fleisch’ ausstatten und man kann versuchen, mit beidem aktuelle und ähnliche Prozesse zu verstehen und zu erklären und möglicherweise auch zu verhindern. Was man nicht kann, ist die Identifizierung einer bestimmten Mechanik, die notwendig Terror gebiert, oder aber die Entwicklung einer Theorie, die sagen kann, dass es unter bestimmten Bedingungen immer zum Terror kommen muss. Wie (hoffentlich) gezeigt wurde, geht es der hermeneutischen Wissenssoziologie nicht um die Identifizierung subjektiven Sinns, wenn damit einzigartige Besonderheiten (subjektive Idiosynkrasien) gemeint sind, sondern es geht ihr immer um typische Muster sozialen Handelns, die sich in bestimmten Gesellschaften mit einer bestimmten Kultur in typischer Weise gebildet haben. Diese geben den Horizont ab für erneute und spätere Aneignungen durch Akteure. Diese Muster können von den Akteuren sowohl nachgebildet als auch abgeändert werden. Diese Muster sozialen Handelns werden in Erlebnissen, Geschichten, Texten, Gesetzen und manchmal auch in Gebäuden festgehalten und weiter gegeben. Weil das
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so ist, ist bei wissenssoziologischen Analysen (auch wenn der Ausgangspunkt stets individuelles Handeln ist) eine Betrachtung der Geschichte (der Diskurse) und ihrer Aneignung zwingend. Soziales Handeln bezieht sich immer auf diese Diskurse, speist sich auch aus ihnen. Das Handeln der Akteure ist gewiss nicht grundlos, wenn auch nicht immer rational. Ein ausgearbeiteter Plan liegt dem Handeln nur sehr selten zugrunde. ‚Rational’ (im gebräuchlichen Sinne des Wortes) sind die Handlungen selten. Außer man behauptet, rational sei alles, für das sich von Wissenschaftlern ein Grund finden lässt – was aber letztlich nur ein „didaktisch gut brauchbares Beispiel für die Fallen der Erschleichung empirischer Hypothesen durch eine bloße definitorische Festlegung“ (Esser 1994: 172) ist. Die hermeneutische Wissenssoziologie setzt grundsätzlich am einzelnen Fall an und arbeitet Unterschiede zu anderen Fällen, also seine Besonderheit, heraus. Wenn Wissenschaftler/innen nichts über die Unterschiede der Fälle und Ereignisse wissen, die einen Unterschied machen, und dann großzügig verallgemeinern, dann sagen sie oft mehr als sie verantworten können. Zweifellos ist es auch das Ziel von Wissenschaft, zu allgemeinen Aussagen zu kommen, man darf gerade nicht im Besonderen verbleiben, sondern man muss aus dem Besonderen auch das Allgemeine, also die Theorie, entwickeln. Und genau dies will und tut die hermeneutische Wissenssoziologie: Ihr geht es ganz zentral auch um das Muster, das verbindet – das Muster, das verständlich macht, das erklärt. Es gibt also keinen generellen Verzicht auf das Erklären sozialer Ereignisse – wie dies manche Kritiker behaupten und (wie sie sagen) auch fürchten. Einzuräumen ist allerdings, dass innerhalb dieser Art der Forschung ‚Erklären’ nicht mehr mit einem einfachen Determinismus verbunden werden kann, sondern nur noch mit Wahrscheinlichkeiten. Aber das ergibt sich aus der Besonderheit des Gegenstands wissenssoziologischer Forschung: Dieser Gegenstand (= menschliches sinnhaftes Handeln) reagiert nämlich nicht nur auf die eigene Praxis, weil die Handelnden das Vergangene interpretieren und ihr Handeln danach neu orientieren, sondern die Handelnden reagieren sehr sensibel auf Deutungen ihres Handelns z.B. durch die Wissenschaften. Und je mehr die Wissenschaftler/innen sich in ihren Publikationen an die Öffentlichkeit wenden und je leichter die Öffentlichkeit an die Ergebnisse der Wissenschaft gelangen kann, desto leichter und nachhaltiger wird die Wissenschaft das von ihr Untersuchte auch irritieren und verändern. Insofern konstituieren die Wissenschaften ihren Gegenstand immer mit. Dieses Wissen ist eigentlich nicht besonders neu, überraschend ist nur, dass es in Erinnerung gerufen werden muss.
12 Eine literarische Antwort auf die Frage nach der Herkunft des Terrorismus Der 12jährige Colum McCann, Kind einer katholischen Mutter, die 1928 auf einem kleinen Bauernhof im Country Derry geboren wurde, fragte 1976 seinen Vater, als drei Mitglieder der Miami Showband in Nordirland von Paramilitärs erschossen wurden, warum Menschen glaubten, sie könnten unschuldige Musiker umbringen und was in Nordirland eigentlich los sei. Der Vater sagte daraufhin, „er wisse es nicht, er habe darauf keine Antwort und werde vielleicht nie eine haben, und dann umarmte er mich und drückte mich an die Brust“ (McCann 2006: 15).
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Die Politik des Martyriums. Ein kultursoziologischer Blick auf die IRA1
Andreas Pettenkofer Die Auffassung, dass jedes Erklären sozialer Abläufe ein Verstehen kultureller Muster voraussetzt, hat in der Terrorismusdebatte einen Erfolg erreicht, über den die Anhänger dieser Auffassung kaum froh werden können. Im öffentlichen Reden über den neuen religiösen Protest taucht alles auf, was am Nutzen einer kultursoziologischen Perspektive zweifeln lässt: Die Beteiligten werden von vornherein als stupide Regelfolger betrachtet; ein in Raum und Zeit stark variierendes Konfliktgeschehen wird umstandslos zurückgeführt auf eine unterstellte jahrhundertealte homogene kulturelle Großeinheit (‚der Islam‘); aus der Beobachtung, dass Verteilungskonflikte für sich allein nicht erklären, warum terroristische Gewalt eintritt, wird ohne weiteres der Schluss gezogen, dass solche Konflikte für diese Gewalt überhaupt keine Rolle spielen und Informationen über die jeweilige Sozialstruktur darum als unerheblich gelten können. Auf diese zweifelhaften Bemühungen reagieren viele Sozialwissenschaftler, indem sie die kulturelle Dimension überhaupt als nachrangig behandeln; zur Erklärung terroristischer Gewalt wird dann oft eine Theorie strategischer Interaktion herangezogen, die statt kulturell variabler Handlungsregeln eine einzige universelle Regel zweckrationalen Handelns am Werk sieht. Der vorliegende Text geht stattdessen davon aus, dass der medientaugliche kurzschlüssige Kulturalismus nichts darüber besagt, was eine kultursoziologische Perspektive wirklich zur Erklärung terroristischer Gewalt beitragen kann; am Fall der IRA versuche ich genauer zu zeigen, auf welche Weise kulturelle Muster in solchen Konflikten wirksam werden. Vorweg skizziere ich knapp einen möglichen Konsens darüber, für welche Erklärungsstrategie der Titel ‚Kultursoziologie‘ steht.
13 Kultursoziologie als allgemeine theoretische Perspektive Eine Möglichkeit, sich diese Perspektive begreiflich zu machen, besteht darin, in ihr eine simple Konsequenz aus der bereits von Weber vertretenen Annahme zu sehen, dass das Erklären sozialer Phänomene ein Verstehen von Handlungsgründen voraussetzt; die kultursoziologische Perspektive ergibt sich, wenn man der Frage weiter nachgeht, was es heißt, soziale Prozesse auf diese Weise zu erklären.2 Webers Programm einer ‚verstehenden‘ 1 2
Für hilfreiche Anmerkungen danke ich Ivonne Küsters. Tatsächlich sind zwei Varianten einer ‚verstehenden‘ Soziologie denkbar: eine mentalistische Variante, die letztlich auf – in einem starken Sinn – individuelle, innerpsychische (‚private‘) Sinnstrukturen abstellt, und die hier vorgestellte kultursoziologische Option, die zunächst nicht nach psychischen Vorgängen fragt, sondern nach Regeln, die kollektiv geteilt sind. Dazu aus Platzgründen nur Folgendes: Warum Koordination bzw. soziale Ordnung überhaupt möglich ist, lässt sich kaum erklären ohne die Annahme, dass die Regeln, die das Verstehen der Welt und bereits das (für jede Kommunikation ja vorauszusetzende) Verstehen sprachlicher Bedeutungen anleiten, kollektiv geteilt sind. Aus dem gleichen Grund wäre es aber auch un-
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Soziologie wendet sich bereits gegen eine Erklärungsstrategie, die eine einzige universell wirksame Handlungslogik unterstellt (‚rationales‘ Handeln) und darum annimmt, dass für Erklärungen nur die Variationen der ‚strukturellen‘ Rahmenbedingungen berücksichtigt werden müssen, auf die das Handeln reagiert (in heutiger Diktion: ‚choice within constraints‘). Allerdings erscheinen bei Weber als Gegenstand einer kultursoziologischen Perspektive vor allem Normen, die explizit formuliert, reflexiv zugänglich und – jedenfalls: gemäß seinem offiziellen individualistischen Theorieprogramm – den Handelnden in gewisser Weise äußerlich sind.3 Diese Begrenzung entspricht einem Vorverständnis, das auch heute noch anzutreffen ist. Außerhalb des Bereichs des kultursoziologisch zu Analysierenden steht demnach erstens der gesamte Bereich des Zweckrationalen; das ‚kognitive‘ Element – so die Unterstellung – bedarf keiner kultursoziologischen Analyse und wäre für sie auch nicht zugänglich. Webers Variante einer hermeneutischen Soziologie ist – wie gesagt: auf der Ebene des theoretischen Programms – besonders stark auf diese Prämisse angewiesen, da sie dem zweckrationalen Handeln bekanntlich eine zentrale methodologische Funktion zuweist: „Die Konstruktion eines streng zweckrationalen Handelns“ soll es ermöglichen, „das reale [...] Handeln als ‚Abweichung‘ von dem bei rein rationalem Handeln zu gewärtigenden Verlauf zu verstehen“ (Weber 1972: 3). Außerhalb steht zweitens das Nichtreflexive. Dieser Phänomenbereich wird hier aus einer quasi-naturalistischen Perspektive betrachtet, die das Bild eines schier gewohnheitsmäßigen ‚traditionalen‘ Handelns erzeugt, das nicht in einem relevanten Sinne kulturell vermittelt ist: „oft nur ein dumpfes, in der Richtung der einmal eingelebten Einstellung ablaufendes Reagieren auf gewohnte Reize“ (Weber 1972: 12). Diese Perspektive führt auch zu einem letztlich biologistischen Verständnis emotionsgeleiteten Handelns. (In Webers eigener Variante wird das noch befördert durch die Entscheidung, dieses emotionsgeleitete Handeln als eigenen Handlungstyp zu fassen; hat man sich darauf festgelegt, dann kommt man kaum umhin, ein stark naturalistisches Verständnis von Emotionen zugrunde zu legen, da man keine andere Möglichkeit hat zu erklären, wie diese Emotionen jeweils entstehen.) Außerhalb steht schließlich – gemäß Webers Plädoyer für einen individualistischen Theorieansatz – das Selbstverhältnis der Akteure; die untersuchten kulturellen Muster erscheinen als etwas, das das jeweilige Handeln von außen anleitet, indem es primäre Bestrebungen, die ihrerseits außerhalb des kulturtheoretisch Erklärbaren zu liegen scheinen, kontrolliert und einhegt. – Damit wird die Aufmerksamkeit für die mögliche strukturierende Wirkung kultureller Muster im Vorhinein eng begrenzt. Die kulturtheoretische Diskussion in den Sozialwissenschaften lässt sich weithin als Abfolge von Versuchen begreifen, diese Einschränkungen zu überwinden. Drei Argumentationslinien sind besonders wichtig: (1) Gegen einen ontologischen Individualismus, der einen sozial unberührten Individualitätskern unterstellt, hat Mead gezeigt, warum jedes Individuum bereits als sozial konstitutiert begriffen werden sollte: Noch das basale Selbstverständnis – die personale Identi-
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plausibel anzunehmen, dass die soziale Wirksamkeit dieser ‚öffentlichen‘ Regeln wiederum durch Anwendungen bzw. Interpretationen vermittelt sein kann, die je privaten Meta-Regeln folgen. Entsprechend geht es in Webers im engeren Sinne kultursoziologischen Argumenten vor allem um Muster, die ‚wertrationales‘ Handeln anleiten; die Pointe seines Religionsvergleichs besteht – wo er nicht doch eine strategische Rationalität ‚hinter‘ den religiösen Praktiken herausarbeiten will – vor allem im Nachweis einer strukturierenden Wirkung solcher Muster. (Dabei werden die Begrenzungen von Webers Theorieprogramm in seinen materialen religionssoziologischen Analysen durchaus unterlaufen, nur eben ohne systematische theoretische Folgen.)
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tät – ist kommunikativ erzeugt.4 Das bedeutet auch: Noch dieses Selbstverhältnis ist von den kulturellen Regeln geprägt, die diese Kommunikation anleiten. Weil diese soziale Prägung des praktischen Selbstverhältnisses einer der Wege ist, auf denen kulturelle Muster motivierend wirken, ist die Aufmerksamkeit dafür, dass personale Identität kulturell variabel ist, einer der wesentlichen kulturtheoretischen Beiträge für soziologische Erklärungen. Das läuft zwar auch auf eine These über die größere Reichweite der Wirkung von Normen hinaus: Die Befolgung bestimmter Normen kann wesentlich für das Selbstbild sein (man ist nur der, der man sein möchte, wenn man diese Normen tatsächlich befolgt). Betrachtet man solche Identitätsphänomene, dann zeigt sich also zunächst: Auch wenn die Beteiligten bestimmte Normen als äußere Zwänge begreifen, lässt sich ihr Verhältnis zu Normen nicht insgesamt so erfassen. Die Abkehr von dieser Äußerlichkeitsunterstellung lässt aber zugleich die Bedeutung von Regeln erkennen, deren Befolgung die Beteiligten als unmittelbar attraktiv empfinden (und nicht oder nur zweitrangig als gesollt). Die Berücksichtigung solcher ‚Werte‘ ist wesentlich, um zu erklären, wie personale Identitäten Handeln anleiten und auf diese Weise soziale Folgen haben (vgl. Joas 1997). (Mit einem tatsächlich nur methodologischen Individualismus – im Sinne des Kriteriums, dass eine Erklärung erst dann vollständig ist, wenn sie zeigt, warum die beteiligten Individuen typischerweise so und nicht anders handeln – bleibt das alles übrigens durchaus vereinbar.) (2) Argumente dagegen, eine Kernsphäre des Zweckrationalen aus dem Bereich des kultursoziologisch Beobachtbaren auszusparen, findet man zunächst in der selbstkritischen Diskussion der Rational-Choice-Theorie selbst. Für die vorliegende Diskussion ist die Kritik interessant, die Elster (2000) aus diesem Kontext heraus an Webers methodologischer Aufwertung der Zweckrationalität formuliert. Webers scheinbar bloß methodologische Forderung, man solle bei jeder Erklärung denjenigen Ablauf als kontrafaktischen Bezugspunkt nehmen, der sich aus dem Wirken einer reinen Zweckrationalität ergeben hätte, impliziert eine starke Annahme über die Beschaffenheit der Welt, in der gehandelt wird: Für die Beteiligten muss dann, zum Zeitpunkt des Handelns, zumindest im Prinzip entscheidbar sein, worin die unterstellte eine zweckrationale Handlungsweise bestünde. Immer schon vorausgesetzt wird also eine jederzeit hohe Bestimmtheit garantierende Handlungssituation, allgemeiner: eine im Prinzip unproblematisch beobachtbare stabile Umwelt.5 Bereits auf Prozesse strategischer Interaktion trifft diese Prämisse nicht zu; und die neuere Technikund Wissenschaftsforschung zeigt, dass sie selbst in dem Bereich nicht zutrifft, der noch am ehesten als Sphäre der Institutionalisierung einer reinen Rationalität akzeptiert würde (vgl. Latour 1987). Sobald man nicht mehr annimmt, dass Handlungssituationen typischerweise derart festgefügt und transparent sind, stellt sich in anderer Weise die Frage, warum – d.h. auch: aufgrund welcher kulturellen Regeln – dieses und nicht jenes Handeln als ratio4
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In eine ähnliche Richtung weisen – für die Zwecke dieser Diskussion – auch Argumente, die die primäre Unterbestimmtheit von Subjektivität betonen. Kultursoziologisch besonders einflussreich ist die von Foucault vertretene Variante, mit ihrem Konzept einer sozialen Macht, die nicht einfach einschränkt und unterdrückt, sondern insofern ‚produktiv‘ wirkt, als sie spezifische Selbstverhältnisse erst hervorbringt. Allerdings sind diese und die an Mead anknüpfende Argumentationslinie schwer miteinander zu vermitteln. Einen interessanten Versuch in diese Richtung unternimmt Hacking (2004); für einen (allerdings an einem deutlich anderen Argumentationsziel ausgerichteten) Nachweis, dass sich Argumente von Heidegger – die den Ausgangspunkt für Foucaults Ansatz bilden – und Mead miteinander verknüpfen lassen, vgl. Tugendhat (1979). Damit soll nicht bestritten werden, dass jedes Verstehen unvermeidlicherweise eine Rationalitätsunterstellung enthält. Allerdings muss diese Unterstellung nicht die Form eines methodologischen Primats der Zweckrationalität annehmen; sie kann auch die mildere Form einer allgemeinen Zuschreibung von Kohärenz haben. (Zur neueren Diskussion über diese Frage vgl. etwa Rijsjord 2000.)
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nal gilt. Damit fällt die Grundlage dieses spezifisch rationalistischen Verständnisses von ‚verstehender Soziologie‘ fort; zugleich erweitert sich damit die kultursoziologische Fragestellung, mit einer noch weitergehenden Abkehr von der alleinigen Konzentration auf Normen.6 Vor diesem Hintergrund wird das Interesse der Diskussionslinie deutlicher erkennbar, die mit Durkheims Soziologie kognitiver Klassifikationsschemata beginnt, sich in der Debatte über eine ‚strukturalistische‘ Kulturtheorie fortsetzt und heute unter dem Titel ‚kognitive Soziologie‘ firmiert (vgl. Borzeix u.a. 1998, Cerulo 2002). – Diese Wendung hat auch Folgen für differenzierungstheoretische Fragen; in dem Maße, wie kulturelle Klassifikationsschemata erst festlegen, was etwa als politisch und was als religiös gilt, lässt sich das jeweilige Differenzierungsmuster nicht mehr unproblematisch als eine jeder ‚Semantik‘ zunächst vorgängige Sozialstruktur begreifen.7 (3) Gegen die Annahme, dass die Orientierung an kulturellen Mustern und durch kulturelle Muster mit einem expliziten, reflektierten Verstehen zusammenfällt, hat die philosophische Hermeneutik-Diskussion unterschiedliche Einwände formuliert. Zunächst ist es nicht notwendig zu unterstellen, dass die Beteiligten immer dann, wenn sie nicht explizit und reflektiert mit Interpretieren beschäftigt sind, sich unmittelbar an der schieren Faktizität des Gegebenen orientieren; eine begriffliche Fassung dafür ist Heideggers Unterscheidung zwischen ‚Verstehen‘ und ‚Auslegen‘.8 Tatsächlich ist es wohl sogar unmöglich, dass Verstehen vollständig explizit geschieht. Wittgensteins klassisches, für eine hermeneutische Soziologie zentrales Argument gegen diese Annahme setzt an dem Punkt an, dass Verstehen eine Form der Regelanwendung ist (etwa: der Regeln, die dazu befähigen, einen Gesprächsbeitrag zu begreifen). Da – so Wittgenstein – die Anwendung einer Regel unstrittigerweise nicht einfach aus dieser Regel selbst folgt, führt die Vorstellung, die Anwendung einer Regel werde eben von einer weiteren Regel des gleichen Typs angeleitet, in einen infiniten Regress, da sich die Anwendung dieser weiteren Regel wieder nicht aus dieser selbst ergäbe; daran zeigt sich, dass diese Anwendung notwendigerweise nicht-expliziter Voraussetzungen bedarf.9 (Schon weil sie sich stark für dieses Moment des Impliziten inte6
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Das berührt einen systematisch wichtigen Punkt: Wenn eine solche kultursoziologische Perspektive in einem direkten Gegensatz zu einem rationalistischen Theorieansatz steht, bedeutet das nicht, dass ‚Kultur‘ schlicht eine Chiffre für all das ist, was sich aus einer rationalistischen Perspektive nicht erfassen lässt. Dann wäre diese ‚Kultursoziologie‘ keine Alternative, sondern bloß eine Teiltheorie über das, was Rationalitätsnormen nicht entspricht, und bliebe ihrerseits immer auf eine Vervollständigung durch rationalistische Konzepte angewiesen. Zwar hat ein Gutteil dessen, was unter dem Stichwort ‚Kultursoziologie‘ auftritt, tatsächlich – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – diesen Charakter (vgl. Pettenkofer 2002); es wäre aber wünschenswert, darüber hinauszukommen. Der Gegensatz zwischen den beiden Perspektiven ist eher der folgende: Indem die kultursoziologische Perspektive die Pluralität möglicher Verstehens- und Entscheidungsregeln herausarbeitet, geht sie in eine andere Richtung als eine Perspektive, die entweder eine einzige universelle Regel unterstellt oder jedenfalls einen bestimmten Regeltyp radikal privilegiert. Auch das etwaige dominante Auftreten zweckrationaler Entscheidungsregeln sollte auf seine kultursoziologische Erklärbarkeit hin betrachtet werden; vgl. bereits die kriminologische Diskussion über ‚Neutralisierungstechniken‘ (Sykes/Matza 1957). Vgl. das französische Programm der ‚sociohistoire‘ – einer ‚Sozial‘-Geschichte, die aufmerksam ist für die konstitutive Bedeutung von Kategorien – mit dem Zeitschriftenprojekt Genèses sowie die Versuche innerhalb der Systemtheorie-Diskussion, das Verhältnis von ‚Gesellschaftsstruktur‘ und ‚Semantik‘ nicht mehr mit einem Basis/Überbau-Modell zu fassen (vgl. Stäheli 1998). Für eine knappe Darstellung einschlägiger Argumente bei Heidegger, Wittgenstein und Dewey vgl. Shusterman (1991). Entsprechende Anwendungsroutinen, die für die Beteiligten gar nicht als solche thematisch werden, sind eines der Themen, die unter dem Stichwort ‚Praktiken‘ diskutiert werden (vgl. den Überblick bei Reckwitz 2003).
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ressiert, ist diese kultursoziologische Perspektive methodologisch an rekonstruktive Verfahren gebunden, die darauf ausgerichtet sind, auch ‚latente‘ Muster zu erfassen.) Damit wird auch deutlich, dass eine theoretische Aufwertung kultureller Muster nicht – wie Webers Konzept ‚wertrationalen‘ Handelns vielleicht suggeriert – dazu nötigt, eine allgemeine dauerhafte hohe Reflexivität zu unterstellen. So wird verständlicher, warum kulturelle Muster für die Beteiligten nicht nur Elemente einer Umwelt sind, an der sie sich rational orientieren, sondern die Grundlage eines Vorverständnisses, zu dem sie gerade keine starke Distanz haben. Insofern ist diese Aufmerksamkeit für das Moment des Impliziten notwendig, um die Stärke des sozialen Effekts solcher kulturellen Muster zu erkennen. – Aus dieser Aufmerksamkeit für die Rolle impliziter Vorverständnisse ergibt sich auch eine andere, weniger naturalistische Sicht auf Emotionen. Sie erscheinen nun als eine der Weisen, auf die ein Vorverständnis zum Ausdruck kommen kann, und damit auch: auf die ein kulturelles Muster seine Wirksamkeit erlangt. (Auch normative Regeln wirken weithin vermittelt über Emotionen, etwa: durch Scham, als ein moralisches Gefühl, das eine Normbindung sichtbar macht und zugleich die Wirkung der Norm erklären hilft.) Berücksichtigt man das, wird die These von der prägenden Wirkung dieser Muster auch plausibler: Sie geschieht hier zunächst ohne Explikation und Diskussion; zwar überschreiten Emotionen im Normalfall durchaus die Bewusstseinsschwelle, jedoch ohne dass die leitende Regel dabei notwendigerweise explizit wird. Insofern sollte Kultursoziologie weithin als eine Hermeneutik der Emotionen funktionieren.10 Aus diesen drei Argumentationslinien ergibt sich eine andere Einschätzung der Reichweite kultureller Regeln, und damit auch eine andere Einschätzung ihrer Wirksamkeit: Weil diese Regeln nicht nur einzelne Aspekte des Sozialen betreffen, können sie einen allgemeinen Ordnungsaufbau fördern und so dazu beitragen, dass tatsächlich heterogene Koordinationsmuster entstehen.11 Darum hilft die Aufmerksamkeit für kulturell variierende Regeln, die Bildung sozialer Entitäten zu erklären, die von spezifischen Eigendynamiken geprägt sind und auf bestimmte Umweltereignisse in einer stabilen Weise reagieren. Deshalb fordert dieser Ansatz – obwohl er vorschlägt, sich auf je konkrete, historisch spezifische Deutungsmuster einzulassen – auch nicht dazu auf, immer nur zu wiederholen, alles sei lokal, partikular und überhaupt kompliziert; auf der Ebene der Diskussion solcher Ordnungstypen sind allgemeine Aussagen über systematisch auftretende Mechanismen und typische Ereignisabläufe möglich. Ein Großteil der ‚kulturwissenschaftlichen‘ Forschung betrifft die Frage, wie sich solche kulturell konstituierten Ordnungen stabilisieren können, obwohl dem, was ihnen zugrunde liegt, keine zwingende Materialität innewohnt. Wichtig ist hier zunächst die Rolle von ‚Praktiken‘ (vgl. Reckwitz 2003) d.h. von Routinen, die stabilisierend wirken, weil sie eine Reflexion auf die tatsächlich handlungsleitenden Regeln weithin erübrigen, und weil die entsprechenden sichtbar vollzogenen Handlungen diesen Regeln Evidenz verschaffen, was auch das dazu passende Selbstverständnis der die Praktiken jeweils vollziehenden 10 11
Zur neueren soziologischen Diskussion über Emotionen vgl. Schützeichel (2006). Ausgeführt ist das, zunächst als Teiltheorie über heterogene Typen von Normsystemen, in der nun endlich auch ins Deutsche übersetzten Studie von Boltanski und Thévenot (2007). Wichtig für eine solche kulturtheoretische Perspektive ist auch die – handlungstheoretisch argumentierende, aber gleichermaßen organisationssoziologisch ausführbare – Kritik am Zweck/Mittel-Schema (Joas 1992), die sich gegen die Vorstellung richtet, für soziologische Erklärungen genüge die Vorstellung einer Rationalität, die zwar zur Umsetzung unterschiedlicher Zwecke genutzt wird (und in diesem Sinn auf unterschiedliche Weise zur Geltung kommt), für sich aber zunächst universellen Charakter hat.
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Person stabilisiert. Einschlägig ist auch die Debatte darüber, wie Riten kulturelle Muster ‚performativ‘ stützen; maßgeblich sind hier immer noch Durkheims Religionssoziologie (Durkheim 1981) und die Arbeiten von Goffman (vgl. v.a. Goffman 1971), der diesen Ansatz zu einer Analyse der nebenher mitlaufenden rituellen Dimension alltäglicher Handlungen erweitert.12 Im übrigen können die jeweiligen Überzeugungen auch deshalb eine unhinterfragte Plausibilität behalten, weil sie typischerweise vor allem präsent sind im Rahmen von Geschichten über Situationen (und darin exemplarisch agierende Personen), die Modelle erfolgreichen/erfolglosen sowie normativ richtigen/falschen Handelns bieten. Die Stabilität von Deutungsmustern hängt damit auch an der Stabilität der Erinnerung an paradigmatische Ereignisse, die diesen Mustern Evidenz verleihen.13 Das ist der systematische Ort des Themas des sozialen Gedächtnisses, wie es innerhalb der soziologischen Diskussion wiederum zunächst in Durkheims Religionssoziologie und dann vor allem in deren Fortführung durch Halbwachs (1985) zum Gegenstand wurde. Hier stellt sich dann die Frage nach den Speicher- und Verbreitungsmedien, die diese Gedächtniskommunikation stützen sowie nach den sozialen Mechanismen, die die Erfüllung von Gedächtnisfunktionen garantieren, d.h. dafür sorgen, dass – unabhängig von individuellen Erinnerungsvermögen – bestimmte Informationen gespeichert bleiben (und andere nicht) und bei bestimmten Anlässen abgerufen werden (und bei anderen nicht). Auch hier spielen, wie schon Durkheim betont, Riten eine wichtige Rolle. – Betrachtet man diese Mechanismen, dann wird auch deutlich: Wenn Organisationen eine stabilisierende Wirkung auf kulturelle Muster haben, dann nicht nur, weil sie durch ihre relative Machtposition einen Anpassungszwang ausüben können, sondern auch, weil sie als Kommunikationsräume wirken, in denen Geschichten erzählt werden, die ein soziales Gedächtnis auf Dauer stellen, und weil sie Routinen fördern, die dem entsprechenden Vorverständnis Evidenz verschaffen. Auch darum wirken Organisationen als Materialisierungen der jeweiligen Vergangenheit, mit einem hohen Beharrungsvermögen einmal eingerichteter Umweltdeutungen und Entscheidungsregeln. Die Wirksamkeit dieser beiden Typen von Mechanismen hängt weithin an einem basaleren Stabilisierungsmechanismus, der im Zentrum zahlreicher ‚kulturwissenschaftlicher‘ Arbeiten steht: das Eingehen solcher Regeln in (kollektiv geteilte, aber je individuelle) Selbstverständnisse bzw. personale Identitäten (durch ethnisierende Kategorien oder auf anderem Wege). Eine solche Verknüpfung von Regel und Identität fördert einerseits die Bindungswirkung der entsprechenden Regel unmittelbar, indem sie zusätzliche Gründe schafft, ihr zu folgen: Gemäß der Regel zu handeln, kann aufgrund dieses Selbstverständnisses unmittelbar attraktiv erscheinen; es kann aber auch den Status eines Beweises dafür erhalten, dass die jeweilige Person die gewünschte Identität tatsächlich hat (das ist zentral für den Erklärungsansatz von Webers Protestantismusstudie), oder den Status einer Selbsttechnik (Foucault 1993): eines Mittels, das geeignet ist, die gewünschte Identität zu stabilisieren bzw. erst vollständig zu erlangen. Andererseits kann eine solche Verknüpfung – da sich die Regel hier mit einer Mitgliedschaftskategorie verbindet, die auch von den Kategorisierten ernst genommen wird – den Strukturaufbau fördern: durch Netzwerke, die auf den 12 13
Goffmans Ergänzung von Durkheims Argument ist kultursoziologisch folgenreich bei Bourdieu (1984) und – in einer unglücklich naturalistischen Wendung – bei Collins (2004). Entsprechend beginnt der Evidenzverlust eines Deutungsmusters oft mit einem Streit über die richtige Beschreibung solcher Ereignisse; daher das kulturwissenschaftliche Interesse für Phänomene ‚revisionistischer‘ Geschichtsschreibung und insgesamt für ‚Geschichtspolitik‘. Diese Diskussion bezieht sich zwar meist auf ganze Nationalstaaten; das Phänomen kann aber auf ganz unterschiedlichen Ebenen eine Rolle spielen – wo es Mikropolitik gibt, gibt es auch Mikro-Geschichtspolitik.
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entsprechenden Kategorien basieren; durch räumliche Segregation gemäß diesen Kategorien, mit der folgenden Entstehung eigener Milieus; durch formale Organisationen, deren Mitgliedschaftskriterien auf solchen Kategorien basieren. Ein derartiger Strukturaufbau stabilisiert rekursiv die Wirksamkeit der Regeln, die ihn befördern; das entsprechende kulturelle Muster erzeugt auf diese Weise einen Kommunikationsraum, der es wiederum stabilisiert. Zugleich kann ein solcher Strukturaufbau den entsprechenden Kategorien eine Trennschärfe verleihen, die sie vorher gar nicht hatten. – Für die Reichweite dieser Mechanismen ist entscheidend, dass diese Verknüpfung zunächst auch ‚von außen‘ kommen und den Betroffenen aufgezwungen werden kann, ohne dass der Effekt deutlich anders ist; das ist ein Grundgedanke des kriminologischen labelling approach. Auf derartige Thesen über Stabilitätsgrundlagen kultureller Muster reagieren manche Soziologen mit ungefähr folgendem Einwand: Diese Thesen seien, aufgrund ihrer starken Annahmen über die Bindungswirkung kultureller Muster, nicht plausibel und hätten Implikationen, die sich empirisch nicht bestätigen; von ihnen ausgehend müsse man annehmen, dass die Handelnden typischerweise als ‚Kulturidioten‘ (Garfinkel) agierten – als stumpfe Regelfolger, die keinerlei Distanz zu ihrer Situation haben –, und dass auf der Ordnungsebene, entsprechend einem stilisierten Bild ‚traditionaler‘ Gesellschaften, unausweichlich kulturelle und soziale Hyperstabilität herrsche (keine Reflexivität, keine Kritik, keine Konflikte, kein kultureller Wandel). An diesen Einwand schließt typischerweise der Vorschlag an, Entstehung und Wandel kultureller Muster auf zweckgerichtete ‚Konstruktions‘Leistungen rationaler Akteure zurückzuführen, die etwa, gemäß einem derzeit prominenten Schlagwort der Nationalismusforschung, als ‚ethnische Unternehmer‘ unterwegs sind (vgl. z.B. Brubaker 2002). Dieser Vorschlag – das soll unten in der Fallskizze deutlicher werden – bleibt allerdings auf problematisch starke Annahmen über die Leistungsfähigkeit von Handlungsrationalität angewiesen und ist auch deskriptiv unergiebig.14 Die Übernahme solcher Konzepte ist auch nicht notwendig; aus den oben dargestellten Annahmen über die Bindungswirkung kultureller Muster folgt keinesfalls zwingend die Annahme einer solchen Hyperstabilität. Zunächst sind Reflexion und Kritik mit einer solchen Beschreibung durchaus vereinbar; bereits Webers Protestantismusstudie lässt sich auch als ein Argument dazu lesen, wie ein kulturelles Muster gerade Gewissheit darüber erzeugt, woran man zweifeln sollte, und dadurch Reflexivität erzeugt. (Die Einschränkung, dass dies nur Reflexivität in bestimmten Hinsichten ist, sollte man nicht überbewerten; jede Hinterfragung eines Vorverständnisses geschieht von einem anderen Vorverständnis aus, nicht: von einer Position, die von keinerlei Vorverständnis geprägt ist.15) Schon darum ist auch dort, wo ein bestimmtes Set von Regeln in stabiler Weise gilt, Konflikt möglich, was die richtige Auslegung der Regeln angeht, sowie Konkurrenz, was die ideale Befolgung der Normen bzw. die ideale Verwirklichung eines Wertes betrifft. In diese Richtung weisen etwa Webers Thesen über religiöse Konkurrenz und Bourdieus daran anknüpfendes ‚Feld‘-Konzept (vgl. Bourdieu 1993); diese Konzepte zeigen auch bereits, wie eine solche kulturell generierte Konfliktdynamik ihrerseits strukturbildend wirken kann.16 Darum kann ein solches Konzept auch 14
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Dass Soziologen, die ausgiebig ihre reflexive Distanz gegenüber kulturellen Vorverständnissen betonen, ganz unterschiedliche Phänomene mit einer ‚liberalen‘ Metaphorik des Unternehmertums beschreiben, ist ohnehin eher ungeeignet, starke Zweifel an der faktischen Bindungswirkung solcher Vorverständnisse zu wecken. Goffman (1977: 29ff.) führt das am Ende der Einleitung seines „Rahmenanalyse“-Buchs vor. Bei Bourdieu bleibt diese Analyse kultureller Dynamiken allerdings noch an ein Basis/Überbau-Modell gebunden; für einen Überblick über neuere Versuche, davon loszukommen, vgl. Kaufman (2004).
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Wandlungsprozesse denken, die etwa durch Bemühungen um Nischensuche oder Überbietung vermittelt sind. Im Übrigen impliziert die Annahme einer solchen Bindungswirkung ja keine Annahme globaler Homogenität. Hier setzen Konzepte kulturellen Wandels an, die sich auf die ‚Interaktion‘ kulturell heterogener sozialer Entitäten konzentrieren; wichtig ist etwa das Konzept eines kulturellen Wandels, der dadurch in Gang kommt, dass bestehende Kategorien auf neue Gegenstände angewandt werden, die das Kategoriensystem als Ganzes verändern.17 Zwar gibt es auf die Frage, wie Prozesse kulturellen Wandels konzeptuell zu fassen sind – welche unterschiedlichen Mechanismen sich hier beobachten lassen und wie sich diese Mechanismen zueinander verhalten –, längst noch keine vollständige Antwort. Die hier knapp angedeuteten Argumente sollten aber zeigen, dass eine Erklärung solcher Prozesse durchaus mit der Annahme vereinbar ist, dass kulturelle Muster eine starke Bindungswirkung haben.
14 Der Fall: Die Provisional Irish Republican Army und ihre Vorgeschichte Dass die Protagonisten der IRA so handeln, wie sie handeln – dass sie auf die gegebene Umwelt so und nicht anders reagieren –, liegt daran, dass ein religiöses Muster ihr Selbstund Weltverständnis prägt; nur so ist es auch zu erklären, dass die hier wirksame Ordnungsform sich herausbildet und stabil bleibt. Die Entstehung des hier wirksamen kulturellen Musters ist historisch kontingent und lässt sich durch soziologische Theorie nur begrenzt erhellen. Verzichtet man allerdings deshalb – etwa, um sich von ‚geisteswissenschaftlichen‘ Verfahren abzugrenzen – darauf, sich auf dieses Muster einzulassen, dann kann man die folgende Entwicklung kaum erklären, da die sozialen Mechanismen, die die Entwicklung der IRA antreiben, essentiell an dieses Muster gebunden sind. – Im Folgenden stelle ich zunächst die Entstehung dieses kulturellen Musters dar und zeige dann seine Relevanz an drei wesentlichen Abschnitten der nordirischen Gewalteskalation: (1) der Abspaltung der Provisional IRA, die später zum wichtigsten Akteur des ‚terroristischen‘ Engagements wird; (2) der zu diesem ‚Terrorismus‘ führenden Fortsetzung der PIRA-Aktivitäten, nachdem die Hoffnung auf eine Verhandlungslösung 1975 gescheitert ist; (3) der Hungerstreik-Kampagne 1981, die maßgeblich ist für den politischen Erfolg der PIRA seit den 80er Jahren. Um den Nutzen dieser kultursoziologischen Perspektive zu verdeutlichen, präsentiere ich sie dabei im Kontrast zu jener die Terrorismusforschung derzeit dominierenden Perspektive, die vorschlägt, ‚terroristische‘ Gewalt als Produkt eines Prozesses strategischer Interaktion zwischen staatlichen Akteuren und Protestakteuren zu erklären.18 (Es handelt sich um eine Variante eines Erklärungsansatzes, der auf die rationale Anpassung der Beteiligten an eine gegebene Umwelt abstellt und dafür die universelle Wirksamkeit einer einheitlichen Handlungsrationalität voraussetzen muss. Auch Erklärungen terroristischer Gewalt, die hier – anknüpfend an Simmel oder an eine der neueren Systemtheorien – auf eigendynamische Eskalationsprozesse verweisen, benötigen zur Stützung ihres Anspruchs, allgemeine Gesetzesaussagen zu formulieren, regelmäßig eine solche Theorie 17 18
Vgl. Sahlins (1986) – am Fall des Wandels der politisch-religiösen Ordnung auf Hawaii nach dem Erstkontakt mit der britischen Marine – und, daran anknüpfend, Sewell (2005: 197ff., 225ff.). Für eine systematische Darstellung dieses Ansatzes vgl. Waldmann (1998). In einer späteren Arbeit kommt Waldmann (2003: 120f) allerdings, ausgehend von einem Vergleich zwischen IRA und ETA, schon zu dem Ergebnis, dass das Handlungsmodell ‚Martyrium‘, das in der folgenden Fallskizze eine größere Rolle spielt, die Bereitschaft zum gewaltsamen Engagement deutlich erhöht.
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strategischer Interaktion als Mikrofundierung; vor allem dann, wenn sich nicht zeigen lässt, dass der Selektionseffekt der gegebenen Umwelt so stark ist, dass die Betroffenen unabhängig davon, welcher Handlungsregel sie folgen, fast immer gleich entscheiden werden.19) Gegen diesen Erklärungsansatz soll gezeigt werden: Zwar basiert die nordirische Gewalteskalation auf einer ‚Interaktions‘-Dynamik zwischen staatlichen Akteuren und Bewegungsorganisationen; diese Dynamik wird aber ihrerseits von einem religiös fundierten Muster angetrieben. Auch Handlungen, die im Rahmen einer ‚dünnen‘ Beschreibung schlicht allgemeinen Regeln der Zweckrationalität zu folgen scheinen, haben für die Handelnden und ihr Umfeld regelmäßig eine andere Bedeutung; darum treten sie erstens zu anderen Anlässen ein und haben zweitens, auch was den Strukturaufbau betrifft, andere Folgen, als man aus einer rationalistischen Perspektive erwarten würde. In Bezug auf die drei genannten Abschnitte bedeutet das: Bereits der Anfang des Prozesses, der in einer ‚terroristischen‘ Eskalation endet, ist nicht durch eine unterstellte universelle Zweckrationalitätsregel zu erklären. Die Umstellung auf ‚terroristische‘ Gewalt ist darum auch kein Produkt einer Habitualisierung oder einer nachträglichen identitären Aufladung eines anfangs zweckrational motivierten Handelns; umgekehrt ergibt sie sich auch nicht aus einer neuen Dominanz der Logik strategischer Interaktion. Und auch der schließlich eintretende Erfolg der Organisation ist kein Ergebnis eines entsprechenden Rationalisierungsprozesses. Stattdessen – das soll im Folgenden gezeigt werden – wird dieser Prozess durch das Ineinandergreifen von Mechanismen angetrieben, die zuerst in den Religionssoziologien von Weber und Durkheim beschrieben wurden.20
15 Der irische Nationalkatholizismus und seine gewaltaffine Variante Zunächst stelle ich das Deutungsmuster dar, das die IRA prägt, und zeichne knapp seine Entstehung nach. Dabei ergibt sich eine erste Antwort auf die Fragen, in welchem Sinn der Nordirland-Konflikt religiös grundiert ist, und warum der Verweis auf die Rolle des Katholizismus hier nicht darauf hinausläuft, eine Variation durch eine Konstante erklären zu wollen. Gezeigt werden soll zugleich, dass sich schon der – durch die Entstehung dieses spezifischen Deutungsmusters markierte – Beginn der hier interessierenden Konfliktgeschichte weder durch eine Theorie strategischer Interaktion erklären lässt noch durch einen Determinismus der gesellschaftlichen Makrostruktur. Die kulturelle Grundlage der IRA ist nicht ‚der‘ Katholizismus, sondern ein irischer Nationalkatholizismus, in dem ein religiöses Muster das geltende Verständnis nationaler Zugehörigkeit direkt anleitet; den Hintergrund bildet eine Verfolgungsgeschichte, in der der Kampf um die Rechte der ‚autochthonen‘ Bevölkerung zugleich der für die Freiheit der 19
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Darüber hinaus führt der Vorschlag, die soziale Eigendynamik, die zur Stabilisierung eines ‚terroristischen‘ Engagements führt, als Produkt einer Handlungslogik der Identitätsbehauptung zu erklären (Bette/Schimank 1999). Auch hier bietet eine kultursoziologische Ergänzung aber, wie unten gezeigt werden soll, zusätzliche Erklärungsmöglichkeiten. Unter anderem hilft sie zu erfassen, welche Deutungsmuster personale Identitäten produzieren, die besonders stark mit diesem Problem des Erhalts oder der Selbstvergewisserung konfrontiert sind; sie erleichtert auch den Verzicht auf die Annahme, dass der Beginn des entsprechenden Engagements trotzdem jeweils durch Erfolgserwartungen erklärt werden muss. Bei der Beschreibung dieser Mechanismen greife ich zurück auf Ergebnisse einer Fallstudie zum linksradikalen Protest in der alten Bundesrepublik; zu den allgemeineren theoretischen Resultaten vgl. Pettenkofer (2008).
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Ausübung des katholischen Glaubens war. Hier herrscht also keine äußerliche Beziehung zwischen ‚Religion‘ und ‚Politik‘; die Frage, ob nun ein religiöser oder ein politischer Konflikt vorliegt, ist bereits problematisch.21 Durch diese Artikulation wird ein spezifischer Typ von Regeln für politisches Handeln relevant. Das illustriert etwa der autobiographische Bericht, den die kirchenkritische Sozialistin Bernadette Devlin 1969 veröffentlicht. Er trägt den Titel The Price of My Soul; das, so erläutert Devlin, „refers not to the price for which I would be prepared to sell out, but to the price we all must pay to preserve our integrity.“ (Devlin 1969: 9) Diese religiöse Aufladung hat also nicht nur zur Folge, dass bestimmte politische Handlungen als absolut richtig gelten (und entsprechende Kompromisse mit der ‚Welt‘ als höchst problematisch erscheinen). Sie lässt für die solchermaßen Überzeugten auch ein zusätzliches individuelles Handlungsmotiv entstehen, da das entsprechende politische Engagement nun als unmittelbar relevant für die eigene ‚Seele‘ gilt. Das heißt: Die Normen, die dieses politische Handeln anleiten, sind zugleich Normen darüber, wie man überhaupt, im Innersten, insgesamt sein soll; sie sind so angelegt, dass die Frage, wie sie befolgt werden, immer zugleich Vermutungen über den Wert oder Unwert der ganzen Person impliziert. In dieser katholischen Variante bedeutet das zunächst: Die Antwort auf die Frage, was man tun muss, um diese Seele nicht zu gefährden, verweist auf politisches Engagement. Wenn das Konflikthandeln in Nordirland religiös fundiert ist, dann vor allem aufgrund dieser spezifischen Aufladung politischen Engagements (und nicht, weil eine Mehrheit unter den Beteiligten eine umfassende religiösen Dominanz angestrebt hätte, die ihm den Charakter eines Konflikts um ein unteilbares Gut verleihen würde): Dadurch, dass Normen dieses Typs diesen Status erhalten, kommen soziale Mechanismen in Gang, die nicht den Erwartungen rationalistischer Theorien entsprechen.22 Unter anderem kann für die solchermaßen Überzeugten der Beweis, dass sie tatsächlich die von diesen Normen geforderte innere Beschaffenheit haben, Vorrang gegenüber allem anderen erhalten (wobei dieser Beweis unter Umständen auch für den Handelnden nur dann glaubhaft durchgeführt werden kann, wenn er auch von anderen akzeptiert wird, so dass man es anderen beweisen muss, um es sich selbst zu beweisen). Derartige Vergewisserungsprobleme treten regelmäßig in den Vordergrund, da das, was diese Normen aufwerten, ein nicht direkt beobachtbarer innerer Zustand ist. – Ein entsprechender erfolgreicher Beweis kann aber, gemäß der Logik des ‚Martyriums‘ (‚Zeugnis‘), auch Auswirkungen auf das Handeln Dritter haben: Wird ein Aspekt eines bestimmten Handelns als Nachweis dafür akzeptiert, dass dieses Handeln aus diesem hochgeschätzten inneren Zustand heraus vollzogen wird, so kann dies als Beweis für die Richtigkeit dieses Handelns und seiner Prämisse wirken;23 damit wirkt es 21
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Wird nationale Zugehörigkeit mit einem religiösen Muster verstanden, dann leistet Religion für Politik nicht notwendig bloß eine zusätzliche nachträgliche Unterstützung ‚von außen‘; die Nation überhaupt in einer dramatischen Weise zu denken, die ihrer Idee ein solches Eigengewicht verleiht, kann bereits ein Vorverständnis erfordern, das von solchen religiösen Kategorien geprägt ist (vgl. Graf 2000). Insofern kann ein sozialer Prozess, der auf den ersten Blick als Differenzierungsschub und als Verselbständigung des Politischen erscheint, essentiell auf einem schwer auflösbaren Ineinander von ‚Religion‘ und ‚Politik‘ basieren. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Smith (2003) über die zahlreichen ‚auserwählten Völker‘ in der Entwicklung des modernen Nationalismus. Die sozialen Wirkungen der mit diesem Normtyp verbundenen Aufwertung einer nicht direkt beobachtbaren Innerlichkeit diskutiert Weber in seiner Protestantismusstudie und dann unter dem Stichwort der ‚charismatischen‘ Legitimation. Auch heute heißt es in quasi-offiziellen Darstellungen: Die Fähigkeit, das Martyrium zu ertragen, sei nicht psychologisch, sondern pneumatologisch zu erklären (vgl. etwa Christen 1992: 214). Für eine kulturgeschichtliche Perspektive auf die neuzeitliche Tradition des Martyriums vgl. Burschel (2004).
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dann auch als Aufforderung, möglichst ebenfalls so zu handeln, jedenfalls: die so Handelnden in ihrem Handeln zu unterstützen, zumindest aber: sie gewähren zu lassen. Wirklich geeignet ist dafür allerdings nur die Bereitschaft zur Selbstaufopferung; wobei diese Bereitschaft nur dann endgültig glaubhaft gemacht werden kann, wenn die Selbstaufopferung tatsächlich vollzogen wurde. Das Wissen um diese Überzeugungswirkung kann für die zu solchen Handlungen Bereiten als zusätzlicher Ansporn wirken. Da diese Normen ein Beweisproblem erzeugen, dass auf anderem Weg kaum endgültig zu lösen ist, befördern sie von sich aus bereits eine Eskalationstendenz, was die Bereitschaft zum freiwilligen Erleiden von Gewalt betrifft (vgl. Boltanski/Thévenot 2007: 402ff). Eine Bereitschaft zur eigenen Anwendung von Gewalt erzeugen sie für sich allein aber nicht.24 Das Muster, das der IRA zugrunde liegt, ist eine spezifische Sondervariante dieses Nationalkatholizismus, die im Kontext des Easter Rising 1916 entsteht, das von einer kleinen Minderheit innerhalb der nationalistischen Bewegung durchgeführt wird. Diese Variante rückt politische Gewalt in die Position des eigentlich christlichen Handelns und begreift die Guerilla-Tätigkeit als imitatio Christi.25 Tatsächlich identifiziert sich Padraic Pearse, einer der wichtigsten Protagonisten des Easter Rising, kurz vor seiner Hinrichtung öffentlich mit Christus: Am Tag seiner Hinrichtung lässt er seiner Mutter ein Gedicht mit dem Titel „A Mother Speaks“ zukommen, das sich (in der zweiten Person) an die Jungfrau Maria wendet, um sie über den Tod ihres Sohns zu trösten (vgl. Gilley 1991: 226). Das wird vom katholischen Publikum nicht als Blasphemie oder als Symptom einer Geisteskrankheit aufgenommen; über seine Kindheit im Nordirland der 50er Jahre berichtet McCann (1974: 9): „One learned, quite literally at one’s mother’s knee, that Christ had died for the human race and Patrick Pearse for the Irish section of it.“ – Komplementär zu dieser Aufwertung von Gewaltpolitik geschieht eine Abwertung parlamentarischer Politik und schließlich des politischen Redens überhaupt; einen Ausdruck davon findet man in Yeats’ The Rose Tree:26 „‚O words are lightly spoken‘,/Said Pearse to Connolly,/‚Maybe a breath of politic words/Has withered our Rose Tree;/[...] There’s nothing but our own red blood/Can make a right Rose Tree.‘“ (Yeats 1992: 179) Dieses Deutungsmuster entsteht aus einer spezifischen historischen Konjunktur heraus. In diesem Sinne ist die IRA ein Produkt des Ersten Weltkriegs.27 Hier wird europaweit die Position desjenigen Handelns, das als eigentliches christliches Handeln gelten kann, neu besetzt mit der Vorstellung, auch militärisches Engagement könne eine Form der imitatio Christi sein (vgl. Graf 2000: 310f); wobei die religiöse Aufladung der Gewaltbereitschaft nicht in erster Linie darauf basiert, dass die Tötung der Angehörigen einer bestimmten Kategorie als gottgefällig gilt, sondern darauf, dass der Gewalttäter als jemand gesehen wird, der sich für seine nationalen Nächsten aufopfert, so dass das Gewalthandeln als Teil eines Akts radikaler Nächstenliebe erscheint. Ist dieser erste Schritt der Reklassifikation vollzogen, so wird die Frage möglich, worin die richtige Form der militärischen Aufopferung für diese Nächsten besteht: in der Teilnahme am ‚Großen Krieg‘ oder in der am loka-
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Wie Sen (2006) betont, ist die in der aktuellen Diskussion beobachtbare Neigung, vom Vorliegen starker religiöser Überzeugungen auf besondere Gewaltbereitschaft zu schließen, überhaupt kurzschlüssig. Die Rechtfertigung des politischen ‚Terroristen‘ als christlichem Märtyrer taucht in anderen Kontexten schon vorher auf (vgl. z.B. Fine 1999); in diesem irischen Kontext ist sie aber neu. Der Rosenstrauch ist eine geläufige Metapher für die irische Nation. Zu diesem Kontext vgl. ausführlich Hennesey (1998).
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len Guerillakrieg.28 Der militärisch ganz erfolglose Osteraufstand hat einen starken kulturellen Effekt: Er beglaubigt eine Reklassifikation, mit der das Guerilla-Engagement diese Position besetzt (und bildet insofern ein Ereignis des Typs, den Sahlin und Sewell bei ihren Überlegungen zum kulturellen Wandel im Blick haben). Damit erzeugt er im Publikum zugleich ein schlechtes Gewissen, das es deutlich erschwert, über Politik in Kategorien von Austauschbeziehungen nachzudenken.29 Dabei wird dieser Prozess zwar, wie es den Erwartungen der neueren Nationalismusforschung entspricht, von Angehörigen einer intellektuellen Elite planvoll vorangetrieben. Trotzdem lässt sich diese wesentliche Reklassifikation nicht einfach auf zweckrationale Kalküle ‚ethnischer Unternehmer‘ zurückführen. Zwar könnte man zunächst annehmen, dass das katholische Deutungsmuster, da es – in dieser Konjunktur – einen Möglichkeitsraum des Umbesetzens von Positionen eröffnet, schlicht eine Gelegenheitsstruktur erzeugt, die die Protagonisten des Easter Rising strategisch nutzen. Erstens setzt der Ablauf aber voraus, dass das Publikum an die entsprechenden Normen tatsächlich gebunden ist. Der Aufstand hatte von vornherein – schon weil sich die Befürworter des bewaffneten Kampfs in einer extremen Minderheitenposition befanden – kaum Erfolgsaussichten; das wurde von den Protagonisten auch in Rechnung gestellt. Dieser Plan, einen zum Scheitern verurteilten bewaffneten Aufstand durchzuführen, um andere zum bewaffneten Kampf zu motivieren, klingt zunächst wenig erfolgversprechend. Sein Erfolg setzt voraus, dass das Publikum das Handlungsmodell ‚Martyrium‘ akzeptiert, dem zufolge die Person, die für eine Überzeugung den Tod auf sich nimmt, nicht nur die subjektive Festigkeit, sondern auch die Richtigkeit dieser Überzeugung beweist und damit anderen einen neuen Grund gibt, ebenfalls gemäß dieser Überzeugung zu handeln. Nur aufgrund der entsprechenden Aufwertung der Innerlichkeit kann die Niederlage motivierend wirken: Geschieht das Engagement trotz erkennbar schlechter Aussichten, ist es besonders geeignet, die Stärke des hochgeschätzten inneren Zustands zu belegen.30 Zweitens zeigt die Bereitschaft der Protagonisten, dafür ihr Leben zu beenden, dass das nationalkatholische Deutungsmuster für sie nicht Teil einer Umwelt war, gegenüber der sie eine opportunistische Haltung einnahmen, sondern ihr Selbst- und Weltverständnis unmittelbar anleitete. Die Figur der ‚Seele‘ ist auch hier wesentlich; kurz vor dem Easter Rising äußert sich James Connolly, der prominenteste Vertreter des sozialistischen Flügels der Aufständischen, folgendermaßen: „[B]efore a nation can be reduced to slavery its soul must have been cowed, intimidated or corrupted by the oppressor. [...] The unconquered soul asserts itself, and declares its sanctity to be more important than the interests of the body; the conquered soul ever pleads first that the body may be saved even if the soul is damned. For generations this conflict between the sanctity of the soul and the interests of the body have been waged in Ireland. The soul of Ireland pleaded revolution, declared that no bloodletting could be as disastrous as a cowardly acceptance of the rule of the conqueror.“ (zit. bei Hennesey 1998: 128f)
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Auch Pearse formuliert seine Märtyrer-Rhetorik zuerst in Bezug auf die – von ihm zunächst gelobte – irische Beteiligung am Ersten Weltkrieg (vgl. Jeffery 2000: 24). Vgl. hier nochmals Yeats (Sixteen Dead Men), der die emotional überwältigende Präsenz der nach dem Aufstand Hingerichteten mit einem durchaus ambivalenten Bild beschreibt: „O but we talked at large before/The sixteen men were shot,/But who can talk of give and take,/What should be and what not/While those dead men are loitering there/To stir the boiling pot?“ (Yeats 1992: 178). Zur Rolle dieses Deutungsmusters für den Erfolg von Pearse vgl. Gilley (1991: 229).
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Hier kann man sehen, wie die Figur der ‚Seele‘ – da sie die Möglichkeit bietet, eine polar gefasste Leib/Seele-Unterscheidung einzuführen – die Aufforderung erleichtert, das Erleiden physischer Gewalt auf sich zu nehmen, und damit auch die Aufforderung zu einem aktiven Gewalthandeln erleichtert, das die Handelnden als moralisch höherwertig begreifen können. Dieser kulturelle Wandel lässt sich auch nicht auf eine vorgängige soziale Makrostruktur zurückführen. Zwar wird diese Neubesetzung durch ein spezifisches Differenzierungsmuster – durch eine besonders enge Artikulation von ‚Religion‘ und ‚Politik‘ – befördert. Zunächst ist der hier interessierende kulturelle Wandel aber nicht (‚sozialhistorisch‘) durch eine vorgängige ‚materielle‘ Veränderung der Differenzierungsstruktur zu erklären, sondern allein durch eine partikulare Konjunktur und ein aus ihr heraus eintretendes kontingentes Ereignis. Auch wenn in der Selbsterzählung des irischen Nationalismus rasch von einer jahrhundertelangen Kontinuität des nationalistischen Märtyrertums die Rede ist, entsteht dieser Aspekt der Erzählung doch erst nach diesem Ereignis: „It was 1916 that facilitated the retrospective ordering of earlier rebellions into a cumulative sequence of inspirational defeats.“ (McBride 2001, 36) Erst durch diese Reklassifikation können diese Geschehnisse allesamt in diese Kategorie eingeordnet werden, so dass sie einerseits als Teile einer kontinuierlichen Geschichte erscheinen und andererseits eindeutig bewertet werden, weshalb sie nun in dieser Selbsterzählung eine zentrale Rolle spielen können. Vor allem aber erlangt dieses kulturelle Muster seine soziale Stabilität, aber auch seine spezifische, im späteren Konflikt wirksame Form durch eine Entwicklung, die erst mit dieser Reklassifikation beginnt: Das Deutungsmuster, das durch diese Reklassifikation entsteht, setzt eine Dynamik in Gang, die eigenständig strukturbildend wirkt und deren Ergebnis sich nicht einfach auf die vorgängige Differenzierungsstruktur zurückführen lässt; wobei sich das Deutungsmuster durch diese Dynamik selbst nochmals verändert. Der entscheidende Wendepunkt ist der mit dem Ende des Guerillakriegs gegen den britischen Staat beginnende Streit innerhalb von Sinn Fein darüber, ob das britische Angebot einer Teilung Irlands angenommen werden soll, insbesondere aber: ob ein Treueeid gegenüber dem neuen „Irish Free State“ akzeptiert werden könne, obwohl dieser Staat Teil des British Commonwealth sein würde. Darüber kommt es 1921 zu einer ersten Spaltung von Sinn Fein, mit der Folge des irischen Bürgerkriegs. Die unterlegene „Anti-Treaty IRA“ spaltet sich 1927 nochmals: Während eine Fraktion beschließt, doch in das nach der vollzogenen Teilung entstandene südirische Parlament einzuziehen, lehnt die andere Fraktion dieses Parlament weiterhin ab. – Dass der interne Konflikt unter den irischen Nationalisten so und nicht anders verläuft, geht wesentlich auf das mit dem Easter Rising entstandene Deutungsmuster zurück; die Ablehnung der angebotenen Kompromisse wird durch die religiöse Aufladung des politischen Engagements begünstigt, die bestimmte Ziele aus dem Bereich des Verhandelbaren herausnimmt. Über die Abspaltungen wirkt das Muster organisationsbildend und stabilisiert sich schließlich in derjenigen IRA, von der sich später die „Provisional IRA“ abspaltet; wobei diese Organisation nicht als ein – zunächst ‚kulturfreier‘ – materieller ‚Träger‘ des kulturellen Musters begriffen werden sollte, da sie auf einer Koordinationsform aufbaut, die gerade durch dieses Muster angeleitet wird. Mit dieser Abspaltung wird das Deutungsmuster seinerseits verändert. Erstens wird es schlicht strenger. Der Abspaltungsprozess hat auch den Charakter einer Kirche/SekteDynamik: eines Polarisierungsprozesses, in dem diejenige Fraktion, die für die Beibehaltung der Organisationstradition und gegen die Übernahme in der Umwelt geltender Krite-
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rien votiert, ihre Reinheitsnormen immer rigider fasst.31 Zweitens wird die innerhalb dieses Deutungsmusters offene Position derjenigen Handlungsweisen, die als inakzeptable Kompromisse mit der ‚Welt‘ gelten (oder jedenfalls solche Kompromisse nach sich zu ziehen drohen), konkreter besetzt: In der Organisation gilt nun ein noch gesteigertes Misstrauen gegenüber dem britischen Staat, gegenüber dem Parlamentarismus und schließlich allgemein gegenüber ‚Politik‘ (verstanden als Gegenbegriff zur direkten militärischen Aktion). Über die nun im Gedächtnis des republikanischen Milieus gespeicherte Reinheitsregel schreibt das ehemalige IRA-Mitglied Maria McGuire (1973: 110f): „For a long time the word ‚politics‘ had been a dirty one for the movement. Politics meant compromise, sell-out: the sell-out of 1921, when one faction of Sinn Fein had signed the treaty with the British which accepted the partition of Ireland; the sell-out of 1927, when Eamonn de Valera, who had led the faction of Sinn Fein which refused to accept the treaty, then took his supporters back into the Irish parliament.“32 Das Organisationsgedächtnis stützt, mit einer ‚Niewieder‘-Regel, jeweils das Misstrauen, ob nicht gerade ein falscher Kompromiss eingegangen wird. Zugleich entsteht damit ein konkreteres Verständnis des richtigen Handelns; nicht nur das Easter Rising, sondern auch die Abspaltungen wirken nun als Modellfälle, aus denen jeweils Lehren für gegenwärtige Entscheidungen gezogen werden sollen. Solange der Konflikt anhält, gelten diese Ereignisse dauerhaft als unmittelbar zur Gegenwart.33 Drittens lockert sich die Bindung an die katholische Kirche, bei fortbestehender Bindung an einen nach eigenen Kriterien verstandenen Katholizismus. Die Kritik, die die Kirchenhierarchie an den genannten Entwicklungen formuliert, führt – da das Muster bereits fest institutionalisiert ist – nicht dazu, dass die militanten Nationalisten einlenken; sie entwickeln stattdessen eine eigene Rechtfertigung. McGuire (1973: 72) berichtet: „Ruari O Bradaigh“ – Präsident von Sinn Fein – „believed he had direct contact with God – and this was a position many Provisionals had to adopt because of their constant feuding with the Catholic Church.“ Die Kritik von kirchlicher Seite führt also zu einer Art Protestantisierung der PIRA, was höhere Autonomie gegenüber der Kirche bei gleichzeitigem Festhalten der religiösen Fundierung erlaubt; auch das stabilisiert die Gewaltpolitik.34 (Dass die Kirchenhierarchie auf diese nationalistische Bewegung nur begrenzt Einfluss hat, bedeutet also durchaus nicht, dass für diese Bewegung Religion eigentlich keine Rolle spielt.) Grundlegend für die Wirksamkeit dieses Deutungsmusters ist die Stabilisierung eines republikanischen Milieus, in das die Organisation eingebettet bleibt; die republikanischen Normen und das sie stützende Gedächtnis werden durch lokale Kommunikationszusammenhänge in der Umwelt der Organisation auf Dauer gestellt (vgl. auch Waldmann 2003). Entscheidend dafür sind eine je familieninterne Tradierung (vgl. White 1993) und eine räumliche Segregation, die einerseits von ethnischen Kategorien angetrieben wird, anderer31 32
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Zum Konzept der Kirche/Sekte-Dynamik vgl. Tyrell (2003: 216ff). Das trägt dazu bei, dass Sinn Fein sich bis 1981 auch innerhalb Irlands auf eine ‚abstentionistische‘ Beteiligung an Wahlen beschränkt d.h. von vornherein ankündigt, dass gewählte Listenmitglieder nicht in das Parlament einziehen werden, in das sie gewählt wurden. Halbwachs (1985: 91) verwendet für solche Phänomene den Begriff des ‚religiösen kollektiven Gedächtnisses‘: Bestimmte Erinnerungen werden ‚aus der Zeit herausgenommen‘ und erhalten den Status hochstabiler Referenzpunkte, die zu jeder Gegenwart gleich unmittelbar sind und die Deutung aller künftigen Ereignisse anleiten. Entsprechend berichtet ein Pfarrer im Interview, dass PIRA-Mitglieder bei der Beichte zwar einen Ehebruch erwähnen, jedoch nicht die Teilnahme an politischen Tötungshandlungen, weil sie darin keine Sünde sehen (Dillon 1998: 148) – was aber eben nicht bedeutet, dass die Unterscheidung sündhaft/nicht sündhaft nicht an Bedeutung verloren hat.
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seits diese Kategorien wiederum verfestigt (vgl. Feldman 1991: 26). Die Stabilität des Musters wird aber auch aktiv durch Riten gefördert. Wichtig sind die ‚republikanischen‘ Begräbnisse derer, die bei IRA-Aktionen zu Tode kommen.35 Diese Zeremonien, die den katholischen Ritus mit der Form des militärischen Begräbnisses verbinden, feiern im Rahmen der Totenehrung immer auch die von der IRA repräsentierte Verknüpfung von Katholizismus und politischer Gewalt; sie sorgen also dafür, dass die oben beschriebene Reklassifikation sinnfällig bleibt (und geben damit ein Beispiel dafür, wie Praktiken Deutungsmuster stabilisieren können). Im Übrigen ist das keine rein endogene Stabilisierung: Letztlich garantiert das Fortdauern des Konflikts die enge Artikulation von Katholizismus und gewaltbereitem Nationalismus. – Das hier institutionalisierte Muster trägt erheblich zur Gewalteskalation im Nordirland der 70er und 80er Jahre bei; das soll im folgenden an drei Abschnitten dieses Eskalationsprozesses knapp gezeigt werden.
16 Die Abspaltung der Provisional Irish Republican Army und die Entstehung eines Protestfeldes Die Organisation, die Anfang der 70er Jahre die erneute Hinwendung zur Gewaltpolitik vollzieht (und die gemeint ist, wenn heute von der IRA geredet wird), ist bekanntlich eine Abspaltung, die als „Provisional IRA“ (PIRA) auftritt; um die Hinwendung zu ‚terroristischen‘ Praktiken zu erklären, muss man dieses Schisma erklären. – Am Anfang dieser Entwicklung steht gerade eine Abkehr von politischer Gewalt: In den 60ern beginnt eine neue Protestkampagne von katholischer Seite, die sich am Modell der zeitgenössischen USBürgerrechtsbewegung orientiert und die arbeitsmarktliche und sozialpolitische Diskriminierung von Katholiken anprangert (dazu Purdie 1990). Diese Kampagne wird anfangs, auf sehr moderate Weise, von Organisationen der älteren nordirischen Linken durchgeführt, unter indirekter Beteiligung der IRA, die Anfang der 60er eine marxistische Wendung unternimmt und dabei ihr Gewaltprogramm zunächst aufgibt. Vor allem Studenten und Schüler übernehmen aus dem ‚Bürgerrechts‘-Repertoire dann auch die Protestform des gewaltfreien Protestmarschs.36 Darauf reagieren protestantische Gruppen, unter Duldung bzw. aktiver Beteiligung der nordirischen Polizei, zunehmend gewaltsam; nach einer ersten Eskalation in Derry kommt es 1969 vor allem in Belfast zu massiven Ausschreitungen, bei denen Katholiken aus ‚gemischten‘ Vierteln vertrieben werden, mit einer enormen Flüchtlingsbewegung nach Südirland. Die britische Armee, die diese Ausschreitungen zunächst bremst, scheint sich schließlich auf die Seite der protestantischen Angreifer zu stellen und diese zu unterstützen. Diese Angriffe motivieren die Abspaltung der PIRA, die für eine verstärkte Rückkehr zur Gewaltpolitik plädiert. Gegen den Vorschlag, diese Organisationsgründung als unmittelbare (oder nur durch universelle Rationalitätsregeln vermittelte) Reaktion auf die protestantische Gewalt zu erklären, spricht zunächst, dass aus dieser Situation noch eine zweite, ein Jahrzehnt lang viel erfolgreichere politische Organisation entsteht: die Gewalt ablehnende, den Zugang zu den nordirischen politischen Institutionen anstrebende Social Democratic Labour Party (SDLP). Nun gibt es einen Vorschlag, die entsprechenden Unterschiede wieder als rationale 35 36
Für die Beschreibung eines solchen Begräbnisses Anfang der 90er Jahre vgl. Toolis (2000: 258ff). Für eine allerdings rationalistisch eingefärbte Analyse der Protestform der US- Bürgerrechtsbewegung vgl. Morris (1993).
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Reaktionen auf divergierende ‚objektive‘ Konflikterfahrungen zu erklären. Unter den Katholiken engagieren sich demnach vor allem diejenigen in der Gewalteskalation, die aufgrund ihrer spezifisch knappen Ressourcenausstattung (ihrer ‚Klassen‘-Position) vom Fehlen staatlichen Schutzes – hier: vor protestantischen Angriffen – besonders betroffen sind (Waldmann 1985: 213/220f). Die PIRA entsteht demnach als ‚zivilgesellschaftliche‘ Alternative für einen Bevölkerungsteil, für den wesentliche Staatsfunktionen nicht erfüllt werden (ähnlich der libanesischen Hisbollah, als parastaatliche Selbsthilfeorganisation einer auch räumlich segregierten Gruppe, die lokal eine Minderheitenvariante der Mehrheitsreligion vertritt und dafür diskriminiert wird). Allerdings lässt sich diese Art Hinwendung zur Gewalt zu diesem Zeitpunkt nicht einfach als zweckrationale Anpassung an die Situation rekonstruieren. Offensichtlich ist das für diejenige Erklärungsvariante, die ‚rationalen Egoismus‘ voraussetzt: Wären die Beteiligten nur an der Erfüllung dieser Schutzfunktion – der Bereitstellung eines öffentlichen Gutes – interessiert gewesen, hätten massive Kooperationsprobleme auftreten müssen. Aber auch wenn man den Beteiligten zusätzlich eine (eigens zu erklärende) Normbindung unterstellt, verschwindet das Problem nicht; dieses gewaltsame Engagement ist auch nicht in unproblematischer Weise ‚kollektiv‘ rational: Der Zwang zur lokalen Selbstverteidigung erklärt nicht, warum die PIRA zu offensiven Aktionen gegen das britische Militär übergeht, statt allein die Selbsthilfe der katholischen Innenstadtviertel Belfasts zu organisieren, worauf der britische Staat wohl deutlich milder reagiert hätte; auch die Ortsansässigen – die wegen dieser Aktionen eine gesteigerte staatliche Repression erdulden mussten – hätten der PIRA wohl die Unterstützung entzogen, wenn es ihnen allein um den lokalen Schutz vor Angriffen gegangen wäre. Jenseits dieses Problems des lokalen Schutzes ist zu diesem Zeitpunkt zumindest offen, ob eine Bürgerrechtsstrategie nicht mittelfristig aussichtsreicher wäre.37 Die Einschätzung, diese Gewaltpolitik sei angemessener, und die je individuelle Bereitschaft, die entsprechenden Risiken auf sich zu nehmen, erklären sich – das soll im Folgenden gezeigt werden – aus der Wirksamkeit des oben dargestellten Deutungsmusters. Bereits die vorherige marxistische Wendung der IRA erscheint, weil sie zumindest einen Aufschub von Gewaltpolitik bedeutet, aus der Sicht des Flügels, der sich später als PIRA abspaltet, als Anpassung. Das Verhalten der IRA-Führung während der protestantischen Ausschreitungen – der weitgehende Verzicht auf ‚Gegengewalt‘, das anfängliche Festhalten an der Bürgerrechts-Strategie – bestätigt diesen Eindruck; es wird als eine Wiederholung derjenigen Ereignisse wahrgenommen, die im Gedächtnis des ‚republikanischen‘ Milieus als Paradigmen falschen politischen Handelns gespeichert werden und aktiviert die institutionalisierte Abspaltungsregel.38 Die dafür ausschlaggebenden Mechanismen setzen direkt an den Selbstverhältnissen der Beteiligten an und basieren auf den Emotionen, die dieses Deutungsmuster in dieser Situation erzeugt; das ist allerdings vermittelt durch alltägliche Interaktionssituationen in Kommunikationszusammenhängen, die zur unmittelbaren Orga37
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Das gilt nicht mehr, nachdem am 30.01.1972 britische Fallschirmjäger in eine dieser Bürgerrechtsstrategie folgende Gruppe unbewaffneter Demonstranten schießen und 13 Menschen umbringen („Bloody Sunday“), und die offizielle Untersuchung zu dem Schluss kommt, dieses Vorgehen sei zwar nicht eigentlich richtig, aber doch auch nicht wirklich falsch gewesen. Zu diesem Zeitpunkt ist die PIRA aber schon konsolidiert, dieses Ereignis erklärt also nicht die Wendung zur Gewalt. Die Bindungswirkung dieser Abspaltungsregel zeigt sich auch daran, dass es schon in den vorherigen Jahren zu Schismen kam – 1951: „Saor Uladh“ („Freies Ulster“) (Dillon 1998: 164), 1967: „Saor Eire“ („Freies Irland“) (White 1993: 50) –, jeweils im Zusammenhang mit dem Vorwurf, die Organisation sei nicht mehr militant genug.
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nisationsumwelt gehören. (1) Auslöser des Bruchs ist zunächst eine sozial abgestützte Scham. Die Organisationsmitglieder werden in ihrem lokalen Milieu harsch beschimpft. Joe Cahill, eines der Gründungsmitglieder der PIRA, berichtet, er sei in seinem Viertel angespuckt worden (White 1993: 78). Ein regelmäßig auftauchendes Graffito mit dem Text „IRA = I Ran Away“ (White 1993: 78) zeigt die Wirksamkeit des oben beschriebenen Normtyps, der immer an der ganzen Person ansetzt: Die Anwohner beschimpfen die Organisation in einer Weise, die sich unmittelbar auf die Mitglieder bezieht, als käme in den Organisationsentscheidungen direkt deren je individuelle Charakterschwäche zum Ausdruck. (2) Wesentlich für diese Entwicklung sind aber auch positive Emotionen, die entstehen, nachdem dieser Abspaltungsprozess einmal in Gang gekommen ist: Vor der Gründung der PIRA liegt eine Euphorieerfahrung, die ein zusätzliches Motiv für weiteres Engagement liefert und eine positive Integrationsgrundlage für die neue Abspaltung bildet: „Everybody was livin’ on adrenaline. [...] When there was a lull, people seemed depressed. There was a great comin’ together in all the areas, people felt closer to each other because there was a common cause.“39 Wie diese Emotion mit dem institutionalisierten Deutungsmuster zusammenhängt, zeigt der Erinnerungsbericht von McCann (1974: 83); über die Zeit der Verschlechterung des Kontakts zum britischen Militär heißt es dort: „The struggle ‚against injustice‘ became, in practice, a struggle against British forces – a pattern of play which matched perfectly the old Republican idea of the way things really were – and people were almost relieved gradually to discover that the guiltily discarded tradition on which the community was founded was, after all, meaningful and immediately relevant.“ Der scheinbar paradoxe Effekt, dass eine negative politische Entwicklung positive Emotionen auslöst, geht auf eine Variante des Mechanismus ‚kollektiver Efferveszenz‘ zurück, die Durkheim in seiner Soziologie der Strafe beschreibt (vgl. auch Pettenkofer 2006): Weil die Normverletzung die Betroffenen hier dazu veranlasst, einander wechselseitig zu bestätigen, dass die Norm weiter gilt, löst sie starke positive Emotionen aus (gerade weil diese Bestätigung in ‚rituellen‘ Face-to-Face-Interaktionen geschieht); wobei entscheidend ist, dass diese Bestätigung der Tradition zugleich als Bestätigung eines je individuellen (aber kollektiv geteilten) Selbstverständnisses wirkt, das von dieser Norm getragen wird. Dieser Effekt ist umso stärker, wenn – wie hier aufgrund der marxistischen Wendung der ‚offiziellen‘ IRA – die Geltung der Norm bereits prekär schien.40 (Auch diese Emotion ist also nicht naturalistisch zu erklären; nur weil die Beteiligten die Situation in einer Weise verstehen, die durch eine kollektiv geteilte, mit lokalen Traditionen verknüpfte Sinnstruktur angeleitet wird, haben sie diese Emotionen.) Die Entscheidungsregeln, die diese Abspaltung anleiten, werden stabilisiert durch eine ‚Feld‘-Struktur, die sich in den folgenden Jahren herausbildet. Die Konkurrenz innerhalb dieses Organisationsfelds fördert die Gewalteskalation; nach einem Gewaltverzicht der 39 40
Interview mit einem Mitglied der IRA-Frauenorganisation Cumann na mBan, in: Dillon (1998: 188). Also trägt die ‚neoinstitutionalistische‘ Perspektive – in der Variante, die auf die Rolle einer global polity abstellt – zwar durchaus dazu bei, diese neue Gewalteskalation zu erklären: Am Beginn des Prozesses, in dem sich die PIRA abspaltet, steht ein transnationaler Diffusionsprozess; die lokale Aneignung der neuen Praktik ‚Bürgerrechtsprotest‘ und einer damit verbundenen marxistischen Rhetorik bietet nicht nur den Anlass für eine Gewalteskalation von protestantischer Seite, sondern verstärkt auch – als wahrgenommene Lockerung der internen Normbindung – erstens die Bereitschaft eines nationalistischen ‚harten Kerns‘ zur entsprechenden Gegenreaktion, zweitens den positiven emotionalen Effekt dieser Gegenreaktion auf das katholische Publikum. Aber die Art und Weise, auf die dieser Diffusionsprozess soziale Folgen erlangt, bleibt von einem lokalen kulturellen Muster abhängig.
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etablierten Organisationen erhalten die Abspaltungen jeweils Zulauf. Die nun als „Official IRA“ (OIRA) auftretende ehemalige Organisationsmehrheit vollzieht nach der Abspaltung der PIRA ebenfalls eine Hinwendung zur Gewalt. Nachdem die OIRA im Mai 1972 einen Waffenstillstand beschließt, gehen zahlreiche jüngere Mitglieder zur PIRA über (McGuire 1973: 118); zudem spaltet sich von der OIRA die „Irish Republican Socialist Pary“ (IRSP) mit ihrem ‚bewaffneter Arm‘ „Irish National Liberation Army“ (INLA) ab. Ein Waffenstillstand der PIRA 1975 führt zu einer Reihe von Übertritten in die INLA (Beresford 1987, 205f.). Die INLA wiederum begreift Gewalt als Lösung für das besondere Anerkennungsproblem, mit dem sie sich aufgrund ihrer geringen Größe konfrontiert sieht: Intern gelten als Mindestanforderung, um lokal als tatsächlich existierender politischer Akteur akzeptiert zu werden, „twenty-six stiffs a year, a minimal operational level of a stiff every two weeks“.41 – Darin könnte man zunächst eine Bestätigung für eine rationalistische Erklärung sehen, wie sie der Ressourcenmobilisierungsansatz der Protestforschung vertritt: Dass Bewegungsorganisationen, die in einer solchen Konkurrenzkonstellation stehen, an bestimmte Normen gebunden bleiben, läge am Zwang, Ressourcen zu mobilisieren, hier vor allem: Personal zu rekrutieren und zu halten; in einem Fall wie dem hier beobachteten ließe sich das Verhalten der Organisationen demnach durch die Befürchtung erklären, dass ein Gewaltverzicht zu einem erheblichen Mitgliederverlust und damit zum Verlust der Handlungsfähigkeit führen würde (Zald/McCarthy 1987: 164f/169), so dass sich die Wirksamkeit einer bestimmten kulturellen Norm schlicht als Folge einer nicht kulturell vermittelten Anpassung an einen materiellen Zwang erklären ließe. Tatsächlich kann die – zweifellos auch wirksame – von Nutzenkalkülen angetriebene Anpassungsdynamik aber nur in Gang kommen, weil ein Großteil der Mitglieder und potenziellen Mitglieder unmittelbar (und nicht nur im Sinne einer durch Nutzenkalküle vermittelten Anpassung) an dieses Deutungsmuster gebunden bleiben; der Mechanismus, den Theorien strategischer Interaktion hier in den Blick bekommen, ist sekundär, er setzt ein geteiltes kulturelles Muster bereits voraus. Und auch der beobachtbare Anpassungseffekt lässt sich mit einer Theorie strategischer Interaktion nur begrenzt erfassen. Zwar ist das Feld wesentlich dafür, dass das Deutungsmuster eine solche Wirkung erlangt: Diese soziale Struktur hält die normativen Kriterien nicht nur präsent, sondern lässt sie auch im Komparativ auftreten, was erst ein starkes Motiv für Überbietungsversuche erzeugt. Ein hoher Druck auf viele Mitglieder entsteht aber gerade, weil sie sich bereits an diese Normen gebunden fühlen und – aufgrund ihres kulturell konstituierten Selbstverständnisses – nun Scham empfinden; die Dynamik wechselseitiger Überbietung, die sich hier beobachten lässt, folgt weithin nicht der Logik der Ressourcenkonkurrenz, sondern der gleichen Sekten-Logik, die auch die Abspaltung der PIRA motiviert hat. Insgesamt demonstriert dieser Ablauf einen spezifischen Effekt ‚sekten‘-artiger Deutungsmuster: Die Institutionalisierung einer solchen Abspaltungsregel führt dazu, dass diejenigen Praktiken, deren Nicht-Einhaltung die Abspaltungsregel aktiviert, hochstabil bleiben. Auf diese Weise erlangen solche Muster evolutionären Erfolg: Wenn eine Organisation, die von einem solchen Muster geprägt ist, zugrunde geht oder von diesem Muster abweicht, bleibt das Muster dennoch sozial wirksam, indem es immer neue Abspaltungen mobilisiert. – Auch darum ist diese Konfliktdynamik nicht, wie manche Theorien ethnischer Konflikte nahe legen, auf eine Eigenlogik politischer Organisationen reduzierbar:
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Interview mit einem INLA-Mitglied, in: Feldman (1991: 232).
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Entscheidend für diesen Prozess ist ein kulturelles Muster, das gerade nicht der Kontrolle einer Organisation unterliegt. 17 Die Stabilisierung des gewaltsamen Engagements trotz ungünstiger Aussichten Mit einer Form der Gewaltanwendung, die zivile Opfer zumindest billigend in Kauf nimmt und im engeren Sinne ‚terroristischen‘ Charakter hat, beginnt die PIRA im Juli 1972. Im Juni war die Organisation einen Waffenstillstand eingegangen, im Juli hatte sie Verhandlungen mit dem britischen Staat begonnen; dieser hatte – nach Einschätzung der PIRA – seine Zusagen nicht eingehalten. Diese Erfahrung wiederholt sich in den nächsten Jahren; die Hoffnung, auf diesem Wege zu echten Zugeständnissen zu kommen, musste in der ersten Hälfte der 70er Jahre immer prekärer erscheinen. Die Frage ist hier: Was bringt die Organisationsmitglieder dazu, ihr Engagement in diesen Jahren weiter fortzusetzen, obwohl sie bei immer ungünstigeren Erfolgsaussichten immer höhere Risiken auf sich nehmen? Mit dem derzeit dominierenden Erklärungsansatz könnte man vermuten, dass das ‚terroristische‘ Vorgehen ein Produkt eines Prozesses strategischer Interaktion darstellt, in dem die PIRA ihre 1969 entstandenen Präferenzen nun zweckrational verfolgt. Eine Bestätigung könnte man zunächst in dem Bericht von Maria McGuire (1973) sehen, die 1971 in die PIRA eingetreten ist: Ausgangspunkt der späteren Radikalisierung ist demnach eine Strategie, die sich an erfolgreichen Kampagnen gegen die britische Kolonialmacht in Zypern und Aden orientiert (McGuire 1973: 16) und anfangs darin besteht, die wahlberechtigte lokale Bevölkerung durch Zerstörung von Eigentum zu „terrorisieren“ (McGuire 1973: 145) und dem britischen Staat einen personalaufwändigen asymmetrischen Krieg aufzuzwingen, der auch die Bevölkerung des politischen Zentrums, die ja einen Teil des Repressionspersonals stellt, direkt belastet. Die folgende Radikalisierung erscheint dann als Ergebnis des Versuchs, zum Zwecke des Reputationserhalts zu demonstrieren, dass die Repressionsstrategie, mit der dieser Staat reagiert, nichts nützt (McGuire 1973: 26), und dass es auch nichts nützen würde, anstelle der PIRA die moderatere Konkurrenzorganisation SDLP zum Verhandlungspartner zu erklären (McGuire 1973: 99ff/144). Allerdings ist McGuire, weil sie in der fortschreitenden Radikalisierung keine Erfolgschancen sah und auch sonst vor der Brutalisierung des Konflikts zurückscheute, im August 1972 aus der PIRA ausgetreten (McGuire 1973: 153ff); was bereits Zweifel daran weckt, dass die in ihrem Bericht hervorgehobenen Entscheidungsregeln die Fortsetzung dieses Engagements nach diesem Zeitpunkt gut erklären. Erklärungsbedürftig ist zunächst, wieso dieses Vorgehen den Beteiligten angemessen erschien. Das betrifft einerseits die Frage des Erfolgs: Unabhängig davon, wie taktisch klug sich die Beteiligten im Rahmen dieser Strategie verhalten, bleibt zu erklären, warum sie die ‚terroristische‘ Strategie – nachdem sich scheinbare politische Erfolge wiederholt in Luft auflösten – insgesamt für sinnvoll hielten. Es betrifft aber auch die Frage, warum diese Brutalisierung als akzeptabel galt. Hinzu kommt die Frage, warum die einzelnen Organisationsmitglieder weiterhin zu diesen Aktionen bereit waren, und warum immer wieder neue Mitglieder rekrutiert werden konnten: Die republikanischen Organisationen teilten Neurekrutierten deutlich mit, dass sie, bei sehr geringen Aussichten auf politischen Erfolg, einen frühen Tod oder lange Haft riskierten (vgl. Feldman 1991: 105, Toolis 2000: 128). Auch hier sind die beiden mit der religiösen Aufladung dieses politischen Engagements aktivierten Typen von Mechanismen entscheidend, die bereits die Abspaltung der PIRA vorangetrieben haben; man kann hier weiterhin die Wirkung eines Deutungsmusters
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verfolgen, das den Beweis über unbeobachtbare innere Eigenschaften zentral werden lässt. Exemplarisch zeigt sich das in einem Interview mit dem IRA-Aktivisten Dermot Finucane (in: Toolis 2000: 128). Auf die Frage, ob er erwartet hatte, bei seinem Engagement umzukommen, antwortet er: „I used to have this recurring scene in my head that I would be killed running a road block. But I wanted to be fully committed and I wanted to inflict casualties. You are told when you join that in all likelihood you will end up in prison or shot. It’s obvious that the more active you are, the shorter the run unless you are lucky. I remember seeing Dominic McGlinchey and Ian Millen and Francis Hughes ‚Wanted‘ posters when they were on the run as the most wanted men in Ulster, and I remember mentally saying: ‚That is what you want, you want to inflict so much damage on the enemy they want you badly.‘ There is no point in doing it Mickey Mouse style; I was always putting myself on the frontline. Looking back I now remember people holding back, shying away. I was maybe naive but I wanted the honour of doing it. I very quickly made contact with a small group of good fighters. We regarded ourselves as the best. I used to have a reputation at being good at my work, other units sent for me. I was an excellent driver even if it was a dodgy job. Militarily and politically, I have inflicted damage and I am glad.“
Er sagt also nicht, dass er nur mit geringen ‚Kosten‘ gerechnet hatte – dass etwa wegen seiner militärischen Kompetenz nur ein überschaubares Risiko bestanden hätte –, sondern beginnt mit einer Todesphantasie und schildert dann, was die Todesangst für ihn aufgewogen hat. Man könnte nun vermuten, dass hier eine altruistische Zweckorientierung handlungsleitend wirkte; schließlich wiederholt er dreimal den Wunsch, der Gegenseite ‚Verluste‘ bzw. ‚Schaden‘ zuzufügen, und auch das distanzierende Militärvokabular, in dem dieser Wunsch formuliert ist, scheint eine auf Zweckrationalität abstellende Deutung zu stützen. Ehe Finucane diesen Wunsch erwähnt, nennt er aber einen anderen Grund: „But I wanted to be fully committed“ – maßgeblich scheint der Wunsch, nicht nur etwas zu tun, sondern eine bestimmte Art Mensch zu sein. Bei der zweiten Erwähnung seines Wunsches wird dieser Identitätsbezug noch deutlicher: Finucane will ebenfalls jemand sein, der auf einem Fahndungsplakat steht, der also in dieser Identität auf eine sichtbare Weise anerkannt wird, die unstrittig werden lässt, dass er die nur indirekt beobachtbare innere Beschaffenheit, die hier als Charisma gilt („to be fully committed“), tatsächlich hat, und die damit das Vergewisserungsproblem löst, das aus der ‚charisma‘-bezogenen Rechtfertigungsform entsteht. Die im Fahndungsplakat materialisierte Anerkennung – das legt seine Formulierung „inflict so much damage on the enemy they want you badly“ nahe – liefert das Kriterium dafür, wieviel gewaltsames Engagement notwendig ist; wenn dieses Engagement durch ein Ziel gesteuert wird, dann zunächst durch das Ziel eines Identitätsbeweises. Entsprechend redet Finucane anschließend nicht, wie in einem der Selbstdarstellung dienenden Interview erwartbar, über einen Wunsch, für die gute Sache einzutreten o.ä.: seine Antwort auf die Frage, was die Todesangst aufwiegt, führt ihn stattdessen zu der Frage, was ihn von vielen anderen IRA-Mitgliedern unterscheidet: Er selbst ‚scheut nicht zurück‘. (Der intransitive Wortgebrauch deutet nochmals darauf hin, dass es hier nicht um eine rationale Orientierung an einer wechselhaften Umwelt geht, sondern um ein über sämtliche Situationen hinweg stabiles Verhaltensmerkmal.) Das Ende des Abschnitts bestätigt nochmals, dass es letztlich um Identität geht: Finucane spricht hier zwar nochmals davon, dem Gegner Schaden zuzufügen; auch wenn er sich selbst Erfolge zuschreibt, versucht er kaum, sie in einen Zusammenhang mit Erfolgen der Organisation zu bringen; als Absicht nennt er: „I wanted to inflict casualties“, als Ergebnis: „I have inflicted damage“. Das taktisch reflektierte Ge-
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walthandeln scheint nicht auf einen strategischen Rahmen zu verweisen (der – auch bei einer starken Bindung an altruistische Normen – das Engagement an Erfolgsaussichten koppeln würde); die Identität dessen zu haben, der solche Handlungen durchführt, scheint vielmehr einen hinreichenden Grund für dieses Handeln zu bieten. Die Prestigeordnung – die innerhalb der Organisation die ‚Feld‘-Struktur nochmals abbildet – erhält ihre soziale Wirkung vor allem vermittelt über diesen Identitätsbezug (wie das auch durch die Sequenz von Finucanes Antwort nahegelegt wird). Ihre jeweilige Position innerhalb dieser Ordnung wird für die Beteiligten nicht allein wegen einer allgemeinen Attraktivität sozialer Anerkennung wichtig, sondern weil diese Anerkennung die Gewissheit erlaubt, dass man der ist, der man sein will. Die Abhängigkeit der Beteiligten von dieser internen Hierarchisierung befördert die Gewaltbereitschaft, weil es ihnen nun nicht nur um die bloße Zugehörigkeit geht, sondern um den regelmäßige ‚Bewährung‘ erfordernden Positionserhalt oder Aufstieg in einer Prestigehierarchie. Die Frage nach Erfolgsaussichten und möglichen Schäden verliert auch deshalb an Gewicht, weil das auf die politische Umwelt gerichtete Engagement durch diese interne Prestigeordnung vermittelt wird. Das stützt die Autonomisierung dieses Engagements – und damit auch: der Organisation – gegenüber einer wechselhaften Konjunktur und garantiert eine stabile Gewaltbereitschaft. Selbst wenn Finucane diese Aufwertung innerer Eigenschaften hier nicht in einer explizit religiösen Sprache unternimmt und, anders als andere ‚säkulare‘ irische Nationalisten, auch auf das Vokabular der ‚Seele‘ verzichtet, zeigt sich hier doch deutlich die Struktur des oben beschriebenen Deutungsmusters. Auch die Prestigehierachie ist ein Produkt dieses Musters; wie Weber (1920: 259) betont, haben solche ‚charisma‘-bezogenen Rechtfertigungen eine intrinsische Tendenz zur Erzeugung hierarchischer Abstufungen: Aus der Vorstellung der „ungleichen religiösen Qualifikation der Menschen“ entsteht „eine Tendenz aller intensiven Religiosität zu einer Art von ständischer Gliederung gemäß den charismatischen Qualifikationsunterschieden“. Zusätzlich befördert wird dieser Effekt des Musters erstens durch den spezifischen Ursprung der PIRA: den Wunsch, der Schande zu entgehen, die die ‚offizielle‘ IRA über die republikanische Politik gebracht hat – die ‚Ehre‘, die sich Finucane wünscht, ist auch der Gegenpol zu dieser Schande. Die zum Zeitpunkt der Organisationsgründung prägenden sozial gestützten Selbstzweifel dürften hier fortwirken; die Angst vor einer Wiederholung der damaligen Schande bleibt eine der Grundlagen der PIRA. Zweitens durch die ‚Feld‘-Struktur, die ihrerseits – wie oben gesehen – ein Produkt dieses Musters ist, vor allem der in ihm enthaltenen Abspaltungsregel: Diese soziale Ordnungsform, die auf einer Konkurrenz um die eigentliche Radikalität basiert, hält die Drohung einer solchen Schande immer gegenwärtig. Auch hier wirkt zugleich ein mit positiven Emotionen verknüpfter Mechanismus stabilisierend. Das gemeinsame Bekämpfen des Feindes erzeugt Euphorie – nicht unmittelbar, während der Aktionen selbst, aber doch in den Gruppenritualen der gemeinsamen Erinnerung daran; Finucane berichtet: „I [...] know that when I have talked about operations my eyes have lit up with excitement but that is because of the company, comrades talking of when we fought the enemy, like World War One or Two battles that they have been in.“ (Toolis 2000: 185f) Hier liegt wiederum der ‚Efferveszenz‘-Mechanismus zugrunde: die Bindungswirkung einer euphorischen Gemeinsamkeitswahrnehmung, in der sich die Richtigkeit der normativen und wertförmigen Grundlagen der je eigenen Identität bestätigt. Selbst wenn beide Mechanismen darauf basieren, dass das politische Handeln der Beteiligten wesentlich auf ihre je individuelle Identität bezogen bleibt, sollte man hier keine Überwältigung der Organisation durch egoistische Mitglieder verstehen; die durch diese
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Mechanismen stabilisierte Haltung, die ein von wechselnden Gelegenheiten weithin unabhängiges Engagement motiviert, ist schließlich das, was die Organisation in diesen Jahren wesentlich trägt. Dieser Identitätsbezug stabilisiert nicht nur das Engagement eines harten Kerns gewaltbereiter Aktivisten. Zunächst scheint er auch für den externen Ressourcenzufluss eine Rolle zu spielen. Einen erheblichen Teil ihrer finanziellen Mittel hat die IRA von außerhalb Irlands erhalten, gerade von US-amerikanischen Spendern, die nicht in das lokale Konfliktgeschehen involviert waren; man könnte vermuten, dass wegen dieses größeren Abstands ein identitäres Moment hier keine Rolle spielt.42 Dass dem nicht so ist, zeigt etwa die Selbstdarstellung des kalifornischen Ex-Studentenbewegten Tom Hayden, der den Iren in sich entdeckt. Der Titel Irish on the Inside: In Search of the Soul of Irish America (2001) – der dem Titel von Bernadette Devlins politischer Autobiographie ähnelt – enthält bereits jene religiös gestützte Innen/Außen-Unterscheidung, die für den von Weber beschriebenen Mechanismus wesentlich ist, weil sie einen Bedarf an Beweishandlungen aufwirft, die das Vorliegen jenes nicht direkt beobachtbaren inneren Zustands belegen, auf den es den solchermaßen Überzeugten vor allem ankommt. Dabei verweist die Formel „the Soul of Irish America“ auf jene Verknüpfung nationaler und religiöser Zugehörigkeit, die dem nordirischen Konflikt seine besondere Härte verleiht.43 Hier wäre es also nicht sinnvoll, Erklärungen, die auf Ressourcenströme verweisen, und solche, die auf Identitäten verweisen, als einander ausschließende Alternativen zu behandeln (wie das in der Protestforschung manchmal geschieht); auch dieser Teil der Ressourcenallokation lässt sich nur erklären, wenn man die Rolle von Identitätsphänomenen in Rechnung stellt. Zwar ist die Art der Selbstvergewisserung, von der Hayden berichtet, deutlich weniger riskant und darum auch deutlich weniger erklärungsbedürftig; interessant ist aber, dass das Deutungsmuster auch ohne die Stützung durch einen sich dauernd aufdrängenden lokalen Konflikt seine Wirkungsmächtigkeit nicht verliert. Auch der Umstand, dass das nahe Umfeld – diejenigen, die zunächst nicht selbst für die Organisation engagiert sind – die Richtigkeit dieses Engagements trotz der hohen individuellen ‚Kosten‘ oft gerade nicht in Frage stellt, hat mit diesem Deutungsmuster zu tun. So berichtet die Mutter eines PIRA-Aktivisten, der bei dem Versuch, eine Bombe zu legen, durch seinen eigenen Sprengsatz zu Tode gekommen war: „Afterwards I did not want to get involved but then I felt I had to do something. Frankie was one of their family. So last Easter I carried a wreath commemorating one of the hunger-strikers during one of the Republican parades. I felt if I didn’t I was betraing him.“ (Interview, in: Toolis 2000: 286) Zwar mag hier ein Wunsch nach Sinnstiftung zum Ausdruck kommen, der in solchen Situationen vielleicht universell ist: Der Tod der nahestehenden Person kann nicht sinnlos gewesen sein, also können auch die Überzeugungen dieser Person, die für diesen Tod mitursächlich waren, nicht falsch gewesen sein – also muss man sich auch in dieser Weise engagieren, da man sonst gar nicht sicher sein kann, ob man wirklich so denkt. Aber dass sich die42 43
Das entspricht den Annahmen des Ressourcenmobilisierungsansatzes über die typischen Merkmale einer solchen ‚externen‘ Ressourcenmobilisierung (Zald/McCarthy 1987). In seiner Rezension von Haydens Buch vermutet Buruma (2002: 14), dass dieser identitäre Mechanismus solche Mobilisierungen regelmäßig fördert: „There are Sikhs in Toronto, Muslims in Britain and France, Jews in Brooklyn, and many others in far-flung places who seek to sooth ancestral voices by encouraging barbarism far from home. Some are prepared to die for their causes. Most are content to let others do the dying, while they work on their identities at home.“ Zur Bedeutung ethnischer Diasporas für gewalttätige Bewegungsorganisationen vgl. Radtke und Schlichte (2004).
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ser Sinnstiftungswunsch hier so gut erfüllen lässt, wird zweifellos begünstigt durch ein Vorverständnis, das geprägt ist vom Märtyrer-Schema, hier: von der Vorstellung, dass eine Person, die für ihre Überzeugungen stirbt, damit auch die Richtigkeit dieser Überzeugungen beglaubigen kann. Unter diesen kulturellen Prämissen kann auch harte Repression – statt, wie es rationalistische Modelle erwarten, vom Engagement abzuschrecken –, gerade die Diffusion des Deutungsmusters befördern, das das Handeln der Personen anleitete, die der Repression zum Opfer gefallen sind.
18 Der Hungerstreik 1981 und der neue Erfolg von PIRA und Sinn Fein Der dritte entscheidende Wendepunkt besteht im Anfang der 80er einsetzenden neuen Erfolg von PIRA und Sinn Fein, die nun auch beginnen, die SDLP bei Wahlen hinter sich zu lassen. Ausgangspunkt dieses Erfolgs ist der Hungerstreik, den IRA- und INLA-Häftlinge 1981 durchführen, um die Beibehaltung eines Quasi-Kriegsgefangenenstatus durchzusetzen, und bei dem zehn der Beteiligten zu Tode kommen; er befördert einerseits die Hinwendung zur nicht-‚abstentionistischen‘ Wahlbeteiligung, andererseits die breite Rekrutierung eines gewaltbereiten Personals, und ermöglicht dadurch eine neue Doppelstrategie, die Gewalt und parlamentarische Politik verbindet („Armalite and Ballot Box“). Eine Erklärung des politischen Erfolgs der IRA in den 80er Jahren erfordert also eine Erklärung für den Verlauf des Hungerstreiks. An diesem Fall zeigt sich besonders deutlich, wie kulturalistische und instrumentalistische Ansätze einander unfruchtbar gegenüberstehen: Eine prominente Sichtweise begreift den Hungerstreik als irrationales Ausagieren der lokalen Tradition und den teilnehmenden IRA-Häftling als suizidale Extremform des Kulturidioten.44 Darauf reagiert eine andere Perspektive – die in solchen Behauptungen ein Zeichen für den insgesamt irreführenden Charakter kulturtheoretischer Erklärungen sieht – mit Versuchen, den Hungerstreik strikt rationalistisch zu deuten: als Schachzug innerhalb eines Prozesses strategischer Interaktion zwischen der IRA und dem britischen Staat.45 Diese Perspektive lenkt die Aufmerksamkeit auf den zweckrationalen Aspekt des Kampfs um den Kriegsgefangenenstatus: Die neuen Bemühungen, republikanische Häftlinge als ‚gewöhnliche Kriminelle‘ zu behandeln, lief auf eine Diskreditierung hinaus, die zu einem Legitimitätsverlust der Organisation führen konnte. Auch wenn die PIRA zweifellos den Hungerstreik innerhalb eines solchen Prozesses strategischer Interaktion nutzt, bleibt zu diskutieren, wieviel von diesem Ablauf dadurch zu erklären ist. Fraglich ist zunächst, ob die Logik strategischer Interaktion den Willen der Beteiligten zur Selbstaufopferung erklärt: Sie konnten im Verlauf des Streiks immer weniger damit rechnen zu überleben, ohne dabei auch nur einen sicheren politischen Nutzen erwarten zu können – ein kurz zuvor beendeter Hungerstreik von IRA-Häftlingen hatte keine Zugeständnisse erbracht.46 44
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So schreibt O’Malley (1990: 117, zit. bei McGarry/O’Leary 1995: 239f): „Their actions, ultimately, were not the actions of autonomous individuals, but rather a reflexive embrace of the way in which political prisoners throughout Irish history were presumed to have behaved. Their self-images […] impaired their ability to act independently and diminished their capacity to act on their own behalf.“ Vgl. Biggs (2007), der sich allerdings auf die Zeit bis 1923 konzentriert. Ähnlich wie bei ‚Selbstmord‘-Anschlägen liegt die Schwierigkeit hier weniger darin zu zeigen, inwiefern solche Aktionen aus der Sicht einer Organisation rational erscheinen können, als darin zu zeigen, warum die unmittelbar Beteiligten bereit sind, solche Aktionen durchzuführen.
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Auch hier scheint das oben dargestellte Deutungsmuster entscheidend. Zunächst wird die gefängnisinterne Dynamik, die im Hungerstreik endet, von diesem Muster angetrieben. – Eine Erklärung des Hungerstreiks sollte die spezifische Situation derer berücksichtigen, die ihn tatsächlich durchführen (dazu Feldman 1991). Die Häftlinge wurden durch die Einsperrung durchaus nicht aus dem Konflikt herausgenommen. Vielmehr erzeugt das Gefängnis eine gesteigerte Repressionserfahrung, mit systematischen Demütigungen; die IRA reagierte einerseits, indem sie außerhalb der Mauern Gefängniswärter umbringt, deren Namen sie von den Häftlingen erhält, andererseits mit einem eskalierenden gefängnisinternen Protest. Der Hungerstreik ist die letzte Stufe dieser Eskalation; voraus gehen ihm die Weigerung, Gefängniskleidung zu tragen („blanket protest“), und die, sich zu waschen und die Toiletten zu benutzen („dirty protest“). Der „dirty protest“, bei dem die Häftlinge ihre Zellenwände dauerhaft mit Exkrementen beschmieren, bildet hier einen Wendepunkt: Hier beginnt sich das Verhältnis der Teilnehmer zu ihren eigenen Körpern zu ändern; der eigene Körper kann nun, distanziert, als Waffe begriffen werden (Feldman 1991: 179). Ein Vertreter des Standardmodells könnte nun vorschlagen, diese Eskalation ebenfalls als Produkt eines Prozesses strategischer Interaktion zu erklären. Der ‚dirty protest‘ erschiene dann als Versuch, die Gegner zum Einlenken zu bringen, da er einerseits Indifferenz gegenüber Repressionsversuchen demonstriert und sinnfällig macht, dass die angestrebte ‚Normalisierung‘ so nicht erreicht wird, andererseits als Sanktion für das Gefängnispersonal wirkt, das durch ihn zu einer Gruppe von Personen wird, die zunächst nach Exkrementen riechen.47 Die anschließende Entscheidung für den Hungerstreik wäre dann als rationale Nutzung einer besonders knappen Ressourcenausstattung zu erklären: Die Häftlinge setzen ihre Körper als Waffen ein, weil sie sonst nichts mehr haben.48 Die Frage, warum sie auf die gefängnisinterne Repression so und nicht anders reagieren – warum sie also die Eskalation nicht zu einem früheren Zeitpunkt abbrechen, sondern bereitwillig diese Kosten übernehmen –, würde damit aber nicht beantwortet; zumal die meisten Teilnehmer keine sehr langen Haftstrafen vor sich hatten, so dass man nicht einfach argumentieren kann, sie seien ohnehin verzweifelt gewesen. Was dieses Engagement antreibt, lässt sich besser erkennen, wenn man die von Feldman erfassten Berichte über das Erleben des Gefängnisalltags ansieht. Sie zeigen zunächst, dass der ‚dirty protest‘ eine spezifische Reaktion auf gefängnisinterne Repressionserfahrungen darstellt; wesentlich ist hier die lokale Praxis der Leibesvisitation (‚mirror search‘), die von den Häftlingen als die extremste Ausprägung dieser Repression empfunden wird. Ein ehemaliger Häftling, der einen direkten Zusammenhang zwischen der Demütigung durch die ‚mirror search‘ und dem Beginn des dirty protest herstellt, beschreibt diese Praxis folgendermaßen: „[…] you were squatting over the mirror. They parted the cheeks of the arse and looked up them and all the rest. You always got the screw [Wärter] who stuck his finger up your arse, and they said to ye, ‘Open your mouth,’ to see if anything was there. And the screw used the same finger into your mouth, this same shitty finger searched your nose, your ears, and searched your beard. All with the same finger. Some of them went to the extreme, and this is true as fuck, to search below the foreskin. […] It was all just to fuck guys about trying to break them.”49 47 48 49
Vgl. das Interview mit einem ehemaligen Gefängnissozialarbeiter in: Feldman (1991: 193). So scheinen Brubaker und Laitin (1998: 445) Feldmans Analyse zu reinterpretieren. Interview mit einem INLA-Mitglied, in: Feldman (1991: 167); eine ähnliche Beschreibung in: Aretxaga (1995: 127).
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Warum diese Erfahrung zu dieser Reaktion führt, lässt sich – über Feldmans eigene Deutung hinaus – besser verstehen, wenn man zunächst an Honneths Analyse der Folter anknüpft (Honneth 1992: 214f) und dabei ansetzt, dass die ‚mirror search‘ als radikale Missachtung wirkt, also: als Angriff auf das Selbstverhältnis der Häftlinge. Das zitierte Interview zeigt, dass sie in eine Situation gezwungen werden, in der sie den eigenen Körper als Quelle von Ekel erleben müssen. Eine an die obige Betrachtung des hier wirksamen Deutungsmusters anknüpfende Hypothese wäre: Ihr folgendes Protesthandeln ist wesentlich durch den Versuch motiviert, die eigene Selbstachtung wiederzugewinnen (so dass das Problem der personalen Identität hier nicht bloß insofern berührt ist, als sich die Häftlinge um einen als Mittel zum Zweck verstandenen Reputationserhalt bemühen); und schon deshalb handeln die Hungerstreikenden nicht als Marionetten ihrer Organisationen. Kulturell variabel sind aber nun nicht nur die (ein möglicherweise universelles Anerkennungsbedürfnis konkretisierenden) jeweiligen Anerkennungsansprüche (dazu Sutterlüty 2004), sondern auch die Regeln, die festlegen, welches Handeln geeignet ist, Selbstachtung wieder zu rechtfertigen. Dass die Beteiligten in diesem Fall auf diese Demütigungen so reagieren, wird durch ein Klassifikationsschema befördert, das – ausgehend eben von der Idee der ‚Seele‘– eine harte Grenze zwischen ‚Körper‘ und ‚Geist‘ zieht und dazu auffordert, in Krisensituationen diese Grenze auch praktisch zu affirmieren. Die Instrumentalität, die sich hier beobachten lässt, erscheint also in zweierlei Hinsicht als nachträglich: Sie basiert auf einer Distanz der Beteiligten zu ihren eigenen Körpern, deren Grundlage nicht in einer universellen Rationalität, sondern in einem religiösen Klassifikationsschema besteht; und das entsprechende Handeln hat für die Beteiligten noch einen anderen, eigenständig motivierenden Sinn über seinen strategischen Sinn hinaus (und auch über den Versuch hinaus, einer Norm zu folgen, die zur Anwendung solcher Strategien auffordert); es wirkt für sie auch als asketische Praktik, die auf eine Missachtungserfahrung reagiert.50 Darum scheitert hier der Versuch, die kulturelle Dimension über ein Zweck/Mittel-Schema in eine rationalistische Erklärung zu integrieren mit der Formel, Kultur erkläre ‚Präferenzen‘, eine universelle Rationalität erkläre die Wahl der Mittel:51 Dass diese ‚Präferenzen‘ in dieser Situation auf diese Weise umgesetzt werden, ist nur durch eine Handlungslogik zu erklären, die sich mit dem Zweck/Mittel-Schema nur ganz unvollständig erfassen lässt. Das Deutungsmuster, das den Hungerstreik anleitet, prägt aber auch einen erheblichen Teil des katholischen Publikums; das ist für den Ablauf entscheidend.52 Dieser Teil des Publikums versteht die Praktik des Hungerstreiks nicht so, wie das die beiden eingangs erwähnten konkurrierenden Erklärungen nahelegen: weder als Ausdruck eines Wahnsinns, der bestenfalls Nachsicht gebietet, noch als zweckrationale, möglicherweise auf einer Manipulation der Teilnehmer basierende Erpressungsstrategie. Vielmehr gilt der Hungerstreik 50
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Das dürfte überhaupt ein möglicher Weg sein, auf dem die Bereitschaft zu politischen ‚Selbstmord‘Aktionen entsteht: Erstens findet eine Repression statt, die auf starken, am Körper ansetzenden Demütigungen basiert und darum das Verhältnis der Adressaten zu ihrem je eigenen Körper verändert; zweitens wird das Selbstverständnis der Adressaten dieser Repression von einem Schema angeleitet, das mit einer Leib/Seele-Unterscheidung (oder einer strukturell ähnlichen Unterscheidung) operiert und darum zur Überwindung dieser Demütigungserfahrung eine solche Reaktion nahelegt. Für den Hungerstreik schlagen McGarry und O’Leary (1995: 248) eine solche Erklärung vor. Schon deshalb lässt sich dieser Ablauf nicht dadurch wieder in eine (erweiterte) Theorie strategischer Interaktion integrieren, dass man das unter den Häftlingen wirksame Deutungsmuster als Nebenprodukt einer Isolation deutet, in die sie sich durch ihre Strategie selbst bringen (d.h. als eine ungeplante Nebenfolge planvollen Handelns). Für eine Darstellung dieser in der Terrorismusforschung immer wieder genutzten Argumentationsfigur vgl. Waldmann (1998: 163ff).
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als eine spezifische, ausgezeichnete Form der Rede, die an einen Wahrhaftigkeitsnachweis gebunden ist (also: zunächst nicht als ‚bargaining‘, sondern als ‚arguing‘);53 die Bereitschaft, das eigene Leben aufs Spiel zu setzen, erscheint als Ausdruck eines rechtfertigenden inneren Zustands: einer Ernsthaftigkeit, die einen Anspruch auf Gehör begründet. Maßgeblich dafür ist die Haltung der irischen katholischen Kirche; trotz ihrer Versuche, die Hungerstreikenden zum Aufgeben zu bringen, unterstützt sie letztlich diese Einschätzung des Hungerstreiks. Das hängt zunächst mit Sondermerkmalen des irischen Katholizismus zusammen: Die positive Haltung zum Hungerstreik wurde dieser Kohorte irischer Pfarrer bereits im Priesterseminar vermittelt: „a person was entitled to fast, not with the intention of committing suicide but with the intention of fasting to bring attention to the grievance.“54 In der irischen katholischen Kirche herrschte auch die von der katholischen Mehrheitsmeinung abweichende Position vor, ein Hungerstreik sei nicht als Selbstmord einzuordnen;55 was für die positive Haltung des katholischen Publikums wesentlich ist. Darüber hinaus spielt hier aber auch die spezifische Offenheit eine Rolle, die durch die christliche Bedeutungsaufladung der Nächstenliebe generell entsteht. Gut beobachten lässt sich das in einem Interview mit dem Gefängnisgeistlichen, der die Hungerstreikenden betreut hatte (in: Dillon 1998: 108f): „[I]t was a tremendous challenge to me as a Christian minister, as a priest. I really felt these men were beating us at our own game. [...] You see, we had been at the seminary in Maynooth. […] You did seven years there and you worshipped the Cross as your symbol, a crucified criminal, which Jesus was to the Roman and Jewish world at the time, and a tremendous martyrdom and passion of Jesus, and then the passions of the martyrs and this was the whole thing. [...] We were at Maynooth and we came out into a very safe, comfortable, very Catholic country, and we saw these men acting out before our eyes the scene that was really our scene, the scene of total ascetic denial [...] it was a tremendous challenge to the Church, to us. Here were these men doing for a temporal cause, a doubtful, disputable temporal cause in many ways... they were making the very sacrifices that Jesus had done, and that Catholic priests and Catholic people were called upon to do. They were doing it... and there was a religious motive in it... they were doing it for their people.“
Hier zeigt sich nochmals, wie bereits in der Aufwertung des Soldatentods im Ersten Weltkrieg, wie die Aufwertung der Nächstenliebe es erleichtert, Positionen innerhalb eines christlich begründeten Deutungsmusters umzubesetzen. Ihretwegen kann dieses Handeln auch für den, der die betreffende ‚Sache‘ als zweifelhaft begreift, als genuin religiös motiviert und letztlich den katholischen Kriterien gehorchend begriffen werden.56 Ohne diese relative Zustimmung eines erheblichen Teils des katholischen Publikums hätte der Hungerstreik keinen Erfolg gehabt; er wäre wohl nicht einmal durchführbar gewe-
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Insgesamt ist das Handlungsmodell ‚Martyrium‘ wesentlich ein Verständnis davon, was eine tatsächlich überzeugende Rede ist. Interview mit Denis Faul, in: Dillon (1998: 110). Dillon 1998: 110. Aufschlussreich ist ein im Zusammenhang mit dem Hungerstreik entstandener Beitrag zum Konzept des Martyriums, den Enda McDonagh – zu diesem Zeitpunkt Professor für Moraltheologie in Maynooth – 1983 veröffentlicht: Die Figur der Nächstenliebe hat hier den rhetorischen Effekt, die zunächst innerhalb der religiösen Organisation geltende Unterscheidung zwischen einem ‚religiös‘ und einem ‚politisch‘ (d.h. ‚weltlich‘) motivierten Opfer aufzuweichen, was es erlaubt, sehr viel mehr Handlungen als Martyrien zu rechtfertigen.
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sen.57 Offenkundig ist das bei den neuen Sinn-Fein-Wahlsiegen – zumal nicht nur der hungerstreikende Bobby Sands gewählt wurde (was auch durch die Hoffnung motiviert sein konnte, dadurch sein Leben zu retten), sondern auch sein Nachfolger. Darüber hinaus erzeugt diese positive Haltung der Öffentlichkeit eine allgemeine Erfolgserwartung, die die Fortsetzung des Streiks erleichtert; dieser kulturelle Rahmen ermöglicht es der PIRA auch erst, den Hungerstreik als Form des bargaining zu nutzen. Vor allem aber ist diese externe Unterstützung wesentlich dafür, dass der Hungerstreik jeweils nicht vor dem Tod der Streikenden abgebrochen wurde; hier zeigt sich auch nochmals, wie stark die Bindungswirkung dieses kulturellen Musters ist. Nach zeitgenössischer nordirischer Rechtslage ging im Falle einer Bewusstlosigkeit, wie sie in der Endphase eines Hungerstreiks unweigerlich eintritt, die Entscheidung über medizinische Behandlung – und damit: über einen Abbruch des Hungerstreiks – auf die nächsten Angehörigen über (Beresford 1987: 362); hier, da fast alle Teilnehmer unverheiratet und relativ jung waren, meist auf die Eltern. Das trug zwar schließlich zum Ende des Hungerstreiks bei; zunächst entschieden aber mehrere Eltern (auch nachdem sie der Gefängnisgeistliche über diese Befugnis informiert hatte), den Streik nicht gegen den mutmaßlichen Willen ihrer Kinder abzubrechen. Wie weit das reicht, zeigt folgender Fall: Einer der Hungerstreikenden sagt in der Endphase, nicht mehr recht klar, zu seiner im Gefängnis anwesenden Lebensgefährtin: „Geraldine, get me tablets.“ und: „I want tablet, tablets for my body.“ Die hier allein entscheidungsbefugten Eltern schreiben ihrem Sohn auch in dieser uneindeutigen Situation die Absicht zu, den Streik fortzusetzen, im Wissen, dass er an den Folgen des Hungerstreiks sterben wird (Beresford 1987: 374). Sie behandeln also die Absicht, den Hungerstreik bis zum Tode fortzusetzen, als Ausdruck der eigentlichen Identität ihres Sohns – entweder in dem Sinne, dass sie dies ohnehin als seinen tatsächlichen Wunsch begreifen (und den Wunsch nach Nahrung als Produkt eines Deliriums), oder jedenfalls in dem Sinne, dass sie darin die normativ höherstehende unter den möglicherweise konkurrierenden Absichten sehen. Dieser Ablauf – und der Umstand, dass die Mutter diese Darstellung gegenüber dem Journalisten durchaus nicht dementiert (vgl. Beresford 1987: 425), belegt nicht nur die Stärke der in den Familien selbst wirksamen Überzeugungen; es deutet auch auf einen kulturellen Rahmen hin, in dem nicht nur der Hungerstreik zu einer – selbst von denen, die ihn ablehnen – zu respektierenden Handlung aufgewertet, sondern noch diese Entscheidung, die eigenen Kinder sterben zu lassen, akzeptiert oder gar geachtet wird.
Fazit Die Entwicklung der IRA wird von zwei Typen sozialer Mechanismen bestimmt, die durch religiöse – auf der Unterscheidung zwischen heilig und profan aufbauende – Deutungsmuster in Gang kommen: einerseits durch Mechanismen, deren Grundlage eine positive, aber mit einer klaren Innen/Außen-Unterscheidung verbundene Gemeinsamkeitswahrnehmung ist (wie sie Durkheim beschreibt); andererseits durch Mechanismen, die aus dem internen Differenzierungspotential resultieren, das solchen religiösen Mustern innewohnt (wie sie Weber beschreibt). Beide helfen zu erklären, warum dieses gewaltsame Engagement auch dann fortgesetzt wird, wenn dafür kaum noch zweckrationale Gründe zur Verfügung ste57
Zur Rolle solcher kulturellen Rahmenbedingungen vgl. auch Biggs (2005) über die sehr unterschiedlichen politischen Erfolge religiös begründeter Selbstverbrennungen in Südvietnam und in der Volksrepublik China.
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hen. Insoweit könnte man sagen, dass diese Entwicklung schlicht einen Fall eines allgemeineren Effekts eines bestimmten Typs kultureller Muster darstellt. Das träfe die Sache nur halb: Der oben beschriebene Ablauf ergibt sich gerade daraus, dass ein bestimmtes (katholisches) Muster in einer spezifischen Weise umbesetzt wird, also: aus einem partikularen Muster, das überhaupt keine Grundlage allgemeiner Aussagen sein kann. Zudem ergibt sich diese Umbesetzung aus einer spezifischen historischen Konjunktur, die sich wiederum nur begrenzt theoretisch auflösen lässt, also: durch partikulare Umstände. Erst dieser partikulare Ursprung erklärt, warum im nordirischen Konflikt spezifische Handlungsregeln wirksam werden, aufgrund derer die Beteiligten in einer spezifischen Weise auf die Situation reagieren, was wiederum den Aufbau spezifischer Ordnungen zur Folge hat, die rekursiv die Wirksamkeit dieser Regeln stabilisieren: die ‚Sekten‘-Organisation; das ‚ethnisch‘ segregierte Milieu, in das diese Organisation eingebettet ist; und schließlich die Konkurrenz- und Konfliktstruktur des Protestfeldes. Insofern bestand ein Ziel der vorliegenden Fallskizze darin zu zeigen, dass sich auch eine sozialwissenschaftliche Erklärung auf diese partikularen Momente einlassen sollte, da erst dies eine Erklärung des jeweils interessierenden Phänomens ermöglicht. Abschließend ein paar Sätze zu den Grenzen der hier vorgeführten Argumentation. Die zugrunde gelegte Perspektive ist für eine Erklärung des Nordirland-Konflikts offensichtlich zu eng: Betrachtet wurde allein die IRA; die anderen Elemente des Konfliktsystems – die zahlreichen staatlichen Akteure, die ihrerseits untereinander konkurrierenden protestantischen Paramilitärs, die verschiedenen ‚Moderaten‘ – wurden nicht oder nur in Andeutungen erwähnt. Eine solche nur auf einen Teil des Geschehens gerichtete kultursoziologische Perspektive kann auch einen unbeabsichtigten stigmatisierenden Effekt erzeugen: Sie kann den Eindruck erwecken, dass kulturelle Muster nur für das Verhalten der IRA eine Rolle spielen und sich die anderen Konfliktbeteiligten schlicht an einer dann zu unterstellenden reinen Rationalität orientieren; und sie kann, indem sie das Moment der ‚Interaktion‘ zwischen den Konfliktparteien unterbelichtet, den Eindruck erwecken, der jeweilige Eskalationsprozess erkläre sich allein aus den Merkmalen einer einzigen Fraktion.58 Knapp erwähnt sei hier nur eines der kulturellen Elemente, die das Handeln der Gegenseite anleiten: Tragend für die nordirische Konfliktkonstellation ist ein Antikatholizismus, der in der britischen Tradition überhaupt eine wichtige Rolle spielt.59 Zu ihm gehört klassischerweise ein prinzipieller Zweifel daran, dass Katholiken – der Akzent liegt dann auf ‚römischkatholisch‘ – überhaupt loyale Staatsbürger sein können; sie erscheinen bereits aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit als verdächtig, Mitglieder einer transnationalen, aus dem fernen Süden gesteuerten Verschwörung zu sein. (Dieses Misstrauen dürfte – als sich selbst erfüllende Prophezeiung, die durch einen labelling-Prozess vermittelt ist – erheblich dazu beigetragen haben, dass sich ein gewisser Teil der so Stigmatisierten tatsächlich nicht mehr als loyale Staatsbürger verhält.) Auch wo sich die Angst vor der papistischen Verschwörung aufgelöst hat, bleibt eine mit dem Schema Tradition/Moderne operierende Herabwürdigung der anderen Seite übrig; als Bezugspunkt dient unter anderem die unterstellte familien- und sexualmoralische Rückständigkeit der katholischen Unterschicht. Dieses Schema, das seinen Anwendern hilft, sich ihrer eigenen Aufgeklärtheit zu vergewissern, kann dabei 58 59
Das ist ein zentrales Argument des labelling approach und insgesamt der symbolisch-interaktionistischen Strömung in der Kriminologie. Ausführlich zu den Varianten einer Diskreditierung von Katholiken in Nordirland vgl. Ruane und Todd (1996).
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entweder als Grundlage einer allgemeinen Religionskritik dienen oder – das ist die häufigere Variante – ein Argument dafür liefern, die eigene (aufgeklärte, reformierte) Religion erneut zur einzig wahren zu erklären. Dieses Moment (das frappierend dem derzeitigen öffentlichen Reden über muslimische Bevölkerungsanteile in ‚westlichen‘ Staaten ähnelt) wäre einer der Aspekte, den eine umfassender angelegte Kultursoziologie des Nordirlandkonflikts zu betrachten hätte.
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7050_book.fm Page ii Wednesday, July 12, 2006 3:27 PM
Kampf, Legitimität, Nation. Das Wiederaufleben der Gewalt im Nordirlandkonflikt aus der Sicht des Weberschen Forschungsprogramms.
Jens Greve Die folgenden Betrachtungen untersuchen terroristische Gewalt aus der Sicht des Weberschen Forschungsprogramms. Sie tun dies an einem Beispiel, nämlich dem Wiederaufleben des gewaltsamen politischen Kampfes der IRA in den Jahren ab 1969. Da der Text vorrangig darauf gerichtet ist, eine theorievergleichende Perspektive anzuleiten, geht es im Folgenden nicht um die Präsentation eigenständiger Forschungsresultate zum Nordirlandkonflikt. Vielmehr ist es das Ziel, die bestehende Forschung zu nutzen, um zu zeigen, an welchen Punkten Webers Forschungsprogramm genuine Perspektiven auf das untersuchte Phänomen eröffnet. Diese sehe ich insbesondere an drei Punkten: in der Betonung des Legitimitätsaspektes des Konfliktes, im Ineinandergreifen materieller und ideeller Interessen im Konflikt und in der Betonung des Nationalen als Prinzip der Gemeinschaftsbildung. Ich entwickle diese Punkte in der folgenden Weise. Zunächst schildere ich in Grundzügen das Webersche Forschungsprogramm. Anschließend frage ich, an welchen Orten innerhalb der „Teil“-Soziologien des Weberschen Werkes sich Anhaltspunkte zur Untersuchung politischer Gewalt finden lassen. Ausgehend hiervon wird die Entwicklung des Nordirlandkonfliktes in den Jahren 1968 bis 1972 eingehender betrachtet und auf die Frage bezogen, warum sich aus einem zunächst friedlichen Protest einer Bürgerrechtsbewegung gegen die Diskriminierung der katholischen Bevölkerungsminderheit eine gewaltsame Auseinandersetzung ergibt, die Nordirland zu einem bis dahin ungekannten Niveau an Gewalt führt.1 Die These wird sein, dass es der Regierung Nordirlands und der britischen Regierung nicht gelingt, den Legitimitätsverlust auszugleichen, den die Bürgerrechtsbewegung bewirkt und dass gleichzeitig Gewalt als Mittel des politischen Kampfes im Verlaufe des Konflikts an Legitimität gewinnt, weil die IRA zweierlei Legitimitätsressourcen für den Einsatz von Gewalt zugleich aktivieren kann: eine Unterstützung als legitimes Mittel der Wahrung unmittelbarer materieller Interessen einerseits und der Durchsetzung nationaler Interessen andererseits.
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Grundzüge des Weberschen Forschungsprogramms
Wo ist Webers Forschungsprogramm im Konzert der soziologischen Theorien zu verorten? Folgt man einem Vorschlag von Wolfgang Schluchter (2000, 2003), so ist die gegenwärtige Theorielandschaft in der Soziologie durch drei Konfliktlinien gekennzeichnet: erstens dieje1
Ihren traurigen Höhepunkt erreichen die „Troubles“ im Jahr 1972, in dem ihnen 497 Menschen zum Opfer fallen. Zwischen 1966 und 2001 kostet der Konflikt 3665 Menschen das Leben (English 2003: 397).
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nige zwischen System- und Handlungstheorie, zweitens – innerhalb der Handlungstheorie – zwischen einer Theorie des kommunikativen Handeln und einer Theorie, die am subjektiven Sinn der Akteure anknüpfe. Letztere schließlich zerfalle drittens in eine Theorierichtung, die von regelgeleitetem Handeln ausgehe und eine solche, die ein nutzenkalkulierendes Handeln zugrunde lege.2 Webers Forschungsprogramm sei zu verstehen als eine an Regelorientierung gebundene Sozialkonzeption, die am subjektiven Sinn anknüpfe (Schluchter 2003: 47). Mir scheint diese Klassifikation sinnvoll – nicht zuletzt deswegen, weil sie neben dem gemeinsamen Ausgangspunkt, dem methodologischen Individualismus, die entscheidende Differenz zwischen Webers Forschungsprogramm und den unterschiedlichen Varianten der RCTheorie betont, da das Webersche Programm davon ausgeht, dass wert- und zweckrationale Handlungsorientierungen in dem Sinne gleichberechtigt nebeneinander stehen, dass beide Orientierungen aus der jeweils anderen nicht abgeleitet werden können.3 Daraus ergibt sich bei Weber eine breitere Handlungskonzeption, die natürlich zugleich mit dem „Nachteil“ erkauft wird, dass nicht unmittelbar bestimmbar ist, wie eine allgemeine „Handlungslogik“ aussieht, da es Webers Handlungstheorie nicht erlaubt, eine situationsunabhängige Mechanik anzugeben, warum ein bestimmtes Handeln unter bestimmten Bedingungen einem anderen vorgezogen wird (siehe auch unten). Webers Soziologie ist bekanntlich eine verstehende Soziologie, die Handeln verstehen (und zwar in seinem subjektiv gemeinten Sinn) und dadurch kausal erklären will. „’Erklären’ bedeutet also für eine mit dem Sinn des Handelns befaßte Wissenschaft soviel wie: Erfassung des Sinnzu s am m en h an g s , in den, seinem subjektiv gemeinten Sinn nach, ein aktuell verständliches Handeln hineingehört.“ (Weber 1980: 4)4 Weber nimmt mit dieser Konzeption bereits vorweg, was später als Verursachung des Handelns durch seine Gründe verstanden wird, auch wenn Weber dieses Modell nicht in der Stringenz begrifflich entfaltet, in der dies in der analytischen Philosophie geschieht (Burger 1987: 105, Davidson 1980, Huff 1984, Schluchter 2003: 56ff.). Die Soziologie steht freilich vor dem Problem, dass nicht jede plausible Rekonstruktion eines Motivs dem tatsächlich ursächlich wirksamen Motiv entspricht. Weber beschäftigt sich bekanntlich ausführlicher mit der daraus resultierenden Problematik einer gelingenden kausalen Zurechnung. Hierher gehört nicht nur seine Unterscheidung zwischen Sinn- und Kausaladäquanz (Weber 1980: 5, vgl. auch Weber 1988b: 436f.), sondern auch seine an von Kries anschließenden Überlegungen zu objektiven Möglichkeiten (vgl. insbesondere Weber 1988b: 266ff., daneben auch 192, 444) sowie zur Bedeutung der komparativen Methode (vgl. auch Haussmann 1991, Lorenz 1997, Schützeichel 2004).5 2 3
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Die begriffliche Entgegensetzung von Regelorientierung und Nutzen ist freilich nicht ganz glücklich: auch nutzenmaximierendes Handeln orientiert sich an Regeln. Esser und Lindenberg bemühen sich darum, in ihren RC-Modellen wertrationale Orientierungen gleichberechtigt neben zweckrationale zu stellen. In beiden Ansätzen geschieht dies über „framing“-Prozesse. Ob es ihnen im Rahmen dieser Konzeptionen aber tatsächlich gelingt, die Eigenständigkeit des Wertrationalen zu behaupten, ist noch umstritten (Greve 2003, Stachura 2006). Weber schließt dabei natürlich nicht aus, dass „Sinnfremdes“ in der Erklärung ebenfalls eine Erklärungsleitung erbringen kann (Weber 1980: 3). Den Kern der Erklärung macht aber die Deutung der Situation durch die Handelnden und ihr entsprechend motiviertes Handeln aus. Auch ist sich Weber darüber im Klaren, dass ein Großteil des Handelns nicht bewusst, sondern routinisiert und halb-bewusst abläuft. Wie in den RCTheorien spielt gleichwohl das bewusste Handeln bei Weber die zentrale explanative Rolle. Für Weber stellt sich damit auch das Problem der kausalen Zurechung – anders aber als bei Luhmann wird sie nicht im Funktionsbegriff fundiert (Luhmann 2005: 20). Die funktionalistische Betrachtungsweise ist für Weber lediglich unter heuristischen Gesichtspunkten unproblematisch (Weber 1980: 7f.).
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Während hinsichtlich der These eines verstehenden und damit zugleich erklärenden Zugangs und der These des methodologischen Individualismus wenig Kontroversen bestehen, stellt sich dies hinsichtlich anderer Elemente des Weberschen Programms anders dar. Dies gilt, wie Michael Schmid in jüngerer Zeit noch einmal deutlich gemacht hat, neben Webers Begriffslehre für die These des Sonderstatus der Soziologie im Hinblick auf die Wertbeziehung und damit zusammenhängend den Status der Idealtypen in Webers Programm (Schmid 2004).6 Im Zentrum stehen dabei die Frage nach der Wertbeziehung und die Frage nach dem Status der Idealtypen. Bei beidem geht es um die Frage, ob die Soziologie sich formal von einem einheitswissenschaftlichen Programm unterscheidet oder nicht. Im Falle der Wertbeziehungslehre steht dabei eher die methodologisch-erkenntnistheoretische These auf dem Spiel, dass es eine überhistorische Begriffsbildung in der Soziologie nicht geben könne, weil die Relevanzgesichtspunkte historisch variabel ausfallen.7 Im Falle der Idealtypen steht eher eine methodologisch-methodische Frage im Mittelpunkt, nämlich diejenige, ob die Soziologie und verwandte Sozialwissenschaften über ein eigenständiges methodisches Instrument verfügen, das sich in vergleichbarer Form in anderen Wissenschaften (insbesondere den Naturwissenschaften) nicht finden lässt. Eine Klärung des Weberschen Forschungsprogramms wird vor allem um eine Klärung des Status der Idealtypen nicht umhinkönnen, denn auch wenn sich eine idealtypische „Methode“ in der soziologischen Forschung nicht durchgesetzt hat, so operiert die Soziologie doch mit Begriffen, welche Aspekte von Phänomen immer auch idealisierend zusammenfassen. Die entsprechende Diskussion kann hier nicht aufgearbeitet werden, aber ich will kurz auf die Frontlinie eingehen, an der die kritische Diskussion um die Idealtypen im Wesentlichen verläuft. Die Diskussion um die Idealtypen kreist zentral um die Frage, inwiefern es sich bei ihnen um ein Konzept handelt, das sich nur in den historischen und den Sozialwissenschaften anwenden lässt, wie Weber dies behauptet (Weber 1988b: 131, 206). Unter Druck geraten ist diese Annahme unter dem Gesichtspunkt der These einer einheitswissenschaftlichen Methodologie. So weisen Autoren wie Runciman und Schmid darauf hin, dass Idealisierungen nicht nur im Bereich der Kulturwissenschaften auftreten (Runciman 1972: 33, Schmid 1994) – was freilich Weber durchaus bewusst war (Weber 1980: 10, Weber 1988b: 131). Gravierender ist ein zweiter Einwand, nämlich derjenige gegen Webers These, dass Idealtypen sich hinsichtlich ihrer Stellung zur Falsifikation anders verhalten als dies für Hypothesen in den Naturwissenschaften der Fall ist: „Ein hypothetisches Naturgesetz, welches in ein em Fall definitiv versagt, fällt als Hypothese ein für alle mal in sich zusammen. Die idealtypischen Konstruktionen der Nationalökonomie dagegen prätendieren – richtig verstanden – keineswegs, generell zu gelten, während ein Naturgesetz diesen Anspruch erheben muß, will es nicht seine Bedeutung verlieren“ (Weber 1988b: 131). Sowohl Schmid als auch Runciman haben darauf hingewiesen, dass dies die Einheit empirischer 6 7
Für einen Versuch, einige Schwierigkeiten der Weberschen Begriffslehre aus der Sicht einer non-statementPerspektive zu lösen, vgl. jetzt Albert (2007). „Alle kulturwissenschaftliche Arbeit in einer Zeit der Spezialisierung wird, nachdem sie durch bestimmte Problemstellungen einmal auf einen bestimmten Stoff hin ausgerichtet ist und sich ihre methodischen Prinzipien geschaffen hat, die Bearbeitung dieses Stoffes als Selbstzweck betrachten, ohne den Erkenntniswert der einzelnen Tatsachen stets bewußt an den letzten Wertideen zu kontrollieren, ja ohne sich ihrer Verankerung an diesen Wertideen überhaupt bewußt zu bleiben. Und es ist gut so. Aber irgendwann wechselt die Farbe: die Bedeutung der unreflektiert verwerteten Gesichtspunkte wird unsicher, der Weg verliert sich in der Dämmerung. Das Licht der großen Kulturprobleme ist weiter gezogen. Dann rüstet sich auch die Wissenschaft, ihren Standort und ihren Begriffsapparat zu wechseln und aus der Höhe des Gedankens auf den Strom des Geschehens zu blicken“ (Weber 1988b: 214, vgl. auch 184 und 206ff.).
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Wissenschaften gefährdet: „…when he [Weber] goes on to say that the ideal-typical model of a competitive economy is immune to falsification because it isn’t about anything real […] he runs the risk of undermining his simultaneous commitment to the universality of cause and effect” (Runciman 1972: 36)8. Lässt sich also der Sonderstatus der Idealtypen behaupten? Eine Verteidigung ihres spezifischen Status findet sich beispielsweise bei Burger und Schluchter. Beide führen die Berechtigung der Idealtypen darauf zurück, dass sie mögliche Orientierungen von Handelnden beschreiben, die als solche aber nicht notwendig aktualisiert werden müssen. Burger führt das auf mögliche mangelnde Klarheit oder zusätzliche handlungsleitende Aspekte zurück (Burger 1987: 116), Schluchter hingegen auf die Wahlfreiheit. Idealtypen sind Modelle, insbesondere solche rationalen Handelns, von dem aufgrund der Natur des Handelns Abweichungen möglich sind. 9 Fraglich bleibt, ob damit die Einwände von Runciman und Schmid hinfällig werden, denn es ließe sich sagen, dass hier zwar ein sachlicher Gegensatz zu den Naturwissenschaften behauptet wird, die Handeln nicht als Gegenstand haben, methodisch aber gleichwohl kein notwendiger Gegensatz behauptet werden kann, denn die Funktion idealtypischer Handlungsverläufe ist wie diejenige von Naturgesetzen nur dann erklärend, wenn sie in der Lage sind, in hinreichendem Ausmaß faktisches Verhalten als durch die im Idealtypus formulierten Zusammenhänge verursachtes Handeln darzustellen (vgl. Alberts Kritik am Modellplatonismus Albert 1972). Meines Erachtens ließe sich auch ein anderer Weg der Verteidigung von Idealtypen wählen, nämlich indem man darauf hinweist, dass Webers Einschätzung des Sonderstatus der Idealtypen eher deswegen problematisch ist, weil er ein unangemessenes Verständnis der Naturwissenschaften zugrundelegt, denn die neuere Wissenschaftstheorie hat hinreichend gezeigt, dass Gesetzesannahmen in den Naturwissenschaften keineswegs aufgegeben werden können oder müssen, wenn sie in einem einzelnen Fall „versagen“. Vielmehr gibt es eine Reihe von guten Gründen, sie auch dann beizubehalten, wenn dies eintritt – dies betrifft insbesondere Kerne von Forschungsgrogrammen (Lakatos 1970). Betrachtet man Idealtypen in diesem Licht, so wird man Runciman und Schmid zustimmen können, dass methodologisch tatsächlich kein Gegensatz zwischen den Kultur- und den Naturwissenschaften behauptet werden muss.10 Wenn die Forschung beispielsweise Begriffe wie „Individualismus“, „Imperialismus“, „Feudalismus“ (Weber 1988b: 193) oder auch neben vielen anderen „Staat“ und „Nation“ verwendet, dann müssen sich diese Begriffe an den historisch vorfindbaren Gegebenheit auch bewähren – Sinnadäquanz und empirische Geltung können in einer Wirklichkeitswissenschaft nicht auseinander fallen, sondern die Begriffe einer solchen sind stets auch auf ihre historische Konkretion hin korrigierbar.
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Weber behauptet nicht, dass Kulturvorgänge „’objektiv’ weniger gesetzlich“ ablaufen als andere Vorgänge, aber dass sich an ihnen etwas zeige, was einer rein gesetzeshaften Erkenntnis nicht zugänglich sei, nämlich die Kulturbedeutung der jeweiligen Wertideen (Weber 1988b: 180). Diese Differenz stellt auch Kruse (1999) heraus. „Deutungshypothesen zeichnen einen idealisierten, d.h. möglichen Handlungsablauf von problematischer empirischer Geltung. Denn im Prinzip kann der Akteur zwar so handeln, wie in der Deutungshypothese vom Beobachter formuliert, er muss es aber nicht. Im Prinzip – und dies gilt gerade für die rationalen Deutungshypothesen, die zum Beispiel ‚unter der Voraussetzung streng rationalen Handelns die Konsequenzen bestimmter ökonomischer Situationen gedanklich konstruieren.’ Ein Stein, der fällt, wählt nicht, sei es unter realen, sei es unter idealisierten Bedingungen. Ein Akteur, der handelt, unterliegt zwar auch den Naturgesetzen, aber in Bezug auf Handlungsgesetze ist er frei“ (Schluchter 2003: 55). Webers These, Idealtypen seien spezifisch gebunden an die Kulturwissenschaften, weil es ihnen um die Kulturbedeutung eines Phänomens zu tun sei, wäre dann zu verwerfen.
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Nach Schluchter findet sich bei Weber ebenfalls ein Mehr-Ebenen-Modell wie in den Ansätzen von Coleman und Esser (Schluchter 2003: 60ff.). Meines Erachtens ist diese Einschätzung nur dann richtig, wenn man sie entsprechend qualifiziert. Der Übergang von der Mikro- zur Makroebene findet sich bei Weber in der Differenz zwischen dem sozialen Handeln und der sozialen Beziehung (Weber 1980: 13). Schon aufgrund der Architektur der entsprechenden Grundbegriffe Webers kann die „Makro“-Ebene (soziale Beziehung) aber immer nur als Resultat eines wechselseitigen sozialen Handelns gedacht werden – es handelt sich also um eine Interdependenzsituation, die nach Weber prinzipiell immer auf das Handeln der beteiligten Einzelnen zurückgeführt werden können muss (unter pragmatischen Gesichtspunkten kann auf diese Reduktion unter Umständen natürlich verzichtet werden). Eine im institutionalistischen Individualismus (Greve 2006) oder gelegentlich auch bei Esser unterstellte eigenständige Wirkung (Heintz 2004) auf das soziale Handeln Einzelner kann sie daher nicht haben. Was vorliegen kann, aber dies ist etwas anderes, ist die Unabhängigkeit der Handlungen anderer Einzelner. Behält man im Blick, dass es sich bei Weber bei der Makro-Ebene nicht um eine eigenständige Ebene der Realität handelt und dass zusammenfassende Bezeichnungen von sozialen Handlungen oder sozialen Beziehungen bei Weber immer nur pragmatische Abkürzungen für prinzipiell durchführbare Reduktionen auf das Handeln Einzelner in (sozialen) Situationen darstellen, so ist gegen die Formulierung eines Mehrebenenansatzes freilich nichts einzuwenden (Greve 2006). Abschließend möchte ich noch einmal zur Frage nach einem allgemeinen Handlungsgesetz oder -modell zurückkehren, welches sich bei Weber nicht findet. Keineswegs folgt daraus, dass Webers Handlungstheorie aufgrund dieses Fehlens notwendig als defizitäre Variante einer anderswo bereits erfolgreicheren Handlungstheorie betrachtet werden muss, wie Schmid dies nahe legt. So sei es Weber „offenbar nicht gelungen, eine hinreichend ausgearbeitete Handlungstheorie zu entwickeln […], die derartige Erfahrungsregeln algorithmisch systematisiert und damit erst heuristisch verwendbar macht“ (Schmid 2004: 551). So falsch es wäre, den entsprechenden Versuchen zu attestieren, dass eine solchermaßen algorithmisierte Handlungstheorie nicht möglich ist, so falsch wäre es umgekehrt, von den bestehenden Versuchen zu behaupten, dass sie bereits erfolgreich sind. Die „einfache“ SEU-Theorie beispielsweise ist mit Anomalien behaftet (vgl. zu diesen u.a. Green/Shapiro 1999, Meleghy 2004, Mozetic 1998) und bei den Erweiterungen bleibt offen, ob sie diesen Anomalien Rechnung tragen können bzw. nicht ihrerseits Annahmen einführen müssen, die theorieimmanent neue Fragen aufwerfen. Richtig bleibt zwar der von Lindenberg und Esser gegen Webers Typologie erhobene Einwand, dass eine Typologie nicht in der Lage ist, ein Modell anzubieten, das aus sich heraus erklärt, wie es zu einem Wechsel zwischen den Einstellungen eines Handelnden kommt (vgl. Esser 2001: 308). Aber auch dieser Einwand steht vor dem Problem, dass ein entsprechendes Modell seinerseits auf den Umstand stoßen könnte, dass die Faktoren, die diesen Einstellungswechsel bestimmen, sich nicht umstandslos auf ein einfaches Entscheidungsmodell reduzieren lassen. Wenn der Wechsel der Einstellungen seinerseits von disparaten Faktoren abhängt, zwischen deren relativem Gewicht wiederum erst entschieden werden muss, dann lässt sich die Mehrdimensionalität von Handlungsorientierungen nicht einfach durch das Postulat höherstufiger Entscheidungsregeln lösen (Greve 2003: 648f.).11 11
Oder genauer gesagt: es stellt sich die Frage, in welchem Maße diese Meta-Regeln noch rational und nutzenorientiert sein können – so, wenn man wie Kroneberg davon ausgeht, dass bei der frame-Selektion die entscheidende Komponente gar nicht in der Nutzenerwartung, sondern im match liegt (Kroneberg 2005: 350).
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Untersucht man das Wiederaufleben der Gewalt in Nordirland, insbesondere diejenige, die von der IRA ausgeht, so ist zunächst zu fragen, wo gewaltsames politisches Handeln in Webers Werk thematisch wird. Einen Begriff des „Terrorismus“ finden wir bei Weber nicht – auch das Phänomen wird bei Weber nicht thematisch – sieht man von der Erwähnung von terroristischen Gruppen in den Russlandschriften ab (Weber 1989: 202, 208, 313, 674). Auf eine allgemeine Begriffsbestimmung des Terrorismus verzichte ich hier ebenfalls. Diese ist bekanntlich hochgradig kontrovers (vgl. dazu Hoffman 2006: 50ff.), obwohl Grundzüge des Terrorismus sich durchaus bestimmen lassen – ist es aber schwierig, die genauen Grenzen des Phänomens zu bestimmen.12 Gewalt ist kein Kernthema der Weberschen Soziologie – wie allgemein in der Soziologie Gewalt kaum zentraler Gegenstand der Theoriebildung oder der soziologischen Forschung ist (Trotha 1997, Tyrell 1999). Gleichwohl wird Gewalt bei Weber bereits im Kontext der soziologischen Grundbegriffe verortet, nämlich als ein Fall des Kampfes. „K amp f soll eine soziale Beziehung insoweit heißen, als das Handeln an der Absicht der Durchsetzung des eignen Willens gegen Widerstand des oder der Partner orientiert ist“ (Weber 1980: 20). Kampf zielt demnach auf die Erlangung von Macht (Weber 1980: 28) und dazu gehören friedliche wie gewaltsame Mittel. Für Weber ist dabei selbstverständlich, dass es zwischen den Formen des friedlichen und des gewaltsamen Kampfes keinen eindeutigen Bruch gibt, sondern sich die „allerverschiedensten lückenlosen Uebergänge“ finden lassen (Weber 1980: 20). Welche weiteren Anknüpfungspunkte bietet uns die Webersche Soziologie für das Verständnis des hier untersuchten Phänomens? Ich sehe drei. In der politischen Soziologie ist es insbesondere die allgemeine These, dass das Politische stets an Gewalt gebunden ist: „Alle politischen Gebilde sind Gewaltgebilde“ (Weber 1980: 520, vgl. auch 29, 516, Weber 12
Hoffmann beispielsweise verzichtet daher bewusst auf eine präzise Definition. Er schlägt aber vor, „Terrorismus […] versuchsweise als bewusste Erzeugung und Ausbeutung von Angst durch Gewalt oder die Drohung mit Gewalt zum Zweck der Erreichung politischer Veränderung“ zu verstehen (Hoffman 2006: 80). Entscheidender als eine genaue Definition ist für Hoffman, dass der Terrorismus stets durch eine Reihe von Strukturmerkmalen gekennzeichnet ist. Hierzu gehört, „dass der Terrorismus – unausweichlich politisch ist hinsichtlich seiner Ziele und Motive; – gewalttätig ist oder, was ebenso wichtig ist, mit Gewalt droht; – darauf ausgerichtet ist, weitreichende psychologische Auswirkungen zu haben, die über das jeweilige unmittelbare Opfer oder Ziel hinausreichen; entweder einer Organisation mit einer erkennbaren Kommandokette oder konspirativen Zellenstruktur […] oder von Einzelnen bzw. einer kleinen Ansammlung von Individuen ausgeübt wird, die sich direkt von den ideologischen Zielsetzungen oder dem Vorbild einer bestehenden terroristischen Bewegung und /oder deren Führern leiten, motivieren oder inspirieren lassen; – und schließlich von substaatlichen oder nicht-staatlichen Gebilden begangen wird“ (Hoffman 2006: 80). Die Problematik einer Grenzziehung gegen andere Formen der politisch motivierten Gewalt ergibt sich nicht zuletzt durch die Grenze zum Guerilla-Krieg, in dem sich die Gewalt der kämpfenden Gruppen nicht gezielt gegen Zivilisten richtet und auch gegenüber dem militärischen Gegner Konventionen der Kriegsführung eingehalten werden (vgl. dazu auch Wilkinson 1977: 52). Eher vom Charakter der Tat geht hingegen Waldmanns Definition aus: „Terrorismus, so mein Definitionsvorschlag, sind planmäßig vorbereitete, schockierende Gewaltanschläge gegen eine politische Ordnung aus dem Untergrund […]. Die Anschläge sollen allgemeine Unsicherheit und Schrecken, daneben aber auch Sympathie und Unterstützungsbereitschaft erzeugen. Den Terroristen geht es nicht oder nicht primär um den eigentlichen Zerstörungseffekt der Gewalt“ (Waldmann 2003: 88). Das kommunikative Ziele besteht dabei einerseits in der Erzielung starker emotionaler Reaktionen, andererseits in der Provokation bestimmter Reaktionen: „insbesondere überstürzte, von einer gewissen Panik diktierte Schutz- und Vergeltungsmaßnahmen, aber auch […] Unterstützung und aktive Mithilfe beim angestrebten Kampf“ (Waldmann 2003: 88).
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1988c: 556). Gewalt kann dabei nach innen, als Gewaltmonopol des Staates (Weber 1980: 30; Weber 1988c: 506, 511, Weber 1988a: 547), und andererseits nach außen, als Selbstbehauptung von Nationen im Krieg, auftreten. Zweitens lässt sich an Webers Konzept der Nation als einer zugemuteten Solidargemeinschaft, die mit affektiv-charismatischen Orientierungen verknüpft werden kann, anschließen. Ich führe dies im Anschluss an den dritten Anknüpfungspunkt aus, die Frage nach der Legitimität von Herrschaftsbeziehungen.13 Die Herrschaftssoziologie Webers wirft eine Reihe von Fragen auf, die zu einer weitreichenden Diskussion in der Sekundärliteratur geführt haben. Dies kann hier nicht aufgearbeitet werden. Ich möchte dennoch auf zentrale Punkte eingehen, die sich auf Frage nach der Legitimität von Herrschaft beziehen. Vier Punkte stehen im Mittelpunkt der Diskussion um diese. Erstens wurde eingehend diskutiert, wie sich die Legitimitätsypen zu den Bestimmungsgründen des sozialen Handelns verhalten. Zweitens, und daran anknüpfend, wurde die Frage aufgeworfen, ob Weber nicht (zu Unrecht) die legale Herrschaft auf Zweckrationalität gründet (Aron 1967: 227, Luhmann 1971, Mommsen 1974: 430). Drittens wurde der Vorwurf erhoben, dass Weber mit dem Konzept der legalen Herrschaft einer rechtspositivistischen Verkürzung der Legitimitätsfrage das Wort rede (vgl. die entsprechenden Hinweise bei Breuer 1991: 208f., Lübbe 1991). Viertens wurde gefragt, ob Weber dem Typus einer demokratischen Legitimation von Herrschaft hinreichend Rechnung getragen habe (einschlägig Mommsen 1974). All dies kann hier nicht ausführlich gewürdigt werden, ich möchte aber markieren, an welchen Punkten ich Einwände für tragfähiger und weniger tragfähiger halte. Dies ist insbesondere deswegen von Nöten, weil es erlaubt zu bestimmen, in welchem Maße Webers Konzept der legitimen Herrschaft einen Schlüssel zum Verständnis des Nordirland-Konfliktes anbietet. Der erste und der zweite Punkt machen sich fest an der Beobachtung, dass Weber vier Bestimmungsgründe des sozialen Handelns (affektuell, traditional, wert- und zweckrational) kennt, aber nur drei Typen legitimer Herrschaft: „Es gibt drei rei n e Typen legitimer Herrschaft. Ihre Legitimitätsgeltung kann nämlich primär sein: 1. rat i o n al e n Charakters: auf dem Glauben an die Legalität gesatzter Ordnungen und des Anweisungsrechts der durch sie zur Ausübung der Herrschaft Berufenen ruhen (legale Herrschaft), – oder 2. t ra d i t i o n al en Charakters: auf dem Alltagsglauben an die Heiligkeit von jeher geltender Traditionen und die Legitimität der durch sie zur Autorität Berufenen (traditionale Herrschaft), – oder endlich 3. ch a ri s ma t i s ch e n Charakters: auf der außeralltäglichen Hingabe an die Heiligkeit oder die Heldenkraft oder die Vorbildlichkeit einer Person und der durch sie offenbarten oder geschaffenen Ordnungen [ruhen] (charismatische Herrschaft)“ (Weber 1980: 124). 13
Das Legitimitätsbedürfnis von Herrschaft leitet Weber aus dem allgemeinen Bedürfnis nach Rechtfertigung ungleicher Lebenschancen ab (Weber 1980: 549). Weber betont zudem die höhere Stabilität legitimer Herrschaft „Eine n u r aus zweckrationalen Motiven innegehaltene Ordnung ist im Allgemeinen weit labiler als die lediglich kraft Sitte, infolge der Eingelebtheit eines Verhaltens, erfolgende Orientierung an dieser: die von allen häufigste Art der inneren Haltung. Aber sie ist noch ungleich labiler als eine mit dem Prestige der Vorbildlichkeit oder Verbindlichkeit, wir wollen sagen: der ‚Legitimität’, auftretende“ (Weber 1980: 16, vgl. auch 122, Weber 1988b: 457, 470). Dem steht freilich die folgende Aussage Webers entgegen: „Indem sie derart, j e s t r e n g e r zweckrational sie handeln, desto ähnlicher auf gegebene Situationen reagieren, entstehen Gleichartigkeiten, Regelmäßigkeiten und Kontinuitäten der Einstellung und des Handelns, welche sehr oft weit stabiler sind, als wenn Handeln sich an Normen und Pflichten orientiert, die einem Kreise von Menschen für verbindlich gelten“ (Weber 1980: 15). Zängele versucht den Widerspruch aufzulösen, indem er unterstellt, dass Weber zwei unterschiedliche Ordnungen im Blick hat: Herrschafts- und Marktordnungen (Zängele 1988: 59).
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Während das affektuelle Handeln dem charismatischen Typus ähnlich ist und das traditionale Handeln dem traditionalen Typus, fehlt für die Legalität eine solche Entsprechung. Dies legt es für manche Interpreten nahe, von einer Entsprechung des zweckrationalen und des legalen Typus auszugehen. Diese Annahme lässt sich aber schwerlich durchhalten. Weber geht davon aus, dass wir es bei Legitimität nicht mit einer direkten Ableitbarkeit aus den Bestimmungsgründen des Handelns zu tun haben. Es mag „Wahlverwandtschaften“ zwischen bestimmten Bestimmungsgründen der Legitimität und den Handlungstypen geben, aber Legitimität bezeichnet gleichwohl einen eigenständigen Modus der Begründung für die Innehaltung einer Herrschaftsordnung: „Aber Sitte oder Interessenlage so wenig wie rein affektuelle oder rein wertrationale Motive der Verbundenheit könnten verläßliche Grundlagen einer Herrschaft darstellen. Zu ihnen tritt normalerweise ein weiteres Moment: der Legitimitätsglaube“ (Weber 1980: 122). Nicht nur dies spricht gegen eine direkte Kopplung der legalen Herrschaft und der Zweckrationalität. Hinzu kommt, dass Weber behauptet, dass wert- und zweckrationale Motive bei der Begründung legaler Herrschaft mitwirken können. So gehöre es zu den mit der legalen Herrschaft „zusammenhängenden Vorstellungen, […] daß beliebiges Recht durch Paktierung oder Oktroyierung rational, zweckrational oder wertrational orientiert (oder: beides), g es a t zt werden könne mit dem Anspruch auf Nachachtung mindestens durch die Genossen des Verbandes…“ (Weber 1980: 125). Dies gibt uns auch einen Hinweis darauf, worin Weber das Spezifische des legalen Herrschaftstypus sieht, nämlich darin, dass es sich um den Satzungs- und Regelcharakter handelt, welche die Legitimität der Legalität begründen (Breuer 1991: 195, Tyrell 1981).14 Webers Konzept fordert dabei nicht (und insofern schließt er nicht umstandslos an kontraktualistische Begründungen an), dass die Legimitätsgeltung der Legalität aus dem eigenen Beitrag der die Herrschaft anerkennenden Personen zu ihrer Satzung resultiert. Andererseits ergibt sich aus dieser Überlegung durchaus, dass Legalität nicht ihrerseits „nur“ in einem weiteren Legitimitätsglauben fundiert ist.15
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Bader ist der Ansicht, am Begriff der Legitimitätsgeltung lasse sich ablesen, dass Weber hier „Institutionalisierungsprozesse“ im Blick habe (Bader 1989: 307). Für Bader ist der Legitimitätsglaube keine eigene Orientierungskategorie, sondern von den Handlungsorientierungen dadurch unterschieden, dass er sich auf eine andere „Ebene“ bezieht, nämlich Mechanismen der Handlungskoordinierung – Legitimität tritt hier neben Brauch und Sitte, Solidarität und Interessenlage als Modi der Handlungskoordination, die sich allgemein als Weisen der Regelmäßigkeiten sozialen Handelns beschreiben lassen. Es ist m.E. zwar sinnvoll, die individuellen Handlungsorientierungen in dem Sinne vom Charakter der jeweiligen sozialen Beziehung zu lösen, dass soziale Beziehungen durch unterschiedliche Handlungsorientierungen gekennzeichnet sein können (wie wir bei abweichenden Orientierungen dann die soziale Beziehung im Ganzen beschreiben – ist zugegebenermaßen eine nicht leicht zu beantwortende Frage). Die sinnhaften Gehalte bleiben gleichwohl immer Orientierungskategorien. Das ist in Webers Definition des Ordnungsbegriffs unmissverständlich ausgesprochen: „Einen Sinngehalt einer sozialen Beziehung wollen wir a) nur dann eine ‚Ordnung’ nennen, wenn das Handeln an angebbaren ‚Maximen’ (durchschnittlich und annähernd) orientiert wird“ (Weber 1980: 16). Es ist also durchaus plausibler, Legitimitätsgeltung als eine Orientierungskategorie zu begreifen, die aber natürlich anderen Orientierungskategorien – wie den Bestimmungsgründen sozialen Handelns – natürlich jeweils näher oder ferner stehen kann (in dieser Richtung auch Tyrell 1980: 89). Fitzis Folgerung gilt daher nicht uneingeschränkt: „Die Legalität der Ordnung schöpft wiederum ihre ‚Legitimität’ entweder daraus, dass sie vereinbart wurde oder dass sie durch eine ‚legitim geltende Herrschaft’ von Menschen über andere Menschen oktroyiert wurde, der gegenüber man Fügsamkeit leistet. Damit führt die Begründung der Legalität auf den Legitimitätsglauben zurück, wodurch dieser für Weber zur Stütze des gesamten Gebäudes der Legalität wird“ (Fitzi 2004: 104). Eine Kritik an Weber entlang einer ähnlichen These, dass dieser Legitimität nämlich letztlich in einen unspezifizierten Legitimitätsglauben verlege, findet sich bei Beetham (Beetham 1991a: 10f., Beetham 1991b: 35).
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Diese Überlegung führt schließlich auch zur Frage nach dem Rechtspositivismus in Webers Konzept legaler Herrschaft. Wie Stefan Breuer zu Recht herausstellt, ist es gerade eine Stärke, dass Weber an dieses Konzept anschließt, denn der Gedanke des Satzungshaften des Rechts schließt hier unmittelbar an (Breuer 1991: 196). Daraus folgt natürlich nicht, dass Weber nun auch in normativer Hinsicht der Ansicht gewesen ist, dass beliebiges Recht einen Anspruch auf Legitimität erwerben könne (Breuer 1991: 196, ähnlich Lübbe 1991). Möchte man Webers Konzept der Herrschaftssoziologie auf den Nordirland-Konflikt beziehen, so bleibt die Frage nach Demokratie zu klären. Dieses Desiderat ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass sich der Protest gegen das Regime zunächst gegen seine Demokratiedefizite wendet (s.u.). Weber kennt zwar den Typus der demokratischen Legitimität, ausgearbeitet hat er ihn aber nicht. Im Zusammenhang der Herrschaftssoziologie begreift Weber die „demokratische Legitimität“ (Weber 1980: 156) als Umdeutung des Charismas: „Bei zunehmender Rationalisierung der Verbandsbeziehungen liegt es aber nahe: daß diese Anerkennung, statt als Folge der Legitimität, als Legitimitätsgru n d angesehen wird (demokratische Legitimität), die (etwaige) Designation durch den Verwaltungsstab als Vorwahl, durch den Vorgänger als Vorschlag, die Anerkennung der Gemeinde selbst als Wahl“ (Weber 1980: 156) 16. Dies gehört, wie Breuer festhält, zu den wenigen Momenten, in denen Webers Herrschaftssoziologie die Blickrichtung von der Beziehung der Herrengewalt und seinem Stab zu den Beherrschten umkehrt und nach den Anforderungen fragt, die sich für die Herrschaftsgewalt aus der Sicht der Beherrschten ergibt.17 Auch mit der Frage, was den Herrschaftsanspruch der konkurrierenden politischen Gruppen, insbesondere der IRA, legitim erscheinen lässt, wechselt man die Perspektive zur charismatischen Herrschaft, denn in dieser liegt das „revolutionäre“ Potential, während die legale Herrschaft eher als verstetigte Ordnung zu denken ist. Nimmt man diese Perspektive ein, so wird zu fragen sein, in welchem Maße charismatische Elemente sich an einer Organisation oder Idee kristallisieren können und solchermaßen eine legitimierende Wirkung zu entfalten vermögen. Im Kontext des NordirlandKonfliktes ist es an dieser Stelle sinnvoll, eine entsprechende Weiterung des Bereichs des Charismas vorzunehmen. Weber kennt bekanntlich einen Übergang des zunächst personengebundenen Charismas auf organisatorische Strukturen. Die Frage, welche Transformationen dem Charisma letztlich zugetraut werden können, ist in der Weberforschung aber umstritten. Dass dies der Fall ist, liegt nicht nur an Webers nicht immer eindeutigen Äußerungen, sondern hat seinen sachlichen Grund darin, dass die Ausdehnung des Konzepts kontrolliert erfolgen muss, so dass es sinnvolle Grenzen zulässt und nicht für jede veralltäglichte, entpersonalisierte und versachlichte soziale Beziehung eine charismatische Qualität behauptet werden kann.18 Erweiterungen des Weberschen Ansatzes, die in unserem Kontext 16 17
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„In seinem Wiener Vortrag 1917 hatte Weber genau in diesem Zusammenhang von einem ‚vierten Legitimitätsgedanken’ gesprochen“ (Hanke 2001: 44, vgl. auch Mommsen 2001: 314). Natürlich lassen Webers Ausführungen es zu, auch für die anderen Typen Hypothesen im Hinblick auf die Zustimmungsfähigkeit der Beherrschten zu entwickeln. Im Falle der legalen Herrschaft würden dazu Effizienzanforderungen, aber auch Kompatibilitätsanforderungen mit anderen Ordnungen, insbesondere der Wirtschaft, zu rechnen sein, aber dies muss erst abgeleitet werden – Webers eigentliches Interesse liegt hier, wie Breuer festhält, nicht: „Die Herrschaftssoziologie interessiert sich nicht für die Fälle, in denen sich eine Kluft zwischen diesem Glauben und dem Legitimitätsanspruch der Herrschenden öffnet, sondern für die Fälle, in denen dies nicht so ist“ (Breuer 1994: 177). „Das Charisma kann sich wohl traditionalisieren oder legalisieren, jedoch nur um den Preis des ‚langsamen Erstickungstodes’ […, J.G.]. Nur unter ganz außergewöhnlichen Umständen kann es sich veralltäglichen
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anschlussfähig sind, finden sich bei Günter Roth (1975, 1983) und im Anschluss an diesen bei Breuer. Beide knüpfen an Webers Konzept eines „Charismas der Vernunft“ an, das entpersönlicht ist, sich in den Ideen des Naturrechts verkörpert und schließlich im Zuge der bürgerlichen Revolution durch das liberale Bürgertum institutionalisiert wird.19 „Das Naturrecht ist daher die spezifische Legitimitätsform der revolutionär geschaffenen Ordnungen. Berufung auf ‚Naturrecht’ ist immer wieder die Form gewesen, in welcher Klassen, die sich gegen die bestehende Ordnung auflehnten, ihrem Verlangen nach Rechtsschöpfung Legitimität verliehen, sofern sie sich nicht auf positive religiöse Normen und Offenbarungen stützten“ (Weber 1980: 497). Eine tragende Rolle spielt dabei auch die französische Tradition einer Nationalisierung des Charismas (Roth 1975: 152). Breuer knüpft, in dem er nach dem Charisma der Nation fragt, an diese Überlegungen an. Auch er sieht eher eine Nationalisierung des Charismas der Vernunft als eine eigenständige Form des Charismas der Nation (Breuer 1994: 120). Es lasse sich weniger von einem genuinen „Charisma der Nation“ sprechen, entscheidend sei aber häufig ein „Charisma des Krieges“, das sich in bestimmten Situationen mit der Idee der Nation verbinde (Breuer 1994: 139).20 Dies führt mich zu den Anknüpfungspunkten, die sich in Webers politischer Soziologie finden lassen. Auch für diese gilt zwar, dass sich Grenzen der Anschließbarkeit ergeben, so auch für die politischen Schriften, die stark an spezifischen Fragen der deutschen Situation (Weltkrieg und Parlamentarismus) anknüpfen und Formen der außerparlamentarischen und illegitimen Gewalt weit weniger berücksichtigen. Dennoch ist gerade der Aspekt der Nation für eine Deutung des Nordirland-Konfliktes aus der Sicht der Weberschen Soziologie geeignet, denn der Nordirland-Konflikt ist auch ein Konflikt, der als Gegensatz zwischen Nationen betrachtet wird (s.u.). Den begrifflichen Kern der Nation macht Weber am Anspruch auf Solidarität fest: „Er [der Begriff der Nation, J.G.] besagt, im Sinne derer, die ihn jeweilig brauchen, zunächst unzweifelhaft: daß gewissen Menschengruppen ein spezifisches Solidaritätsempfinden anderen gegenüber zuzumuten sei“ (Weber 1980: 528). Was den „Inhalt“ der Nation angeht, so hält Weber fest, dass es eine Möglichkeit der eindeutigen allgemeinen Definition „nach empirischen gemeinsamen Qualitäten der ihr Zugerechneten“ nicht geben könne. Weder Staatlichkeit, Sprache, ethnisches Zusammengehörigkeitsgefühl oder gemeinsame Kulturgüter sind notwendige oder hinreichende Bestimmungsgründe des Nationalgefühls, auch wenn sich an ihnen die „Idee der ‚Nation’“ festmachen könne (Weber 1980: 528f.).
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und dabei einen Rest seiner ursprünglichen Aura bewahren – in Institutionen, die in dieser Welt, aber doch nicht ganz von dieser Welt sind, wie der katholischen Kirche oder der Erbmonarchie“ (Breuer 1991: 216, vgl. auch Schluchter 1991, insbes. 549, sowie neuerdings Bienfait 2006). „die charismatische Verklärung der ‚Vernunft’ (die ihren charakteristischen Ausdruck in ihrer Apotheose durch Robespierre fand), ist die letzte Form, welche das Charisma auf seinem schicksalsreichen Wege überhaupt angenommen hat. Es ist klar, daß jene Forderung formaler Rechtsgleichheit und ökonomischer Bewegungsfreiheit sowohl der Zerstörung aller spezifischen Grundlagen patrimonialer und feudaler Rechtsordnungen zugunsten eines Kosmos von abstrakten Normen, also indirekt der Bürokratisierung, vorarbeiteten, andererseits in ganz spezifischer Art der Expansion des Kapitalismus entgegenkommen“ (Weber 1980: 726). Die Bedeutung dieses Aspekts und Webers eigene Haltung zur Nation findet sich in seinen Schriften zur Politik. Seine kritische Haltung zu Pazifismus und zur Gesinnungsethik im Kontext des Politischen stehen damit in einem unmittelbaren Zusammenhang. „Denn wenn es in Konsequenz der akosmistischen Liebesethik heißt: »dem Übel nicht widerstehen mit Gewalt«, – so gilt für den Politiker umgekehrt der Satz: du sollst dem Übel gewaltsam widerstehen, sonst – bist du für seine Überhandnahme verantwortlich“ (Weber 1988c: 550).
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Nation ist für Weber eine Kategorie, die stets einen politischen Bezug beinhaltet: „Immer wieder finden wir uns bei dem Begriff ‚Nation’ auf die Beziehung zur politischen ‚Macht’ hingewiesen, und offenbar ist also ‚national’ – wenn überhaupt etwas Einheitliches – dann eine spezifische Art von Pathos, welches sich in einer durch Sprach-, Konfessions-, Sitten- oder Schicksalsgemeinschaft verbundenen Menschengruppe mit dem Gedanken einer ihr eigenen, schon bestehenden oder von ihr ersehnten politischen Machtgebildeorganisation verbindet, und zwar je mehr der Nachdruck auf ‚Macht’ gelegt wird, desto spezifischer“ (Weber 1980: 244). Weber führt dies nicht zuletzt darauf zurück, dass die Idee der Nation aus Machtinteressen von privilegierten Schichten entsteht und dann durch einen Kulturbezug zu einer Idee der Nation geformt wird: „Das nackte Prestige der ‚Macht’ wandelt sich jedoch unter dem Einfluß dieser Kreise unvermeidlich in andere, spezifische Formen ab, und zwar in die Idee der ‚Nation’“ (Weber 1980: 528). Weber nimmt mit seinen Überlegungen demnach eine Reihe von Thesen vorweg, die in der Nationalismusforschung später eingehender entfaltet werden. Andersons These von Nationen als „imagined communities“ oder Hobsbawms „invented traditions“ findet sich bereits bei Weber wie auch die Betonung der Rolle kultureller Eliten in der Formierung der Idee der Nation (vgl. auch Bendix 1982: 120).21 Zum Pathos der Nation trägt nun schließlich nach Weber die Rolle des gewaltsamen Kampfes unmittelbar bei: „Die politische Gemeinschaft gehört ferner zu denjenigen [Gemeinschaften], deren Gemeinschaftshandeln, wenigstens normalerweise, den Zwang durch Gefährdung und Vernichtung von Leben und Bewegungsfreiheit sowohl Außenstehender wie der beteiligten selbst einschließt. Es ist der Ernst des Todes, den eventuell für die Gemeinschaftsinteressen zu bestehen, dem Einzelnen hier zugemutet wird. Er trägt der politischen Gemeinschaft ihr spezifisches Pathos ein. Er stiftet auch ihre dauernden Gefühlsgrundlagen. Gemeinsame politische Schicksale, d.h. in erster Linie gemeinsame politische Kämpfe auf Leben und Tod, knüpfen Erinnerungsgemeinschaften, welche oft stärker wirken als Bande der Kultur-, Sprach- oder Abstammungsgemeinschaft. Sie sind es, welche […, Auslassung, J.G.] dem ‚Nationalitätsbewußtsein’ erst die letzte entscheidende Note geben“ (Weber 1980: 515)22.
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Der Nordirlandkonflikt und das Wiederaufleben der Gewalt ab 1968
Der Nordirlandkonflikt hat eine lange Vorgeschichte, die hier nicht weiter ausgeführt werden soll. Eine umfassende Deutung hätte diese natürlich zu berücksichtigen. Insbesondere der Phase des 18./19.Jahrhunderts käme eine entscheidende Bedeutung zu, da sich hier – beeinflusst von den Entwicklungen in Amerika und in Frankreich – ein „irischer“ Nationa21
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Eine ausgearbeitete “Theorie” der Nation finden wir bei Weber gleichwohl nicht. Für umfassende Überblicke über die Forschungen zu Nation und Nationalismus vgl. Langewiesche (Langewiesche 1995, Langewiesche 2005) – dort auch weitere Literatur. Vgl. zur Rolle des Krieges als affektive Bindungen schaffendes Geschehen auch Weber (Weber 1988a: 548): „Der Krieg als die realisierte Gewaltandrohung schafft, gerade in den modernen politischen Gemeinschaften, ein Pathos und ein Gemeinschaftsgefühl und löst dabei eine Hingabe und bedingungslose Opfergemeinschaft der Kämpfenden und überdies eine Arbeit des Erbarmens und der alle Schranken der naturgegebenen Verbände sprengenden Liebe zum Bedürftigen als Massenerscheinung aus, welcher die Religionen im allgemeinen nur in Heroengemeinschaften der Brüderlichkeitsethik ähnliches zur Seite zu stellen haben.“
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lismus erst zu einer eigenen Gestalt entwickelt (Boyce 1995, Garvin 1987, Jackson 1999, Hutchinson 1987). Auch wäre die Rolle der IRA für die Formierung der Republik Irland eingehender darzustellen. Hier interessiert die Entwicklung, die sich ab Mitte der 60er Jahre bis Anfang der 70er Jahre vollzieht und in deren Zuge es – nach einer Phase eines relativ geringen Gewaltniveaus – zu einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß an Gewalt in Nordirland kommt. Mitte der 60er Jahre entsteht in Nordirland eine Bürgerrechtsbewegung, die von Mitgliedern der katholischen Mittelklasse getragen wird und sich gegen die Diskriminierung der katholischen Bevölkerungsminderheit in Nordirland richtet (Report of the commission 1969: Abs. 10ff.): 1964 wird die „Campaign for Social Justice in Northern Ireland” gegründet, 1967 bildet sich nach dem Vorbild und unter Unterstützung durch den „National Council for Civil Liberties“ die „Northern Ireland Civil Rights Association” (NICRA) (Rose 1971: 102). Daneben sind eine Reihe weiterer Gruppen in der Bürgerrechtsbewegung aktiv (English 2003: 94). Die Bürgerrechtsbewegung richtet ihren Protest dabei vorrangig nicht an nationalistischen Zielen aus. „The civil rights groups reversed the tactics of Sinn Fein. Instead of trying to change the regime by refusing recognition of British sovereignty, they sought to change it by claiming full rights as British citizens. The major planks of the 1968 campaign concerned one man, one vote, one value in local elections; anti-discrimination legislation covering public employment and public administration; allocation of subsidized public housing by objective measures of need; repeal of the Special Powers Act; and disbanding the Ulster Special Constabulary. By British standards, most of these demands seemed moderate, even elementary” (Rose 1971: 156). In welchem Maße die Bürgerrechtsbewegung dennoch durch republikanische Ziele gekennzeichnet ist, ist in der Literatur umstritten, dennoch wird man festhalten können, dass sie durch diese nicht bestimmt wird und auch die offiziellen Forderungen nicht daran ausgerichtet sind. „Officially, the Association (NICRA) campaigned only on civil rights issues“ (Smith/Chambers 1991: 12, vgl. auch McKittrick/McVea 2001: 38, Moloney 2002: 63)23. Ähnliches wird man für die Repräsentanz der IRA in der Bewegung sagen können. Die IRA ist ein Teil der Bürgerrechtsbewegung, aber die Bürgerrechtsbewegung wird keineswegs von ihr dominiert: „It would be fair to say that the Civil Rights movement had far more influence on the IRA than the reverse“ (Bell 1979: 358; in diesem Sinne auch McKittrick/McVea 2001: 44, Rose 1971: 164)24. Zudem ist die IRA zu diesem Zeitpunkt selbst durch ein Programm gekennzeichnet, das stärker sozialistisch als nationalistisch geprägt ist – das Ziel einer gesamtirischen Lösung ist nicht aufgegeben, aber der Nordirland-Konflikt wird zu dieser Zeit von der IRA als Klassenkonflikt gedeutet.25 Militärisch ist die IRA zudem weitgehend, wenn auch nicht vollständig, abgerüstet (English 2003: 84). Die Protestmärsche der Bürgerrechtsbewegung 1968 entzünden sich an einem Fall der diskriminierenden Vergabe eines Hauses, in der eine allein stehende 19 jährige Protestantin bei der Vergabe eines Hauses einer katholischen Familie vorgezogen wird (Rose 1971: 23 24
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So auch schon der nach dem Vorsitzenden der Kommission, Lord Cameron, auch als Cameron-Report bezeichnete Untersuchungsbericht zum Entstehen der Troubles (Report of the commission 1969: Absatz 12). Mittlerweile wird der Anteil der IRA an der Initiierung der Bürgerrechtsbewegung für größer gehalten (English 2003: 88ff.), aber von einer Dominanz der Bürgerrechtsbewegung lässt sich, so English, gleichwohl nicht sprechen: „it was the IRA that helped to initiate a civil rights campaign which grew to encompass many people who did not share the IRA’s philosophy“ (English 2003: 98). „Goulding [Chief of staff der IRA ab 1962, J.G.] was wedded to the principle of non-sectarianism: British imperialism was the enemy, not the Protestant working class“ (Taylor 1997: 23).
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102). Ein erster Protestzug am 24. August 1968 verläuft weitgehend friedlich, aber zu unverhältnismäßig großer Gewalt, nicht zuletzt durch die RUC, der mehrheitlich mit Protestanten besetzen nordirischen Polizei, kommt es bei einem Marsch am 5.Oktober 1968 in Derry (English 2003: 100, Rose 1971: 103). Dass diese gefilmt wird und die Bilder um die Welt gehen, bestimmt die Wirkung dieses Ereignisses erheblich: „Police brutality on the printed page from a small provincial city might have passed unnoticed in Great Britain, has passed unnoticed in the past; but film, action film, was gobbled up not just in Britain but worldwide […] and Derry offered hard news violence where the good guys and the bad were easy to recognize. The bad guys were Protestants in police uniforms or the Protestant officials in tailored suits who soon appeared not to apologize but to explain why whacking Catholics was necessary” (Bell 1994: 65). Der nordirische Premierminister O’Neill kündigt im Anschluss an zwar Reformen an, aber diese bleiben weit hinter den Forderungen der Bürgerrechtsbewegung zurück, so wird vor allem die Forderung nach dem gleichen Stimmrecht nicht berücksichtigt (Rose 1971: 104). Zu einer neuen Stufe des Konfliktes kommt es im Sommer 1969. In Derry eskaliert die Gewalt in der so genannten „Battle of the Bogside“. Sie beginnt am 12. August 1969 als im Anschluss an einen Protestmarsch Straßenschlachten zwischen Protestantischen Apprentice Boys, B-Specials und Katholiken stattfinden. Auch in Belfast kommt es zu wachsenden Unruhen. Diese eskalieren in der Nacht zum 14. August – sechs Menschen sterben und viele werden verletzt (Bell 1979: 364). Bell spricht hier von Situationen, die durchaus „Pogromen“ nahe kommen (Bell 2000: 50). Dazu gehören vor allem die Zerstörungen von Häusern und die Vertreibungen von Bewohnern. So kommt ein Untersuchungsbericht zu dem Schluss, dass zwischen Juli und August 1969 1,6% der Belfaster Haushalte zum Umzug gezwungen waren. Dies betraf insbesondere katholische Familien (schätzungsweise 500 und damit fünf mal mehr als protestantische) (Moloney 2002: 68). Am 14. August rücken britische Truppen in Derry ein, am 15. August auch in Belfast (Bell 1979: 364, Dochartaigh 1997: 129). Von den Katholiken werden sie als Schutzmacht zunächst begrüßt (zu dieser „‚honeymoon’ period“ vgl. Dochartaigh 1997: 153ff., McKittrick/McVea 2001: 56, Taylor 1997: 56, 72). Ein Faktor, der den darauf folgenden Verlauf unmittelbar bestimmt, liegt in der Entwicklung, die sich in der IRA vollzieht. Nach 1962 hatte sich die IRA nicht nur ideologisch gewandelt – hin zu einer marxistischen Ideologie, die den Klassenkampf in den Vordergrund stellte26, sie war – wie bereits gesagt – entsprechend auch als militärische Kraft kaum mehr vorhanden: „the IRA as a military force was virtually non-existent“ (Taylor 1997: 21)27. Als Schutzmacht der Katholiken konnte sie daher im Verlaufe der Unruhen im Sommer 1969 nicht dienen. Davon zeugt nicht zuletzt der an die Wände gemalte Slogan „IRA –
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Diese sah eine an Stalins Schriften orientierte Drei-Phasen-Entwicklung voraus: „The first would be the creation of a normal liberal, parliamentary democracy in the North, which would be achieved through agitation on civil rights issues. […] In the second phase revolutionary links would stretch across the Border as radicalized and increasingly united Northern workers would make common cause with their Southern counterparts […]. The third phase would be revolution and final victory” (Moloney 2002: 57). Vor diesem Hintergrund verlor der bewaffnete Kampf entsprechend seine unmittelbare Bedeutung (Moloney 2002: 58). Zur Bewaffnung der IRA in Belfast im August 1969 vgl. auch Bell (1994: 107): „The total on hand the night of August 14 came to two Thompson submachine guns 1921 vintage, one Sten, one Lee-Enfield rifle and nine handguns.”
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I Ran Away“ (Bell 1994: 113). In Belfast ist zudem die Gruppe der IRA Mitglieder so gering, dass Bell feststellt: „There had not even been an IRA to run away“ (Bell 1994: 113). Die Unruhen führen nicht nur zu einem Zulauf der IRA – Ende 1969 vollzieht sich auch die Abspaltung der Provisional IRA (häufig als Provos oder PIRA bezeichnet) von der dann unter dem Namen Official IRA (abgekürzt dann OIRA) weiter bestehenden ursprünglichen IRA. Auslöser der Trennung ist die Diskussion um den Abstentionismus, die Doktrin einer Nichtanerkennung jeder nichtgesamtirischen Regierung in Irland, an der sich schon nach der Gründung der Republik eine Abspaltung der IRA vollzogen hatte. „In December 1969, the Army Convention met in Dublin and voted, reportedly, thirty-nine to twelve to recognize – de facto – the two Irish governments and Westminster“ (Bell 1979: 366). Dagegen richten sich die Abspalter, die einen Provisional Army Council bilden und erklären, an der gesamtirischen Republik festzuhalten (Bell 1979: 366). Über die Frage des Abstentionismus wird die Trennung Anfang 1970 auf einem Treffen der IRA-Führung endgültig vollzogen (Bell 1979: 367). In einer späteren Erklärung wird eine Reihe von weiteren Gründen für die Abspaltung genannt: „the leadership’s support of extreme socialism leading to totalitarian dictatorship, the failure to protect the people of the North in August, the suggestion that Stormont should be abolished and the North come under direct Westminster rule“ (Bell 1979: 368, vgl. auch Moloney 2002: 75, 79). Zu den Gründen gehört demnach auch die Differenz im Hinblick auf die ideologische Ausrichtung der Official IRA: „The PIRA advocacy of ‚national liberation’ before ‚national socialism’ is diametrically opposed to the OIRA strategy of winning over working-class support in both the Republic and the North before pushing for unification” (Moxon-Browne 1981: 48)28. Nach dieser Trennung findet eine massive Aufrüstung insbesondere der Provisional IRA statt, nicht zuletzt mit der Unterstützung durch nordamerikanische Iren (Bell 1979: 373). Zu einem ersten Bruch der Waffenruhe zwischen Katholiken und der Armee kommt es während Unruhen im April 1970. Langsam schwindet auch das Bild der Briten als neutraler Macht. Am 3. Juli 1970 beginnen Hausdurchsuchungen, die den Eindruck einer Schutzmacht für die Katholiken unterminieren (Rose 1971: 111, vgl. auch Moxon-Browne 1981: 48f.). Gleichzeitig beginnt die PIRA Bomben zu legen: „And the Provos began to rock the province: 37 in April, 47 in May, 50 in June” (Bell 1979: 380). Im Juni 1970 verabschiedet Stormont den „minimum sentences act“, der jeden Bruch des Friedens mit einer mindestens sechs monatigen Freiheitsstrafe belegte (Rose 1971: 135). Dies führte nicht zum Erfolg, sondern erzeugte neue Entfremdungen, insbesondere deswegen, weil es zu unverhältnismäßigen Urteilen führte: „For example, in 1970, a Catholic docker was charged with action likely to cause a breach of the peace, convicted and sentenced to six months in jail. The overt act that constituted the crime was painting on the wall of a house in a Catholic district the slogan ‚No tea here’“ (Rose 1971: 131)29. Am 19.Juli führt Faulkner, der im März Chichester-Clark als Ministerpräsidenten ablöst, die Möglichkeit zur Internierung ohne rechtskräftiges Verfahren ein (Bell 1979: 381). Die Internierungen sollten auch gegen Protestanten gerichtet werden; sie treffen aber zunächst ausschließlich die Katholiken: „Internment, of course, was not to be even-handed but limited to Republicans and agitatotors, i.e. Catholics“ (Bell 1979: 381). Das Internment erweist sich als polizeiliches (weil die zentralen Akteure nicht gefasst werden können) und 28 29
Dennoch bleibt auch in der PIRA eine „sozialistische“ Strömung erhalten, zumindest die Bindung an eine „working-class politics“ (English 2003: 130). Der Slogan spielt auf die ‚honeymoon’-Phase im Verhältnis der Katholiken und der britischen Armee an.
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politisches Desaster: „alienating many of the still neutral Catholic middle class, in no way damaging the structure of the Officials or the Provos, and to an increasingly fascinated world revealing the secretarian nature of justice – British justice supposedly – in Northern Ireland“ (Bell 1979: 381, vgl. auch McKittrick/McVea 2001: 70f.). Hinzu kommen Misshandlungen in der Haft.30 Im Herbst 1971 beginnt eine Grenzaktion der IRA, welche die Briten im Oktober bewegt, Straßen in den Süden mit Kratern zu versehen – auch dies schafft eine weitere Entfremdung zwischen den Katholiken und der Armee (Bell 1979: 383) und verhilft der IRA auch in der „Provinz“ zu neuer Unterstützung (Moloney 2002: 103). Einen massiven Zulauf erhält die IRA schließlich im Anschluss an den „Bloody Sunday“ (30. Januar 1972), als während einer Demonstration der Bürgerrechtsbewegung Fallschirmjäger höchstwahrscheinlich ohne erkennbaren Grund in die Menge schießen und dreizehn Zivilisten töten sowie 17 verwunden (Bew/Gillespie 1993: 44). Am 24. März wird die Regierung in Stormont aufgelöst und durch die direct rule aus London ersetzt (Bell 1979: 387). Die Gewalt wächst danach weiter (McKittrick/McVea 2001: 82).
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Religion, Klasse, Nation? Eine Weberianische Perspektive auf den Nordirland-Konflikt
Soweit zur „Ereignisgeschichte“ zwischen 1968 und 1972. Eine an Webers Forschungsprogramm ansetzende Erklärung wird stets von den zentralen Akteuren, ihren Orientierungen und ihren Handlungsoptionen ausgehen. Interpretiert man die Gewalt als Element eines politischen Kampfes, so wird man bestimmen müssen, zwischen wem dieser Kampf ausgetragen wird und hierbei berücksichtigen, welche Interessen die Akteure mit ihrem Tun verbinden. Dabei wird man stets auch im Auge behalten müssen, wie sich das Verhältnis von Eliten und „Laien“ darstellt. Bei der Bestimmung der relevanten Interessen wird man zudem materielle und ideelle Interessen im Blick zu behalten haben.31 Welche Akteursgruppen sind für den Konfliktverlauf relevant? Spitzt man zu, so vollzieht sich der Konflikt zwischen Vertretern der Bürgerrechtsbewegung, der IRA, den unionistischen Gruppen – hier wird man insbesondere die Rolle von Ian Paisley betonen müssen –, den politischen Vertretern von Katholiken und Protestanten sowie den Regierungen in Dublin und London. In der Folge soll die Diskussion um die Ursachen des Konflikts untersucht werden. Dabei wird sich zeigen, dass es sinnvoll ist, den Konflikt auch als einen Konflikt zwischen Gemeinschaften mit unterschiedlichen nationalen Bindungen zu begreifen. Diese natio30
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„Among the methods used on the internees were the ‘five techniques’: placing a hood over the head; forcing the internee to stand spreadeagled against a wall for long periods: denying regular sleep patterns; providing irregular and limited food and water; and subjecting people to white noise in the form of constant humming sound” (English 2003: 142). „Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die »Weltbilder«, welche durch »Ideen« geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte“ (Weber 1988a: 252). Beide lassen sich trennen, sie sind aber auch miteinander vermittelt: „Ideen und Interessen stehen sich nicht unvermittelt gegenüber. Ideen sind interessenbezogen, sie müssen etwas ‚leisten’. Religionen müssen die spezifische Lebenserfahrung der ‚Irrationalität’ ihrer Gläubigen deuten können, Rechtsnormen dienen in jeweils unterschiedlicher Art der Durchsetzung materieller Interessen. Umgekehrt sind Interessen ideenbezogen, sie richten sich auf Ziele und bedienen sich legitimierter Mittel. Das ideelle Interesse einer Gruppe an der Interpretation, Artikulation und Verwirklichung von Ideen wird zugleich zu ihrem materiellen Interesse, wenn sie daraus Einfluß und Einkommen zu beziehen versucht“ (Lepsius 1990: 42f.).
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nalen Bindungen lassen sich aber nicht auf Klassenlagen oder auf religiöse Lagen zurückführen. Auch sollte man darauf verzichten, den Konflikt als einen zu interpretieren, der sich zwischen zwei monolithischen Blöcken vollzieht. So verlaufen auch die Identitäten der Nordiren nicht eindeutig entlang gegensätzlicher nationaler Identifikationen. Im Loyalty Survey von 1968 antworteten auf die Frage „Which of these terms best describes the way you usually think of yourself?“ die Protestanten mit: British (39%), Irisch (20%), Ulster (32%), manchmal Britisch, manchmal Irisch (6%), Anglo-Irisch (2%), Andere (1%), die Katholiken mit: Britisch (15%), Irisch (76%), Ulster (5%), manchmal Britisch, manchmal Irisch (3%), Anglo-Irisch (1%), Andere (0%) (Rose 1971: 485)32 Zwar nehmen sich die Katholiken demnach mehrheitlich als Irisch wahr und Protestanten als Britisch oder Ulster, aber es liegt keineswegs eine eindeutige Entsprechung vor. Wie stellt sich die konstitutionelle Ausgangskonstellation dar, in der sich der Konflikt entwickelt? Nordirland ist ein Teil des Vereinigten Königreiches, aber mit einer Teilautonomie versehen, zu der eine eigene Regionalregierung gehört (nach dem Regierungssitz gemeinhin als Stormont-Regime bezeichnet), die durchgängig von protestantischen Parteien und Personen geführt wird. Die Republik Irland beansprucht konstitutionell, in ihrer Verfassung von 1937, eine gesamtirische Lösung. Diese wird aber in den 60ern von Dublin aus nicht massiv verfolgt – ein Gewalteinsatz spielt hierbei ebenfalls keine Rolle. Auch eine Unterstützung des bewaffneten Kampfes der IRA findet nicht statt. Im Gegenteil, eine Kampagne der IRA zwischen 1956 und 1962 findet auch deswegen ihr Ende, weil die Regierung in Dublin hilft, sie zu bekämpfen. Dem konstitutionellen Anspruch der Republik Irland auf eine gesamtirische Lösung steht Londons im Ireland Act von 1949 formulierte Garantie gegenüber, nach der eine solche nur durch eine Mehrheitsentscheidung der Nordiren herbeigeführt werden kann. Der Konflikt findet zudem statt vor dem Hintergrund einer starken Trennung beider „Gemeinschaften“ – dies betrifft teilweise eine räumliche Segregation, aber auch die Trennung von Freizeitaktivitäten, insbesondere aber v.a. die des Schulsystems. Auch sind interkonfessionelle Heiraten höchst selten (Whyte 1994: 37ff.). Hinsichtlich der ökonomischen Situation bestand zur Zeit des Ausbruchs der Troubles ebenfalls ein erhebliches Gefälle. Am gravierendsten fällt dabei die Differenz in der Arbeitslosigkeit aus. „The 1971 census revealed that Catholic males were 2.62 times more likely than Protestant males to be unemployed“ (Whyte 1994: 59). Für den Konfliktverlauf wird in der Forschung eine Reihe von Ursachen angegeben. Dies werde ich in der Folge kurz ausführen (gute Überblickdarstellungen finden sich bei MacGarry/O’Leary 2000, Whyte 1994). Nach einer Interpretationslinie ist der NordirlandKonflikt ein religiöser Konflikt (Whyte 1994: 109). Einerseits erscheint dies natürlich plausibel, weil die relevanten Gruppen entlang ihrer Religionszugehörigkeiten unterschieden werden, andererseits gibt es eine Reihe von Indizien, die gegen diese Interpretation sprechen. So dreht sich der Konflikt im Kern nicht um religiöse Inhalte, auch wird er von den beteiligten Aktivisten nicht in religiösen, sondern in politischen Begriffen beschrieben (wie Nationalisten vs. Unionisten; auch die Parteinamen sind weitestgehend politisch, nicht religiös bestimmt. Eine kurze Ausnahme bildet Paisley Protestant Unionist Party, die 1969 gegründet, bereits aber 1971 in Democratic Unionist Party umbenannt wird, vgl. McGarry/ O’Leary 1995: 193). Im Ganzen wird man sich hier also besser der Einschätzung von McGarry und O’Leary anschließen: „Religion is the key ethnic marker, facilitating the 32
1978 ist die Identifikation der Protestanten mit dem Britischsein freilich auf 67% gewachsen (Whyte 1994: 67).
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residential, maritial and educational seggregation which helps reproduce the two ethnic/national communities. Because religion is the key marker its importance is exaggerated. It is an analytical mistake to endow the boundary-marker with more significance than the fact that there is a boundary” (McGarry/O’Leary 1995: 212). Von vielen ist der Konflikt als Klassenkonflikt gedeutet worden (vgl. die Darstellung der unterschiedlichen Varianten dieser Erklärung bei McGarry/O’Leary 1995: 62ff. und 138ff.). Dies ist aber eine ebenfalls schwer durchzuhaltende Deutung, weil einerseits die Segregation zwischen den Gemeinschaften in weiten Teilen nicht entlang der Besitzverhältnisse verläuft und andererseits kaum die Selbstwahrnehmung der Nordiren trifft. Gegen eine Interpretation entlang eines Klassenkonfliktes sprechen so auch die Ergebnisse des Loyal Survey. Rose macht entsprechend als „strong identifiers“ für die Protestanten Religion 45%, Nationalität 45%, Partei 28% und Klasse (class) 13% aus. Für die Katholiken ergibt sich ein ähnliches Bild (Religion 38%, Nationalität 28%, Partei 16% und Klasse 10%) (Rose 1971: 153). Oder, wie MacGarry und O’Leary bündig formulieren: “The truth is mundane: Northern Ireland has no significant class parties because class divisions are not as serious as its other divisions” (MacGarry/O’Leary 2000: 158). Dies bedeutet natürlich nicht, dass die ökonomischen Benachteiligungen keine Rolle im Konfliktverlauf gespielt haben. Im Gegenteil33, aber diese stellen keinen Klassengegensatz dar. Eine Reihe von weiteren Erklärungen für den Konflikt ist in der Forschung zu finden. Hierzu gehört die Rolle der Londoner Regierung und der irischen Republik, die beide unterschiedliche Handlungsoptionen und Identifikationen eröffnen.34 Daneben wird der Konflikt geprägt durch den internationalen Kontext. Hierher gehören nicht zuletzt die Unterstützung durch Iren in den USA und Waffenlieferungen aus den USA sowie Libyen. Auch ideelle Faktoren spielen hier eine nicht unerhebliche Rolle. Die Bürgerrechtsbewegung knüpft unmittelbar an Ziele und Protestmittel der Bürgerrechtsbewegung in den USA an und damit an eine Legitimitätsressource, die sich als eine sich in den 60er Jahren sich vollziehende „revolution of entitlements“ (so Roth 1975: 156 im Anschluss an Bell) beschreiben lässt. Die IRA kann Legitimität zudem durch den Bezug auf nationale Befreiungsbewegungen und den Prozess der Entkolonialisierung gewinnen (English 2003: 124). Guelke hat die These vertreten, dass es der – gemessen am Territorialprinzip – „anomale“ Status der Zugehörigkeit Nordirlands zum Vereinigten Königreich ist, der den Konflikt bestimmt. “The root of that problem lies in the conditional nature of Northern Ireland’s membership of the United Kingdom. […] It [dieses arrangement, J.G.] is clearly derived from a quintessentially British notion of political legitimacy, embodied in the relationship that Britain has with its remaining colonies. This is the notion that consent, and not territory, defines the 33
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Vgl. auch die Resultate einer Befragung in Nordirland von 1973-74, in der nach der Zustimmung zu der folgenden Behauptung gefragt wurde: „One of the main causes of the Troubles is the lack of job opportunities for Roman Catholics because Protestants are given preference”. Unter den Protestanten stimmten 17% zu, 77% verneinten sie, unter den Katholiken stimmten 78% zu und 17% verneinten sie (McGarry/O’Leary 1995: 108). So betrachtet Rose Nordirland als „doppeltes Fragment“, einerseits gegenüber Irland und andererseits gegenüber Britannien (Rose 1971: 74). Zur im Ganzen aber eher abwartenden Haltung von Dublin vgl. English (English 2003: 117ff., auch Bell 2000: 35), zu der von Westminister Bew, Gibbon und Patterson (Bew et al. 2002: 150ff.), sowie John Whyte, der zu dem Schluss kommt, dass: „Britain’s long-term objective in Ireland is unclear. Furthermore, it has never been clear, from the time of partition onwards“ (Whyte 1994: 143) und darin ein Problem ausmacht, weil es beiden Gruppen unklare Perspektiven vermittelt, da sie England jeweils ganz unterschiedliche Ziele unterstellen können – dies begründe die Angst der Unionisten, dass Nordirland aufgegeben werden könne und die Angst der Katholiken, dass die Briten langfristig in Nordirland bleiben wollen (Whyte 1994: 145).
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boundaries to Britain’s authority; of course it fits awkwardly in a world divided into states which are clearly defined in territorial terms” (Guelke 1988: 197). Diese Anomalie führt auf beiden Seiten zur Legitimation von Gewalt: „It helps to promote a siege mentality among Protestants that provides a justification for the existence of Loyalist paramilitaries. At the same time, it gives external credibility to the Provisional IRA’s claim that it is engaged in an anti-colonial struggle against British imperialism” (Guelke 1988: 18)35. Schließlich legen die Resultate von Thompson (Thompson 1989) es nahe, dass sich auch im Nordirland-Konflikt dasjenige bemerkbar macht, was Weber als das „Pragma der Gewalt“ bezeichnet: „Gewalt und Bedrohung mit Gewalt gebiert aber nach einem unentrinnbaren Pragma alles Handelns unvermeidlich stets erneut Gewaltsamkeit.“ (Weber 1988a: 547)36 Es gibt demnach eine Reihe von plausiblen Erklärungen für den Konflikt, gleichwohl bleibt, auch dies lässt sich an der Diskussion um den Konflikt ablesen, die Frage der kausalen Zurechnung (Kausaladäquanz) schwierig. Dies gilt natürlich insbesondere für die Abschätzung des relativen Gewichts der einzelnen Faktoren. Die starke Identifikation der Nordiren mit der Nation (vgl. oben) spricht dafür, den Konflikt als eine Auseinandersetzung zwischen nationalen Gemeinschaften zu sehen.37 In welchem Maße dies ursächlich für die Gewalt ist, ist in der Forschung umstritten. Dies kann man nicht zuletzt an einer Diskussion zwischen Hewitt und O’Hearn (Hewitt 1981, Hewitt 1983, Hewitt 1985, Hewitt 1987, O’Hearn 1983, O’Hearn 1985, O’Hearn 1987, Kovalcheck 1987) um das Gewicht von Diskriminierung und Nationalismus ablesen. Hewitt richtet sich gegen eine gängige und früh bereits von der Cameron Commission vorgebrachte Erklärung der Gewalt, die als unmittelbaren Anlass die Missstände im Hinblick auf die Wahlberechtigung, das gerrymandering, die Zuteilung von Häusern und die Vergabe von Arbeitsplätzen sowie die hohe Arbeitslosigkeit der Katholiken sah (Hewitt 1981: 363). Gegen diese These setzt Hewitt die Annahme, dass es eher der traditionelle katholische Nationalismus war, der die Gewalt begründet. Diese Argumentation stützt Hewitt im Wesentlichen auf drei Argumente. Erstens, indem er zu zeigen versucht, dass die Diskriminierung der Katholiken, v.a. im Hinblick auf das gerrymandering, nicht das beklagte Ausmaß hatte (Hewitt 1981: 364). Zweitens, indem er argumentiert, dass die Zustimmung zu den Zielen der Bürgerrechtsbewegung durchaus mit dem Ziel einer konstitutionellen Veränderung zugunsten eines vereinigten Irland einherging. Er nutzt hierzu Daten des Loyalty Survey von Rose, demzufolge unter denjenigen, die den Bürgerrechtsprotesten zustimmten, auch eher diejenigen zu finden waren, welche die Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland ablehnten (57%, die Grenze nicht akzeptieren, gegen 27%, die sie akzeptieren und 16%, die es nicht wissen) (Hewitt 1981: 373). Drittens betrachtet Hewitt den Zusammenhang zwischen Regionen hinsichtlich ihres Anteils an Wählern der nationalistischen 35
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Whyte weist zudem auf die Anomalie hin, dass britische Regierungen die Option der Sezession anerkennen. „British governments have specifically acknowledged Northern Ireland’s right to secede from the United Kingdom. By international standards it is unusual for any State to grant a right of secession to part of its territory, and the fact that Britain so done so damages the legitimacy of British rule” (Whyte 1994: 201). So ergibt sich aus einer Studie von Thompson, dass die Toten eines Jahres einen unabhängigen Effekt auf die Zahl der Toten im Folgejahr haben. Auch nach der Kontrolle anderer Faktoren (wie Arbeitslosigkeit oder der Anwesenheit der britischen Armee) finde sich „still an effect for deaths the previous year” (Thompson 1989: 690). So argumentieren z.B. Rose (Rose 1971: 42ff.) und MacGarry und O’Leary (MacGarry/O'Leary 2000, zusammenfassend: 354f.).
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Parteien, der Rate der Arbeitslosigkeit unter den Katholiken und des Ausmaßes des gerrymandering als unabhängigen und dem Auftreten von Aufständen und terroristischen Akten als abhängigen Variablen (Hewitt 1981: 376). Hier ergeben sich signifikante Zusammenhänge zwischen dem Wahlanteil nationalistischer Parteien und gewaltsamen Akten sowie zwischen Arbeitslosigkeit und gewaltsamen Akten. Das Ausmaß des gerrymandering bleibt hingegen ohne Einfluss auf die Gewalt. Nun ist – wie nicht zuletzt die sich anschließende Diskussion im British Journal of Sociology gezeigt hat – Hewitts These in einer Reihe von Punkten problematisch. Erstens lässt sich der Umstand der Diskriminierung von Katholiken nicht leugnen (MacGarry/O’Leary 2000: 107, 285, Whyte 1994: 166).38 Zweitens sind die Zusammenhänge zwischen der Zustimmung zur Bürgerrechtsbewegung und der Ablehnung der Grenze alles andere als stark. Hewitt stützt seine These nicht nur auf diese Umfrage, sondern auch auf einzelne Beobachtungen, wie den Umstand, dass bei Protestmärschen durchaus klassische nationalistische Hymnen gespielt wurden (Hewitt 1981: 373). Hewitts Beobachtungen, dass sich im Kontext der Bürgerrechtsbewegung nationalistische Überzeugungen und Aktivisten finden lassen, ist aber in keiner Weise hinreichend, um zu zeigen, dass es sich im Grunde genommen um eine nationalistische Bewegung handelte. Drittens hat Hewitts Zurechnung auf den Nationalismus als Ursache der Gewalt die Frage aufgeworfen, wie er sie mit seiner Beobachtung vereinbaren kann, dass auch Arbeitslosigkeit und Gewalt eine hohe Korrelation aufweisen. Diese Diskussion ist dann fortgesetzt worden, ist aber noch offen (für eine Übersicht vgl. White/White 1995: 337f.). Neben diesen Einwänden, die sich direkt auf Hewitts Stützung seines Argumentes richten, ist seine Argumentation in weiteren Hinsichten kritisierbar. Hierher gehört erstens sein Kausalmodell, das einen einfachen Zusammenhang zwischen Nationalismus und Gewalt beinhaltet. Selbst wenn Nationalismus Ursache für Gewalt ist, bleibt zu zeigen, warum Nationalismus nur unter bestimmten Bedingungen zu Gewalt führt. „Nationalism is like gravity, an important and pervasive force, but not, at most times, strong enough to be violently disruptive“ (Gellner 1994: xi). Hier ist zudem zu berücksichtigen, dass die Zustimmung zu Gewalt als politischem Mittel in Nordirland eher gering ist.39 Zweitens blendet Hewitt eine Reihe von anderen Faktoren aus, die für die Gewalt verantwortlich sein könnten. Insbesondere die Rolle der unionistischen Gewalttaten, der Gewalt der Sicherheitskräfte und später des Militärs wird hierbei von Hewitt nicht berücksichtigt. Im Ganzen übersieht Hewitts Interpretation schließlich gerade das Neue an der Bürgerrechtsbewegung, knüpft sie an das Muster eines staatsbürgerlich geprägten Nationalismus (vgl. Lepsius die – nicht zuletzt weil sie von sozialistischen Strömungen geprägt war – nicht das Ziel nationaler Einigung in den Vordergrund stellte. Vielmehr forderte die Bürgerrechtsbewegung – und darin 1990: 242ff.) an – Gleichbehandlung der Katholiken als britischer Bürger. Die Bürgerrechtsbewegung trug damit zur Delegitimierung des Regimes bei, indem sie gegen dieses demokratische Ansprüche stellte – mit Weber gesprochen: das Charisma der Vernunft aktivierte. Damit verbinden sich selbstredend materielle Interessen 38
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Vgl. auch die Wahrnehmung der Katholiken nach dem Loyalty Survey: Auf die Frage „People sometimes say that in parts of Northern Ireland Catholics are treated unfairly. Do you think this is true or not?” antworten 1968: Protestanten: Yes: 18%; No: 74%; Don’t know: 8%; Katholiken: Yes: 74%; No: 13%; Don’t know: 13% (Rose 1971: 497). So begründen im Loyalty Survey 81% der 83% der Katholiken, die der Ansicht sind, dass eine Vereinigung der beiden irischen Staaten nicht mit allen Mitteln herbeigeführt werden soll, dies mit ihrer Ablehnung von Gewalt (Rose 1971: 193).
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der Katholiken und bereits der Cameron-Report identifiziert als entsprechende Trägerschicht die katholische Mittelklasse.40 Im Zuge des Konflikts verliert die Bürgerrechtsbewegung an Gewicht und die IRA gewinnt an Einfluss. Damit verbinden sich neue Trägergruppen und eine veränderte Ideologie. An die Stelle von Mitgliedern der Mittelschicht treten eher Mitglieder aus dem Arbeitermilieu und an die Stelle eines staatsbürgerlichen Universalismus der irische Nationalismus.41 Der Verlauf der Troubles legt es entsprechend nahe, dass die Gewaltbereitschaft und die Rahmung als nationaler Konflikt später einsetzen, auch wenn nationalistische Gruppen an der Bürgerrechtsbewegung beteiligt waren. Dabei – so lässt sich im Anschluss an Weber argumentieren – wird jetzt die Gewalt legitimiert durch das Konzept der Nation als Solidargemeinschaft. Wir haben es einerseits mit einem Prozess der Delegitimierung des Regimes zu tun und andererseits mit einem Prozess der Legitimierung der Gewalt. Die Delegitimierung des Regimes muss nicht zwangsläufig zur Gewalt führen. Dass sie es tut, lässt sich auf drei Faktoren zurückführen. Erstens sind die Reaktionen von Stormont nicht hinreichend – hierzu zählen das „schleppende“ Tempo der Zugeständnisse und neue Entfremdungen produzierende Maßnahmen wie das internment, zweitens führt die Bürgerrechtsbewegung zu protestantischer Gewalt, da viele Unionisten fürchten, ihre Hegemoniestellung zu verlieren. Drittens kann die IRA die Delegitimierung und die unmittelbare Bedrohung von Katholiken nutzen, um den Gewalteinsatz zu legitimieren. Viele Mitglieder, die ab 1969 hinzu kommen, werden durch diese unmittelbare Bedrohung der katholischen Wohnviertel motiviert: „Known as Sixty-niners, they joined the IRA literally to defend their own streets, were resolved that the near-pogroms of August 1969 would never again be repeated, and were ready, if the opportunity arose, to retaliate“ (Moloney 2002: 80, vgl. auch 83). Die IRA richtet hieran auch ihre Strategie aus: „Im Januar 1970 entwarf die Führung der PIRA eine neue militärische Strategie: Zunächst sollte der Schutz katholischer Wohngebiete oberste Priorität haben. Wenn dieser gesichert war, wollte man von der Defensive zu gleichzeitiger Verteidigung und Vergeltung gegen die britische Armee übergehen. Als letzter Schritt war eine umfassende Offensive gegen das britische Besatzungssystem geplant, die in einem militärischen Sieg enden sollte“ (Otto 2005: 98, vgl. auch English 2003: 125). Die Legitimation der Gewalt ist dabei auch bedingt durch die Fähigkeit der IRA sich als effektive Schutzmacht der Katholiken darzustellen – sie schließt damit also nicht nur an ideelle, sondern auch an unmittelbare materielle Interessen an. „Against a background of harassment in the Catholic areas, PIRA was able to argue that the short-term crisis could 40
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„A much larger Catholic middle-class has emerged, which is less ready to acquiesce in the acceptance of a situation of assumed (or established) inferiority and discrimination than was the case in the past.” (Report of the commission 1969, Abschnitt 11). Dass sich wirklich eine Vergrößerung der katholischen Mittelklasse beobachten lässt, wird mit guten Gründen von Bew, Gibbon und Paterson bestritten. Sie führen das Entstehen der Bürgerrechtsbewegung auf zwei andere Veränderungen zurück, einerseits auf wachsende Erwartungen der Katholiken durch den Wahlsieg von Labour in Westminster 1964, andererseits darauf, dass die parlamentarische Vertretung durch die Nationalist Party nicht hinreichend die Frage der Diskriminierung der Katholiken aufnahm (Bew et al. 2002: 141ff.). Auf die Bedeutung des Wahlsieges von Labour, aber auch die erhoffte Liberalisierung durch den nordirischen Premier O’Neill verweist ebenso Moloney (2002: 45, 53). Die Bedeutung einer blockierten parlamentarischen Vertretung betont bereits Rose: „Because none of the parties was seen to stand for civil rights, they failed to provide an institutional focus for grievances of part of the population. This provided an opening for extra-parlamentary civil rights groups to become strong in 1968” (Rose 1971: 234). „Reorganized in 1946, the IRA retained the sympathy of many with professions and property but was working class – often in Ireland a class without work. By 1969-70 the unassigned IRA volunteers that flocked to the Provisional banner were nearly all working class” (Bell 2000: 97).
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best be resolved by ending partition since it could only be in a united Ireland that justice for the Catholic population could be achieved“ (Moxon-Browne 1981: 49). Schließlich werden also Nationalismus, Anspruch auf Gleichberechtigung und unmittelbare Schutzinteressen durch die IRA amalgamiert: „The Provisonal Republicans also felt it necessary to frame their struggle in terms of the original civil rights campaign and legitimise it in those terms, as a struggle for the ‘right’ of Irish self-determination or, as Seán Keenan put it, for a united Ireland as the only ‘permanent guarantee of civil rights in Ireland’” (Dochartaigh 1997: 197). Ganz im Sinne des Weberschen Begriffs der Nation als zugemuteter Solidargemeinschaft kann hier der Appell an die Nation durch Diskriminierungserfahrungen und unmittelbare Bedrohungen aktiviert werden.42 Diese nationalistische Deutung wird zudem durch die Erzeugung einer „Kriegssituation“ gefördert. Wie sich zeigt, spielen damit im Verlauf also sowohl materielle als auch ideelle Interessen eine entscheidende Rolle. Sie lassen sich unterscheiden, sind aber dennoch miteinander vermittelt, wie sich am Zusammenhang zwischen ökonomischen Aufstiegsaspirationen und Gleichbehandlungsforderungen, aber auch an der Erfahrung existentieller Bedrohtheit und nationaler Solidarität ablesen lässt.
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Schluss
Im Vorstehenden wurde das Wiederaufleben der Gewalt in Nordirland in den Jahren ab 1968 mittels des Weberschen Forschungsprogramms untersucht. Webers Forschungsprogramm ist das einer verstehenden Soziologie, die auf kausale Erklärungen durch die Rekonstruktion des subjektiv gemeinten Sinns von Akteuren in (sozialen) Situationen abzielt. Es ist einem methodologischen Individualismus verpflichtet und stimmt hierin auch mit den RC-Theorien überein – von diesen unterscheidet es sich aber dadurch, dass es eine breitere Handlungstheorie kennt, da es von gleichberechtigten, nicht aufeinander reduzierbaren Modi der Handlungsorientierung ausgeht. Ein allgemeingültiges Handlungsgesetz kennt das Webersche Programm daher nicht. Eine Erklärung in Webers Forschungsprogramm fragt nach den zentralen Akteuren, ihren Orientierungen und den Handlungsoptionen, die in der Handlungssituation gegeben sind. Die Zurechnung auf die tatsächlich kausal wirksamen Handlungsmotive ist nicht immer einfach zu bewerkstelligen, da es häufig eine Reihe von denkbaren Handlungsmotiven gibt, die aber keineswegs die ursächlich wirksamen sein müssen. Schwierigkeiten bereitet hierbei nicht zuletzt die Frage des relativen Gewichts unterschiedlicher Motive, wie exemplarisch anhand der Frage gezeigt wurde, in welchem Maße die Diskriminierungserfahrungen oder der Nationalismus Ursache der Gewalt im Nordirlandkonflikt waren. Es zeigte sich darüber hinaus, dass die kausalen Beziehungen insofern komplexer sind, da beides, Diskriminierungserfahrungen und Nationalismus, nicht automatisch zu Gewalt führen. Gewalt, als Weise des politischen Kampfes, ist zwar von Anbeginn der Unruhen im Spiel, das betrifft die „Angriffe“ von Unionisten und der RUC auf die Märsche der Bürgerrechtsbewegung wie auch die Straßenschlachten zwischen katholischen und protestantischen Gruppen. Zu einem massiven Gewaltniveau kommt es aber erst mit dem Wiederauf42
Zum Zusammenhang von existentieller Bedrohung und charismatischer Ansprechbarkeit vgl. auch Schluchter (Schluchter 1991: 538f.), allerdings – im Anschluss an Weber (Weber 1980: 658) – mit stärkerer Betonung der „inneren“ Not.
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leben des bewaffneten Kampfes der IRA nach 1969. Dies wird möglich durch die Delegitimierung des Stormont-Regimes einerseits und die Legitimierung der Gewalt andererseits, zu der die Bedrohung der katholischen Wohngebiete unmittelbar beitrug. Ideologisch amalgamierte die IRA den Gedanken des Nationalismus, den Anspruch auf Gleichbehandlung und die Schutzinteressen der Katholiken. Die Bürgerrechtsbewegung und die IRA sind dabei zu unterscheiden. Im Gegensatz zum Kampf der IRA appellierte die Bürgerrechtsbewegung nicht an einen irischen Nationalismus, sondern an den Anspruch auf gleiche Bürgerrechte. Im Zuge des Konflikts verliert die Bürgerrechtsbewegung dann ihre zentrale Stellung und die IRA gewinnt an Einfluss. Dabei kommt es zu einem Wechsel der Trägergruppen und zu einem der leitenden Ideologie. An die Stelle von Mitgliedern der Mittelschicht treten eher Mitglieder aus dem Arbeitermilieu und an die Stelle eines staatsbürgerlichen Universalismus der irische Nationalismus. Dass der Nationalismus als Legitimationsgrundlage der Gewalt dienen konnte, lässt sich mit Weber darauf zurückführen, dass der Gedanke der Nation als Solidargemeinschaft nicht nur vor dem Hintergrund einer ausbleibenden Gleichbehandlung aufgerufen werden konnte, sondern auch durch die Erfahrung einer unmittelbaren existenziellen Bedrohung von einzelnen Katholiken. 43 Die hier vorgetragene Analyse hatte zum Ziel, zu verdeutlichen, welche Gesichtspunkte aus einer Herangehensweise aus der Weberschen Perspektive für die Erklärung des Nordirland-Konfliktes gewonnen werden können. Die Analyse blieb dabei begrenzt. Dies gilt einerseits in zeitlicher Hinsicht. Andererseits fehlt eine komparative Betrachtung, die sich angesichts des Weberschen Erklärungsprogramms für weitere Analysen empfiehlt. Drei Aspekte einer Weberschen Perspektive sollten aber deutlich geworden sein: Gewalt als mögliches Mittel des politischen Kampfes um materielle und ideelle Interessen, die Bedeutung der Legitimitätsdimension des Konfliktes und schließlich die Betonung der Nation als Form der Gemeinschaftsbildung, die in besonderer Weise affektiv-charismatische Orientierungen aktivieren kann.
Literatur Albert, G., 2007: Idealtypen und das Ziel der Soziologie. Berliner Journal für Soziologie 17: 51-75. Albert, H., 1972: Modell-Platonismus. Der neoklassische Stil des ökonomischen Denkens in kritischer Beleuchtung. S. 406-434 in: E. Topitsch (Hrsg.), Logik der Sozialwissenschaften. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Aron, R., 1967: Main Currents in Sociological Thought 2: Durkheim, Pareto, Weber. Harmondsworth: Penguin. Bader, V.-M., 1989: Max Webers Begriff der Legitimität. Versuch einer kritisch-systematischen Rekonstruktion. S. 296-334 in: J. Weiß (Hrsg.), Max Weber heute. Erträge und Probleme der Forschung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Beetham, D., 1991a: The Legitimation of Power. Houndmills: Macmillan. Beetham, D., 1991b: Max Weber and the Legitimacy of the Modern State. Analyse und Kritik 13: 34-45. Bell, J.B., 1979: The Secret Army. The IRA 1916-1979. Dublin: The Academy Press. Bell, J.B., 1994: The Irish Troubles. A Generation of Violence 1967-1992. Dublin: Gill & Macmillan. 43
Der Konflikt ist zwar wesentlich einer zwischen Akteuren in Nordirland, er wird aber zweifelsohne beeinflusst durch den weiteren Kontext – dies betrifft nicht nur die Rolle von Dublin und London, sondern auch den internationalen Kontext (Bürgerrechtsbewegungen in den USA und Westeuropa, Entkolonialisierung, Unterstützung durch Waffenlieferungen etc.). Für die These, dass Erklärungen immer nach möglichen weltgesellschaftliche Kontexten fragen sollten, vgl. auch Greve (Greve 2005, Greve 2008).
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Zur institutionellen Struktur des Terrorismus. Neo-institutionalistische Perspektiven auf den Nordirland-Konflikt
Georg Krücken/Frank Meier In den letzten Jahren erfreut sich der Neo-Institutionalismus einer zunehmenden Beliebtheit in der Soziologie. Seine besondere Stärke liegt darin, sowohl makro- als auch organisationssoziologische Einsichten für die Analyse der Gegenwartsgesellschaft fruchtbar zu machen. Damit stellt der Neo-Institutionalismus einen Ansatz dar, der in neueren Sammelbänden zur theoretischen Positionsbestimmung des Fachs bedeutsam ist (vgl. Jepperson 2002, Dierkes/Zorn 2005, Hasse/Krücken 2008). Zugleich liefert er wichtige Beiträge zu interdisziplinären Forschungszusammenhängen. So ergab eine Befragung der Sektion „Organization and Management Theory“ der „Academy of Management“ aus dem Jahr 2005, dass der institutionentheoretische Ansatz in der Organisations- und Managementforschung von den meisten Befragten als wichtigster theoretischer Bezugspunkt ihrer Arbeiten genannt wurde (Davis 2006). Ebenso ist an das Forschungsfeld „Internationale Beziehungen“ (Katzenstein 1996) sowie an die interdisziplinäre Globalisierungsdiskussion (Lechner/Boli 2003) zu denken, in denen Annahmen und Forschungsergebnisse des soziologischen Neo-Institutionalismus eine wichtige Rolle spielen. Im Weiteren soll – am Beispiel der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) – das theoretische Potential des Neo-Institutionalismus zur Analyse terroristischer Zusammenschlüsse geprüft und damit auf einem noch unbekannten Terrain erprobt werden: Wir möchten unser Argument in drei Schritten entwickeln. In einem ersten Schritt sollen einige Charakteristika und grundlegende Annahmen des soziologischen Neo-Institutionalismus skizziert werden (1). In einem zweiten Schritt wird dargelegt, warum und in welchen Hinsichten der Gegenstand, den wir hier zu erklären versuchen, für den soziologischen Neo-Institutionalismus einen in der Tat schwierigen Fall darstellt (2). Vor diesem Hintergrund möchten wir in einem dritten Schritt dennoch unverdrossen ein paar neo-institutionalistische Überlegungen zur Entstehung und Entwicklung des Nordirland-Konflikts präsentieren (3). Abschließend werden wir einige neo-institutionalistische Überlegungen zu den Perspektiven des Konflikts skizzieren (4).
1
Theoretische Grundlagen
Der soziologische Neo-Institutionalismus geht davon aus, dass soziales Handeln in der modernen Gesellschaft durch institutionalisierte Regeln geprägt ist. Solche Regeln nehmen nicht nur die Form kodifizierten Rechts, gesatzter Ordnungen oder formeller Vorschriften an, sondern stellen sich auch als Ideen, Theorien und Ideologien darüber dar, wie die soziale Welt funktioniert oder wie sie funktionieren sollte, um kollektive Ziele zu erreichen (Meyer et al. 1994: 10). Die institutionelle Ordnung variiert somit in ihrem Formalisie-
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Georg Krücken/Frank Meier
rungsgrad und beinhaltet nicht nur normative, sondern auch kognitive Komponenten (Scott 1995). Dabei legt der Neo-Institutionalismus ein besonderes Augenmerk auf die kognitive Dimension, auf geteilte, unhinterfragte, als selbstverständlich (“taken for granted“) geltende Annahmen über die Wirklichkeit.1 Aufbauend auf der Annahme der Allgegenwart institutioneller Vorgaben wird die Existenz institutionenfreier “Hinterbühnen“ bestritten. „Es ist also wie beim Rennen zwischen Hase und Igel: institutionelle Vorgaben sind immer schon da“ (Hasse/Krücken 2005: 90). Zumindest für jene Varianten des soziologischen Neo-Institutionalismus, auf die wir uns hier beziehen, bedeutet das auch, dass gesellschaftliche Akteure keine präexistenten Einheiten sind, die sich strategisch in institutionellen Umwelten bewegen. Die Akteure selbst werden als solche zuallererst konstituiert (Meyer et al. 1994, Meyer/Jepperson 2000). Institutionen sind aus dieser Sicht weit mehr als lediglich „Spielregeln“ für Akteure – so die berühmte institutionenökonomische Definition von Douglass North (1990), die auch von soziologischer Seite häufig übernommen wird (Brinton/Nee 1998). Aus Sicht des soziologischen Neo-Institutionalismus werden hingegen die „Spieler“ selbst durch die Gesellschaft und ihre Institutionen definiert. Dies gilt sowohl für kollektive als auch für individuelle Akteure. Zum letztgenannten Punkt schreibt John Meyer (2005a: 10): „[So] hat die moderne Gesellschaft die Identitäten von Bürgern und Bürgerinnen, Konsumenten und Konsumentinnen, Arbeitern und Arbeiterinnen, Kindern, Ehepartnern usw. institutionell transformiert. In jedem einzelnen Fall haben sich mehr Dinge geändert als lediglich die Spielregeln – die Spieler sind nun andere, mit anderen Werten, Wissensgrundlagen, Zielen und Interessen.“ Dieser Zugang hat dem Neo-Institutionalismus viel Unverständnis in der amerikanischen Soziologie, der er entstammt, eingebracht, da hier vor allem rationalistische, individualistische und realistische Ansätze dominieren (Jepperson 2002, Krücken 2002). Der Neo-Institutionalismus betont dagegen die Bedeutung von Mythen, Symbolen und Ritualen. Kulturelle Grundprinzipien der Moderne (wie z.B. Fortschritt) werden ebenso als Mythen verstanden wie moderne Organisations- und Managementprinzipien. Diese Mythen werden durch kollektiv anerkannte Symbole zum Ausdruck gebracht. Um ein Beispiel aus unserem Forschungsfeld zu bringen: Hochschulen symbolisieren dem soziologischen NeoInstitutionalismus zufolge eine meritokratische Ordnung, individuelles Leistungsstreben und gesamtgesellschaftlichen Fortschritt. Neue Managementkonzepte, die an Hochschulen eingesetzt werden, wie z.B. Ziel- und Leistungsvereinbarungen, gelten dabei aus neoinstitutionalistischer Sicht weniger als Mittel zur Steigerung der organisationalen Effizienz, denn als ein modernes Ritual, das die Orientierung an Rationalität und Effizienz symbolisch zum Ausdruck bringt. Analytisch möchten wir mit der neo-institutionalistischen Organisationssoziologie und dem globalisierungstheoretischen world polity-Ansatz zwei Varianten des Neo-Institutionalismus voneinander unterscheiden, die für unsere Argumentation relevant sind.2
1
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Ideengeschichtlich stellt der Neo-Institutionalismus damit ein Amalgam aus makrosoziologischen, vor allem auf Émile Durkheim zurückführbaren Theorietraditionen und phänomenologischen und wissenssoziologischen Ansätzen dar, wie sie in der amerikanischen Soziologie nach dem Zusammenbruch des strukturfunktionalistischen Paradigmas entstanden. Vgl. hierzu Hasse/Krücken (2005: 13 ff.), Krücken (2005a). Dass die im Folgenden getroffene Unterscheidung zwischen einer organisationstheoretischen und einer globalisierungstheoretischen Variante des Neo-Institutionalismus in erster Linie analytisch zu verstehen ist, belegen neuere Sammelbände, die den Zusammenhang zwischen beiden, vielfach nur lose miteinander verbundenen Forschungssträngen explizit herstellen (Drori et al. 2006, Djelic/Sahlin-Andersson 2006).
Zur institutionellen Struktur des Terrorismus
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Der organisationssoziologische Neo-Institutionalismus, der sich mit der Eingebettetheit von Organisationen in institutionelle Umwelten befasst, arbeitet heraus, dass Organisationen nicht nur die rationale Verwirklichung gesetzter Zwecke bewerkstelligen müssen, sondern auch legitimatorischen Anforderungen ausgesetzt sind. Damit weist der NeoInstitutionalismus ein distinktes Profil innerhalb der Organisationssoziologie und der interdisziplinären Organisationsforschung auf (Powell/DiMaggio 1991, Greenwood et al. 2007).3 Ausgangspunkt ist die an Max Weber anschließende Frage, warum Organisationen formal-rationale Strukturen – wie die Festlegung von Zuständigkeiten und Kommunikationswegen oder die Buch- und Aktenführung – herausbilden. Die neo-institutionalistische Antwort lautet, dass Organisationen dies nicht tun, um ihre internen Handlungs- und Entscheidungsprozesse effizient und zweckrational zu organisieren. Vielmehr geht es darum, gesellschaftlich institutionalisierten Vorstellungen zu entsprechen, um darüber Legitimation in der gesellschaftlichen Umwelt der Organisation zu erzielen. Grundlegend für dieses Organisationsverständnis ist der Beitrag von Meyer/Rowan (1977). Hier wird die neoinstitutionalistische These entwickelt, dass formale Organisationsstrukturen wie die zuvor benannten Insignien der Weberschen Bürokratie, aber auch moderne Managementkonzepte sich primär aus institutionalisierten Umwelterwartungen heraus entwickeln. Organisationen müssen diesen Erwartungen entsprechen, um ihr Überleben zu sichern. Diese Erwartungskonformität bleibt jedoch eher äußerlich und betrifft nicht die Kernprozesse der Organisation. Man hat es also – ganz im Sinne von Goffmans Unterscheidung zwischen der Vorderund der Hinterbühne des Verhaltens (Goffman 1969) – mit zwei Ebenen der sozialen Wirklichkeit zu tun. Während sich Organisationen auf der formalstrukturellen Ebene rasch und geradezu rituell an veränderte Umweltbedingungen anpassen können, findet auf der Ebene der Aktivitätsstruktur „business as usual“ statt. Dieser Ausgangspunkt des neo-institutionalistischen Organisationsverständnisses wurde später in vielerlei Hinsicht weiterentwickelt. Dabei sind insbesondere zwei Forschungsstränge von Relevanz. Zum einen handelt es sich um den ebenfalls programmatischen Aufsatz von DiMaggio/Powell (1983), der das bei Meyer/Rowan (1977) noch diffuse Verständnis von gesellschaftlicher Umwelt dahingehend spezifiziert, dass hier das organisationale Feld, in dem sich die zu untersuchende Organisation bewegt, eine begrifflichkonzeptionelle Eingrenzung ermöglicht.4 Ebenso wie Meyer/Rowan (1977) sehen auch sie Strukturangleichungsprozesse zwischen Organisationen und ihren gesellschaftlichen Umwelten. Hierfür prägen sie den Begriff der „institutionellen Isomorphie“. Zum anderen zeigen die Untersuchungen von Brunsson (1989), dass Organisationen in multiple Umwelten eingebettet sind. Da nicht alle Legitimationsanforderungen gleichermaßen zu erfüllen und diese mitunter inkonsistent sind – z.B. die Erwartung an Wirtschaftsunternehmen, Gewinne zu erwirtschaften und menschliche und natürliche Ressourcen zu schonen – , wird 3
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Dieses distinkte Profil wird vor allem in dem Sammelband von Powell/DiMaggio (1991) deutlich, der einen wesentlichen Beitrag zur Kanonisierung des organisationssoziologischen Neo-Institutionalismus leistete. Neuere Entwicklungen, die in dem Band von Greenwood et al. (2007) zum Ausdruck kommen, belegen die seit den 1990er Jahren einsetzende Öffnung und Pluralisierung des Ansatzes, da hier Erweiterungen des Neo-Institutionalismus durch die Berücksichtigung anderer Theorieansätze (u.a. Diskursanalyse, kritische Theorie, Lerntheorien, Praxistheorien, Systemtheorie) diskutiert werden. Die gleichermaßen programmatischen Aufsätze von Meyer/Rowan (1977) und DiMaggio/Powell (1983) sowie die dort formulierten Thesen stellen den Ausgangspunkt zahlreicher empirischer Untersuchungen dar. Vgl. hierzu allein die Meta-Analyse von 28 Studien, die mit dem Konzept des organisationalen Feldes arbeiten durch Mizruchi/Fein (1999) sowie die umfangreiche Darstellung weiterer Studien durch Walgenbach (2002: 169 ff.).
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Georg Krücken/Frank Meier
ein aktiver Umgang mit institutionalisierten Umwelterwartungen erforderlich. Nach Brunsson (1989) resultiert hieraus „Heuchelei“, da Organisationen zu diesem Zweck die nach außen gerichtete Rhetorik („talk“) und das tatsächliche Handeln („action“) entkoppeln. Beide Aspekte werden ganz im Sinne der Unterscheidung von Formal- und Aktivitätsstrukturen in Organisationen funktional voneinander getrennt. Der world polity-Ansatz ist demgegenüber der Beitrag des Neo-Institutionalismus zur Globalisierungsdebatte. Dieser Ansatz wird vor allem von dem Stanforder Soziologen John Meyer vertreten (Meyer 2005b, Krücken/Drori 2008). Unter world polity ist eine breite kulturelle Ordnung zu verstehen, die ihre Ursprünge in der westlichen Moderne hat. Ebenso wie für die neo-institutionalistische Organisationssoziologie steht auch hier Max Weber Pate, da die kulturellen Prinzipien des Fortschrittglaubens und der Zweckrationalität hervorgehoben werden. Ebenso wichtig sind zudem universalistische Gerechtigkeitsnormen, Individualität, selbst organisierte Handlungsfähigkeit und Weltbürgerschaft. Die globale Diffusion all dieser Prinzipien und hierauf bezogener Strukturformen ist Gegenstand der neo-institutionalistischen world polity-Forschung. Mit dieser Ausrichtung stellt sie einen ebenso distinkten wie umstrittenen Ansatz in der sozialwissenschaftlichen Globalisierungsforschung dar (Krücken 2005a). Auch wenn der Status der world polity im Wesentlichen virtuell ist, sind es insbesondere transnational operierende Organisationen – von internationalen Professionsgemeinschaften über die Weltbank bis zu Greenpeace –, die als autorisierte Agenten der world polityPrinzipien auftreten und zu ihrer globalen Diffusion beitragen. Dabei kann es z.B. um die Ausbreitung technischer Standards, um Vorstellungen rationalen Wirtschaftens, um Schulcurricula oder um Schutzrechte für Mensch und Umwelt gehen. Als besonders wichtige Diffusionsinstanz gelten die Vereinten Nationen (UN), ihre Suborganisationen sowie weitere, an der Peripherie des UN-Systems angesiedelte transnationale Organisationen. Diese Organisationen stellen modernen Akteuren so genannte scripts – Programme als angemessen und rational geltenden Handelns – zur Verfügung. Als moderne Akteure gelten der world polity-Forschung die Strukturformen Staat, Organisation und Individuum. Sie werden in gesellschaftlichen Rationalisierungsprozessen erzeugt, gewinnen zunehmend an Bedeutung und schwächen damit den prägenden Einfluss anderer, traditionaler gesellschaftlicher Handlungsträger (Gruppen, Familien, Clans etc.). Die Vervielfältigung gesellschaftlicher Akteure ist aber nicht mit ihrer Autonomisierung in eins zu setzen. Im Gegenteil: Erst indem sich Staaten, Organisationen und Individuen den weit reichenden Verhaltensstandardisierungen der world polity unterwerfen, werden sie als legitime Akteure gesellschaftlich anerkannt. Der Staat ist einer Vielzahl an institutionalisierten Erwartungen im Hinblick auf das Rechtssystem, das Bildungswesen, den technologischen und wirtschaftlichen Fortschritt, Umweltschutz und Bürgerrechte ausgesetzt. Organisationen, die weder die Insignien der Weberschen Bürokratie tragen noch von modernen Managementkonzepten geprägt ist, lassen sich schwerlich als legitime Akteure bezeichnen. Und auch das Individuum wird nur dann als Akteur anerkannt, wenn es den scripts der world polity entspricht. Mit dieser kurzen Skizze der beiden Varianten des soziologischen Neo-Institutionalismus sollte deutlich geworden sein, dass sich dieser Ansatz primär für Phänomene der Strukturähnlichkeit und der Strukturangleichung interessiert. Ausgehend von der Annahme, dass es genügend sachliche und historische Gründe für strukturelle Differenzen zwischen sozialen Einheiten gibt, gilt das dann doch empirisch zu beobachtende Maß an Gleichförmigkeit als erklärungsbedürftig. Gesucht werden dann institutionelle Mechanismen, die die Strukturähnlichkeit („Isomorphie“) zwischen unterschiedlichen Einheiten zu erklären in der
Zur institutionellen Struktur des Terrorismus
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Lage sind. Hier wird die gesellschaftliche Umwelt in den Blick genommen, in der die Legitimationsbedingungen für Staaten, Organisationen und Individuen festgelegt werden. In dem Streben, als legitimer Akteur gesellschaftliche Anerkennung zu erhalten, sind Prozesse der Imitation anderer, als erfolgreich wahrgenommener Akteure von besonderer Bedeutung.
2
Globale Ordnung und lokaler Konflikt
Da es dem Neo-Institutionalismus nicht um die Herleitung spezifischer lokaler Sonderentwicklungen geht, ist die Aufgabe, den IRA-Terrorismus deuten zu wollen, für neoinstitutionalistische Ansätze eine echte Herausforderung. Der Konflikt, den wir hier beobachten, ist offenbar sowohl in seiner Entstehung wie auch in seiner Dynamisierung in hohem Maße durch lokale und historisch kontingente Faktoren bestimmt. Es zeigen sich aber noch generellere Schwierigkeiten in der Deutung von Terrorismus. So kann zunächst gefragt werden, ob und inwieweit ein Theorieangebot, für das die Diffusion institutioneller Muster und mithin Prozesse der Strukturangleichung im Vordergrund stehen, geeignet ist, Konflikte soziologisch angemessen zu erfassen. Zudem wird dem NeoInstitutionalismus vorgeworfen, aufgrund seines „kulturalistischen“ Ansatzes wichtige Aspekte sozialer Konflikte (z.B. ökonomische Ungleichheit oder Machtkonstellationen) nicht hinreichend abbilden zu können. Dennoch verfügt der Neo-Institutionalismus über ein eigenständiges Potential zur Erklärung von Konflikten (vgl. Dierkes/Koenig 2006).5 So legitimiert die world polity allerlei Formen des Protests zum Wohle der Menschenrechte, der sozialen Gerechtigkeit oder der Blauwale (Hafner-Burton/Tsutsui 2005, Dierkes/Koenig 2006, Boli/Thomas 1999). Dabei macht es gerade die dezentrale Struktur der world polity ebenso wie die Abstraktheit ihrer kulturellen Gehalte wahrscheinlich, dass auch widerstreitende Ansprüche durch sie mit Autorität versehen werden. Schließlich ist es auch wahrscheinlich, dass lokale Handlungsorientierungen mit den Ansprüchen der world polity in Konflikt geraten können und sich daran Widerstand gegen die world polity entzünden mag.6 Trotz dieser konfliktsoziologischen Erweiterungen bleibt festzuhalten, dass sich der Neo-Institutionalismus mit einer hegemonialen institutionellen Ordnung befasst. Das bedeutet nicht unbedingt, dass es nur um den Diskurs der Mächtigen ginge. Im Gegenteil. Die world polity-Perspektive betont gerade die Bedeutung, die auch an sich machtlosen Agenten der Weltkultur (z.B. NGOs) zukommt. Aber es geht um eine Ordnung, in der sich das Legitime durch die Orientierung an Prinzipien des Fortschritts, des Universalismus, der demokratischen Teilhabe und der Rationalität ausdrückt. Mit der Betonung von Legitimität ist keine strenge Bindung an Legalität impliziert. Auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Greenpeace mögen gelegentlich Gesetze missachten, im hegemonialen Diskurs bleibt unbestritten, dass sie mit gerechten Mitteln für die gerechte Sache kämpfen. Sie bleiben deshalb good guys.
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Insbesondere verfügt der soziologische Neo-Institutionalismus über einen Zugang zur Konfliktregulierung. Vgl. nur Martha Finnemore (1996) zur institutionellen Regulierung des Krieges am Beispiel der Genfer Konventionen. Grundsätzlich stellt der Krieg aus Sicht des Neo-Institutionalismus keineswegs einen ungeregelten Hobbes’schen Urzustand dar, sondern eine „hochgradig regulierte soziale Institution“ (Finnemore 1996: 69). Vgl. hierzu auch Rehberg (2002), der aus Sicht der deutschen Tradition der Institutionentheorie an diesem Punkt zu ganz ähnlichen Ergebnissen gelangt. Möglicherweise ist der landläufig als „islamistisch“ bezeichnete Terrorismus auch in dieser Weise zu deuten.
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Diesen Weg hätte auch die IRA beschreiten können. Tatsächlich gab es offenbar Tendenzen Ende der 1960er Jahre, den Nordirland-Konflikt in eine der world polity gemäße Form zu bringen: „Nach dem Vorbild der Schwarzen in den USA bildete sich eine Bürgerrechtsbewegung, die mehr Rechte für die Katholiken forderte“ (Multhaupt 1988: 39). Auf diesem Wege fand eine erfolgreiche Delegitimierung der britischen Besatzungspraxis statt, die der katholischen Bevölkerung Rechte vorenthielt und damit universalistischen Gerechtigkeitsnormen widersprach. Vor diesem Hintergrund entstanden seitdem auch weltweite Medienöffentlichkeiten und Solidaritätsgruppen, die den Nordirland-Konflikt aus dem lokalen Bereich herauskatapultierten. Der Konflikt konnte somit nicht mehr als rein interne Angelegenheit behandelt werden. Die IRA hätte also den Weg der good guys gehen können, indem sie den Konflikt ausschließlich als Bürgerrechtsfrage behandelt hätte. Das hat bekanntermaßen die Provisional IRA seit den 1970er Jahren nicht getan. Wie aber geht man dann aus neo-institutionalistischer Perspektive mit einer Bewegung um, die noch 2005 in einem Artikel in „Die Zeit“ wie folgt beschrieben wird: „In Wahrheit aber, der glatt polierten emanzipatorischen Rhetorik von Adams und McGuiness zum Trotz, handelt es sich um eine fundamentalistisch totalitäre, zutiefst undemokratische Bewegung, deren Ideologie in einem dumpfen Nationalismus wurzelt, der mit Aufklärung und Rationalismus nichts zu tun hat“ (Krönig 2005: 12)? Wenn es keine institutionenfreien Hinterbühnen gibt, dann findet auch der Terrorismus der IRA nicht jenseits oder außerhalb institutioneller Ordnung statt, sondern ist nach seinem spezifischen Institutionengefüge zu befragen. Im Weiteren werden wir versuchen zu zeigen, inwieweit die kulturellen Muster der hegemonialen institutionellen Ordnung der Weltgesellschaft sogar in den Bereich des Terrorismus durchgreifen. Wir beginnen hier mit einem kulturellen Muster der Moderne, das für beide für unsere Argumentation wichtigen Stränge innerhalb des Neo-Institutionalismus von zentraler Bedeutung ist: Organisation. 3
Akteurskonstitution und Konfliktdynamik
Auffällig ist aus neo-institutionalistischer Perspektive zunächst einmal der einfache Sachverhalt, dass die Gewalt in Nordirland organisiert ist. Wir finden damit ein Beispiel für eine grundlegende Entwicklung der modernen Gesellschaft, die von Seiten der world polityForschung besonders betont wird: Während alternative und historisch auch bedeutsame Träger kollektiver Handlungsfähigkeit in den Hintergrund treten, wird die moderne Gegenwartsgesellschaft immer stärker von Organisationen als kollektiven Akteuren dominiert. Sowohl auf katholischer als auch auf protestantischer Seite dominieren Organisationen und ihre Logik den Konflikt. Entsprechend agieren auch im Nordirland-Konflikt keine Familien, Clans oder Stämme, sondern Organisationen. Trotz der Orientierung der IRA an einer bis in das 15. Jahrhundert zurückreichenden Geschichte der Unterdrückung gibt es auch hier keinerlei Versuche, traditionelle Clan-Strukturen, die durch die englische Fremdherrschaft zerstört wurden, wieder zu beleben. Im Gegenteil. Die IRA als Organisation verfügt offenbar über klar geregelte Mitgliedschaften und eine hierarchische interne Struktur, die sich an der militärischen Rängeordnung orientiert. Sie kann ihre eigenen kollektiven Handlungen nach außen sichtbar markieren (durch Bekenneranrufe oder -schreiben) und produziert organisationale Selbstbeschreibungen. In einem Beitrag zur Theorie sozialer Diffusionsprozesse identifizieren David Strang und John Meyer (1993) institutionelle Faktoren, die die Diffusion von kulturellem „Materi-
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al“ wahrscheinlicher machen. Zentral für die Diffusion zwischen zwei Einheiten ist demnach die Wahrnehmung, dass eine fundamentale Ähnlichkeit zwischen ihnen besteht und sie deshalb einer gemeinsamen Kategorie von Einheiten angehören. Solche Prozesse „kategorialer Selbstzurechnung“ (Stichweh 2000: 255) spielen offenbar auch für die IRA eine Rolle. Diese versteht und bezeichnet sich selbst als Armee und kopiert offenbar zunächst auch die Struktur der britischen Armee und ihrer Aufteilung in Brigaden und Bataillone. Später hingegen, nachdem sich diese Struktur für den Untergrundkampf als wenig hilfreich erweist, kopiert sie wiederum Strukturmerkmale anderer Organisationen. Diesmal dienen die lose gekoppelten Zellenstrukturen europäischer Terrororganisationen wie der RAF als Vorbild. Was hier beispielhaft erscheint, könnte wegweisend für ein neo-institutionalistisches Forschungsprogramm zum Terrorismus sein. Ein solches Programm könnte nach einem transnationalen „organisationalen Feld“ (DiMaggio/Powell 1983) des Terrorismus fragen, innerhalb dessen Handlungsformen und Strukturmerkmale diffundieren.7 Dieses Programm wäre nicht darauf angewiesen, Interaktionen zwischen den verschiedenen Terrororganisationen nachzuweisen, wie sie vorkommen mögen und vielfach unterstellt werden. Im NeoInstitutionalismus gelten direkte Kontakte und Austauschbeziehungen nicht als Voraussetzungen für die Verbreitung kultureller Muster. Vielmehr stehen wechselseitige Beobachtung und Imitationsprozesse aus der Distanz im Fokus des Interesses (Krücken 2005b). Gefragt werden könnte auch nach spezifischeren Ressourcen der Legitimation, die im Feld genutzt werden. Es ist deutlich, dass Legitimation gerade für Terrororganisationen eine kritische Ressource darstellt. Die eigenen Arbeitskräfte können schlechterdings nicht auf konventionellen Arbeitsmärkten eingekauft werden; ein breites Unterstützerumfeld ist notwendig, um den Ressourcenfluss sicherzustellen. In unserem speziellen Fall lautet die Frage dann, welche spezifischen legitimatorischen Ressourcen der Weltkultur die IRA nutzen konnte, um trotz alledem eine hinreichende Legitimationsbasis sicherzustellen. Die Antwort lautet hier zuvorderst: Nationalstaatlichkeit. Neben Organisationen sind, wie zuvor ausgeführt, Nationalstaaten der world polityForschung zufolge die zentralen kollektiven Handlungsträger der Moderne. Der Staat als Organisationsform des Politischen wird zunehmend zur einzig legitimen Form der Artikulation territorialer Interessen im Rahmen der Weltgesellschaft. Staatengründung ist folglich vordringlichstes Ziel sämtlicher Unabhängigkeitsbewegungen. Die Emanzipation von der britischen „Kolonialmacht“ ist auch für die IRA zentral. Aufgrund der besonderen Situation wird jedoch kein eigener Staat angestrebt, sondern vielmehr die Wiedervereinigung der irischen Insel unter einem gemeinsamen staatlichen Dach. Gleichzeitig kann die spezifische Ordnung des Vereinigten Königreichs mit dem Argument in Frage gestellt werden, sie realisiere gerade nicht in angemessener Weise das Prinzip des Nationalstaats.8 7
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Andere Organisationen dieses Feldes könnten etwa sein: die ETA, die RAF oder die Brigate Rosse. Auch die protestantischen Gegenspieler der IRA und die britische Armee wären hier als relevante Organisationen zu verorten. Der heute im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit stehende „islamistische“ Terrorismus bildet (zumindest) ein eigenständiges anderes organisationales Feld. Für dieses ist jedenfalls in der Fremdbeobachtung die Strukturform des Netzwerkes von einiger Bedeutung, die im gesellschaftlichen Diskurs mit Flexibilität und der Möglichkeit assoziiert wird, traditionelle (in diesem Falle: nationalstaatliche) Grenzen zu überschreiten (vgl. zum Mythos „Netzwerk“ Krücken/Meier 2003). Dies impliziert die Frage nach der Konstruktion von Nationalität, die, zumindest soweit sie über Ethnizität erfolgt, zugleich potenzielle Konfliktlinien zwischen der Nation und ihren nicht vollständig inkludierten Minderheiten erzeugt. Letztere können Ansprüche auf eine „eigene“ Nationalstaatsgründung erheben oder
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In diesem Sinne inszeniert sich die IRA als Ausdruck einer irisch-republikanischen Staatlichkeit. Das beginnt mit der Namenswahl, die genau dieses symbolisiert, und zeigt sich auch in der formal-militärischen Struktur, die das Gewaltmonopol des Staates nach außen zum Ausdruck bringt und zumindest zunächst einer staatlichen Armee entlehnt ist und nicht einer Terrorgruppe mit partikularem Anspruch. Es zeigt sich aber auch im Anspruch der IRA, nach innen die Ordnungsmacht mit Gewaltmonopol zu sein. So patrouilliert die IRA als Schutzmacht in den katholischen Vierteln, reguliert Verteilungsfragen und stellt zudem einen der größten Arbeitgeber in Nordirland dar. Insofern lässt sich der Nordirland-Konflikt als Konflikt um legitime Staatlichkeit deuten. Denn: Ebenso deutlich ist, dass es auch dem britischen Staat um die symbolische Dimension der Zurschaustellung staatlicher Gewalt geht, die sich nicht auf ihre instrumentelle Dimension verkürzen lässt. Staatliche Gewalt wird hierbei in ritueller Form zum Ausdruck gebracht. So beobachtet Feldman (1991: 86): „The analysis of arrest and interrogation forces one to read the state not only as an instrumental and rationalized edifice but as a ritual form for the constitution of power.” Der Staat inszeniert sich hier jedoch nicht als typischer, „softer“ world polity-Akteur, sondern regrediert angesichts der symbolischen Bedrohung seiner Autorität durch die IRA. Er lässt die Muskeln spielen und erinnert an das repressive Bild staatlicher Gewalt in den frühen Analysen von Michel Foucault.9 Rituale spielen auch in der Praxis der IRA eine wichtige Rolle. Vor allem die Hungerstreiks von IRA-Gefangenen erlauben eine Deutung als Ritual (vgl. hierzu auch Aretxaga 1997). Man mag nun fragen, ob die großen Hungerstreiks der IRA zu Beginn der 1980er Jahre nicht durch relativ zeitnahe Aktivitäten anderer terroristischer Organisationen in anderen Ländern wahrscheinlicher gemacht oder plausibilisiert wurden. Man denke hier an die Hungerstreiks der RAF und den Tod von Holger Meins im Jahr 1974. Imitation könnte demnach wiederum eine Rolle gespielt haben. Interessanterweise findet sich jedoch – parallel zur rituellen Inszenierung der Staatsgewalt – keine explizite Orientierung an externen Vorbildern oder einer globalen Gesellschaft und ihren Mythen. Der interpretative Bezugsrahmen, in den diese Ereignisse gestellt werden, ist nicht die weltweit etablierte Praxis des Einsatzes des eigenen Lebens, um seine basalen Interessen gegenüber einem übermächtigen Gegner zum Ausdruck zu bringen. Vielmehr wird der Hungerstreik als Teil einer autochtonen gälischen Geschichte gerahmt, die es als Mythos gegenüber allen Verzerrungen zu bewahren gilt. Wie Aretxaga (1997: 81) mit Bezug auf die Ikone des Hungerstreiks von 1981, Bobby Sands, herausarbeitet, handelt es sich dabei allerdings um eine Konstruktionsleistung, die verschiedene kulturelle Quellen benutzt und diese verschmilzt: “Sands was simultaneously reinterpreting while enacting a myth model deeply rooted in Irish culture (i.e., redemptive Christian sacrifice) by fusing it with mythological images of Gaelic warriors and socialist ideals of national liberation”.
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zumindest legitime Forderungen zum Schutz von Minderheitenrechten artikulieren, die als Menschenrechte (kontrafaktisch) universelle Geltung beanspruchen. Selbst wenn sich Staaten in der Gegenwartsgesellschaft eher als friedfertig inszenieren, ist ein nach innen repressiver Staat, wie er hier in Erscheinung tritt, ebenfalls durch das in der world polity angelegte Prinzip der Souveränität gedeckt. Dies schließt selbstverständlich nicht aus, dass Menschenrechtsorganisationen etwaige Verfehlungen anprangern und damit einen moralischen Druck auf den fraglichen Staat aufbauen. Solche Organisationen verfügen aber typischerweise gerade nicht über Potentiale zur machtvollen Intervention. Deutlich ist, dass sich Ansprüche auf staatliche Souveränität und Menschenrechte mit Universalitätsanspruch in einem Spannungsverhältnis befinden, das nicht bevorzugt zu Gunsten der Menschenrechte aufgelöst wird.
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Dieser Sachverhalt spricht nicht zwangsläufig gegen die Vermutung, man könne im Falle des Kampfmittels „Hungerstreik“ Imitationsprozesse beobachten. Möglicherweise ist es gerade die Idee der je eigenen nationalen Tradition des Widerstandes, die zwischen verschiedenen Terrororganisationen transnational diffundiert. Genereller verweist die Tatsache, dass es sich hierbei um eine aktive Konstruktionsleistung in der Gegenwart handelt und nicht um einen reinen historischen Ursprung, auf den Druck zur Neuerfindung von geschichtlichen Traditionen, wie er von John Meyer im Hinblick auf die Mennoniten-Gemeinschaften in den USA herausgearbeitet wurde (Meyer 2002). Hier findet gegenwärtig eine „Rückbesinnung“ auf traditionelle Trachten, Handwerkskunst, Kochgerichte und andere Aspekte des Alltagslebens statt, die in kulturell deutlich gereinigter Form in Museen zur Schau gestellt werden (Meyer 2002: 273). Meyer deutet diese „re-invention of history“, in der all die Elemente der Tradition nicht berücksichtigt werden, die heutzutage frauen-, fremden- oder naturfeindlich konnotiert sind, als typische lokale Reaktion auf von außen einwirkende Globalisierungsprozesse. In unserem Fall scheint es sich jedoch eher um eine Reaktion auf den externen Druck zu handeln, der durch eine Besatzungsmacht erzeugt wird. In diesem Sinne sind auch die Praktiken der bewussten Hinwendung zu einer „irischen Kultur“ (beispielsweise durch Gälisch-Kurse) zu deuten, wie sie generell in den katholischen communities der prekären Wohngebiete Nordirlands anzutreffen sind (vgl. Darby). Die Hungerstreiks der IRA-Gefangenen sind jedoch noch in anderer Hinsicht auf die prekäre Herstellung einer Akteuridentität bezogen. Der Konflikt, der im Hungerstreik und dem Tod von zehn Gefangenen gipfelte, entzündete sich an einer symbolisch hoch bedeutsamen Frage der Klassifikation. Die Gefangenen, die die IRA als reguläre Armee interpretieren und sich selbst folglich als Kriegsgefangene, kämpfen für den formalen Status als politische Häftlinge und gegen etwas, was sie als ihre Kriminalisierung deuten, die Kategorisierung als gewöhnliche Kriminelle. Bei der Frage nach dem formalen Status von Gefangenen handelt es sich im Übrigen um eine hoch aktuelle Problematik, wie die Behandlung der so genannten „unlawful combattants“, der „feindlichen Kämpfer“, in den Internierungslagern auf dem US-Militärstützpunkt Guantánamo zeigt, die man auch nicht als Kriegsgefangene bezeichnet, da man ihnen dann die in der Genfer Konvention festgelegten Rechte gewähren müsste. Wiederum zeigt sich, dass Akteure nicht einfach und unproblematisch in der Welt sind, sondern erst durch Klassifikationen in institutionellen settings zu solchen werden. 4
Perspektiven
Es ist eine offene Frage, ob und wie neue Spieler im Friedensprozess konstituiert werden. Dieser Prozess liegt zeitlich außerhalb des Beobachtungsrahmens der in diesem Band versammelten Beiträge, die den Schwerpunkt auf die Eskalation und Veralltäglichung der Gewalt in den 1970er Jahren legen. Während dieser Zeit findet die erfolgreiche Institutionalisierung des Konflikts statt. Ganz im Sinne von Berger/Luckmann (1967) versteht man im Neo-Institutionalismus unter Institutionalisierung die Verfestigung von Handlungsroutinen, die es gesellschaftlichen Akteuren gerade nicht erlaubt, in Distanz zu ihnen zu treten und Alternativen auszuprobieren (vgl. Jepperson 1991). Institutionalisierung ist demnach zu allererst ein kognitiver Prozess und nicht durch formale Regeln erzwungen. Erst wenn keine Alternativen zum Status Quo wahrgenommen werden, gilt der Institutionalisierungsprozess als erfolgreich abgeschlossen.
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Dies scheint hier der Fall zu sein, wenn man die Beschreibungen der Lebensumstände der nordirischen Bevölkerung während dieser Zeit zugrunde legt. Auch der Hinweis, dass für viele die Zahl von 112 Toten im Jahr 1977 einen „acceptable level of violence“ darstellt (Aughey et al. 1985: 70), ist ein Indikator für die Institutionalisierung des Konflikts, in dem eine dreistellige Anzahl an Toten pro Jahr als akzeptables, da anscheinend alternativloses Gewaltniveau gilt. Dieser normativ neutrale Begriff der Institutionalisierung setzt den amerikanischen Neo-Institutionalismus in Distanz zur deutschen Tradition der Institutionentheorie; auch Prozesse der De-Institutionalisierung werden – anders als vor allem bei Gehlen (1956) – nicht als per se problematischer Zerfall wahrgenommen und bewertet (Witte-Karp 2007). Zu der im Zusammenhang mit dem Friedensprozess stehenden Phase der De-Institutionalisierung ließe sich aus Sicht des Neo-Institutionalismus vermutlich mehr sagen als zu dem vorgegebenen Zeitraum. Vielleicht trifft der Begriff „Re-Institutionalisierung“ die neueren Entwicklungen besser, da der bewaffnete Konflikt in Nordirland nicht einfach aufhört und ein gleichsam außerinstitutionelles Terrain betreten wird. Der Konflikt wird vielmehr in einen Friedensprozess transformiert, der seine eigenen legitimen Spieler, seine eigenen Spielregeln und Verfahren kreiert. Es ist zu vermuten, dass die Formen und Verfahren, die der Friedensprozess in Nordirland findet, keine rein lokalen Erfindungen sind. Mutmaßlich kann wiederum auf allgemeine institutionelle Vorgaben, spezifische Vorbilder analoger Prozesse sowie auf vielfältige scripts politischer Verhandlungen zurückgegriffen werden. Im Zuge des Friedensprozesses wandelt sich das Selbstverständnis der IRA-Organisation von einer Armee zu einer Assoziation. Ähnliches ließe sich hinsichtlich der Selbstdarstellung des britischen Staates vermuten, der sich weniger kriegerisch und dafür umso gesprächiger und offener präsentiert. Damit wäre man auch inhaltlich näher an den Werten und Mythen der world polity. Eine gewisse Rolle mag im Friedensprozess gespielt haben, dass die IRA schon von jeher mit Sinn Féin über einen legalen so genannten „politischen Arm“ verfügte, der sich vergleichsweise leichter in einen legitimen Verhandlungspartner eines Friedensprozesses transformieren ließ. Sinn Féin ist inzwischen auf der Ebene des talks schon vollkommen in der world polity angekommen. So heißt es auf der Homepage: „Sinn Fein is committed to the transformation of Irish society and to a negotiated and democratic settlement. It knows that peace is not simply the absence of violence. Real peace – a lasting peace – is based on democracy, justice, freedom and equality”10. Die im Friedensprozess sichtbaren Veränderungen sind aus neo-institutionalistischer Sicht höchst bemerkenswert, zeigen sie doch den Wandel der zentralen Akteure im Konflikt – der IRA-Organisation und des britischen Staates – hin zu Akteuren, die nicht nur als Strukturform, sondern auch hinsichtlich ihrer inhaltlichen Ausrichtung dem Modell des Akteurs entsprechen, der die globalen scripts der world polity vollzieht und damit den Annahmen der neo-institutionalistischen Globalisierungsforschung entspricht. Zugleich warnt jedoch vor allem die neo-institutionalistische Organisationsforschung davor, auf zu raschen Wandel zu setzen, indem er zwischen den nach außen gerichteten Formalstrukturen (also: Bezeichnungen, Erklärungen, formale Selbstverpflichtungen etc.) und der Aktivitätsstruktur, der eigentlichen Handlungsebene, unterscheidet und von einer nur losen Kopplung zwischen beiden Ebenen ausgeht. Aufgrund der langen Geschichte des Konflikts sind in unserem Fall vor allem weit reichende Entkopplungen und mehr „business as usual“ zu erwarten als der bloße Blick auf die neuen Formalstrukturen erwarten ließe.
10
http://sinnfein.org/, vom 21.12.2006.
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Die IRA als Praxisfeld
Frank Hillebrandt 1
Einleitung
Die verborgenen Strukturen und Mechanismen des Terrorismus mit den soziologischen Mitteln zu enthüllen, die uns Bourdieu mit seiner Praxistheorie zur Verfügung stellt, ist keine leichte Aufgabe. Zum einen ist Terrorismus ein politischer Kampfbegriff, der in den politischen Auseinandersetzungen um die Macht in bestimmten Feldern des sozialen Raums strategisch eingesetzt wird. Eine soziologische Definition des Begriffs muss diesen Umstand methodisch reflektieren, um nicht in politischen Kämpfen um die Definitionsmacht instrumentalisiert zu werden. Zur methodischen Reflexion der Erforschung des Terrorismus muss darüber hinaus gesehen werden, dass sich der Untersuchungsgegenstand für eine Fremdbeobachtung jeder Art nicht ohne weiteres erschließt. Denn Terroristische Organisationen sind wie Geheimbünde organisiert und müssen sich aus ihrem Selbstverständnis heraus von der Öffentlichkeit abschotten, um operationsfähig zu bleiben. Einer der seltenen öffentlich sichtbaren Formen der Praxis des Terrorismus ist der Terroranschlag, der als Akt der physischen Gewalt außerhalb des staatlichen Gewaltmonopols in einem abgeschotteten, dem Beobachter verborgenen Bereich der sozialen Welt planmäßig vorbereitet wird. In Terrorakten erleben wir einen plötzlichen Praxiseffekt durch die im Akt des Terrors mündende Verkettung von Praktiken. „Die Eruption von Gewalt erschreckt und fasziniert durch ihre Plötzlichkeit“ (Soeffner 2003: 58). Terroranschläge sind eigentümliche Formen physischer Gewalt, die durch ihre schockierenden Wirkungen öffentliche Aufmerksamkeit bündeln.1 Sie richten sich fast immer gegen eine politische Ordnung und „sollen allgemeine Unsicherheit und Schrecken, daneben aber auch Sympathie und Unterstützungsbereitschaft“ (Waldmann 2002: 11) für die Terrororganisation erzeugen. Die physische Gewalt ist nicht allein destruktiv. Sie wird vielmehr als symbolisches Mittel zur Umsetzung von politischen oder weltanschaulichen Programmen eingesetzt, indem sie mit politischen Stellungnahmen vermischt oder der Terroranschlag selbst als solche verstanden wird. Im Gegensatz zur Gewaltanwendung in Guerilla- oder Bürgerkriegen, die sich offen zwischen zwei benennbaren Konfliktparteien zur „Lösung“ eines politischen Konflikts im Kontext der „Regeln des Krieges“ ereignet, geschieht die Gewalt des Terrorismus in Form von relativ seltenen Anschlägen aus dem Hinterhalt. Während etwa Guerilla- oder Bürgerkriege als Formen dauerhafter Gewaltanwendung nach einer gewissen Zeit nur noch sporadisch das öffentliche Interesse wecken, weil sie in ihrer Dauer in zynischer Weise zum regional begrenzten Normalfall mutieren und beispielsweise in Kolumbien eine „Veralltäglichung der Gewalt“ (Waldmann 2003: 136) geschieht, sind Terroranschläge als bewusste Überschreitungen der geltenden Moral- und Wertvorstellungen, als Umwälzungen aller Werte, wie Hans Georg-Soeffner (vgl. 2003: 58) 1
Vgl. zu einer differenzierten Typologie physischer Gewalt Sofsky (2002).
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Frank Hillebrandt
es nennt, böse Überraschungen und erzeugen gerade dadurch mit relativ geringen Mitteln eine sehr große öffentliche Wirkung. Durch die Massenmedien vermittelt sehen wir das Drama und die Folgen des terroristischen Ereignisses der physischen Gewaltanwendung gegen das Leben oft völlig unbeteiligter Menschen. Wie der Anschlag jedoch vorbereitet wurde, welche sozialen Strukturen und Akteurkonstellationen für die Organisation des Terroranschlags notwendig sind, bleibt dabei zumeist verborgen. Soziologische Forschung kann sich damit nicht zufrieden geben. Sie muss Terrorismus als strukturell und kulturell eingebettete Praxisform rekonstruieren, um Erklärungen für sein Zustandekommen gewinnen zu können. Makrosoziale Erklärungen, die sich – übrigens durchaus im Sinne der politischen Stellungnahmen Bourdieus (vgl. etwa 2001b) zu den sozialen Folgen des „neuen“ Kapitalismus – etwa auf globale Ungleichheitsstrukturen in der Verteilung des Reichtums und die damit verbundenen Kämpfe um die Definitionsmacht kaprizieren, greifen deutlich zu kurz, um nachhaltige Erklärungen für die Entstehung und Reproduktion der auf Dauer gestellten Praxisform des Terrorismus aufzeigen zu können.2 Terrorismus ist nicht hinreichend beschrieben und erklärt, wenn er als eine unter anderen Formen des Widerstandes gegen bestimmte politische und soziale Strukturen verklärt wird. Er gewinnt seine Charakteristik gerade dadurch, dass eine spezifische Form der physischen Gewalt der konstitutive Operationsmodus seiner Reproduktion ist. Dadurch wird Terrorismus zu einem eigentümlichen sozialen Gebilde, das durch Terroranschläge nicht selten breite Praxiseffekte erzielt und nicht zuletzt eine Bedrohung für viele Menschen darstellt. Es muss in soziologischer Perspektive bezogen auf seine Entstehung und dauerhafte Reproduktion analysiert werden. Die Beantwortung dieser beiden Fragen steht im Mittelpunkt meiner Überlegungen. Ich möchte diesbezüglich aus der Perspektive der soziologischen Praxistheorie, wie sie von Bourdieu formuliert wird, selektiv zwei exemplarisch auf die IRA bezogene Themenkomplexe andiskutieren, die zur Erklärung des Terrorismus als soziales Gebilde beitragen können. Nachdem ich den praxistheoretischen Ausgangspunkt ganz kurz skizziert habe (2), werde ich im ersten Hauptteil die Genese des Kräftefeldes der IRA analysieren (3). Dies erlaubt es, im zweiten Hauptteil die Bedeutung der Habitustheorie zur Analyse der Praxisformen des Terrorismus der IRA herauszuarbeiten (4).
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Praxistheoretischer Ausgangspunkt
Zur Erklärung von Praxisformen als sozial und kulturell bedingte Verkettungen von Praktiken vermeidet Bourdieu substantielle Begrifflichkeiten, indem er praxisrelevante Relatio2
Interessanterweise interessiert sich Bourdieu, wie das folgende Zitat zur Ausrichtung seiner Soziologie exemplarisch zeigt, mehr für die Frage, wie eine herrschende Ordnung sich stabil reproduziert, und nicht so sehr dafür, warum Terrororganisationen wie die IRA mit den Mitteln der physischen Gewalt gegen die herrschende Ordnung kämpfen: „In der Tat habe ich mich über das, was man das Paradox der doxa nennen könnte, schon immer gewundert. Die Tatsache, dass die Weltordnung, so wie sie ist, mit ihren Einbahnstraßen und Durchfahrverboten, im eigentlichen wie im übertragenen Sinne, ihren Verpflichtungen und Sanktionen grosso modo respektiert wird und dass es nicht zu mehr Zuwiderhandlungen oder Subversionen, Delikten und ‚Verrücktheiten’ kommt (...). Oder dass sich, was noch erstaunlicher ist, die bestehende Ordnung mit ihren Herrschaftsverhältnissen, ihren Rechten und Bevorzugungen, ihren Privilegien und Ungerechtigkeiten, von einigen historischen Zufällen abgesehen, letzten Endes mit solcher Mühelosigkeit erhält und dass die unerträglichsten Lebensbedingungen so häufig als akzeptabel und sogar natürlich erscheinen können“ (Bourdieu 2005: 7).
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nen konstruiert. Die Relation zwischen inkorporierter und objektivierter Sozialität wird dabei als grundlegend angenommen.3 Es handelt sich hierbei um die „Relation zwischen zwei Realisierungen des historischen Handelns“ (Bourdieu/Wacquant 1996: 160). Gefragt wird danach, wie innerhalb der Wechselwirkung zwischen dem Habitus als „Ergebnis des Eingehens des Sozialen in die Körper“ (Bourdieu/Wacquant 1996: 160.) und dem Feld als „Ergebnis des Eingehens des Sozialen in die Sachen oder in die Mechanismen, die gewissermaßen die Realität von physischen Objekten haben“ (Bourdieu/Wacquant 1996: 160), Praktiken und ihre Verkettungen zu Praxisformen entstehen. Das Prinzip der Praxis ist für Bourdieu also weder im transzendentalen Subjekt noch in einem objektiv bestimmbaren Milieu oder einer anderen sozialen Aggregation zu suchen, die auf den Akteur so etwas wie eine mechanische Kausalität ausübt. Das Prinzip der Praxis liegt nicht in materiellen oder symbolischen Zielen des Handelns, die ahistorisch festgelegt werden können, ebenso wenig wie es in den Zwängen der Formen der objektivierten Sozialität begründet liegt. Es beruht vielmehr auf einer Relation, „auf dem Zusammenspiel der in Gestalt von Strukturen und Mechanismen ... dinglich objektivierten Geschichte und der in Gestalt des Habitus den Körpern einverleibten Geschichte“ (Bourdieu 2001a: 193, vgl. Bourdieu/Waquant 1996: 160, Bourdieu 1976: 165). Erst wenn zwischen diesen beiden Formen der Sozialität „eine Beziehung fast magischer Teilhabe besteht“ (Bourdieu 2001a: 193), entstehen Aktivitäten, die Praxis generieren. Die Konstruktion dieser grundlegenden Relation zwischen inkorporierter und objektivierter Sozialität soll es erlauben, eine Theorie der Erzeugungsmodi der Praxisformen zu entwickeln (vgl. Bourdieu 1976: 164), mit der die Bedingungen für Praktiken vielschichtig modelliert werden können. Dazu müssen beide Seiten der Relation analytisch bestimmt und aufeinander bezogen werden. Innerhalb dieser zentralen Paradigmen einer praxistheoretischen Soziologie muss zunächst deutlich gemacht werden, dass es ein wichtiger Aspekt in der Erklärung des Terrorismus ist, die innere soziale Struktur der Terrororganisation zu ergründen, indem sie als Praxisfeld, also als spezifische Form objektivierter Sozialität beschrieben wird. In einer Art „Sozialtopologie“ (vgl. Bourdieu 1985: 9), die die objektive Sozialstruktur thematisiert, werden Felder zunächst durch das Eingrenzen der Relationen zwischen den Feld-Positionen formal als Kräftefelder bestimmt. Feld meint in Bourdieus Begriffsfassung „ein Netz oder eine Konfiguration von objektiven Relationen zwischen Positionen, die ‚unabhängig vom Bewusstsein und Willen der Individuen‘ bestehen, wie Marx gesagt hat“ (Bourdieu/Wacquant 1996: 127). Die Relationen zwischen den Positionen oder Stellungen in einem Feld erzeugen die „Determinierungen, denen die auf ihnen befindlichen Akteure […] unterliegen“ (Bourdieu/Wacquant 1996: 127; Hervorh. F.H.), und bestimmen dadurch in hohem Maße die Praktiken, die in einem Feld entstehen, wobei jedes Kräfte- und Praxisfeld als echter „Sonderfall“ (Bourdieu 1999: 293) zu betrachten ist. Auch das Kräftefeld der IRA entfaltet sich in den Relationen von Feldpositionen, die mit sozialen Akteuren besetzt werden müssen, damit die Relation wirksam werden kann. Das heißt: Erst durch die Relationierung der Strukturen des Kräftefeldes mit den Formen der inkorporierten Sozialität, die Bourdieu mit der Habitustheorie fasst, können Praktiken und Praxisformen bestimmt werden, so dass das sozialtopologisch vermessene Kräftefeld der IRA als Praxisfeld beschrie3
Bourdieu spricht von inkorporierter und objektivierter Geschichte. Ich bevorzuge den Begriff der Sozialität, um den soziologischen Gehalt dieser Unterscheidung deutlicher hervorzuheben. Dabei soll nicht unterschlagen werden, dass inkorporierte und objektivierte Sozialität als Formen der historischen Genese und Abspeicherung von Sozialität verstanden werden.
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ben werden kann. Folglich sind weder Feld (objektivierte Sozialität) noch Habitus (inkorporierte Sozialität) ahistorisch gegeben. Sie unterliegen der historischen Genese, weil sie sich nur in Wechselbeziehung aufeinander und durch die innerhalb der Relation entstehenden Praktiken und Praxisformen reproduzieren können. Zur „Erkundung des historischen Unbewussten“ (Bourdieu 2004a: 56) der IRA muss deshalb betont werden, dass inkorporierte und objektivierte Sozialität der Genese und Dynamik offen stehende Manifestationen der Geschichte sind, die eben nur dann praxisrelevant sind, wenn sie in der Gegenwart durch Praktiken und Praxisformen aktualisiert werden. Die Rekonstruktion der Genese des Kräftefeldes der IRA muss innerhalb der Paradigmen der Praxistheorie mit kultursoziologischen Mitteln durchgeführt werden, weil sie sich nur durch die Beobachtung der mit dem Feld verbundenen kulturellen Deutungen und Symbole erschließt, die als Ausdruck der Praxis verstanden werden. Denn ein zentrales Argument einer Theorie der Praxis ist, dass sich soziale Wirklichkeit mit theoretischen Mitteln nicht direkt erschließen lässt, weil sie immer bereits mit kulturellen Zusatzdeutungen ausgestattet ist, nämlich mit dem, was Bourdieu (vgl. u.a. 1987: 107) mit dem Begriff des praktischen Sinns bezeichnet. Deshalb rekurriert die Praxistheorie auf kultursoziologische Methoden, die berücksichtigen, dass soziale Akteure die soziale Praxis beobachten, bewerten und mit Sinn ausstatten. Diese Deutungen, Bewertungen und Sinnkonstruktionen finden Ausdruck in kulturellen und symbolischen Formen, die zur Analyse der Praxis berücksichtigt werden müssen, damit die Logik der Praxis nicht mit einer abstrakten, theoretischen Logik gleichgesetzt wird. Deshalb ist ein wesentlicher Bestandteil der methodologischen Instrumentarien der Praxistheorie Bourdieus ein kultursoziologisches Element, das sich auf die Analyse der Alltagskultur zur Identifikation von Praktiken und Praxisformen bezieht.4 Dies zwingt im hier verfolgten Zusammenhang zur Identifikation und Interpretation der wichtigsten, für die Praxis des Feldes der IRA relevanten Sinngehalte. Die „historischen Fakten“ müssen folglich in einem ersten Schritt in ihrer symbolischen Bedeutung für die Genese des Kräfte-Feldes der IRA interpretiert werden.
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Die Genese des Kräfte-Feldes der IRA
Auffällig ist bei einem Blick auf die Geschichte Nordirlands zunächst: Die gewaltsamen Unruhen von 1968/69 vor allem in Londonderry5 und Belfast, den beiden größten Städten der Region, werden in der Literatur als die Auslöser zur Spaltung der IRA in die provisional und official IRA und zur erneuerten Reproduktion der provisional IRA als Terrororganisation gesehen (vgl. nur Multhaupt 1988, Wuhrer 2000: 40, Waldmann 2003: 111). Die Ereignisse von 1968/69 entfalten die genannten Praxiseffekte, weil sie mit einer spezifi4
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Obwohl die Praxistheorie methodisch eine Ethnographie der eigenen Kultur empfiehlt, um eine Sensibilität für den praktischen Sinn der uns umgebenden Praxis zu erlangen, ist sie nicht mit Ansätzen zu verwechseln, die im Anschluss an Clifford Geertz (vgl. 1994) Kultur als Text missverstehen und deshalb nicht danach fragen, wie kulturelle Artefakte und Repräsentationen Praktiken ermöglichen, wie also Praktiken und in Kultur manifestierter Sinn zusammenhängen (vgl. hierzu auch Reckwitz 2003). In der katholischen Bevölkerung Nordirlands wird die Stadt mit dem Namen Derry bezeichnet. Ich halte mich dennoch an den offiziellen Sprachgebrauch, der den Namen Lodonderry vorsieht. Bei der Rekonstruktion der historischen Ereignisse stütze ich mich u.a. auf folgende Publikationen: Bell (1973), Aughey et al. (1985), Multhaupt (1988), Schulze-Marmeding/Sotscheck (1989), Wuhrer (1989, 2000), Feldmann (1991), Aretxaga (1997), Neumann (1999), Mullan (2002), Zurawski (2004).
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schen, historisch generierten und durch Symbole repräsentierten Konstellation der objektivierten Sozialität zusammentreffen. Die Unruhen machen eine symbolische Distinktionslinie des sozialen Raums zwischen katholischer Minderheits- und protestantischer Mehrheitsbevölkerung in Ulster sichtbar und praxisrelevant. Die friedlichen, von der katholischen Mittelschicht ausgehenden Proteste richten sich gegen die soziale Benachteiligung der katholischen Bevölkerung und führen im weiteren Verlauf zu gewaltsamen Angriffen militanter Protestanten auf vorwiegend von Katholiken bewohnte Stadtteile in Londonderry und Belfast, die Gegengewalt erzeugen. Die nordirische Polizei, von der katholischen Bevölkerung mit Argwohn beobachtet, weil sie sich vorwiegend aus Protestanten rekrutiert, ist als offizielle staatliche Ordnungsmacht mit dem Schutz der katholischen Bevölkerung überfordert und ergreift nicht selten, etwa bei der gewaltsamen Verhinderung eines Protestmarsches der katholischen Bürgerrechtsbewegung „People’s Democracy“ von Londonderry nach Belfast Anfang 1969, offen Partei für die von Protestanten durchgeführten Gewaltaktionen, die sich im weiteren Verlauf des Konflikts auch darauf richten, katholische Bewohner vorwiegend protestantischer Gebiete von dort zu vertreiben. Als der Konflikt in einen Bürgerkrieg zu eskalieren droht, entsendet die britische Regierung Militäreinheiten zum Schutz der katholischen Bevölkerung nach Nordirland. Diese Verkettung von Ereignissen ist nicht zufällig die Initialzündung für die Reorganisation der IRA zu einer Terrororganisation. Im Zeitraum von etwa 1945 bis 1969 verliert die IRA, die aus dem irischen Unabhängigkeitskampf von 1916 hervorgegangen ist, immer mehr an Bedeutung in den Machtverhältnissen Nordirlands, obwohl sie zwischen 1956 und 1962 relativ erfolglos durch schlecht organisierte Bombenattentate auf sich aufmerksam machen will. Dies ändert sich mit der Spaltung der IRA im Kontext der Ereignisse um 1969. Die Official IRA stellt zu dieser Zeit die Mehrheit der Mitglieder und erklärt sich 1969 zu einer politischen Partei, die sich in sozialistischer Tradition sieht und die Interessen aller nordirischen Arbeiter, also katholischer und protestantischer Herkunft, vertreten will, um die nordirische Provinz innerhalb der dort herrschenden Verwaltungsstrukturen zu reformieren. Die Provisional IRA, die eine Minderheit der damaligen IRA-Mitglieder umfasst, will hingegen den bewaffneten Kampf zur Befreiung der irischen Insel von britischer Fremdherrschaft fortführen, was die Vernichtung der nordirischen, von irischen Protestanten dominierten Verwaltungsstrukturen und des nordirischen, ebenfalls von irischen Protestanten beherrschten Staates einschließt. Sie sieht sich in einer als Freiheitskampf verklärten republikanisch-nationalistischen Tradition als alleinige Vertreterin der katholischen Bevölkerung der irischen Insel. Die Distinktionslinie zwischen den Konfessionen wird symbolisch erzeugt. Die „Vertreibung“ der britischen Armee, die als Erfüllungsgehilfin der protestantischen Herrschaft über die katholische Minorität in Nordirland gesehen wird, avanciert zum wichtigsten Programmpunkt der Provisional IRA. Bemerkenswert ist dabei: Die neue, aus einer Minderheit der IRA-Mitglieder entstehende IRA avanciert im Zusammenspiel mit der Partei Sinn Féin, die ihr politischer Arm ist, tatsächlich immer mehr zur wichtigsten und mächtigsten Interessenvertreterin der katholischen Minorität in Ulster. Diese Entwicklung ist aus kultursoziologischer Sicht eng damit verbunden, dass sich der kulturelle Hintergrund der IRA durch eine große Volkserzählung der langen Geschichte des irischen Nationalismus relativ leicht herstellen lässt. In dieser Volkserzählung, die latenter und deshalb relativ leicht abrufbarer Bestandteil des praktischen Sinns der katholischen Bevölkerung Nordirlands ist, verschmelzen Katholizismus und nationalistischer Republikanismus in der Kampfmetapher zu einem Symbol des militanten und gewaltbereiten Widerstandes gegen britische Fremdherr-
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schaft. Obwohl dieser Kampf eine Geschichte des Scheiterns ist und erst ein blutiger Bürgerkrieg im Jahr 1922 die faktische Unabhängigkeit der Republik Irland mit Ausnahme der mehrheitlich von Protestanten bewohnten Region Ulster im Norden der Insel nach sich zieht, leben beispielsweise die Symbolfiguren der als Freiheitskampf verklärten Geschichte Irlands – etwa der mittelalterliche Clanchef Cuchulain oder die von der Aufklärung geprägten Volksvertreter Wolfe Tone und Daniel O’Connell sowie die Führer des Osteraufstandes von 1916 James Connolly und Patrick Pearse – in den kulturellen Repräsentationen der katholisch-irischen Bevölkerung als Symbole ihrer Lebenswirklichkeit weiter.6 Solche und andere national-irische „Symbole setzen“, wie Hans-Georg Soeffner (1989: 162) mit Bezug auf Ernst Cassirer und Alfred Schütz treffend sagt, „keine Zeichen für etwas – sie sind selbst die Realität oder ein Teil der Realität, der sich in ihnen ausdrückt.“ Sie bilden mit anderen Worten einen wichtigen Bestandteil des praktischen Sinns der sich als irisch beschreibenden Akteure und repräsentieren deshalb einen wichtigen Aspekt sozialer Wirklichkeitskonstruktion. Sie zeichnen sich, wie alle Symbole, dadurch aus, Sinngehalte zu bündeln und dadurch der Praxis zur Verfügung zu stellen. Symbole liegen dabei nicht als Texte vor, die genau analysiert werden können. Sie sind Verdichtungen von Sinn, die sich in unterschiedlicher Weise interpretieren lassen und dennoch thematisch generalisieren. Sie ermöglichen gerade durch die Gleichzeitigkeit von Unspezifik und Generalisierung eine ständige Rezeption der in ihnen gebündelten Sinngehalte. Wenn ein Symbol in dieser Weise praxisrelevant, also wirksam wird, „zielt es darauf ab, dem Argument das Recht zu entziehen“ (Soeffner 1989: 163). Die Wirksamkeit des Symbols kann dann von den Akteuren, die ihm praktischen Sinn abgewinnen, nicht mehr begründet werden, weil es zum selbstverständlichen Bestandteil der Lebenswirklichkeit geworden ist. Vor dem Hintergrund der regelmäßigen Symbolisierung der irischen Geschichte als Freiheitskampf des „irischen Volkes“ erscheinen vereinzelte Gewaltaktionen der britischen Friedenscorps, die von der katholischen Bevölkerung zunächst als neutrale Macht zur Schlichtung der Unruhen von 1969 begrüßt worden waren, nicht als angemessene Reaktionen auf gezielte Provokationen einzelner, militanter Katholiken, sondern als Ausdruck der britischen Besetzung Nordirlands, die ausschließlich zum Vorteil der protestantischen Bevölkerung geschieht. Die Provisional IRA kann sich im Kontext dieser Konstellation immer deutlicher als einzig legitime Schutzmacht der katholischen Bevölkerung beschreiben und es entstehen die bekannten, zum Teil durch Trennwände von den protestantischen Stadteilen abgeriegelten katholischen Ghettos in Belfast und Londonderry, in denen die IRA das sozio-kulturelle Leben zunehmend bestimmt und der britische Staat immer mehr an Einfluss verliert. Diese Stadtteile werden in der katholischen Bevölkerung symbolisch als „Free-Derry“ und „Free-Belfast“ bezeichnet. Die symbolische Distinktionslinie zwischen den Konfessionen manifestiert sich im Anschluss an die Unruhen von 1969 im physischen Raum. Und physische Gewalt außerhalb des staatlichen Gewaltmonopols erscheint der katholischen Bevölkerung immer mehr als legitimes Mittel zu ihrem Schutz. Die Provisional IRA beginnt sich folgerichtig mit der Begründung zu bewaffnen, die katholische Minderheit mit Waffengewalt vor den Gewalttaten der protestantischen Mehrheitsbevölkerung – von der IRA als Loyalisten bezeichnet – schützen zu wollen, und bereits 1970 verteidigt 6
Der Kampf der Iren um ihre Unabhängigkeit ist neben Hungersnot und Auswanderungswellen einer der wichtigsten und selbstverständlichsten Bestandteile irischer Volkslieder, und die Protagonisten dieses Kampfes werden in Gedichten der berühmtesten Dichter Irlands wie etwa in William Butler Yeats’ (vgl. 1990: 12ff.): Cuchulains’s Fight with the Sea, zu Helden stilisiert.
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die IRA die katholische Enklave Short Strand in Ostbelfast mit Waffengewalt gegen angreifende Loyalisten. Die sich in der katholischen Bevölkerung ereignende symbolische Gleichsetzung der Interessen der protestantischen Mehrheitsbevölkerung mit den Interessen der britischen Armee macht sich an einem Ereignis fest, das als „Bloody Sunday“ in die Geschichte des Konflikts eingeht. Am 30.01.1972 werden bei einer katholischen Demonstration für Bürgerrechte in Londonderry 14 unbewaffnete katholische Demonstranten durch die Schüsse aus einer britischen Eliteeinheit getötet (vgl. zur Dokumentation des Ereignisses Mullan 2002). Dieses Ereignis wird wie kein anderes Datum zum „Dreh- und Angelpunkt eines kollektiven Traumas der katholischen Bevölkerung“ (Zurawski 2004: 67), weil die Umstände der Ermordung von Demonstranten durch die britische Armee nicht aufgeklärt werden, sondern stattdessen die Armee von jedem Vorwurf frei gesprochen und dem die Schüsse befehlenden Kommandeur gar eine Auszeichnung für besondere Verdienste zuerkannt wird. Das Ereignis wird zum Teil des kulturellen Gedächtnisses der katholischen Bevölkerung Nordirlands, indem es mit Symbolen aufgeladen und in eine Reihe mit bereits zu Symbolen des Freiheitskampfes avancierten Ereignissen wie dem Osteraufstand von 1916 gestellt wird. Der Bloody Sunday avanciert letztlich selbst zum Symbol der britischen Unterdrückung der katholischen Bevölkerung mit weitreichenden Folgen für den Konflikt in Ulster, die Nils Zurawski (2004: 67) so auf den Punkt bringt: „Das Verhältnis zwischen katholischer Bevölkerung und britischem Staat kippte zu Gunsten des bewaffneten Kampfes und einer fast bedingungslosen Unterstützung der IRA, als deren größte (und nicht selbst verantwortete) Rekrutierungskampagne der Tag gemeinhin gilt.“ Das Mittel der physischen Gewalt zur Befreiung der irischen Insel von britischer Fremd- und Willkürherrschaft wird jetzt symbolisch mit dem Ereignis vom 30.01.1972 legitimiert, so dass nach dem „Bloody Sunday“ die Militarisierung des Konflikts zu einem vorläufigen Abschluss kommt.7 Die Praxisform der physischen Gewalt wird in der Folge zu einer Regelmäßigkeit in der Lebenswirklichkeit der am Konflikt beteiligten Akteure, wie die folgende, im Jahr 2000 von Nils Zurawski (2002a: 485) aufgezeichnete Aussage eines IRA-Mitglieds eindrücklich deutlich macht:8 „So I didn’t need to sit down and think about the rights and wrongs of committing violence and violence was being acted on me. Everyday it was being acted upon my community, everyday. … What I needed was to think, how can I stop what is happening to my community and the lesson was that, might is right, whoever inflicts the most.” 7
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Diese Symbolisierung des Ereignisses geschieht auf allen medialen Ebenen. Besonders eindrücklich zeigt sie sich am „Free-Derry-Corner“ in Londonderry, wo ein groß dimensioniertes Wandgemälde bis heute die Szene zeigt, wie katholische Demonstranten am „Bloody Sunday“ einen verwundeten Kameraden aus dem Schussfeld der britischen Waffen tragen. Inzwischen gibt es 30 Jahre danach eine Aufarbeitung des Ereignisses durch die britische Regierung, in der deutlich wurde, dass es sich bei den Schüssen nicht, wie von der britischen Armee beteuert, um einen Akt der Verteidigung, sondern um eine willkürliche Ermordung von Demonstranten gehandelt hat. Siehe hierzu Mullan 2002, der Augenzeugenberichte gesammelt und damit die erneute Untersuchung des Ereignisses durch die britische Regierung zur Beförderung des Friedensprozesses mit initiiert hat. Ich werde zur Veranschaulichung meiner theoretischen Positionen auf mehrere Interviewaussagen von IRAMitgliedern zurückgreifen, die Nils Zurawski (vgl. 2002a und b, 2004) in den Jahren 2000 und 2001 während eines Forschungsaufenthalts in Ulster durch weitgehend narrative Interview-Techniken (vgl. Zurawski 2002b: 6) gesammelt und in den genannten Publikationen ausgewählt hat. Mir ist klar, dass ich zur Untermauerung meiner Thesen eine eigene empirische Primär-Untersuchung durchzuführen hätte. Dies würde aber den Rahmen dieser theoretischen Arbeit sprengen, die im Kontext des vorliegenden Buches primär als Beitrag zum Theorienvergleich und nicht primär als Beitrag zur soziologischen IRA-Forschung verstanden werden muss.
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Durch diese Veralltäglichung physischer Gewalt als legitimes und unabwendbares Mittel des Konflikts beginnt sich das Kräftefeld der IRA als Terrororganisation zu entfalten und ihr terroristisches Prinzip, mit den Mitteln der physischen Gewalt auch den Norden der irischen Insel von britischer Fremdherrschaft zu befreien, wird zum herrschenden Interesse, zur herrschenden „Illusio“ des Kräftefeldes, das nur deshalb nachhaltige Praxiseffekte entfalten kann, weil es zum selbstverständlichen Bestandteil des praktischen Sinns einer großen Masse der katholischen Akteure Nordirlands geworden ist, weil es also von diesen Akteuren habitualisiert wird. Die Illusio ist als „stillschweigende Anerkennung der Spieleinsätze“ (Bourdieu 1989: 399) eine notwendige Bedingung der Reproduktion des Kräftefeldes der IRA, weil sie als praktischer Sinn, also als inkorporierte Form der Logik der Praxis des Kräftefeldes eine regelmäßige Vereinnahmung von Akteuren durch die IRA erzeugt und sie dazu bewegt und disponiert, „die von der Logik des Feldes her gesehen relevanten Entscheidungen zu treffen“ (Bourdieu 1999: 360). Dies wird dadurch verstärkt, dass die IRA in den katholischen Stadteilen nicht nur als Sicherheits- und Ordnungsmacht fungiert, sondern auch Clubs und Pubs, wie den Irish Republican Felons Pub (siehe Büscher 1996), aber auch Chöre, Tanzgruppen, Selbsthilfegruppen etc. gründet und unterhält, so dass sie dort zum entscheidenden sozio-kulturellen Machtfaktor wird (vgl. Waldmann 2003: 112). Die katholischen Gebiete werden so zum relativ sicheren Rückzugs- und Rekrutierungsgebiet der Untergrundorganisation der IRA, die sich sehr bald nach der Spaltung aus der Provisional IRA heraus bildet. Mit der hier verfolgten, an der Praxistheorie orientierten Rekonstruktion der Genese der „neuen“ IRA steht nicht nur eine Erklärung für den großen Rückhalt der IRA in der katholischen Bevölkerung Nordirlands bereit9, mit ihr ist gleichsam eine Erklärung der Genese der IRA zu einer Terrororganisation verbunden. Auch hierfür ist das sich innerhalb der IRA konstituierende Interesse zentral, die irische Insel mit den Mitteln der physischen Gewalt von britischer Fremdherrschaft befreien zu wollen. Die Praktiken der IRA erscheinen in diesem Kontext als „Befreiungskampf“, der seine Legitimation aus Umständen zieht, die außerhalb der Terrororganisation verortet werden, wie die folgende Aussage eines IRAKämpfers beispielhaft deutlich macht: „Wir befinden uns in einem nationalen Befreiungskampf, unser Land ist von einer fremden Macht besetzt. Wir haben die moralische Rechfertigung, diese ausländische Macht militärisch und politisch zu bekämpfen“ (Martin McGuinness, in den 1970er Jahren Führer der IRA Brigade von Londonderry zit. n. Wuhrer 1989: 170). Die Sinnproduktion im Anschluss an die Ereignisse von 1969 reaktiviert latente Symbole der irischen Geschichte und generiert bzw. reproduziert das für die IRA zentrale Interesse, die irische Insel mit physischer Gewalt von britischer Fremdherrschaft befreien zu wollen. Dieses spezifische Interesse, das praktisch einen ständigen Bruch geltender Gesetze impliziert, entfaltet praxisrelevante Wirkungen. Es zwingt die IRA zur Etablierung einer 9
Dieser kann allerdings nur für die 1970er und frühen 1980er Jahre festgestellt werden und zeigt sich an Wahlerfolgen der Sinn Féin und vor allem an der breiten Anteilnahme an den Hungerstreiks von IRAHäftlingen von 1980/81, in deren Verlauf Bobby Sands, der Anführer der Hungerstreikenden, der bei der Aktion ums Leben kommt, in das britische Unterhaus gewählt wird. Zurawski (vgl. 2004) sieht im Hungerstreik neben dem „Bloody Sunday“ das wichtigste Ereignis, das in der katholischen Bevölkerung die Symbolisierung des Konflikts zu einem Freiheitskampf ermöglicht. So wie die symbolische Aufladung des „Bloody Sunday“ in den 1970er Jahren eine Rekrutierung von IRA-Mitgliedern ermöglicht, ermöglicht dies die Symbolisierung des Hungerstreiks zu einem Kampf von Helden gegen eine übermächtige Staatsmacht in den 1980er Jahren.
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Organisationsstruktur, die ihr eine Reproduktion als Untergrundorganisation, als die sie sich im Übrigen in ihrer Selbstbeschreibung per se sieht, erlaubt, um sich vor den Übergriffen der staatlich legitimierten Ordnungsinstanzen zu schützen.10 Die Positionen des Kräftefeldes werden eindeutig bestimmt. Die Untergrundorganisation umfasst zwischen 300 und 500 Mitglieder, von denen zwischen 75 und 100 Terroranschläge aktiv durchführen. Die IRA ist in ihrem Kern strikt hierarchisch organisiert. Ihre Führungsebene stellt das sieben Mitglieder umfassende „Army Council“ dar. Die übrigen aktiven Mitglieder verteilen sich auf einzelne, relativ autonome Terrorzellen, von denen jede etwa aus 6 Mitgliedern besteht, die einem örtlichen Kommandanten unterstehen (vgl. Multhaupt 1988: 41). Diese Feldkonstellation führt dazu, dass aktive IRA-Mitglieder nur relativ wenig andere aktive IRA-Mitglieder persönlich kennen, so dass eine Infiltration von außen relativ schwierig ist. Gleichsam ist mit dem Ausfall einer der Terrorzellen der Fortbestand der gesamten Organisation nicht gefährdet. Die dauerhafte Reproduktion der IRA ist durch die Genese dieser für Untergrundorganisationen typischen Struktur (vgl. hierzu Mayntz 2004) sichergestellt. Als Ergebnis dieses sozialen Prozesses werden Terroranschläge zum primären Operationsmodus der IRA, weil sie eine stabile und dauerhafte Reproduktion der IRA als Terrororganisation garantieren. Die Genese des Kräftefeldes der IRA kommt dadurch in den 1970er Jahren zu einem vorläufigen Abschluss und kann, wie die Praxistheorie verdeutlicht, nicht als Ergebnis des handelnden Zusammenwirkens sozialer Akteure verstanden werden. Sie ist das Ergebnis des Zusammenwirkens von inkorporierter und objektivierter Sozialität. Innerhalb dieser Relation entstehen Praktiken und Praxisformen wie die physische Manifestation katholischer und protestantischer Wohnviertel, die Bewaffnung der IRA, die Akzeptanz der IRA als Schutzmacht der katholischen Bevölkerung, die gewaltsame Verteidigung katholischer Wohnviertel gegen die Angriffe von Loyalisten sowie schließlich die Formung der IRA zu einer schlagkräftigen Terrororganisation, die aus dem Untergrund operiert. Diese Praxisformen bewirken die Genese der IRA zu einem wirkmächtigen Kräftefeld (siehe Abbildung 1, das selbst zu einer Form der objektivierten Sozialität wird, die wiederum in Relation zu bestimmten Formen der inkorporierten Sozialität Praxisformen des Terrorismus generiert. Die soziologische Erklärung dieser Praxisformen kann sich deshalb nicht auf die Analyse der Genese des Kräftefeldes der IRA beschränken. Sie ist, und das möchte ich im Folgenden deutlich machen, unauflöslich mit der Erforschung mentaler Strukturen verbunden, die Bourdieu mit dem Habitustheorie verständlich macht.
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Bereits 1970 durchsucht die britische Armee die katholischen Stadtteile Derrys und Belfasts nach Waffen und tötet dabei in Belfast 5 Menschen. Dass die britische Politik die Genese der IRA zu einer Terrororganisation durch diverse Fehlentscheidungen, etwa die Verklärung des „Bloody Sunday“ zu einer Verteidigungsaktion, befördert (vgl. Schulze-Marmeling/Sotscheck 1989: 102ff.), muss hier nur am Rande bemerkt werden, weil dies inzwischen als gesicherte und allgemein bekannte Erkenntnis gelten kann.
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Katholische Bevölkerung Nordirlands Sympathisanten Sinn Féin
Army Council der IRA
Soziokulturelle Organisationen
Sinn Féin
Sympathisanten
Katholische Bevölkerung Nordirlands Ausländische Geldgeber (v. a. US-Bürger irischer Abstammung)
Abbildung 1:
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Soziokulturelle Organisationen
Das Kräftefeld der IRA
Habitus, praktischer Sinn und die Logik der Praxis des Terrorismus
Terrorismus ist, wie meine bisherigen Ausführungen zeigen sollten, eine sozial eingebettete Praxisform. Sie geschieht nicht als plötzlicher Ausbruch von Gewaltexzessen, sondern ist das Ergebnis des Zusammenspiels sozialer und mentaler Strukturbildungen. Zum Terrorismus bereite Akteure sind, mit anderen Worten, zumeist keine irrationalen Fanatiker mit psychischen Indispositionen (vgl. Waldmann 2003: 107f.).11 Sie sind Akteure mit einem Habitus, der durch den sozialen Prozess der physischen Gewalt geformt ist. Das heißt: Praktiken und Praxisformen des Terrorismus sind mental und körperlich verankert. Sie geschehen nicht voraussetzungslos und zufällig, weil sie Akteure mit einem terrorbereiten Habitus voraussetzen, der einzig eine Reproduktion des terroristischen Feldes in den Prinzipien einer Logik der physischen Gewalt ermöglicht. Folglich müssen die Bedingungen für 11
Es gibt Berichte darüber, dass Terroristen ihre Tätigkeit wie eine ganz gewöhnliche Berufstätigkeit beschrieben haben (vgl. u. a. Waldmann 1998: 157). Gerade in der IRA wird dies relativ häufig beobachtet, weil sich diese Organisation, was schon ihr Name impliziert, als reguläre Armee der katholischen Bevölkerung Nordirlands versteht, denn schließlich entwickelte sich der im irischen Bürgerkrieg von 1922/23 siegreiche Teil der IRA zur regulären Armee der Republik Irland.
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die Entstehung von Praktiken und Praxisformen des Terrorismus nicht nur in den Feld- und Raumstrukturen gesucht werden, sondern auch in den Akteurstrukturen (vgl. Bourdieu 1987: 127). Dazu wird ein soziologisiertes Akteurkonzept benötigt, das Bourdieu mit seiner Habitustheorie bereitstellt. In dieser Theorie werden Akteure als „sozialisierte Körper“ (Bourdieu 2005b: 18, 1997: 64, vgl. Bourdieu 1987: 135) begriffen, deren Handlungs-, Denk-, Bewertungs- und Wahrnehmungsdispositionen (Habitus) als Bedingungen für die Entstehung von Praktiken nur aus der Sozialität, also aus der Praxis selbst entstehen können. Denn die Geschichte der Sozialität wird nicht nur in den Institutionen, Positionen, Relationen, Feldern und Dingen objektiviert. Sie wird zudem von den sozialen Akteuren inkorporiert, so dass sich unterschiedliche und unterscheidbare Habitusformen als strukturierende Hintergrundstrukturen der Praxis bilden. Mit dem Habitusbegriff wird betont, dass in jeder Praktik körperliche, mentale, sinnliche und emotionale Komponenten aktiviert werden. Dies ist ein zentrales Konzept der Praxistheorie, weil es eine strukturalistisch-holistische Soziologie vermeidet, was für einen praxistheoretischen Begriff des Terrorismus von zentraler Bedeutung ist. Zugleich verdeutlicht die Bourdieusche Theorie des Habitus, dass Akteure nicht nur mit ihrem Bewusstsein, sondern auch als Körper, die sozialisiert sind, Praktiken initiieren. „Genau dies ist die Funktion des Begriffs Habitus: Er gibt dem Akteur eine generierende und einigende, konstruierende und einteilende Macht zurück und erinnert zugleich daran, dass diese sozial geschaffene Fähigkeit, die soziale Wirklichkeit zu schaffen, nicht die eines transzendentalen Subjekts ist, sondern die eines sozial geschaffenen Körpers, der sozial geschaffene und im Verlauf einer räumlich und zeitlich situierten Erfahrung erworbene Gestaltungsprinzipien in der Praxis umsetzt“ (Bourdieu 2001a: 175). Wichtig ist dabei, dass die Theorie des Habitus nicht nur die mentalen Verkörperungen der Sozialität abbildet, sondern auch die emotionalen, dem Bewusstsein der Akteure häufig verschlossenen Komplexe der inkorporierten Sozialität als konstitutiv für die Aktualisierung und Erzeugung von Praktiken begreift. Der Habitus wird als inkorporierte „zweite Natur“ des sozialen Akteurs gefasst (vgl. u. a. Bourdieu 1976: 171), die alle Aspekte, also eben nicht nur das Bewusstsein, der menschlichen Existenz bestimmt. Die Formen des Habitus sind davon abhängig, wie lange ein bestimmtes Verhältnis zu einer bestimmten Welt von Wahrscheinlichkeiten angedauert hat (vgl. Bourdieu 1987: 120). Das Habituskonzept impliziert mit anderen Worten ein Konzept der Sozialisation sozialer Akteure. „Da er [der soziale Akteur; F.H.] die (biologische) Eigenschaft hat, der Welt gegenüber offen, also ihr ausgesetzt zu sein und somit von ihr formbar, durch die materiellen und kulturellen Lebensbedingungen, in die er von Anfang an gestellt ist, modellierbar, unterliegt er einem Sozialisationsprozess, aus dem die Individuation selbst hervorgeht, wobei die Singularität des ‚Ich’ sich in den gesellschaftlichen Beziehungen und durch sie herausbildet“ (Bourdieu 2001a: 172). Dieser Sozialisationsprozess – von Bourdieu mit offensichtlichen Bezügen zu George Herbert Meads Sozialpsychologie beschrieben – muss als Inkorporierung eines Systems von Dispositionen des Denkens, Fühlens, Wahrnehmens, Bewertens und Handelns verstanden werden. Dieser Komplex von Dispositionen ist mit den emotionalen, kognitiven und mentalen Strukturen der sozialen Akteure unentwirrbar verflochten. Wird diese Theorievorgabe in ihrer ganzen Breite auf das Kräftefeld der IRA angewendet, ergeben sich zwei Hauptthematisierungsstränge: Zum ersten muss die Genese eines terrorbereiten Habitus, die eine notwendige Bedingung zur Reproduktion der IRA als Terrororganisation ist, als kom-
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plexer sozialer Prozess verstanden werden. Zum zweiten muss verdeutlicht werden, wie der Habitus als generatives Prinzip der Praxis Praktiken und Praxisformen hervorbringt. Zunächst zum Prozess der Habitualisierung: Dieser Prozess ist im hier verfolgten Zusammenhang dadurch gekennzeichnet, dass das Kräftefeld der IRA, nachdem es sich zu einer Untergrundorganisation geformt hat, eine nicht zu unterschätzende Wirkung auf die zu ihm und in ihm positionierten Akteure ausübt. Die Bereitschaft zur Mitgliedschaft in der Terrororganisation – die IRA hat, nebenbei bemerkt, in den 1970er und 1980er Jahren keine Probleme Mitglieder für ihre Untergrundorganisation zu rekrutieren – beruht dabei nicht primär auf einer rationalen oder irrationalen Entscheidung. Sie muss als Effekt der Genese der Dispositionen eines kollektiven Habitus’ verstanden werden. Durch die regelmäßigen Symbolisierungen der gewaltsamen Unruhen von 1969 und insbesondere des „Bloody Sunday“ vom 30.01.1972 als Beginn eines neuen Befreiungskampfes des irischen „Volkes“ gegen britische Fremdherrschaft identifiziert sich ein großer Teil der katholischen Bevölkerung Nordirlands mental und emotional mit den Praxis-Prinzipien und Interessen der IRA, was durch die Etablierung der IRA als wirksame Schutzmacht der katholischen Stadteile von Derry und Belfast verstärkt wird. Wenn in diesem Zusammenhang physische Gewalt zu einem regelmäßigen Bestandteil der Lebenswirklichkeit wird, schreibt sich diese Erfahrung in die Körper der sozialen Akteure ein und formt sich zu einem wirkmächtigen Habitus, der die Denk-, Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsdispositionen der katholischen Bevölkerung Nordirlands nachhaltig prägt. Wichtig ist, dass dieser so entstehende Komplex von Dispositionen zum Prinzip der Praxisbeteiligung von sozialen Akteuren wird, weil sie, wie alle Akteure, zu ihrer individuellen Reproduktion auf die Dispositionen des Habitus angewiesen sind.12 Dies erklärt nicht nur den großen Rückhalt in der katholischen Bevölkerung, auf den sich die IRA in den 1970er und 1980er Jahren verlassen kann13, sondern auch die relativ weit verbreitete Bereitschaft, der Terrororganisation der IRA beizutreten, die von den IRAMitgliedern nicht reflektiert, sondern als Selbstverständlichkeit beschrieben wird. Auf die Frage nach den Motiven seines Beitritts zur Terrororganisation der IRA äußert ein „IRASoldat“ beispielhaft: „Ich bin seit sehr frühem Alter in den Kampf verwickelt, seit meinem 12. oder 13. Lebensjahr. Ich bin nicht so vermessen zu behaupten, dass ich in diesem Alter über politisches Bewusstsein verfügte. Aber ich wusste genau, was ich tat. Meine Verwicklung in die republikanische Bewegung war eine emotionale Reaktion auf das, was um mich herum geschah. Zu einem gewissen Grade tat ich das, was meine Freunde auch taten: der Jugendorganisation der Republikaner beitreten“ (Zit. nach Schulze-Marmeling/Sotschek 1989: 230). 12
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Zur Veranschaulichung dieses Arguments soll die folgende Aussage eines IRA-Mitglieds dienen: „I grew up in a Republican family, I was a member of the Republican movement, albeit the junior movement but long before the Troubles, these present Troubles actually started, which was in 1969. I was a member of Na Fianna Éireann in 1966 so I mean I had a very in-depth Republican background and breeding” (Zit n. Zurawski 2002b: 13). Nach dem praktischen Prinzip: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“, verlässt sich die IRA selbstredend nicht allein darauf und implementiert in den von ihnen beherrschten Gebieten ein differenziertes Spitzelsystem, das „Verräter“ denunziert und dadurch mit den Mitteln der symbolischen und physischen Gewalt „Gefolgschaft“ erzwingt (vgl. hierzu, die Praktiken der IRA allerdings verharmlosend, Schulze-Marmeling/Sotschek 1989: 252ff.). Ein IRA-Mitglied äußert zu den von ihnen in den katholischen Gebieten durchgeführten Bestrafungsaktionen gegen „Verräter“ beispielhaft: „No, no the people were going to the IRA and the IRA found themselves in a reluctant position of having to deal with these problems because there was no acceptable policing force hear to deal with” (Zit. n. Zurawski 2002a: 490).
Die IRA als Praxisfeld
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Die Verwicklung in die Terrororganisation wird nicht als bewusste Entscheidung, sondern als schleichender Prozess beschrieben, dem man als katholischer Jugendlicher in den Rekrutierungsgebieten der IRA kaum entgehen kann. Die massenhafte Habitualisierung eines der IRA neutral bis zustimmend ausgerichteten Dispositionssystems ist für diese Praxiseffekte eine wichtige Bedingung. Nur vor diesem Hintergrund können die Rekrutierungsmechanismen der Terrororganisation greifen, die sich als Praxiseffekte der bereits skizzierten, für Untergrundorganisationen typischen Organisationsstruktur der IRA einstellen. Die Mitgliedszahl der IRA ist relativ gering und wird programmatisch verknappt, so dass es für die Sympathisanten der IRA zu einer seltenen Auszeichnung wird, in die Untergrundorganisation als Unterstützer von Terroranschlägen aufgenommen zu werden, was beispielsweise in den Praktiken im Irish Republican Felons Pub (vgl. Büscher 1996) deutlich zum Ausdruck kommt. Der Zugang zur aktiven Mitgliedschaft, also in den Kreis der Aktivisten, die selbst Terroranschläge durchführen, gilt den IRA-Mitgliedern als weiterer Ehrbeweis, so dass sie ihre Denk-, Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsdispositionen auf dieses Ziel ausrichten. Ist die Mitgliedschaft in den inneren Kreis der Terrororganisation vollzogen, hat dies weit reichende Folgen für die Habitusgenese des sozialen Akteurs. Die Mitgliedschaft in einer Untergrundorganisation, deren wichtigster Operationsmodus die Durchführung von Terroranschlägen ist, führt zur Aufgabe aller als bürgerlich bezeichneter Lebensmuster. Die gesamte Lebensführung richtet sich auf die Ziele der Untergrundorganisation aus. Die IRA wird zum alleinigen Bezugspunkt aller Lebenspraxis, da Kontakte außerhalb dieses Feldes (etwa Freundschaften, Familie etc.) aus Sicherheitsgründen fast völlig vermieden werden müssen. Die Feldstruktur der Terrororganisation formt die inneren Dispositionen der sozialen Akteure nachhaltig, indem sie Neigungen und Abneigungen, Bewertungs- und Wahrnehmungsdispositionen oder kurz eine Weltsicht prädisponiert. Diese sich als Habitus den Körpern der Akteure einschreibende Weltsicht besteht nach Bourdieu (1976: 270, Hervorh. weggelassen), wie alle anderen Weltsichten auch, aus „dem Sinn für die Verpflichtung und die Pflicht, dem Orientierungs- und Wirklichkeitssinn, dem Gleichgewichts- und Schönheitssinn, dem Sinn für das Sakrale, dem Sinn für Wirkung, dem politischen Sinn und dem Sinn für die Verantwortung, für Rangfolgen, für Humor und für das Lächerliche, dem praktischen Sinn, dem Sinn für Moral und dem Sinn fürs Geschäft, und so weiter und so fort ….“ Dieser Sinn formt sich bei Akteuren nach der Aufnahme in die Terrororganisation immer mehr im Rahmen des für die praktischen Operationen der Terrororganisation Notwendigen. Das heißt: Eine Terrororganisation wie die IRA benötigt Akteure mit einem Habitus, der den Feldstrukturen der Organisation entspricht. Diese Feldstrukturen schränken die Teilnahmemöglichkeit der Akteure ein, weil die kulturelle Aufladung der Terrororganisation eine differentielle Schematisierung der Sinnmaßstäbe bis hin zur Körperkontrolle voraussetzt, die eben nicht bei allen Akteuren in passender Weise vorhanden ist. Dies erklärt im Übrigen auch, warum die Aufnahme in den aktiven Teil der IRA regelmäßig als Initiationsritus inszeniert wird und warum ein Ausstieg aus einer Terrororganisation häufig so schwer zu realisieren ist. Die inkorporierten Dispositionen terrorbereiter Akteure zeichnen sich nicht primär durch Fanatismus aus, sondern eher durch das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer verschworenen, radikalen Gemeinschaft. Und sie befinden sich so lange im Zustand der Latenz, bis sie durch die Konfrontation mit den objektivierten Formen der Sozialität, also mit den Feldstrukturen der IRA, aktiviert werden. In den Worten Bourdieus: „Als ständig von regelhaften Improvisationen überlagerte Erzeugungsgrundlage bewirkt der Habitus als praktischer Sinn
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das Aufleben des in den Institutionen objektivierten Sinns“ (Bourdieu 1987: 107), denn „erst durch den Habitus findet die Institution ihre volle Erfüllung“ (Bourdieu 1987: 107). Dadurch werden aus Kräftefeldern wie dem der IRA Praxisfelder (siehe Abbildung 2).
Objektivierte Sozialität
Inkorporierte Sozialität
beschränken und ermöglichen
erzeugen
Sinn
Army Council der IRA
Soziale Praktiken
Akteure mit (terrorbereitem) Habitus
Sinn
beeinflussen Entstehung und (Re-)Produktion
Abbildung 2:
beeinflussen Entstehung und Veränderung
Die IRA als Praxisfeld14
Demnach impliziert die Habitustheorie einen zweiten, wichtigen Thematisierungsstrang, weil sie Aussagen über den Habitus als generatives Prinzip der Praxis ermöglicht:15 Der Habitus ist eine Ermöglichungsbedingung der Entstehung von Praktiken. Nur durch ihn werden Akteure zu Praxis aktivierenden Bedingungen der sozialen Welt, weil sich im Habitus ganz bestimmte, für die aktuelle Praxis notwendige Denk-, Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsdispositionen inkorporiert haben. Diese inkorporierten Dispositionen erlauben es den Akteuren, der Praxis einen praktischen Sinn zuzuschreiben, so dass sie den Formen der objektivierten Sozialität buchstäblich Sinn abgewinnen können. Das Kräftefeld der IRA mit dem objektivierten Interesse, die irische Insel mit den Mitteln der physischen Gewalt von britischer Fremdherrschaft befreien zu wollen, wird also nur dadurch zu einem Praxisfeld, also zu einem Feld, das Praktiken und ihre Verkettung zu Praxisformen hervor14 15
Meine Abbildung des Praxisfeldes der IRA ist angeregt durch die graphische Darstellung sozialer Lernprozesse in Organisationen durch Michael Florian und Bettina Fley (vgl. Florian/Fley 2004: 86). „Als Spontaneität ohne Willen und Bewusstsein steht der Habitus zur mechanischen Notwendigkeit nicht weniger im Gegensatz als zur Freiheit der Reflexion, zu den geschichtslosen Dingen mechanistischer Theorie nicht weniger als zu den ‚trägheitslosen’ Subjekten rationalistischer Theorien“ (Bourdieu 1987: 105).
Die IRA als Praxisfeld
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bringt, weil die Terrororganisation bei ihren Mitgliedern praktischen Sinn als praktische Form des Habitus erzeugt. Die strukturelle, objektivierte Seite der Praktiken generierenden Relation zwischen inkorporierter und objektivierter Sozialität wird nur dann praxisrelevant, wenn ihr durch praktischen Sinn Bedeutung für die Entstehung von Praktiken und Praxisformen zugeschrieben wird. Das aus dem praktischen Sinn hervorgehende Imaginäre der Praxis, das sich bekanntlich funktional und strukturalistisch nicht erklären lässt, macht die Dynamik der Praxis aus. Diese Dynamik entsteht in der Aktualisierung des praktischen Sinns, durch die erst Praktiken entstehen können. Praxis ist deshalb untrennbar mit Komponenten verbunden, die im Körper von biologischen Individuen verankert sind. Im Terroranschlag, dem konstitutiven Operationsmodus der Terrororganisation, wird praktischer Sinn in besonders wirkmächtiger Form aktualisiert, weil mit ihm der Sinn der Terrororganisation, also ihr Interesse, das die Akteure als illusio inkorporiert haben, nicht nur symbolisch, sondern auch praktisch zum Ausdruck gebracht wird. Der bereits zitierte IRA-Kämpfer äußert hierzu beispielhaft: „Ich bin nun seit einigen Jahren an IRAOperationen beteiligt. Ich bin im Gebrauch von Waffen und Sprengstoff trainiert worden. Ich habe auf Armeepatrouillen geschossen und Minen gelegt. Ich war an Operationen beteiligt, bei denen Polizisten, UDA’ler und Mitglieder der britischen Armee getötet wurden … Ich kann für mich und andere Leute, die beteiligt waren, sagen, dass wir uns niemals wohl dabei gefühlt haben. Wir wissen, es ist etwas, was wir tun müssen. Soldaten haben Leben zu nehmen, gewöhnlich in der Weise, dass sie auf jemanden aus etwa 250 Metern schießen. Aber hier geschieht es aus nächster Nähe. Niemand von uns empfindet Freude dabei, jemandem das Leben zu nehmen. Es ist etwas, womit wir zu leben haben“ (Zit. nach SchulzeMarmeling/Sotscheck 1989: 231, Hervorh. F.H.). Der Terroranschlag wird von den terrorbereiten Akteuren als eine selbstverständliche Praxisform zur Reproduktion der Logik des Praxisfeldes der Terrororganisation empfunden. In der Relation zwischen dem Kräfte-Feld der IRA als objektivierte Sozialität und dem Habitus der IRA-Mitglieder als inkorporierte Sozialität entstehen deshalb vor allem Praktiken, die sich zur Praxisform des Terroranschlags verketten. Im Terroranschlag kulminiert die Logik der Praxis des Terrorismus. Im praxistheoretischen Forschungsstil Bourdieus wird diese praktische Logik nur sichtbar, wenn die soziologische Theorie nicht nur ein Verständnis für die historische Bedingtheit von zweifellos vorhandenen Objektivierungen der Sozialität entwickelt. Die Soziologie ist als Erfahrungswissenschaft gleichsam gezwungen, eine Sensibilität für den praktischen Sinn der sozialen Akteure methodisch zu institutionalisieren, weil sich nur über diese Sinngebung Praktiken und Praxisformen identifizieren lassen. Ohne den praktischen Sinn, der durch den Habitus aktiviert wird, haben die Formen der objektivierten Sozialität keine Praxisrelevanz. Die hier vorgestellten praxistheoretischen Überlegungen können daher als Ausgangspunkt einer breit angelegten empirischen Untersuchung der IRA verstanden werden. Dies scheint mir eine lohnende Aufgabe zu sein, weil die Erforschung des immer mehr erkaltenden Terrorismus der IRA möglicherweise Schlussfolgerungen auf neue, sich gegenwärtig mit gravierenden Praxiseffekten reproduzierende Formen des Terrorismus erlauben. In der Sicht der Praxistheorie müssen aber auch diese Praxisformen als echte Sonderfälle behandelt werden, damit die spezifische Logik der Praxis nicht durch eine logozentrische Logik der Abstraktion verdeckt wird.
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7050_book.fm Page ii Wednesday, July 12, 2006 3:27 PM
Terroristische ‚Ordnungen’: eine funktionalistische Analyse des Nord-Irlandkonflikts
Christian Lahusen 1
Einleitung
Kann ein funktionalistischer Ansatz dazu beitragen, den Terrorismus zu entschlüsseln oder zu erklären?1 Diese Frage ist keineswegs banal oder suggestiv gemeint, denn der soziologische Funktionalismus hat sich bislang kaum für ein solches Phänomen interessiert. Dies mag an Forschungsprioritäten liegen, kann aber womöglich auch grundsätzlichere, theorieimmanente Gründe haben. Es liegt der Verdacht nahe, der Funktionalismus würde auf Grund seiner Vorliebe für das Problem der sozialen Ordnung dem Terrorismus ohnehin nur anomische oder pathologische Züge zusprechen und daher nicht wesentlich mehr bieten als ein dem Alltagsverständnis naher, primär normativ besetzter Analyserahmen.2 Zu bedenken ist auch, dass der Funktionalismus ein Denkansatz ist, der zwar auf eine lange Tradition innerhalb der Soziologie und der Anthropologie zurückschauen kann und trotz aller fundamentalen Kritik soziologische Theorien bis heute spürbar beeinflusst, aber keine geschlossene Theorieschule hervorgebracht hat. Vielmehr gab und gibt es eine Vielzahl von funktionalistisch inspirierten Theorien, die sich in ihren Begrifflichkeiten und Erklärungsstrategien zum Teil fundamental unterscheiden (Davis 1959, Jetzkowitz/Stark 2003), weshalb ‚eine’ funktionalistische Deutung oder Erklärung des Terrorismus ohnehin nicht zu erwarten ist. Schließlich gibt es in der modernen Soziologie kaum ein Theoriewerk, das sich explizit funktionalistisch nennt, und die Autoren, die als Kandidaten in Frage kommen, standen diesem Konzept oder ähnlichen Begriffen (z.B. Funktionalismus, Strukturfunktionalismus, Neofunktionalismus) skeptisch gegenüber (Talcott Parsons), haben sie nie für sich reklamiert (Richard Münch) oder nach anfänglichen Versuchen wieder fallen gelassen (Jeffrey Alexander). Ist die Aufgabenstellung dieses Kapitels damit nicht zu erfüllen? Den genannten Einwänden zum Trotz lohnt sich eine Anwendung des funktionalistischen Denkansatzes, vor allem weil sich der soziologische Funktionalismus in seinen vielen Varianten in Reaktion auf die vehemente Kritik der 1950er und 1960er Jahre in eine Richtung weiterentwickelt hat, die in Bezug auf Forschungsagenden und Erklärungsstrategien 1
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Ich bedanke mich bei Richard Münch, Uwe Schimank, Carsten Stark, Jens Jetzkowitz, Thomas Kron und den Teilnehmern der Marburger Tagung ‚Problembezogener Vergleich sozialtheoretischer Ansätze’ im Sommer 2005 für die vielen hilfreichen Kommentare und Hinweise. Diese Vermutung stützt sich auf die klassische Kritik am Strukturfunktionalismus von Talcott Parsons (1951, 1966), die nicht zuletzt auch Anlass für die Formulierung einer dezidierten Konflikttheorie bot (z.B. Dahrendorf 1958, Mills 1959). Einschränkend ist zu sagen, dass es funktionalistische Analysen sozialer Konflikte selbstverständlich gibt, einschlägig sind hier vor allem Lewis Cosers Ausführungen zur Funktion sozialer Konflikte (Coser 1972), die die Überlegungen von Georg Simmel (1968: 198-220) zum Streit aufgriffen und funktionalistisch weiterentwickelten. Diese allgemeineren Überlegungen werden in unsere eigene Darstellung einfließen.
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mehr Raum für eine Bearbeitung des Terrorismus schafft. Mit Blick auf diese Veränderungen erscheint es sogar gerechtfertigt, von ‚neo’-funktionalistischen Theorieentwicklungen zu sprechen.3 Da sich diese Ansätze aber trotz der genannten Veränderungen noch nicht dezidiert mit dem Terrorismus befasst haben, werde ich im Folgenden einen Zugang explorativ und heuristisch entwerfen, der sich auf eine funktionalistische Argumentationslinie von Émile Durkheim (1988) über Talcott Parsons (1951, 1972) bis zu Richard Münch (1982, 1984) stützt.4 Bevor ich mich aber der Skizzierung einer solch ‚neo’-funktionalistischen Deutung des Terrorismus am nordirischen Fall zuwende, ist es sinnvoll, den spezifischen Zugang dieser Theorierichtung in Form von zentralen Annahmen zu umreißen, die es dann in einem zweiten Schritt zu entwickeln und zu begründen gilt. Der Funktionalismus interessiert sich für den Terrorismus vor allem als Teilaspekt der gesellschaftlichen Ordnungsproblematik5 und analysiert terroristische Zusammenschlüsse daher als Element oder Aspekt der Strukturierung, Ent- oder Restrukturierung gesellschaftlicher Ordnung. Vor diesem Hintergrund ist zunächst zwischen transitorischem und fortdauerndem Terrorismus zu unterscheiden, etwa durch eine Gegenüberstellung der deut3
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Es lassen sich zwei Hauptveränderungen ausmachen. Zum einen wird von Vorstellungen einer ‚funktionalorganischen’ Ordnung, wie sie in der klassischen Soziologie bis zu Parsons vertreten wurden, Abschied genommen. Robert Merton (1966) hat beispielsweise darauf verwiesen, dass ein soziales Element immer funktionale und dysfunktionale Wirkungen auf die Gesellschaft ausübt, weshalb gesellschaftliche Ordnung immer auch Unordnung enthält. Jeffrey Alexander (1985) argumentiert, dass die funktionale Ordnung moderner Gesellschaften Konflikte und Aushandlungen nicht ausschließt, sondern vielmehr aus diesen hervorgeht. Luhmann (1986) verweist darauf, dass eine funktionale Ordnung weder organisch noch zweckmäßig sein muss, da eine in Funktionsbereiche unterteilte Gesellschaft mit eigenen Folgeproblemen (z.B. der Koordinierung oder Steuerung) zu rechnen hat. Und Richard Münch (1991: 27-37, 1996b: 612-613) hebt hervor, dass moderne Gesellschaften von Paradoxien gekennzeichnet sind, die Wandel auf Dauer stellen. Zum anderen hat der Funktionalismus auf Kritik an seinem Erklärungsgehalt (am so genannten funktionalistischen Fehlschluss) reagieren müssen und einen reflexiveren Umgang mit seinen Prämissen entwickelt. So wird von der Notwendigkeit gesprochen, eine funktionalistische durch eine kausale Erklärung zu ergänzen, so wie dies bereits Durkheim einforderte und Münch propagiert (Münch 2005, Münch/Büttner 2006). Zu dieser Strategie der funktionalistischen ‚Selbstbeschränkung’ gehört der Versuch, bei der Erklärung makrostruktureller Phänomene auf die Mikroebene mit ihren Diskursen, Verhandlungen und Konflikten zu rekurrieren, so wie dies bei Alexanders Neofunktionalismus der Fall ist (Alexander 1998, Alexander/Colomy 1990; auch Münch 1987). Schließlich wird eine genuin kausale Erklärung durch das Konzept der Selbstregulierung komplexer Systeme ersetzt, da der Systemzustand nun durch Wechselwirkungen seiner Teile entschlüsselt wird, wofür Talcott Parsons’ Rückgriffe auf die Kybernetik (u.a. Parsons 1977) oder Niklas Luhmanns (1984) Konzept der Autopoiesis stehen. Zum Teil beschränkt sich der Funktionalismus hier nur noch auf die Beobachtung und Beschreibung gesellschaftlicher Ordnungsbildung. Es läge nahe, sich in diesem Kapitel primär mit Jeffrey Alexander zu befassen, da er sich explizit und programmatisch der Etablierung des Neofunktionalismus verschrieben hat (u.a. Alexander 1985, 1998 sowie Alexander/Colomy 1990). Allerdings werden diesem Ansatz zu Recht theorieimmanente Widersprüche angelastet (Schmid 2003). Durch den Versuch, Kritikpunkte am klassischen Funktionalismus umfänglich zu entkräften, knüpften Alexander und seine Schüler nur sehr lose an funktionalistische Vorläufer an und entwarfen damit eine nur sehr diffus funktionalistische Theorie (Joas 1988, 1990, Wenzel 2001). Aus diesem Grund scheint eine originär neofunktionalistische Perspektive an Richard Münch wesentlich deutlicher und ergiebiger herausgearbeitet werden zu können als an Jeffrey Alexander. Es ist kennzeichnend für die Position des soziologischen (Struktur-) Funktionalismus, dass Parsons (1973, 1977), und in seiner Folge auch Münch (1982, 1984), das Problem sozialer Ordnung als die Kernfrage der Soziologie festgeschrieben haben. Gesellschaften werden als Sozialsysteme konzipiert, die verschiedene Funktionen erfüllen müssen, wenn sie Bestand haben sollen. Diese Funktionen werden in Form des AGILSchemas formalisiert und mit Blick auf Kommunikationsmedien und Interpenetrationsbeziehungen ausbuchstabiert (z.B. Parsons 1980, Münch 1984). Eine funktionalistische Soziologie, und das hat bereits Durkheim (1984, 1988) vorgeführt, ist somit immer auch mit der Frage nach Ordnung und Pathologie bzw. Anomie beschäftigt.
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schen Rote Armee Fraktion (RAF) einerseits, und der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) andererseits. Der transitorische Terrorismus der RAF dürfte mit krisenhaften, womöglich anomischen, aber historisch relativ kurzen Phasen des Wandels zu tun haben und auch so erklärbar sein. Der fortdauernde Terrorismus der IRA geht aus diesen transitorischen Phasen hervor, avanciert aber zu einem integralen Bestandteil einer hochgradig konfliktiven gesellschaftlichen Ordnung. Es sind diese Fälle, die aus funktionalistischer Sicht theoretisch interessanter und anspruchsvoller sind. Hierauf bezogen soll die These vertreten werden, dass sich terroristische Zusammenschlüsse und gewaltsame Konflikte innerhalb einer Gesellschaftsordnung herausbilden und stabilisieren können, wenn die Vergesellschaftung partikularer Gemeinschaften prekär bleibt, wenn also die Inklusion von Bevölkerungsgruppen in gesellschaftliche Funktionssysteme ethnische, schichtungsspezifische und/oder weltanschauliche Differenzierungen generiert, aktualisiert und/oder reproduziert. Die Frage, wie stark diese differenzielle Inklusion ausfällt, ist natürlich eine empirische Frage, allerdings ist funktionalistisch davon auszugehen, dass diese Inklusionsdefizite in funktional differenzierten Gesellschaften auf Grund teilsystemischer Interdependenzen eigendynamische Exklusionskaskaden auslösen können, durch die es zu einer strukturellen Segregierung der Bevölkerung in partikulare gesellschaftliche Gemeinschaften kommt, die als definierbare Kollektive mobilisierbar sind. Die Überforderung des politischen Systems durch die hierauf bezogenen antagonistischen Herrschaftsansprüche setzt eine Dynamik der gemeinschaftlichen Schließung nach Außen und Innen in Gang, für die gewaltsame Aktionsformen und klandestine Organisationsformen funktional sind (Coser 1972). Vor dem Hintergrund dieser Exklusions- und Segregationsproblematik spricht der Funktionalismus nun den Verdacht aus, dass der verstetigte Terrorismus womöglich eine ‚Lösung’ auf ein gesellschaftliches (Inklusions- und Integrations-) Problem liefert. In der Tat kann im Sinne Durkheims (1984) vermutet werden, dass ein in bestimmten Gesellschaften verbreitetes und deshalb ‚normales’ Phänomen höchstwahrscheinlich einen Beitrag zur gesellschaftlichen Ordnungsbildung liefert. Durkheim (1974) hat dies bekanntlich in seinen Regeln der soziologischen Methode am Beispiel des Verbrechens ausgeführt. Den empirischen Indikator für die Bestimmung von Anomie oder Pathologie bilden gesellschaftsspezifische Durchschnittsraten. In unserem Falle ist etwa davon auszugehen, dass die Aktionen der RAF in Deutschland eine zeitlich befristete Abweichung von der insgesamt niedrigen Rate gewaltsamer Protestakte im Verhältnis zur Bevölkerungsgröße darstellten und daher höchstwahrscheinlich als anomisch zu werten sind. Dies galt für Nordirland nicht, denn obschon die meisten Gewaltopfer in der ersten Hälfte der 1970er Jahre zu beklagen waren, so etablierte sich ein „acceptable level of violence“ (so der britische Nordirland-Staatssekretär, Reginald Maudling, zit. in Korstian, in diesem Band), das annähernd 100 Opfer jährlich als konstanten Tribut verlangte. Nach Durkheim wäre dies ein empirischer Indikator dafür, dass der Terrorismus in diesem Land nicht anomisch oder pathologisch ist, sondern vielmehr ein ‚normales’ und ‚normalisierendes’ Element der gesellschaftlichen Ordnung. Seiner Meinung nach muss dieses empirische Indiz aber durch die analytische Bestimmung möglicher Funktionen untermauert und logisch plausibilisiert werden. Doch welcher funktionale Beitrag könnte dies im Falle Nordirlands sein? Gesellschaften ohne fortdauernden Terrorismus bearbeiten und entschärfen soziale Deprivationen und Konfliktlinien durch funktionale Differenzierungen, da Inklusion teilsystemisch aufgegliedert und in Form bürgerlicher, politischer und sozialer Rechte jenseits traditionaler Gemeinschaften und mechanischer Solidaritäten universalisiert wird und damit ungeachtet der Hautfarbe, Religion, Weltanschauung oder des Geschlechts für alle Gesellschaftsmitglieder
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gleiche Teilhabechancen garantiert werden. Segmentär-partikulare Gemeinschaftsbildungen, die durch terroristische Bewegungen mit ihren spezifischen Handlungs- und Organisationsformen reproduziert und in Form parastaatlicher Gewaltordnungen stabilisiert werden, scheinen nun eine funktional äquivalente Inklusions- und Integrationsform zu etablieren. Denn in Gesellschaften, die in Bezug auf hohe interne Ungleichheiten keine umfassende und universalistische Inklusion aller Gesellschaftsmitglieder gewährleisten, setzen sich segmentär-partikulare Formen der Inklusion für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen entlang parastaatlicher Ordnungen als funktional äquivalente ‚Lösung’ durch. Allerdings muss dieser These hinzugefügt werden, dass sich diese terroristischen Ordnungen nicht stabilisieren und reproduzieren ohne selbst funktional differenzierte Inklusionsformen hervorzubringen, weshalb sie eminent parasitär sind. Gesamtgesellschaftliche Integration erfolgt daher entlang einer segmentär-funktionalen Struktur, die einen hohen Grad an Gewaltsamkeit zur eigenen Reproduktion entfaltet. 2
Die Verortung des irischen Falles
Die Literatur über den nordirischen Konflikt verweist immer wieder auf zwei dominante Erklärungsaspekte – historische und gesellschaftliche Ursachen –, die sich in der Tat als Ausgangspunkt anbieten (Otto 2005, Multhaupt 1988). So geht der Konflikt auf die Jahrhunderte währenden Auseinandersetzungen um die Autonomie Irlands gegenüber dem englischen, später britischen Herrschaftsanspruch zurück. Die Eroberung Irlands durch Heinrich II. von England im 12. Jahrhundert führte unter dem Aufstieg der Tudorkönige zu einer aktiven Kolonialpolitik, die im Laufe des 15. Jahrhunderts die irischen Clanhäuptlinge zu Vasallen des englischen Königs machte. Der ethnische, vor allem aber politische Charakter dieses Konfliktes um die Vorherrschaft auf der irischen Insel wurde Mitte des 16. Jahrhunderts durch eine religiöse Dimension ergänzt, als Heinrich VIII. die Reformation in England einführte, Irland aber auf Grund zahlreicher Aufstände römisch-katholisch blieb. Schließlich unterstrich die Regentschaft Cromwells während des 17. Jahrhunderts den sozioökonomischen Charakter des Konfliktes durch eine offensive Enteignungs- und Umsiedlungspolitik, die die ökonomischen Verhältnisse maßgeblich veränderte. Die vom britischen Parlament seit dem 18. Jahrhundert erlassenen Gesetze, etwa im Bereich des Eigentums-, Erb- und Handelsrechts, besiegelten die Benachteiligung der katholischen Bevölkerung bis ins 20. Jahrhundert hinein. In ländlichen Gebieten sank der Anteil des Landbesitzes unter der katholischen Bevölkerung stetig, was angesichts widriger Bewirtschaftungsgegebenheiten (z.B. das Pachtrecht, Produktionsmethoden, klimatische Bedingungen) dazu führte, dass die katholische Bevölkerung vermehrt von Armut und Hungersnöten betroffen war und immer wieder in die Städte und nach Übersee migrierte. Doch auch im städtischen Bereich führte die Industrialisierung unter den gegebenen rechtlich-politischen Gegebenheiten zu einer Proletarisierung der katholischen Bevölkerung, weshalb ihr Anteil an den städtischen Mittel- und Oberschichten gering blieb. Nicht ohne Grund blieben Agrar- und Sozialreformen ein zentrales Anliegen liberaler Politiker in Irland und Großbritannien, denn ihnen zufolge lag hier der Schlüssel zur Entschärfung des irisch-britischen Konflikts.
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Ein solcher Hinweis auf die ‚Last der Geschichte’ ist sehr überzeugend, lässt aber Fragen offen. Trotz geschichtlicher Kontinuitäten6 lässt sich erkennen, dass der Konflikt ausgesprochen diskontinuierliche Phasen durchlebt hat, in der die Unterstützung für terroristische Aktionen und Organisationen auf beiden Seiten abnahm, wofür die Jahre zwischen 1940 und 1970 stehen. Die IRA führte zwar 1939-1940 und 1956-1962 paramilitärische Aktionen durch, dennoch hatte sie mit dem Desinteresse der Bevölkerung zu kämpfen. Das Wiederaufflammen des Konfliktes in den späten 1960er Jahren erforderte daher eine ideologische und organisatorische Restrukturierung, die mit der Spaltung der IRA im Jahre 1969 und dem Aufstieg der ‚Provisional IRA’ (P-IRA) einher ging (Multhaupt 1988, Jeffery 1985). Die lange Geschichte des Konfliktes ist daher vor allem eine symbolische Ressource (Arthur 1990), die angesichts markanter organisatorischer und personeller Diskontinuitäten Anknüpfungspunkte für eine Aktualisierung von (latenten) Spaltungsstrukturen und Konfliktlinien bietet. Was aber treibt eine solche ‚Aktualisierung’ oder ‚Neubelebung’ des Konfliktes an? Sind es die oben genannten sozialen Ungleichheiten? Eine solche Erklärung ist plausibel, doch auch hier ergeben sich ungeklärte Fragen. Die Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg war vom Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Leistungen geprägt, von denen die katholische Bevölkerung profitierte, und die ihre soziale Mobilität in die Mittelschichten hinein beflügelten. Zwar lässt sich nun vermuten, dass die Proteste Ausdruck eines ‚middleclass radicalism’ (Parkin 1968) waren, und dass sie damit auf unvollständig eingelöste Inklusionsversprechungen und neue Entfremdungssorgen reagierten, so wie dies für neue soziale Bewegungen insgesamt charakteristisch war (Rucht 1994: 127-156). Aber unter diesen Umständen war die Wiederbelebung des ethnisch-konfessionellen Konflikts nicht notwendigerweise die naheliegendste Antwort. In der Tat gehörten die 1960er Jahre der nordirischen Bürgerrechtsbewegung, die sich den konfessionsübergreifenden Kampf um soziale Gerechtigkeit auf die Fahnen geschrieben hatte, womit sie dem Beispiel anderer Bewegungen in der westlichen Welt folgte. Vor diesem Hintergrund ist nicht verständlich, warum es zu einer ethnisch-konfessionellen Umschreibung eines sozialen, womöglich klassenspezifischen Konflikts kam, und warum die ethnisch-konfessionelle Konfliktlinie ein so hohes Maß an Stabilität errang. Zwischen den Ursachen des Konflikts, seinem Verlauf und seinen Wirkungen lässt sich folglich keine zwingende (kausale) Entsprechung finden, weshalb sich eine funktionalistische Argumentation als wichtige Ergänzung anbietet. Zwei funktionalistische Annahmen liefern uns wichtige Ausgangspunkte. Einerseits ist die funktional strukturierte Gesellschaftsordnung der Moderne – im Gegensatz zu segmentär strukturierten Stammesgesellschaften und hierarchisch strukturierten Feudal- oder Kastengesellschaften – auf die Konstruktion eines gesellschaftliches Kollektivs jenseits gruppenpartikularer Bindungen angewiesen. Die Existenz einer gesellschaftlichen Gemeinschaft ist für die Integration von besonders zentraler Bedeutung, da sie gemeinsame Solidaritäten und kollektive Identitäten zwischen den Mitgliedern des Kollektivs auf der Basis einer geteilten und kulturell legitimierten normativen Ordnung generiert und organisiert (Parsons 6
Historische Kontinuitäten gibt es auch in Bezug auf die ‚Widerstandsgeschichte’. Die Geschichte Irlands ist eine Geschichte der immer wieder aufflammenden Aufstände, die unter dem Eindruck der französischen Revolution eine deutlich republikanische Wendung nahmen: Zu nennen sind die „Vereinten Iren“ von Wolfe Tone (1790er Jahre), das „Junge Irland“ (1840er Jahre) oder die „Irish Republican Broderhood“ (1858), die allesamt Aufstände anzettelten, um die revolutionären Ereignisse auf dem Kontinent aufzugreifen und für den irischen Republikanismus zu nutzen. 1905 wurde Sinn Fein als nationalistisch-irische Partei gegründet, 1913 die „Irish Volunteers“ als Freiwilligenarmee, die als Vorläufer der Irisch-Republikanischen Armee gilt (Multhaupt 1988).
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1966: 10-18, Münch 1984: 261-301). Im Sinne des Strukturfunktionalismus finden politische Herrschaftsansprüche in dieser gesellschaftlichen Gemeinschaft bzw. Zivilgesellschaft eine bürgerschaftliche Basis. Hier deutet sich nun die Problematik im nordirischen Fall an, denn diese Ordnungsbildung blieb dort prekär. Sie war sogar hoch gefährdet, denn gruppenpartikulare Inklusionsdefizite haben multiple und interdependente Segregationsprozesse ausgelöst, die mit der funktionalen Struktur moderner Gesellschaften in engem Zusammenhang standen. Die zunehmende Segregierung der Bevölkerung führte zur Konstitution disparater gesellschaftlicher Gemeinschaften, die sich als politisch mobilisierbare Träger jeweils unterschiedlicher normativer Ordnungen und kultureller Identitäten definierten und organisierten. Der Funktionalismus hilft uns auf diese Weise, den Kern des politischen Konfliktes und seiner Dynamik richtig zu orten. Andererseits ist für diese Theorierichtung vor allem das Interesse für funktionale Äquivalente kennzeichnend, denn für sie gibt es immer eine Vielzahl von Ordnungselementen, die trotz struktureller Unterschiedlichkeit den gleichen funktionalen Beitrag zur Gesamtordnung leisten (Levy 1972, Cancian 1972, Luhmann 1984: 83-91). Unserem Anfangsverdacht folgend können wir deshalb annehmen, dass sich gruppenpartikulare Vergesellschaftungsmodi, hier: parastaatliche ‚Gewaltordnungen’ auf beiden Seiten der Konfliktlinie, gegenüber einer universalistischen Form der Vergesellschaftung als funktional äquivalent entfalten und durchsetzen können. Nur durch einen Verweis auf eigendynamische Prozesse der Emergenz gesellschaftlicher Ordnungsmuster ist nämlich zu verstehen, warum sich gerade parastaatliche Gewaltordnungen etabliert haben, die sich trotz der hohen Begleit- und Folgekosten als gangbar erwiesen, hohe Folgebereitschaft in der Bevölkerung erlangen und sich in Form separater gesellschaftlicher Gemeinschaften mit gruppenpartikularen Inklusionsrechten sogar institutionalisieren konnten. Um diesen Prozess zu verstehen, bedarf es folglich nicht nur eines kausalen Verweises auf die konfliktauslösenden Ungleichheits- und Spaltungsstrukturen der nordirischen Gesellschaft. Es geht im Sinne des Funktionalismus auch gerade um die Berücksichtigung (misslingender oder gelingender) kollektiver Ordnungsleistungen. Im Folgenden möchte ich somit zeigen, dass die bestehende institutionelle Ordnung Inklusionsansprüche und Integrationsanforderungen immer weniger einlösen konnte und damit auch selbstverstärkende Exklusionskaskaden auslöste, dass terroristische Konfliktparteien zugunsten ihrer eigenen Stabilisierung eine Reihe kollektiver Ordnungsleistungen (parasitär) entwickelten und institutionalisierten, und dass sich hierdurch ein gewaltaffiner, gruppenpartikularer Vergesellschaftungsmodus etablierte, der sich als durchaus konsistent, anpassungsfähig, stabil und resistent erwies. 3
Inklusion- und Integrationsdefizite
Die skizzierte Argumentation sieht in Inklusions- und Integrationsdefiziten der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung einen wichtigen theoretischen Referenzpunkt, den es daher zunächst zu entwickeln gilt. Greifen wir funktionalistische Gesellschaftstheorien auf, so ist die funktionale Ordnung der modernen Gesellschaft der vorläufige Endpunkt einer Entwicklungsgeschichte, die den Modus der gesellschaftlichen Integration und individuellen Inklusion zusehends von einem segmentären über einen hierarchischen zu einem funktionalen Differenzierungsmodus umstellt (z.B. Durkheim 1988, Parsons 1966, 1972, Luhmann 1997, Münch 1984). In Bezug auf Inklusion etabliert die Moderne einen institutionalisier-
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ten Individualismus (Parsons/Platt 1973: 33-45), der sich historisch über verschiedene Revolutionen (vor allem durch industrielle Massenproduktion, demokratische Partizipation und Bildungsexpansion) fortentwickelte. In der Tat hat die Genese des bürgerlichen, später demokratischen, sodann sozialen Rechtsstaates durch die sukzessive Etablierung bürgerlicher, politischer und sozialer Rechte individuelle Teilnahmeansprüche und Teilhabemöglichkeiten stetig ausgeweitet und universalisiert (z.B. Münch 2001a, 2001b). Diese multiple und generalisierte Form der Inklusion basiert auf einer strukturellen Differenzierung moderner Gesellschaften in Funktionsbereiche (ökonomisches und politisches System, gesellschaftliche Gemeinschaft und kulturelles Treuhandsystem). Damit besitzt die Moderne einen spezifischen Integrationsmodus, der nach Parsons (1972) für das hohe Maß an Anpassungs- und Leistungsfähigkeit sowie Stabilität verantwortlich ist, da er zentrale Ordnungsleistungen funktional spezialisiert, in Form sanktionsfähiger Rollenerwartungen institutionalisiert und damit die voluntaristische Teilhabe der Gesellschaftsmitglieder an allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens forciert und generalisiert. Gehen wir diesem Gedankengang nach, so können wir annehmen, dass gewaltsame Protestbewegungen wie die IRA aus krisenhaften oder anomischen Phasen hervorgehen, in denen der demokratische Rechts- und Wohlfahrtsstaat den Inklusionsansprüchen seiner Mitglieder nicht entsprechen kann. Einer solchen Gesellschaft mangelt es auch an Integration, Leistungsfähigkeit und Stabilität, da sie keine ausreichende Solidarität zwischen ihren Mitgliedern herstellen (gesellschaftliche Gemeinschaft), keine ausreichende Legitimation der normativen Ordnung generieren (kulturelles Treuhandsystem), keine adäquate Kontrolle über die Motivationen der Mitglieder (politisches System) und über die ökonomischtechnologischen Tätigkeiten zum Zweck der Ressourcenallokation (ökonomisches System) sicherstellen kann (Parsons 1966: 32-33). Vor diesem Hintergrund ist zu vermuten, dass die Renaissance des nordirischen Terrorismus zum Ende der 1960er Jahre zugleich auf mehreren funktionalen Ordnungsproblemen beruht, von denen ich im Folgenden aus Platzgründen nur die zwei wichtigsten ins Zentrum der Analyse rücken werde. Zum einen werde ich die politische Dimension und Dynamik des Konfliktverlaufs und seiner institutionellen Verarbeitung herausarbeiten, denn im nordirischen Fall geht es offensichtlich um konkurrierende Herrschaftsansprüche antagonistisch mobilisierender Kollektive. Zum anderen soll aber gezeigt werden, dass die politische Qualität des Konfliktes, hier vor allem auch die ausgeprägte Stabilität und Resistenz des nordirischen Terrorismus, auf einem grundsätzlicheren Ordnungsproblem beruht, nämlich der zunächst latenten, sodann manifesten Segregierung partikularer Gemeinschaften.7
7
Folgen wir Münch (1991: 27-37, 1996b: 612-613), so würde es sich ebenfalls anbieten, den ethnischkonfessionellen Terrorismus als eine Folge der Paradoxien der Moderne zu verstehen und zu analysieren. Münch zufolge ist die moderne Kultur in ihrem ureigensten Kern stets mit gegenläufigen Tendenzen konfrontiert, weshalb eine kulturelle Modernisierung Nordirlands mit ihrer Verbreitung von rationalistischen, individualistischen, universalistischen und interventionsorientieren Wertcommitments aller Wahrscheinlichkeit nach auch partikularistische, essentialistische und mystisch-konservative Wertbindungen und Identitäten auf den Plan rufen, ihnen aber eine in der Paradoxie selbst angelegt ‚moderne’ Qualität verleihen dürfte. Für unsere hier angelegte Argumentation kann der Hinweis auf Paradoxien zwar eine kulturelle Vorbedingung hervorzuheben helfen. Allerdings würde eine solche Erklärung den verschiedenen (ideologischen) Richtungen innerhalb des nordirischen Republikanismus nur bedingt gerecht werden. Hinzu kommt, dass wir damit auch nicht klären könnten, warum kulturelle Gegenreaktionen, die sich ja auch als Moden, Trends oder Szenen formieren können, zu terroristischen Bewegungen werden. Hier sind Erklärungsmomente gefragt, die über kulturelle Paradoxien hinausgehen.
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3.1 Die politische Dimension des nordirischen Terrorismus Begreifen wir den nordirischen Terrorismus zunächst als politisches Phänomen, so kommen wir dem Selbstverständnis der beteiligten Akteure sehr entgegen. Angesichts der ausgeprägten Inklusionsdefizite für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg kam es in der nordirischen Gesellschaft zu Anfang der 1960er Jahre zum Erstarken sozialer Bewegungen, hier vor allem der nordirischen Bürgerrechtsbewegung, die während der 1960er Jahre die ökonomische, politische und kulturelle Gleichstellung der katholischen Minderheit einforderte. Die Tatsache, dass der moderne Wohlfahrtsstaat auch in Nordirland angetreten war, um Inklusionsansprüche keinesfalls gruppenpartikularistisch, sondern individuell-universalistisch zu vertreten und zu gewährleisten, diskreditierte ihn nach Meinung der Bürgerrechtsbewegung, da die tatsächlichen Teilhabechancen von diesen normativen Inklusionsansprüchen abwichen. Ein Zustand der Anomie ging hiermit allerdings nicht prinzipiell einher, denn Protestbewegungen sind für moderne Gesellschaften in funktionalen Begriffen durchaus produktiv (z.B. Luhmann 1996, 1997: 847-865), da sie gesellschaftliche Problemlagen (hier z.B. Inklusionsdefizite) zu thematisieren und in politisch prozessierbare Interventionen (hier z.B. arbeitsmarkt-, innen- oder bildungspolitische Forderungen) zu übersetzen erlauben. Verstehen wir den nordirischen Terrorismus folglich zunächst als rein politisches Phänomen, so ist es eher der spezifische Konfliktverlauf, der für die herrschende Gesellschaftsordnung anomische Konsequenzen mit sich brachte. Hier ist auf die gewaltsame Radikalisierung des Protestes hinzuweisen (Bell 1973), die die institutionalisierten Verfahren und Praktiken der Konfliktregulierung sprengte und diese zugleich in Frage stellte. In diesem Fall können wir von Fehlentwicklungen im System der Politik sprechen, die wir in Begriffe der Inflation und Deflation von Macht fassen können (Parsons 1963, Münch 1984: 518-529). Das Funktionssystem der Politik operiert auf Grundlage des symbolisch generalisierten Mediums ‚Macht’, das sich von rollenspezifisch definierten und institutionalisierten Leistungen der Gesellschaftsmitglieder (Wahlen, Verbandsbeteiligung, Klagen, Proteste etc.) speist. Der demokratische Rechtsstaat versucht ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen gesellschaftlicher Partizipation und politischer Regierungsarbeit rechtlich herzustellen, damit die Verabschiedung kollektiv bindender Entscheidungen material und prozedural durch die Bevölkerung legitimiert ist und bei der Implementierung auch auf die notwendige Gefolgschaft rekurrieren kann. Allerdings kann es zu einem Ungleichgewicht zwischen institutionellem Machtgebrauch und politischer Partizipation kommen, bedingt etwa durch Schieflagen zwischen den Rechten des Staates und der Staatsbürger und/oder zwischen dem faktischen politischen Handeln der Amtsträger und der Bürgerschaft. Für unsere Fragestellung ist es besonders relevant, dass das Medium Macht durch seinen Gebrauch entwertet werden kann, sobald es durch die politische Teilhabe der Bevölkerung als nicht mehr gedeckt erscheint. Dies kann Folge einer quantitativen Überdehnung der Machtressource gegenüber einer rechtlich nicht ausreichend autorisierten Wählerschaft oder gegenüber einer politisch inaktiven und verdrossenen Bevölkerung sein, die sich von der Politik nicht mehr vertreten sieht. Dieser Machtgebrauch schränkt den Gefolgschaftskreis wie auch den als loyal erwarteten Mitgliederkreis eines politischen Gemeinwesens ein, weshalb es jenseits dieser Bevölkerungsgruppen zu einer sinkenden Bereitschaft zur ‚voice’ und zur erhöhten Gefahr des ‚exits’ (Hirschmann 1970) kommen dürfte. Defizitäre Inklusionsrechte und -chancen stehen folglich mit politischen Desintegrationstendenzen in einem wechselseitigen Verhältnis.
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Diese Entwertungsspirale ist am nordirischen Fall deutlich zu erkennen (Jeffery 1985). Nach dem Vorbild der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung kam es in Nordirland zwar zunächst zu außerparlamentarischen Protestaktionen, die unter dem Banner der Campaign for Social Justice seit dem Januar 1964 standen und sodann unter dem Dach der 1967 gegründeten Northern Ireland Civil Rights Association koordiniert wurden. Protestaktionen sollten die Öffentlichkeit innerhalb wie auch außerhalb Nordirlands auf die soziale Lage der katholischen Bevölkerung lenken und politische Reformen erzwingen (vgl. Korstian, in diesem Band), womit vor allem eine jüngere Generation von Katholiken (und Protestanten) ihre Bereitschaft zur politischen Partizipation innerhalb des legalen Rahmens dokumentierte und ihre Hoffnung in die Funktionsfähigkeit des politischen Systems untermauerte. Die Programmatik war unverkennbar konfessionsübergreifend, zum Teil auch klassenkämpferisch, was nicht nur die Teilnahme von Protestanten ermöglichte, sondern auch linke nordirische Republikaner ansprach. Loyalistische Kreise allerdings betrachteten diese Bewegung mit Argwohn. Zwischen Gegnern und Befürwortern des Reformkurses kam es zu gewaltsamen Konfrontationen und die 1966 neu gegründete loyalistische Ulster Volunteer Force heizte die Lage durch Bombenanschläge weiter an. Da die nordirische Polizei die katholische Bevölkerung nicht ausreichend schützte und auf Grund ihrer zumeist protestantischen Belegschaft zusehends von der katholischen Bevölkerung angefeindet wurde, entstand vor allem in den katholisch dominierten Wohnvierteln eine ‚Sicherheitslücke’. Diese wurde zunächst durch die im Jahr 1969 entsendeten britischen Truppen geschlossen, bis diese ebenfalls in die interethnischen und -konfessionellen Konflikte zugunsten der Loyalisten verwickelt wurden (Bell 1973). Unter dem Eindruck dieser gewaltsamen Auseinandersetzungen kam es zur Abspaltung der ‚provisorischen’ IRA im Jahr 1969, die gegen die sozialistische Klassenkampforientierung der nunmehr ‚offiziellen’ IRA vorging und sich den militärischen Schutz der katholischen Bevölkerung auf die Fahnen schrieb (Multhaupt 1988) – ebenso wie sich die loyalistischen Terrorgruppen als Schutzmacht in den protestantischen Vierteln etablierten. Unter dem Eindruck der blutigen Straßenkämpfe kam es in den Folgejahren zu Regierungskrisen und zu einer ethnisch-konfessionellen Neustrukturierung der Parteienlandschaft. Die politischen Institutionen Nordirlands hatten angesichts dieser Entwertungsspirale immer deutlicher mit einem Autoritäts- und Legitimitätsdefizit zu kämpfen, da Parteien und die von ihnen gebildeten Regierungen von nun an immer unter dem Verdacht standen, die Interessen bestimmter Konfessionsgruppen und der dahinter stehenden irischen bzw. britischen Regierungen zu vertreten. Polizeilich und militärisch beanspruchten nun die republikanischen und loyalistischen Milizen, öffentliche Sicherheit für ‚ihre’ Bevölkerungen herzustellen, womit sie sich als parastaatliche Schutzmächte etablierten – in Opposition zur britischen Besatzungsmacht oder in Reaktion auf die zaudernde Haltung der nordirischen Polizeikräfte und britischen Truppen. Der nordirische Terrorismus lässt sich somit durchaus als Folge eines außer Kontrolle geratenen, politischen Konfliktes verstehen, der sich angesichts der antagonistischen Herrschaftsansprüche von Loyalisten und Republikanern auf die Letztfrage nach der Kontrolle des Gewaltmonopols konzentrierte. So schwerwiegend diese Konfliktradikalisierung aber auch war, so sehr war sie auch an spezifische politische Kontextbedingungen rückgekoppelt, die stets wandelbar waren. Machtinflation ist prinzipiell umkehrbar, weshalb die terroristische Radikalisierung während der späten 1960er Jahre auch ein transitorisches Phänomen hätte sein können – wie etwa im deutschen Fall. Unter diesen Umständen wäre die gewaltsame Radikalisierung an Phasen erhöhten Wandels und grassierender Anomie kausal
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und funktional rückgekoppelt, in denen (wachsende) Inklusionsansprüche mit (sinkenden) Teilhabemöglichkeiten kollidieren und die Möglichkeit einer politischen Prozessierung dieses Dissenses an institutionelle Grenzen stößt. Mit anderen Worten, eine solche Radikalisierung politischen Protests wäre im Wesentlichen von situativen Konfliktkonstellationen, geringen institutionellen Partizipationsmöglichkeiten und eigendynamischen Mobilisierungswellen abhängig. Ihr würde der Boden entzogen, je deutlicher die Konfliktursachen schwinden, je sichtbarer die Mobilisierungswelle durch steigende Partizipationskosten und geringe Erfolgsaussichten erlahmt und je stärker politischer Dissens innerhalb der institutionellen Strukturen des politischen Systems prozessiert und damit befriedet werden kann. Als politische Kraft hatte die IRA in ihrer Geschichte immer wieder mit diesen situativ sich wandelnden Kontextbedingungen zu kämpfen. Wie die militärischen Kampagnen der 1950er und 1970er Jahre zeigten, war eine Stabilisierung des gewaltsamen Protestes besonders voraussetzungsvoll, da terroristische Aktions- und Organisationsformen mittel- und langfristig schwerer zu legitimieren sind, riskantere und kostenintensivere Formen der Unterstützung erfordern und verstärkt Versuche einer polizeilichen und politischen Lösung des Konflikts auf sich ziehen. Die politische Dimension des Konflikts, so wichtig diese auch war, stellte damit nicht den einzigen, für die Entwicklung des Verlaufs entscheidenden Faktor dar. Die Tatsache, dass sich der nordirische Terrorismus der Republikaner und Loyalisten stabilisieren und gegenüber den genannten politischen Kontextbedingungen ein stückweit immunisieren konnte, verweist auf die nicht-politischen Voraussetzungen des politischen Protestes: Unter anderem mussten für die Kontinuität des sich radikalisierenden Protests beträchtliche finanzielle Ressourcen akquiriert, gruppenpartikulare Loyalitätspflichten etabliert und binnen-moralische Commitments begründet werden (z.B. Münch 1994). Terroristische Protestbewegungen sind mittelfristig auf die Emergenz ‚privater’ oder parastaatlicher Gewaltordnungen angewiesen, aus denen sie ihre relative Stabilität generieren können. Doch wie können Bedingungen und Prozesse dieser Ordnungsbildung funktionalistisch entschlüsselt werden? Eine Antwort auf diese Frage liegt nicht unmittelbar auf der Hand. Folgen wir Luhmann (1977, 1997: 595-865), der die hier relevante gesellschaftstheoretische Prämisse des Funktionalismus am dezidiertesten vertreten hat, stellen moderne Gesellschaften keine soziale Einheit mehr dar, sondern vielmehr polyzentrische und azentrale Gebilde. Nehmen wir diese Annahme ernst, so darf bei der Ursachenbestimmung von keinen einfachen Erklärungen ausgegangen werden. Wenn Terrorismus auf Inklusions- und Integrationsdefizite zurückgeht, so muss man in modernen Gesellschaften stets mit funktional spezialisierten, inkongruenten Defiziten oder Anomalien rechnen, also bspw. mit politischen, wirtschaftlichen, ethischen oder solidaritäts- oder wertbezogenen Störungen. Aus dieser Perspektive muss man davon ausgehen, dass die funktionale Struktur moderner Gesellschaften mögliche Störungen oder Defizite der sozialen Ordnung(en) stets innerhalb der Teilsysteme ‚kleinarbeitet’ und damit einer Hervorbringung terroristischer Ordnung den Boden entziehen müsste. Letztere müsste gegenüber spezialisierten Reaktionen (z.B. politischer Protest, ethnischkonfessionelle Enklaven- oder Schattenwirtschaften, intellektuelle Dissidenz) ein unwahrscheinlicheres, weil voraussetzungsvolleres Phänomen sein. Um die Emergenz terroristischer Ordnungen angesichts dieser gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erklären zu können, müssen wir folglich teilsystemisch interdependente Inklusions- und Integrationsdefizite voraussetzen. Im Sinne des Interpenetrationsbegriffs ist zu vermuten (Parsons 1968, Münch 1996b: 613-616, 1984: 240-244), dass Funktionssysteme zwar Interdependenzunterbrech-
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ungen institutionell absichern, da sie Leistungen der Gesellschaftsmitglieder nach spezifischen, funktional differenzierten Positionszuschreibungen und Rollenmustern mobilisieren und in Form von symbolisch generalisierten Medien verwerten, empirisch können diese aber nicht langfristig durchgehalten werden, da Funktionssysteme, ihre Rollenmuster und Medien letztlich auf Leistungen anderer Subsysteme eminent angewiesen bleiben. 3.2 Die gemeinschaftliche Dimension des nordirischen Terrorismus Bei der Erklärung des nordirischen Terrorismus ist immer wieder auf partikulare Gruppenbindungen hingewiesen worden. Eine ethnisch-konfessionelle Segregierung der Bevölkerung besaß in der Tat geschichtliche Kontinuität und war auch nach dem zweiten Weltkrieg trotz sozialpolitischer Reformen immer noch latent gegeben (Poole/Doherty 1996). Protestanten lebten tendenziell in anderen Wohnbezirken als Katholiken, besuchten andere Schulen, erlernten andere Berufe und hatten andere Arbeitsgeber, verbrachten ihre Freizeit in anderen Sport- oder Kulturvereinen und dergleichen mehr. Allerdings ist eine solch latente Segregierung nicht selbst problematisch, denn jede Gesellschaft besteht aus einer Vielzahl von Großgruppen, die sich räumlich, nach Schicht, Weltanschauung, ethnischen Merkmalen oder Lebensstilen differenzieren. Problematisch werden Segregierungstendenzen erst dann, wenn Gruppenpartikularismen nicht durch universalistische Inklusionsrechte und generalisierte Teilhabemöglichkeiten ergänzt oder kompensiert werden, oder in anderen Worten: wenn die Vergesellschaftung partikular-segmentärer Gemeinschaften prekär bleibt. Im Sinne des Strukturfunktionalismus gilt dies vor allem, wenn gruppenpartikulare Bindungen nicht durch eine gemeinsame gesellschaftliche Gemeinschaft überlagert und eingehegt werden. Dies ist aus funktionalistischer Sicht für den Konfliktverlauf besonders folgenschwer, denn gesellschaftliche Gemeinschaften – heute würden wir eher von Zivilgesellschaften sprechen – übernehmen eine ganz wesentliche Integrations- und Inklusionsfunktion in modernen, funktional differenzierten Gesellschaften. In ihnen kristallisiert sich das für eine Gesellschaft konstitutive Kollektiv heraus, in dem auf Grundlage einer gemeinsamen normativen Ordnung Loyalitätspflichten und Solidarbeziehungen zwischen ihren Mitglieder bestehen. An die Mitgliedschaft sind evolutionär weit reichende Inklusionsrechte geknüpft, die nicht nur für die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben (Wirtschaft, Politik und Kultur) insgesamt ausschlaggebend sind, sondern auch für die Reproduktion der gesellschaftlichen Gemeinschaft. Individuelle Teilhaberechte gewährleisten in diesem Zusammenhang den freiwilligen Zusammenschluss der gesellschaftlichen Mitglieder und arbeiten damit auf ein zivilgesellschaftliches Assoziationswesen jenseits gruppenpartikularistischer Bindungen hin (Münch 1984: 296-301). Es muss allerdings hinzugefügt werden, dass gesellschaftliche Gemeinschaften bzw. Zivilgesellschaften nicht voraussetzungslos gegeben sind, sondern selbst – gegenüber bestehenden segmentär-partikularen Gruppenbindungen – etabliert und stabilisiert werden müssen. Hier ist anzunehmen, dass sich die Generalisierung von bürgerlichen, politischen und sozialen Rechten für die Erweiterung und Kreuzung ‚sozialer Kreise’ förderlich auswirkt, während entsprechende Inklusionsdefizite und Teilhabechancen latent bestehende partikulare Gruppenbindungen reproduzieren. Wie bereits vermutet, kann eine funktional differenzierte Gesellschaftsordnung sogar hochgradig riskant sein, da Inklusionsrechte und Teilhabechancen zwar teilbereichsspezifisch spezialisiert sind, aber dennoch interdependent bleiben und auf diese Weise eigendynamische Exklusionskaskaden (z.B. zwischen ökono-
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mischer Prekarisierung, Erosion politischer und bürgerschaftlicher Partizipation sowie Verlust gemeinsamer kultureller Werbindungen) anstoßen können. Diese Exklusionsspiralen sind dann besonders problematisch, wenn die ökonomische, politische und kulturelle Teilhabe der Gesellschaftsmitglieder entlang ethnisch-konfessioneller Scheidelinien verläuft bzw. entlang dieser Differenzierungen konvergiert, da sich auf diese Weise hochgradig segregierte Vergesellschaftungsmodi für unterschiedliche Partikulargemeinschafen durchsetzen. Folgen wir dem Interpenetrationskonzept, so ist die konflationäre Verzahnung und Rückkopplung teilsystemischer Exklusionsprozesse auf der Grundlage einer prekär integrierten Zivilgesellschaft sogar durchaus wahrscheinlich. Diese Exklusionskaskaden führen über entsprechende Inflationsprozesse zu ausgeprägten Desintegrationstendenzen auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene. Möchten wir also verstehen, warum der nordirische Terrorismus den notwendigen gesellschaftlichen Rückhalt immer wieder – und mit Ende der 1960er Jahre auch nachhaltig – sichern konnte, so ist auf die stetige Segregierung und Polarisierung der gesellschaftlichen Gemeinschaft entlang ethnisch-konfessioneller Scheidelinien hinzuweisen, die sich auf Grundlage der genannten interdependenten Inklusionsdefizite und Desintegrationstendenzen stetig manifestierten und vertieften. Diese Exklusions- und Desintegrationskaskaden lassen sich zum Beispiel am Wechselspiel zwischen schwindender politischer Gefolgschaft, bürgerschaftlicher Loyalität und generalisierter Wertbindung ausmachen. Die Radikalisierung des politischen Konflikts bedeutete beispielsweise, dass die nordirischen Sicherheitskräfte keine Sicherheitsgarantien mehr geben konnten oder wollten, weshalb sich bürgerkriegsähnliche Zustände auf den Straßen verbreiteten. Die Militarisierung der Republikaner und Loyalisten führte unter diesen Umständen aber nicht nur zur Schaffung von konfessionellen ‚Schutzzonen’, sondern damit auch zu ‚no-go-areas’ für die jeweils andere Konfessionsgruppe (Bell 1973, Jeffery 1985). Hierdurch stellte sich einerseits eine ethnischkonfessionelle Ghettoisierung des gemeinschaftlichen und assoziativen Lebens (Wohnbezirke, nachbarschaftliche und familiale Beziehungen, Freizeitaktivitäten) ein (Darby 1990), auf die sich die IRA ganz bewusst einstellte, da sie sich bis 1977 nach Stadtteilen und Nachbarschaften organisierte (Arthur 1990). Andererseits kam es unter dem Eindruck dieser politischen und bürgerschaftlichen Segregierung zu einer kulturellen Erweckung disparater nationaler Identitäten mit deutlich gruppenpartikularen Wertbindungen: Protestanten sahen sich nun vor allem als Loyalisten und damit dem britischen Kulturkreis verpflichtet, während die Katholiken zusehends die irisch-republikanischen und damit gälischen Grundfesten ihrer Kultur unterstrichen und auszuformulieren suchten (Darby 1990). Insgesamt also wurden gemeinschaftliche Bindungen und kulturelle Identitäten entlang ethnischkonfessioneller Scheidelinien deutlicht politisiert, was u.a. zu den immer wiederkehrenden Ausschreitungen während der ‚marching season’ führte. Gleichzeitig boten solche gruppenpartikulare Wertbindungen einen wichtigen Referenzpunkt für die Legitimierung der antagonistischen Herrschaftsansprüche der beiden terroristischen Lager. Komplementäre Desintegrationsprozesse sind auch mit Blick auf die Wechselwirkungen zwischen Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaften auszumachen. Beispielsweise verdeutlichen Bildungswege, Tätigkeitsbereiche, Beschäftigungsformen und -quoten von Katholiken und Protestanten, dass die Beteiligung am Wirtschaftsleben stark ethnischkonfessionell segregiert war und deutliche Ungleichheiten aufwies (Poole/Doherty 1996). Politische Reformen, die dieser Exklusionsproblematik entgegen getreten wären, scheiterten wiederum selbst an politischen Spaltungstendenzen, denn die Parteienlandschaft war nach konfessionellen Großgruppen gegliedert, die ihrerseits sozialstrukturellen Wähler-
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gruppen entsprachen und damit sozioökonomisch mitdeterminiert waren. Die politische Polarisierung, die dem Ausbruch der gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Konfessionsgruppen folgte, führte unter diesen Umständen zur Reformblockade, gar zur politischen Krise des nordirischen Parlamentarismus im Jahre 1972 (vgl. Korstian, in diesem Band). Eine effektive Industrie- und Wirtschaftspolitik sowie substanzielle Reformen des Arbeitsmarktes konnten unter diesen Voraussetzungen nicht mehr gelingen. Vielmehr kam es durch die Erosion staatlicher Steuerungsfähigkeit und die Eskalation der Gewalt (u.a. auch durch Attentate auf Unternehmen im Zuge des so genannten ‚economic war’ – Jeffery 1985) zu einer Prekarisierung der Versorgungs- und Beschäftigungslage vor allem in den städtischen Konfliktzentren und zu einer latenten Ethnisierung lokaler Versorgungsund Arbeitsmärkte. Insgesamt ist zu erkennen, dass innerhalb der verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereiche Inklusionsdefizite bestanden, die angesichts der spezifischen Interdependenzbeziehungen zwischen den Teilsystemen offenkundige Desintegrationstendenzen bedingten (Erosion des wirtschaftlichen Wohlstands, der politischen Steuerungsfähigkeit, der bürgerschaftlichen Solidarität und der kulturellen Wertbindungen). Folgenschwer für den nordirischen Konflikt war die ethnisch-konfessionelle Segregierung der nordirischen Bevölkerung und die entsprechende Polarisierung antagonistischer gesellschaftlicher Gemeinschaften. Wie schon skizziert wurde, war der nordirische Terrorismus an dieser Entwicklung maßgeblich beteiligt. Einerseits vertiefte sich die räumliche Segregierung der Bevölkerung unter dem Eindruck der Politisierung und Militarisierung des Konfliktes, weshalb es zu einer Ethnisierung des Heirats-, Wohnungs- und Arbeitsmarktes, des Schulsystems, des kulturellen und assoziativen Lebens kam. Andererseits profitierte die P-IRA von einer solchen Segregierung, da sie ein probates Mittel war, paramilitärische Strukturen und Strategien abzusichern, soziale Unterstützerkreise zu organisieren und materielle sowie ideelle Ressourcen (z.B. Gelder, Immobilien, aber auch Solidarität und Legitimität) zu mobilisieren (Jeffery 1985, Arthur 1990). Sie verlieh dem nordirischen Terrorismus auf beiden Seiten eine ausgeprägte Stabilität und Kontinuität, die ihn von den wechselnden Entwicklungstendenzen des politischen Systems – und den damit immer gegebenen Befriedungspotenzialen – immunisierte. Letztlich ging es darum, ethnisch-konfessionelle Kollektive als gesellschaftliche Gemeinschaften zu konstruieren und zu institutionalisieren, deren Mitglieder spezifische Inklusionsrechte und Teilhabechancen als Teil einer differenten, normativen und kulturell legitimierbaren Ordnung reklamieren, und die es in Form eines eigenen Herrschaftsverbandes zu gewährleisten galt – für die Republikaner provisorisch durch einen eigenen ‚Staat im Staat’, langfristig aber durch eine Vereinigung mit der irischen Republik. 4
Emergente Gewaltordnungen
Wir können also feststellen, dass der republikanische Terrorismus zunächst ein primär politisches Phänomen darstellte, dass seine Genese aber ganz maßgeblich von einer Segregierung partikularer gesellschaftlicher Gemeinschaften abhing. Damit haben wir nur den gesellschaftlichen Kontext für die Emergenz von parastaatlichen Gewaltordnungen umrissen, die sich gegenüber der herrschenden Gesellschaftsordnung etablieren und durchsetzen mussten. Neben der gesellschaftstheoretischen Erörterung von Rahmenbedingungen und eigendynamischen Entwicklungsverläufen bedarf es folglich auch einer Erörterung dieser Emergenz ‚funktional äquivalenter’ Ordnungsmuster.
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In funktionalistischem Sinne können wir davon ausgehen, dass der nordirische Terrorismus die Bedingungen seiner eigenen Existenz unter den genannten gesellschaftlichen Bedingungen selbst zu schaffen und zu perpetuieren suchte. Im Sinne der ‚AktionsRepressions-Spirale’ war die P-IRA beispielsweise bestrebt, den Staat zu unverhältnismäßigen Reaktionen zu provozieren, ihn dadurch in den Augen der eigenen Großgruppe, gar der gesamten Öffentlichkeit zu diskreditieren, und sich selbst als alternative ‚Schutzmacht’ zu empfehlen (Arthur 1990). Ob terroristische Vereinigungen den ersehnten größeren Rückhalt oder Zulauf auch erhielten, hing aber nicht nur von Inklusions- und Legitimationsdefiziten der herrschenden Ordnung ab, denn die Teilnahme an terroristischen Aktivitäten – zum Teil auch ihre (verbale oder aktive) Unterstützung – war individuell hochgradig kostenintensiv und riskant. Auf Dauer war der Terrorismus auf beiden Seiten davon abhängig, dass er für potenzielle Aktivisten, Unterstützer und Sympathisanten genügend selektive Anreize (z.B. Sicherheit vor polizeilichem Zugriff, ökonomisches Auskommen, normative und ideelle ‚Commitments’, soziale Bindungen) bereitstellen konnte. Terroristische Zielsetzungen und Aktionen verlangten folglich nach der Lösung von Organisationsaufgaben und erforderten spezifische Organisationsformen und -prozesse. Angesichts der politischen Zielsetzungen, des darin verankerten Konfrontationskurses und der eintretenden Repression lief dies auch im Falle der P-IRA auf klandestine und paramilitärische Organisationsstrukturen sowie gewaltsame Aktionsrepertoires hinaus. Die hier einsetzende Eigendynamik der programmatischen Radikalisierung, paramilitärischen Professionalisierung und organisatorischen Einigelung arbeitete einer sektiererischen Vergemeinschaftung zu (Korstian, in diesem Band), die den republikanischen Terrorismus damit partiell von den unmittelbaren gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen immunisierte. Während transitorische Formen des Terrorismus auf politische Episoden der Konflikteskalation und Protestradikalisierung zurückzuführen sind, so muss man im Falle fortdauernder terroristischer Bewegungen davon ausgehen, dass es sich um emergente soziale Ordnungen oder Systeme handelt, die zur eigenen Reproduktion auf die Erbringung gruppenspezifischer Ordnungsleistungen angewiesen sind. Diese bestehen nach Bales (1950) aus gruppeninterner Integration und Umweltanpassung, nach Parsons (1977) oder Münch (1984) aus den Aufgaben der Ressourcenallokation und Güterproduktion etwa im Sinne einer informellen Wirtschaft oder organisierten Kriminalität (Anpassung), der Etablierung von Entscheidungs- und Implementierungsstrukturen bspw. in Form parastaatlicher und -militärischer Organisationsstrukturen (Zielerreichung), der assoziativen Vergemeinschaftung auf der Grundlage einer Vielzahl von Vereinen und sozialen Netzwerken (Integration) und der sozialkulturellen Wertbindungen anhand subkultureller, revolutionärer oder ethnischer Identitäten und Diskurse (latente Strukturerhaltung). Im Sinne des Funktionalismus müssen terroristische Vereinigungen somit Ordnungsleistung für ein spezifisches Kollektiv erbringen, wenn sie sich als eigenes soziales Gebilde stabilisieren wollen, selbst wenn dieses Kollektiv (im Falle der P-IRA: die katholische Minderheit in Nordirland) erst im Laufe des Konfliktes in seinen symbolischen und sozialen Grenzen (re-)konstituiert wird. Terroristische Vereinigungen erreichen dies dadurch, dass sie Teilhabechancen zu Gunsten eines definierten Kollektivs zu kontrollieren und/oder dementsprechende Inklusionsrechte und Teilhabemöglichkeiten in eigener Regie als Grundlage des eigenen Herrschaftsanspruches zu gewährleisten trachten. Terroristische Ordnungen sind dabei als parasitär zu bezeichnen, denn sie strukturieren und stabilisieren sich entlang der funktional differenzierten Struktur der sie umgebenden Gesellschaft. In der Tat entwickelte sich um die IRA ein umfangreiches interorganisationel-
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les Feld von Aktivisten und Vereinigungen, das ein hohes Maß an interner Differenzierung besaß. So wird in der Literatur darüber berichtet, wie die IRA über ihre paramilitärischen Strukturen eigene polizeilich-militärische Institutionen der öffentlichen Sicherheit zu entwickeln trachtete, und wie sie ihren Einflussbereich territorial im Sinne von ‚Sicherheitszonen’, die zugleich ‚no-go-areas’ für die protestantische Bevölkerung wurden, institutionalisierte (Jeffery 1985); wie sich die politische Partei Sinn Fein, die nach abstentionistischen Phasen zumindest die lokalen parlamentarischen Vertretungen immer wieder aufsuchte, an das politische System ankoppelte und damit der katholischen Bevölkerung ein politisches Betätigungsorgan anbot (Multhaupt 1988); wie die IRA über mehr oder weniger ausgeprägte Formen der organisierten Wirtschaftskriminalität eigene Wirtschaftskreisläufe entwickelte, und wie sie sich an transnationale Kapital- und Warenmärkte zur Eigenfinanzierung erfolgreich anschloss (Multhaupt 1988); wie sich ansatzweise wohlfahrtstaatliche Parallelstrukturen durch Beratungs- und Hilfsangebote für die Bewohner prekärer Stadtbezirke etablierten (Korstian, in diesem Band); wie sich in Bezug auf die gefangenen IRAKämpfer, die zu populären Helden mit einem hohen Maß an Einfluss wurden, gemeinschaftliche Unterstützungsnetzwerke entwickelten (Feldmann 1991: 85-89, Arthur 1990); und wie sich die IRA in ein weit verzweigtes Vereinigungswesen von Kirchengemeinden, Kultur-, Sport- oder Freizeitvereinen und kommunalen Zentren einbrachte und damit eine parallel-gesellschaftliche, assoziative Gemeinschaft zu erbauen versuchte (Darby 1990). Eine funktionalistische Perspektive legt folglich besonderen Wert auf die Feststellung, dass der nordirische Terrorismus mehr war als gewalttätiger Protest und damit über einen politisch motivierten, gewaltsam ausgetragenen Konflikt weit hinausging. Weiter unterstreicht sie den modernen Charakter des nordirischen Terrorismus, da er sich zwar parasitär entlang der funktional differenzierten Struktur der sie umgebenden Gesellschaft entwickelte, aber diese Struktur intern weitgehend replizierte, wodurch er ein hohes Maß an Anpassungsfähigkeit, Leistungsfähigkeit und Stabilität erzielen konnte. Der Terrorismus ist unter den skizzierten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ein ordnungsbildendes Element, sofern er die Existenz eines Kollektivs mit spezifischen Mitgliedschaftsstrukturen und -rollen zu etablieren und zu institutionalisieren sucht. Die Tatsache, dass sich der Konflikt dyadisch durch eine Spirale von Gewalt und Gegengewalt zwischen Loyalisten und Republikanern entwickelte, unterstreicht diesen Prozess nur noch, da er zu einer ethnisch-konfessionellen Polarisierung der gesellschaftlichen Gemeinschaft führte, und damit zu distinktiven Kollektiven, die unter dem Einfluss der politischen Herrschaftsansprüche der jeweiligen Paramilitärs nicht miteinander vereinbare Inklusions- und Integrationsansprüche erhoben. Auf den ersten Blick scheinen sich bei Loyalisten und Republikanern unvereinbare Vorstellungen und Forderungen nach gesellschaftlicher Ordnung gegenüber zu stehen, da sie für ein Territorium exklusive Herrschaftsansprüche erhoben. Auf den zweiten Blick allerdings hat sich ein hochgradig gewalttätiges und konfliktives, aber relativ stabiles Gesellschaftsgebilde entwickelt. Terroristische Aktions- und Organisationsformen verstärkten die ethnisch-konfessionelle Polarisierung der nordirischen Gesellschaft und die Konstruktion teilseparater parastaatlicher Gewaltordnungen. Hier entwickelten sich funktional äquivalente Inklusionsformen, denn unter dem Eindruck der terroristischen Eskalation versuchen Loyalisten und Republikaner, gruppenspezifische Teilhabeansprüche und -chancen innerhalb von Gesellschaften mit hoher gruppenspezifischer Ungleichheit einzuklagen und zu organisieren. Vor diesem Hintergrund ist nicht nur von einer höheren Gewaltdisposition der beteiligten Konfliktparteien auszugehen, sondern auch eine höhere Gewaltabhängigkeit der kollektiven Ordnung ist zu erwarten, da nur über Gewalt eine segmentär strukturierte Ver-
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gesellschaftung innerhalb einer funktional differenzierten Sozialordnung aufrechterhalten und organisiert werden konnte. 5
Ausblick und kritische Würdigung
Der nordirische Konflikt ist nicht der einzige Fall eines ethnisch und/oder konfessionell motivierten Terrorismus, sondern fand in anderen europäischen Ländern seinen Widerhall (z.B. Baskenland, Korsika, Südtirol). Ob die hier entwickelten Überlegungen auf diese Fälle übertragen werden können, kann an dieser Stelle nicht mehr erörtert werden. Gleichwohl bestehen Parallelitäten und Ähnlichkeiten. Vor diesem Hintergrund kann angenommen werden, dass die Genese und die Stabilisierung von terroristischen Bewegungen am Ende des 20. Jahrhunderts auch mit den Strukturgegebenheiten der modernen Wohlfahrtsdemokratien verknüpft sind. Folgen wir Münch (2001c), so ist es das Kennzeichen dieser ‚Zweiten Moderne’, dass sie auf die Verquickung von Wohlfahrtsökonomie und demokratischem Rechtsstaat setzt, um individuelle Freiheit und soziale Sicherung zugleich zu gewährleisten (Münch 2002). Allerdings wird diese institutionelle Ordnung auf zweierlei Weise abgesichert: durch eine hohe externe Exklusion in Form einer restriktiven Staatsbürgerschaft und Einbürgerungspolitik, die in Europa starke ethnische Anklänge aufweist; und durch eine hohe interne Inklusion, die den Staatsbürgern ein hohes Maß an bürgerlichen, politischen und sozialen Rechten zuschreibt und ein hohes Niveau von Gleichheit und sozialer Absicherung anvisiert (Münch 2001a, 2001b). Terroristische Zusammenschlüsse gehen einher mit dem Protest sozialer Bewegungen, die sich gegen die nicht eingelösten Inklusionsansprüche des modernen Wohlfahrtsstaates wenden. Ihr Ansinnen, funktional äquivalente Inklusionsformen und Teilhabemöglichkeiten für eine benachteiligte gesellschaftliche Teilgruppe zu etablieren, bringt sie zwar auf Kollisionskurs mit dem Exklusivitätsanspruch des Zentralstaates, da terroristische Bewegungen ihm gegenüber einen eigenen, gruppenpartikularistisch gewendeten Herrschaftsanspruch vertreten. Allerdings ist dieser selbst extern hochgradig exklusiv und intern betont inklusiv, womit sich eine Strukturäquivalenz einstellt, die für die Genese terroristischer Konflikte und ihre gewaltsame Entwicklungsdynamik von Bedeutung ist. Münch sieht diese institutionelle Konfiguration der Zweiten Moderne jedoch im Auflösungsprozess, denn mit dem Europäisierungs- und Globalisierungsprozess zeichnet sich eine Dritte Moderne ab, durch die die externe Exklusivität von nationalstaatlich abgesicherten Kollektiven schwindet, ebenso wie die privilegierte Absicherung und Gleichbehandlung ihrer Mitglieder nach Innen (Münch 1993, 1998: 9-23). Das Individuum wird nicht mehr über Kollektive in eine funktional strukturierte Weltgesellschaft integriert – und dadurch auch kollektivistisch eingehegt oder geschützt –, sondern bewegt sich in einem institutionellen Mehrebenensystem, das durch regionale, nationale und supranationale Sozialräume strukturiert wird, und in dem sich das Individuum nun mit neuen Chancen und Risiken konfrontiert sieht (Münch 1996a). Mit der Erosion der institutionellen Grundstruktur der Zweiten Moderne ist nun zu vermuten, dass der Terrorismus einen wichtigen Bezugspunkt verliert. Denn mit dem Ende der Zweiten Moderne wird das Modell sozialer Inklusion von kollektiven Gruppenrechten auf individuelle Chancengleichheiten in entgrenzten sozialen Räumen umgestellt (Münch 2001c). Der ethnisch strukturierte, parastaatlich organisierte Terrorismus könnte durch die Erosion des nationalen, demokratischen Sozialstaates eine wichtige, stabilisierende Klammer verlieren und womöglich wieder in seine funktionale
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Bestandteile zerfallen (zunächst in Formen von organisiertem, sodann von individualisiertem, politischem Protest, ökonomischer Nischenwirtschaft, intellektueller oder moralischer Dissidenz). Hierfür sprechen zweifelsohne die Erfolge bei der Befriedung des nordirischen Konfliktes, denn trotz des ausgeprägten Verhandlungsgeschicks der Konfliktparteien ist doch vor allem auf neue gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu verweisen, die dem Frieden erst eine realistische Chance zu geben scheinen. Damit ist nicht ausgeschlossen, dass der Terrorismus an anderer Stelle oder in neuer Form hervorbricht. Ganz im Gegenteil ist im Sinne des Funktionalismus davon auszugehen, dass sich neue Formen von Gewaltordnungen etablieren können, die auf die Strukturprobleme und Paradoxien der (dritten) Moderne reagieren – so wie dies das Erstarken des internationalen Terrorismus in einer emergenten Weltgesellschaft andeutet. Eine solche Deutung bietet sich an, war aber hier nicht Gegenstand der Überlegungen. Sie könnte aber generell das bestätigen, was am nordirischen Fall heuristisch und explorativ als funktionalistische Erklärungsstrategie skizziert wurde. Im Rückblick dürfte deutlich geworden sein, dass der Funktionalismus dem Terrorismus eine spezifische, gewaltaffine ‚Lösung’ sozialer Ordnungsbildung zuspricht, sofern er innerhalb einer bestimmten Gruppe von Gesellschaften als ,normales’ Element auftritt und sich dort verstetigt. In diesen Fällen ist von Ordnungsleistungen für die terroristische Bewegungen selbst als auch für die sie umgebende gesellschaftliche Realität auszugehen. Eine solche Betrachtungsweise eröffnet kontraintuitive Erkenntnisse, vor allem, wenn es darum geht zu verstehen, warum sich in manchen Gesellschaften terroristische Bewegungen fest etabliert und womöglich ‚unverzichtbar’ gemacht haben. Eine solche Analyse verdeutlicht, dass ein Ausstieg aus dem Terrorismus – sowohl was die ‚Funktionsweise’ terroristischer Bewegungen und Konflikte als auch die Einnistung dieser Bewegungen in die sie umgebende Gesellschaft angeht – schwer ist, sofern nicht funktionale ‚Leistungen’ unterbrochen und/oder auf funktionale Äquivalente umgestellt werden. Kritisch anzumerken ist allerdings, dass der Funktionalismus für typologisierende und/oder komparative Analysen des Terrorismus eher befähigt ist, als für vertiefende Fallanalysen. Die primär deduktiv-analytische Suche nach (äquivalenten) ‚Funktionen’ oder ‚Dysfunktionen’ impliziert sehr oft einen Vergleich mit dem Modell, weshalb der Funktionalismus beim Einzelfall leicht in formalisierende Beschreibungen abdriften kann. Des Weiteren ist der Funktionalismus auf Grund seines immer noch zentralen Interesses für das Problem der sozialen Ordnung weiterhin primär gesellschaftstheoretisch ambitioniert. Die zugrunde liegende Annahme einer funktionalen Differenzierung moderner Gesellschaften eröffnet dabei eine Reihe von Einblicken. Dies ist aber bekanntermaßen nicht das einzig relevante Differenzierungsmuster unserer Gesellschaften, womit sie mit Blick auf den Terrorismus notwendigerweise begrenzte Erklärungsstrategien bereithält. Die funktionalistische Erneuerung nach Talcott Parsons hat zwar kreatives Potenzial in der soziologischen Theorieentwicklung entfesselt, allerdings bleibt sie dem einmal eingeschlagenen Pfad der ‚Grand Theories’ treu, zum Teil ist der Hang zur gesellschaftstheoretischen Formalisierung und Modellierung sogar noch intensiviert worden (Luhmann 1984, Münch 1984). Aus diesem Grund bleibt zu hoffen, dass die noch ungenutzten Potenziale dieses methodischanalytischen Ansatzes am konkreten empirischen Fall weiter entfaltet und unter Beweis gestellt werden können.
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Wie rational sind terroristische Zusammenschlüsse? Chancen und Grenzen einer rationalen Erklärung von Konfliktdynamiken
Andrea Maurer 1
Terrorismus: ein Gegenstand der Soziologie?
Terroristische Vereinigungen und Gewaltakte sind aufgrund ihrer gesellschaftlichen Brisanz ein zentrales Thema der Sozialwissenschaften und sie stellen auch zunehmend eine theoretische Herausforderung dar. Das liegt darin begründet, dass zwar detaillierte und historisch genaue empirische Darstellungen vorliegen, diese aber von politischen Einschätzungen und Wertungen durchzogen sind und in ihren Problemstellungen stark variieren (vgl. Mommsen 1982). Zudem ist die Standardliteratur wesentlich den Politikwissenschaften (vgl. Hoffman 2003, Hirschmann 2003) bzw. der politischen Soziologie (vgl. Waldmann 1998) zuzurechnen und behandelt Terrorgruppen und Terrorakte zumeist unter dem Aspekt ihrer möglichen Rechtfertigung. Mit dem 11. September 2001 ist der Neue Terrorismus mit seinen Handlungs- und Organisationsformen auch von der Soziologie entdeckt worden (vgl. Mayntz 2004, Witte 2005). Die Diskussion kann dabei auf einen ausgearbeiteten soziologischen Begriffsapparat und auf neuere Theorieentwicklungen zurückgreifen. Gegenüber den lange Zeit dominierenden politischen und moralischen Rechtfertigungsdiskursen werden Terrorgruppen und terroristische Gewalthandlungen als bewusste und zielgerichtete Handlungen von Akteuren verstanden, die Gewalt als ein Mittel der politischen Auseinandersetzung verwenden, um eine bestehende Herrschaft zu stürzen bzw. zu ändern und die dabei neue Handlungsweisen und Strukturen ausbilden. „Wir können daher Terrorismus nun versuchsweise als bewusste Erzeugung und Ausbeutung von Angst durch Gewalt oder die Drohung mit Gewalt zum Zweck der Erreichung politischer Veränderung definieren“ (Hoffman 2003: 56). Im Mittelpunkt soll daher im Folgenden der Versuch stehen, zu erklären, warum sich Menschen bewusst für terroristische Gewaltakte als Mittel der politischen Veränderung entscheiden und welche Konfliktdynamiken damit verbunden sind. Die IRA sowie andere ‚Befreiungsbewegungen’ in Irland werden als Beispiel für national operierende Terrorgruppen beschrieben, die Gewalt an symbolträchtigen Orten zu besonderen Zeiten einsetz(t)en, um die Herrschaft Großbritanniens in Frage zu stellen. Sie sind durch eine eher konventionelle Organisationsform (Armeestruktur) und klassische Handlungsmuster (Bombenattentate) charakterisiert, verfolgen ideologisch legitimierte Ziele unter Inkaufnahme großer Opfer und begleitet von der Produktion nationaler Helden, Mythen und Symbole. Das ideologische Fundament des Nordirlandkonflikts reicht bis ins zwölfte Jahrhundert zurück und rankt um die Unterwerfung des gälischen bzw. irischen Volkes durch die Engländer. Einen weiteren ideologischen Aspekt hat der Nordirlandkonflikt in den rivalisierenden Konfessionen gefunden, die in Irland durchaus variable ‚Bündnisse’ eingehen; so
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sind z.B. die katholischen Arbeiter in Irland der Rekrutierungspool der terroristischen Gruppierungen im Kampf gegen die englische Oberhoheit. Der Grundkonflikt zwischen irischen Nationalisten und den englischen ‚Besatzern’ erhielt durch von England im siebzehnten Jahrhundert in den Norden der Insel entsandte protestantische Siedler eine zusätzliche Dimension und eine sozial-strukturelle Stabilisierung, die an verschiedenen Stellen zu verschiedenen Zeiten immer wieder die Konfliktdynamik in Gang setzte und auch oft genug Gewalthandlungen und ein Erstarken der Gewaltgruppen zur Folge hatte. Die neuere Geschichte des Nordirlandkonflikts belegt dies auf traurige und beeindruckende Weise. Zentrale Einschnitte in der Gewalteskalation sind der Osteraufstand 1916, der sowohl durch den Unabhängigkeitsgedanken wie auch durch sozialistische Vorstellungen und Organisationen gespeist war. Zu einer Verfestigung der Konfliktlinien trug weiterhin die Gründung eines eigenen Staates ‚Nordirland’ mit einem eigenen Parlament (ein Erfolg für die protestantische Bevölkerungsmehrheit Nordirlands) und die 1937 erlassene Verfassung des südirischen Staates bei (ein Ziel der katholischen Bevölkerung des ärmeren Südens). Zwei politische Systeme mit einem unterschiedlichen ideologischen Fundament und einer Sozialstruktur hatten sich herausgebildet und sich feindlich zueinander positioniert. Die Konflikteskalation in den siebziger Jahren war dadurch wesentlich geprägt. Der Nordirlandkonflikt, der bis in die neunziger Jahre zumindest die mediale Aufmerksamkeit der westlichen Welt fesselte, war geprägt durch ein immenses Aufgebot an Gewalt auf beiden Seiten: massive Sicherheitskräfte (britische Soldaten und Polizeikräfte) standen republikanischen und loyalistischen Gruppen gegenüber und gewalttätige Demonstrationen, Anschläge und Raubüberfälle waren an der Tagesordnung.1 Das hervorstechende Kennzeichen des Nordirlandkonflikts ist die enorme Konfliktdynamik und das Abwechseln von Phasen der relativen Ruhe mit Phasen verstärkter Gewaltbereitschaft begleitet vom Anwachsen und vom Zerfallen der Oppositionsgruppen. Woraus das latente Mobilisierungspotential auf beiden Seiten der Konfliktparteien folgt und wie die erwähnten sozial-strukturellen Ungleichheiten bzw. die kollektiven Ideen und Deutungsmuster dies befördern bzw. behindern, war bislang allerdings allenfalls Gegenstand empirischer oder politisch-symbolischer Beschreibung. Die politische und gesellschaftliche Brisanz terroristischer Gruppen und Gewaltakte allgemein und die der IRA im Besonderen liegt in der ‚Infrage-Stellung’ des nationalstaatlichen Gewaltmonopols begründet, die zwar eine ideologisch fundierte, aber letztlich doch willkürliche Gewaltanwendung gegen Individuen und damit die Verletzung allgemeiner Menschen- und Bürgerrechte bedeutet (vgl. König 2005). Der kollektiven Regelung von Gewalt kommt als Grundlage sozialer Ordnungsbildung in der Soziologie ein hoher Stellenwert zu (vgl. Maurer 2004). „Ich kann nur in dem Maße frei sein, in dem ein anderer daran gehindert wird, seine physische, ökonomische oder andere Überlegenheit, die er besitzt, auszunützen, um meine Freiheit zu unterdrücken; nur soziale Regeln können einen Mißbrauch der Macht verhindern“ (Durkheim 1992: 43). Die soziologische Gewaltdiskussion (vgl. Popitz 21992, von Trotha 1997, Imbusch 2005, Bonacker 32005) problematisiert Gewalt als eine Form der politischen Machtausübung und als die Fähigkeit, Zwangsmittel in politischen Auseinandersetzungen anzuwenden und Menschen- und Bürgerrechte in Frage zu stellen. “Mit Gewalt wird die Androhung oder der tatsächliche Einsatz von Zwang gegen andere bezeichnet“ (Maurer 2004: 15). Die Soziologie hat sich in der Gewaltfrage lange Zeit auf die ‚soziale Zähmung’ konzentriert 1
Vgl. für eine genaue Darstellung der Zahl der Sicherheitskräfte bzw. der Terrorgruppen und der Anzahl an Terrorakten Korstian in diesem Band.
Wie rational sind terroristische Zusammenschlüsse?
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(vgl. Maurer 2004, Kap. 1) und die Funktionsweise sozialer Institutionen der Gewaltkontrolle wie den Nationalstaat mit seinem Gewaltmonopol in den Mittelpunkt gerückt (vgl. Weber 1985, Elias 1976). Die Soziologie konnte deshalb das Phänomen Terrorismus lange Zeit der Politikwissenschaft überlassen. Dies scheint sich zu ändern, was daran liegen könnte, dass einerseits der Struktur- und Organisationswandel des Terrorismus mit dem organisationssoziologischen Instrumentarium bearbeitet werden kann. Zu den augenfälligsten und soziologisch interessanten Erscheinungen zählt dabei der Übergang von einer klassisch-modernen Organisationsform terroristischer Zusammenschlüsse: der Zellstruktur und klaren, hierarchischen Kommandoketten verbunden mit einer lokalen bzw. nationalstaatlichen Einbettung, hin zu internationalen Netzwerken mit unscharfen Entscheidungs- und Verwaltungsstrukturen.2 Auf der anderen Seite wird im Kontext neuerer Theorieentwicklungen vermehrt der Anspruch erhoben und umgesetzt, paradoxe, scheinbar irrationale Phänomene wie Terrorgruppen und Terrorakte als das Resultat rationaler Entscheidungen erklären zu wollen. Dazu wird als Ausgangspunkt eine als ungerecht oder schlecht empfundene Herrschaft gewählt und das Problem diskutiert, wie diese angesichts der Risiken und Kosten eines Oppositionshandelns durch gemeinsame Gewaltaktionen verändert oder aufgehoben werden kann. Terrorismus wäre als ein organisiertes Handeln rationaler Akteure durch den Nachweis sozialer Handlungsbedingungen zu erklären, die den gewaltbereiten Protest gegenüber anderen Handlungsformen als vorteilhaft erscheinen lassen. Im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen steht das Modell mehrstufiger Erklärungen, das auf der Basis einer Theorie der rationalen Handlungswahl typische Interdependenzen darstellt und in kollektive Effekte wie den Aufbau von Gruppen überführt. Ich werde zunächst die Logik mehrstufiger Erklärungen skizzieren und am Modell der Badewanne erläutern (Abschnitt 2) und darauf aufbauend dann konkret zeigen, wie die Entstehung und der Aufbau terroristischer Zusammenschlüsse wie der IRA als Ergebnis bewusster, rationaler und situationsgebundener Handlungen erklärt werden kann und welche Thesen sich daraus über den Aufbau der IRA gewinnen lassen (Abschnitt 3). Abschließend will ich dann noch auf die konkrete Forschungspraxis (Abschnitt 4) und auf die Perspektiven und Schwierigkeiten dieser Erklärungspraxis eingehen (Abschnitt 5).
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Das Modell soziologischen Erklärens
In der Soziologie wird seit langem und an vielen Stellen intensiv darüber diskutiert, ob und wie Erklärungen sozialer Sachverhalte angelegt werden können3, und wie sich daran praxisrelevante Analysen gesellschaftlicher Handlungsfelder, Problemlagen und Entwicklungen anschließen lassen. Konkret verbergen sich dahinter mehrere Konfliktlinien, die die Ge2
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Es handelt sich dabei um einen Wandel organisationaler Strukturen und Vorstellungen, der in der Soziologie wie auch in der Ökonomie in den letzten Jahrzehnten auch im Wirtschaftsbereich und insbesondere in den Unternehmensverfassungen (Governance Regimes) aufmerksam verfolgt und mit großer Leidenschaft und Vehemenz diskutiert wurde. Seit den dreißiger Jahren wird in den USA und seit den fünfziger Jahren in Europa die auch empirisch beobachtbare Ablösung der zentral-hierarchischen U-Form durch die M-Form in Wirtschaftsunternehmen mit Kontroll- und Sicherungsaspekten in Beziehung gesetzt (vgl. Williamson 1990). Vgl. dazu bereits die Klassiker Weber und Durkheim und deren Rezeption in der gegenwärtigen Soziologie (vgl. Boudon 1980, Bourdieu 1998, Giddens 1992, Coleman 1991). Vgl. für eine aktuelle Darstellung der Erklärensfrage in der Soziologie Esser/Troitzsch 1991, Mayntz 2002 oder Maurer/Schmid 2008.
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schichte der Soziologie von Anfang an begleitet haben. Im Zentrum steht dabei die Frage, ob soziales Handeln (Max Weber), soziale Tatsachen (Durkheim), soziale Wechselwirkungen (Simmel) und soziale Figurationen (Elias) (vgl. Greshoff/Kneer/Schimank 2003, Greshoff/Schimank 2006, Balog 2006) entsprechend des Erklärungsmodells und -anspruchs der Naturwissenschaften behandelt werden können, und wenn ja, wie die Sozial- und Kulturwissenschaften dabei verfahren sollten (vgl. Maurer/Schmid 2008).4 a. Methodologische Grundlagen Am klassischen Anspruch, die Soziologie als eine erklärende Wissenschaft zu betreiben, deren Objektbereich soziale Phänomene sind, hält gegenwärtig vor allem das strukturindividualistische oder auch das soziologische Erklärungsprogramm fest. Deren Wurzeln reichen bis in die Aufklärung und in die Schottische Sozial- und Moralphilosophie zurück (vgl. dazu auch Maurer 2004, Kap. 4).5 Es handelt sich um ein Forschungs- und Erklärungsprogramm mit einer langen Tradition im westlichen Denken, das rationale Erklärungen und Analysen des Sozialen aus Sicht der Einzelnen vornehmen will und das entsprechend eine vernünftige Gestaltung der Welt aus Sicht der Akteure für möglich und nötig erachtet. „Die ertragreiche Kooperation in den großen Verbänden einer offenen Gesellschaft war die einzigartige befreiende Leistung der menschlichen Zivilisation, von der David Hume – und andere Aufklärer – zu Recht so schwärmten“ (Esser 2000: 224). Das Programm der erklärenden Soziologie verfolgt eine analytische, systematisierende Theorie- und Modellbildung. Theorien und Modelle werden als mehr oder weniger komplexe Aussagensysteme begriffen, die Erklärungen für soziale Sachverhalte liefern und damit Antworten auf Warum-Fragen bieten. Die Theoriekonstruktion folgt dem Prinzip des Methodologischen Individualismus in Verbindung mit situationslogischen Erklärungen nach Popper (vgl. Esser 1993). Als übergreifendes Ziel wissenschaftlichen Arbeitens gilt die Suche nach Wahrheit bzw. die Formulierung wahrer Theorien, was impliziert, dass Theorien mit – einer als objektiv gesehenen – Realität durch die empirische Prüfung in Verbindung gesetzt werden müssen. Gegenstand der Erklärung sind soziale Phänomene (Paradoxien, neue Entwicklungen usw.) und Ausgangspunkt der Erklärung das intentionale Handeln einzelner Akteure. In kritischer Absetzung zu einem ‚naiven Rationalismus’ – wie etwa dem in der Aufklärung vertretenen – wird allerdings in Rechnung gestellt, dass soziale Phänomene nicht immer den Intentionen der Akteure korrespondieren müssen und dass von deren Zielen und Handlungen nicht immer direkt auf soziale Sachverhalte zu schließen ist, sondern dass auch der ‚Wirkmächtigkeit’ des Sozialen derart Rechnung getragen werden muss, dass emergente soziale Effekte durch einen expliziten Erklärungsschritt erfasst werden, der das erklärte intentionale Handeln in ‚kollektive Effekte’ überführt. So bilden die Ziele, die Bedürfnisse, die Interessen sowie auch die Vorstellungen der Einzelnen den methodologischen Ausgangspunkt und wird an der prinzipiellen Vernunftfähigkeit der Akteure festgehalten, ohne aber direkt von der individuellen auf die kollektive Rationalität zu schließen. Vielmehr wird explizit berücksichtigt, dass die Akteure ihre Anliegen meist innerhalb sozialer Strukturen 4
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Die erkenntnistheoretische Diskussion erhält zusätzlichen Zündstoff durch die Wahl relevanter Grundprämissen – insbesondere darum, ob materielle Faktoren und Interessen oder ob Ideen und Vorstellungen relevant und ob Handlungen oder Strukturen als Ausgangspunkt zu wählen seien (vgl. Vanberg 1975, Gabriel 2004). Umfassende Darstellungen zur Systematisierung dieser Debatte liegen von Alexander (1993), Collins (1998) oder Giddens (1995) vor. Daran knüpfen auch das ökonomische Erklärungsprogramm, die Neue Institutionenökonomik, die ökonomische Theorie der Politik und der Rational Choice-Ansatz in der Soziologie und den Politikwissenschaften an.
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und angesichts sozialer Interdependenzen verfolgen und dass daher das Wechselspiel intentionaler Handlungen ganz eigene Effekte produziert.6 Praktisch wird das Programm, indem es sowohl einen Bedarf an sozialen Regeln und Mechanismen der Handlungskoordination ausweist, als auch Möglichkeiten benennt, unter denen diese dann auch realisiert und stabilisiert werden können. b. Die Badewanne Die Logik mehrstufiger Erklärungen hat in den achtziger Jahren ihre Ausarbeitung in Form der Badewanne (vgl. Abb. 1)7 gefunden, die sowohl die Defizite reiner Mikro- als auch die reiner Makroerklärungen zu vermeiden verspricht. Die Badewanne ist überdies ein Versuch, die immer wieder aufflammende Diskussion über die Form soziologischen Arbeitens und Erklärens zu strukturieren und die Möglichkeiten eines integrativen Erklärungsprogramms auf einer handlungstheoretischen Basis zu beleuchten. Der Unüberschaubarkeit und Komplexität der realen sozialen Welt wird durch bewusst vereinfachende Modelle zu begegnen versucht.8 „Soziologische Analysen und Erklärungen laufen immer (auch) auf die Konstruktion von vereinfachenden und typisierenden Modellen hinaus“ (Esser 1993: 119, Hervorh. im Orig.). Dem soziologischen Arbeiten wird die Fähigkeit zugesprochen, eine systematische Theoriearbeit betreiben zu können, die in der Lage sein sollte, allgemeine Modelle zu entwickeln und darüber Brücken zu den sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen zu bauen. Die Pfeiler der mehrstufigen Erklärungslogik sind der handlungstheoretische Kern, Situationsmodelle und Brückenhypothesen sowie Transformationsregeln zu deren Verbindung. Da der Ausgangspunkt der Erklärung eine Stufe tiefer als das zu erklärende soziale Phänomen liegt,auf der Ebene des sinnhaften, intentionalen Handelns der Akteure, und da weiter angenommen wird, dass die Menschen in sozialen Verhältnissen agieren, müssen sowohl von der Strukturebene zur Handlungsebene Brücken formuliert und mittels Transformationsregeln die erklärten Einzelhandlungen wieder in kollektive Effekte übersetzt werden (vgl. dazu Lindenberg 1989, Esser 1993, Scharpf 2000). Makro
Makro
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Abbildung 1: 6 7 8
Mikro
Makro-Mikro-Makro-Modell (vgl. Boudon 1980, Coleman 1991, Esser 1993)
Für die auch ein eigener Erklärungsschritt mit weiteren Zusatzannahmen, den Transformationsregeln, vorgesehen wird. Die Darstellungsform geht auf McClelland (1966: 91) zurück, popularisiert wurde sie aber vor allem durch die Arbeiten von Boudon (1980), Coleman (1991: 10ff.) und Esser (1993: 98). Vgl. dazu vor allem den Vorschlag Lindenbergs (1991) zur Methode der abnehmenden Abstraktion; vgl. zu dessen Umsetzung in der erklärenden Soziologie Maurer/Schmid (2008: Kap. 3).
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Die Badewanne stellt eine Mehrebenenerklärung auf der Basis eines handlungstheoretischen Kerns dar.9 Im ersten Schritt wird die Handlungssituation mit Bezug auf die in der Handlungstheorie benannten Parameter modelliert und mittels Brückenhypothesen aus Sicht der Akteure bewertete Handlungsmöglichkeiten formuliert. Im zweiten Schritt wird durch Anwendung eines Handlungsgesetzes das Handeln typischer Akteure erklärt. Dabei kann der handlungstheoretische Kern relativ einfach ein Handlungsprinzip vorsehen oder aber auch mehrere Handlungsprinzipien (Nutzen- und Wertorientierung) integrieren. Im dritten Schritt werden aus den erklärten Handlungen kollektive Effekte abgeleitet, entweder durch einfaches Aufsummieren, durch Verwendung komplexer Regeln (einfache Mehrheiten oder absolute Mehrheiten), mittels Institutionen oder formaler Schwellen- oder Stufenwertmodelle bzw. rekursiver Funktionen.10 c. Handlungstheoretischer Kern Aus methodologischen Gründen11 wird als handlungstheoretisches Fundament die Theorie der rationalen Wahl empfohlen (vgl. Coleman 1991, Esser 1993, Wippler/Lindenberg 1987). Für die Verwendung einer Theorie der rationalen Wahl spricht, dass eben nicht das komplexe Entscheidungsverhalten Einzelner Gegenstand ist, sondern dass für bestimmte Situationen und Akteure die Handlungsentscheidung erklärt werden soll. „The action mechanism of rational choice does not state what a concrete person would do in a concrete situation, but what a typical actor would do in a typical situation“ (Hedström/Swedberg 1996: 129). Der handlungstheoretische Kern benennt die relevanten Parameter des Handelns, markiert so (handlungs-)relevante Situationsfaktoren und enthält ein Handlungsprinzip, das die Wahl der Handlung kausal erklärt. Mit Hilfe von Brückenhypothesen können dann Zusammenhänge zwischen Situationsfaktoren und Handlungsmöglichkeiten identifiziert und exemplifiziert werden. Die Handlungstheorie besagt ‚nur’, welche Handlung die Akteure warum ergreifen, z.B. die Handlung mit dem höchsten Nutzen oder die den Werten entsprechende oder die bekannte und vertraute. Die Empfehlung der Theorie der rationalen Handlungswahl hat bei den VertreterInnen anderer Paradigmen und Theorietraditionen die höchste Aufmerksamkeit gefunden und auch die meisten Missverständnisse ausgelöst. Sie hat aber auch innerhalb des Erklärungsprogramms eine enorme innovative Kraft Gang gesetzt, die in den letzten zehn Jahren wichtige Arbeiten über den Stellenwert der Handlungstheorie und deren Ausbau initiiert
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Wesentlich für die methodologische Ausarbeitung des struktur-individualistischen Erklärungsmodells sind die frühen Arbeiten von Wippler und Lindenberg (vgl. Wippler 1978, Wippler/Lindenberg 1987, Lindenberg 1989). Vgl. zur Verwendung und Verortung der Rational Choice-Theorie in der Soziologie Lindenberg (1985), Hedström/Swedberg (1996) oder Diekmann/Voss (2004). Es herrscht derzeit weitgehende Übereinstimmung darüber, dass die Ausarbeitung von Transformationsmodellen noch große Probleme birgt und weiterer Anstrengungen bedarf (vgl. dazu schon Coleman 1991, 1992, Esser 1993). So wird argumentiert (vgl. Lindenberg 1991, Esser 1993), dass die Rational Choice-Theorie mit dem Nutzenprinzip am besten geeignet ist, Situationsfaktoren als Handlungsgrund zu erschließen und in bewertete Handlungsmöglichkeiten zu überführen. Coleman (1991) sieht die Wahl der Handlungstheorie dann rein instrumentalistisch darin begründet, möglichst reichhaltige und überprüfbare Hypothesen auf der Strukturebene zu formulieren, wohingegen Hartmut Esser und andere möglichst ‚realitätsgerechte, soziologisch adäquate Erklärungen’ anstreben und zu diesem Zweck eine Erweiterung der Handlungstheorie zulassen bzw. vorschlagen (vgl. auch Maurer 2007, Maurer/Schmid 2009).
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hat.12 Zwar wurde von den frühen VertreterInnen des Programms immer wieder darauf hingewiesen, dass die Handlungstheorie keinesfalls ‚reale Menschen’ in ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit zu erfassen suche, sondern dass eine methodologisch begründete Abstraktion und Vereinfachung beabsichtigt sei, die allgemeine Aussagen über das typisch intentionale und rationale Handeln der Akteure mache bzw. erklärt, wie ein typischer Akteur oder auch Gruppen typischer Akteure in einer typischen Situation handeln würden. Aus der vielfältigen Ablehnung der Theorie rationaler Wahl13 wurde vor allem der klassischen und mit Bezug auf Max Weber begründeten Kritik Rechnung getragen, dass nur eine Handlungsorientierung: die zweckrationale Verfolgung eigener Interessen, erfasst werden könne. In diesem Kontext haben vor allem Hartmut Esser mit dem Frame-Modell, Siegwart Lindenberg mit der sozialen Produktionsfunktion und dem homo socio-oeconomicus sowie Raymond Boudon mit der Unterscheidung von zweck- und wertrationalem Handeln bemerkenswerte Vorschläge für eine Erweiterung der rationalen Handlungstheorie vorgelegt (vgl. Boudon 1994, Lindenberg 2000, Esser 2003, 2004).14 d. Situationsmodelle Wesentlich weniger Aufmerksamkeit hat hingegen die Modellierung der Situationsebene erfahren, obwohl hier die soziologische Relevanz, der empirische Gehalt und auch die Verbindungslinien zu den anderen Sozialwissenschaften zu suchen und zu finden sind. Aber auch die verwendeten Situationsmodelle sollen kein wirklichkeitsgetreues, vollständiges Abbild der realen Welt darstellen, sondern typische bzw. ‚bemerkenswerte’ Konfigurationen der durch die Handlungstheorie benannten relevanten Faktoren wiedergeben. Ein wichtiger Schritt für den Ausbau und die Verwendung des Modells soziologischer Erklärung war die Modellierung typischer Interdependenzstrukturen. Mit Bezug auf die Spieltheorie werden inzwischen drei Grundmodelle sozialer Handlungs- und Abstimmungsprobleme eingesetzt: Koordinationsprobleme, Kooperationsdilemmata und Verteilungskonflikte. Damit kann erstens disziplinenübergreifend an einer systematischen Modellentwicklung und -prüfung gearbeitet werden und zweitens kann damit die in der Soziologie meist sehr allgemein und unspezifisch formulierte Problematik sozialer Ordnungsbildung15 konkretisiert werden (vgl. dazu Maurer 2004, 2006a).16 Die Heuristik liegt in der handlungstheoretisch angeleiteten Explikation relevanter Abstimmungsprobleme und deren systematischer Variation bzw. Konkretion (vgl. Lindenberg 1991, Raub/Voss 1981), so dass deren Übertragung auf verschiedene Fragen und Hand12
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Aus der unübersehbaren Literatur zur Rational Choice-Theorie mag hier der Hinweis auf die deutschsprachige Einführung von Kunz (2004) und auf den einschlägigen Sammelband von Coleman/Fararo (1992) genügen. Theorien der rationalen Wahl können als einfache Nutzentheorie oder als SEU-Theorie formuliert werden und damit unterschiedliche Wissens- und Informationsgrade sowie auch unterschiedliche Optimierungsgrade erfassen. Vgl. dazu auch die kritisch-vergleichenden Kommentare von Greve (2003), Maurer/Schmid (2004), Wolf (2005) und Maurer (2006a, 2007). Die einfache Nutzentheorie und auch die erweiterte SEU-Theorie stellen über die Nutzenorientierung der Akteure auf begehrte, Nutzen stiftende Situationsfaktoren ab: das können materielle Güter ebenso sein wie soziale Anerkennung oder ideelle Werte wie Altruismus. Entscheidend ist nur, dass diese Faktoren in dieser Situation für einen typischen Akteur als Nutzen stiftend betrachtet werden. Ich werde hier auf das Modell der öffentlichen Güter als einen Spezialfall der Kooperation unter Egoisten Bezug nehmen und darstellen, wie sich mit dessen Hilfe der Aufbau und die Struktur terroristischer Gruppen und Aktionen erklären lässt bzw. darauf bezogen auch Gestaltungsmaßnahmen ableiten lassen.
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lungsfelder möglich wird.17 Eine für die Soziologie anschlussfähige Ausarbeitung zweier Situationslogiken18 hat James Coleman auf der Basis eines Konzepts sozialer Handlungsrechte vorgelegt. Zwei Grundsituationen können damit hinsichtlich der Interessen an und der Kontrolle über Handlungsrechte (gemeinsame Interessen oder komplementäre Interessen) unterschieden und mit typischen Handlungen (Tausch, Zusammenlegen oder einseitige Übertragung) und emergenten Effekten (Handlungssysteme mit spezifischen Eigenschaften) in Beziehung gesetzt werden. Im ersten Fall werden Situationen über komplementäre Interessen charakterisiert, die zum Tausch von Handlungsrechten und zu Handlungssystemen mit Kontrollproblemen führen. Im zweiten Fall werden Situationen mit gemeinsamen Interessen erfasst, die ein Zusammenlegen von Handlungsrechten motivieren und Handlungssysteme mit Trittbrettfahreranreizen und Problemen kollektiver Entscheidungsfindung begründen (vgl. dazu ausführlich Maurer 1999) und Gruppen wie die IRA beschreiben helfen.
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Zur Erklärung terroristischer Gruppen wie der IRA
Terroristische Vereinigungen können unter ganz verschiedenen Fragestellungen und Perspektiven betrachtet werden. In den Politikwissenschaften werden vor allem die damit verbundenen Destabilisierungen politischer Systeme thematisiert und in der Soziologie sozialstrukturelle Faktoren und kulturelle Aspekte wie Ideologien und Symbole. Der gegenwärtige Forschungsstand umfasst neben vielfältigen deskriptiven Beschreibungen, historischen Rekonstruktionen, lebensweltlichen Analysen und Spurensuchen, aktuellen gesellschaftspolitischen Diagnosen auch erste Versuche, die Existenz terroristischer Gruppen zu erklären und deren strukturelle Organisation daraus abzuleiten.19 Dazu möchte ich Terrorgruppen als organisierte kollektive Gewalthandlungen fassen, die sich gegen eine etablierte Ordnung richten und stabile Strukturen ausbilden (vgl. Hirschman 2003, Schluchter 2003, Waldmann 1998). Ich rücke damit das organisierte Handeln von Gruppen in den Mittelpunkt, die unter Anwendung von Gewalt politische Ziele und Interessen zu erreichen oder doch zumindest öffentlichkeitswirksam darzustellen versuchen. Außerdem wäre zu fragen, warum sich Akteure organisieren und Gewalt gegen andere einsetzen, um dadurch ihre Interessen und Ziele zu formulieren und durchzusetzen. Dahinter verbirgt sich das allgemeine Problem einer kollektiven Zweckverfolgung und das konkrete, warum sich in Irland, Afrika, der Bonner Republik oder auch international Terrorgruppen organisieren, um die herrschenden (Macht-)Verhältnisse mit Gewalt zu verändern und welche sozialen Effekte sie dabei ins Leben rufen. 17 18 19
Auf diesem Wege kann auch die mitunter sehr allgemeine soziale Ordnungsfrage in konzise Problematiken übersetzt und so nach spezifischen Lösungen gesucht werden (vgl. Maurer 2004, 2006). Vgl. dazu auch die Vorschläge von Boudon (1980) oder Scharpf (2000). Meines Erachtens spiegelt sich die Theoriedebatte der Soziologie auch in der Erforschung des Terrorismus bzw. von Gewaltgruppen und -handlungen in modernen Gesellschaften. Bis weit in die siebziger Jahre hinein wurden dafür makro-strukturelle Faktoren und Erklärungen bzw. rein individualistische Erklärungen vorgelegt, die Terror entweder als Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse oder irrationaler Motive Einzelner erklären wollten (vgl. die Zusammenstellung von Mommsen/Hirschfeld 1982 oder Moore 1966). Grundsätzlich scheint es mir an der Zeit, die Gewaltthematik, auf die Popitz, Bauman, Sofsky u.a. immer wieder hingewiesen haben (vgl. Maurer 2004, Imbusch 2005, Junge 2006), wieder soziologisch zu bearbeiten und verschiedene Ausprägungen, Strukturformen und Felder innerhalb eines Erklärungsprogramms zu behandeln. Eine leitende Frage könnte dabei sein, in welchen Situationen Einzelne rational meinen, durch organisierte Gewalthandlungen Ziele besser realisieren zu können als mit legitimen politischen Mitteln.
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Das organisierte, kollektive Gewalthandeln20 soll allgemein aus spezifischen Situationen und das der IRA konkreter im Hinblick auf die irischen Verhältnisse gefolgert werden. Die im vorhergehenden Abschnitt dargestellte Mehrebenenerklärung auf der Basis einer Theorie der rationalen Handlungswahl verweist dazu auf den Nachweis von Situationsfaktoren, die eine Beteiligung Einzelner an kollektiven Gewaltaktionen und -gruppen als vorteilhaft begreifen lassen. D.h. es muss durch den Nachweis spezifischer Situationen gezeigt werden, wann es für Einzelne rational ist, sich in Terrorgruppen zu organisieren, anstatt gar nichts zu tun oder auf die legitimen politischen und sozialen Protestmittel der (Ab-)Wahl, friedlicher Demonstrationen und Streiks, Parteiengründungen usw. zurückzugreifen. Welche Situationen machen für einzelne Akteure den organisierten Gewalteinsatz zur rationalen Handlungsstrategie, die angesichts der dargelegten Situation ertragreicher wäre als das Nichtstun oder der politisch legitime Protest? Zur Kennzeichnung der Ausgangslage kann auf bereits vorliegendes Wissen in der Soziologie und in den Politikwissenschaften zurückgegriffen werden. Klassischerweise ist dafür von einer ‚Unzufriedenheit’ mit einer gegebenen Ordnung auszugehen, denn nur dann werden sich rationale Akteure überhaupt fragen, ob und wie sie eine Ordnung verändern können. Für die Situation weiterhin typisch ist, dass die Unzufriedenheit gegen eine bestehende Ordnung formuliert werden muss und dass für ein solches Protesthandeln im Normalfall davon auszugehen ist, dass das eigene Tun als bedeutungslos angesehen wird, weil der Protest gegen eine Macht in der Regel vom Zutun vieler abhängt und wohl kaum eine Person für sich realistische Interventionschancen erkennt. Um überhaupt in den Bereich einer Kosten- und Nutzenabwägung zu kommen, sind also erst einmal Erfolgschancen darzulegen, seien sie durch die Einschätzung der eigenen Wichtigkeit oder durch Erwartungen über das Handeln der anderen oder die Existenz sozialer Organisationsformen gespeist. Zum anderen ist für diese Situation ein Oppositionshandeln auf jeden Fall mit hohen Kosten (direkte Widerstandshandlungen sowie zu erwartenden Sanktionen) verbunden, die um so höher anzusetzen sind, je restriktiver das kritisierte Herrschaftsregime und je illegitimer die Protesthandlungen sind. Zwar wird so zumindest in einem gewissen Umfang ein allgemeines Interesse in Form des Anliegens unterstellt, die Lage durch Abschaffung oder Reform der als schlecht, ungerecht oder illegitim betrachteten Herrschaft zu verbessern (Ertrag). Andererseits wird aber auch verlangt, dass für eine solche Reform oder Rebellion eine Mindestzahl an Aktiven – und meist noch einer größeren Zahl von Unterstützern – notwendig ist, deren Aktivwerden aber solange unwahrscheinlich ist, als niemand von sich glaubt, dass sein Handeln für den Erfolg wichtig ist und dass zudem auch die erforderlichen Anderen mit dabei sein werden. Hinzu kommen außerdem noch bei Protesthandlungen die hohen Kosten des Widerstands in Form von Sanktionen. Diese Situationslogik ist in der Sozialtheorie (vgl. Maurer 2004) immer wieder im Kontext der Bildung einer ‚guten Ordnung’ aufgeworfen worden und verweist auf das Problem, dass eine gute Ordnung bzw. das Ändern einer schlechten für rationale Akteure eine besondere Herausforderung darstellt, da Erfolgsschätzungen und Trittbrettfahreranreize das kollektive Zweckhandeln be- und verhindern und daher besondere Faktoren wichtig werden. Die Logik der zugrunde liegenden Interdependenz kann allgemein mit dem von Mancur Olson (1968) ausformulierten Theorem der öffentlichen Güter erfasst werden, das 20
Vgl. dazu die bereits 1972 von Heinz/Schöber veröffentlichte Sammlung internationaler Texte zu Theorien kollektiven Verhaltens, die schon die Hinwendung zum zweckgerichteten kollektiven Handeln erkennen lassen.
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besagt, dass bei gemeinsamen Interessen in großen Gruppen mit einer suboptimalen Bereitstellung des gewünschten Gutes oder Zustandes zu rechnen ist. Das von Olson formulierte Grundmodell postuliert für die kollektive Zielerreichung großer Gruppen, dass positive öffentliche Güter nur in einem ungenügenden Maße bereitgestellt werden, da rationale Akteure selbst dann nichts beitragen, wenn sie das Gut für äußerst wünschenswert halten, solange sie davon ausgehen, dass ihr eigener Beitrag dafür nicht hinreicht. In privilegierten oder in strukturierten Gruppen wird diese Einschätzung hinfällig. Olson hat daraus zwei für die weitere Forschung über das zweckgerichtete Handeln von Gruppen bedeutsame Thesen formuliert: „ (...) in Gruppen mit Mitgliedern ungleicher ‚Größe’ (Wichtigkeit, A.M.) oder verschieden starkem Interesse am Kollektivgut –, ist die Wahrscheinlichkeit der Bereitstellung eines Kollektivgutes am größten“ (Olson 1968: 33) und „ (...) je größer die Gruppe ist, um so weniger wird sie in der Lage sein, die optimale Menge eines Kollektivgutes bereitzustellen (...)“ (Olson 1968: 33). Das Theorem der öffentlichen Güter21 bildet eine soziale Interdependenzstruktur ab, die in der Soziologie meist über idealisierte Handlungsannahmen entproblematisiert wird: die kollektive Verfolgung gemeinsamer Ziele. Das Theorem der öffentlichen Güter hebt für diese Situation und für rationale Egoisten den Anreiz des Trittbrettfahrens und den geringen Stellenwert der Einzelhandlung hervor, der einem kollektiven Zweckhandeln systematisch anhaftet und besonderer Bedingungen bedarf, um die individuellen Beiträge zu motivieren. Da die Situation davon bestimmt ist, dass einerseits kaum ein Akteur für sich in Rechnung stellen wird, dass sein Handeln erfolgsrelevant ist und dass andererseits nach Erreichen des gemeinsamen Ziels niemand mehr von dessen Genuss ausgeschlossen werden kann (sei dies nun aus sozialen oder technischen Gründen), werden rationale Akteure normalerweise keine Beiträge erbringen und die gemeinsamen Ziele bleiben weitgehend unerreicht. Das rationale Nicht-Beitragen charakterisiert eine soziale Interdependenzstruktur und offenbart das Dilemma gemeinsamen Zweckhandelns, das grundsätzlich mit Trittbrettfahreranreizen einhergeht und durch weitere Faktoren – z.B. Gruppengröße, Homogenität der Mitglieder, niedrige Relevanzen, Eigenschaften der Ziele – noch zusätzlich erschwert bzw. spezifiziert werden kann. „Diese Tendenz zur Suboptimalität folgt aus der Tatsache, daß ein Kollektivgut definitionsgemäß der Art ist, daß andere Individuen in der Gruppe nicht gehindert werden können, es zu konsumieren, sobald einmal einer in der Gruppe es für sich beschafft hat“ (Olson 1968: 33). Besonders für umfassende und teure Projekte wie Proteste und Revolutionen wäre daher zu erwarten, dass sie nicht realisiert werden. Unter Bezug auf das durch das Theorem der öffentlichen Güter erschlossene Dilemma, wird von Rationaltheorien seit langem das an sich erstaunliche Phänomen diskutiert, dass Revolutionen und Rebellionen auch angesichts himmelschreienden Unrechts und offensichtlich schlechter Ordnungen und Herrschaftssysteme so überaus selten in der Geschichte zu beobachten waren und sich überdies auch noch durch höchst diskontinuierliche, prekäre Verlaufslinien auszeichnen (vgl. Maurer 2004). Dies belegt auch die Geschichte des irischen Widerstands gegen England. Das gemeinsame Handeln unter Gewalteinsatz kann als ein kollektives Zweckhandeln verstanden werden und ist damit aus Sicht der einzelnen Akteure im Hinblick auf deren Relevanz, die Erwartungen und Abhängigkeiten vom Tun der anderen und die situationsspezifischen Risiken, Kosten und Erträge zu bearbeiten. Um die Entstehung von Terror21
In der Ökonomie werden mit der Differenzierung in freie, private und öffentliche Güter unterschiedliche Schwierigkeitsgrade bei der Produktion von Gütern zu berücksichtigen versucht.
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gruppen sowie die Durchführung von Terrorhandlungen erklären zu können, muss für eine relevante Anzahl von Akteuren eine positive Ertrags- und Wahrscheinlichkeitskalkulation nachgewiesen werden. Es muss also gezeigt werden, dass bestimmte Situationsfaktoren für einzelne Akteure so positive Ertrags- und Erfolgsschätzungen bedeuten, dass sie sich zusammenfinden und Gewalthandlungen begehen. Die Modellierung verweist dazu auf Situationsfaktoren, die die Relevanz des eigenen Tuns oder eine spezifische Organisierungsfähigkeit befördern, denn beides würde das dominante Trittbrettfahrerproblem auflösen und die erwarteten Erträge wieder ins Spiel bringen. Dem kollektiven Widerstandshandeln haften zudem spezifische Folgeprobleme an, die für Verlaufs- und Organisationsformen zentral sind: das ständige Dilemma des öffentlichen Gutcharakters und die Gefahr von Verrätern, Spitzeln und Überläufern, die sich aus der Option des Überlaufens zur Gegenmacht ergibt. Von der erfolgreichen Lösung dieser Begleitprobleme hängen die Struktur und der nachhaltige Erfolg von Terrorgruppen ab. Aus dem Modell können allgemein Erfolgsfaktoren für ein Widerstandshandeln gefolgert und für spezifische Konstellationen aufbereitet werden: Dies sind einzelne Akteure, die ein (hohes) Interesse an dem gemeinsamen Ziel haben und für sich davon ausgehen können, dass ihr Handeln für dessen Bereitstellung relevant bzw. hinreichend ist. Solche Akteure sind in der Lage, kleine Gruppen zu bilden, in denen erstens soziale Erträge wie Anerkennung – auch unabhängig vom Erfolg des Tuns – realisiert werden können und die weiterhin deutliche Zeichen für einen möglichen Erfolg setzen und damit für andere die Kosten und Erträge von Widerstandshandlungen überhaupt wichtig werden lassen, da zumindest eine kleine Erfolgschance signalisiert und wahrgenommen werden kann. Die konkreten Ausprägungen und Wirkungen solcher Änderungen sind für verschiedene Handlungsfelder empirisch zu untersuchen (vgl. Opp 1989). Ein allgemeiner Modellierungsvorschlag hierzu kann in Anlehnung an die Konzeption James Colemans zum kollektiven Herrschaftsentzug entwickelt werden (vgl. Coleman 1992: 183ff.). Ausgehend von der Annahme22, dass die Akteure begrenzt rational und eigennutzorientiert sind und die Erträge und Kosten ihres Handelns schätzen (SEU-Theorie) und damit mögliche Handlungsalternativen subjektiv bewerten, wird durch das allgemeine Handlungsprinzip unterstellt, dass aus der Reihe der bewerteten Handlungsalternativen die mit dem höchsten Nutzenwert ausgewählt wird. Ein für diese Situation entscheidender Bestandteil der Kalkulation ist die Schätzung der eigenen Wichtigkeit, weil damit Akteure danach unterschieden werden können, ob sie sich selbst für notwendig, hinreichend oder unerheblich einschätzen. Der Nachweis, dass Einzelne sich für ‚relevant’ erachten, d.h. dass sie davon ausgehen, dass ihr Handeln unabhängig vom Tun der anderen den Erfolg des Widerstands wahrscheinlich werden lässt, kann als Initialzündung für Oppositionsgruppen23 gesehen werden, weil damit überhaupt ertragsrelevante Faktoren erschlossen werden können. Eine solche Erfolgschance, die das Dilemma gemeinsamen (Widerstands-)Handelns aufzuheben erlaubt, dass niemand wirklich glaubt, dass der Widerstand Erfolg haben kann und dass vor allem er oder sie dafür irrelevant sind, können ‚kollektive Vorstellungen’ wie die Nationalstaatsidee und Heldenmythen, aber auch religiöse Ideen vermitteln. Eine solche
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Für seine formalen Darstellungen unterstellt Coleman (1991, 1994) vollständige Information und Nutzenmaximierung. Tipping point-Modelle, die den Aufbau kollektiven Handelns in Hochkostensituationen – z.B. bei Protest und Rebellion- mit Bezug auf Wert- und Glaubensvorstellungen erklären, werden auch in der Soziologie und in den Politikwissenschaften zunehmende relevant (vgl. dazu Pies/Leschke 2006).
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Initialzündung kann den Aufbau von Widerstandsgruppen entgegen des im Normalfall zu erwartenden Nichtstuns erklären.24 Ausgangspunkt der Erklärung von Terrorgruppen und -aktionen als Form eines organisierten, gewaltsamen Widerstandshandeln ist demnach die Frage, angesichts welcher Situationen sich eine relevante Anzahl von Akteuren dafür entschließt, bei Unzufriedenheit mit einer gegebenen Ordnung nicht einfach weiter abzuwarten, friedliche, legale Widerspruchsrechte wahrzunehmen, und statt dessen gewaltsame, illegitime Widerstandshandlungen zu ergreifen.25 Dafür sind gemäß dem handlungstheoretischen Kern die Erträge und Kosten sowie die Erfolgswahrscheinlichkeiten zu bestimmen und abzuwägen. Formal kann die Entscheidung der Akteure einer terroristischen Gruppe beizutreten bzw. diese zu unterstützen, als eine Funktion der erwarteten Gewinne (das ist die Erwartung von Erträgen aus der Änderung des Systems und Erträge aus der reinen Beteiligung) und der erwarteten Verluste (das sind die erwarteten negativen Sanktionen der Herrschaft, Zeitkosten usw.) dargestellt werden. Unter Anwendung der SEU-Theorie gilt eine Teilnahme dann als rational, wenn der Kosten- und Nutzenabgleich für die Teilnahme und gegen die Nichtteilnahme spricht.26 „Eine Beteiligung an revolutionärer Aktivität ist rational dann und nur dann, wenn qG > r(l-p)L“ (Coleman 1992: 220). Die Formel bringt zum Ausdruck, dass die Entscheidung mitzumachen, wesentlich von q, der vom Akteur geschätzten Wahrscheinlichkeit abhängt, dass sein Handeln den Erfolg der terroristischen Gruppe entscheidend beeinflusst. Das bedeutet nichts anderes, als dass ein rationaler Akteur auch gegen eine noch so schlechte Herrschaft nicht ‚aktiv’ werden wird, wenn er annehmen muss, dass sein Beitrag dafür unerheblich ist, denn dann würde ja die Einschätzung, dass ein Erfolg nicht zu erwarten ist (q = 0), sämtliche in Aussicht stehenden Erträge negieren und jede noch so verlockende Änderung würde ausbleiben.27 Weiterhin wird die Teilnahmeentscheidung von p, der vom Akteur geschätzten Wahrscheinlichkeit beeinflusst, dass die terroristische Gruppe erfolgreich sein wird, falls er sich beteiligt. Und r ist schließlich die vom Akteur geschätzte Wahrscheinlichkeit, dass er für seine Beteiligung bestraft wird, wenn er sich beteiligt und die Revolte erfolglos bleibt. L sind die möglichen Kosten einer Beteiligung an einer terroristischen Gruppe oder Aktion und G die möglichen Gewinne aus einer Beteiligung. Daraus folgt die These, dass die Entscheidung für eine terroristische Gruppe für die Einzelnen zuvorderst davon abhängt, wie hoch jeder seine eigene Bedeutung für den gewünschten Herrschaftsentzug einschätzt und wie hoch die Erfolgswahrscheinlichkeit insgesamt beurteilt wird, dass das gemeinsame Handeln die bestehende Ordnung verändert. Die relevanten Faktoren sind demnach die Erfolgsschätzung des eigenen wie auch des Gruppenhandelns. Politische Ideologien, religiöse Werte und/oder nationale Identitäten können erfolgsunabhängige Erträge setzen und als selektive Anreize wirken, so dass Einzelne durch ihren 24
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Eine andere, in diesem Fall Erfolg versprechende Erklärungsstrategie wäre, von der methodologischen Empfehlung so lange wie möglich an dem Handlungsprinzip festzuhalten und ‚Paradoxien’ über Situationsfaktoren zu erklären, abzuweichen und statt dessen zu klären, wann eine rein zweckrationale Orientierung durchaus ‚rational motiviert’ durch eine wertrationale ersetzt wird, wodurch Ideologien wie die Nationalstaatsidee oder religiöse Vorstellungen direkt und unabhängig von Relevanz-, Erfolgs- und Ertragsschätzungen wirken und einzelne dazu motivieren können, im Dienst der guten Sache alles zu tun. An dieser Stelle sei noch angemerkt, dass auch exit eine Handlungsoption aus Sicht der Einzelnen wäre, die aber zu keiner Umverteilung von Rechten im System führen würde, sondern letztlich zu dessen Auflösung (vgl. Hirschman 1974). Vgl. dazu die ausführliche Darstellung bei Coleman (1992: Kap. 18). 1-p ist die geschätzte Wahrscheinlichkeit, dass trotz der eigenen Beteiligung der Widerstand nicht erfolgreich sein wird (Coleman 1992: 219).
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(gewaltsamen) Protest den Startschuss für den Aufbau umfassender und organisierter Aktionen geben, weil sie in einer Art Domino-Effekt (bandwagon effect) die Erfolgs- und Ertragsschätzungen der anderen positiv beeinflussen. Allerdings können schon kleine Rückschläge das Gegenteil bewirken, was das immer prekäre Auf und Ab von Terrorgruppen wie im Falle der IRA erklärt. Die Dynamik des Konfliktverlaufs und der Terrorgruppen kann mit Hilfe von Schwellenwertmodellen beschrieben werden (vgl. Coleman 1992: 229), die die Rückwirkung von Teilnahmeentscheidungen auf die Kalkulation der anderen erfasst. Aus kleinen ‚Widerstandskernen’, die mit Ideologien begründbar sind, folgen Erfolgswahrscheinlichkeiten und eine Änderung der Kosten und Erträge (etwa durch die Schwächung der herrschenden Ordnung, stille und offene Unterstützungsleistungen aus der Gesellschaft). Kollektive Identitäten, ein gemeinsames Wert- und Ideensystem (Religion, Kultur) können demnach bei bestehender Unzufriedenheit als eine wichtige Voraussetzung für die Entstehung organisierter Oppositionsgruppen angesehen werden. Aus Sicht der Oppositionellen stellt ihre Ideologie nicht nur die herrschende Ordnung in Frage, sondern postuliert auch eine Alternative und definiert geschlossene Gruppen, in denen das öffentliche Gut-Dilemma auch durch direkte Kontrolle und Anreize überwunden werden kann (vgl. dazu auch Olson 1968: Kap. I). In der Anfangsphase einer Widerstandsbewegung sind solche Kerngruppen unerlässlich, sie müssen sich aber zunehmend Unterstützungsleistungen sichern. Gelingt es der Opposition zudem, die herrschende Ordnung bei jeder Gelegenheit in Frage zu stellen bzw. lächerlich zu machen, dann relativiert sich deren Sanktionsmacht und die Kosten einer Teilnahme sinken weiter bzw. die Erfolgswahrscheinlichkeiten steigen. Unterstützerkreise wirken verstärkend als potentielle Rekrutierungsmöglichkeiten und als Ressourcennachschub. Die Stärke der Herrschenden sind Sanktionsdrohungen, vielfältige Möglichkeiten Gruppenbildungen zu unterbinden und legale Formen der Beschwerde zu schaffen, d.h. ‚teile und herrsche’ zu spielen. Für alle Beteiligten gilt, dass sie möglichst schnell Erfolge brauchen, ihre Macht demonstrieren und positive Versprechen für die Zukunft und ihre Herrschaft machen sollten (vgl. Coleman 1992: 231ff.). Die demonstrative Präsenz von Ordnungskräften wie in Irland dient der Machtdemonstration und der Darstellung von Widerstandskosten bzw. der Stärke der Macht. Terrorakte – auch unverständliche – sind rational in dem Sinne, als sie die Ordnungsmacht In-Frage-Stellen und eine alternative Ordnung präsentieren. 4
Forschungspraxis
Terrorgruppen allgemein und die IRA insbesondere lassen sich unter der Frage diskutieren, angesichts welcher Situationskonstellationen sich rationale Akteure an Terrorgruppen und Terrorhandlungen beteiligen, um so eine herrschende Ordnung unter Einsatz illegitimer Gewalt zu ändern. Aus der vorgestellten Modellierung folgt, dass Ideologien, kollektive Identitäten und darauf aufbauende geschlossene Kerngruppen den Einstieg in kollektive und organisierte Protestformen erklären, da sie eine von Erfolgsschätzungen und Kostenund Nutzenüberlegungen unabhängige Teilnahmebereitschaft begründen. Die Etablierung und die Handlungsweisen terroristischer Vereinigungen werden aber immer prekär und instabil verlaufen, weil die herrschende Ordnung zurückschlagen und damit Erfolgsschätzungen und Ertrags- und Kostenkalkulationen durch Einsatz ihrer Machtressourcen immer wieder verändern. Zum anderen kann auch darauf hingewiesen werden, dass die geschlossene, exklusive Gruppenstruktur an Grenzen stoßen wird, wenn zunehmend mehr Personen
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rekrutiert werden, die nicht oder nur wenig mit der Gruppenideologie und -identität vertraut sind, und dass immer auch mit Verrätern und Spitzeln zu rechnen ist. Lösungen für diese Schwierigkeiten können Rituale, Lieder, Helden, Symbole usw. sein, da mit deren Hilfe die Ideologie und das Gemeinschaftsgefühl transportiert und weitergegeben werden können. Die oben genannten Faktoren und Zusammenhänge finden sich auf vielfältigste Art und Weise in der Literatur beschrieben und für die IRA ausgeführt. So wird immer wieder auf prekäre, schnell zusammenbrechende Erfolge, steigende und fallende Mitgliederzahlen und überraschende Aktionen hingewiesen (vgl. Hirschmann 2003, Hoffman 2003). Die Zellenorganisation und die zentral-hierarchische Führung von Gewaltaktivitäten verbunden mit strikten Mitgliedschaftsregeln belegen die These, dass nationale oder religiöse Gruppenidentitäten eine wichtige Grundlage sind, da sie die eigene Wichtigkeit enorm erhöhen, Verrat verhindern und Gruppenkerne ausbilden helfen, zum anderen aber der Ausweitung der Handlungen und der Mitgliedschaftsgewinnung enge Grenzen setzen. Und auch der willkürliche Einsatz von Gewalt gegen Dinge und Personen verweist darauf, dass sich die IRA immer wieder als glaubwürdige, starke Alternative zur britischen Herrschaft darstellen und deren Stärke in Frage stellen muss. Die Organisationsstruktur und die Handlungsweise der IRA sind so als Lösungen für die besprochenen Probleme der Erfolgsschätzung und des Trittbrettfahrens zu behandeln. Terrorgruppen können als ein Spezialfall kollektiven Zweck-Handelns28 thematisiert und im Rahmen eines mehrstufigen Erklärungsmodells unter Verwendung der Theorie der rationalen Wahl als der Versuch erklärt werden, eine als schlecht empfundenen Ordnung zu ändern, was aber voraussetzt, dass die besonderen Schwierigkeiten, gemeinsame Ziele zu realisieren, überwunden werden.29 Das Problem kollektiven Handelns hat verschiedene Modellierungs-Versuche gefunden, die allesamt Situationsfaktoren umfassen, die eine Überwindung der vorgestellten Problematik bewirken können. So hat etwa Hirschman (1974) zu zeigen versucht, wie sich ‚voice’ als ein Reparaturmechanismus in Organisationen etablieren kann und durch eine rational kalkulierte Loyalität verstärkt wird. Er hat am Beispiel der Wende 1989 in der DDR demonstriert, wann sich Widerspruch und Abwanderung wechselseitig verstärken und dadurch Protest bewirken (vgl. Maurer 2006b). James Coleman hat den kollektiven Herrschaftsentzug rationaler Akteure als Revolution ausgehend von Ideologien modelliert und damit explizit an das Theorem von Mancur Olson angeschlossen. Karl-Dieter Opp hat verschiedentlich (vgl. Muller/Opp 1986, Opp 1989, Opp et al. 1993) Protestformen untersucht und am Beispiel der Leipziger Montagsdemonstrationen explizit die Wirkung kultureller und sozialer Faktoren (Freundschaft, Kollegengruppen) für kollektive Protesthandlungen nachgewiesen. Innerhalb der Politikwissenschaften kann inzwischen von einer Tradition ‚rationaler Revolutionstheorien und -studien’ gesprochen werden, für die Charles Tilly (2003), Mark Lichbach (1994), Jack Goldstone (1994) u.a.30 wichtige Modellierungen 28
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Es handelt sich dabei um eine der Grundfragen der Sozialtheorie, die in der Soziologie klassische Lösungsvorschläge hervorgebracht hat, die allerdings entweder gemeinschaftsstiftende Werte und Rituale (Durkheim), eine legitime Ordnung und darauf aufbauende Herrschaftsverbände (Weber) oder soziale Akteure und deren Organisationsfähigkeit (Marx) voraussetzen. Diese Problemstellung, bekannt als öffentliche Gut-Problematik, kann auf die Errichtung und die Garantie einer vorteilhaften sozialen Ordnung ebenso angewandt werden wie auf die Entstehung und Struktur von Oppositionsgruppen zur Reform oder Aufhebung einer als schlecht bewerteten Ordnung oder auch auf die Bereitstellung von innerer Sicherheit, Parkbänken, Brücken, Eisenbahnschienen usw. Vgl. für die Darstellung der neueren Theorieentwicklung Zintl (1997) und für eine Zusammenstellung der neueren Theorien zum Terrorismus Witte (2005).
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vorgelegt haben, die auf der Basis der Rational Choice-Theorie das Entstehen von Revolutionen aus den Kosten-/Nutzenüberlegungen und Erfolgsschätzungen der Akteure ableiten und es nicht als irrationales Frustrationshandeln erfassen, das sich einer rationalen Erklärung verschließt (vgl. Maurer 2004: Kap. 4.3). 5
Perspektiven und Grenzen
Die Stärke des Programms liegt in der theoriegeleiteten Explikation von Situationsfaktoren, die das Zustandekommen eines kollektiven, zweckgerichteten Handelns angesichts der zugrunde liegenden Situationsproblematik begründen können und deren Spezifikation im Hinblick auf konkrete Besonderheiten, wie z.B. die Geschichte und die Struktur von Oppositionsgruppen wie der IRA, darlegen. Der Auf- und Ausbau von Terrorgruppen erklärt sich damit als Spezialfall eines zweckgerichteten kollektiven Handelns unter der besonderen Schwierigkeit gegen eine bestehende Herrschaftsordnung agieren zu müssen. Ich habe hier gezeigt, dass die Existenz kleiner, geschlossener und ideologisch fundierter Kerngruppen als ‚Initialzündung’ erfasst werden kann, die gerade für die Anfangsphase erklären kann, dass ein solches Handeln entgegen rationaler Einschätzungen sukzessive aufgebaut werden kann, da Ideologien einerseits Wichtigkeits- und Erfolgsrelevanzen setzen und andererseits auch selektive Anreize einer Mitgliedschaft in kleinen exklusiven Gruppen und deren Organisationsqualitäten bieten. Kann weiterhin gezeigt werden, dass solche Gruppen durch willkürliche Gewaltakte die herrschende Ordnung in Frage stellen, sich als gute und Erfolg versprechende Alternative präsentieren und Unterstützerkreise aufbauen können, dann kann aus den damit einhergehenden Erfolgsschätzungen sowie den Kosten- und Nutzenabwägungen die Etablierung von gewaltbereiten und dauerhaften Oppositionsgruppen gefolgert werden, die allerdings von kleinsten Rückschlägen und Änderungen in der Umwelt hart getroffen werden, da die Erfolgsschätzungen wieder sinken und die erwarteten Kosten einer Sanktion in die Höhe schnellen. Als ein besonderes Problem illegitimer Oppositionsgruppen kann in diesem Kontext der prinzipiell mögliche Verrat an die herrschende Ordnung gelten, da diese ja über enorme Belohnungsmittel verfügt. Die Thesen können in verschiedenen Handlungsfeldern und für verschiedene Aktionsund Widerstandsgruppen ausformuliert und empirisch überprüft werden, so dass einerseits das Grundmodell und das Wissen über Gruppen und vor allem Oppositionsgruppen systematisiert und verbessert werden würde, andererseits aber auch theoriegeleitete Vorschläge für die Praxis vorgetragen und geprüft werden können. So wäre auf die Anreize des institutionellen Umfelds (Belohnungen und Aufstiegsmöglichkeiten in der herrschenden Ordnung) bzw. auf die Wirkung kultureller und ideologischer Systeme zu achten, die eine erfolgsunabhängige Teilnahmebereitschaft bewirken können. Für die Analyse von Terrorgruppen wäre vor allem die These relevant, dass es in kleinen, ideologisch fundierten Gruppen – auch durch das Abschneiden von Rückzugsoptionen – gelingen kann, Mitglieder zu ‚teuren’ und ‚hochriskanten’ Handlungen zu motivieren, da sie ansonsten die direkten Vorteile der Gruppe verlören. Nur Außenstehenden erscheint ihr Handeln dann als irrational. Die vielen Heldenmythen, Lieder und Symbole in der Geschichte der IRA stützen dies. Die vorgestellte Erklärung zeigt, warum und wie einzelne Situationsfaktoren die Mitwirkung und damit den Aufbau von Widerstands- und Terrorgruppen begünstigen bzw. behindern. Sie ist allerdings in dieser Form noch auf zweckrationale Handlungen begrenzt (vgl. Braun 1999, Witte 2005, vgl. dazu auch Fußnote 24). In dieser Version des Erklä-
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rungsmodells, das die Wirkung von Situationsfaktoren über die SEU-Theorie erfasst, werden Glaubensvorstellungen, politische Ideologien oder lokale Zusammengehörigkeitsgefühle nur insofern berücksichtigt, als sie von den Einzelnen in Erträge und Kosten bzw. Erfolgsschätzungen überführt werden. Was den einen als Schwäche erscheinen mag, gilt den anderen jedoch als die Stärke des Programms. Es ist dann eine Stärke, wenn die Heuristik des Erklärungsprogramms in der systematischen Spezifikation sozialer Interdependenzen bzw. Problemlagen auf der Basis einer Handlungstheorie gesehen wird und das Anliegen der soziologischen Erklärungsarbeit in der Modellierung sozial relevanter Situationen und der Formulierung reichhaltiger empirischer Thesen auf der Makroebene gilt. Das schließt jedoch nicht grundsätzlich aus, Mehrebenenmodelle mit erweiterten Handlungstheorien auszustatten und dadurch realitätsgerechter zu gestalten. Damit sind aber in der Regel komplexere Modelle notwendig, und es wäre immer zu klären, ob eine solche Erweiterung der Handlungstheorie nötig ist.31 Eine zweite, bereits erfolgreich bearbeitete Herausforderung liegt in der Ausarbeitung allgemeiner Situationsmodelle, die für verschiedene Handlungsfelder soziale, ökonomische und politische Interdependenzen erschließen. Hier liegt meines Erachtens der größte Gewinn dieser Form soziologischen Arbeitens, da sich damit erstens über Disziplinengrenzen hinweg Modelle erarbeiten und anwenden lassen sollten. Empirische Untersuchungen der IRA würden dadurch eine theoretische Grundlage erhalten und wären an Forschungen in anderen Feldern anschließbar. Noch weitgehend offen ist dabei jedoch die Diskussion von Transformationsregeln mit deren Hilfe aus den erklärten Einzelhandlungen (emergente) soziale Phänomene abgeleitet werden (vgl. dazu Coleman 1992, Esser 1993). Trotz der mit dieser Erklärungs- und Arbeitsform verbundenen Probleme ist auch eine enorme Integrationskraft und Verbesserungsfähigkeit festzuhalten, die sich in den letzten Jahren nicht zuletzt in der Ausarbeitung der Badewanne, der Nutzung spieltheoretischer Modelle in der Soziologie und viel versprechender Versuche soziologisch adäquate Handlungstheorien zu entwickeln, gezeigt hat. Und es bleibt die Aussicht, im Rahmen einer erklärenden Soziologie das Wissen über soziale Probleme, Mechanismen und Institutionen systematisch zu verbessern und dabei an die anderen sozialwissenschaftlichen Teildisziplinen durch den Austausch und die wechselseitige Kritik an Modellen anschlussfähig zu bleiben bzw. zu werden. Wer diesen Anspruch teilt, wird weniger darunter leiden, dass das Bunte, Schillernde und Extravagante sozialer Phänomene und Akteure hinter dem Typischen zurücktritt.
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31
Die Umsetzung dieses Anspruchs in Modelle und deren empirische Prüfung steht noch am Anfang und es ist noch nicht völlig geklärt, welche Art der Erweiterung des handlungstheoretischen Kerns welche Mühen oder Erträge in der soziologischen Arbeit mit sich bringen wird.
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Terrorismus und andere Parasiten. Ein systemtheoretischer Deutungsversuch der Initialphase des nordirischen Konflikts
Wolfgang Ludwig Schneider Terrorismus, dies ist die Generalthese des vorliegenden Textes, kann systemtheoretisch als „Parasit“ im Sinne Michel Serres (1981) rekonstruiert werden, der enge evolutionäre Beziehungen zu weiteren Parasiten wie Protest und (Bürger)Krieg unterhält. Um diesen Gedanken am Beispiel des nordirischen Konflikts zu plausibilisieren, stelle ich zunächst das Konzept des parasitären Sozialsystems vor (1.), diskutiere Protest (2.) sowie (Bürger)Krieg und Terrorismus (3.) als Parasiten und untersuche dann die Entstehung der nordirischen Konfliktkonstellation zwischen 1967 und 1970 (4.-6.). 1
Parasitäre Sozialsysteme
Soziale Systeme, so die Annahme der Luhmannschen Systemtheorie, sind operativ geschlossene Systeme, die sich durch die kontinuierliche Verkettung von Operationen desselben Typs, nämlich von Kommunikationen, reproduzieren. Verschiedene soziale Systeme können sich gegeneinander differenzieren, indem sie die Verknüpfung von Kommunikationen an einer je systemspezifischen Leitdifferenz orientieren, d.h. durch binäre Codierung einen Binnenbereich der Prozessierung von Kommunikation konstituieren, der sich von einer Umwelt abgrenzt, in der Kommunikationen an anderen Unterscheidungen orientiert sind. Binäre Codierung bedeutet dabei, dass Kommunikationen der einen oder anderen Seite der systemspezifischen Unterscheidung zugewiesen werden, – wissenschaftliche Aussagen also etwa als wahr oder falsch definiert, Rechtsbehauptungen als zu Recht oder zu Unrecht erhoben deklariert bzw. politische Entscheidungsvorschläge auf überlegene Amtsmacht gestützt oder aus einer machtunterlegenen Position formuliert und dementsprechend markiert werden. Das Prinzip der binären Codierung systemischer Informationsverarbeitung lässt sich analytisch direkt auf den Informationsbegriff zurückführen. Bateson (1983: 582) definiert „Information“ als „Unterschied, der einen Unterschied ausmacht“. Ohne Zuordnung einer Mitteilung zu einer Seite einer Unterscheidung kann demnach keine Information erzeugt werden. Wenn eine Mitteilung durch Anschlusskommunikationen beiden Seiten eines systemspezfischen Codes zugeordnet wird, dann dokumentiert dies, dass ihr Inhalt die Möglichkeiten zur Fortsetzung der Kommunikation im System nicht einschränken kann, dass sie also keinen Unterschied ausmacht und insofern nicht informiert, sondern – durch die Aktivierung der einander ausschließenden Zuordnungsmöglichkeiten – den Code des Systems in eine Paradoxie treibt und dadurch Rauschen bzw. Lärm im System erzeugt.1 1
Vgl. dazu Serres informationstheoretische Bestimmung des Parasiten als „Störung einer Nachricht“ (1981: 20), als „Rauschen“ im Kommunikationskanal (1981: 27), als „Lärm“ (1981: 29), der das System zeitweilig „unterdrückt“, indem er es „auf eine bestimmte Weise oszillieren“ lässt.
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Wolfgang Ludwig Schneider
Lärm/Rauschen kommt in jedem System vor. So in der Wissenschaft, wenn eine Theorie als umstritten gilt, d.h. sie von einigen Vertretern der zuständigen Disziplin als „wahr“, von anderen hingegen als „unwahr“ bezeichnet wird; ebenso im Recht, wenn gleichartiges Handeln von einem Gericht als rechtswidrig, vom anderen jedoch als rechtskonform beurteilt wird. Im Recht kann hier die Rechtsprechung der Obergerichte mit den daraus abgeleiteten Leitsätzen für alle gleichartigen Fälle dafür sorgen, dass der Lärm nicht überhand nimmt. In der Wissenschaft kann ein derartiger Dissens in die Form einer offenen Kontroverse gebracht werden, über deren Ausgang durch weitere Forschung zu entscheiden ist. Die Zuordnung eines eindeutigen Codewerts kann aufgeschoben und durch die vorläufige Zuordnung eines gradualisierten Wertes ersetzt werden (vgl. Stichweh 1990: 386). So z.B., wenn Hypothesen als plausibel, aber empirisch noch nicht hinreichend belegt gelten. Ebenso werden Codewertungen als reversibel behandelt (Stichweh 1990: 386). In der Wissenschaft geschieht dies, indem jede Zuordnung als hypothetisch verstanden wird, in der Politik durch den Wahlmechanismus, der es ermöglicht, dass die heute machtunterlegene Opposition zukünftig in Regierungsämter einrücken kann. Gradualisierung vertagt die Zuordnung eindeutiger Codewerte und damit die Zuspitzung auf strenge Alternativität; Reversibilität löst die Paradoxie der Zuordnung einander ausschließender Codewerte durch Auseinanderziehung in der Zeit. Lärm kann so durch Flexibilisierung und durch Verfahren der Reparatur gedämpft bzw. soweit eingehegt und kanalisiert werden, dass er die Kommunikation im System nicht sonderlich stört, ja sogar selbst mit zur Reproduktion des Systems genutzt wird. Der Lärm kann sich freilich auch als Dauerirritation etablieren, die immer wieder in den Vordergrund drängt und die codierte Informationsverarbeitung mit penetrantem Rauschen durchsetzt, das durch die gängigen Reparaturverfahren nicht unter Kontrolle gebracht werden kann. Stark gestörte Bereiche innerhalb eines Systems können dann zu ökologischen Nischen für die Bildung parasitärer Sozialsysteme werden, die in der Lage sind, den störenden Lärm für sich selbst zu verwerten.2 Wenn etwa unschlichtbare Kontroversen durch eine neue universalistische Theorie ausgelöst werden, die mit dem Anspruch auftritt, die Leitprobleme und Leitunterscheidungen einer Disziplin zu reformulieren, so dass für eine Vielzahl von wissenschaftlichen Aussagen Wahrheit und Unwahrheit zugleich beansprucht wird, dann kann dieser Lärm zum Anknüpfungspunkt für die Formierung konkurrierender wissenschaftlicher Schulen werden, die – auf der Basis eigenständiger Zuordnungskriterien – intern Aussagen als wahr behandeln, die extern als unwahr behandelt werden und umgekehrt. Parasitäre Sozialsysteme stellen die verlorene Eindeutigkeit der Bezeichnungsverhältnisse innerhalb eines Systems durch Einziehung einer neuen Innen/Außen-Differenz regional wieder her. Sie entwickeln eigene Unterscheidungen und Operationen, die darauf spezialisiert sind, aus Lärm Information zu gewinnen und so den paradoxen Gebrauch des Codes im Wirtssystem zu entparadoxieren. Die Bildung parasitärer Systeme im hier gemeinten Sinne ist also ein evolutionärer Mechanismus der order-from-noise Produktion.3 Er führt zur Ausbildung von sekundären Systemen innerhalb eines Systems, deren Reproduktion den Lärm im Wirtssystem zugleich nutzt und verstärkt.
2
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„Theorem: Der Lärm bringt ein neues System hervor.... Auf den ersten Blick führt dieser Parasit eine Unterbrechung herbei, doch auf den zweiten bringt er eine Konsolidierung“ (Serres 1981: 29); „... so ist das Rauschen der Sturz in die Unordnung, ist es der Anfang einer neuen Ordnung“ (Serres 1981: 121). Vgl. dazu auch Luhmann (1987: 163) mit der These, „... dass Paradoxien der erwähnten Art Problemformen sind, die Systembildung ermöglichen und in Gang setzen“. Zur evolutionären Bedeutung des Parasiten vgl. Serres (1981: 282): „Und plötzlich kommt der Gedanke, ob die Evolution nicht unter einem bestimmten Gesichtspunkt das Werk der Parasiten ist“, und kurz darauf ent-
Terrorismus und andere Parasiten
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Protest als Parasit
Politische Kommunikation ist primärcodiert durch die Differenz machtüberlegen/machtunterlegen, die unter den Bedingungen demokratischer Politik die Zweitform der Unterscheidung von Regierung und Opposition annimmt (vgl. Luhmann 2002: 91ff. und 97ff.). Demokratische Politik holt den Anspruch auf Entmachtung der Machthaber damit ins System und domestiziert ihn zugleich durch Aufschub und die Bindung an periodisch stattfindende Wahlen als anerkanntes Verfahren zur Substitution von Amtsinhabern. Das Aufeinanderprallen einander ausschließender Macht- und Gegenmachtansprüche, das den primären Code der Politik in die Paradoxie treiben würde, wird dadurch vermieden. Kritisieren Oppositionsvertreter Regierungsentscheidungen, dann bestreiten sie in der Regel nicht, dass die jeweiligen Amtsinhaber berechtigt sind, die attackierten Entscheidungen zu treffen, sondern bezweifeln nur deren sachliche Angemessenheit. Die Kritiker ziehen nicht die aktuelle Machtverteilung in Zweifel, sie empfehlen sich nur durch kontinuierlichen Widerspruch als zukünftig zu wählende Alternative. Die Machtfrage wird so zugleich deaktualisiert und in der Kommunikation kontinuierlich präsent gehalten. Mit jedem öffentlich erhobenen Widerspruch präsentiert sich die Opposition als alternative Regierung im Wartestand. Gleichwohl kann die Berechtigung zu bestimmten politischen Entscheidungen auf der Basis von Amtsmacht (einschließlich der Möglichkeit, bestimmte Entscheidungen, die von Anderen dringend gefordert werden, nicht zu treffen) auch unmittelbar bestritten werden. Die Gleichzeitigkeit des Anspruchs auf und der Bestreitung von Amtsmacht bedeutet, dass beide Seiten der Differenz machtüberlegen/machtunterlegen bezeichnet werden. Als Unterschied, der im Blick auf bestimmte Entscheidungsfragen keinen Unterschied macht, wird der politische Code dann durch Rauschen gestört. Das Rauschen kann lokal begrenzt bleiben und durch institutionelle Verfahren schließlich eliminiert werden. So etwa, wenn die Verfassungsmäßigkeit eines gerade verabschiedeten Gesetzes, d.h. die Macht der regierenden Mehrheit zu seiner rechtsgültigen Beschließung bestritten und dieser Konflikt dann durch Anrufung des Verfassungsgerichts geklärt wird. Ebenso kann es aber auch zum Anknüpfungspunkt für die Bildung eines parasitären Systems werden, das eigene Unterscheidungen und Operationen entwickelt, die darauf spezialisiert sind, aus dem Rauschen Information zu gewinnen und eigene Strukturen aufzubauen. Dies ist z.B. der Fall, wenn politischer Widerspruch die operative Form des Protests annimmt, dessen fortgesetzte Inszenierung die Reproduktion einer Protestbewegung ermöglicht (vgl. dazu Japp 1993, Luhmann 1997: 847ff.). Protest bestreitet die Berechtigung von Amtsinhabern zu bestimmten Entscheidungen, die zu treffen von letzteren als legitime Ausübung ihrer Amtsmacht behauptet wird. Der politische Code wird so in die Paradoxie der gleichzeitigen Behauptung der Verfügung und Nicht-Verfügung über die Macht zu diesen Entscheidungen getrieben. Protest zielt auf die Alarmierung der Öffentlichkeit und die Mobilisierung Dritter als Bündnispartner gegenüber den Amtsinhabern. Er strebt nach der Entfachung einer Bewegung, die dann, wenn sie zustande kommt, sich nur durch Stabilisierung des Rauschens am Leben erhalten und durch seine Verstärkung expandieren kann, indem sie immer wieder neue, zu den Themen der Bewegung passende Anlässe findet bzw. neue Themen entdeckt, an denen sich der Protest entzündet. Häufig verknüpft mit Aktionsmustern des „zivilen Ungehorsams“, die nicht nur kontrollierte Rechtsverstöße, sondern schiedener Serres (1981: 282): „Die Evolution bringt den Parasiten hervor, der wiederum die Evolution hervorbringt.“
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ebenso die Beanspruchung des Rechts zu solchen Rechtsverletzungen einschließen, wird dabei sowohl in der Politik als auch im Rechtssystem verstärktes Rauschen erzeugt. Artikuliert durch die kommunikative Operation des Protests wird die Paradoxie der gleichzeitigen Zuschreibung von Macht und Machtlosigkeit an die Adresse von Amtsinhabern in der beschriebenen Weise produktiv und gewinnt dabei zugleich an Schärfe. Die Machtfrage wird darin aktuell aufgeworfen, zur Entscheidung gedrängt und kann gerade deshalb die politische Kommunikation in eine Situation der Blockierung steuern. Eine Vertagung durch Einschaltung verfassungsgerichtlicher Klärung oder durch Verschiebung auf zukünftige Wahltermine gilt dann als inakzeptabel. Die Revision der attackierten Entscheidungen wird jetzt gefordert. Wenn Wahlen als Möglichkeit zur Auflösung des Widerstreits zwischen Regierenden und Protestierenden in Betracht kommen, dann nur, wenn sie jetzt stattfinden. Dies nicht zuletzt deshalb, weil es nur schwer möglich ist, auf längere Frist immer wieder eine hohe Zahl von Teilnehmern für Proteste zu mobilisieren. Protestbewegungen sind in besonderem Maße vom Nachlassen der Teilnahmemotivation bedroht. Wenn Mobilisierungserfolge nicht rasch in die Durchsetzung politischer Forderungen umgemünzt werden können, muss mit massiver Abwanderung gerechnet werden. Die Forcierung des Drucks durch die Wahl spektakulärer Formen der Masseninteraktion, die zugleich längerfristige Durchhaltefähigkeit signalisieren sollen und die Teilnehmer in stärkerem Maße binden (wie z.B. das Zelten auf Plätzen vor Regierungsgebäuden, die Besetzung von Bauplätzen, auf denen abgelehnte technische Großprojekte errichtet werden sollen, serielle Demonstrationen zu einem wöchentlichen Jour fixe u.ä.), kann verstanden werden als Versuch zur Lösung dieses Problems. Die Effekte der Mobilisierung sind freilich schwer zu kontrollieren: Demonstrationen lassen sich als Deckung nutzen, aus deren Schutz heraus unerkannt Steine geworfen oder Brandsätze geschleudert werden können. Bei Konfrontationen zwischen Demonstranten und Gegendemonstranten muss mit Gewalt gerechnet werden. Wenige Steinwürfe – gedeutet als Beginn massiver Gewalthandlungen – können u.U. genügen, um den polizeilichen Einsatz von Gummiknüppeln, Wasserwerfern und Tränengas auszulösen. Friedlicher Protest kann so durch Gewaltgebrauch unterminiert, d.h. die operative Reproduktion des Parasiten nun selbst mit Lärm durchsetzt werden, der das System – zunächst nur begrenzt auf bestimmte Phasen – zum Umkippen bringt, so dass, was als Protestdemonstration begann, im Straßenkampf einen konkurrierenden und jede friedliche Form der Konfliktaustragung „versklavenden“ (Hermann Haken) Ordnungszustand erreicht. Unter geeigneten Bedingungen können solche Phasen des Gewaltgebrauchs sich ausweiten und bis hin zum offenen Bürgerkrieg eskalieren. Gleichermaßen gefährdet durch die konträr gelagerten Möglichkeiten des Zusammenbruchs und der gewaltsamen Eskalation, ist Protestkommunikation in beiden Richtungen instabil. Dabei können beide Formen der Instabilität einander verstärken: Gewaltanwendung (gleichgültig, ob von militanten Teilnehmern, von feindselig gestimmten Umstehenden bzw. Gegendemonstranten oder polizeilichen Sicherungskräften ausgehend) kann die Abwanderung friedlich Protestierender auslösen; umgekehrt kann Abwanderung die Zuflucht zu Gewaltaktionen als spektakulärem Substitut für die Mobilisierung eindrucksvoller Teilnehmerzahlen veranlassen. Ist Protest zu riskant bzw. wenig aussichtsreich, weil hinreichende Unterstützung fehlt und die Inhaber von Amtsmacht in ihren Entscheidungen dadurch kaum zu beeindrucken sind, dann erscheint terroristische Gewalt u.U. als attraktive Alternative. Durchführbar von
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kleinen, verdeckt operierenden Gruppen sind terroristische Anschläge hervorragend geeignet, um die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Ziele dieser Gruppen zu lenken, deren Gegenmachtansprüche spektakulär zu inszenieren und um die Grenzen staatlicher Amtsmacht zu demonstrieren (vgl. dazu Waldmann 2005: 159ff.). In dem Maße, in dem dann – wie häufig der Fall – der staatliche Kampf gegen den Terror auch Unbeteiligte im vermuteten Umfeld von Terrorgruppen in Mitleidenschaft zieht, trägt er u.U. mit dazu bei, ein Milieu von Unterstützern und Sympathisanten zu erzeugen bzw. zu stabilisieren, das günstige infrastrukturelle Bedingungen für die Fortsetzung terroristischer Aktionen bietet. Terroristische Organisationen und Netzwerke können so als parasitäre Sozialsysteme den Lärm, der im politischen System durch die Kommunikation von Macht- und Gegenmachtansprüchen produziert wird, in einen eigenständigen Operationstyp umformen und als Reproduktionsgrundlage nutzten.4 Trifft Protest hingegen auf wachsende soziale Resonanz und wird er zugleich immer mehr von Gewalt durchsetzt, dann kann er unmittelbar in eine (bürger)kriegsförmige Auseinandersetzung umschlagen.
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(Bürger)Krieg und Terrorismus als Parasiten
Krieg (inklusive Bürgerkrieg) und Terrorismus lassen sich als Parasiten der Politik verstehen, welche den Lärm des politischen Systems durch Gebrauch physischer Gewalt in je unterschiedlicher Weise in eine alternative operationsfähige Form transformieren.5 Ich untersuche im Folgenden zunächst, wie Krieg als Parasit der Politik funktioniert und wähle als Ausgangspunkt dafür die klassische Form des Krieges, wie sie bei Clausewitz skizziert wird.6 Im Krieg werden die konfligierenden Machtansprüche auf sich wechselseitig als Gegner verstehende Konfliktparteien zugerechnet. Die Konfliktparteien konstituieren sich auf der Basis der binären Unterscheidung von Freund und Feind. Physische Gewalt, die im Kontext von Politik als symbiotisches Symbol eingesetzt wird, das machtgestützte Kommunikationen mit Drohkapazität ausrüstet, fungiert als Medium des Krieges. Als kommunikative Operation, durch deren serielle Verknüpfung sich ein kriegerischer Konflikt reproduziert, kann mit Clausewitz das Gefecht bezeichnet werden.7 Dessen Austragung ist orien-
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Terroristische Aktionen verstoßen darüber hinaus gegen Regeln des Strafrechts. Zugleich beanspruchen die Täter für ihre Aktionen typisch den Status legitimer Kampfhandlungen, die nicht nach strafrechtlichen Maßstäben zu beurteilen sind. Sie behaupten insofern die Rechtmäßigkeit eines als rechtswidrig klassifizierbaren Tuns (z.B. als Ausdruck eines legitimen Befreiungskampfes gegen fremde Aggressoren). Terroristische Anschläge werden so auch zur Lärmquelle im Rechtssystem. Die Produktion von Rauschen im politischen System durch die gleichzeitige Kommunikation von Machtund Gegenmachtansprüchen ist also nicht auf den Bereich der binnenstaatlichen Politik beschränkt, sondern kann sich ebenso zwischen Regierungen unterschiedlicher Staaten ergeben. Konfligierende Ansprüche auf legitime Entscheidungsmacht werden im letzteren Falle häufig mit Hinweis auf internationales Recht bzw. vertragliche Vereinbarungen geltend gemacht. Derartige Konflikte können den Boden für zwischenstaatliche Kriege als Parasiten bereiten. Ich konzentriere mich dabei auf diejenigen Aspekte der Clausewitzschen Darstellung, die unmittelbar in die Konzeptualisierung des Krieges als parasitäres System überführt werden können. Zur Diskussion der Differenzen zwischen dieser systemtheoretischen Begriffsstrategie und dem Ansatz von Clausewitz vgl. Schneider (2007). „Das Gefecht ist die eigentliche kriegerische Tätigkeit, alles übrige sind nur Träger desselben. Gefecht ist Kampf und in diesem ist die Vernichtung oder Überwindung des Gegners der Zweck ...“ (Clausewitz 1832/1963: 102).
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tiert an der binären Codierung Sieg/Niederlage.8 Als Programme fungieren militärische Strategie und Taktik9 sowie die jeweils verfolgten Kriegsziele. Die System/UmweltDifferenz wird erzeugt durch die Unterscheidung zwischen involvierten und nicht involvierten Adressen. Diese Aufgabe erfüllt die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten. Weil Kriege territorial gebunden ausgetragen werden, geschieht dies auf zweifache Weise: Die territorial externe Umwelt des kriegerischen Konflikts, so etwa in Relation zu unbeteiligten Drittstaaten, wird durch die Beanspruchung und Zuerkennung des Status der Neutralität erzeugt; die Unterscheidung zwischen Soldaten und Zivilisten markiert demgegenüber eine Umweltgrenze, die innerhalb des Kampfgebiets zu wahren ist. Die skizzierte Form des klassischen Krieges erscheint primär an den Staatenkriegen des 18. und 19. Jahrhunderts orientiert. Auf moderne Kriege hingegen scheint sie nicht recht zu passen. Deren Besonderheiten lassen sich jedoch ohne Schwierigkeiten als je spezifische Modifikationen der Orientierungsschemata des klassischen Krieges darstellen: (i) Am wenigsten leuchtet vermutlich die Beschränkung des Krieges auf die Auseinandersetzung zwischen feindlichen Armeen ein. Angehörige der Zivilbevölkerung werden immer mit zu Opfern kriegerischer Auseinandersetzungen. Die Markierung der System/Umwelt-Differenz durch die Unterscheidung Soldaten/Zivilisten erscheint insofern zumindest prekär, wenn nicht gar illusorisch. – Dieser Einwand trifft auf der rein faktischen Ebene zu. Er erreicht aber nicht die Ebene sinnhafter Schematisierung kriegerischen Handelns, um die es hier geht. Jedes Handeln produziert Effekte, die über seine Grenzen hinausreichen, ohne dass dies im Widerspruch zur These der operativen Geschlossenheit des Systems steht. Systemgrenzen sind Sinngrenzen. Diese Sinngrenzen werden wesentlich dadurch stabilisiert, dass Effekte, die für die Reproduktion des Systems irrelevant sind, ignoriert bzw. externalisiert werden. Für die Schädigung von Zivilpersonen und zivilen Einrichtungen durch kriegerische Aktionen leistet dies die berüchtigte Formel des „Kollateralschadens“. Mit diesem Euphemismus werden entsprechende Auswirkungen kriegerischer Aktionen als nichtintendierte Effekte deklariert, die bedauerlich, aber mehr oder weniger unvermeidlich erscheinen und für die deshalb die Zurechnung von Verantwortung tendenziell abgelehnt wird. Vorsätzliche Übergriffe auf die Zivilbevölkerung (wie etwa Plünderungen, Vergewaltigungen und Massaker) werden demgegenüber meist als abweichendes Verhalten von einzelnen Soldaten oder Soldatengruppen definiert, das die normativen Begrenzungen legitimen kriegerischen Handelns verletzt und deshalb – zumindest im Prinzip – zu verfolgen und zu bestrafen ist. Dies gilt freilich in der Regel nicht für Gewalthandlungen gegen Zivilisten, die – etwa weil ihnen unterstellt wird, Partisanen gedeckt zu haben – als getarnt operierende Unterstützungskräfte der feindlichen Streitmacht betrachtet werden.10 Vorsätzlich eliminiert wird die durch das Schema von Soldat und Zivilist markierte System/Umwelt-Differenz freilich im totalen Krieg (vgl. Kaldor 2000: 43). Dies geschieht 8 9
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„Das Wichtigste im Kriege bleibt also immer die Kunst, seinen Gegner im Gefechte zu besiegen“ (Clausewitz 1832/1963: 236). Zur Unterscheidung zwischen Strategie und Taktik vgl. die folgende Definition von Clausewitz: „Es ist also nach unserer Einteilung die Taktik die Lehre vom Gebrauch der Streitkräfte im Gefecht, die Strategie die Lehre vom Gebrauch der Gefechte zum Zwecke des Krieges ...“ (Clausewitz 1832/1963: 53f., Hervorhebungen im Original). Die bisherige Diskussion zeigt, dass die System/Umwelt-Differenz kriegerischer Operationen durchaus mit Hilfe der Unterscheidung Soldat/Zivilist stabilisiert werden kann. Sie zeigt aber auch, dass die Anwendung dieser Unterscheidung nicht nach dem Muster eines starr vorgegebenen Orientierungsschemas zu denken ist, sondern weiten Spielraum für ihre situationsabhängig variierende und insofern opportunistische Interpretation lässt.
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sowohl durch die Bombardierung von als „kriegswichtig“ geltenden zivilen Zielen, wie etwa Fabriken, als auch durch vorsätzliche Bombardierung der Zivilbevölkerung mit dem Ziel, die Moral der feindlichen Truppen zu zerstören und sie zur Kapitulation zu veranlassen.11 In den so genannten „neuen Kriegen“ (Kaldor 2000) richtet sich der Gebrauch von Gewalt primär gegen die Zivilbevölkerung, typisch orientiert an dem Ziel der „ethnischen Säuberung“ durch Ermordung und systematische Vertreibung bestimmter Bevölkerungsgruppen sowie durch Unbewohnbarmachung ihrer Siedlungsgebiete (vgl. Kaldor 2000: 158f.). Bürgerkriege, die häufig durch Putsch- bzw. Revolutionsversuche oder die Autonomiebestrebungen von (ethnischen, religiösen, nationalen) Minderheiten ausgelöst werden, kommen in unterschiedlichen Formen vor. Sie können dem Modell des klassischen Krieges entsprechen (wie etwa der amerikanische Unabhängigkeitskrieg und der amerikanische Sezessionskrieg zwischen Nord- und Südstaaten), sich dem Muster der „neuen Kriege“ nähern, als offener Kampf zwischen rivalisierenden Milizen oder als Guerillakrieg geführt werden. Ausgangspunkt können gewalttätige Unruhen zwischen einander feindselig gegenüberstehenden Bevölkerungsgruppen sein, die Schutz- und Verteidigungsbedarf erzeugen, die deshalb rasch zur Bildung bewaffneter Milizen führen und damit die organisatorischen Grundlagen für einen reproduktionsfähigen kriegerischen Gewaltkonflikt etablieren. (ii) Der Guerillakrieg (geführt als asymmetrischer Krieg zwischen einer regulären und einer Guerilla-Armee) teilt mit dem totalen Krieg die Unterminierung der Differenz zwischen Soldaten und Zivilisten. Der Impuls zu ihrer Auflösung geht hier freilich nicht von den regulären Truppen, sondern von den Guerillakämpfern aus, welche oft den Status des Zivilisten als Tarnung benutzen. Gleichwohl sind Guerillakämpfer militärisch organisiert, greifen feindliche Streitkräfte an und versuchen Territorien unter ihre Kontrolle zu bringen. Auch wenn eine direkte Konfrontation mit der feindlichen Hauptstreitmacht in der Regel vermieden wird und statt dessen Hinterhalte gelegt und kleinere Abteilungen in überfallartigen Attacken angegriffen werden, bleibt das Gefecht, orientiert an der Unterscheidung von Sieg und Niederlage, noch immer die primäre Form der operativen Reproduktion des bewaffnet ausgetragenen Konflikts. Die zeitliche Begrenzung und damit auch der orientierende Code werden hier freilich schon diffus: Bei erkennbarer Übermacht des Feindes ziehen sich Guerillatruppen rasch zurück und geben so das von ihnen kontrollierte Territorium frei, um es bei nächster Gelegenheit, und sei es nur während der Nacht oder für einige Stunden des Tages, wieder zu besetzen. Weil Territorialgewinne und -verluste typisch als Kriterium für Sieg oder Niederlage im einzelnen Gefecht gelten, die Kontrolle über ein besetztes Territorium von den gegnerischen Truppen aber u.U. jeweils im Wechsel nur zu bestimmten Stunden des Tages bzw. der Nacht ausgeübt wird, verliert die Unterscheidung von Sieg und Niederlage ihre Eindeutigkeit. Stattdessen kumulieren Situationen der Unentscheidbarkeit zwischen den beiden Seiten des Codes. Ähnliche Konstellationen gibt es zwar auch im klassischen Krieg. So insbesondere unter Bedingungen des Stellungskrieges, wenn die kämpfenden Armeen zwar einander hohe Verluste zufügen, aber keine dauerhaften Terraingewinne erreichen können. Solche Situationen des Patts, die den Code des Krieges außer Kraft zu setzen scheinen, werden hier frei11
Als Extrembeispiel dafür seien nur die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki genannt. Diese Bombenabwürfe waren auch keine kriegerischen Aktionen vom Typus des Gefechts. Dazu fehlte die notwendige „Feindberührung“. Sie zielten gleichwohl auf eine möglichst rasche und erfolgreiche Beendigung des Krieges, traten also an die Stelle von Konfrontationen im Gefecht. Geleitet durch die Unterscheidung von Sieg und Niederlage, wurden sie dabei weiterhin durch den für kriegerisches Handeln konstitutiven Code orientiert.
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lich als zeitlich befristete Anomalie betrachtet, die es durch Rückkehr zum Bewegungskrieg möglichst rasch zu überwinden gilt. Der Guerillakrieg kann diese Situation bereits umkehren. Guerillaarmeen versuchen solche Situationen der Unentscheidbarkeit häufig systematisch herzustellen, feindliche Streitkräfte durch Aufgaben der Territorialsicherung zu binden, sie in einer Situation ständiger psychischer Anspannung aufgrund jederzeit möglicher Überraschungsangriffe zu halten und sie dadurch auf die Dauer zu zermürben. (iii) Terrorismus lebt von der vollständigen Unterminierung des Kriegscodes. Praktiziert in einer Situation der höchst asymmetrischen Verteilung der Gewaltmittel, schließt Terror die Möglichkeit des Sieges durch Überlegenheit der Terroristen tendenziell aus. Im militärischen Sinne agieren Terroristen in der Position von aktuell hoffnungslos Unterlegenen, die sich durch fortgesetzte Gewaltausübung demonstrativ weigern, ihre Unterlegenheit anzuerkennen. Sie kämpfen verdeckt, als Zivilisten getarnt und unter sorgfältiger Vermeidung der offenen Konfrontation mit den übermächtigen Streitkräften des Gegners. Angriffe gegen unbeteiligte Dritte werden als Pressionsinstrument (z.B. durch Geiselnahme und Erpressung) sowie als Strategie der Publizitätserzeugung eingesetzt. Terrorismus reproduziert sich deshalb nicht als Serie von Gefechten. Seine Elementaroperation ist der Anschlag in verschiedenen Erscheinungsformen, wie Bombenanschlägen auf militärische und zivile Ziele, Entführungen, Erschießungen und ähnlichen Aktionen.12 Weil der Anschlag eine Situation des offenen Kampfes sorgfältig zu vermeiden sucht, kann er nicht ‚siegreich’, wie das kriegerische Gefecht, wohl aber ‚erfolgreich’ abgeschlossen werden. Die Leitdifferenz oder der Code des Terrorismus, an der sich die Durchführung der einzelnen Operation orientiert, ist deshalb die Unterscheidung zwischen erfolgreichem Schlag und Fehlschlag. Die Reaktion des übermächtigen Gegners kann unter diesen Voraussetzungen in der Regel nur zeitlich versetzt zur terroristischen Aktion realisiert werden. Die gewaltsame Auseinandersetzung zwischen Terroristen und regulären Polizei- oder Militäreinheiten nimmt deshalb die Form einer Sequenz zeitlich versetzter Schläge und Gegenschläge an.13 Als Programme des Terrorismus fungieren Strategie und Taktik sowie variable terroristische Ziele, die in unterschiedlicher Weise (ethno-nationalistisch, religiös etc.) begründet sein können. Erfolg oder Misserfolg eines terroristischen Anschlags bemisst sich nicht nach militärischen Kriterien, wie der Einnahme eines Territoriums oder der Vernichtung feindlicher Truppen. Ein terroristischer Anschlag kann nach militärischen Kriterien fehlschlagen. So z.B. die Geiselnahme des „Schwarzen September“ bei den Olympischen Spielen 1972 in München. Die meisten Geiselnehmer wurden getötet, ihre Forderungen nicht erfüllt. Was diese Aktion dennoch zu einem großen Erfolg machte, war die überwältigende Resonanz in den Massenmedien. Es gelang den Attentätern, die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf den Palästinakonflikt sowie auf die Ziele der palästinensischen Terrororganisationen zu lenken und, zunächst nur für die Dauer der Geiselnahme, eine Regierung zu zwingen, sie als Verhandlungspartner zu akzeptieren. Primäres Kriterium für den Erfolg terroristischer Operationen ist also nicht die Erreichung bestimmter Einzelziele. Sie fungieren vielmehr typisch als spektakuläre Kommunikationen, die danach trachten, öffentliche Aufmerksam12
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Von einem Anschlag kann immer dann gesprochen werden, wenn eine gewaltsame Aktion ausgeführt wurde, die den erklärten Feind direkt oder indirekt treffen soll, die ihn unvorbereitet trifft und deshalb aktuell wirksame Gegenwehr in der Regel ausschließt. Dabei ist es erst die Reaktion, die eine Gewaltaktion als terroristischen Anschlag definiert. Alternative Definitionen sind jederzeit möglich. So, wenn eine Explosion als „Unfall“ oder privater Racheakt, oder eine Entführung als Versuch der kriminellen Erpressung von Lösegeld interpretiert und verfolgt werden.
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keit auf einen darin angezeigten Konflikt zu fokussieren, Unterstützung zu gewinnen und auf diesem Wege die Absender solcher Mitteilungen als relevante Adressen im Kontext des politischen Systems zu etablieren. Gelingt es, durch spektakuläre Kommunikation ein hinreichendes Feld von Sympathisanten zu gewinnen, dann kommt es u.U. zur Ausbildung spezifischer Einrichtungen der strukturellen Kopplung mit dem politischen System: Um zugleich terroristisch operieren sowie als politische Adresse am Verhandlungstisch agieren und sich legal an Wahlen beteiligen zu können, haben ethno-nationalistische Terrororganisationen, wie die baskische ETA und die IRA, einen „politischen Arm“ ausdifferenziert. Die öffentliche Resonanz auf terroristische Operationen kann auf diese Weise auch in politische Unterstützung durch Wahlstimmen umgemünzt werden. Umgekehrt werden die Stimmen von Wählern zu einem Kriterium für die Selektion terroristischer Strategien. Damit ist ein Pfad markiert, der zur Domestizierung von Terror und im günstigsten Fall zur (Re)Absorption des zugrunde liegenden Konflikts durch das politische System führen kann. Obwohl Terroristen militärisch unterlegen und deshalb nicht in der Lage sind, ihren übermächtigen Gegner mit Waffengewalt zu besiegen, fehlen oft (bedingt durch Kampfmodus und Organisationsform von Terrorgruppen) die Voraussetzungen dafür, um dem terroristischen Gegner durch militärischen Kampf eine endgültige Niederlage zu bereiten.14 Beide Seiten der Differenz Sieg/Niederlage werden dann negiert. Der Code des Krieges wird dadurch in eine Paradoxie getrieben. In Relation zu Krieg und Bürgerkrieg ist Terrorismus deshalb eine alternativ wählbare Form des gewaltsam ausgetragenen Konflikts, der die Unterminierung des kriegerischen Codes herbeiführt und dessen Blockierung als Chance für die Bildung eines Konfliktsystems eigener Art nutzt. Als Zwischenresümee lässt sich deshalb festhalten: Wie Krieg und Bürgerkrieg an der Unterminierung des politischen Codes parasitieren, so der Terrorismus darüber hinaus an der Unterminierung der Leitdifferenz des Krieges. Als Parasit des Parasiten der Politik kann Terrorismus dabei u.U. als Einrichtung zur Repolitisierung eines Konflikts fungieren.15 Damit möchte ich meine allgemeine systemtheoretische Deutung des Terrorismus beenden und mich nun dem hier zu untersuchenden speziellen Fall der IRA zuwenden. Ich konzentriere mich hier auf die Konstitutionsphase des jüngeren nordirischen Konflikts in den Jahren 1967-1969.
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Die Proteste der nordirischen Bürgerrechtsbewegung
In der Literatur zum nordirischen Konflikt wird die Anlaufphase der so genannten „Troubles“ üblicherweise auf die 1960er Jahre datiert. Von zentraler Bedeutung erscheint dabei 14
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Terroristen ‚steigen aus’, finden vielleicht keine hinreichende Unterstützung in der Bevölkerung und können keine neuen Kämpfer mehr rekrutieren, die an die Stelle der Gefangenen, Getöteten oder Ausgestiegenen treten. Terrorismus mag deshalb abebben, zum Erliegen kommen – und dann doch wieder aufflammen. Wie eine Armee besiegt werden Terroristen jedoch typisch nicht. Die Wahlen zum nordirischen Parlament vom März 2007 stehen exemplarisch für diese Möglichkeit: Als stärkste Parteien gingen daraus die Democratic Unionist Party (DUP) des radikalen protestantischen Predigers Ian Paisley und Sinn Fein, der politische Arm der IRA hervor, und damit gerade die einander in inniger Feindschaft verbundenen Exponenten der 30jährigen nordirischen „Troubles“. Ob es ihnen gelingt, wie von Großbritannien als Voraussetzung für die Reetablierung der Selbstverwaltung der nordirischen Provinzen durch das Parlament in Belfast verlangt, eine dauerhaft funktionsfähige gemeinsame Regierung zustande zu bringen, wird sich zeigen.
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die Entstehung der Bürgerrechtsbewegung. Zunächst vor allem (aber nicht ausschließlich) getragen von Mitgliedern der wachsenden katholischen Mittelklasse, zielte diese Bewegung auf die Durchsetzung von Reformen, welche die Benachteiligung der Katholiken, insbesondere bei der Vergabe von Arbeitsplätzen, von kommunalen Wohnungen sowie durch das Wahlrecht und den ungleichen Zuschnitt von Wahlkreisen, beenden sollten. Ähnlich wie die amerikanische Bürgerrechtsbewegung, die als inspirierendes Vorbild galt, ging es den nordirischen Bürgerrechtlern um die Durchsetzung des universalistischen Standards der Gleichbehandlung aller Bürger und um die Skandalisierung offensichtlicher Verletzungen der Gleichheitsnorm. Die beklagten Ungleichheiten waren weder zu leugnen, noch plausibel zu rechtfertigen. In der britischen Öffentlichkeit traf die Bürgerrechtsbewegung deshalb auf positive Resonanz. Sie gewann Unterstützung und Zulauf, versuchte durch eine wachsende Zahl von Protestaktionen ihren Forderungen Nachdruck zu verschaffen und gefährdete damit die asymmetrische Machtverteilung in Nordirland immer mehr. Durch ihre universalistische und reformistische Stoßrichtung hoben sich die Proteste der Bürgerrechtsbewegung deutlich gegen die tradierte konfessionelle und politische Konfliktlinie ab. Es ging dabei weder um die Einklagung konfessionspezifischer Belange, noch um die Loslösung Nordirlands von Großbritannien und dessen Vereinigung mit der irischen Republik. Der unionistische Staat wurde akzeptiert. Das Thema, mit dem sie die Öffentlichkeit und die unionistische Regierung konfrontierte und durch das sie sich zugleich als identifizierbare Protestbewegung konstituierte,16 war nur der Nachweis der Existenz und die Forderung nach der Aufhebung partikularistischer Privilegierungen und Diskriminierungen. Die Mitteilungsform, die für die öffentlichkeitswirksame Kritik von Ungleichbehandlung und für die Publikation der Reformforderungen gewählt wurde, waren Protestdemonstrationen und -kundgebungen. Gewaltlosigkeit des Protests war dabei ebenso verbindlich wie der Verzicht auf Zeichen und Symbole, die auf die primäre konfessionelle und politische Spaltungslinie Nordirlands (= protestantische Loyalisten/Unionisten vs. katholische Republikaner) Bezug nahmen. Allen Bemühungen, Distanz gegenüber der tradierten Konfliktkonstellation zu gewinnen, stand freilich entgegen, dass es doch gerade eng mit ihr verknüpfte Ungleichheiten waren, die den Anlass für die Formierung der Bürgerbewegung und das Thema ihres Protests bildeten. Die Ablösung des Konflikts von der sozial eingespielten Freund/FeindDistinktion durch universalistische Argumentation und Akzentuierung der Sachdimension konnte deshalb kaum gelingen (vgl. English 2004: 93f.). Als neue Protestbewegung parasitierte sie an der überlieferten Konfliktlinie, an die sie deshalb gebunden blieb. Sich primär gegen Ungleichheiten wendend, unter denen in besonderem Maße Katholiken litten und die vor allem Protestanten begünstigten, wurde die Bewegung hauptsächlich von Katholiken unterstützt. Nationalisten und sozialistische Republikaner (einschließlich der IRA, die zu Beginn der 1960er Jahre den bewaffneten Kampf eingestellt hatte und die bei vielen Demonstrationen Ordner bereitstellte) engagierten sich von Beginn an intensiv in der Bewegung (vgl. English 2004: 90ff.). Von den Radikalen im Lager der protestantischen Unionisten, die darin nur eine schlecht getarnte katholisch-republikanische Vereinigung sahen, wurde sie ebenso entschlossen abgelehnt und bekämpft.
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Zur Unterscheidung Protest(ierende)/Thema als Leitdifferenz, welche die Reproduktion von Protestbewegungen als sozialen Systemen eigenen Typs orientiert, vgl. Japp (1993: 231) sowie Luhmann (1991: 136f.) und (1997: 854f.)
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In paradigmatischer Deutlichkeit wird die Reproduktion der tradierten Konfliktkonstellation am Ablauf der Protestmärsche der Bürgerbewegung sichtbar: Deren Ankündigung und Durchführung löste Auseinandersetzungen aus, die meist dem gleichen Muster folgten wie die Auseinandersetzungen, die sich um die traditionellen Märsche und Paraden protestantisch-unionistischer bzw. katholischer und republikanischer Vereinigungen entspannen, sobald diese „gegnerisches Gebiet“ verletzten.17 Durchquerte oder berührte die angemeldete Route einer Demonstration primär protestantisch bewohnte Gebiete, dann wurde dies als „Provokation“ betrachtet, löste Einsprüche und häufig den Gebrauch einer wohlerprobten Strategie zur Blockierung des „feindlichen“ Umzugs aus, - nämlich die Anmeldung einer protestantischen Parade zur gleichen Zeit und am gleichen Ort: Um Zusammenstöße zu vermeiden, verbot die Polizei dann in vielen Fällen erwartungsgemäß die beantragte Demonstrationsroute und schrieb einen anderen Streckenverlauf vor. De facto setzte sie damit protestantische Einsprüche gegenüber den Bürgerrechtlern durch. Dies wiederum stimulierte den Widerstand radikalerer Bürgerrechtsgruppierungen (wie etwa People’s Democracy), die darin eine neuerliche Form nicht hinzunehmender Diskriminierung sahen und das polizeiliche Verbot deshalb auf dem Wege zivilen Ungehorsams zu durchbrechen versuchten. Die nordirische Polizei (die RUC = Royal Ulster Constabulary, die sich zum größten Teil aus der protestantischen Bevölkerung rekrutierte) reagierte darauf wiederum häufig mit raschem und übermäßig hartem Schlagstockeinsatz und mit Auflösung der Demonstration (wobei häufig umstritten blieb, ob dem Einsatz der Polizei Übergriffe seitens der Demonstranten vorausgegangen waren). Gewaltsame Konfrontationen mit protestantischen Gegendemonstranten waren nicht selten. Im Zusammenhang damit, bzw. nach gewaltsamer Auflösung von Bürgerrechtsdemonstrationen durch die Polizei, kam es immer wieder zu ausgedehnten Krawallen. Obwohl thematisch klar von den traditionellen Paraden unterschieden, kann mit Blick auf die Mitteilungsform und das skizzierte sequenzielle Muster des typischen Ablaufs festgestellt werden, dass der Protest der Bürgerbewegung an die territorial gebundene Form (Umzug) und das Ablaufmuster umstrittener Paraden18 assimiliert wurde, durch die sich die 17
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Wie der Cameron-Report (1969: 25) feststellt, war dies freilich nicht die Regel: „It must be kept in mind that there is a traditional practice, which has for long governed processions and demonstrations in Northern Ireland, and which recognizes that certain areas are hostile or friendly to Unionist or Nationalist organisations respectively. Consequentely it is the custom for processions under these auspices to avoid such areas. For example in Belfast an Orange Lodge does not march on the Falls Road nor would a Catholic organisation march on the Shankill Road.“ – Die Bürgerrechtsbewegung hielt sich nicht an diesen Comment, weil sie ihrem universalistischen Anspruch nach Distanz gegen jede konfessionsspezifische Position hielt und dies durch die Wahl entsprechender Marschrouten, welche gleichermaßen durch Straßen mit dominant protestantischen wie katholischen Anwohnern führen sollten, dokumentieren wollte (vgl. Cameron Report 1969: 40). Ironischerweise führte so gerade der Versuch, die konfessionellen Trennungslinien zu überwinden, zu deren verschärfter Aktivierung durch territoriale Konflikte. Die konfliktpräventive Wirkung dieses Comments war freilich auch zuvor schon erheblich eingeschränkt. Dies auch deshalb, weil Veränderungen in der konfessionellen Zusammensetzung der Anwohnerschaft oft dazu führten, dass Paraden, die weiterhin ihren tradierten Routen folgten (und deren meist protestantische Veranstalter auf der „Bewahrung dieser Tradition“ insistierten!), durch Straßen mit mehrheitlich gegenkonfessionellen Bewohnern führten. Das Konfliktmuster der Auseinandersetzung um die Routenführung von Umzügen, das durch die Bürgerrechtsbewegung aktiviert wurde, war deshalb nicht neu. Die charakteristischen Phasen dieses Ablaufmusters waren: Anmeldung einer Parade; Widerspruch gegen die vorgesehene Route; alternativ dazu bzw. bei Ablehnung des eingelegten Widerspruchs: Anmeldung einer konkurrierenden Parade zur gleichen Zeit und am gleichen Ort; polizeilich verfügte Änderung der Route; Auseinandersetzungen mit der Polizei und/oder Zuschauern der anderen Konfession; gewalttätige Krawalle.
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konfliktäre Beziehung zwischen Protestanten und Katholiken in Nordirland auch in friedlicheren Zeiten reproduzierte.19 Gegenstand der umstrittensten Paraden war (und ist) die Erinnerung an einen militärischen Sieg oder eine erfolgreiche Verteidigung bzw. an Helden- und Märtyrertum in Kämpfen, in denen Katholiken und Protestanten einander (direkt oder mittelbar) als Gegner gegenüber standen.20 Jede dieser Veranstaltungen aktualisiert so die Konfliktkonstellation zwischen Katholiken und Protestanten in doppelter Weise: einerseits auf der Inhalts- oder Informationsebene durch die Erinnerung an vergangene Kämpfe, andererseits in der performativen Dimension der akuten Konfliktbeziehung, die durch die Abhaltung der Paraden immer wieder neu erzeugt wird. Die Paraden inszenieren im Akt der Mitteilung das, woran sie erinnern, – die Bewährung im Kampf gegen Angehörige der anderen Konfession. Mitteilungshandlung und Information, Beziehungs- und Inhaltsaspekt werden in der aktuellen Wiederholung der Konfliktkonstellation, über die sie erinnernd berichten, zu einer performativ-konstativen Einheit verschmolzen. Auf beiden Ebenen, der performativen wie der konstativen, regiert die Differenz von Freund und Feind. Die als vergangene erinnerte und die als Folge der gewählten Form der kommunikativen Vergegenwärtigung aktuell reproduzierte Feindschaft bestätigen einander. Die Gegenwart wird so zur Reproduktion der Vergangenheit. Der Protest der Bürgerrechtsbewegung konnte dieser Struktur nicht entkommen. Getragen von Katholiken und Republikanern und gerichtet gegen die Diskriminierung von Katho19
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Der Cameron-Report (1969) weist in § 10 ausdrücklich auf dieses Problem hin, wenn er im Blick darauf, wie die Spaltung der Bevölkerung in ein protestantisch-loyalistisches und ein katholisch-republikanisches Lager die Wahrnehmung der bürgerrechtlichen Protestdemonstrationen beeinflußte, vermerkt: „In such a community, fears and suspicions are mutual and pervasive and any agitation for change and reform is likely to be regarded as an aspect, and indeed a function, of group antagonism. (...) A tendency so to regard this type of agitation is increased when the agitation is expressed through public processions, because in Northern Ireland the public processions has historically expressed the territorial dominance of one or another group, but especially that of the Protestant majority. Thus the Orange Order fought a long campaign in the nineteenth century to secure its right to march and to this day it is still a matter of major significance to prevent a rival group from trespassing on an established or recognised terrain.“ – Unter diesen Prämissen mussten von Katholiken veranstaltete Umzüge, insbesondere, wenn sie Straßen mit primär protestantischen Anwohnern berührten, als provokative Terrainverletzung gedeutet werden. Gleiches galt, wenn etwa Paraden der Orangisten an dominant katholischen Wohngebieten vorbeiführten, was immer wieder wechselseitige Beleidigungen, Steinwürfe und anschließende Krawalle auslöste. „Most hostility is generated towards parades by the Protestant marching orders such as the Orange Order and the Apprentice Boys of Derry“ (Jarman 2003: 93). Die Paraden des Orange Order (des größten protestantischen Ordens) erinnern an die Schlacht von Boyne von 1690, in der der protestantische König Wilhelm von Oranien den ehemaligen katholischen König Jakob II. besiegte. Die katholisch-jakobitischen Truppen belagerten auch Londonderry, das ein Zufluchtsort protestantischer Siedler war. Dem Gedenken an die rechtzeitige Schließung des Stadttores und an das Ende dieser Belagerung ist der jährliche Marsch der Apprentice Boys in Londonderry gewidmet. Eine der bekanntesten republikanischen Paraden erinnert an den Osteraufstand von 1916, der – durchgeführt nach dem Modell eines Putsches – eine von englischer Herrschaft befreite irische Republik zu installieren suchte (d.h. die anti-unionistische Utopie der katholischen Nationalisten realisieren wollte), aber rasch und blutig scheiterte. – Die Paraden der Protestanten dominieren deutlich: „Historically the state facilitated and encouraged Orange parades whilst constraining Green (i.e. Irish Nationalist) parades in the years after Northern Ireland was created in 1921 ... Parades by the Protestant loyal orders were established as virtual rituals of the state and supported by government ministers, lesser politicians and establishment figures, in contrast public events organized by nationalists were suppressed by the police. Orange parades dominated public space, while Green events were constrained to nationalist dominated areas“ (Jarman 2003: 93f.). Die Proteste der Bürgerbewegung mit ihrer Weigerung, sich auf katholische Wohngebiete zu beschränken, richteten sich auch gegen diese Dominanz der protestantischen Marschkultur im öffentlichen Raum.
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liken, erschien dieser Protest nur als modifizierte Fortsetzung des tradierten Konfliktmusters. Eine „katholische“ Demonstration und die damit verbundene „Okkupation“ protestantischen Territoriums zu tolerieren hätte – aus einer radikal protestantisch-loyalistischen Perspektive beobachtet – das kampflose Akzeptieren einer Niederlage bedeutet, die es unbedingt zu vermeiden galt, wollte man nicht auf längere Sicht die Subversion und Auflösung des unionistischen Staates, dessen Einverleibung in eine gesamtirische Republik und die Unterwerfung der Protestanten unter die Herrschaft einer katholischen Mehrheit in einem gesamtirischen Staat riskieren.21 War der bürgerrechtliche Protest nur eine modifizierte Waffe in diesem bekannten Kampf, der über das Überleben oder den Untergang des protestantisch-unionistischen Staates entschied, dann musste er behindert und blockiert, mussten seine Argumente ignoriert bzw. als getarnte Infragestellung des nordirischen Staates durch anti-loyalistische Republikaner demaskiert und diskreditiert werden. Diesem Deutungs- und Reaktionsmuster der radikalen Unionisten entsprach auf der Gegenseite die Position der Republikaner und Sozialisten, die in der Bürgerrechtsbewegung und ihrem Dachverband, der 1967 gegründeten Northern Ireland Civil Rights Assoziation (= NICRA), ein mobilisierungstaugliches Instrument der Agitation sahen, dessen Gebrauch nicht nur zu Reformen führen, sondern – durch die Aufdeckung der apartheid-ähnlichen Grundlagen Nordirlands – das unionistische Staatsgebilde erschüttern, seine protestantische Regierung stürzen und einer Vereinigung mit der südirischen Republik zu einem sozialistischen Gesamtstaat den Weg bereiten sollte. Dabei war es Teil der Strategie der radikaleren Gruppen der Bürgerrechtsbewegung, wie etwa von People’s Democracy, durch Formen des zivilen Ungehorsams (zu denen auch das Durchbrechen von Polizeiketten durch bloßen Einsatz vordringender Körper gehörte), übermäßige Polizeigewalt systematisch zu provozieren, um auf diese Weise die strukturelle Gewalt gegenüber der katholischen Minderheit öffentlich sichtbar zu machen, die Polizei und den unionistischen Staat dadurch zu diskreditieren und das offensichtlich gewordene Unrecht für die verstärkte Mobilisierung in weiteren Kampagnen zu nutzen. Die Protestbewegung parasitierte damit nicht mehr allein am Lärm des tradierten Konflikts, sondern versuchte, selbst zur Vermehrung dieses Lärms beizutragen, um daraus weitere Wachstumsimpulse zu gewinnen. Der universalistischen Semantik, in der sich der Protest der Civil Rights-Bewegung artikulierte, standen demnach auf beiden Seiten des Konflikts partikulare Definitionen kollektiver Identität gegenüber, die sich aufeinander im Schema von Freund und Feind bezogen. Zwischen einander so definierenden Gegnern fehlte eine tragfähige Grundlage für die Behandlung der Protestthemen auf der Inhaltsebene im Modus von kontroverser Argumentation und Kompromissbildung. Eingespannt in die kontinuierlich tradierte antagonistische Relation von Protestanten und Katholiken, wurde jedes Thema durch relevante Teilgruppen auf beiden Seiten zur Reproduktion der konfliktären Struktur der Beziehung umfunktioniert. Die Gewaltfreiheit des Protests war deshalb ebenso wie der Einsatz oder Verzicht auf gewaltsame Gegenproteste nur eine taktische Frage. Beobachtet mit dem Freund/Feind-Schema, durch dessen Gebrauch sich die beiden antagonistischen Kollektive als bekannte Adressen im Rahmen des tradierten Konflikts reproduzierten, war jede Konfrontation – sei es offen oder latent – codiert durch die Differenz von Sieg und Niederlage, d.h. im Code des (Bürger)Krieges. Unter diesen Bedingungen bedeutete Gewaltverzicht nur, dass andere Mittel 21
„In Orange eyes civil rights meant Catholic rights and those ‘rights’ nothing more than the thin edge of the wedge of subversion. Consequently the establishment tended to react first with scorn and then truculent violence“ (Bell 1973: 402).
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hier und jetzt besser geeignet erschienen, um dem Gegner eine Niederlage beizubringen. Insofern indizierte die Abwesenheit von Gewalt nicht Frieden, sondern nur eine Situation des kalten Krieges, die jederzeit in eine gewaltsame Konfrontation umschlagen konnte, wie die Krawalle in Verbindung mit den traditionellen Paraden und den Bürgerrechtsdemonstrationen immer wieder zeigten. Die für kriegerische Konflikte charakteristische kommunikative Codierung war hier jeweils schon aktiviert. Es bedurfte deshalb nur eines schwachen Anstoßes durch kontingente Bedingungen der Situation, um deren Komplettierung durch das Umschalten auf Gewalt als operativen Modus der Konfliktaustragung auszulösen. Die Gewalt im Umfeld des Protestes stand in offenem Widerstreit zu dessen erklärter Gewaltlosigkeit und trieb den Protest in die Paradoxie (Produktion von Gewalt durch dezidiert gewaltlosen Protest). Sie erzeugte somit eine andere Art von Lärm, die den Lärm des Protests zu übertönen und schließlich durch konkurrierende Parasiten zu ersticken drohte, die ihn als Reproduktionsgrundlage zu nutzen wussten, – nämlich Bürgerkrieg und Terrorismus. Wie und unter welchen Bedingungen es tatsächlich dazu kam, will ich im nächsten Abschnitt zunächst beschreiben. Daran schließt dann die theoretische Analyse dieser Umbruchsphase an. 5
Eskalation der Gewalt und Intervention der britischen Armee
Am 12. August 1969 löste die jährliche Parade der protestantischen Apprentice-Boys durch die Innenstadt von Londonderry am Rande der Bogside, einem katholischen Viertel, Unruhen aus. „The Derry violence had begun when Catholic and Protestant crowds exchanged insults, stones and bottles as the Protestant parade passed through the city center in the afternoon of the 12th. Later, the pattern of police-versus-Catholic violence emerged, with prolonged disturbances in the Bogside area of the city: rioting, street clashes and the burning of buildings met with police baton charges and the use of tear gas in what became known as the battle of the Bogside“ (English 2004: 102). – Zwischen dem 13. und dem 16. August kam es auch in Belfast zu gewaltsamen Auseinandersetzungen: „Then, over 14-16 August, there was dramatic and appalling violence in the Falls and Crumlin Road area involving Catholics, Protestants and the police. Many Catholic families were ordered out of their homes by Protestants, and there were claims that police (and members of the police reserve, the B Specials) stood while it happened. Numerous people were killed. The disturbances had already seen the RUC fatally injuring several ... . Over 14-15 August, another four Catholics were killed by the forces of the state during the Belfast turbulence ...“ (English 2004: 102f.). Aufruhr, Vertreibung von Katholiken aus ihren Häusern, Tote – Nordirland schien am Beginn eines Bürgerkriegs zu stehen. Am 14. August 1969 marschierte die britische Armee in Londonderry und am 15. August in Belfast ein, um die Situation zu beruhigen. Das Verhalten der nordirischen Polizei hatte der katholischen Bevölkerung deutlich gemacht, dass sie nicht auf den Schutz durch das staatliche Gewaltmonopol bauen konnte. Die Erwartung, protestantische Übergriffe abzuwehren, wurde stattdessen an die IRA adressiert. Die IRA aber hatte im Laufe der zurückliegenden zehn Jahren den bewaffneten Kampf nahezu aufgegeben und den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit immer mehr auf bürgerrechtliche Aktionen verschoben, mit denen sie langfristig auch die protestantischen Arbeiter als Bündnispartner für die Aufhebung der Teilung Irlands und die Errichtung eines sozialistischen irischen Gesamtstaats zu gewinnen suchte. Auch verfügte sie nur noch über wenige Waffen.
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Sie war deshalb der Aufgabe, die katholischen Viertel zu verteidigen, nicht gewachsen. Dies trug ihr eine Neudeutung ihres Namens ein: Graffiti an Häuserwänden des katholischen Falls-Viertels in Belfast höhnten: „IRA = I Run Away“ (vgl. Neumann 2002: 68). Die einmarschierenden britischen Soldaten bezogen Stellung zwischen den protestantischen und katholischen Wohngebieten. Dadurch beendeten sie die protestantischen Angriffe auf die katholischen Viertel. Von vielen Katholiken wurde die britische Armee deshalb zunächst als Schutzmacht begrüßt, die exakt diejenige Rolle übernahm, welche die IRA hätte übernehmen sollen. – Für eine kurze Zeitspanne schienen die historisch vordefinierten Konfliktfronten (mit den Protestanten und Großbritannien auf der einen sowie den irischen Katholiken auf der Gegenseite) durchbrochen und die daraus resultierenden Erwartungsmuster außer Kraft gesetzt. Szenen der „Fraternisierung“ zwischen Katholiken und britischen Soldaten werden aus dieser Phase des Nordirland-Konflikts berichtet (vgl. Neumann 2002: 77): Katholische Frauen in Belfast brachten den wachhabenden Soldaten frühmorgens auf dem Tablett ein Frühstück auf die Straße; in den Pubs der katholischen Wohnviertel soll mancher britische Soldat beim Gang auf die Toilette ohne Bedenken sein Gewehr an der Theke zurückgelassen haben. Nur wenig später war ein solches Verhalten undenkbar. Zu erklären ist, wie es zu dieser Transformation der Situation kommen konnte. Nach der Stationierung der britischen Streitkräfte zwischen den katholischen und protestantischen Wohngebieten war zunächst eine befriedende Pufferzone geschaffen. Die katholischen Viertel blieben nun weitgehend unbehelligt. Mit der Trennung der Wohnviertel wurden de facto autonome katholische Territorien etabliert. Die staatlichen Ordnungsstrukturen waren dort außer Kraft gesetzt. Die IRA besetzte diese Lücke und avancierte zur primären Ordnungsmacht. Als zentraler Träger quasi-staatlicher Funktionen in den Gebieten der Katholiken machte sie sich nahezu unentbehrlich. Junge Männer drängten zahlreich in die Organisation. Durch die engen Bindungen ihrer Mitglieder an Familie und Nachbarschaft war die IRA tief in der katholischen Gemeinschaft verwurzelt. Geprägt von der Erfahrung der Wehrlosigkeit bei den Überfällen der Protestanten, stellte die neue Generation der Aktivisten nicht den bürgerrechtlichen Protest, sondern die militärische Reorganisation der IRA ins Zentrum ihrer Anstrengungen. Ende 1969 spaltete sich diese Gruppe als provisorische IRA (= PIRA) von der sich seitdem als offizielle IRA (= OIRA) bezeichnenden Stammorganisation ab und beherrschte rasch das Feld im katholischen Lager. Am Beginn einer Serie von Ereignissen, die der nordirischen Konfliktkonstellation diejenige Gestalt gaben, die für die folgenden Jahrzehnte charakteristisch sein sollte, stand wieder ein Umzug des Orange Order (genauer: seiner Jugendorganisation), der Ende März 1970 in Belfast stattfand. Der Umzug führte am Rande (!) des katholischen Viertels Ballymurphy vorbei. Dass es zu Konfrontationen kommen würde, war deshalb zu erwarten. Um dieser Gefahr zu begegnen, wurden Verhandlungen zwischen den Einwohnern des Viertels und den Orangisten geführt und dabei vereinbart, dass während des Vorbeizuges keine Musik gespielt werden sollte.22 Als die Parade am katholischen Viertel vorbeizog, „...schlug die Kapelle die Übereinkunft in den Wind und spielte ein Lied der Sektierer“ (Adams 1996: 167). Nach der Darstellung von Adams genügte dies, um die Situation rasch eskalieren zu lassen: „Proteste wurden laut, und die eingesetzten britischen Soldaten gingen gegen die Leute aus Ballymurphy vor und gewährten dem Orangistenmarsch Geleitschutz. Nun brach das Chaos aus. Bewohner von Divismore Park prügelten sich mit britischen 22
Ich gebe hier und im Folgenden die Darstellung aus der Autobiographie von Gerry Adams (1996: 167) wieder.
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Soldaten, die daraufhin zunächst ihre Schlagstöcke und dann CS-Gas einsetzten. Die britische Armee übernahm die frühere Rolle der RUC als Beschützer triumphalistischer Aufmärsche und geriet in die erste größere Auseinandersetzung mit den Nationalisten“ (Adams 1996: 167). Wie schon die protestantisch dominierte Polizei bei den Unruhen vor dem britischen Einmarsch, so versuchte nun die britische Armee in Belfast einen katholischen Wohnbezirk unter Einsatz von CS-Gas zu besetzen. Vier Tage lang anhaltende Straßenkämpfe waren die Folge. Die Auseinandersetzung, die als Prügelei am Rande des Viertels begonnen hatte, zog nun nahezu alle Einwohner des Viertels in Mitleidenschaft und führte, so die Feststellung von Adams, zu deren Solidarisierung gegen die britische Armee. Was an dieser Darstellung durch eine der zentralen Führungsfiguren von IRA und Sinn Fein frappiert, ist die Geringfügigkeit des genannten Konfliktanlasses. Ein protestantischer Umzug, der katholisches Gebiet berührt; das vereinbarungswidrige Spielen eines Liedes (mit möglicherweise anti-katholischem Text, wobei aber in der Darstellung von Adams nur vom Spielen, nicht aber vom Singen des Liedes die Rede ist). Das Vorgehen der britischen Soldaten gegen die protestierenden Bewohner des katholischen Viertels erscheint als Teil des Versuchs, der Parade Geleitschutz zu geben. In der Übernahme der Rolle des „Beschützers triumphalistischer Aufmärsche“ der Protestanten sieht Adams (1996: 167) den zentralen Fehler der Briten, der zur Konfrontation mit der katholischen Bevölkerung führt. Die Kennzeichnung „triumphalistisch“ (triumphus = Siegeszug) blendet dabei erkennbar die Unterscheidung Sieg/Niederlage als Differenz auf, die den Kontext für die feindselige Beobachtung der protestantischen Parade und deren Definition als Provokation umreißt. Der Code des Krieges erscheint damit als Beobachtungsprämisse eingeschaltet. Dies gilt zumindest in der Retrospektive des Berichterstatters, der seinen Blickwinkel freilich nicht gegenüber der Perspektive der Akteure in der berichteten Situation abgrenzt und dadurch Perspektivenkongruenz suggeriert. Der Umstand, dass überhaupt aktiver Schutz für die Orangistenparade erforderlich war, lässt darüber hinaus vermuten, dass die Soldaten „katholische“ Versuche zu Attacken auf den Umzug abwehren mussten.23 All dies passt zu dem schon oben skizzierten Muster, das den Ablauf von Paraden regierte, die gegenkonfessionelles Terrain berührten. Für die Bewohner des betroffenen Viertels war dies eine Grenzverletzung, die schon für sich genommen als Herausforderung zu betrachten war, die nicht widerstandslos hingenommen werden durfte. Für die jeweiligen Sicherungskräfte (gleichgültig ob britische Soldaten oder nordirische Polizei) ergab sich daraus eine schwierige Lage. Was immer sie in dieser Situation taten, konnte als Parteinahme für die eine oder andere Seite registriert und beantwortet werden.24 Ähnliche Situationen der Konfrontation zwischen katholischer Bevölkerung und britischer Armee wiederholten sich bei weiteren Paraden im gleichen Jahr. Im Anschluss an eine Orangistenparade kam es am 27. Juni 1970 zu einem Schusswechsel zwischen pro23
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Vgl. dazu Neumann (2002: 79), der zur Startphase der Konfrontation klar und unmissverständlich feststellt (allerdings ohne Quellenangaben für diese Darstellung zu nennen): „Auf provozierendes Gehabe der Oranier hin begannen katholische Jugendliche damit, Steine und Molotow-Cocktails auf die Marschteilnehmer zu werfen. Schritt für Schritt entwickelte sich ein Straßenkampf ... . Verzweifelt versuchte die Armee, eine Pufferzone zwischen Katholiken und Protestanten zu errichten. Nach kurzer Zeit richtete sich die Aggression der Steinewerfer auch gegen das schottische Regiment, das ... weder Katholiken noch Oranier unter seine Kontrolle bringen konnte.“ Ein Verbot der Paraden bzw. entsprechend problematischer Marschrouten konnte daran kaum etwas ändern. Wenn solche Verbote gegenüber protestantischen Veranstaltern ausgesprochen wurden, führte auch dies leicht zu gewaltsamen Konfrontationen, nun aber zwischen protestantischen Loyalisten und den Ordnungskräften. – Ich werde die dadurch erzeugte Konstellation unten detaillierter analysieren.
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testantischen Loyalisten und Mitgliedern der IRA, bei denen drei Protestanten getötet wurden. Wenige Tage nach dieser und weiteren Schießereien (am 3. Juli), durchsuchte die englische Armee das katholische Falls-Viertel in Belfast großflächig nach Waffen. „Sie (die britischen Truppen; W.L.S.) fanden ein paar wenige Waffen, sahen sich aber mit dem Widerstand der Bewohner konfrontiert, die fürchteten, sie könnten schutzlos weiteren loyalistischen Pogromen ausgesetzt sein. Bei den folgenden Ausschreitungen fand sich eine Gruppe von Soldaten von einer aufgebrachten Menschenmenge umzingelt, große Mengen von CS-Gas wurden abgefeuert. Dann drängten 3000 Soldaten mit Jeeps und Landrovern in das Viertel, von Hubschraubern aus der Luft unterstützt“ (Adams 1996: 173f.). Der weitere Ablauf der Aktion wird von Adams so dargestellt: „Sechsunddreißig Stunden hielten die Truppen das Gebiet vollständig militärisch besetzt und durchsuchten während der Ausgangssperre Haus für Haus. Sie schlugen mit Spitzhacken und Gewehrkolben Türen ein, rissen Kaminverkleidungen und Fußbodendielen heraus, zerschlugen Kücheneinrichtungen, Wände, Decken und religiöse Statuen. Sie nahmen dreihundert Personen fest. Es wurden insgesamt zweiundfünfzig Pistolen, fünfunddreißig Gewehre, sechs automatische Gewehre und zweihundertfünfzig Schuss Munition gefunden – eine in diesem Zusammenhang bescheidene Beute“ (Adams 1996: 174). Adams fasst die Reaktion der katholischen Bevölkerung auf diese Ereignisse zusammen: „Tausende, die nie Republikaner gewesen waren, unterstützten nun aktiv die IRA. Andere, denen Gewalt vollkommen fremd war, sahen in ihr nun eine praktische Notwendigkeit“ (Adams 1996: 176).25 Gerade weil Adams nicht als unparteiischer Augenzeuge betrachtet werden kann, ist es umso interessanter, dass er den Beginn der heftigen Konfrontation zwischen der britischen Armee und der katholischen Bevölkerung nicht als bloßes Ergebnis des rücksichtslosen Einsatzes militärischer Brachialgewalt darstellt, sondern als eine eskalierende Sequenz mit den folgenden Stufen skizziert:26 (1) Schusswechsel mit Toten auf protestantischer Seite; (2) Beginn der Suche nach Waffen in einem katholischen Viertel durch die Armee; (3) Gegenwehr der katholischen Bewohner und Bedrohung der britischen Soldaten; (4) Einsatz von CS-Gas durch die britische Armee und anschließende generalstabsmäßig durchgeführte Durchkämmung des gesamten Viertels, bei der mehrere Zivilisten getötet und Dutzende verletzt worden seien; (5) Radikalisierung der katholischen Bevölkerung und Unterstützung des gewaltsamen Kampfes der PIRA. Adams’ Beschreibung bringt vor allem die katholisch-republikanische (Retro)Perspektive zur Geltung. Sie lässt aber auch erkennen, dass sowohl die britischen Soldaten wie auch die katholischen Zivilisten jeweils unter der Prämisse handeln konnten, nur auf die Aktionen der Gegenseite zu reagieren. Mit der beschriebenen Intervention der britischen Truppen in den katholischen Wohnvierteln waren die Bedingungen hergestellt, unter denen die IRA für die Katholiken als einzige mögliche Verteidigungsmacht übrig blieb und des25
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Vgl. dazu auch Malthaner 2005: 95 (mit Bezug auf die Studie von Burton: 1978: 86): „So wurden Durchsuchungsaktionen britischer Fallschirmjäger in dem von Burton untersuchten katholischen Viertel als ein ‚Angriff auf die Gemeinschaft’ wahrgenommen und brachten kritische Stimmen gegenüber der IRA zum Verstummen.“ Angesichts der Vielzahl gleichzeitig ablaufender Ereignisse ist freilich davon auszugehen, dass jede Konstruktion einer Sequenz mit dem Problem der notwendig hoch selektiven Beobachtung und daher mit der Kontingenz jeder registrierten sequenziellen Abfolge konfrontiert ist. Dieser Umstand verweist auf die Grenzen, die einer strikt sequenziell verfahrenden Analyse gezogen sind. Mit der beobachterabhängigen Registrierung unterschiedlicher Sequenzmuster, und dabei insbesondere mit „diskrepanten Interpunktionen“ (Watzlawick et al. 1969: 92), d.h. mit der beobachterabhängigen Variation von Kausal- und Verantwortungszuschreibungen, ist also zu rechnen.
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halb breite Unterstützung in der katholischen Bevölkerung erhielt. Die historisch geprägte Konfliktkonstellation, in der nordirische Protestanten und die britische Ordnungsmacht auf der einen, die irischen Katholiken hingegen auf der anderen Seite standen, war damit wieder hergestellt. Die weitere Reproduktion des Nordirlandkonflikts konnte daran anschließen: Als primärer Feind, gegen den sich die Aktionen der IRA von nun an richten sollten, wurde das britische Besatzungsregime definiert, das zunächst zum Teil noch im offenen, kriegerischen Gefecht27, später hauptsächlich durch Terroranschläge attackiert wurde.
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Zur Erklärung der Transformation des Konflikts
Der eben beschriebene Prozess des Neutralitätsverlusts der britischen Armee und die dadurch ausgelöste Transformation des Konflikts kann theoretisch erklärt werden durch das Zusammenwirken der binären Schemata, die im Zentrum meiner systemtheoretischen Analyse von Krieg und Terrorismus standen. Die dafür relevanten Unterscheidungen sind:
Die Freund/Feind-Differenz, deren Gebrauch die in einen Gewaltkonflikt involvierten sozialen Adressen definiert und zur Reproduktion dieser Adressen als Sozialsysteme vom Typus einer terroristischen Organisation, einer ethno-nationalistischen Bewegung etc. beiträgt; die unterschiedlichen Codierungen und Operationstypen von Krieg und Terrorismus als zwei Sorten von Konfliktsystemen (d.h. die Unterscheidung Sieg/Niederlage im Blick auf das Gefecht als Operationstyp des Krieges und die Unterscheidung Gelingen/Misslingen bezogen auf Anschläge als Operationsmodus des Terrorismus). – In engem Zusammenhang damit stehen schließlich die Auswirkungen der unterschiedlichen Behandlung der System/Umwelt-Differenz, d.h. der Distinktion zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten.
Meine mit diesen Unterscheidungen arbeitende Analyse lässt sich in den folgenden beiden Thesen zusammenfassen: (1) Betriebsbedingung eines kriegerischen bzw. terroristisch ausgetragenen Konflikts ist zunächst die Erzeugung konträrer aufeinander bezogener Adressen mit Hilfe der Unterscheidung von Freund und Feind. Diese Unterscheidung tendiert zur Selbsttotalisierung durch Inklusion aller Adressen in ihren Geltungsbereich, deren Handeln auf den Konflikt bezogen werden kann. Eine Intervention, die die Position eines „neutralen Dritten“ für sich beanspruchen will, gerät in das Gravitationsfeld dieser Unterscheidung und ist dadurch strukturell hoch labil. Von den Kontrahenten ständig unter dem Gesichtspunkt beobachtet, wem eine Intervention mehr nützen bzw. schaden wird, gerät jeder Interventionsakt damit leicht in eine Konstellation paradoxer Kommunikation mit der Struktur einer double-bindSituation (vgl. Watzlawick et al. 1969: 194ff.), in der jede Aktion zumindest von einer der Konfliktparteien als ‚gegen sie gerichtet’ registriert und sanktioniert wird: Bereits die Re27
Vgl. dazu Gerry Adams (1996: 224f.): „In den sechs oder sieben Monaten nach den Internierungsrazzien (1971 wurde die Internierung ohne Anklage eingeführt; W.L.S.) wurde der bewaffnete Kampf intensiver denn je ... . Wieder bildeten intensive Feuergefechte einen Bestandteil des Lebens im Murph und anderen nationalistischen Vierteln ... (...) Einige dieser Gefechte zogen sogar Zuschauer an: Sie ... beobachteten das Geschehen von der nächsten Straßenecke aus. Manchmal versammelten sich bis zu einhundert Zuschauer.“
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gistrierung kleinster Abweichungen zu eigenen Ungunsten durch die eine oder andere Konfliktpartei kann dabei genügen, um aggressive Gegenreaktionen sowie konträre Interpunktionen des so entstehenden Konflikts mit dem intervenierenden Dritten auszulösen und eine Dynamik der Eskalation in Gang zu setzen,28 die zur Absorption der Position des neutralen Dritten durch die Freund/Feind-Distinktion führt. Einer solchen double-bind-Situation durch Interventionsverzicht zu entgehen, ist für eine einmarschierte militärische Streitmacht (und war auch schon für die nordirische Polizei) nicht möglich. Bei jeder in Anwesenheit der Armee ausbrechenden Konfrontation zwischen den Konfliktparteien gilt, dass Passivität als Duldung von Übergriffen und als Indiz für Parteilichkeit interpretiert werden kann. Ist eine der beiden Konfliktparteien gegenüber der anderen von vornherein deutlich unterlegen, dann kann Passivität von der schwächeren Partei als Schutzverweigerung und indirekte Unterstützung des ihr überlegenen Gegners gedeutet werden. Generell und in Anlehnung an Watzlawick (1969: 50ff.) formuliert gilt in einer solchen Situation: Die anwesende Ordnungsmacht kann „nicht nichtintervenieren“. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Eskalationsdynamik in der Beziehung zwischen den Katholiken und der britischen Armee als Ergebnis positiven feedbacks erklären, das in der durch die Freund/Feind-Konstellation geschaffenen, double-bind-analogen, Interpunktionskonflikte nahe legenden und dadurch hoch instabilen Situation leicht ausgelöst werden konnte und dann zu einer Stabilisierung dieser Beziehung fern vom Zustand beanspruchter und von beiden Konfliktparteien akzeptierter Neutralität des intervenierenden Dritten führen musste. Geringfügige Anlässe, wie etwa Steinwürfe katholischer Jugendlicher auf paradierende Orangisten, konnten ausreichen, um diese Eskalationsdynamik in Gang zu setzen.29 Unter solchen Voraussetzungen kann der intervenierende Dritte entweder zwischen die Fronten geraten, wenn seine Intervention von beiden Konfliktparteien als „feindlich“ beobachtet wird, oder er kann einer der beiden Konfliktparteien zugeordnet werden. Letzteres ist dann wahrscheinlich, wenn – wie in Nordirland der Fall – schon zuvor engere Beziehungen des Intervenierenden zu einer Konfliktpartei bestanden, so dass die Intervention von vornherein vor dem Hintergrund entsprechender Parteilichkeitserwartungen beobachtet wird.30 Die Labilität der Position des „neutrale Dritten“ ist jedoch nicht nur durch den Einsatz der Freund/Feind-Differenz als Schema der Beobachtung und Attribution von Interventionshandlungen bedingt. Sie wird im Kontext des nordirischen Konflikts darüber hinaus strukturell überlagert und verstärkt durch die Verwendung spezifischer Orientierungsschemata für die Selektion der je eigenen Konfliktbeiträge. (2) Ausschlaggebend ist hier zum einen die Orientierung der IRA und der britischen Armee an systematisch divergierenden Codierungen der gewaltsamen Konfrontation, zum anderen die Verwischung der Differenz zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten: 28 29
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Mit Bateson wäre hier von einem Prozess der „symmetrischen Schismogenese“ zu sprechen. Durch gezielte Initiierung solcher Ereignisse konnte deshalb auch die IRA selbst (oder ein anderer Interessent) zur Auslösung des Prozesses beitragen, in dessen Verlauf die britische Armee – mit der sie um die Rolle der Schutzmacht für die Katholiken konkurrierte – als Verbündeter der protestantischen Feinde redefiniert wurde. Diese Bedingung war bei der nordirischen Polizei, deren Mitglieder sich zum größten Teil aus der protestantischen Bevölkerung rekrutierten, offensichtlich erfüllt. Polizeiliche Übergriffe wurden deshalb nicht etwa als unspezifische Überreaktionen einer autoritären Staatsmacht gegenüber dem zivilen Ungehorsam von Demonstranten gedeutet, die sich ihren Anweisungen nicht fügten, sondern als klarer Beleg der Parteinahme für die loyalistischen Protestanten.
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Militärische Einheiten sind typisch für kriegerische Formen der Konfliktaustragung ausgebildet. Sie versuchen deshalb den Gegner im Gefecht (= Operationsmodus) zu stellen und orientieren ihr Handeln am Code von Sieg und Niederlage. Guerillataktisch oder terroristisch operierende Gruppen hingegen versuchen der Konfrontation im Gefecht auszuweichen. Militärisch klar unterlegen, nutzen sie kurze, überfallartige Angriffe bzw. den Anschlag als Operationsform, um mit dessen erfolgreicher Durchführung ihre Präsenz und Unbesiegbarkeit durch den überlegenen Gegner öffentlichkeitswirksam zu demonstrieren. Eine wichtige Erfolgsbedingung ihres Operierens ist dabei, dass es ihnen gelingt, die Differenz zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten (= System/Umwelt-Differenz) für den militärischen Gegner unkenntlich zu machen, indem sie sich als Zivilisten tarnen und die Wohngebiete der Zivilbevölkerung als Rückzugsgebiete, Waffenverstecke etc. nutzen. Dadurch wird die System/Umwelt-Differenz des bewaffneten Konflikts systematisch unterminiert: Der militärische Gegner, daraufhin orientiert, den Feind zu stellen und zu besiegen, muss deshalb sein Operationsgebiet auf die Wohnviertel der Zivilbevölkerung ausdehnen, d.h. Razzien durchführen, die Häuser nach Terroristen und Waffenverstecken durchsuchen und dabei jederzeit darauf vorbereitet sein, von scheinbar friedlichen Zivilisten angegriffen bzw. in einen Hinterhalt gelockt und attackiert zu werden. Unter diesen Voraussetzungen muss die Armee jeden Zivilisten im Interesse der eigenen Sicherheit als potentiellen Feind behandeln und produziert damit umfangreiche „Kollateralschäden“ bei tatsächlichen Zivilisten, die nicht aktiv in den Konflikt involviert sind. Als Feinde behandelt, beginnen diese Zivilisten sich schließlich selbst als Feinde zu fühlen, mit den terroristischen Feinden ihrer militärischen Feinde zu sympathisieren und sich zum Teil als Mitglieder von Guerilla- bzw. Terrorgruppen zu engagieren. Auf dem Wege einer self-fulfilling expectation wird damit die Fremdattribution von Feindschaft als Implikation des militärischen Aktionsmusters konvertiert in eine damit übereinstimmende Selbstdefinition als Feind bzw. Sympathisant des Feindes. Ein reproduktionsfähiger Attributionszirkel wird eingerichtet: Weil und solange die britische Armee die Angehörigen der katholischen Bevölkerung wie Feinde behandelt, verhalten sie sich den Soldaten gegenüber feindselig und decken die Angehörigen der IRA; weil und solange die katholische Bevölkerung sich feindselig gegenüber den britischen Soldaten verhält und die Mitglieder der IRA deckt, wird sie von der britischen Armee als Feind behandelt (etc. ad infinitum). Damit ist ein Konfliktsystem etabliert, das sich durch die kausal zirkuläre Verknüpfung der Attributions- und Aktionsmuster reproduzieren kann: Schüsse von Heckenschützen, Feuerüberfälle, Bombenattentate ziehen militärische Gegenschläge nach sich, welche die Zivilbevölkerung zwangsläufig in starke Mitleidenschaft ziehen und dadurch sowohl das einbettende Umfeld der zivilen Sympathisanten wie auch die benötigte Rekrutierungsbasis für die Substitution getöteter bzw. gefangener Terroristen kontinuierlich regenerieren.31 Faktisch wie Feinde behandelt, reagiert die katholische Bevölkerung mit Feindseligkeit gegenüber der britischen Armee und mit Unterstützung gegenüber der IRA, wodurch weitere, nun von intentionaler Feindseligkeit begleitete militärische Aktionen provoziert werden. Intentionale Feindseligkeit auf Seiten der britischen Armee wird so erzeugt als Folge eines Prozesses der interaktiven Katalyse (vgl. Schneider 1994: 211ff.) derartiger
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Gravierende „Störereignisse“ können freilich die interdependente Verknüpfung der komplementären Handlungsmuster jederzeit (wenn auch u.U. nur befristet) unterbrechen. Ereignisse dieses Typs sind u.a. Naturkatastrophen oder Bedrohung durch einen gemeinsamen äußeren Feind.
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motivationaler Orientierungen.32 Dieser Mechanismus kann wiederum durch guerillataktisch oder terroristisch kämpfende Gruppierungen gezielt genutzt werden, um durch entsprechende Aktionen genau diejenigen Reaktionen ihres militärischen Gegners zu provozieren, die geeignet sind, das benötigte Sympathisantenfeld in der beschriebenen Weise zu stabilisieren. Mit dem weitgehenden Rückzug des unionistischen Staates aus den katholischen Wohngebieten beginnt zugleich ein weiterer Transformationsprozess. Der IRA fällt nun auch die Funktion der Sicherung der zivilen Ordnung zu (vgl. Waldmann 1995: 356). An die Stelle des staatlichen Gewaltmonopols tritt die Gewalt der IRA. Sie ersetzt Polizei und Justiz, verhängt und exekutiert drakonische Strafen (Knieschüsse; „punishment beatings“), zahlt ihren Mitgliedern ein regelmäßiges Gehalt, das durch Besteuerung (alias Erpressung von Schutzgeldern bei den Betreibern von Geschäften und Pubs), Kriminalität (Bankraub, Schmuggel, Steuerhinterziehung, Subventionsbetrug etc., vgl. Napoleoni 2004: 74f., Adams 1990: 212ff.), aber auch durch legale ökonomische Aktivitäten erwirtschaftet wird (vgl. Adams 1990: 220ff.). Sie bietet Infrastrukturleistungen, Arbeitsplätze und Karrieremöglichkeiten an und verankert sich auf diese Weise tief in ihrem zivilen Umfeld. Als regionaler Gewaltmonopolist kann sie dabei die Unterscheidung von Legalität und Illegalität entsprechend den eigenen Bedürfnissen redefinieren, Unrecht als Recht behandeln und denen Schutz gewähren, die sich an dem von ihr selbst neu gesetzten und durchgesetzten „Recht“ orientieren. Mit fortdauernder Existenz mutiert die IRA so zu einem Parasiten veränderten Typs, auf dessen genauere Charakterisierung ich hier allerdings verzichten muss: Sie nimmt immer mehr die Züge einer mafiösen Organisation an (vgl. dazu Adams 1990: 202ff., Bittner/Knoll 2001).33
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Die entsprechende Deutungsperspektive, an der sich das Handeln der britischen Sicherheitskräfte vermutlich orientierte, nachdem sie den positiven Rückhalt der IRA in der katholischen Bevölkerung registrierten, lässt sich aus der folgenden Äußerung eines britischen Beamten vom Herbst 1988 entnehmen: „Hier sitzen die Terroristen nicht außerhalb der Gesellschaft, sondern mitten drin. ... Newry ist eine Stadt mit überwiegend katholischer Bevölkerung. Diese Bevölkerung deckt die Terroristen. Und solange sie dies tut, bleibt uns nichts anderes übrig, als uns gegen die gesamte Bevölkerung zu stellen. Es gibt zu viele Leute, die die Terroristen unterstützen“ (vgl. Schulze-Marmeling/Sotscheck 1991: 18). „In den frühen siebziger Jahren beschafften sich die IRA-Rekruten das nötige Geld normalerweise, indem sie örtlichen Ladeninhabern, Kneipenwirten oder Handwerksmeistern Schutzgelder abnahmen. ... in der Zwischenzeit (ist) fast jedes größere Unternehmen in der Provinz von der Schutzgelderpressung betroffen. ‚In Belfast sind wir inzwischen soweit, daß in allen Verträgen automatisch zehn Prozent Aufschlag enthalten sind’, erklärt ein hoher Staatsbeamter. ‚Ob es dabei nur um einen Liter Bier oder um Fensterglas für den Wohnungsbau geht – die paramilitärischen Gruppen verdienen jedesmal mit’ (Adams 1990: 216, die englische Originalausgabe des Bandes erschien 1986). Die Rede von „den paramilitärischen Gruppen“ meint dabei freilich nicht nur die IRA, sondern ebenso die protestantischen Paramilitärs wie etwa die UDA (Ulster Defence Association). Von besonderem Interesse ist dabei, dass die IRA und die UDA – obgleich politisch einander bekanntlich äußerst feindlich gegenüberstehende Organisationen – ihre ökonomischen Interessen miteinander koordinieren. So etwa im Baugeschäft, wo von der IRA „...nur noch arbeitslos gemeldete Schwarzarbeiter auf der Baustelle unter ihrer Kontrolle beschäftigt werden. (...) Inzwischen finden regelmäßige Treffen zwischen den Provisionals und der UDA statt, die dazu geführt haben, daß katholische Arbeiter unter der Kontrolle der Provos auf Baustellen in UDA-Sektoren von Belfast beschäftigt werden, wofür die Provisionals einen entsprechenden Prozentsatz ihres Gewinns an die Kollegen von der UDA abführen“ (Adams 1990: 213f.). – Möglicherweise ist mit dieser Beschreibung zugleich der wahrscheinlichste Weg für die dauerhafte Transformation der IRA und der protestantischen Paramilitärs in „friedliche“ Organisationen markiert.
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Wolfgang Ludwig Schneider
Zum Abschluss möchte ich noch einmal die beiden wesentlichen Aspekte hervorheben, in denen sich die hier versuchte systemtheoretische Deutung von anderen Interpretations- und Erklärungsversuchen der gleichen Phänomene unterscheidet: (a) Die vorgeschlagene Deutung von Protest, Terrorismus und anderen ‚irregulär’ oder ‚abweichend’ erscheinenden Phänomenen als Parasiten von Funktionssystemen beschreibt deren Grundstruktur in einheitlicher Weise und weist ihnen einen Platz im Rahmen einer Theorie der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft zu. Dabei werden solche Phänomene nicht als marginale Störungen, Indikatoren für unvollständige Modernisierung o.ä. bagatellisiert, sondern als Systeme eigenen Typs analysiert, die den „Lärm“ in Funktionssystemen als Reproduktionsgrundlage nutzen, ihn auf Dauer stellen und verstärken. Die funktionssystemische Informationsverarbeitung kann durch diesen „Lärm“ übertönt und unterdrückt werden. Gegen diese Gefährdung müssen die Funktionssysteme der modernen Gesellschaft sich behaupten und immer wieder durchsetzen. (b) Im Unterschied zu handlungstheoretischen Erklärungsversuchen, die vom subjektiven Sinn ausgehen, den die Akteure mit ihrem eigenen Verhalten verbinden, rückt die skizzierte Analyse den fremdzugerechneten Sinn des Verhaltens sowie die Differenz zwischen selbst- und fremdzugerechnetem Handeln in den Mittelpunkt. Diese Differenz fungiert als Antrieb für die interaktive Katalyse von Motivlagen, die von tragender Bedeutung für die langfristige Reproduktion des terroristischen Parasiten sind. Reproduktionsrelevante Motivlagen werden hier also nicht als gegebene Prämissen vorausgesetzt, sondern erklärt als Resultat eines sich selbst stabilisierenden Zirkels codebasierter wechselseitiger Zuschreibungen und dadurch instruierter Anschlusshandlungen.
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Polykontexturale Eskalationsdynamik: Die IRA im Licht einer akteurzentrierten Differenzierungstheorie1
Uwe Schimank Wie in allen Beiträgen dieses Bandes geht es auch hier um die Frage: Wie lässt sich das empirische Phänomen erklären, dass in Nordirland eine Ende der 1960er Jahre eintretende Eskalation der terroristischen Gewalt einsetzte, die sich dann seit Mitte der 1970 Jahre auf einem hohen Level einpendelte?2 Es geht also um eine in diesen Jahren wichtige – viele würden sagen: beherrschende – gesellschaftliche Strukturdynamik Nordirlands; und der zentrale Akteur in der diese Dynamik hervorbringenden Konstellation ist die IRA. Anders als alle vorausgegangenen Beiträge führt dieser Beitrag allerdings keine weitere allgemeine Sozialtheorie anhand dieses Phänomens vor. Die Perspektive der akteurzentrierten Differenzierungstheorie, die hier hinsichtlich ihrer Eignung zur Analyse des empirischen Falles geprüft werden soll, unterscheidet sich in zweierlei Hinsichten von den bisher behandelten Herangehensweisen.3 Erstens ist diese Perspektive eine gesellschaftstheoretische und damit auf einer anderen Abstraktionsebene angesiedelt, und zweitens stellt sie hinsichtlich ihres sozialtheoretischen Unterbaus einen offenen analytischen Bezugsrahmen dar, der ein hohes Integrationspotenzial hinsichtlich der Einsichten anderer Theorieperspektiven besitzt. Gesa Lindemann (2005: 45) hat den Unterschied zwischen allgemeiner Sozialtheorie und Gesellschaftstheorie ähnlich gefasst, wie es bereits Niklas Luhmann (1984: 15-18) für seine systemtheoretische Perspektive getan hat. Die allgemeine Sozialtheorie stellt hochgradig abstrakte Begriffe und Modelle bereit, die sich auf jegliche Art von Sozialität beziehen, also von der flüchtigen dyadischen Interaktion bis zur Weltgesellschaft reichen; Gesellschaftstheorie widmet sich hingegen deutlich konkreter der Gesellschaftsebene des sozialen Geschehens. Oft ist Gesellschaftstheorie faktisch – was den Schwerpunkt der Aufmerksamkeit anbetrifft – eine Theorie der modernen Gesellschaft. Das gilt für die hier vertretene akteurzentrierte Differenzierungstheorie ebenfalls. Sie ist eine Theorie der modernen als einer funktional differenzierten Gesellschaft und steht als gesellschaftstheoretische Perspektive insbesondere neben einer ungleichheitstheoretischen Sicht der modernen Gesellschaft (Schimank 1996: 9-14, Schwinn 2004). Im Vergleich der sozialtheoretischen 1
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Für hilfreiche Hinweise zu einer ersten Fassung dieses Beitrags bedanke ich mich bei Thorsten Bonacker, Rainer Greshoff und Sabine Korstian. Anschließend habe ich bei einer Diskussion dieser Fassung im Hagener Institut für Soziologie sehr wichtige Kommentare von Andrea Hamp, Jochen Hirschle, Tuuli-Marja Kleiner, Holger Lengfeld, Frank Meier und Sylvia Wilz erhalten. Weiterhin hat dieser Beitrag als später verfasster von der Lektüre der vorangegangenen Beiträge profitiert. Die in den letzten Jahren eingetretene, wohl maßgeblich auf die beharrliche und geschickte Politik der britischen Regierung zurückgehende weit reichende Deeskalation wird hier aus Platzgründen ausgespart, obwohl die ihr zugrunde liegenden Dynamiken nicht minder spannend sind. Zu dieser Perspektive, soweit sie bisher ausgearbeitet worden ist, siehe Schimank (2005, 2006); die akteurtheoretischen Grundlagen werden in Schimank (2000) genauer behandelt.
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Uwe Schimank
Zugänge mit diesem hier gewählten gesellschaftstheoretischen Zugang wird von Interesse sein, ob er einerseits analytisch näher am Fall ist, weil es sich ja beim nordirischen Terrorismus um ein Phänomen in der modernen Gesellschaft handelt. Andererseits könnte es sein, dass ein gesellschaftstheoretischer Zugang zu eng in dem Sinne ist, dass er andere Ebenen der Sozialität analytisch nicht so gut in den Griff bekommt wie diesbezüglich breiter angelegte Sozialtheorien. Die hier präsentierte Herangehensweise könnte also sowohl Vor- als auch Nachteile haben. Auch Gesellschaftstheorien besitzen eine explizite oder mindestens implizite Sozialtheorie. Nach Talcott Parsons und Niklas Luhmann ist der mainstream der Differenzierungstheorie in dieser Hinsicht systemtheoretisch angelegt (siehe den Beitrag von Wolfgang Ludwig Schneider in diesem Band). Es gab und gibt allerdings auch handlungstheoretisch fundierte Lesarten der Differenzierungstheorie. Aktuell sind hier mindestens der amerikanische „Neofunktionalismus“ (siehe auch den Beitrag von Christian Lahusen in diesem Band), Thomas Schwinns (2001) an Max Weber anschließende Perspektive, Pierre Bourdieus Theorie „sozialer Felder“ (Schimank/Volkmann 1999: 23-30, Kieserling 2000, Nassehi 2004, siehe auch den Beitrag von Frank Hillebrand in diesem Band) sowie schließlich die hier von mir vorgestellte Perspektive zu nennen. Während allerdings den drei erstgenannten handlungstheoretischen Versionen differenzierungstheoretischen Denkens dezidiert je spezifische Sozialtheorien zugrunde liegen, gilt dies für die akteurzentrierte Differenzierungstheorie nicht. Sie begnügt sich sozialtheoretisch mit einem lockeren analytischen Bezugsrahmen, der per se kein eigenes Erklärungspotenzial aufweist, sondern nur ein Ordnungsschema darstellt, das empirische Phänomene auf bestimmte Weise akzentuiert und zu den Akzentsetzungen dann auch jeweils auf Erklärungsmodelle hinweist, die verschiedenen Theorieperspektiven entstammen können.4 Je offener ein Bezugsrahmen hinsichtlich der einsortierbaren Erklärungsmodelle angelegt ist, desto reichhaltiger ist einerseits das Arsenal, aus dem sich derjenige, der mit dem Bezugsrahmen arbeitet, je nach Beschaffenheit des Phänomens bedienen kann. Es wird sich zeigen, dass Konzepte und Modelle der verschiedensten, teilweise in den anderen Beiträgen dieses Bandes präsentierten Sozialtheorien in den hier genutzten Bezugsrahmen einbaubar sind – nicht zuletzt auch zu dem Zweck, andere Sozialitätsebenen unterhalb der Gesellschaftsebene angemessen zu erfassen. So auf eine weitere „Eigenbau-Maßanfertigung“ zu verzichten und einen Theoriezuschnitt „von der Stange“ zu wählen, hat einerseits evidente Effizienzvorteile. Damit kommt andererseits aber auch das Risiko des puren „Eklektizismus“ auf, also des Zusammenwerfens untereinander unverträglicher Teilerklärungen.5 Im Weiteren werden nun zunächst in wenigen Strichen die Konturen der akteurzentrierten Differenzierungstheorie skizziert, bevor dann auf das zu bearbeitende empirische Rätsel eingegangen wird.
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Die Nähe zum sich ebenso verstehenden „akteurzentrierten Institutionalismus“ (Mayntz/Scharpf 1995) ist, wenig überraschend, nicht zufällig. So der an mich gerichtete Vorwurf von Bongaerts (2007: 247). Als eine frühere Analyse derselben Machart, die man auch unter den hier interessierenden theoriebautechnischen Aspekten studieren könnte, siehe bereits Bette/Schimank (1995) zum Doping im Hochleistungssport.
Polykontexturale Eskalationsdynamik: Die IRA im Licht einer akteurzentrierten Differenzierungstheorie
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Akteurkonstellationen in der funktional differenzierten Gesellschaft
Der Zuschnitt der akteurzentrierten Differenzierungstheorie sieht im Überblick wie folgt aus (siehe Abbildung): Akteurzentrierte Differenzierungstheorie: Analytischer Bezugsrahmen Akteur
homo sociologicus homo oeconomicus “emotional man” Identitätsbehaupter
Handeln
Konstellation
Beobachtung Beeinflussung Verhandlung
handelndes zusammenwirken
soziale Strukturen u.a.: Differenzierungsstrukturen
Deutungsstrukturen Erwartungsstrukturen Konstellationssstrukturen
Intentionalität
Transintentionalität
Strukturdynamiken Aufbau Erhaltung Veränderung
Blendet man zunächst den differenzierungstheoretischen Verweis auf Seiten der sozialen Strukturen aus, erkennt man schnell ein mittlerweile – Gott sei Dank! – wenig originelles, keiner Literaturverweise mehr bedürftiges sozialtheoretisches Grundmodell der wechselseitigen Konstitution von handelndem Zusammenwirken in Konstellationen auf der einen und Dynamiken sozialer Strukturen auf der anderen Seite – missverständlich noch immer wieder als „micro-macro link“ (Alexander et al. 1987) tituliert. Akteure folgen einerseits in ihrem Handeln bestimmten durch soziale Strukturen geprägten Handlungsantrieben (Normbefolgung, Nutzenorientierung, Emotionen, Identitätsbehauptung) im Rahmen strukturell vorgegebener Gelegenheiten und Einflusspotenziale; andererseits produzieren und reproduzieren Akteure in Konstellationen handelnden Zusammenwirkens (Beobachtungs-, Beeinflussungs- und Verhandlungskonstellationen) soziale Strukturen (Schimank 2000). Die weiteren Erläuterungen zu den einzelnen Komponenten des Modells erfolgen bei dessen Nutzung für die Analyse des Terrorismus der IRA. Dann wird auch deutlich werden, dass nicht nur das Modell selbst inzwischen soziologischer common sense ist, sondern auch
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Uwe Schimank
seine einzelnen Komponenten je für sich wenig Überraschungswert besitzen, vielmehr alte Bekannte aus allerdings ganz verschiedenen sozialtheoretischen Lagern sind. Hier steht dieser sozialtheoretische Werkzeugkasten allerdings nicht als universell einsetzbares Instrumentarium für sich, sondern wird als Mittel für einen bestimmten gesellschaftstheoretischen Zweck eingesetzt. Er soll die funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft als deren zentrale Deutungsstruktur in den Blick rücken. Deutungsstrukturen fixieren evaluative und diesen zugeordnete kognitive Orientierungen des Handelns. Evaluative Orientierungen bestehen aus allen Arten von Werten, die teils sehr allgemeiner Natur sind, etwa die Selbstverwirklichung der Persönlichkeit propagieren oder Naturzerstörung verdammen, teils aber auch viel spezifischere und weniger langlebige Sachverhalte betreffen, z.B. Vorlieben oder Abneigungen bestimmter „Szenen“. Mit diesen Bewertungsstrukturen verknüpfen sich kognitive Wissensstrukturen, in denen sich etablierte Sichtweisen dessen, was der Fall ist, niederschlagen. Alle Arten von wissenschaftlichen Theorien zählen dazu; zu den kognitiven Deutungsstrukturen gehört aber auch das berufsspezifische oder alltägliche Rezeptwissen darüber, wie bestimmte Dinge beschaffen sind und miteinander zusammenhängen und wie bestimmte Effekte erzielt werden können. Auch die Differenzierungsstrukturen der modernen Gesellschaft sind Deutungsstrukturen. Die funktionale Differenzierung beruht auf evaluativen Orientierungen, die sich als Kristallisationspunkte der Ausdifferenzierung von „Wertsphären“ im Sinne Max Webers (1919) bewährt haben. Die sozialstrukturelle Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme folgt einer kulturellen selbstreferentiellen Schließung binärer Codes wie „wahr/unwahr“ im Fall des Wissenschaftssystems oder „Recht/Unrecht“ im Fall des Rechtssystems. Allerdings stellt ein gesellschaftliches Teilsystem keine freischwebende Deutungsstruktur – wie Renate Mayntz (1987: 102) es ironisch nannte: keine „Dame ohne Unterleib“ – dar. Es besteht nicht nur aus dem jeweiligen Code als teilsystemischem Orientierungshorizont. Dazu gehören vielmehr auch institutionelle Ordnungen, also normative Erwartungsstrukturen, und Konstellationsstrukturen. Das politische System beispielsweise ist nicht allein der Macht-Code; der verfassungsmäßige institutionelle Aufbau der Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive oder die Parteienkonstellation sind weitere Strukturkomponenten dieses Teilsystems. Der jeweilige binäre Code ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als der „Leitstern“ dessen, was im betreffenden Teilsystem passiert – Weber (1920: 252) sprach vom „Weichensteller“. Die Theorie funktionaler Differenzierung betrachtet die moderne Gesellschaft als Ensemble von einem Dutzend Teilsystemen (Wirtschaft, Politik, Recht, Militär, Religion, Kunst, Wissenschaft, Journalismus, Bildung, Gesundheit, Sport, Intimbeziehungen), die jeweils um einen binären Code herum, der eine selbstreferentiell geschlossene Handlungslogik konstituiert, ausdifferenziert und untereinander strukturell gekoppelt sind. Dabei werden die Teilsysteme hier, akteurtheoretisch gewendet, als Akteurfiktionen angesehen (Schimank 1988): als der jeweils geltende kulturelle „frame“ (Esser 2001: 259-278) der Handlungswahl, der durch ein entsprechendes handelndes Zusammenwirken, das ihn beständig intersubjektiv zugrundelegt und bestätigt, beiläufig reproduziert wird. Mit Bourdieu (1992: 81) könnte man von der „illusio“ als „… Wirkungsbedingung eines Spiels, dessen Ergebnis sie … gleichzeitig darstellt …“, sprechen. Mit diesen Handlungslogiken sind spezifische Leistungen verbunden, die die Teilsysteme produzieren und sowohl den Akteuren anderer Teilsysteme als auch dem eigenen Publikum bereitstellen. Diese wechselseitige Konstitution von handelndem Zusammenwirken und funktionaler Differenzierung bedeutet dann, dass die gesellschaftliche Differenzierungsstruktur in der
Polykontexturale Eskalationsdynamik: Die IRA im Licht einer akteurzentrierten Differenzierungstheorie
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akteurzentrierten Differenzierungstheorie einerseits abhängige, andererseits unabhängige Variable sein kann – manchmal auch beides in ein und derselben Erklärung:
Akteurtheoretisch fundierte Analysen der Dynamiken funktionaler Differenzierung können sich u.a. der Genese einzelner Teilsysteme, den „Anspruchsinflationen“ an die Teilsysteme oder den Gefährdungen der Autonomie bestimmter Teilsysteme durch Übergriffe aus anderen Teilsystemen widmen. Mit solchen Fragen werden Differenzierungsstrukturen und deren Dynamiken als zu erklärende Aggregationsphänomene betrachtet. Ausschließlich mit systemtheoretischen Instrumenten ausgestattet müsste man es hier bei Beschreibungen bewenden lassen. Differenzierungstheoretisch gerahmte Analysen von Akteurkonstellationen können die teilsystemischen Handlungslogiken als wichtige Elemente der die Handlungswahlen der Akteure prägenden Situationslogik einbringen. Als Vorteil gegenüber abstrakter ansetzenden Sozialtheorien lässt sich ausmachen, dass insbesondere die Weltsichten und Präferenzen von Akteuren – wie Terroristen – feinfühlig entsprechend den Teilsystemlogiken rekonstruierbar und ein ganzes Stück weit erklärbar sind. Dies können akteurtheoretische Perspektiven wie Rational Choice oder auch wissenssoziologische Herangehensweisen nicht, weil ihnen aus eigenem Vermögen kein solches gesellschaftstheoretisches Instrumentarium zur Verfügung steht. Sie müssen daher ad hoc Muster von Wissensbeständen und Nutzenkriterien auf der Grundlage empirischer Ermittlungen zuschreiben und ermitteln.
Das empirische Phänomen, um das es hier geht, ist eines, bei dem die funktionale Differenzierung der Gesellschaft hauptsächlich im Sinne der zuletzt genannten Fragerichtung eine der wichtigen unabhängigen Variablen darstellt. Erklärt werden soll die Eskalation terroristischer Gewalt als ein Geschehen, das in der funktional differenzierten Gesellschaft stattfindet und durch diese Gesellschaftsform geprägt wird. Es wird nicht umgekehrt danach gefragt, wie sich Terrorismus auf funktionale Differenzierung auswirkt – ob er sie partiell missachtet oder stört, außer Kraft setzt oder gar insgesamt gefährdet, oder ob er selbst ein sich ausdifferenzierendes neues gesellschaftliches Teilsystem sein könnte. All dies wären ebenfalls lohnende Fragen, zu denen es auch bereits vereinzelte theoretische Überlegungen gibt. Doch diese Fragerichtung spielt hier nur – aufgrund der wechselseitigen Konstitution von handelndem Zusammenwirken und sozialen Strukturen – insofern mit hinein, als die betrachtete Eskalationsdynamik sich u.a. davon nährt, dass terroristisches Handeln intendiert oder beiläufig solche Auswirkungen auf die gesellschaftliche Differenzierungsstruktur hat, die weiteres terroristisches Handeln motivieren. Ein Beispiel: Wenn Terrorismus Politiker dazu bringt, sich über geltendes Recht hinwegzusetzen und Richter politischem Druck auszusetzen, kann diese Suspendierung des Rechtsstaats Terroristen darin bestätigen, in einem Unrechtsregime zu leben, und ihnen weiteren Zulauf verschaffen, was dann die terroristische Gewalt steigert. Im Folgenden werde ich die Eskalation der terroristischen Gewalt in Nordirland soziologisch als handelndes Zusammenwirken einer Konstellation von Akteuren abbilden. Dazu werde ich die dynamischen Kräfte in dieser Konstellation herausarbeiten, um über die Beschreibung des Geschehens hinaus zu einer Erklärung zu gelangen. Es wird sich dabei zeigen, dass die funktionale Differenzierung der Gesellschaft eine sowohl deskriptiv als auch explanatorisch unverzichtbare Variable darstellt.
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Uwe Schimank
Eine differenzierungstheoretisch gerahmte Konstellationsanalyse des IRA-Terrorismus
Eine Erklärung sollte ihren Ausgang davon nehmen, das zu erklärende Phänomen so genau zu beschreiben, dass klar ist, worin der erklärungsbedürftige Tatbestand besteht. Die unmittelbaren Resultate des IRA-Terrorismus, die ihn – wie jeden Terrorismus – zu einem gesellschaftlich anstößigen, darüber dann auch die soziologische Aufmerksamkeit auf sich ziehenden Phänomen machen, sind ermordete Menschen. Um die quantitativen Relationen ins Bewusstsein zu rücken: Die in Nordirland aufgrund des Terrorismus beider Seiten Gestorbenen – einschließlich der durch die britische und nordirische Staatsmacht Getöteten – kämen, auf Deutschland umgerechnet, 160.000 Toten in drei Jahrzehnten oder mehr als 5.000 Toten pro Jahr oder mehr als einem Dutzend Toten täglich gleich!6 Zwar waren terroristische Akte in Nordirland ganz und gar nichts Neues; das Land ist durch eine lange Geschichte terroristischer Gewalt gegangen. Doch vor dem hier betrachteten Zeitraum ging es jahrzehntelang vergleichsweise friedlich zu, insbesondere in den unmittelbaren Jahren davor. Man hätte also eher von einem allmählichen Abklingen des Terrorismus ausgehen können. Doch es kam unerwartet ganz anders – und das ist der erklärungsbedürftige Tatbestand. Die Konstellation, aus der heraus eine solche Größenordnung terroristischer Gewalt seit dem Ende der 1960er Jahre hervorging, lässt sich so beschreiben, dass einander drei Paare von Akteuren polar strukturiert gegenüberstanden: Den innersten Kern machten die IRA und die protestantischen Terrorgruppen als die mordende Gewalt ausübenden Antipoden aus; beide waren in ihr Sympathisanten- und Unterstützerumfeld unter den nordirischen Katholiken bzw. Protestanten eingebettet, wobei letztere die nordirische Staatsmacht dominierten; und beide Lager hatten – allerdings höchst ungleich engagierte – „große Brüder“ in Gestalt der Republik Irland und Großbritanniens, wobei die britische in Verbindung mit der nordirischen Staatsmacht den dritten Gewalt ausübenden Akteur der Konstellation abgab. Diese Konstellationsstruktur wies für jeden Akteur spezifische Handlungsantriebe und Handlungsmöglichkeiten auf, die sich dynamisch als Kräfteverhältnis der Beteiligten manifestierten.7 Eingebettet war diese Konstellationsstruktur in Strukturen institutionalisierter normativer Erwartungen, vor allem rechtliche Regelungen; und beide Arten sozialer Strukturen waren wiederum eingebettet in Strukturen evaluativer und kognitiver Deutungen, wozu – wie schon erwähnt – die Strukturen gesellschaftlicher Differenzierung gehörten. Die Handlungsantriebe und -möglichkeiten der betrachteten Akteure ergaben sich also, wenn man sich analytisch von „außen“ nach „innen“ bewegt, erstens aus ihrer Verortung in bestimmten gesellschaftlichen Teilsystemen, womit zweitens bestimmte institutionelle Regelungen verbunden waren; und diese Prägungen des „Wollens“ und „Sollens“ der Akteure stellten den Rahmen dar, in dem sich drittens ihr durch die Konstellation geprägtes „Können“ entfalten konnte (Schimank 1996: 243-248). Dabei ist zu beachten, dass einzelne Menschen, die akteurtheoretisch nicht nur im Sinne des methodologischen Individualismus, sondern auch anthropologisch die letztinstanzlichen Handlungsträger sind, stets eine Mehrzahl von Akteuren – im wahrsten Sinne des
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Siehe Sabine Korstian, in diesem Band, Fußnote 2. Die Machart dieser konstellationsanalytischen Betrachtung lehnt sich grundsätzlich an die von Erhard Friedberg (1993) auf der Organisationsebene propagierte Analyse „lokaler Ordnungen“ an.
Polykontexturale Eskalationsdynamik: Die IRA im Licht einer akteurzentrierten Differenzierungstheorie
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Wortes – darstellen, gleichsam hinter diesen stehen.8 In der funktional differenzierten Gesellschaft prägt sich dies als multiple Partialinklusion eines Menschen – modern auch als „Person“ oder „Individuum“ tituliert – in mehr oder weniger alle gesellschaftlichen Teilsysteme aus (Burzan et al. 2008: 23-28). Ein bestimmter Terrorist der IRA ist teils simultan, teils sequentiell Krimineller und politisch engagierter Mensch, Zivilist und Fernsehzuschauer, Arbeitsloser und Familienvater, Kirchgänger und Sportinteressierter, Konsument und Patient und muss all dies personal integrieren. Zwar hat die funktionale Differenzierung „Schwellen legitimer Indifferenz“ (Tyrell 1978: 183 – Hervorheb. weggel.) zwischen den verschiedenen, zumeist über Rollen institutionalisierten Inklusionsverhältnissen errichtet, so dass sich jemand, ohne dies als Uneinssein mit sich selbst zu erfahren, als Familienvater nach teilweise ganz anderen Grundsätzen verhält als ein Krimineller. Aber was ein Rollenträger an Begründungspflichten abzuwehren vermag, muss der dahinter stehende Mensch immer noch mit sich selbst ausmachen und irgendwie vereinbaren können.9 Analytisch bedeutet dies: Wo immer die Beschreibung und Erklärung gesellschaftlicher Phänomene sich nicht mit teilsystemisch klar „eingenordeten“ korporativen Akteuren und Rollenträgern begnügen kann, sondern bis zur Betrachtung einzelner Menschen vordringen muss, ist von einer durch Indifferenzschwellen nur begrenzt neutralisierten Polykontexturalität der Handlungsantriebe und -möglichkeiten auszugehen. Eine Aufschlüsselung der geschilderten Konstellation und der aus ihr hervorgehenden Eskalationsdynamik terroristischer Gewalt im besagten Zeitraum kann mit dem gerade erläuterten Verständnis multipler Partialinklusion ihren Ausgangspunkt bei den einzelnen Terroristen der IRA nehmen. Warum wird jemand Terrorist und begeht terroristische Akte? Mit Hartmut Esser (1993: 1-140): Welche „Logik der Situation“ evoziert welche „Logik der Selektion“? Dies kann hier im ersten Analyseschritt in einiger Ausführlichkeit – und dabei immer noch viel zu knapp – nur für die IRA vorgeführt werden. Im daran anschließenden Analyseschritt wird dann sowohl die „Logik der Situation“ um die anderen Konstellationsakteure vervollständigt als auch die sich ergebende „Logik der Aggregation“, also das handelnde Zusammenwirken der Beteiligten, nachvollzogen. Warum und wie ergab sich die offenbar unausweichliche Eskalation terroristischer Gewalt?
2.1 Warum wird jemand Terrorist? Es handelt sich beim Terroristen um eine entbehrungsreiche, freiwillig und – im eigenen Selbstverständnis der Person – stellvertretend für viele andere angenommene Rolle. Differenzierungstheoretisch erkennt man, dass diese Rolle sowohl raumgreifend als auch sperrig in der gesellschaftlichen Differenzierungsstruktur und im Inklusionsprofil einer Person verankert ist. Das raumgreifende Moment ergibt sich aus der Spezifik der politischen Motivation terroristischen Handelns. Terrorismus verfolgt explizit politische Ziele.10 Er will also, wie 8
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Dies ist die grundlegende Einsicht der Rollentheorie und ihres Homo Sociologicus, hinter der der Homo Oeconomicus als analytisches Modell, das direkt auf den einzelnen Menschen als Kompakt-Akteur zielt, nach wie vor zurückbleibt. Dies wird in der Rollentheorie als Inter-Rollenkonflikt thematisiert. Implizit mögen dem, wie Andreas Pettenkofer in seinem Beitrag in diesem Band Kultursoziologie plausibel herausarbeitet, religiöse Motive zugrunde liegen. Sie können jedoch kommunikativ nicht geltend gemacht werden.
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politisches Handeln generell für sich in Anspruch nimmt, den gesellschaftlichen Status quo durch die Herbeiführung geeigneter kollektiv bindender Entscheidungen verbessern. Im Unterschied zu üblichem politischen Handeln unterliegt dem Terrorismus allerdings – wie auch dem revolutionären Handeln – die Einstufung des Status quo als ganz und gar intolerabel, woraus sich eine entsprechend weit reichende Umgestaltungsambition ergibt. Dahinter stehen entweder Einschätzungen der fundamentalen Unangemessenheit einer bestimmten Lebensweise, die deshalb grundlegend zu revidieren ist – etwa eines „gottlosen“ Treibens der Menschen. Oder terroristisches Handeln ist durch einschneidende Ungerechtigkeitserfahrungen der Art motiviert, dass die Lebenschancen eines Teils der Bevölkerung im Vergleich dazu, wie ein anderer Teil lebt, nur noch als unverdient erbärmlich angesehen werden können. Letztere Quelle terroristischen Handelns liegt in Nordirland vor; und gesellschaftstheoretisch läge deshalb durchaus erst einmal eine ungleichheitstheoretische Konzeptualisierung nahe. Man fängt die Sachlage jedoch auch differenzierungstheoretisch gut ein – und in einer für die Erklärung des Terrorismus wichtigen Hinsicht sogar besser.11 Ohne hier die komplizierte historische Genese der ungleichen Lebenschancen der schlechtergestellten katholischen und der bessergestellten protestantischen nordirischen Bevölkerung rekonstruieren zu können:12 Als die Engländer Irland im 12. Jahrhundert besetzten und seitdem dort ihren politischen und militärischen Einfluss geltend machten, prallten erst einmal zwei Herrschaftsordnungen aufeinander. Das Verhältnis der katholischen Iren zu den anglikanischen Besatzern wäre ganz unabhängig von religiösen Differenzen konfliktreich gewesen. Dies verschärfte sich aber, als die Engländer im 17. Jahrhundert schottische Protestanten im Norden Irlands ansiedelten, womit das bis heute bestehende Grundmuster der Konfliktstruktur etabliert war. Hierbei handelte es sich zu keinem Zeitpunkt um einen religiösen kollektiven Identitätskonflikt. Religion diente auf dieser Ebene lediglich als symbolische Markierung gesellschaftlicher Ungleichheit und des sich daraus herleitenden Verteilungskonflikts (Richardson 2006: 97): die anglikanischen britischen Machthaber und ihre protestantischen Günstlinge auf der einen, die unterjochten katholischen Iren auf der anderen Seite. Nur die Logik der je individuellen Identitätsbehauptung, die gleich noch zur Sprache kommt, ist religiös grundiert. Die so nach Religionszugehörigkeit sortierte Ungleichheitsstruktur war keine, die sich allein aus unterschiedlicher wirtschaftlicher Leistungskraft der Bevölkerungsgruppen ergeben hatte, sondern ist bis in die jüngste Zeit eine politisch gezielt so gestaltete gewesen. Maßgeblich für die bis heute massive soziale Ungleichheit zwischen Protestanten und Katholiken waren von den britischen Besatzern betriebene, teilweise auch in Rechtsform gegossene Privilegierungen der einen und Diskriminierungen der anderen. Diese Ungleichheiten schlugen sich vor allem im Wirtschafts- und im Bildungssystem nieder, was sich wechselseitig immer wieder reproduzierte. Schlechtere Schulabschlüsse sowie unsicherere und schlechter bezahlte Arbeitsplätze finden sich auch heute in Nordirland weitaus häufiger auf Seiten der Katholiken; damit geht auch eine schlechtere gesundheitliche Lage und eine schlechtere Versorgung mit Leistungen des Gesundheitssystems – jedenfalls wo sie Geld kosten – einher. Dass die Briten zudem dafür sorgten, dass die Protestanten lange Zeit in 11
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Insgesamt bestätigt dieser Gegenstand allerdings, was kürzlich Thomas Schwinn (2007) nochmals angemahnt hat: dass Differenzierungs- und Ungleichheitstheorien bei zahlreichen in beiden Perspektiven wichtigen Themen viel enger zusammenarbeiten müssen, als es bislang der Fall ist. Was insbesondere deshalb so schwierig ist, weil zahllose Mythenbildungen die Historie vernebeln – wobei Irrtümer, Selbsttäuschungen und strategische Propaganda nahtlos ineinander übergehen. Wie Jo Reichertz in seinem Beitrag in diesem Band dokumentiert, findet hier die Wissenssoziologie ein lohnendes Betätigungsfeld.
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ihrer politischen Macht privilegiert wurden, u.a. auch durch eine indirekte Bevorzugung im Wahlrecht und bei der Besetzung wichtiger administrativer Ämter, und die Katholiken sich – nicht zuletzt aus dieser Erfahrung heraus – wenig in den demokratischen politischen Entscheidungsprozessen engagierten, schuf eine zusätzliche politische Stabilität der Ungleichheitsstruktur. Irgendwann bedurfte es gar keiner offenen Privilegien der Protestanten mehr, weil die Faktizität der Ungleichheit so verfestigt war, dass man ganz legitim den besser ausgebildeten Protestanten die besseren Arbeitsplätze gab und sie zu Entscheidungsträgern machte; der höhere Wohlstand ermöglichte ihnen wiederum eine bessere Bildung ihrer Kinder, und das Muster reproduzierte sich in der nächsten Generation. Mit dieser Ungleichheitsstruktur ging eine starke Separierung der Bevölkerungsgruppen einher. Katholiken blieben nicht nur in der Kirche, sondern auch in allen anderen Lebensbereichen weitgehend unter sich, und Protestanten ebenso. Intimbeziehungen, also Heiraten, Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen, aber auch Freundschaften reichten nicht über die religiösen Grenzen hinaus; die Wohnviertel waren ebenso religiös getrennt wie die Freizeitaktivitäten. Auch die Massenmedien waren entsprechend gespalten, ebenso wie es die Kunst im Bereich der Volkskunst war. Bis in den Sport schlugen die Separierungen durch. Bereits im „Gaelic Revival“ Ende des 19. Jahrhunderts wurden von den Katholiken „authentische“ irische Sportarten wie Hurling wiederbelebt, während Protestanten nur die „englischen“ Sportarten betrieben. Es gab vor allem im Fußball katholische und protestantische Vereine, und immer dann, wenn unterschiedliche Konfessionen sportlich aufeinandertrafen, war Zündstoff in den Wettkämpfen. Der hier nur andeutbare Durchgang durch die verschiedenen gesellschaftlichen Teilsysteme, in die Personen jeweils partiell inkludiert sind, zeigt sehr plastisch, dass die als ungerecht erlebten Ungleichheiten nicht nur einzelne Inklusionsverhältnisse betrafen, sondern eine Nachteilskumulation auf Seiten des teilsystemübergreifenden Inklusionsprofils der Katholiken bedeuteten. Religiös markierte politische Privilegierungen und Benachteiligungen brachten ungleiche Allokationen teilsystemischer Leistungen und damit ungleiche Lebenschancen verschiedener Bevölkerungsgruppen hervor; und diese Ungleichheiten manifestierten sich insbesondere wirtschaftlich, in den Bildungschancen sowie im Zugang zu Gesundheitsleistungen und Rechtsmitteln und brachten wechselseitige weit reichende soziale Schließungen in den Intimbeziehungen, im Sport, in den Massenmedien und in der Kunst mit sich. Dieses zugleich flächendeckende, tiefgreifende und langlebige Syndrom führte in den Augen nicht weniger nordirischer Katholiken jede Art von reformistischer „Politik der kleinen Schritte“ (Lindblom 1959) von vornherein ad absurdum. Einer derart schreienden Ungerechtigkeit ist mit politics as usual nicht ernsthaft beizukommen. An diesem Punkt kommt Terrorismus als Handlungsoption in den Blick. Seine Radikalität wahrt gleichsam das Entsprechungsverhältnis zur differenzierungstheoretisch aufzeigbaren Totalität der Benachteiligung. Weiterhin differenzierungstheoretisch blickend und zunächst einmal von den Handlungsantrieben – auf die zurückzukommen ist – zu den Handlungsmöglichkeiten umschwenkend, ist Terrorismus als eine Aktivität erkennbar, die als eine Art von „last resort“ (Emerson 1981) auf sperrige Weise zwischen drei gesellschaftlichen Teilsystemen angesiedelt ist: der Politik, dem Recht und dem Militär. Terrorakte sind eine aus der Politik hinaus führende Extremform des politischen Protestes. Protest geht darauf zurück, dass Akteure politische Ziele – bei der IRA: mindestens die Beseitigung der britischen Fremdherrschaft und der durch sie geschützten Vorherrschaft der Protestanten in Nordirland, weiter gedacht die Wiedervereinigung Nordirlands mit der Republik Irland – weder durch legale formelle
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Macht im Rahmen demokratischer Verfahren oder durch Anrufung der Gerichte noch durch dem staatlichen Gewaltmonopol ebenbürtige oder überlegene gewaltgestützte Macht in angemessener Zeit hoffen erreichen zu können. Protest geht in Terrorakte über bzw. bezieht diese mindestens ins Protestrepertoire ein, wenn auch die informelle Macht massenhafter Demonstrationen nicht hinreichend mobilisierbar ist. Anders gesagt: Terrorismus ist einerseits politisches Handeln, dem demokratische Verfahren, Gerichtsverfahren sowie Massendemonstrationen nicht genügen, das aber andererseits den Bürgerkrieg nicht wagen kann (Richardson 2006: 36). Terrorismus ist die vierte Alternative, wenn diese drei Alternativen nicht erfolgversprechend erscheinen. Terroristisches Handeln erkennt die Macht der etablierten politischen Akteure nicht an und fordert sie durch Terrorakte heraus. Als Herausforderer des staatlichen Gewaltmonopols, das letztlich auf der engen strukturellen Kopplung des politischen Systems mit dem Militärsystem basiert, verwickeln Terrorgruppierungen wie die IRA militärische Organisationen in für diese schwierig zu handhabende Konflikte.13 Das quantitativ bei weitem unterlegene Gewaltpotential der Terrorgruppierungen erlaubt diesen nicht, wie ein regulärer militärischer Gegner oder wie eine aufständische Bevölkerung im offenen Bürgerkrieg Gefechte mit dem Militär auszutragen. Stattdessen müssen Terrorakte als überraschende punktuelle Anschläge vollzogen werden. Ziel dessen können keine militärischen Siege sein, mittels derer man seine politischen Ziele durchsetzen könnte. Stattdessen unterliegt terroristischem Handeln durchgängig eine expressive, als Handlungsantriebe Emotionen und Identitätsansprüche öffentlich zum Ausdruck bringende Note. Man will den aufgrund der geschilderten Ungerechtigkeitserfahrungen verhassten Protestanten und britischen Besatzern immer wieder aufs Neue zeigen, dass man sich als nordirischer Katholik von ihnen nicht „klein kriegen“ lässt – und man hofft dabei auch, dass das eigene Beispiel Nachahmer findet. Letzterer ist bereits ein zumindest zeitweise mitschwingendes instrumentelles Motiv. Zwei weitere Nutzenkalküle können mit Identitätsbehauptung und emotionalem Ausagieren einhergehen und haben auch für die IRA eine gewisse Bedeutung gehabt. Zum einen kann man bei der gegnerischen Bevölkerung – hier: den nordirischen Protestanten – Furcht um die eigene Sicherheit im Alltag schüren. Dafür kann auch die höchst begrenzte Gewaltkapazität von Terroristen dann hinreichen, wenn die Anschläge keinem erkennbaren Muster folgen, sondern jederzeit nahezu jeden treffen könnten (Richardson 2006: 140). Zum anderen kann man versuchen, die gegnerische Staatsmacht durch eine Serie von Nadelstichen zu der Überzeugung zu bringen, dass die Kosten einer Fortsetzung dieses Zustands höher sind als der Nutzen eines weiteren militärischen Gegenhaltens. Anfang der 1970er Jahre, als die IRA – sich zunächst als gewaltbereite Abspaltung „Provisional IRA“ titulierend – entschlossen in die Straßenkämpfe zwischen nordirischen Katholiken und Protestanten eingriff, war ihr zweckrationales Kalkül „… making Northern Ireland ungovernable by causing the maximum disruption, politically, socially, and economically“ (Jeffery 1985: 73). Die Briten sollten durch eine Eskalation terroristischer Anschläge, wie die Amerikaner aus Vietnam, aus Nordirland vertrieben werden (Richardson 2006: 115); dann – so die unbestimmte Erwartung – würden die Katholiken schon mit den Protestanten fertig werden. Jeder, der Terrorist wird, hat – wie artikuliert und reflektiert auch immer – die alle teilsystemischen Inklusionsverhältnisse durchziehenden Ungerechtigkeitserfahrungen ge13
In den üblichen systemtheoretischen Betrachtungen gesellschaftlicher Differenzierung wird das Militär nicht als eigenständiges Teilsystem gesehen. Siehe aber die analytisch anders optierenden Darlegungen von Schubert (2001) und Kohl (2006).
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macht; und er hat die alternativen Handlungsoptionen der politischen Partizipation vom Wählen bis zum Protest, des Rechtswegs sowie schließlich auch der offenen Herausforderung des Militärs durch massenhaften Aufstand, wie reflektiert auch immer, abgewogen und für sich verworfen. Diese drei teilsystemischen Inklusionsverhältnisse stellen sich ihm als eindeutig ungenügend dar, um seinen – gemessen am Status quo – weitgesteckten politischen Zielen in vertretbarer Zeit signifikant näher kommen zu können. Mit Blick auf das Verwerfen dieser Handlungsalternativen lässt sich der individuelle Weg in den Terrorismus als Homo Oeconomicus modellieren.14 Die angeführten vorstellbaren instrumentellen Effekte terroristischen Handelns reichen freilich umgekehrt nicht hin, um jemanden zum Terroristen werden zu lassen. Denn erstens sind sie zumeist zu vage, zu schwach und oft nur vorübergehender Natur. Zweitens kommt noch grundsätzlicher hinzu, dass für terroristisches Handeln, das demjenigen, der sich dazu entschließt, das Äußerste – den Einsatz des eigenen Lebens – abverlangt, das „Trittbrettfahrer-Problem“ in verschärfter Form gilt: Warum sollte jemand so etwas persönlich Riskantes und Entbehrungsreiches tun, selbst wenn er den kollektiven Nutzen für seinesgleichen klar erkennt und für mit hoher Wahrscheinlichkeit erreichbar hält, wenn es ihm denselben Nutzen brächte, dass andere das täten, die es aber – wie ihm klar ist – tunlichst sein lassen?15 Als Homo Oeconomicus würde also niemand zum IRA-Kämpfer, auch wenn er vom schließlichen Erfolg völlig überzeugt wäre. Eher versänke er in Fatalismus oder versuchte, sich durch findige Anpassung im Kleinen durchzuschlagen, also je situativ sich einstellende oder strukturell gegebene Vorteile für sich selbst und die eigene Gruppe auszunutzen – dabei gegebenenfalls auch vor deviantem Handeln nicht zurückschreckend. Diese Art des Coping ist unter den Benachteiligten aller Epochen und Länder fast immer die am meisten verbreitete gewesen. Nur ein winziger Bruchteil derer, die sich als benachteiligt erleben, werden Terroristen; und bekanntlich gehören nicht wenige Terroristen selbst gar nicht der Benachteiligtengruppe an, für die sie sich einsetzen – jedenfalls gehören sie nicht zu den am stärksten Benachteiligten. Diese Tatbestände sind nur so erklärbar, dass die beiden anderen bereits kurz angesprochenen Handlungsantriebe – Identitätsbehauptung und emotionales Sich-ausleben – und nicht Nutzenorientierung den Ausschlag dafür geben, dass jemand zum Terroristen wird. Betrachtet man den einzelnen Kämpfer der IRA seit Mitte der 1970er Jahre, als sich das Scheitern der Strategie des „Rausbombens“ der Briten abzeichnete, ist eine entsprechende Gemengelage von Handlungsantrieben, die auf typische biographische Dynamiken zurückgeht, vorzufinden.16 Mit Blick auf den „emotional man“ handelte es sich höchstens in kurzen Momenten um spontane, situativ aufwallende Emotionen der Wut oder des Hasses; vielmehr ging der IRA-Kämpfer mit einer Melange aus Hass, Rachsucht und Trauer als dauerhafter Stimmungslage durchs Leben. Hass und Rachsucht waren auf die Briten und die nordirischen Protestanten gerichtet, die – so die Wahrnehmung – den katholischen Nordiren kein menschenwürdiges Leben ermöglichten (Richardson 2006: 128/129); und die Trauer nährte sich daraus, wie viele Jahrhunderte – so die institutionell zurechtgelegte und heraufbeschworene Überlieferung – dieser Zustand schon bestand, wie oft der Kampf dagegen gescheitert war und welche Opfer der Kampf bis zum heutigen Tag gekostet hatte. 14 15 16
Wobei dieses Akteurmodell hier nicht eng auf wirtschaftlichen Nutzen als Handlungsantrieb beschränkt wird. Siehe hierzu den Beitrag von Andrea Maurer in diesem Band. Hier treffen sich meine Überlegungen mit denen Pettenkofers und ergänzen sich wechselseitig.
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Diese den Kämpfer durch und durch prägende Grundstimmung war zentrale Komponente seiner Identität und brachte einen normativen Selbstanspruch hervor, an dem gemessen dann alles Britische und Protestantische eine chronische, in Nordirland allgegenwärtige tiefe Identitätsbedrohung bildete. Der Kämpfer lebte in ständiger Gewissensnot: Wer gegen dieses Unrecht nicht aufbegehrt, und sei es vergeblich, müsste sein eigenes Leben als gescheitert begreifen. Verlangt waren damit entsprechend heroische Akte der Identitätsbehauptung – letztlich terroristische Anschläge, von denen jeder symbolisierte, dass der Kampf noch nicht aufgegeben worden war. Es war nur noch deklaratorisch ein Kampf für die „gemeinsame Sache“; der latenten biographischen Logik nach ging es um eine „Politik des Märtyrertums“ (Pettenkofer, in diesem Band), der je individuellen Bewährung. Da die Anschläge aber keine spontanen Akte der Identitätsbehauptung darstellen, sondern technisch und logistisch sorgfältig geplant sind, prozediert die Identitätsbehauptung im Modus des Homo Oeconomicus als entscheidungsförmiger Abwägung von Kosten und Nutzen alternativer Möglichkeiten: wann man welche Art von Anschlag auf wen oder was verübt. Der Homo Oeconomicus liegt auch der Risikobegrenzung für den Kämpfer zugrunde: Er will – anders als ein Selbstmordattentäter – nicht vorschnell sein eigenes Leben opfern und nach Möglichkeit auch lange nicht gefasst werden. Abgesehen vom erst einmal natürlichen Wunsch jedes Menschen, weiter zu leben, steht dahinter auch die wiederum rationale Kalkulation, dann nicht so sehr im Sinne der je individuellen, sondern der kollektiven Identitätsbehauptung der nordirischen Katholiken nicht bloß einmal, sondern mehrfach „Zeugnis ablegen“ zu können. In der biographischen Dynamik, die schon in der Kindheit beginnt, spielten Schlüsselerlebnisse eine wichtige Rolle, in denen schlaglichtartig tiefe Gefühle und Identitätsbedrohungen ausgelöst wurden: etwa Situationen der öffentlichen persönlichen Erniedrigung.17 Damit diese pars pro toto genommen und nicht vergessen wurden, mussten sie aber in eine alltäglich erfahrene Benachteiligung und Demütigung eingebettet sein. Hierüber spielte dann auch noch der Homo Sociologicus in die Handlungsantriebe hinein. Der Kämpfer fühlte sich in seinem normativen Selbstanspruch des Aufbegehrens zusätzlich dadurch bestärkt, dass er die Norm befolgte, etwas für „seine Leute“ – die eigenen Verwandten und Freunde, die Nachbarschaft und letztlich die nordirischen Katholiken insgesamt – zu tun; und er wurde in dieser Normorientierung bestärkt, wenn Anschläge auf Zustimmung stießen. Wie ein von Frank Hillebrandt (Beitrag in diesem Band) zitierter IRA-Kämpfer es ausdrückt: „So I didn´t need to sit down and think about the rights and wrongs of commiting violence as violence was being acted on me. Everyday it was acted upon my community, everyday.” Bezeichnend, wie hier „me“ and „my community“ zusammenfließen! Über die unmittelbaren eigenen und in Familie und Nachbarschaft kolportierten Erfahrungen hinaus vermittelte auch eine viele Medien nutzende Volkskultur diese einer gewaltsamen Konfliktaustragung zugeneigte Haltung, wie die aus Nordirland stammende Terrorismusexpertin Louise Richardson (2006: 13) aus eigener Anschauung berichtet: „Der Extremismus, den ich aufsog, kam aus der Schule, aus Büchern, volkstümlichen Legenden und Liedern.“ Dieser „Infektion“ waren freilich sehr viele nordirische Katholiken ausgesetzt – aber nur ganz wenige wurden Terroristen. Hier spielen biographische Koinzidenzen wie die erwähnten, längst nicht jedem passierenden Schlüsselerlebnisse, sowie soziale Netzwerke der Diffusion solcher Erlebnisse eine entscheidende Rolle: „Was meinem Vater/besten Freund 17
Siehe auch die anschauliche Schilderung bei Richardson (2006: 107-111).
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widerfahren ist, hätte auch mir passieren können!“ Wenn derartige starke Ausgangsstimuli gesetzt sind, nimmt eine biographische „Abweichungsverstärkung“ (Maruyama 1963, Schimank 2000: 213-220) schnell ihren Lauf. Sachliche, soziale und zeitliche biographische Fixierungen wirken zusammen:18 Jemand verbeißt sich ins Grübeln über diese Erfahrungen, hört und liest über vieles Weitere, was ihn in seiner Sicht der Dinge nur immer mehr bestätigt; seine Kontakte reduzieren sich zunehmend auf Personen, die ebenso denken wie er; und je wichtiger er all das nimmt, desto mehr Zeit verbringt er damit, und desto weniger Gelegenheiten gibt es noch, bei denen er „auf andere Gedanken kommen“ könnte. Was also bestimmt, ob jemand zum IRA-Kämpfer wird oder – wie die allermeisten nordirischen Katholiken – allenfalls zum Unterstützungs- und Sympathisantenumfeld gehört? Empirische Untersuchungen, die mit Blick auf die deutsche RAF terroristische Neigungen auf besondere Persönlichkeitstypen und Milieus zurückzuführen versuchten, gelangten nur zu dem von Friedhelm Neidhardt (1981: 244) lapidar zusammengefassten Nicht-Ergebnis: „Terrorismus entsteht mit einem durchschnittlichen Sortiment von Leuten unter den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Ausgangsbedingungen.“ Neidhardt konstatiert statt fester und prognostisch nutzbarer sozial- oder persönlichkeitsstruktureller Determinanten eine mehr oder weniger zufällig einsetzende prozessuale Eigendynamik des kaum merklichen, erst sehr spät als solchen registrierten Hineinrutschens in etwas, was man sich so, wie es dann ist, durchaus nicht ausgemalt hat. Man wird sozusagen Terrorist wider Willen, weil man sich hinterrücks in einer biographischen Falle wieder findet, zu der dann allerdings auch gehört, dass man die Falle sogleich zur höheren Berufung glorifiziert, sich also vor sich selbst und anderen als Überzeugungstäter inszeniert. In den Biographien vieler IRA-Kämpfer spielte für diese biographische Fixierung auch ein mehr oder weniger langer Gefängnisaufenthalt eine wichtige Rolle, aus dem sie entweder überhaupt erst als akzeptierte Kämpfer hervorgingen oder der sie in diesem Selbstverständnis festigte. Die nicht nur Sicherheitsaspekten geschuldete Sonderbehandlung der IRA in den nordirischen und britischen Gefängnissen machte diese quasi – um mit Max Weber (1922: 321-348) die Analogie zu „religiösen Virtuosen“ zu ziehen – zu Klöstern des Geheimordens. Diese biographische Dynamik der Abweichungsverstärkung wird in dem Moment ultra-stabil, wo sie sich von sich selbst erfüllenden Prophezeiungen nährt: Sobald man sich und seinesgleichen als ewig Benachteiligte und Gedemütigte einstuft, wird man in jedem Akt der anderen Seite nichts anderes als weitere Benachteiligung und Demütigung sehen und sich entsprechend fühlen. Die andere Seite kann dann im Extremfall überhaupt nichts mehr dagegen tun, bestätigt nur mit allem, was sie tut, das Wahrnehmungsmuster (Neidhardt 1981: 252-257). Wendet man sich an dieser Stelle schon einmal kurz den nordirischen Katholiken als der zentralen Bezugsgruppe der IRA-Kämpfer zu, wird ein Beziehungsmuster deutlich, wie es Weber für das Verhältnis von „religiösen Virtuosen“ und der „Alltagsreligiosität“ der einfachen Gläubigen herausgestellt hat. Viele nordirische Katholiken, die keine IRA-Kämpfer wurden, erkannten an, dass ein Kämpfer mehr als seine Pflicht tut. Er ging weit über das hinaus, was jeder nordirische Katholik von jedem anderen seinesgleichen als Homo Sociologicus erwarten durfte. Der IRA-Kämpfer lieferte mit seinen Anschlägen supererogatorische Heldentaten in Form einer kollektiven Identitätsbehauptung, die stellvertretend auch für die vielen weniger Mutigen und weniger Opferbereiten standen. Was sie ihm dafür schuldeten, war 18
Siehe dazu analog für den Weg in den Hochleistungssport bis hin zur „Dopingfalle“ Bette/Schimank (2006: 39-143).
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Heldenverehrung – und aus dieser schöpfte er einen Großteil der sozialen Bestätigung, die er für seine individuelle Identitätsbehauptung benötigte. Wie es ein IRA-Terrorist ausdrückte: „Ich war kein unbedeutender Teenager mehr. Über Nacht wurde ich zum Helden. Ich fühlte mich fast besoffen von der Macht“ (zitiert bei Richardson 2006: 136). Damit ist erklärt, wie sich der fokale Akteur der zu analysierenden Konstellation konstituierte: warum nordirische Katholiken sich der IRA anschlossen und für sie terroristische Gewaltakte ausübten. Warum diese Gewaltakte im handelnden Zusammenwirken mit den anderen Akteuren der Konstellation eine Eskalation des Terrors und dessen jahrzehntelange Reproduktion auf einem hohen Level bewirkten, steht nun zur Erklärung an.
2.2 Warum eskalierte der Terror? Zunächst einmal setzt eine solche Eskalationsdynamik, wie sie in Nordirland im beobachteten Zeitraum stattfand, auf Seiten derjenigen, die die Gewalt ausüben, voraus, dass individuelle Akteure ihre Handlungskapazitäten dauerhaft zu kollektiven oder korporativen Akteuren bündeln. Beim britischen Militär und bei der nordirischen Polizei war dies in Gestalt formaler Organisationen von vornherein gegeben. Aber die katholischen Terroristen oder auch ihre protestantischen Antipoden hätten ja je allein auf sich gestellte individuelle oder höchstens situativ, etwa bei einer spontanen Straßenschlacht, kollektiv auftretende Akteure bleiben können. Selbst wenn dabei durch Nachahmung eine große Anzahl von Terrorakten zustande gekommen wäre, hätte dies bei weitem nicht jene Schlagkraft gehabt, die die IRA und die protestantischen Terrorgruppen als auf Dauer gestellte kollektive Akteure entfalteten. Betrachtet man die IRA als kollektiven Akteur genauer, erkennt man, dass die verschiedenen individuellen Kämpfer weder eine formale Organisation noch eine soziale Bewegung bildeten, sondern ein aus Kleingruppen zusammengesetztes Netzwerk geringer sozialer Dichte.19 Hinter dieser Akteurform, die man sich erst Mitte der 1970er Jahre gab, standen klare strategische Überlegungen. Anschläge der Art, wie sie die IRA durchführte, waren nicht für Einzelne machbar; also musste es arbeitsteilige Teams als kleinste operative Einheit geben. Aber die Erfahrung hatte gelehrt, dass man jenseits dieser Kleingruppen möglichst rigide Informiertheitssperren einbauen musste, um nicht vom Gegner ausspioniert werden zu können. Wer aufgrund des „loose coupling“ über andere Kämpfer-Teams tatsächlich nichts weiß, keine Namen und Absichten kennt, kann im Extremfall auch dann nichts verraten, wenn er gefoltert wird. Nur sehr wenige wussten über den Horizont ihrer Kampfeinheit hinaus etwas Genaueres über zukünftige Pläne und Aktivitäten der IRA; und wer diese wenigen waren, wussten die Kämpfer ebenfalls nicht. Die einzelnen Kampfeinheiten waren äußerst kohäsive Kleingruppen, in denen hohes wechselseitiges Vertrauen und hohes Zutrauen in die spezifischen Fähigkeiten der je anderen herrschte. Die IRA rekrutierte durchaus elitär in dem Sinne, dass erst Personen, die sich in einer Reihe von Bewährungsproben bewiesen hatten, zu Kämpfern nobilitiert wurden. Damit waren die Kampfeinheiten zugleich eine Quelle gegenseitiger sozialer Bestätigung dafür, dass man das moralisch Gebotene auf professionellem Niveau tat und nicht etwa ein feiger oder amateurhafter Killer war. Dies ist das Pendant zur Heldenverehrung durch diejenigen, die persönlich nicht so weit gehen wollten.
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Siehe auch die Überlegungen von Mayntz (2004) zur Governance des Terrorismus.
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Damit kann als nächster Akteur der Konstellation das bereits angesprochene Umfeld der IRA – die nordirischen Katholiken – in Augenschein genommen werden. Welche Handlungsantriebe und Handlungsmöglichkeiten fanden sich dort – neben der schon vermerkten sozialen Bestätigung für die IRA-Kämpfer? Zunächst einmal ist zu konstatieren, dass sowohl auf Seiten der Katholiken als auch auf seiten der Protestanten keineswegs die Gesamtheit oder auch nur große Mehrheit der Bevölkerung eine auch nur passive entschiedene Haltung zum Konflikt hatte, ganz zu schweigen von aktiver Unterstützung der terroristischen Gruppen der je eigenen Seite. Die nordirische Bevölkerungsmehrheit, ob katholisch oder protestantisch, war eine „schweigende Mehrheit“, die sich im Alltag möglichst aus dem Konflikt herauszuhalten versuchte und auch gemäßigte politische Parteien wählte, also eigentlich ein Ende des Terrorismus und andere Arten der politischen Auseinandersetzung präferierte. Zu dieser Gruppe gehörten vor allem diejenigen nordirischen Katholiken, die sozial aufgestiegen waren und den Nukleus einer dauerhaft friedliche Reformen tragenden katholischen Mittelschicht hätten bilden können. Das sympathisierende Umfeld war auf beiden Seiten nur ein kleinerer Teil der Bevölkerung – bei den Katholiken waren es vor allem die Bewohner der Arbeiterviertel in Belfast und anderen Städten. Und selbst von dieser Bevölkerungsgruppe wurde Terror durchaus nicht immer gutgeheißen und unterstützt. In den 1960er Jahren fühlten sich die nordirischen Katholiken vielmehr durch das Beispiel der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung ermutigt, auf friedlichen Protest zu setzen – und auch die IRA nahm von Gewalt als politischer Strategie Abstand, weil diese von der eigenen Klientel nicht gutgeheißen worden wäre. Als dann Ende der 1960er Jahre die unorganisierte, spontane Gewalt zwischen nordirischen Katholiken und Protestanten wieder aufkam, weil erstere gerade angesichts erster Erfolge zu ungeduldig wurden und letztere es angesichts dessen und der demographischen Entwicklung zugunsten der geburtenstärkeren Katholiken mit der Angst zu tun bekamen, wodurch wieder beiderseitig Drohgebärden Einzug hielten, hielt die IRA noch länger am Gewaltverzicht fest – was eine durch ideologischen Drift in Richtung Sozialismus hervorgerufene Fehleinschätzung der Stimmungslage der nordirischen Katholiken war, die ihre Verbitterung darüber, dass die IRA sie nicht gegen Übergriffe der Protestanten und der britischen Armee geschützt hatte, in der höhnischen Verballhornung von IRA in „I ran away“ ausdrückten. Nach inneren Spaltungen in „Official“ und „Provisional“ IRA übernahm dann schnell letztere, die wieder zur Gewalt griff, das Ruder und den Namen. An diesen Vorgängen wird deutlich, dass die IRA – anders als die RAF, aber ähnlich wie z.B. die ETA im Baskenland – eng mit einem größeren, räumlich in bestimmten Stadtteilen konzentrierten Umfeld an Sympathisanten und Unterstützern verbunden war. Damit hatte die IRA einen Rückzugsraum, wo terroristische Aktionen vorbereitet werden konnten; und sie konnte relativ sicher sein, dass ihre Aktionen und Mitglieder der Gegenseite nicht verraten werden würden. Über diese aktive Duldung ihrer Sache hinaus erfuhr die IRA aber auch große logistische und moralische Unterstützung – bis hin dazu, dass manche Eltern oder Ehefrauen stolz darauf waren, wenn ihre Söhne bzw. Männer zu den Auserwählten der IRA gehörten. Sie bewegte sich in der Tat, wie Mao Tse Tung es für den Revolutionär gefordert hatte, als Fisch im Wasser einer größeren Gruppe nordirischer Katholiken. Materiell gefestigt wurde diese Unterstützungsbasis dadurch, dass die IRA der katholischen Bevölkerung gerade in den Arbeitervierteln vielfältige quasi-sozialstaatliche Leistungen anbot sowie auch als Arbeitgeber auf dem offiziellen Arbeitsmarkt und auf dem Schwarzmarkt für Arbeit auftrat – ein Muster, was sich auch bei vielen anderen terroristi-
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schen Bewegungen findet (Richardson 2006: 91). Last but not least bot die IRA denjenigen nordirischen Katholiken, die in den immer wieder von protestantischen Umzügen und terroristischen Gruppen heimgesuchten Vierteln wohnten, Schutz gegen Übergriffe; ausgerechnet sie stellte paradoxerweise öffentliche Sicherheit her. Das für all das benötigte Geld akquirierte die IRA auf vielerlei Wegen, die – neben der anteilsmäßig bald zurückgehenden Unterstützung durch nordamerikanische Iren – ein breites Spektrum vom Kleingewerbe bis zu mafia-ähnlichen Praktiken und ganz gewöhnlicher Kriminalität umfasste. So ergab sich insgesamt, jenseits der wechselseitigen Identitätsbestätigungen, zwischen der IRA und ihrem Unterstützerumfeld in den katholischen Wohnvierteln ein für beide Seiten lukrativer Austausch von Leistungen. Geht man nun zur anderen Seite der Konstellation über, muss man zunächst die nordirischen Protestanten in den Blick nehmen. Sie waren lange Zeit die erklärten Günstlinge der englischen Besatzer – was auch nottat, weil die Protestanten zahlenmäßig klar in der Minderheit waren. Ihre mit starken Anreizen forcierte Einwanderung sollte, so der Schachzug der Engländer im 17. Jahrhundert, dazu dienen, das Gegeneinander von Besatzern und unterjochten „Eingeborenen“ – der Vergleich zum Kolonialismus drängt sich nicht zufällig auf – zu verkomplizieren; letztlich fungierten die Protestanten, die sich aus Überlebensinteresse an die Engländer halten mussten, als nicht der britischen Staatskasse auf die Tasche fallende natürliche Verbündete. Diese Rechnung ging voll auf. Bald musste man die Protestanten nicht einmal mehr mit politischen Mitteln privilegieren; über die wechselseitige Verstärkung von Wohlstand und guter Bildung ergab sich die Privilegierung, wie erwähnt, faktisch von selbst. Als die Versuche der Katholiken, sich gegen britische Besatzer und deren protestantische Günstlinge zur Wehr zu setzen, nach dem 1. Weltkrieg insoweit erfolgreich waren, dass sich die Republik Irland und damit vier Fünftel des besetzten Territoriums von der britischen Herrschaft befreien konnten, machte das den in Nordirland konzentrierten Protestanten den Ernst der Lage klar. Ähnlich wie die Weißen in Südafrika meinten sie, sich fortan keine Konzessionen leisten zu können – obwohl sie, anders als die südafrikanischen Weißen, zahlenmäßig zunächst deutlich überlegen waren, was sich aber aufgrund der schon erwähnten höheren Geburtenrate der nordirischen Katholiken allmählich unübersehbar verschob. Damit war Ende der 1960er Jahre bereits stark vorherbestimmt, dass die friedlichen Versuche der Bürgerrechtsbewegung der nordirischen Katholiken kaum hätten zum Erfolg führen können. Die Protestanten mussten dem aus elementarem Eigeninteresse entgegentreten. Erst recht mussten sie auf gewaltsame Aktivitäten der nordirischen Katholiken energisch reagieren; und sie durften sich dabei auch legitimiert fühlen, weil eben die manifeste physische Gewalt – sieht man über die latente „strukturelle Gewalt“ (Galtung 1971) der Unterprivilegierung und Demütigung hinweg – von der anderen Seite ausgegangen war. Auf Seiten der Protestanten herrschten also durchgängig klar eigennutzinteressierte Handlungsantriebe des Homo Oeconomicus vor. Diese wurden allerdings in dem Maße, in dem sich die nordirischen Katholiken, und als deren militante Speerspitze die IRA, seit Ende der 1960er Jahre in einen Quasi-Identitätskonflikt hineinsteigerten, ebenfalls als Identitätskonflikt erfahren. Die Protestanten hätten sich in einen verhandlungsförmigen Verteilungskonflikt, wären sie sicher gewesen, dass es dabei geblieben wäre, durchaus noch hineinbegeben können. Natürlich hätten sie Privilegien – die es aber als rechtlich formalisierte schon kaum noch gab – abgeben müssen, weil diese nicht legitimierbar gewesen wären. Sie hätten vermutlich auch ein erhebliches Maß an „affirmative action“ zugunsten der nord-
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irischen Katholiken – etwa beim Zugang zu höheren Schulen, Studienplätzen oder Arbeitsplätzen im Staatsdienst – hinnehmen müssen. Letzteres wäre insbesondere den nicht so gut gestellten Protestanten unter ihnen zum Nachteil erwachsen. Trotzdem hätten sie sich insgesamt besser gestellt, als es ihnen die Eskalation der terroristischen Gewalt dann beschert hat. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit, dass es einen selbst trifft, immer noch gering ist: dass man im weiteren persönlichen Umfeld Opfer zu beklagen hat, bleibt angesichts der eingangs verdeutlichten Größenordnung auf Dauer nicht aus. Wenn man davon ausgeht, dass die nordirischen Protestanten auch nur „Menschen wie du und ich“ sind, kann man annehmen: Sie hätten verhandelt. Aber erstens sahen sie schnell keine Chance mehr, weil die IRA und ihr katholisches Unterstützerumfeld das Spiel nach Art eines Identitätskonflikts betrieben; und zweitens trieb das die Protestanten in eine Sicht der Dinge hinein, die ebenfalls zumindest Züge eines Identitätskonflikts annahm. So wie die IRA und ihr Umfeld aufseiten der Protestanten und Briten nur noch Benachteiligungen und Demütigungen der eigenen Seite sahen, erblickten die Protestanten umgekehrt nur noch fundamentale Bedrohungen ihres Existenzrechts. Kein Wunder, dass sich auch bei den Protestanten Gruppierungen der militanten Gegenwehr bildeten! Und kein Wunder, dass über diese Gruppierungen im Umfeld der Ulster Defense Association hinaus ein weiteres Unterstützungs- und Sympathisantenumfeld – ganz analog zur IRA – entstand, das dann an symbolträchtigen Jahrestagen pure Provokation in Gestalt von Aufmärschen und dabei deklamiertem Liedgut als Identitätsbehauptung gegen die unterstellte Identitätsbedrohung durch die nordirischen Katholiken betrieb und auch ansonsten jede Gelegenheit nutzte, sich durch Aktionen der IRA provoziert zu fühlen! Diejenigen Protestanten, die sich in den terroristischen Gruppen engagierten, waren ebenso wie die IRA-Kämpfer keine eigennutzorientierten Individuen, sondern Identitätsbehaupter und wurden von der eigenen Bevölkerungsgruppe ähnlich bewundert und dadurch angestachelt. Freilich waren es, was den Erfolg der eigenen Sache anbetraf, deutlich optimistischere Identitätsbehaupter, die entsprechend selbstsicher penetrant auf ihr beharrten. Wie bei einer Vendetta lieferten die IRA und die protestantischen Terrorgruppen einander sehr schnell gegenseitig mit hoher Schlagzahl Gründe für den nächsten Anschlag – und natürlich war man selbst in der Selbstwahrnehmung immer derjenige, der nur reagierte. Neidhardt (1981: 251) verweist für die deutsche RAF auf die Analyse kommunikativer Pathologien von Paul Watzlawick, bei der jede der beiden Seiten die Verantwortung für gemeinsam als Konflikt erkannte Sachverhalte der jeweils anderen Seite zuschreibt und sich selbst nur als reagierend erlebt, und erklärt daraus die „Eigendynamik“ des Terrors, die dazu führt, „... daß keiner der Beteiligten heraus kann.“20 Allerdings war das Wechselspiel von RAF und Staatsgewalt ein anderes als das von IRA und protestantischen Terrorgruppen. In letzterem Fall standen einander zwei terroristische Gruppierungen, Terror und Anti-Terror, gegenüber; und die Staatsgewalt – nordirischer Staat einschließlich Justiz sowie britisches Militär und britische Regierung – war der Dritte. Diese Triade wirft im nächsten Schritt der Konstellationsanalyse zwei Fragen auf: Warum entstand sie überhaupt so, anstatt dass sich die protestantische Bevölkerung auf die Staatsgewalt und deren Gewaltmonopol verließ? Und sobald sich die Triade gebildet hatte: Welche Rolle spielte die Staatsgewalt und spielten insbesondere die letztlich die Fäden in der Hand haltenden Briten?
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Auch Schneider arbeitet in seinem Beitrag in diesem Band diese Eigendynamik heraus.
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Immer schon hatten die Protestanten in Irland zusätzlich zur Inanspruchnahme staatlichen Schutzes die eigene Sache – Schutz der eigenen Bevölkerungsgruppe, Wahrung eigener Privilegien und Verteidigung der eigenen Ehre – auch selbst in die Hand genommen.21 Wenn zwei Bevölkerungsgruppen einander wechselseitig so tief verhasst sind, aber trotz vieler räumlicher und sozialer Separierungen doch genügend Kontaktzonen bleiben, passieren im Alltag am laufenden Band Dinge, die – ob so gemeint oder nicht – wechselseitige Provokationen darstellen. Viele davon fallen unter die Bagatellgrenze des Rechts und andere sind nicht rechtlich behandelbar, weil Beweise fehlen. Will man das alles nicht einfach hinnehmen, muss man sein „Recht“ selbst in die Hand nehmen, also z.B. eine Schlägerei anfangen. Diese Gewalt der Straße – mal zwischen zweien, mal rotten sich spontan viele zusammen, mal rücken Banden aus – provoziert entsprechende Gegengewalt, u.s.w. Die Fatalität der Bagatellen, die rechtlich nicht abgearbeitet werden können, die Identitätsbehaupter aber nicht auf sich sitzen lassen dürfen, reicht schon aus, um eine Fortsetzungsgeschichte von Gewaltzwischenfällen zu schreiben; und hier ist eine Abweichungsverstärkung der Konstellation wechselseitiger Beobachtung und gewaltsamer Beeinflussung in Richtung Terrorismus zwar nicht zwingend vorgezeichnet, wird aber unter geeigneten Randbedingungen wahrscheinlich. Diese Zwischenfälle gab es in den relativ „friedlichen“ 1960er Jahren, bevor der Terrorismus einsetzte; und sie sorgten aus zwei Gründen bei den nordirischen Protestanten für Nervosität. Erstens waren die Briten geneigt, sich aus Nordirland zurückzuziehen. Nutzen zogen sie aus ihrer Besatzerrolle schon lange nicht mehr – wenn sie ihn in einem die Kosten übersteigenden Maße überhaupt je hatten! Dass sie 1922 den größten Teil ihres Besatzungsgebiets abgetreten hatten, war nur eine nüchterne Kalkulation – aber als solche im kollektiven Gedächtnis der nordirischen Protestanten ein Menetekel. Zweitens verglichen die Protestanten die Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre – massenmedial unterrichtet – mit der Bürgerrechtsbewegung in den USA, die in den Südstaaten zu dieser Zeit Erfolge feierte. Gerade die Friedlichkeit des Protests der nordirischen Katholiken machte ihn in den Augen der Protestanten gefährlich, weil legitim. In der europäischen Öffentlichkeit, die zu jener Zeit Nordirland in den Blick bekam, war das Wahrnehmungsmuster sehr stabil: Die Katholiken sind im Recht, weil sie benachteiligt werden – und wenn sie dieses Recht noch dazu friedllich verfolgen, bietet nicht einmal mehr die Wahl ihrer Mittel einen Anlass zur Delegitimierung ihrer Anliegen. Die Protestanten hatten also als Nutzen verfolgende Akteure gute Gründe, die eigene Sache nicht den Briten zu überlassen und sie auch gewaltsam – was noch nicht Terror heißt – zu verfolgen. Wenn sich die Katholiken provozieren ließen und selbst gewaltsam wurden, wovon man ausgehen konnte, standen sie nicht mehr ganz so eindeutig als „die Guten“ da – selbst wenn sie provoziert wurden. Den Protestanten kam dabei sehr gelegen, dass bereits nicht-gewaltsame Provokationen von ihrer Seite – insbesondere Schmählieder auf Umzügen – ausreichten, um die Katholiken als „emotional men“ und Identitätsbehaupter zur Gewalt zu reizen. Man konnte sich hinterher dann gut über die Unverhältnismäßigkeit der Reaktion beklagen. Zwischenergebnis: Das innere Konfliktpaar der Konstellation – die IRA und die protestantischen Terrorgruppen – sowie die beiden Umfelder, in die sie eingebettet waren, ergaben, weil ungefähre „Waffengleichheit“ gegeben war, ein in sich stabiles Beziehungsmuster: ein 21
Genau genommen ging beides insofern weitgehend Hand in Hand, als die Protestanten die große Mehrheit der Mitglieder der nordirischen Polizei und insbesondere der paramilitärischen Einheiten stellten.
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Konstellationsgleichgewicht. Die aktiven Gewalttäter beider Seiten wurden immer wieder unmittelbar durch die Gewalt der direkten Antipoden wie mittelbar durch die generelle Wahrnehmung der je anderen Seite – durchgängige Besserstellung der Protestanten beziehungsweise demographische Dynamik der Katholiken – aufgestachelt und darin durch ihr jeweiliges Umfeld bestätigt. Die britischen Besatzer hätten hier – so könnte man zunächst meinen – eine vermittelnde, die Kampfhähne trennende Rolle spielen können und wollten dies am Anfang des betrachteten Zeitraums auch tun. Stattdessen wurden sie trotz ihres überlegenen militärischen Gewaltpotentials in die Polarität des Konflikts hineingezogen. Die Interessenlage und die Handlungsmöglichkeiten der Briten hatten sich schon lange vor dem hier betrachteten Zeitraum gewandelt. Sie suchten, wie bereits erwähnt, im Grunde schon spätestens seit Anfang des 20. Jahrhunderts nach einer Möglichkeit, sich aus Nordirland zurückziehen, und verlängerten nur zum Schutz der dortigen Protestanten ihre Besatzung dieses Teils der Insel. Denn nicht nur, dass Nordirland – anders als die Kolonien des britischen Empires – nicht ökonomisch ausbeutbar war; es wurde durch die Kosten des dauerhaften Militäreinsatzes und der sozialstaatlichen Leistungen, die aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit dort fällig wurden, zunehmend ein ärgerlicher Budgetposten. Insbesondere Ende der 1960er Jahre, als der hier interessierende IRA-Terrorismus einsetzte, waren die Briten entschlossen, als Schlichter aufzutreten, um sich einen ehrenhaften und kostensparenden Abgang zu verschaffen. Ihr Handlungsantrieb war also der eines Homo Oeconomicus, in dessen Kalkül allerdings Identitätsbehauptung eine feste Größe bildete. Anders als etwa die Amerikaner, die Vietnam letztlich weltweit gedemütigt verließen, um nutzenorientiert lieber ein Ende mit Schrecken als einen Schrecken ohne Ende zu haben, hielten die Briten an ihrer nationalen Ehre fest und mussten deshalb bis heute in Nordirland durchhalten.22 Für einen kurzen Moment spielten die Briten die Schlichterrolle sogar so überzeugend, dass es zu Szenen der Verbrüderung der nordirischen Katholiken mit britischen Soldaten kam. Doch dies war ein labiler Zustand, der dann auch schnell in die alte Gegnerschaft umschlug. Weil die Briten – so die koinzidentielle Dynamik – zu einem kritischen Zeitpunkt zunächst nordirische Katholiken gegen Übergriffe der protestantischen Terrorgruppen schützten, gewannen sie überraschend die spontane Sympathie ihrer bisherigen Gegner. Doch sobald die Briten dann, was der selbstgewählten Rolle des Unparteiischen nur entsprach, angesichts der wechselseitigen Gewaltprovokationen auch gegen die Katholiken einschritten, wurde das von denen wieder als Bestätigung des alten Feindbilds genommen. Dies wäre wohl auch ohne das operative Desaster des „Bloody Sunday“ passiert; aber nach ihm waren die Fronten für Jahrzehnte zementiert. Eine mehr ins Detail gehende Analyse müsste sich, so wie dies hier für die IRAKämpfer angedeutet wurde, vor allem auch in die Situation der einfachen britischen Soldaten hineinversetzen, die tagtäglich in den Straßen Dienst zu tun hatten und dabei permanent um ihr Leben fürchten mussten. Dass dies – trotz aller militärischen Sozialisation und trotz allen Deeskalationstrainings – immer wieder Kurzschlussreaktionen und Fehlverhalten hervorrief, war unvermeidlich; und dass dies dann wieder Wasser auf den Mühlen derer war, die die britische Armee als Feindbild brauchten, versteht sich ebenso von selbst. Wahrscheinlich war es für die protestantischen Terrorgruppen ein Leichtes, die britischen 22
In einer weiteren Hinsicht könnte allerdings ein mögliches rationales Eigeninteresse der britischen Regierung liegen, das zum Festhalten an Nordirland motiviert haben könnte: Die Aufgabe dieser Provinz hätte in Schottland und Wales eine Signalwirkung haben können, noch stärker die eigene Autonomisierung innerhalb des Vereinigten Königreichs zu betreiben oder es sogar verlassen zu wollen.
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Soldaten in Situationen zu manövrieren, die dann in deren Augen die IRA und die Katholiken insgesamt schlecht dastehen ließen und einen Schulterschluss mit den Protestanten nahelegten. Wirft man nun noch den Blick auf die Republik Irland als weiteren politischen Akteur in der Konstellation, erklärt sich die Hinwendung der IRA zum Terrorismus wieder ein Stück mehr. Irland betrieb, auch im Rahmen der Einbindung in die spätere EU, eine längerfristige Politik der Annäherung an Europa einschließlich Großbritanniens; dafür war eine Unterstützung von Terrorismus denkbar inopportun. Zudem hätte die irische Regierung kein wirkliches Interesse an einer von der IRA herbeigebombten Vereinigung mit Nordirland gehabt – aus Sicht der Republik wäre es das schlimmste Szenario überhaupt gewesen, wenn die Briten sich wie die Amerikaner in Vietnam Hals über Kopf herausgezogen und ihr den schwarzen Peter überlassen hätten. Klare Nutzenerwägungen hielten die Republik Irland also davon ab, die IRA nennenswert zu unterstützen.23 Das wiederum verstärkte auf Seiten der IRA den Eindruck, auf sich allein gestellt zu sein;24 und unter den erläuterten Gegebenheiten bewog das nicht zum Fatalismus, sondern zum trotzigen Aktivismus. Denn die Republik Irland war umgekehrt auch nicht gewillt, sich mit erwartbar wenig erfolgsträchtigen Deeskalationsbemühungen aktiv einzuschalten. Das Risiko, sich die Finger zu verbrennen oder vielleicht gar in den Konflikt hineingezogen zu werden, erschien zu groß. Weder die Briten noch die Republik Irland konnten also die Eskalation des Terrorismus stoppen. Terroristische Akte fanden in großer Häufung statt und produzierten als unmittelbare Resultate erhebliche Zerstörungen und viele Tote. Das waren Anlässe dafür, dass das Geschehen über Irland hinaus öffentliche Aufmerksamkeit fand. An dieser Stelle kann die Konstellationsanalyse wieder differenzierungstheoretisch unterfüttert werden, um zu verstehen, wie auf der einen Seite die IRA die erläuterte expressive Note ihrer Terrorakte öffentlichkeitswirksam inszenieren konnte und auf der anderen Seite die nordirische und britische Staatsmacht hinsichtlich ihres Umgangs mit gefassten Terroristen sowie aufgrund bestimmter Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung öffentlichkeitswirksam in Legitimationsprobleme geriet. Terrorakte wirken, jenseits eher kontingenter und höchstens begrenzter instrumenteller Effekte, auf jeden Fall als symbolische Gesten, die funktional äquivalent dem Aufmerksamkeitserfolg von Massendemonstrationen sind. Der Blick einer größeren politischen Öffentlichkeit wird auf das Anliegen des Terrorismus gelenkt – in der Hoffnung auf zukünftige Unterstützung, mindestens in Gestalt einer sympathisierenden öffentlichen Meinung. Diese von den Terroristen erhoffte Wirkungsweise ihrer Anschläge setzt stark auf die Nachrichtenfaktoren des Teilsystems Journalismus. Es handelt sich um aktuelle, spektakuläre, stark moralisier- und skandalisierbare sowie personalisierbare Ereignisse, die oftmals auch makabre quantitative „Rekorde“ erzielen, etwa hinsichtlich Sprengstoffmenge oder Zahl der Toten, und in Gestalt von Trümmern, Autowracks oder Leichenteilen ein auch visuelles Grusel-Faszinosum darstellen. Diese Faktoren luden schnell so hoch, dass sich die Berichterstattung nicht mehr auf Nordirland, Irland oder Großbritannien beschränkte, sondern der IRA-Terror in großen Teilen Europas und auch in den USA ein gut sichtbares 23
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Was nicht heißt, dass in der Republik lebende Iren nicht zum Unterstützerkreis der IRA gehörten – wie auch viele US-Amerikaner irischer Abstammung. Je weiter weg vom Schuss man lebt, desto leichter fallen einem fahrlässige Sympathien (Richardson 2006: 62). Hinzu kommt das von Pettenkofer angesprochene historische Trauma der IRA, dass die Existenz der Republik Irland Ergebnis eines inakzeptablen Verrats an der Sache „aller“ Iren darstellt.
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Thema der Medien war. So gesehen ging die Rechnung der IRA – die im Laufe der Konflikteskalation auch ihre Öffentlichkeitsarbeit professionalisierte – auf. Die Staatsmacht tut sich hingegen im Umgang mit Terroristen schwer und wird darin von der journalistischen Berichterstattung vorgeführt. Ignorieren und durch symbolische Politiken „aussitzen“ wie viele andere Themen lässt sich der Terrorismus nicht; dazu ist er zu allgegenwärtig in der journalistischen Berichterstattung, und die Terroristen können, sobald sie eine kritische Masse an Mittätern und Unterstützern gewonnen haben, auch immer wieder nachlegen. Militärisch bekommt man den Terrorismus kaum unter Kontrolle, wenn man nicht unverhältnismäßige Maßnahmen ergreifen will, die die politische Legitimität schnell untergraben könnten. Politisch verhandeln kann man mit Terroristen auch nicht. Erstens würden sie nicht kommen, und zweitens hieße das, ihre Anschläge nachträglich zu legitimieren, was angesichts der menschlichen Opfer schwer vermittelbar ist. Auch durch Anreize finanzieller oder anderer Art sind Terroristen nicht von ihren Taten abzubringen; abgesehen davon würde man sie so nur auf den Geschmack bringen, ihr Metier ins Entführen und Lösegelderpressen zu verlegen, oder andere würden auf diese „Geschäftsidee“ gebracht, wie es etwa im Irak und in Afghanistan geschehen ist. Das Angebot demokratischer politischer Teilhabe schließlich bleibt zweischneidig, wie einschlägige Erfahrungen – auch in Nordirland – zeigen. Man bietet den Anliegen der Terroristen damit nur eine weitere Arena an, ohne sich des zivilisierenden Effekts dessen sicher sein zu können. So bleibt neben dem Militär nur noch das Rechtssystem, auf das der Staat setzen kann. Gefasste Terroristen können strafrechtlich nach den Regeln der Kunst prozediert werden. Auch hier gilt: Gerichtsprozesse sind eine zusätzliche Arena der Selbstdarstellung des Terrorismus, die große Aufmerksamkeit journalistischer Berichterstattung findet. Wie das Militär müssen auch die Gerichte und Polizisten sehr aufpassen, keinen falschen Schritt zu tun, weil ihnen nur allzu leicht überzogene Maßnahmen und Willkür unterstellt werden. Neben Gerichten sind dann auch die Gefängnisse Orte, wo sich die inhaftierten Terroristen medienwirksam in Szene setzen können. Einerseits unterliegen sie als besonders gefährliche Insassen besonderen Sicherungsvorkehrungen; andererseits können diese leicht als inhuman dargestellt werden, was dann den Staat wiederum delegitimiert. Insbesondere Aktionen wie Hungerstreiks, die IRA-Gefangene einige Male inszenierten, sind probate Mittel, „… um Schande über seinen Feind zu bringen …“ (Richardson 2006: 46). Hinzu kommt bei der IRA wie bei anderen terroristischen Gruppierungen die – aus ihrem Selbstverständnis heraus konsequente – Forderung, nicht als gewöhnliche Kriminelle, sondern als politische Gefangene bzw. Kriegsgefangene behandelt zu werden, worauf das Rechtssystem nicht eingeht, weil es gerade das Kriminelle, nicht das Politische des Terrorismus markieren will. Hieran kommt nochmals der Meta-Konflikt über den Modus des ausgetragenen Konflikts zum Ausdruck: Terroristen sind um Politisierung bemüht, die staatlichen Instanzen genau umgekehrt um De-Politisierung. Beide Seiten versuchen also, die gesellschaftliche Differenzierungsstruktur strategisch gegen die je andere Seite auszuspielen. Der Terrorismus der IRA – wie jeder Terrorismus – ist, wie dargestellt, ein sich politisch verstehendes und politisch auftretendes Handeln, das aber auf charakteristische Weise zugleich immer auch militärische und rechtliche Bezüge assoziiert, so dass es in diesem Dreieck der Teilsysteme chamäleonartig changiert und genau dadurch eine reguläre politische Bearbeitung verhindert – wie auch eine reguläre rechtliche oder militärische. Man könnte sagen, dass Terrorismus eine solche irreguläre strukturelle Kopplung der drei – regulär ja sehr eng und koordiniert gekoppelten – Teilsysteme inszeniert, die es ihm ermög-
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licht, sich dem Zugriff aller drei Teilsysteme zu entziehen. Was sie auch tun – sie können es eigentlich nur falsch machen. Betreiben Politik, Recht und Militär funktional differenziertes business as usual, reklamiert der Terrorismus, sein Anliegen lasse sich in den Strukturen funktionaler Differenzierung nicht unterbringen, und kann sich dann leicht in der Opferrolle darstellen;25 überschreiten die teilsystemischen Akteure aber ihre funktional differenzierten Kompetenzen, wirkt dies schnell willkürlich, was dem Terrorismus erst recht die Opferrolle ermöglicht. Am Ende dieser Konstellationsanalyse muss noch ein bisher nicht angeklungenes analytisches Zugeständnis an koinzidentielle Erklärungsfaktoren stehen. Das entfaltete Erklärungsmodell mag sehr deterministisch klingen, in bestimmten Hinsichten sogar doppelt und dreifach determiniert, was die gewaltauslösenden Dynamiken anbetrifft. Empirisch gilt freilich, dass die Konstellation in ihren strukturellen Grundzügen „… had existed for fifty years without serious effect until the peculiar combination of circumstances arose in 19691979” (Bell 1973: 409). Letztlich losgetreten werden solche Eskalationsdynamiken oft – wie auch hier – durch koinzidentielle Faktoren, also zufällige Verkettungen von Umständen, die auch ganz anders hätten laufen können, dann aber sehr schnell in eine unentrinnbare Logik hineingleiten, wie sie das – ab dem Moment richtigerweise eine hohe Determiniertheit des Geschehens behauptende – skizzierte Erklärungsmodell abbildet.26 Den akteurtheoretisch – und politisch! – interessantesten Teil solcher kontingenter Auslöser von Strukturdynamiken bilden Einschätzungen und Entscheidungen maßgeblich involvierter Akteure. Manchmal wird im Nachhinein sehr schnell klar, dass falsche Bewertungen der Lage und daraus hervorgehende Handlungsschritte notwendige Bedingungen dessen, was dann passierte, waren – so im hier betrachteten Fall einige Fehleinschätzungen und strategische Fehltritte der Briten sowohl auf politischer als auch auf militärischer Ebene. Weil dies aber nicht zwingend so hätte sein müssen, andere politische und militärische Sichtweisen und Optionen offen gestanden hätten, kommt eine akteurtheoretische Analyse hier an den Punkt, an dem sie solche wichtigen Bausteine der Erklärung des realen Geschehens nur wie ein Historiker als erzählende Vorgeschichten und Zwischenglieder des Erklärungsmodells einbauen kann. Mehr als diese Skizze eines Erklärungsmodells aus der Perspektive einer akteurzentrierten Differenzierungstheorie konnte hier nicht geliefert werden – aber um den empirischen Fall selbst sollte es ja auch nicht primär gehen. Er diente im vorliegenden Zusammenhang, so bedeutsam er für sich genommen natürlich gesellschaftlich ist, hauptsächlich als Demonstrationsobjekt für Theorie-Vorführungen. Natürlich konnte auch die Theorieperspektive längst nicht voll entfaltet werden. Aber zumindest einige grundlegende Kategorien und Modell-Module, punktuell exemplarisch angereichert durch spezifischere Analyseinstrumente, konnten präsentiert werden. Der charakteristische Duktus der akteurzentrierten Differenzierungstheorie, ihre Art zu fragen und ihre Art von Antworten, sind so hoffentlich deutlich – und damit vergleichbar mit den anderen in diesem Band präsentierten Theorieperspektiven – geworden.
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Das gilt generell für heutige Protestbewegungen, deren Anliegen ja „Differenzierungsschäden“ sind, also Probleme, die aus funktionaler Differenzierung erst entstehen (Luhmann 1997: 847-865). Auch Schneider betont in seinem Beitrag in diesem Band die oftmals gegebene „Geringfügigkeit des … Konfliktanlasses“.
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Für einen Theoriendialog ohne Entscheidungszwang. Nutzen und Grenzen eines fallbezogenen Theorienvergleichs aus Sicht der empirischen Konfliktforschung
Marcel M. Baumann und Thorsten Bonacker 1
Einleitung
Theorienvergleiche haben in der deutschen Soziologie eine gut 30jährige Tradition und gehen auf ein Unbehagen am Theorienpluralismus zurück (vgl. zunächst Hondrich 1978). Mit einem systematischen Vergleich soll ein unreflektiertes Nebeneinander unterschiedlicher Theorieansätze überwunden werden. Freilich unterscheiden sich dabei die Ziele und Ausgangsprämissen unterschiedlicher Theorievergleiche: Der empirische Theorienvergleich von Opp u.a. (vgl. Opp/Wippler 1990, Hüpping 2005) versteht Theorienpluralismus prinzipiell als einen kritischen Zustand, der im Zuge der Theorieentwicklung und des wissenschaftlichen Fortschritts überwunden werden sollte. Historischen und systematischen Theorienvergleichen geht es hingegen eher darum, die impliziten Traditionen von Theorien freizulegen, um auf diesem Weg eine Verständigungsgrundlage für einen intertheoretischen Dialog zu schaffen (Haller 2006). Gegen die erste Position kann man einwenden, dass sie eine bestimmte und durchaus umstrittene methodologische Prämisse universalisiert und damit von vornherein bspw. post-positivistische Theorien ausschließt. Gegen die zweite Position spricht, dass sie im Grunde nicht an Theorieentwicklung, sondern nur an der Theorierekonstruktion interessiert ist. Der hier vorgeschlagene Weg des fallbezogenen Theorienvergleichs nimmt demgegenüber eine Mittelposition ein: Behauptet wird zum einen, dass die „Multiparadigmatase“ (Gabriel 2004: 17) der Sozialwissenschaften keinen Wert an sich hat und dass es eine empirisch zu klärende Frage ist, ob und inwiefern unterschiedliche Theorien wirklich Unterschiedliches behaupten. Zum anderen gehen wir aber von einem methodologischen Konstruktivismus und damit von der Behauptung aus, dass Theorien – freilich nach gewissen Regeln – ihre Gegenstände erst hervorbringen. Sozialtheorien haben immer auch eine welterschließende Funktion. Der Sinn des fallbezogenen Theorienvergleichs besteht vor diesem Hintergrund darin, dass verschiedene Theorien über den Bezug zum gleichen Gegenstand miteinander ins Gespräch gebracht werden sollen. Insofern enthält der Beitrag eine Aufforderung zum intertheoretischen Dialog und versucht anhand der vorliegenden Beiträge in diesem Band zumindest anzudeuten, wie ein solcher Dialog aussehen könnte (Zima 1989). Offen ist dabei natürlich auch die Frage, ob es sich dabei wirklich um den „gleichen“ Gegenstand handelt oder ob sich die Konstruktionsprinzipien von Theorien so stark voneinander unterscheiden, dass ein Vergleich überhaupt keinen Sinn mehr macht. Die Fragen des fallbezogenen Theorienvergleichs lauten also: Gibt es konsensuale bzw. komplementäre Erklärungen und Beschreibungen des ausgewählten Falles? Gehen Unterschiede zwischen verschiedenen Sozialtheorien auf Unterschiede im Vokabular oder
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auf unterschiedliche Aufmerksamkeiten für bestimmte Phänomene zurück? Oder basieren sie auf gleichsam harten und unauflösbaren methodologischen Differenzen? Auch in einem weiteren Punkt geht der fallbezogene Theorievergleich einen Mittelweg zwischen empirischem und systematischem Theorienvergleich: Geht die erste Position davon aus, dass sich Theorien letztlich an der Empirie testen lassen, rekonstruiert die zweite Theorien ohne Bezug auf Empirie. Im Folgenden versuchen wir demgegenüber unterschiedliche Theorieansätze auch mit Erkenntnissen der empirischen Konfliktforschung zu konfrontieren. Dies ist zwar nicht ganz unproblematisch, denn auch diese Erkenntnisse sind ja in irgendeiner Weise theorieabhängig. Aber dennoch müssen sich Theorien durch eine Empirie bzw. Konfliktrealität irritieren lassen, auf die sie sich als Sozialtheorien immer beziehen. Vielleicht ist es sinnvoll, diese Irritation durch Empirie nicht als „Testfall“ von Theorien, sondern als Teil des intertheoretischen Dialogs zu verstehen, denn die Überzeugungskraft von Theorien hängt zum einen auch in hohem Maße davon ab, wie sie sich zu alternativen Beschreibungen einer sozialen Wirklichkeit verhalten. Zum anderen muss auch hier geprüft werden, ob bestimmte Beschreibungen mehr oder weniger auf Konsens stoßen. Ein so verstandener fallbezogener Theorienvergleich läuft letztlich darauf hinaus, Radikalpositionen zu vermeiden, die vom Ideal einer einzigen erklärenden Sozialtheorie oder vom „anything goes“ ausgehen. Stark gemacht wird demgegenüber die Idee, dass die Frage nach Gemeinsamkeiten und unüberwindbaren Unterschieden sozialtheoretischer Erklärungen und Beschreibungen am Fall geklärt werden muss und nicht abstrakt postuliert werden kann. Es gibt deshalb aus unserer Sicht keinen Entscheidungs-, sondern eher einen Dialogzwang. Im Folgenden wird vor diesem Hintergrund der Versuch unternommen, Ansatzpunkte für einen intertheoretischen Dialog zu liefern und damit zu zeigen, worin die Möglichkeiten und Grenzen eines fallbezogenen Theorievergleichs – auch aus der Perspektive der empirischen Konfliktforschung – liegen. 2
Sozialtheorien in der Konfliktwirklichkeit: Berührungspunkte und Differenzen
Vergleicht man die in diesem Band präsentierten Ansätze lassen sich auf der einen Seite prägnante Vokabular- und Aufmerksamkeitsunterschiede feststellen – bis hin zu unterschiedlichen Erklärungen des gleichen Phänomens: Der Neoinstitutionalismus erklärt Gewalthandeln mit Verweis auf makrostrukturelle Kontexte, während der methodologische Individualismus an den Motiven der Akteure ansetzt. In gewisser Weise verhalten sich verschiedene Ansätze aber auch komplementär zueinander. So könnte man sagen, dass die Analyse einer Konfliktgesellschaft sowohl aus der Perspektive der Teilnehmer, der handelnden Akteure, als auch aus der Perspektive einer Weltkultur erfolgen kann. Ansätze wie Bourdieus Praxistheorie versuchen zwar, beide Perspektiven aufeinander zu beziehen, lösen dabei aber kaum das methodologische Grundproblem der Perspektivenabhängigkeit des (sozialtheoretischen) Beobachtens, weil sie letztlich nur eine weitere Perspektive einführen. Selbstverständlich können Sozialtheorien mit Blick auf spezifische Fragestellungen wie die Erklärung der Genese terroristischer Gruppen plausibler sein als andere. Der Witz des fallbezogenen Theorienvergleichs liegt indes darin, dass er zum intertheoretischen Dialog auffordert, um darüber zum einen etwas über die Logik von Theoriebildung zu lernen und zum anderen die Sachaussagen von Theorien miteinander vergleichen zu können. Auf diese Weise könnte man zu so etwas wie einem Kern von Aussagen kommen, denen alle Theo-
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rien im Prinzip zustimmen würden, auch wenn sie dafür unterschiedliche Vokabulare verwenden. Bei aller – zum Teil auch unüberbrückbarer – Differenz sollte man nicht die Gemeinsamkeiten und Überschneidungen verkennen, die sich in der theoretischen Beschreibung einer bestimmten Konfliktwirklichkeit, wie der nordirischen, ergeben. In der Synopse aus den in diesem Band vorhandenen soziologischen Theorien kristallisierten sich im Wesentlichen drei analytische Cluster über die Rolle der IRA als zentral heraus, anhand derer sich die These vom Dialog statt Entscheidungszwang verdeutlichen lässt: erstens, die Suche nach theoretisch ableitbaren Antwortstrategien auf den Wandel von gewaltfreiem Widerstand hin zum gewaltsam ausgetragenen inner-staatlichen Konflikt (2.1) und zweitens, die Frage nach der Relevanz von (kulturellen) Symbolen (2.2). Über den lokalen nordirischen Kontext hinaus kann der fallbezogene Theorievergleich, drittens, auch deswegen als fruchtbar charakterisiert werden, da sich aus der Beschäftigung mit dem Einzellfall IRA bzw. Nordirland in verschiedenen Theoriezugängen auch allgemeine Erkenntnisgewinne für die Gewalt- und Terrorismusforschung als Ganzes gewinnen ließen – vor allem in jenen soziologischen Theorien, innerhalb derer Terrorismus bisher eher als blinder Fleck des Beobachtens galt, wie z.B. im Neo-Funktionalismus (2.3). 2.1 Die Instabilität von Gewaltfreiheit bzw. der (Neu-)Anfang von Gewalt Die Ereignisgeschichte des Nordirlandkonfliktes beschreibt gegen Ende der 1960er Jahre als zentrale Entwicklung hin zum gewaltsam ausgetragenen, inner-staatlichen Konflikt eine Transformation der gewaltfreien Aktionen der katholischen Bürgerrechtsbewegung: Die Artikulation von vergleichsweise moderaten politischen Zielen durch gewaltfreien Protest wurde durch beobachtbare Gewaltphänomene der IRA abgelöst, d.h. es kam zur gewaltsamen Eskalation des inner-staatlichen Konfliktes, der in der Literatur wahlweise als Bürgerkrieg oder „Troubles“ bezeichnet wird. Das offizielle Ende wird in der Regel mit der Unterzeichnung des so genannten „Karfreitagsabkommens“ im April 1998 datiert. Die in diesem Band angewandten Theorien bzw. (sozial-)theoretischen Zugänge liefern divergierende Erklärungen dieser Transformation von der Gewaltfreiheit hin zur Gewalt-Eskalation:
durch eine fundierte „Erklärung“ der aufeinander bezogene Gewaltdynamiken: Aktions-Repressions-Spirale u.a., durch einen Blick auf die – bspw. funktional-differenzierte – Gesellschaft bzw. die Ebene der Gemeinschaften, oder durch eine spezifische Analyse der (Gewalt-)Akteure.
Wichtig ist an dieser Stelle, dass diese drei Zugänge nicht als exklusiv, sondern als komplementär zueinander zu betrachten sind. Oder einfacher ausgedrückt: „Divergierende Theorieansätze sprechen miteinander“. Das „miteinander Sprechen“ der soziologischen Theorien kann entlang der drei Blickrichtungen nachgezeichnet werden: Der systemtheoretische Beitrag rekonstruiert „Terrorismus“ als „Parasit“, der enge Beziehungen zu weiteren Parasiten wie Protest und (Bürger-)Krieg unterhält. Schneider (in diesem Band) ordnet die Wahl von „Gewaltfreiheit“ als politisches Instrument zunächst als „taktische Frage“ ein, denn der Gewaltverzicht der Northern Ireland Civil Rights Association (NICRA) bedeutete daher lediglich, „dass andere Mittel hier und jetzt besser geeignet
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erschienen, um dem Gegner eine Niederlage beizubringen“. Der gewaltfreie Protest der NICRA lief politisch in eine „universalistische und reformistische Stoßrichtung“ – es wurde eine Gleichberechtigung der Katholiken im nordirischen Staat verlangt –, d.h. er setzte sich bewusst von der dominierenden konfessionellen und politischen Konfliktlinie ab. Doch die Ablösung des Konflikts von der „sozial eingespielten Freund/Feind-Distinktion“ durch universalistische Argumentation und Akzentuierung der Sachdimension erwies sich als vorläufig und konnte nicht verstetigt werden. Systemtheoretisch kann dies durch den parasitären Charakter der Protestbewegung erklärt werden, der dafür sorgt, dass der Protest an die überlieferte Konfliktlinie gebunden bleibt. Der moderaten Politikformulierung der Bürgerrechtsbewegung standen auf beiden Seiten des Konflikts „partikulare Definitionen kollektiver Identität“ (Schneider, in diesem Band) gegenüber, die sich aufeinander im Schema von Freund und Feind bezogen und daher kein Interesse an einer „universalistischen“ Ausrichtung zukünftiger Politikausrichtung hatten. An dieser Stelle ist der Anknüpfungspunkt für die Webersche Soziologie: Der NICRA ging es also nicht darum, den „politischen Kampf“ der beiden Gemeinschaften auf der Ebene des Gegensatzes zwischen zwei „Nationen“ fortzuführen. Analytisch wird dieser Punkt klar, wenn man die systemtheoretische Terminologie „partikulare Definitionen kollektiver Identität“ mit dem Vokabular Webers übersetzt und den Nordirlandkonflikt als einen Konflikt zwischen Gemeinschaften mit unterschiedlichen „nationalen Bindungen“ auffasst, wobei sich diese nicht auf Klassenlagen oder auf religiöse Lagen zurückführen lassen (vgl. Greve, in diesem Band). Das „Neue“ an der Bürgerrechtsbewegung war demnach die Forderung von Gleichbehandlung der Katholiken im britischen Staat – die konfliktgeladenen „nationalen Bindungen“ (systemtheoretisch: „partikulare Definitionen kollektiver Identität“) spielten keine Rolle. Dadurch gelang der Bürgerrechtsbewegung die Delegitimierung des Stormont-Regimes, da sie gegen dieses demokratische Ansprüche stellte – und eben keine revolutionären. Wie erklärt sich aber – in einem zweiten Schritt –, dass im Zuge der Delegitimierung des britischen Staates gleichzeitig Gewalt als Mittel des politischen Kampfes im Verlaufe des Konflikts an Legitimität gewinnt? Die Webersche Erklärung für die Instabilität der Gewaltfreiheit geht davon aus, dass die IRA gleichzeitig zwei verschiedene Legitimitätsressourcen für den Einsatz von Gewalt aktivieren konnte: Gewalt wurde als Unterstützung zur Wahrung unmittelbar bedrohter materieller Interessen und zur Durchsetzung nationaler Interessen legitimiert. Die materiellen Interessen kamen ins Spiel, da es der IRA gelang, sich erfolgreich als Garantie- und Schutzmacht für die katholische Bevölkerung zu bewähren: „Schließlich werden also Nationalismus, Anspruch auf Gleichberechtigung und unmittelbare Schutzinteressen durch die IRA amalgamiert“ (Greve, in diesem Band). Die Systemtheorie rekonstruiert die Instabilität von Gewaltfreiheit nicht mit einem handlungs-, sondern mit einem kommunikationstheoretischen Vokabular als „Stabilisierung des Rauschens“. In Anlehnung an Serres wird ein „Parasit“ informationstheoretisch als „Störung einer Nachricht“, als „Rauschen“ im Kommunikationskanal bezeichnet (siehe: Schneider, in diesem Band). „Stabilisierung des Rauschens“ entsteht, wenn politischer Widerspruch „die operative Form des Protests annimmt, dessen fortgesetzte Inszenierung die Reproduktion einer Protestbewegung ermöglicht“ (Schneider, in diesem Band). In der systemtheoretischen Sprache bestreitet Protest die Berechtigung von Amtsinhabern zu bestimmten Entscheidungen, die zu treffen von letzteren als legitime Ausübung ihrer Amtsmacht behauptet wird: „Der politische Code wird so in die Paradoxie der gleichzeitigen Behauptung der Verfügung und Nicht-Verfügung über die Macht zu diesen Entscheidungen
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getrieben“ (Schneider, in diesem Band). Der Adressat des Protests sind die Öffentlichkeit und potenzielle Bündnispartner gegen die Amtsinhaber. Das Ziel besteht darin, eine tragfähige Bewegung zu erreichen, die jedoch nur durch Stabilisierung des Rauschens am Leben erhalten kann. Aus der Perspektive der empirischen Konfliktforschung stellt sich hier die Frage, was letztlich dazu beiträgt, dass das stabilisierte Rauschen nicht einen gewaltfreien Protest als legitimierte Form des Widerstandes langfristig am Leben hielt, sondern eine Gewaltkampagne, die 30 Jahren anhalten sollte. Oder anders formuliert: Was muss zur „Stabilisierung des Rauschen“ hinzukommen, damit der gewaltfreie Protest als „Parasit“ schließlich vom neuen Parasiten (Bürger-)Krieg abgelöst wurde? Ein Teil der Antwort liegt in jenem Phänomen, das in der Initialphase des Nordirlandkonfliktes als gewaltinduziertes „Paradoxon der Repression“ beobachtet werden konnte. Dahinter steckt eine Konzeption, die von Smithey und Kurtz (1999) formuliert wurde, wonach in einer asymmetrischen Konfliktkonstellation („machtüberlegen/machtunterlegen“) eine gewaltsame, repressive Reaktion des Staates gegen eine gewaltfreie Widerstandsbewegung eine Rückstoß-Dynamik auslösen kann: GewaltRepression führt nicht zum gewünschten Ziel der Schwächung oder gar Zerschlagung der gewaltfreien Bewegung, sondern führt zu deren Stärkung. Denn die sichtbare GewaltRepression entfaltet in dieser Konzeption eine bestimmte Wirkung auf die Öffentlichkeit und damit auf „potenzielle Bündnispartner“, indem der Anblick des Einsatzes von brutaler Gewalt gegen unbewaffnete Zivilsten zur Solidarisierung und Unterstützung führt und gleichzeitig die Effektivität von weiteren repressiven Gewaltaktionen reduziert: “Paradoxically, the more the regime applies force, the more citizens and third parties are likely to become disaffected, sometimes to such an extreme that the regime disintegrates from internal dissent” (Smithey/Kurtz 1999: 111). Die beobachtbare Dynamik wurde von anderen Autoren als „politisches Jiu-Jitsu“ (Sharp 1973) oder „kritische Dynamik“ (McAdam 1982) bezeichnet. Gene Sharp machte deutlich, dass der „Jiu-Jitsu“-Effekt auch bei gewaltsamen Bewegungen oder in „Mischsituationen“ zum Tragen kommen kann, (vgl. Sharp 1973: 683), d.h. das Paradoxon kann darin bestehen, dass der bisher noch unausgereifte, wenig vorhandene und noch keine Unterstützung findende bewaffnete Widerstand daraus gestärkt hervorgeht – und genau das geschah in Nordirland als Reaktion auf die Ereignisse von „Bloody Sunday“ (30. Januar 1972). Er wurde zum „Point of no Return“, ab welchem der bewaffnete Kampf der IRA bis zum ersten Waffenstillstand im Jahre 1994 unaufhaltsam fortschreiten würde: Am 30. Januar 1972 war eine Demonstration gegen „Internment“ (Verhaftung und Internierung von Personen ohne Gerichtsverfahren, weil sie verdächtigt wurden, Mitglieder illegaler bewaffneter Gruppen zu sein) in Londonderry geplant. Unter bisher noch nicht ganz aufgeklärten Umständen kamen 13 Zivilisten ums Leben (ein Verletzter starb wenige Tage später im Krankenhaus). In der britischen DVD-Ausgabe des preisgekrönten Filmes „Bloody Sunday“ befindet sich eine umfangreiche und eindrucksvolle Kommentierung durch Don Mullan, den Autor des dem Film zugrunde liegenden Buches „Eyewitness Bloody Sunday“. Mullan war damals als 15-jähriger ein Augenzeuge der Ereignisse. Seiner Einschätzung nach war das Ereignis „Bloody Sunday“ gleichbedeutend mit dem Ende des gewaltfreien Widerstandes in Nordirland. Durch „Bloody Sunday“ und dessen Folgen wurde die katholische, gewaltfreie Menschenrechtsbewegung zerstört. In seinen Worten wurde die „Human Rights Agenda“ für „30 Jahre unterbrochen“ und kam erst mit dem Friedensprozess wieder auf die politische Bühne zurück (Mullan 1997). „Bloody Sunday“ erlaubte es der IRA (und Sinn Fein), von
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der politisch gemäßigten Haltung und Anliegen der Menschenrechtsbewegung „abzulenken“ und den Fokus auf den bewaffneten Kampf zu verschieben. Ivan Cooper, damaliger Abgeordneter aus Londonderry und einer der Führer der NICRA, wird am Abend von „Bloody Sunday“ auf einer Pressekonferenz zitiert: „This afternoon 27 people were shot in this city. 13 of them lied dead. They were innocent, we were there. This is our Sharpeville. A moment of truth and a moment of shame. And I just want to say this to the British government: You know what you have just done, don’t you? You have destroyed the civil rights movement and you have given the IRA its biggest victory it will ever have. All over this city tonight, young men, boys will be joining the IRA” (Zitat im Film „Bloody Sunday“). Wichtig ist an dieser Stelle, dass die IRA gegen Ende der 1960er Jahre sowohl organisatorisch als auch politisch am Boden lag: Sie hatte nur noch wenig Waffen in ihrem Arsenal und rekrutierte sich aus weniger als 100 Mitgliedern. Ihre Unterstützung in der katholischen Gemeinschaft war sehr gering. Doch dies änderte sich auf fundamentale Art und Weise nach dem „Bloody Sunday“, so dass alle Chancen für einen Frieden für die kommenden 30 Jahre auf Eis gelegt wurden. Dies ist umso beachtlicher, da die Chancen für einen Frieden kurz vor dem „Bloody Sunday“ zumindest noch theoretisch vorhanden waren: Richard Rose führte im Frühling und Sommer 1968 eine sehr bemerkenswerte Umfrage durch, die erst 1971 veröffentlicht wurde. Die Ergebnisse zeigen sehr deutlich, dass 33 Prozent der katholischen Gemeinschaft die Verfassung Nordirlands, d.h. Nordirland als Teil des britischen Königreiches, unterstützten und nur 34 Prozent sie ablehnten (Rose 1971: 188 ff. Vgl. die Interpretation der Ergebnisse in Bew/Patterson 1985: 15). Die Daten zeigen also, dass es in der katholischen Gemeinschaft zum damaligen Zeitpunkt keine deutliche bzw. eindimensionale Tendenz gab, die zwangsläufig auf einen bewaffneten Kampf hinauslaufen musste. Analytisch ergibt sich daraus, dass die Beobachtung von aufeinander bezogenen Gewaltverhältnissen (Aktions-Reaktions-Spirale bzw. Paradoxon der Repression) nicht ausreicht und daher zwei zusätzliche Perspektiven komplementär hinzukommen müssen, um die „Stabilisierung des Rauschens“ hin zur 30 Jahre andauernden Gewaltkampagne der IRA zu erklären: die (spezifische und typische) „Verfasstheit“ der nordirischen Gesellschaft und die Bedeutung historisch-kultureller Muster. Für den zweiten Punkt liefert die Kultursoziologie wichtige Anhaltspunkte: Es waren spezifische kulturelle Muster bzw. der historischkulturelle Background der IRA als Gewaltorganisation, die als „kulturelle Bewegung“ im irischen Nationalismus zu verorten ist, welche die Erklärung für die typische Gewaltaffinität liefern. D.h. die kultursoziologisch erklärte Gewaltaffinität der IRA (die „Stabilisierung eines republikanischen Milieus“, vgl. Pettenkofer, in diesem Band) „erleichterte“ in der Initialphase des Nordirlandkonfliktes die (strategisch durch Wechselbeziehungen erklärte) „Stabilisierung des Rauschens“. Auf einer anderen Ebene wurde die „Stabilisierung des Rauschens“ durch das damalige international dominierende politische Klima unterstützt. Im Rückblick auf die gesamte Phase zwischen 1968 und dem „Bloody Sunday“ sind sich viele der damals beteiligten Demonstranten – z.B. Paul Arthur, der damals als Student der „Queen’s University of Belfast“ aktives Mitglied der Demonstrationen war; siehe das Interview mit ihm in: Rose (2001: 107 f.) – und Politiker darin einig, dass einer der zentralen äußeren Generatoren des Unmuts und des Willens, protestierend auf die Straße zu gehen, das weltweite Klima der „Studenten-Revolution“ war:
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„All across the continent one saw the characteristic linked arms of the young demonstrators and style of protest drawing heavily on the civil rights movement experience of black America. (Kenneth Bloomfield, damals ranghöchster nordirischer Beamter und enger Berater des nordirischen Premierministers“ (Zitiert in: Rose 2001:99). Auf dieser Ebene greift daher der neo-institutionalistische Erklärungsansatz, dessen eigenständiges Konflikterklärungspotenzial darin besteht, dass die world polity verschiedene Formen des Protests zum Wohle der Menschenrechte, der sozialen Gerechtigkeit u.a. legitimiert. Wie Krücken und Meyer herausarbeiten, nahm die nordirische Bürgerrechtsbewegung das weltpolitische Klima damals auf, um den Nordirland-Konflikt „in eine der world polity gemäße Form zu bringen“ (Krücken/ Meyer, in diesem Band). Interessant ist der neo-institutionalistische Theoriezugang nicht zuletzt, da er eine Erklärung bzw. „weltpolitische Hintergrundentwicklung“ für die erfolgte „Delegitimierung“ des britischen Staates liefert. Krücken und Meyer können damit auch die Entstehung von internationalen Solidaritätsgruppen erklären, sodass der Nordirland-Konflikt internationalisiert wurde. Auf die „Verfasstheit“ der nordirischen Gesellschaft konzentriert sich demgegenüber vor allem die akteurzentrierte Differenzierungstheorie. Als differenzierungstheoretisch gerahmte Konstellationsanalyse des IRA-Terrorismus integriert die akteurzentrierten Differenzierungstheorie zwei Erklärungsebenen: Veränderungsprozesse auf der Ebene der Gesellschaft mit einem Fokus auf den Akteur in der Gesellschaft. Die Eskalation terroristischer Gewalt wird als ein Geschehen erklärt, „das in der funktional differenzierten Gesellschaft stattfindet und durch diese Gesellschaftsform geprägt wird“ (Schimank, in diesem Band). Ausgehend davon wird die Eskalation terroristischer Gewalt in Nordirland als handelndes Zusammenwirken einer Konstellation von Akteuren nachgezeichnet. Wie Schimank explizit betont, stellt die funktionale Differenzierung der Gesellschaft eine „sowohl deskriptiv als auch explanatorisch unverzichtbare Variable“ dar. Schimank geht davon aus, dass die Primärquelle terroristischen Handelns in den Ungerechtigkeitserfahrungen der katholischen Gemeinschaft zu finden ist. Dies führt die Analyse zunächst zu einer Auseinandersetzung mit den Strukturmerkmalen der nordirischen (Gesamt-)Gesellschaft, da die „Ungleichheitsstruktur“ mit einer tiefgreifenden Separierung beider Gemeinschaften einhergeht, d.h. Katholiken blieben nicht nur in der Kirche, sondern auch in allen anderen Lebensbereichen, wie Schimank beschreibt, weitgehend unter sich, und Protestanten ebenso. Es entstand eine nordirische Gesellschaft, die aus zwei voneinander vollständig getrennten „Welten“ besteht. Hier zeigen sich sehr deutliche Überschneidungen mit der Herangehensweise des NeoFunktionalismus, der sein Hauptaugenmerk auf die Probleme der sozialen Ordnung legt. Aufgrund dieser Aufmerksamkeitsrichtung interessiert sich der Funktionalismus für den Terrorismus vor allem als Teilaspekt der gesellschaftlichen Ordnungsproblematik und analysiert terroristische Zusammenschlüsse als Element oder Aspekt der Strukturierung, Entoder Restrukturierung gesellschaftlicher Ordnung. Im Beitrag von Lahusen wird daher die These vertreten, dass sich terroristische Zusammenschlüsse und gewaltsame Konflikte innerhalb jener Gesellschaftsordnung herausbilden und stabilisieren können, „in der die Vergesellschaftung partikularer Gemeinschaften prekär bleibt, in der also die Inklusion von Bevölkerungsgruppen in gesellschaftliche Funktionssysteme ethnische, schichtungsspezifische und/oder weltanschauliche Differenzierungen generiert, aktualisiert und/oder reproduziert“ (Lahusen, in diesem Band). Als zentral wird die „gemeinschaftliche Dimension“ des nordirischen Terrorismus betrachtet, d.h. die ethnisch-konfessionelle Segregierung der
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Bevölkerung. Diese hat eine lange geschichtliche Kontinuität und konnte bisher auch noch nicht durch den Friedenskonsolidierungsprozess beseitigt werden (vgl. Baumann 2008). Wie Lahusen jedoch feststellt, ist Segregation nicht per se problematisch, da jede Gesellschaft aus einer Vielzahl von Gemeinschaften besteht: „Problematisch werden Segregierungstendenzen erst dann, wenn Gruppenpartikularismen nicht durch universalistische Inklusionsrechte und generalisierte Teilhabemöglichkeiten ergänzt oder kompensiert werden, oder in anderen Worten: wenn die Vergesellschaftung partikular-segmentärer Gemeinschaften prekär bleibt“ (Lahusen, in diesem Band). Angelehnt an die Terminologie Georg Simmels kann man deshalb davon sprechen, dass die „Vergesellschaftung durch den Konflikt“ (Simmel 1958: 460ff.) zur Prekarität der sozialen Ordnung geführt hat, welche wiederum den notwendigen gesellschaftlichen Rückhalt des IRA-Terrorismus über die Jahrzehnte hinweg neo-funktionalistisch verstehen lässt: da er sich auf der Grundlage der interdependenten Inklusionsdefizite und Desintegrationstendenzen stetig manifestierte und vertiefte. Was der Neo-Funktionalismus als nicht vorhandene Inklusionsrechte und generalisierte Teilhabemöglichkeiten beschreibt, bedeutet im Vokabular der akteurzentrierten Differenzierungstheorie, dass religiös markierte politische Privilegierungen und Benachteiligungen ungleiche „Allokationen teilsystemischer Leistungen“ und damit ungleiche Lebenschancen verschiedener Bevölkerungsgruppen hervorbrachten. Dies hat unmittelbare Folgen für den individuellen Weg in den Terrorismus: „Jeder, der Terrorist wird, hat – wie artikuliert und reflektiert auch immer – die alle teilsystemischen Inklusionsverhältnisse durchziehenden Ungerechtigkeitserfahrungen gemacht; und er hat die alternativen Handlungsoptionen der politischen Partizipation vom Wählen bis zum Protest, des Rechtswegs sowie schließlich auch der offenen Herausforderung des Militärs durch massenhaften Aufstand, wie reflektiert auch immer, abgewogen und für sich verworfen“ (Schimank, in diesem Band). Die von Schimank mit dem Verweis auf „biografische Koinzidenzen“ beantwortete Frage, warum jemand Terrorist wird, lenkt die Aufmerksamkeit auf kollektiv ähnliche Verarbeitungs- und Wahrnehmungsmuster, die dann von der praxistheoretischen Soziologie nach Bourdieu explizit thematisiert werden: Unterhalb der individuellen Handlungsantriebe richtet sich die Aufmerksamkeit des Beitrages von Hillebrandt auf die Analyse mentaler Strukturen und verweist auf die Existenz eines terroristischen Habitus, der als inkorporierte „zweite Natur“ des Terroristen als sozialer Akteur ins Spiel kommt. Die praxistheoretische Soziologie hat daneben auch allgemeine Erkenntnisse über die inneren Organisationsstrukturen von terroristischen Gruppen erreicht, die für die Terrorismusforschung als Ganzes relevant sind und über den nordirischen Einzelfall hinausgehen. Schon von ihrem Ansatz her baut die Praxistheorie eine Brücke zur Kultursoziologie, da sie auf deren Methoden angewiesen ist. Dies geht darauf zurück, dass weder „Feld“ (objektivierte Sozialität) noch „Habitus“ (inkorporierte Sozialität) „ahistorisch“ gegeben sind: „Sie unterliegen der historischen Genese, weil sie sich nur in Wechselbeziehung aufeinander und durch die innerhalb der Relation entstehenden Praktiken und Praxisformen reproduzieren können“ (Hillebrandt, in diesem Band). Die Perspektive Bourdieus betrachtet Terrorismus zunächst als eine sozial eingebettete Praxisform, die nicht als plötzlicher Ausbruch von Gewaltexzessen geschieht, sondern das Ergebnis des Zusammenspiels sozialer und mentaler Strukturbildungen ist: „Zum Terrorismus bereite Akteure sind, mit anderen Worten, zumeist keine irrationalen Fanatiker mit psychischen Indispositionen“ (Hillebrandt, in diesem Band. An dieser Stelle wird auch eine Brücke zur erklärenden Soziologie geschlagen, siehe unten). Da die Praktiken und Praxis-
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formen des Terrorismus mental und körperlich verankert sind, geschehen sie weder voraussetzungslos noch zufällig. Die Analyse konzentrierte sich im Anschluss daran zum einen auf die Genese eines terrorbereiten Habitus – verstanden als eine notwendige Bedingung zur Reproduktion der IRA als Terrororganisation – und zum anderen auf die Frage, wie der Habitus „als generatives Prinzip der Praxis Praktiken und Praxisformen hervorbringt“. Erkenntnistheoretisch erweist sich daher die praxistheoretische Soziologie als besonders fruchtbar, da man mit ihr zeigen kann, dass die Bereitschaft zur Mitgliedschaft in der Terrororganisation nicht primär auf eine rationale oder irrationale Entscheidung zurückgeht, sondern vielmehr als Effekt der Genese eines kollektiven, habituellen Dispositionssystems verstanden werden muss. Diese Genese kam durch „regelmäßige Symbolisierungen“ der gewaltsamen Unruhen von 1969 und insbesondere des „Bloody Sunday“ in Gang, der von Hillebrandt richtigerweise als Beginn eines „neuen Befreiungskampfes“ des irischen „Volkes“ – mit Weber könnte man auch sagen: der „irischen Nation“ – gegen die britische (nationale) Fremdherrschaft kontextualisiert wird. Durch die Symbolisierungen wurde eine ausreichende Identifikation (bzw. „Legitimation“ im Vokabular Webers) großer Teile der katholischen Bevölkerung Nordirlands erreicht, d.h. sie stimmen mental und emotional mit den Praxis-Prinzipien und Interessen der IRA überein: „Wenn in diesem Zusammenhang physische Gewalt zu einem regelmäßigen Bestandteil der Lebenswirklichkeit wird, schreibt sich diese Erfahrung in die Körper der sozialen Akteure ein und formt sich zu einem wirkmächtigen Habitus, der die Denk-, Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsdispositionen der katholischen Bevölkerung Nordirlands nachhaltig prägt“ (Hillebrandt, in diesem Band). Auch die von Andrea Maurer im vorliegenden Band vertretene Herangehensweise der erklärenden Soziologie setzt gleichzeitig auf der Ebene der Gesellschaft und der Ebene der Akteure an, da sie die Frage der Situationskonstellationen, in denen sich rationale Akteure befinden, in den Mittelpunkt stellt. Ein Geheimdienst-Bericht der britischen Regierung durch den Brigardier J. M. Glover, dessen Inhalt in der Öffentlichkeit durchsickerte, scheint der erklärenden Soziologie Substanz zu verleihen: „Nach unseren Erkenntnissen handelt es sich bei den Terroristen nicht um geistlose Rowdys, die aus der Schicht der Arbeitslosen und Arbeitsunfähigen kommen. Die Ausbildung und der Einsatz der Mitglieder durch die IRA geschieht mit Bedacht. Die Bewegung hat genügend Unterstützung, um auch in Zukunft über sichere Basen in den traditionellen republikanischen Vierteln zu verfügen“ (Zitiert in: Sotschek 1994: 1062). Ausgangspunkt der erklärenden Soziologie ist die Betrachtung von Terrorismus als organisiertes Handeln rationaler Akteure. Erklärt werden die spezifischen sozialen Handlungsbedingungen, die den gewaltbereiten Protest gegenüber anderen Handlungsformen als vorteilhaft erscheinen lassen. Die zentrale Frage lautet, warum sich Menschen bewusst für terroristische Gewaltakte als Mittel der politischen Veränderung entscheiden und welche Konfliktdynamiken damit verbunden sind. Wiederholt betont wird in der erklärenden Soziologie die spezifische Situation, nämlich die „irischen Verhältnisse“, aus denen heraus das organisierte, kollektive Gewalthandeln gefolgert wird. Auf der Basis einer Theorie der rationalen Handlungswahl geht es zentral um den „Nachweis von Situationsfaktoren“, die eine Beteiligung Einzelner an kollektiven Gewaltaktionen und -gruppen als vorteilhaft begreifen lassen. Wie Maurer ausführt, muss durch den Nachweis spezifischer Situationen gezeigt werden, wann es für Einzelne rational ist, sich in Terrorgruppen zu organisieren. Diese Betonung von spezifischen Handlungsbedingungen, dem Nachweis spezifischer Situationen bzw. Situationsfaktoren und Situationslogik im Einzelfall mag die erklärende
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Soziologie von den bisher dargestellten soziologischen Theorien unterscheiden. Doch genau an dieser Stelle existieren Überschneidungen mit der hermeneutischen Wissenssoziologie: Obwohl auch im Beitrag von Reichertz auf die Geschichte der IRA im Besonderen und auf die irische Geschichte im Allgemeinen als essentiellen Bezugspunkt für das Verstehen des Wiederauflebens der Gewalt gegen Ende der 1960er Jahre Bezug genommen wird, behauptet die Wissenssoziologie die Einzigartigkeit des nordirischen Falles: „Im Kern ändert dies jedoch wenig daran, dass die IRA kaum vorstellbar wäre, ohne die Besonderheiten der irischen Geschichte und Kultur“ (Reichertz, in diesem Band). Vor dem Hintergrund des sozialtheoretischen Ausgangspunkts überrascht diese Aussage nicht, denn die hermeneutische Wissenssoziologie geht davon aus, dass es keine soziale Konstruktion gibt, die notwendigerweise an jedem Ort dieser Welt bestimmte Ereignisse oder Dinge produziert und auf eine bestimmte Bahn schickt. Ereignisse wie Produkte und Organisationen entstehen an jedem Ort und zu jeder Zeit in anderer Form: „Die Entwicklung von Ereignissen und die Entstehung von Produkten (und deren Aneignung) sind jeweils einzigartig, und will man sie verstehen, muss man ihre Entwicklung nachzeichnen“ (Reichertz, in diesem Band). Das hat zur Folge, dass die beiden entscheidenden Kategorien der Analyse – „Geschichte“ und „Interaktion“ (bzw. Gewalt-Interaktion) – entwicklungsoffene, einander bedingende und einander durchdringende Prozesse sind. Von dieser Prämisse ausgehend wehrt sich die hermeneutische Wissenssoziologie gegen jeglichen Determinismus: Trotz historischer Ereignisse wie der „Battle of Bogside“, des „Bloody Sunday“ oder der Hungerstreik hätte die Entwicklung an allen diesen Punkten auch eine andere Richtung nehmen können. Reichertz betont, dass die hermeneutische Wissenssoziologie bewusst auf solche „Zufälligkeiten“ verzichtet habe, das es eben keine gradlinige Entwicklung von einem bestimmten Punkt aus gab, der Anlass oder gar Ursache der Gewalt in Irland war. 2.2 „Eine Fahne kannst du nicht essen!“1: die Bedeutung von Symbolen Ein zweites Cluster sozialtheoretischer Erklärungsstrategien bezieht sich auf die Bedeutung von Symbolen für die Genese und Verstetigung von Konflikten. Um die allgemeine Wirkungsmächtigkeit von Symbolen in Nordirland zu dokumentieren, kann folgendes Beispiel aus der Empirie herangezogen werden: Der „Ardoyne/ Holy Cross“-Konflikt ging im Jahre 2001 weltweit durch alle Medien: Im Mittelpunkt standen katholische Grundschüler (der Holy Cross Grundschule), deren Schulweg teilweise durch ein protestantisches Gebiet führte. Sie sahen sich mit einem Protest der protestantischen Anwohner konfrontiert. Der Konflikt dauerte vom 19. Juni bis zum 23. November 2001. Er war während den Sommerferien unterbrochen und hielt insgesamt für 14 Wochen an. Die Ursachen und Gründe, die zum Konflikt führten, waren vielschichtig und lagen auf verschiedenen Ebenen. Zum großen Teil hingen sie mit den grundlegenden problematischen Strukturen in Nordbelfast zusammen: Nord-Belfast war von allen 1
„Eine Fahne kannst du nicht essen“ – so wird der Vater von John Hume zitiert, der seinen Sohn auf die Bedeutung materieller Werte einschwor. John Hume war einer der einflussreichsten Führer der Bürgerrechtsbewegung und der moderaten Social Democratic and Labour Party (SDLP). Er war stets an der Lösung der Sachdimension des Nordirlandkonfliktes interessiert und lehnte die Gewaltkampagne der IRA ab. Siehe den Bericht anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises in: Süddeutsche Zeitung. 17.10.1998. Siehe auch: Murray (1998) und Routledge (1997).
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Gebieten Nordirlands durch die stärkste Segregation gekennzeichnet und auch gleichzeitig das Gebiet, welches zu Bürgerkriegszeiten das höchste Gewaltniveau zu ertragen hatte (vgl. Baumann 2003b). Interessant ist, dass verschiedene symbolische Ereignisse als Konfliktgeneratoren fungierten: So gab es z.B. Berichte darüber, dass ein protestantisches Mädchen in einem Laden, der im katholischen Gebiet liegt, gezwungen wurde, das „Ave Maria“ laut aufzusagen.2 Der letzte Zünder, der den „Ardoyne/Holy-Cross“-Konflikt auslöste, war ebenfalls ein symbolisch vermittelter: Ein Protestant hisste eine Flagge im protestantischen Gebiet – so wie immer in der Vorphase der Juli-Wochen als Vorbereitung auf die „Marching Season“. Bei dieser Aktion kommt plötzlich ein Auto aus dem angrenzenden katholischen Gebiet und fährt die Leiter an, die zum Hissen der Flagge benutzt wird. Es kommt zu einem Handgemenge, das sich in eine stundenlange Auseinandersetzung entwickelt, an der schließlich mehrere tausend Personen beteiligt sind. Am nächsten Tag begannen die Protestanten mit der Blockade „ihrer Straße“: Die Attacke auf die protestantische Flagge wurde als Angriff auf die eigene Gemeinschaft interpretiert. Für das theoriegeleitete Erklären und Verstehen der Bedeutung von Symbolen kommt der Kultursoziologie eine zentrale Rolle zu, die von der Prämisse ausgeht, dass das Erklären sozialer Phänomene ein Verstehen von Handlungsgründen voraussetzt. In diesem Sinne illustriert Pettenkofer im vorliegenden Band, auf welche Weise kulturelle Muster in solchen Konflikten wirksam werden. Die erkenntnistheoretischen Konsequenzen stehen dabei im Widerspruch mit jenen, die die hermeneutische Wissenssoziologie postuliert: Während Reichertz die Einzigartigkeit des Konfliktfalles betont, macht es für Pettenkofer wenig Sinn, „immer nur zu wiederholen, alles sei lokal, partikular und überhaupt kompliziert; auf der Ebene der Diskussion solcher Ordnungstypen sind allgemeine Aussagen über systematisch auftretende Mechanismen und typische Ereignisabläufe möglich“ (Pettenkofer, in diesem Band). Im Zentrum der kultursoziologischen Forschung steht darauf aufbauend die Frage nach der Stabilität der kulturell konstituierten Ordnungen, d.h. der Rolle von Praktiken und Routinen, die stabilisierend wirken. Nach Pettenkofer hängt die Stabilität von Deutungsmustern vor allem von der Stabilität der Erinnerung an paradigmatische Ereignisse ab, da solche historisch kommunizierten Ereignisse den kulturellen Mustern Evidenz verleihen. Neben der Kultursoziologie ist der Neo-Institutionalismus die zweite maßgebliche Sozialtheorie, die die Bedeutung von Mythen, Symbolen und Ritualen hervorhebt. Beide soziologischen Theorien verwenden als Fallbeispiel die Hungerstreiks der IRA-Häftlinge. Pettenkofer versucht, anhand der Hungerstreiks den neuen Erfolg der IRA und vor allem den politischen Erfolg von Sinn Fein zu erklären. Bezogen auf die Motivation für den Hungerstreik ist es aus kultursoziologischer Sicht fraglich, ob die „Logik strategischer Interaktion“ die Bereitschaft, den eigenen Tod in Kauf zu nehmen, tatsächlich erklären kann. Stattdessen wird ein kulturell-religiöses Deutungsmuster herangezogen, welches entscheidend für die Zustimmung des katholischen Publikums war. Diese Zustimmung war wiederum entscheidend für den Erfolg der Hungerstreiks (siehe unten). Die Mehrheit der katholischen Gemeinschaft interpretierte die Hungerstreiks also weder als Ausdruck eines Wahnsinns noch als zweckrationale Erpressungsstrategie: „Vielmehr gilt der Hungerstreik als eine spezifische, ausgezeichnete Form der Rede, die an einen Wahrhaftigkeitsnachweis gebunden ist (also: zunächst nicht als ‚bargaining‘, 2
Marcel M. Baumann (2008) interviewte alle zentralen Akteure auf der katholischen und protestantischen Seite, die im „Ardoyne/Holy-Cross“-Konflikt eine wichtige Rolle spielten.
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sondern als ‚arguing‘); die Bereitschaft, das eigene Leben aufs Spiel zu setzen, erscheint als Ausdruck eines rechtfertigenden inneren Zustands: einer Ernsthaftigkeit, die einen Anspruch auf Gehör begründet“ (Pettenkofer, in diesem Band). Die neo-institutionalistische Analyse der Hungerstreiks weist ebenfalls auf die Bedeutung des Publikums hin, jedoch auf das internationale Publikum. Nach Krücken und Meyer gab es parallel zur rituellen Inszenierung der Staatsgewalt keine explizite Orientierung an externen Vorbildern oder einer globalen Gesellschaft und deren Mythen. Anstatt der „weltweit etablierten Praxis des Einsatzes des eigenes Lebens“ wurde die „autochtone gälische Geschichte“ zum Bezugsrahmen der Hungerstreiks – eine für Neo-Institutionalisten doch überraschende und gleichwohl streitbare Erkenntnis. Aus empirischer Sicht übersehen kultursoziologische und neoinstitutionalistische Ansätze, dass für die Erfolgsbedingungen der IRA-Hungerstreiks die strategische Interaktion von Gewalt und Gewaltfreiheit in der Tat eine wichtige Rolle spielte. Der Hungerstreik ist eine in der Geschichte oft angewandte Strategie der gewaltfreien Aktion und war nach Gandhi (als Satyagraha-Fasten) die wichtigste gewaltfreie „Kampfmethode“ gegen den übermächtigen Gegner. Sie war die reine Waffe des gewaltfreien Kampfes, da sie unmissverständlich gewaltfrei und absolut ungeeignet ist, „dem Gegner den geringsten körperlichen oder materiellen Schaden zuzufügen“(Ebert 1970: 175). Theodor Ebert führte aus, dass nach Gandhis Interpretation das Fasten im Gegner „nur das Beste wachrufen [will]. Selbstleiden ist ein Appell an seine bessere Natur, so wie die Wiedervergeltung an seine niedrigen Gefühle“. Deshalb war für Gandhi das politische Fasten „die stärkste und wirksamste Waffe im Arsenal“ der gewaltlosen Aktion (Ebert 1970: 175). Die Wirkung des politischen Fastens ist mit Blick auf die „engagierte Öffentlichkeit“ (Ebert 1970: 175) vor allem ein Mittel der Propaganda, eine gewaltlose Kommunikationsstrategie, um sich im nationalen und internationalen Publikum größtmögliche Unterstützung bzw. Legitimität des eigenen Anliegens zu sichern. Die Hungerstreiks der IRA-Häftlinge hatten sowohl eine religiös-spirituelle als auch eine politische Dimension – letztere sollte in ihrer Wirkung den gesamten Nordirlandkonflikt auf eine neue Ebene stellen. Am 1. März 1976 wurden den Häftlingen die so genannte „Kategorie spezieller Status“ von der britischen Regierung aberkannt. Die britische Regierung setzte auf eine Strategie der „Kriminalisierung“, worauf die Häftlinge zunächst mit dem so genannten „schmutzigen Protest“ reagierten, in welchem sie das Tragen von Gefängniskleidung verweigerten, sich in ihre Decken hüllten und ihre Exkremente an die Wände der Zellen schmierten. Als dieser Protest zu nichts führte, begannen sie einen Hungerstreik, als „ultimativen Protest“ (Arthur 1997: 273). Der Streik endete am 3. Oktober 1981, als die britische Regierung nachgab.3 Die Wirkung der Hungerstreiks konnte sich nur deswegen entfalten, weil sie sich religiös und spirituell an bestimmte „Regeln“ hielten, damit ihre „Botschaft“ (gewaltlose Aktion als Kommunikationsstrategie) in der katholischen Gemeinschaft und in der „Weltöffentlichkeit“ ankam. Zum einen war die Terminierung der beiden Hungerstreiks sehr wichtig: Der erste wurde am 18. Dezember 1980 beendet und war darauf ausgelegt worden, dass die Hungerstreikenden an den Weihnachtsfeiertagen sterben würden. Der zweite war darauf angelegt, dass die ersten Hungerstreikenden an den Osterfeiertagen sterben würden (Arthur 3
Es gab zwei Hungerstreiks: Der erste begann am 27. Oktober 1980 und wurde beendet, als die Häftlinge glaubten, die britische Regierung habe ihre Forderungen erfüllt. Als sie sahen, dass dies doch nicht der Fall war, begannen sie den zweiten am 1. März 1981. Siehe die ausführlichen Beschreibungen der Hungerstreiks in O’Malley (1990) sowie Coogan (1996), (1997).
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1997: 275). Was Paul Arthur als „Martyrology“ bezeichnet, spielte eine große Rolle im religiösen Symbolismus der Hungerstreikenden: In Westbelfast entstanden Wandbemalungen, auf denen die Jungfrau Maria einen im Sterben liegenden Hungerstreikenden in ihren Armen hält, darunter der Text: „Blessed are those who hunger for justice“ (Arthur 1997: 272). Auf den zahlreichen Kundgebungen der Unterstützer wurden die Hungerstreikenden auf Postern und Bildern als Gekreuzigte dargestellt, deren Dornenkranz der Stacheldraht des Maze-Gefängnisses war (Arthur 1997: 272). Die politische Dimension der Hungerstreiks wurde evident, als die Angehörigen der Hungerstreikenden das „Relatives’ Action Committee“ (RAC) gründeten, das sehr schnell zu einer Massenbewegung wurde und sogar eine Alternative bzw. Konkurrenz zur bewaffneten Kampagne der IRA darstellte (Arthur 1997: 274). Es gibt sehr deutliche Hinweise, dass die Entstehung dieser Alternative der Sinn-Fein-Führung einiges Unwohlsein und Bauchweh bereitete, da es eine Ablenkung vom Krieg für ein Vereinigtes Irland bedeutete. Gerry Adams gestand diese Tatsache ein, indem er dazu schrieb: “(…) we were temperamentally and organizationally disinclined to engage in any form of action with elements outside the movement itself” (Adams 1986: 75). Die Tatsache, dass es für die katholische Gemeinschaft offensichtlich wurde, dass es eine Alternative zum bewaffneten Kampf gab, hatte fundamentale Folgen für die politische Strategie Sinn Feins: “It forced Sinn Fein to organize a conference involving the whole membership in detailed consideration of the prisoners’ question. This was when Sinn Fein moved out of its conspirational mode and began to embrace the political process” (Arthur 1997: 274). Die Hungerstreiks schufen damit den Einstieg Sinn Feins in den politischen Prozess: Während des IRA-Hungerstreiks starb der unionistische Abgeordnete des britischen House of Commons für den Wahlkreis Fermanagh/ South Tyrone. Es wurde der im Sterben liegende Hungerstreikende Bobby Sands, Führer der IRA im Maze Gefängnis, als Kandidat gegen Harry West, unionistischer Hardliner und ehemaliger Innenminister, aufgestellt. Die Sensation war perfekt, als am 9. April 1981 Bobby Sands, bereits im Koma liegend, zum „Member of Parliament“ gewählt wurde: Mit 30.492 Stimmen gegen West, der 29.046 erhielt, bei einer hohen Wahlbeteiligung von fast 90 Prozent. Insgesamt wuchs die Zustimmung Sinn Feins dramatisch in der Folge: Bei den Wahlen im Juni 1983 erreichte die Partei 13,4 Prozent und kam nur knapp hinter der Social-Democratic and Labour Party (SDLP), welche 17,9 Prozent erreicht (vgl. Bew/Gillespie 1993). Neben dem historischen Ereignis der Hungerstreiks sind die jährlich stattfinden Paraden des Oranierordens die wichtigsten Symbole bzw. Rituale, um als Paradebeispiel das kulturelle Konfliktpotenzial in Nordirland zu belegen (siehe die ausführlichen Analysen von Bryan 1998, 2000a, 2000b, Jarman 1997, Jarman/Bryan 1996, Ryder/Kearney 2001). Gewalteskalationen während der „Marching Season“ werden ausgelöst durch eine „selbst gewählte, kulturelle Apartheid“ (Baumann 2008): Der katholische Widerstand gegen loyalistische Paraden wird von der protestantischen Gemeinschaft als eine Bedrohung ihrer Identität, ihrer Sicherheit und ihrer Zukunft als „britische Staatsbürger“ interpretiert: „Challenges to symbolic displays and ritual events can be seen as part of a wider strategy or conspiracy to distance Ulster from Britain and increase the links with the Irish Republic” (Jarman 2001: 36).
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Vor allem bei Vertretern und Sympathisanten des Oranierordens tauchen im Vokabular der politischen Auseinandersetzungen sehr grundlegende „kulturelle“ Stereotype gegen die katholische Gemeinschaft auf: “It’s a Queen’s Highway and people should have a right to walk. These parades have been traditional parades (…) It is people who want to be offended, that will be offended. And especially, those who will get out of their bed quite early in the morning whenever a parade is passing, maybe at 7.30 or 8 a.m. and normally they wouldn’t be up at that time. Because they don’t have a job, nor do they want any. They want to draw all the benefits that the government, the British government, provides and yet they abhor everything that the British government stands for as well as the Queen does” (Jim Rodgers. Interview mit Baumann (2008). Rodgers ist unionistischer Stadtrat von Belfast und seit 2007 Lord Mayor of Belfast). Für die Frage nach der Bedeutung der Paraden sind verschiedenen Stellungnahmen interessant, die auf jene heftigen Gewalteskalationen reagierten, welche im Jahre 2004 anlässlich der Paraden in Nord-Belfast stattgefunden hatten (vgl. die Darstellung der Ereignisse in: Baumann 2008): Jenseits des bekannten Musters gegenseitiger Beschuldigungen sind Stellungnahmen, die Fred Cobain, unionistischer Abgeordneter im nordirischen Parlament, für die unionistische und Danny Morrison – ehemaliger „PR Direktor“ von Sinn Fein und heute freischaffender Schriftsteller – für die republikanische Seite artikulierten, von großer Relevanz für den Stellenwert der Paraden als „gewaltaffine“ Symbole – auch im Kontext der Initialphase des Nordirlandkonfliktes. Cobain stellt den Zusammenhang zur kulturellen Apartheid zwischen den nordirischen Gemeinschaften her: “The unionist perception is that this is part of our culture and we are entitled to march basically wherever we want” (Interview mit Fred Cobain in Sunday Business Post. 1.8.2004). Gleichzeitig ging er einen Schritt weiter und übte heftige Kritik am Oranierorden. Die Verweigerung des Dialoges mit der katholischen Gemeinschaft, so Cobain, ist keine Zukunftsoption: “The difficulty with that is this is 2004 and you can’t march wherever you want - there has to be some accommodation between the two communities. Obviously the problem is the Orange Order which has a policy of (…) not talking to nationalist residents. We are never going to solve this problem unless there is direct dialogue. Without direct dialogue, the scenes at Ardoyne could be repeated within the next three or four weeks” (Interview mit Fred Cobain in Sunday Business Post. 1.8.2004). Damit stellte er einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Problem der Paraden und dem nordirischen Friedenskonsolidierungsprozess her. Der Zusammenhang wird noch deutlicher, wenn man Cobains Argumentation mit der Analyse von Danny Morrisons zu den gleichen Ereignissen vergleicht: „Billy, it was like throwing pennies at the Bogsiders“ (Danny Morrison: „Letter to Billy“ in Andersonstown News. 19.7.2004)! Morrison schrieb einen offenen Brief an Billy Hutchinson – ehemaliger Häftling der Ulster Volunteer Force (UVF) und damals Stadtrat in Belfast - nachdem Hutchinson zusammen mit Cobain u.a. die Parade und das Verhalten der Polizei verteidigt hatte. Morrison bezog sich auf die historischen Ereignisse im Sommer 1969, als der Nordirlandkonflikt begann: “(…) on the Tuesday - the 12th August, 1969 - during an Apprentice Boys’ march through Derry, some bandsmen, or their supporters, threw pennies from the city walls to-
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wards nationalists below in the Bogside, to remind them of their ‘poverty’ and second-class citizenship” (Danny Morrison in: Andersonstown News. 19.7.2004). Nach Morrison war es die Tatsache, dass loyalistische Paraden durch katholische Viertel gingen, die den Konflikt „explodieren“ ließ. Natürlich ist es historisch umstritten, ob es wirklich die Oranierparaden waren, die den bewaffneten Konflikt im Jahre 1969 ausgelöst hatten, da die Gewalteskalation bereits in vollem Gange war. Es kann an dieser Stelle nicht eindeutig beantwortet werden, was Ursache und was Wirkung war. Dessen ungeachtet ist unbestritten, dass die Paraden in Londonderry und Belfast damals in einem aufgeheizten Gewaltklima stattfanden und nicht zur Entspannung, sondern zur weiteren Eskalation beitrugen. Aus systemtheoretischer Sicht unterstützen sowohl die Bürgerrechtsbewegung als auch die Paraden das „Stabilisieren des Rauschens“: „Obwohl thematisch klar von den traditionellen Paraden unterschieden, kann mit Blick auf die Mitteilungsform und das skizzierte sequenzielle Muster des typischen Ablaufs festgestellt werden, dass der Protest der Bürgerbewegung an die territorial gebundene Form (Umzug) und das Ablaufmuster umstrittener Paraden assimiliert wurde, durch die sich die konfliktäre Beziehung zwischen Protestanten und Katholiken in Nordirland auch in friedlicheren Zeiten reproduzierte“ (Schneider, in diesem Band). Indem die Paraden in der Wahrnehmung der katholischen „Nation“ (Weber) die Delegitimierung des nordirischen Staates verstärkten, vertieften sie zusätzlich die gesellschaftliche Segregation in der funktional differenzierten Gesellschaft.
2.3 Impulse für die Terrorismusforschung aus dem fallbezogenen Theorienvergleich Zunächst macht der Blick der hermeneutischen Wissenssoziologie auf Terrorismus klar, dass die Entstehung von Gewalt und Terror stets „pfadabhängig“ ist, d.h. das Ergebnis konkreter gesellschaftlicher Besonderheiten und Entwicklungen. Daraus abgeleitet ergibt sich, dass verschiedene Terrorgruppen nie „identisch“ sind, sondern sich in wesentlichen Punkten voneinander unterscheiden – es existieren bestenfalls „Familienähnlichkeiten“ (Reichertz). Darüber hinaus kann Terror weder als militärische Aktion, noch als Partisanenkampf, noch als Guerillataktik charakterisiert werden, da er sich an drei spezifische Adressaten richtet: die Öffentlichkeit, den Feind und die Gemeinschaft, von der man glaubt, dass man sie vertritt – in der Formulierung von Münkler ist das „der angeblich interessierte Dritte“ (Münkler 1983, 2002a, 2002b). Terror ist deshalb zunächst eine „Kommunikationsstrategie“ (Münkler 2001) und nicht das notwendige Resultat bestimmter politischer, wirtschaftlicher und sozialer Bedingungen. Mit dieser Erkenntnis ist auch eine Verabschiedung von der Vorstellung verbunden, es existiere ein spezifisches Maß für Terror auslösendes Unrecht. Terror lässt sich nicht anhand von Maßbändern bestimmen, sondern als das Produkt eines sozialen Prozesses, „wobei sowohl der Interaktionsprozess innerhalb der Gruppe der Aktivisten als auch der Interaktionsprozess zwischen den beteiligten Gruppen zusammen betrachtet werden müssen“ (Reichertz, in diesem Band). Als Produkt eines sozialen Prozesses kann Terror jedoch nicht alltäglich werden, sondern ist immer noch das Außerordentliche, das Außergewöhnliche und Außeralltägliche. Die Praxistheorie nach Bourdieu weist darauf hin, dass die Verwendung des Begriffs „Terrorismus“ auf gesellschaftlichen Voraussetzungen beruht: Während fast alle soziologi-
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schen Theorien die Begriffsverwendung „Terrorismus“ als gesetzt hinnehmen (Reichertz verwendet z.B. die Begriffe „Terror“ und „Terrorismus“ scheinbar als Synonyme), stellt Hillebrandt die Kritik am Terrorismusbegriff an den Beginn seiner Ausführungen: Er kritisiert den Begriff als politischen Kampfbegriff, „der in den politischen Auseinandersetzungen um die Macht in bestimmten Feldern des sozialen Raums strategisch eingesetzt wird“ (Hillebrandt), deshalb müsse eine soziologische Definition des Begriffs diesen Umstand methodisch reflektieren, um nicht in politischen Kämpfen um die Definitionsmacht instrumentalisiert zu werden. Eine kritische Reflexion über die Verwendung des Terrorismusbegriffes ist also ein notwendiger erster Schritt der soziologischen Analyse (vgl. die Kritik an der Verwendung des Terrorismusbegriffs in: Baumann 2003a), denn: „Was Terrorismus genannt wird scheint also vom eigenen Standpunkt abzuhängen. Der Gebrauch des Begriffs setzt ein moralisches Urteil voraus; und wenn eine Seite erfolgreich ihrem Widersacher das Etikett Terrorismus aufkleben kann, dann veranlasst sie damit indirekt andere, ihre moralische Einstellung zu übernehmen“ (Jenkins 1980: 10). Münkler macht ebenfalls deutlich, dass es hinsichtlich der Brauchbarkeit des Terrorismus-Begriffes ein paar berechtigte Fragezeichen gibt: „Für eine wissenschaftliche Herangehensweise ist der Terrorismusbegriff, selbst wenn er politisch in aller Munde ist, nur dann brauchbar, wenn es gelingt, jenseits der semantischen Positionskämpfe zumindest in Umrissen festzulegen, welche Ökonomien und Strategien der Gewalt damit bezeichnet werden und worin deren spezifische Unterschiede zu anderen politisch-militärischen Strategien liegen“ (Münkler 2002a: 176). Die Funktion der Begriffsverwendung „Terrorismus“ als negative Charakterisierung bzw. als Ausschließungsbegriff ist im politischen Kontext des Nordirlandkonfliktes sehr häufig verbreitet; so reagierten z.B. David Trimble und Ian Duncan-Smith auf den 11. September 2001 mit einer offenen Diffamierung der IRA: “Osama bin Laden and his followers are no different from those who planned and carried out Omagh, Warrenpoint, Hyde Park, Enniskillen or countless other atrocities during some 30 years of terrorism in Ulster” (The Daily Telegraph. 21.11.2001: “There’s no such thing as a ‘good’ terrorist, Mr Blair”).4 Die praxistheoretische Analyse von Hillebrandt deckt in der Folge die blinden Flecken des Beobachtens der traditionellen Terrorismusforschung auf: „Durch die Massenmedien vermittelt sehen wir das Drama und die Folgen des terroristischen Ereignisses der physischen Gewaltanwendung gegen das Leben oft völlig unbeteiligter Menschen. Wie der Anschlag jedoch vorbereitet wurde, welche sozialen Strukturen und Akteurkonstellationen für die Organisation des Terroranschlags notwendig sind, bleibt dabei zumeist verborgen“ (Hillebrandt, in diesem Band). Hillebrandt betont, dass sich die soziologische Forschung damit nicht zufrieden geben kann, sondern „Terrorismus“ als strukturell und kulturell eingebettete Praxisform rekonstruieren muss, um Erklärungen für sein Zustandekommen gewinnen zu können. Hierfür ist die makrosoziale Erklärungsebene nur eine Facette, die jedoch zu kurz greift. Stattdessen muss Terrorismus bezogen auf seine Entstehung und dauerhafte Reproduktion analysiert werden. Auf dieser Grundlage gelangte die Analyse von Hillebrandt zu sehr beeindruckenden Ergebnissen über die inneren Organisationsstrukturen der IRA (als Praxisfeld). Eindeutig auf der Makroebene angesiedelt ist demgegenüber der Versuch von Krücken und Meyer, aus der neo-institutionalistischen Perspektive die kulturellen Muster der hege4
Trimble war damals Parteivorsitzender der UUP, Duncan-Smith war Parteivorsitzender der britischen Tories.
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monialen institutionellen Ordnung der Weltgesellschaft auf das Terrorismusphänomen anzuwenden. Hier existieren evidente Forschungslücken, die bisher noch nicht angegangen wurden. Krücken und Meyer greifen zu diesem Zweck „Organisation“ als jenes kulturelle Muster der Moderne auf, das für die neo-institutionalistische Argumentation von besonderer Bedeutung ist – denn terroristische Gewalt, wie in Nordirland, ist organisiert, d.h. sie geht von klar identifizierbaren Organisationen aus. Sowohl auf katholischer als auch auf protestantischer Seite dominieren Organisationen und ihre Logik den Konflikt. Darüber hinaus erkennen Krücken und Meyer Prozesse „kategorischer Selbstzuschreibung“ (Stichweh) bei der IRA, da sie sich als reguläre Armee bezeichnet. Organisatorisch scheint sich die IRA zunächst auch an die Struktur der britischen Armee und deren Aufteilung in Brigaden und Bataillone anzulehnen, die sie jedoch später, nachdem sich diese Struktur für den Untergrundkampf als wenig hilfreich erwies, zugunsten loser Zellenstrukturen aufgab – nach dem Vorbild europäischer Terrororganisationen wie der Rote Armee Fraktion (RAF). Aus diesen ersten Beobachtungen ziehen Krücken und Meyer den Schluss, dass ein neues neo-institutionalistisches Forschungsprogramm zum Terrorismus formuliert werden könnte, das nach einem transnationalen „organisationalen Feld“ des Terrorismus fragt, innerhalb dessen Handlungsformen und Strukturmerkmale diffundieren. Die differenzierungstheoretisch gerahmte Konstellationsanalyse des IRA-Terrorismus liefert im Wesentlichen zwei Impulse jenseits des Einzelfalles Nordirland: eine Antwortstrategie auf die Frage, warum Terror eskaliert und verlässliche Anhaltspunkte für die Frage der Legitimation von Gewalt. Schimank analysiert Terrorismus als ein sich politisch verstehendes und politisch auftretendes Handeln, das auf charakteristische Weise zugleich immer auch militärische und rechtliche Bezüge assoziiert, „so dass es in diesem Dreieck der Teilsysteme chamäleonartig changiert und genau dadurch eine reguläre politische Bearbeitung verhindert – wie auch eine reguläre rechtliche oder militärische“ (Schimank, in diesem Band). Daraus leitet sich eine differenzierungstheoretische Definition von Terrorismus ab: „Man könnte sagen, dass Terrorismus eine solche irreguläre strukturelle Kopplung der drei - regulär ja sehr eng und koordiniert gekoppelten - Teilsysteme [Politik, Recht, Militär] inszeniert, die es ihm ermöglicht, sich dem Zugriff aller drei Teilsysteme zu entziehen“. Die akteurzentrierte Differenzierungstheorie liefert jedoch auch hilfreiche Erkenntnisse in Bezug auf in der Terrorismusforschung traditierten Täter-Opfer-Kategorisierungen. Dies wird durch die differenzierungstheoretische Prämisse erreicht, wonach einzelne Menschen stets eine Mehrzahl von Akteuren darstellen. In der funktional differenzierten Gesellschaft prägt sich dies als multiple Partialinklusion eines Menschen in mehr oder weniger alle gesellschaftlichen Teilsystemen aus: „Ein bestimmter Terrorist der IRA ist teils simultan, teils sequentiell Krimineller und politisch engagierter Mensch, Zivilist und Fernsehzuschauer, Arbeitsloser und Familienvater, Kirchgänger und Sportinteressierter, Konsument und Patient und muss all dies personal integrieren“ (Schimank, in diesem Band). Nimmt man diese differenzierungstheoretische Lesart ernst, so hat sie erhebliche Auswirkungen auf die Legitimitätsfrage, wie sie in der Regel von der verstehenden Gewaltsoziologie thematisiert wird. Im Mittelpunkt der Verstehens-Epistemologie steht die Logik der Gewalt im Sinne einer Analyse ihrer fundamentalen Bausteine und ihre wechselseitigen Beziehungen. (vgl. von Trotha 1997: 21, 2000). Die Gewalt der IRA richtete sich gemäß dem „Freiheitskämpfer-Theorem“ gegen die britische Krone in Nordirland. Die Gewaltkampagnen richteten sich den Rechtfertigungsdiskursen zufolge nicht gegen individuelle
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Mitglieder der Gemeinschaften (Baumann 2008). Doch diesen Legitimationsdiskursen kann man kritisch entgegenhalten, dass es in einem Krieg immer zu zivilen Opfern kommt und dass alle Kombattanten, die sich für die Teilnahme am Bürgerkrieg entscheiden, mit ihrer Wahl des bewaffneten Kampfs unschuldige, zivile Opfer in Kauf nehmen. Verlangt man also von den Opfern und Hinterbliebenen, zu verstehen, dass die bewaffneten Gruppen Gewaltaktionen aus politisch motivierten Gründen durchführten, so müssen im Gegenzug die bewaffneten Gruppen anerkennen, dass für die Opfer und Hinterbliebenen die Unterscheidung zwischen „legitimem Angriffsziel“ und Zivilist nur sehr schwer nachzuvollziehen ist. Trotz der scheinbar rationalen diskursiven Strategien existieren grundlegende Zweifel an der angeblichen „moralischen Autorität“, wie sie von den bewaffneten Gruppen stets postuliert wird. Nimmt man zur Illustration das Beispiel der Polizei, die nach der GewaltRechtfertigung der IRA zu einem legitimen Angriffsziel wurde, so kann man sehr ernste Kritikpunkte an den Legitimationsdiskursen formulieren: Ein Polizist ist nicht nur ein Beamter in Uniform, sondern – so bestätigt die differenzierungstheoretische Erkenntnis – auch Privatmann, Familienvater, Angehöriger einer Gemeinschaft etc., d.h. er ist zum überwiegenden Teil seines Lebens in der Tat ein Zivilist. 3
Zusammenfassung und Ausblick
To those who understand, no explanation is necessary. To those who will not understand, no explanation is possible. (Graffiti an der katholischen „Falls Road“, ein Gebiet in West-Belfast) Unsere Synopse der in diesem Band vertretenen Sozialtheorien unterteilte die verschiedenen Theoriezugänge in drei Cluster auf: Erstens wurde die Instabilität von Gewaltfreiheit bzw. der (Neu-)Anfang von Gewalt nach drei divergierenden Blickrichtungen herausgearbeitet. Durch eine fundierte „Erklärung“ durch aufeinander bezogene Gewaltdynamiken: Aktions-Repressions-Spirale u.a., durch einen Blick auf die Gesellschaft bzw. die Ebene der Gemeinschaften, z.B. als funktional differenzierte Gesellschaft, oder durch eine spezifische Analyse der (Gewalt-)Akteure. Zweitens wurde die Bedeutung von Symbolen, Ritualen und Mythen in manchen Theorien besonders hervorgehoben. Und drittens ergab die Synopse auch zum Teil sehr weit reichende Impulse für die Terrorismusforschung jenseits des spezifischen Falles Nordirland. Durch diese Aufteilung nach drei Clustern gelingt es, verschiedene Sozialtheorien miteinander ins Gespräch zu bringen. Zugleich wird deutlich, welche Phänomene der Konfliktwirklichkeit für die sozialtheoretisch orientierte Forschung von zentraler Bedeutung sind – und zwar zumindest teilweise unabhängig von der jeweiligen methodologischen Grundüberzeugung – und welche Phänomene unterbelichtet sind. Ausgehend von der These, dass Theorien ihren Gegenstand immer auch erschließen und auf diese Weise konstruieren, zeigt der fallbezogene Theorienvergleich, dass es auf der einen Seite zwar Differenzen in Bezug auf die Aufmerksamkeit für bestimmte Konfliktphänomene und Erklärungsstrategien gibt. Auf der anderen Seite verdeckt die Unterschiedlichkeit der sozialtheoretischen Vokabulare aber auch grundlegende Gemeinsamkeiten. Erst der intertheoretische Dialog reichert das soziologische Bild einer Konfliktwirklichkeit so an, dass deren Komplexität analytisch Rechnung getragen wird. Die Tatsache, dass es dem fallbezogenen Theorievergleich aus der Sicht der empirischen Konfliktforschung gelingt, neue und auch unerwartete Erkenntnisse in scheinbar
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bereits ausgiebig erforschten Themenkomplexen zu erreichen, zeigt, dass es sich dabei keineswegs um ein theoretisches Glasperlenspiel, sondern letztlich um einen Versuch handelt, die Validität von Forschungsergebnissen dadurch zu erhöhen, dass man sie plausibel in unterschiedliche sozialtheoretische Vokabulare übersetzen kann.
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Marcel M. Baumann und Thorsten Bonacker
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Marcel M. Baumann, Universität Freiburg, Arnold-Bergstraesser-Institut, Windaustr. 16, D-79110 Freiburg [email protected] Prof. Dr. Thorsten Bonacker, Universität Marburg, Zentrum für Konfliktforschung & Institut für Soziologie, Ketzerbach 11, 35032 Marburg/Lahn [email protected] Dr. Rainer Greshoff, Universität Oldenburg, Institut für Sozialwissenschaften, Ammerländer Heerstr. 114-118, D-26129 Oldenburg [email protected] PD Dr. Jens Greve, Universität Bielefeld, Fakultät für Soziologie, PF 10 01 31, D-33501 Bielefeld [email protected] PD Dr. Frank Hillebrandt, Universität Münster, Institut für Soziologie, Scharnhorststraße 121, D-48151 Münster [email protected] Sabine Korstian, Universität Marburg, Zentrum für Konfliktforschung, Ketzerbach 11, D-35032 Marburg [email protected] Prof. Dr. Georg Krücken, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften, Postfach 1409, D-67324 Speyer [email protected] Prof. Dr. Christian Lahusen, Universität Siegen, Fachbereich 1/ Soziologie, Adolf-Reichwein-Straße 2, D-57068 Siegen [email protected] Prof. Dr. Andrea Maurer, Universität der Bundeswehr München, Werner-Heisenberg-Weg 39, D-85577 Neubiberg [email protected] Frank Meier, FernUniversität Hagen, Institut für Soziologie, Universitätsstraße 11, D-58084 Hagen [email protected]
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Dr. Andreas Pettenkofer, FernUniversität in Hagen, Institut für Soziologie, Universitätsstr. 11, D-58084 Hagen [email protected] Prof. Dr. Jo Reichertz, Universität Duisburg-Essen, Institut für Kommunikationswissenschaft, Universitätsstr. 12, D-45141 Essen [email protected] Prof. Dr. Uwe Schimank, FernUniversität Hagen, Institut für Soziologie, Universitätsstr. 11, D-58084 Hagen [email protected] Prof. Dr. Wolfgang Ludwig Schneider, Universität Osnabrück, Fachbereich 1: Sozialwissenschaften, Seminarstraße 33, D-49074 Osnabrück [email protected]