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Cornelia Helfferich Die Qualität qualitativer Daten
Cornelia Helfferich
Die Qualität qualitativer Daten Manual für die Durchführung qualitativer Interviews 3., überarbeitete Auflage
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. 3., überarbeitete Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15410-7
Inhalt
Vorwort ...................................................................................................
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Einführung .............................................................................................
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Allgemeine Grundlagen ..................................................................
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1.1 1.2 1.3 1.4 1.5
Der Gegenstand qualitativer Forschung und Grundprinzipien .......... Forschungsinteresse, Fragestellung und Forschungsgegenstand ....... Unterschiede zwischen qualitativen Interviewformen ...................... Abgrenzung zu Alltagskommunikation und Beratungsgespräch ...... Intervieweranforderungen, Schulungsziele und -bausteine................
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2
Übungsteil I: Erwartungen an die Erzählperson und Erzählstrategien ............
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2.1 Erwartungen an die Erzählperson ...................................................... 2.2 Die Interviewsituation aus unterschiedlichen Perspektiven .............. 2.3 Die Erzählerperspektive: Was heißt es, zum Erzählen aufgefordert zu werden? ...................... 2.4 Erzählstrategien und Erzählsignale ................................................... 2.5 Die „Wahrheitsfrage“ aus Sicht der Erzählperson ............................ 2.6 Theoretische Vertiefung: Das Prinzip Kommunikation .................... 2.7 Bilanz und Reflexion ......................................................................... 3
3.1 3.2 3.3 3.4 3.5
Übungsteil II: Die Interviewenden/Hörenden – Fremdverstehen und Fragen in der Interviewsituation ...................................................
58 60 65 72 76 79 81
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Fremdverstehen in der Interviewsituation ......................................... 84 „Aktives“ Zuhören und der Umgang mit Pausen .............................. 90 Die „Wahrheitsfrage“ aus der Perspektive der Interviewenden ........ 95 Nonverbale Gesprächssignale ........................................................... 98 Die „Kunst der Frage“ – Frageformen und Fragestile ....................... 102 5
3.6 3.7
Theoretische Vertiefung: Das Prinzip Offenheit ............................. 114 Bilanz und Reflexion ...................................................................... 117
4
Übungsteil III: Die Interaktion im Interview – Dynamik und Gestaltung ......... 119
4.1 4.2
Nähe und Fremdheit in der Interviewsituation ................................ Theoretische Vertiefung: Das Prinzip Fremdheit und die Relativierung des eigenen „Normalitätshorizonts“ ......................... 4.3 Rollen und Rollenaushandlung ....................................................... 4.4 Schwierige Interaktionsdynamik ..................................................... 4.5 Exkurs: Ambivalente Strategien – Sprechen und nicht sprechen wollen, hören und nicht hören wollen ............................................. 4.6 „Karge“ Interviews ......................................................................... 4.7 Zwischenbilanz: Gütekriterien für qualitative Interviews und das Prinzip Reflexivität ................................................................... 4.8 Reflexion der Interaktion in der Interpretation ............................... 4.9 Bilanz und Reflexion ...................................................................... 4.10 Exkurs: Experteninterviews ............................................................
119 130 132 142 150 153 154 158 159 162
5
Interviewplanung und Intervieworganisation ............................ 167
5.1
5.5
Forschungsstrategische Entscheidungen in der Interviewplanung ............................................................................ Praktische Einzelaspekte: Die Festlegung der Stichprobe, der Zugang zu Erzählpersonen und die Ausgestaltung der Interviewsituation ........................................................................... Konstruktion von Instrumenten – der Weg zu einem Leitfaden ..... Forschungsethik, Datenschutzbestimmungen und Einwilligungserklärung ................................................................... Interviewbegleitende Dokumentation .............................................
6
Anhang ........................................................................................... 195
6.1 6.2 6.3 6.4 6.5
Beispiel für eine Schulung ............................................................... Materialien ....................................................................................... Liste der Übungen, Übersichten und der Forschungsbeispiele ........ Literatur ........................................................................................... Forschungsprojekte (SoFFI F.), in denen Schulungen durchgeführt wurden........................................................................
5.2 5.3 5.4
6
167 171 178 190 193
195 198 205 207 213
Vorwort zur dritten, überarbeiteten Auflage
Das Manual für die Durchführung qualitativer Interviews hat sich in den fünf Jahren, die seit dem Erscheinen der ersten Auflage vergangen sind, bei der Vorbereitung auf qualitative Interviews und in der Lehre empirischer Forschungsmethoden bewährt. Einer der Gründe für die Brauchbarkeit des Manuals, so die Rückmeldungen, liegt darin, dass in den Übungen praktisch erfahrbar wird, was eine Haltung der Offenheit als grundlegende Anforderung aller qualitativen Forschung bedeutet. Das Tun vermittelt in besonderer und nachhaltiger Weise die Einsicht, dass um diese Haltung gerungen werden muss, weil sie den Prinzipien der Alltagskommunikation zuwiderläuft, bei der alle Teilnehmenden ganz selbstverständlich das Gehörte auf ihr eigenes, unhinterfragtes Deutungssystem beziehen und nur darauf warten, wieder von sich sprechen zu können. Mit dem Manual zu arbeiten, schult in diesem Sinne auch die Fähigkeit zu einer Kommunikation, bei der das Zuhören und das Zurückstellen der eigenen Deutungen eine zentrale Rolle spielt. Doch in dem Maß, wie diese zentrale Intention des Manuals umgesetzt werden kann, werden andere Punkte erkennbar, an denen Forschungsvorhaben in dem engen Ausschnitt aus dem gesamten Forschungsprozess, der hier abgesteckt ist, also bei der Planung und Durchführung von Interviews, in Schwierigkeiten geraten können. Probleme bereitet vor allem eine vage und ungenaue oder sogar unpassende Bestimmung des Forschungsgegenstands, wie sie nicht selten in Qualifikationsarbeiten und Forschungsexposés zu finden ist. Die Qualität der Durchführung der Interviews mag noch so gut sein – wenn die Forschungsfrage diffus und schillernd ist oder wenn sie auf etwas zielt, das nicht genuin im Aufgabenbereich qualitativer Forschung bearbeitet werden kann, werden die Erträge der Forschung mager sein. Erst die präzise Bestimmung des Forschungsgegenstandes ermöglicht es, ein methodisches Vorgehen zu wählen, dass genau dazu passt und das am Forschungsgegenstand seine spezifische Stärke entfalten kann. Das ist von besonderer Relevanz, denn die Passung von Forschungsgegenstand einerseits und den gewählten qualitativen Erhebungs- und Auswertungsverfahren andererseits ist die zentrale Voraussetzung für gute Forschung. Aus diesem Grund wurde in 7
der dritten Auflage den Schwierigkeiten bei diesem Schritt im Forschungsprozess ein gesonderter Abschnitt gewidmet. Mehr Aufmerksamkeit wird in dieser dritten Auflage der Interviewgestaltung gewidmet, wenn das Forschungsinteresse auch auf Inhalte und Informationen und nicht nur auf Rekonstruktion von Sinn gerichtet ist, z.B. bei (bestimmten Formen von) Experteninterviews. Offenbar war unklar, wo inhaltsbezogene Interessen an Information ihren Platz haben und wie denn sinnvoller Weise Menschen, z.B. Experten und Expertinnen, interviewt werden, wenn deren Wissen nicht hermeneutisch gedeutet, sondern als Auskunft über spezifische Inhalte genommen werden soll. So gab es Probleme, weil Studierende den Leitfadenprozess auf Interviews mit Experten anwandten und versuchten, ihnen möglichst lange Erzählungen „zu entlocken“, was bei den Befragten, die an eine kurze und bündige Kommunikation gewohnt waren, Irritationen auslöste. Zwar sind die genuine Aufgabe und der Kern der qualitativen Forschung die Rekonstruktion von Sinn, gleichwohl kann ein Interesse an Information bei bestimmten Fragestellungen und Forschungskonstellationen legitim, sinnvoll und notwendig sein. Die methodologische Diskussion hat sich nicht ohne Grund weg entwickelt von der Verteidigung eines einzigen möglichen „Königswegs“ qualitativer Forschung – bzw. von der heftigen Konkurrenz der Vertreter und Vertreterinnen unterschiedlicher „Königswege“ – hin zu der Frage nach der Bedeutung einer methodologischen Positionierung in Relation zum Forschungsgegenstand, der eben auch als Information gefasst werden kann. Das heißt, inhaltsbezogene Forschungsinteressen sind nicht auszuschließen, aber es ist Klarheit darüber zu schaffen, warum das Interesse inhaltsbezogen ist und sein kann, und es ist erkenntnistheoretisch zu begründen, dass und warum das erhobene Material als Auskunft über die Inhalte genommen werden kann. Die Bedeutung inhalts- oder informationsbezogener und rekonstruktiver Interessen in der qualitativen Forschung wird nun in der dritten Auflage geklärt und insbesondere wurde ein kurzer Exkurs zur Durchführung von qualitativen Interviews mit Experten und Expertinnen eingefügt. Ein Wunsch hat sich aber bislang noch nicht erfüllt: Eine systematische Forschung zu Interviews als Kommunikationssituationen als „Forschung über Forschung“ wurde noch nicht etabliert. Dennoch ist die qualitative Forschung als Methodologie auf dem besten Weg, sich immer genauer ihrer eigenen Grundlagen zu vergewissern. Und dieses Manual wird hoffentlich weiter einen kleinen Beitrag dazu leisten. Freiburg, April 2009
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Einführung
Qualitative Sozialforschung ist heute (weitgehend) anerkannt und verankert1. Die Methodik hat sich in eine Vielzahl von Zugängen und Techniken ausdifferenziert – auch „das“ qualitative Interview gibt es nicht, sondern unterschiedliche Formen von Interviews, mit denen unterschiedliche inhaltliche Forschungsinteressen verbunden sind2. Neue Themen, z.B. der Umgang mit elektronischen Texten/Daten, werden diskutiert und Detailaspekte wie z.B. Transkription oder Typenbildung in eigenen Abhandlungen vertieft. Mit der Durchsetzung und Ausdifferenzierung qualitativer Verfahren werden auch ihre Grenzen und Probleme deutlich und damit auch der Bedarf, eigene Qualitätskriterien für qualitative Forschung nicht nur zu diskutieren (Steinke 1999), sondern ihre Umsetzung in dem praktischen Forschungsvorgehen abzusichern. Qualitative Interviews sind Kommunikationssituationen, das heißt: die entscheidenden Daten werden in einer hochkomplexen und die Subjektivität der Beteiligten einbeziehenden Situation erzeugt. Die Qualität der Daten (der Erzählungen, Texte, Äußerungen etc.) und letztlich auch die Auswertungsmöglichkeiten hängen von der Qualität der Erhebungssituation ab. Während es viele grundlegende und ausgezeichnete Ausführungen zu wissenschaftstheoretischen und methodologischen Fragen gibt, kamen bislang Aspekte des praktischen Vorgehens bei der Erhebung in der Methodendiskussion zu kurz3. So waren es vor allem praktische Nöte, die zu diesem 1
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Das ist ablesbar z.B. an den Einführungen, Hand- oder Lehrbüchern, der Schriftenreihe und der virtuellen Zeitschrift, die ins Leben gerufen wurden, sowie an der Gründung von Arbeitsgruppen in wissenschaftlichen Fachgesellschaften. Eine Übersicht liefert Ohlbrecht 2000. So spielt z.B. die Unterscheidung in narrative, problemzentrierte oder fokussierte Interviews eine Rolle, aber selbst innerhalb einer solchen Zugangstradition wie z.B. den narrativen Interviews entwickeln sich weiter spezifische Formen, je nachdem ob es um eine biografiebezogene Interpretation oder um die Rekonstruktion narrativer Identität gehen soll: Lucius-Hoene/Deppermann 2002, 9. Ausführlich wird darauf in ´ Abschnitt 1.2 eingegangen. 2008 erschien das als „Ein Arbeitsbuch“ untertitelte und sehr empfehlenswerte Methodenbuch von Pryzborski und Wohlrab-Sahr, das Fragen des praktischen Vorgehens aufgreift. Es handelt sich um ein Übersichtswerk, in dem außer auf Interviews als Er-
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Buch motivierten – Nöte von Studierenden, die, den Kopf voll mit anspruchsvollen theoretischen Diskursen, bei ihren Abschlussarbeiten nicht wussten, was zu tun ist, um ein Interview zu führen, oder Nöte von Projektleitungen, die Experten und Expertinnen für Interviews brauchten und deshalb die systematische Vermittlung von erlernbarem Verfahrenswissen und von praktischen Fähigkeiten der Interviewführung organisieren mussten. Diese Nöte waren uns aus dem Alltag in der Forschung und Lehre nur zu vertraut und sie haben mich in den Jahren unserer Forschungspraxis dazu geführt, immer wieder Schulungen und Seminare durchzuführen und Schulungskonzepte weiterzuentwickeln. So ist dieses Manual anzusiedeln in einem „weichen“ Bereich – der qualitativen Sozialforschung – mit einem „harten“, d.h. hier v.a. praktischen, Empirie-Interesse. Den einen mag es zu „weich“, den anderen zu „hart“ erscheinen: Aus Sicht von Vertretern der standardisierten Erhebungsverfahren haftet der qualitativen Sozialforschung insgesamt und damit auch diesem Manual der Makel an, zu wenig empiristisch zu sein, aus Sicht der methodologischen Diskussion innerhalb der qualitativen Sozialforschung mag das Vorhaben als zu empiristisch anmuten (vgl. zu einer ähnlichen Zwischenstellung der Ethnografie: Amann/Hirschauer 1997, 7ff). Angesichts der Ausdifferenzierung qualitativer Sozialforschung und der Tatsache, dass kein Mangel an methodologischen Debatten von hoher Qualität herrscht, haben wir uns konsequent auf die Abhilfe dieser praktischen Nöte beschränkt, d.h. es geht in dem Manual in erster Linie um die Datenerhebung, konkret um die Gestaltung der Interviewsituation einschließlich des Interviewerverhaltens. Damit muss zwar das Vorfeld der Erhebung, nämlich die im Forschungsprozess getroffenen Entscheidungen z.B. zum Forschungsgegenstand, zur theoretischen Verortung, zur angestrebten Verallgemeinerbarkeit miteinbezogen werden, weil diese Entscheidungen einen Einfluss auf die Gestaltung der Interviewsituation haben. Aber es werden alle Fragen der Auswertung und Interpretation ausgeklammert und damit wichtige Diskussionen z.B. zur Objektiven Hermeneutik, zur Inhaltsanalyse oder zur „Grounded Theory“. Es geht auch nicht um qualitative Verfahren allgemein, sondern um qualitative Einzelinterviews und dazu noch um besondere Formen dieser Einzelinterviews in der Spannweite von einer Interviewform, in der primär eine Person – im wörtlichen Sinne – ununterbrochen erzählt, bis zu einer Interviewform, in der Interviewende durch Nachfragen und Rückfragen mit der Erzählpersonen in einen Dialog treten und das Interview mehr den Charakter eines Gesprächs bekommt. Damit werden viele qualitative Verfahren wie Gruppendiskussion, Textanalyse, teilnehmende Beobachtung, aber auch bestimmte Interviewformen ausgeschlossen. Für ExpertInnenInterviews ist der Schulungsaufwand möglicherweise überdimensioniert, hebungsverfahren auch auf z.B. teilnehmende Beobachtung und auf Auswertungsverfahren eingegangen wird. Speziell für die Gestaltung der Kommunikation in qualitativen Interviews liegt nur das Buch von Maindok (2003) vor, das sich an den Grundlagen klientenzentrierter Gesprächsführung nach Rogers orientiert.
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psychoanalytisch ausgerichtete Interviews brauchen eine stärker supervisorische, permanente Begleitung der Prozesse von Übertragung und Gegenübertragung. Immer wieder haben wir daran gearbeitet, die notwendigen Kompetenzen für eine Interviewführung systematisch und theoriegeleitet zu präzisieren. Was sollte in einer Schulung vermittelt werden? Die allgemeine Diskussion schwankt zwischen der Annahme, dass das Führen qualitativer Interviews keiner besonderen Kompetenzen bedarf, und einer Überlastung der Interviewenden mit kaum erfüllbaren Erwartungen. Einerseits liegt das „Verführerische“ qualitativer Forschung ja gerade darin, dass Fragen im Alltag so nahe liegt und daher auch im wissenschaftlichen Kontext „so leicht“ erscheint (Friedrichs 1990, 209). „Die Aufforderung zum Erzählen scheint unmittelbar in das Zentrum der subjektiven Erfahrung und Sichtweisen unserer Probanden zu führen und sie auch kaum vor Schwierigkeiten der Vermittlung zu stellen – schließlich können wir davon ausgehen, dass in unserer Kultur jeder mehr oder weniger ausführlich erzählen kann, ‚wie alles gekommen ist‘.“ (Lucius-Hoene/Deppermann 2002, 9) Nicht nur Hopf kritisiert aber, dass die benötigten Kompetenzen für eine gute qualitative Erhebung als ein „relativ unproblematischer Bestandteil der Qualifikation von Sozialwissenschaftlern“ angesehen werden: Es reicht eben nicht, auf Alltagskompetenz zu vertrauen oder darauf, dass sich Kompetenzprobleme „mit der Narration sozusagen von selbst erledigen“ (Hopf 1995, 181) – wie schlecht geführte Interviews und Interviewerfehler zeigen. Auf der anderen Seite gibt es die Tendenz, die Bestimmung der notwendigen Kompetenzen von Interviewenden zu überfrachten in dem Sinn, dass von ihnen allein die Lösung von strukturellen Spannungsverhältnissen verlangt wird, die allgemein konstitutiv für qualitative Verfahren sind. Alle qualitativen Interviews müssen zwischen Offenheit und strukturierenden Vorgaben, zwischen Vertrautheit und Fremdheit vermitteln. Statt nun im Vorfeld – dem Forschungsgegenstand angemessen und mit Bezug auf ihn begründet – Handlungsspielräume bei der Erhebung zu konkretisieren, werden hohe und widersprüchliche Erwartungen an die Interviewenden gestellt: Sie sollen alles zugleich leisten, Vertrautheit herstellen und gleichzeitig Fremdheit annehmen, offen sein und gleichzeitig strukturieren, sich als „naiv“ und als „kundig“ darstellen etc. (Hopf 1978) – das können sie natürlich nicht. Wenn vorläufig die notwendigen (und damit zu vermittelnden) Kompetenzen bestimmt werden als Fähigkeiten, die Erhebungssituation im Sinne des Forschungsanliegens bewusst zu gestalten, stellt sich die zweite Frage, ob unterschiedliche Interviewtypen unterschiedliche Kompetenzen erfordern. Für Interviews z.B., bei denen die Interviewenden vor allem die Rolle der Zuhörenden haben und selbst wenig in den Erzählablauf eingreifen (narrative Interviews), werden die systematische Vermittlung von Fähigkeiten des Zuhörens, des Signalisierens von Interesse ohne eigene Interventionen und der Aufrechterhaltung der Beziehung während des einseitigen Erzählens, aber auch die Fähigkeit zur angemessenen Intervieweröffnung als besonders wich11
tig erachtet (Friebertshäuser 1997, 387; Flick 1996, 121). Für „Leitfaden“Interviews, bei denen (in einem Leitfaden zusammengestellte) Nachfragen Bestandteil der Interviewführung sind, benötigen Interviewende Fähigkeiten, unter Zeitdruck und spontan eine passende Frageformulierung zu finden – je mehr situative Entscheidungen sie bezogen auf die Interviewsteuerung treffen müssen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit von Interviewerfehlern und desto notwendiger ist das Üben z.B. des Umgangs mit der eigenen selektiven Aufmerksamkeit und den eigenen Erwartungen (Witzel 1982, 91; vgl. Friebertshäuser 1997, 377) oder die richtige “Dosierung von Empathie“ (Hoff 1985, 167). Aus den Erfahrungen, die wir in vielen Jahren mit Schulungen für Interviewer und Interviewerinnen gesammelt haben, hat sich über diese Unterschiede hinweg als ein zentrales und übergreifendes Ziel heraus kristallisiert, eine grundlegende Haltung der Offenheit für Fremdes, der Zurückstellung der eigenen Deutungen und der Selbstreflexion sowie schlicht und einfach die Fähigkeit zum Zuhören (eine Fähigkeit, die uns im Alltag weitgehend verloren gegangen ist) zu vermitteln. Damit verbunden ist eine Art von Verlangsamung der Kommunikation und „Impulskontrolle“: Der unbewusste, spontane und unkontrollierte Reflex auf das Gehörte hin weicht einer zurückhaltenden Reflexion als Voraussetzung für Kontrolle in der Erhebungssituation. Auf dieser Basisqualifikation aufbauend sind für die unterschiedlichen Interviewanforderungen spezifische Kompetenzen notwendig, die dann jeweils angemessene Entscheidungen im Umgang mit nonverbalen und/oder verbalen Interventionen ermöglichen. Konzentriert man sich nur auf die Erhebungssituation, kann eine große Gemeinsamkeit aller Interviewformen in den Vordergrund treten, die in den methodologischen Diskussionen mitunter nicht genug Beachtung findet: Jedes Interview ist Kommunikation, und zwar wechselseitige, und daher auch ein Prozess. Jedes Interview ist Interaktion und Kooperation. Das „Interview“ als fertiger Text ist gerade das Produkt des „Interviews“ als gemeinsamem Interaktionsprozess, von Erzählperson und interviewender Person gemeinsam erzeugt – das gilt für jeden Interviewtypus. Das ist zugleich ein Abschied von der Vorstellung eines möglichst „unbeeinflussten“ Interviews und eines „natürlichen Settings“. Interviews sind immer beeinflusst, es fragt sich nur, wie. Es geht darum, diesen Einfluss kompetent, reflektiert, kontrolliert und auf eine der Interviewform und dem Forschungsgegenstand angemessene Weise zu gestalten. Daraus ergeben sich grundlegende Konsequenzen für diese Schulung, die dazu verhelfen will, Fehler zu vermeiden: Das oben formulierte übergreifende Ziel fokussiert die Fähigkeit, unbewusste und unkontrollierte Interventionen unterlassen zu können. Es wird kein Katalog von Verhaltensvorschriften vermittelt mit Regeln wie z.B. „Keine Suggestivfragen stellen!“, denn das bewusste Zulassen von Suggestivfragen kann in dem Fall einer bestimmten Interviewform dem Interviewziel dienen, bei einer anderen Interviewform dagegen nicht. Wenn Suggestivfragen bewusst und bezogen auf den Forschungsgegenstand begründet gestellt werden, sind sie kein Interviewfehler. Interviewfehler sind unbewusste und unkontrollierte 12
Verhaltensweisen, die den Kommunikationsprozess stören und die dem Interviewziel entgegenlaufen. Die weitere Konsequenz dieser interaktionstheoretischen Position ist die, dass wir, auch wenn die Schulung an dem Verhalten der Interviewenden ansetzt, das ganze Interaktionsgeflecht von Hintergrund, Rollen, Wahrnehmung und Verhalten von Erzählenden und Interviewenden kennen müssen, in dem das Interviewerverhalten seine Wirkung entfaltet. Die Bedeutung, die einer Basisqualifikation beigemessen wird, ist auch damit begründet, dass die Überschneidungen zwischen narrativen und Leitfaden- bzw. problemzentrierten Interviewformen bzw. zwischen monologischen und dialogischen Interviewformen aus der Perspektive der praktischen Interviewführung deutlich größer sind als bei der methodologischen Abgrenzung voneinander zu vermuten ist: Auch narrative Interviews haben Nachfrage- und Bilanzierungsteile, in denen die Interviewenden nicht mehr strikt die Rolle von Zuhörenden einnehmen und die so durchaus „problemzentriert“ sein können, und auch in problemzentrierten Interviews werden Erzählungen generiert wie in kleinen narrativen Interviews. Und schließlich haben sich in der Praxis Mischformen zwischen narrativen und Leitfaden-Interviewformen bewährt (s.u.). Zudem halten wir es für sinnvoll, sich z.B. mit eigenen Aufmerksamkeitshaltungen auseinander zu setzen, auch wenn ein Interviewtypus gewählt wird, der primär ohne Nachfragen auskommt, und umgekehrt bei stärker gesteuerten Interviews in der Lage zu sein, die eigenen Deutungen zurückhalten zu können. Die Frage der Unterschiede zwischen Interviewformen und der Spezifik der benötigten Kompetenzen bleibt aber vertrackt – so vertrackt wie die unterschiedlichen Systematiken qualitativer Interviewformen, die in der Literatur kursieren. Ein Teil des Problems besteht darin, dass jeweils eine besondere theoretische Grundposition, eine bestimmte Fassung des Forschungsgegenstandes, die gewählte Interviewform und die speziellen Auswertungsstrategien in einem engen Verweisungszusammenhang stehen (das heißt: man muss alles zusammendenken), so dass Interviewformen mit bestimmten theoretischen Schulen verbunden sein können und umgekehrt aus theoretischen Positionen Interviewformen abgeleitet werden und ständig neue Modifikationen mit einem neuen Namen auftauchen. Auch der Bezug auf die Gemeinsamkeiten von Interviews als Kommunikations- und Interaktionsprozess löst die Frage der Spezifik nicht ganz, weil unterhalb dieses gemeinsamen Ziels sehr wohl weiter zu differenzieren ist. Wir haben ein weiteres Mal die Beschränkung unseres Fokus auf die Erhebungssituation genutzt. Sie legitimiert uns dazu, drei der vier Aspekte, die da in dem Verweisungszusammenhang zusammengedacht werden müssen, zumindest zurückzustellen. Es reicht, wenn wir systematisch danach differenzieren, welche unterschiedlichen Kommunikationsmuster in der Erhebungssituation in der Vielfalt der Interviewformen realisiert werden. Wir arbeiten vier Muster von kommunikativen Beziehungen und Interaktionen heraus (ein monologisches und ein teilmonologisch-geführtes Muster, ein Muster des „gemeinsam an etwas Arbeitens“ 13
und ein Muster des offenen Gesprächs). Diese Muster verlangen in der Tat spezifische Akzentsetzungen bei den Interviewerkompetenzen; wir bieten Kompetenzen für die Steuerung von drei dieser vier Kommunikationstypen an. Die gebräuchlichsten Interviewformen des narrativen, des Leitfaden- und des problemzentrierten Interviews werden damit erfasst.
Zielgruppe und Anwendungsbereich Das Manual schlägt Bausteine für Interviewschulungen vor, in denen Verfahrenswissen und praktische Fähigkeiten der Interviewsteuerung vermittelt werden. Es liefert gleichzeitig eine Hilfestellung dafür, Forschungsentscheidungen im Vorfeld bezogen auf ihre Konsequenzen für die Interviewenden zu klären und zu präzisieren. Auch wenn für jedes Forschungsprojekt eine Schulung neu zugeschnitten werden muss, so bietet doch der modulare Aufbau eine Form, die eine möglichst breite Einsetzbarkeit garantiert. Einsatzformen sind: –
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Schulung von Teams oder Gruppen: Schulungsleitungen können die Module, ergänzt um theoretische Texte und projektspezifische Informationen, zu einem Schulungsprogramm zusammensetzen. Ein entsprechender Vorschlag findet sich in → Abschnitt 6.1, Varianten sind vermerkt. Dieses Lernen und die aktive Auseinandersetzung in einer Gruppe unter Anleitung eines Experten oder einer Expertin ist am sinnvollsten und entspricht der Geschichte des Manuals: Die Bausteine wurden für die Schulung von Teams von Interviewern und Interviewerinnen in größeren Forschungsprojekten entwickelt. Selbststudium (z.B. im Rahmen von Diplom-, Magisterarbeiten oder Dissertationen): Die Übungen können allein oder mit einem Partner bzw. einer Partnerin durchgearbeitet werden. Der Zusammenschluss zu Lerngruppen mit zwei oder drei Studierenden bzw. Promovierenden wird empfohlen. Überprüfung von forschungsstrategischen Entscheidungen für eine spezielle Interviewform und für eine spezielle Gestaltung der Interviewsituation: Ausgehend von einer Entscheidungs-„Check“-Liste am Ende des Manuals (→ Abschnitt 5.1) kann anhand der dort vermerkten Verweise auf entsprechende Schulungseinheiten in den vorherigen Kapiteln Rückbezug genommen werden. Exemplarische Unterrichtseinheiten: Ein Seminarplan zu qualitativer Sozialforschung sollte, aufbauend auf der Vermittlung von Grundlagenwissen, auf Aspekte der Interviewsituation ebenso wie auf Interpretationsverfahren eingehen. Einige Module für den speziellen Aspekt der Kommunikation in der Interviewsituation können in einen solchen Lehrplan als Teilelemente aufgenommen werden.
Inhaltlich richtet sich das Manual an alle, die in dem skizzierten Spektrum der Interviewformen Interviewes durchführen (lassen) möchten – dieses Spektrum deckt den größten Teil der aktuellen qualitativen Forschungspraxis ab. Vermittelt werden –
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Basisqualifikationen als Wissen über die Unterschiede zwischen Interviewformen und als interviewtypusübergreifend verlangte Kompetenzen für die Planung, Eröffnung und Durchführung von qualitativen Interviews in dem skizzierten Spektrum. Diese Kompetenzen sind aber auch für andere Kommunikationssituationen nützlich, und spezifische Kompetenzen für unterschiedliche Interviewtypen.
Damit ist über eine spezielle Zusammenstellung der Übungen eine mehr generalistische oder eine mehr spezialisierte Nutzung möglich. Die generalistische Nutzung empfiehlt sich für diejenigen, die noch keine feste Entscheidung bezogen auf die theoretischen Prämissen, die Wahl des Interviewverfahrens und die Ausgestaltung der Interviewsituation getroffen haben oder die sich nicht auf eine bestimmte Form qualitativer Interviews festlegen, sondern je nach Auftrag flexibel einsetzbar sein möchten. Der Zugang zu der interviewtypusspezifischen Nutzung wird in einem vorangestellten Kapitel zu den Besonderheiten von Interviewformen eröffnet (→ Abschnitt 1.2). In allen Übungen ist dann jeweils vermerkt, ob das Übungsziel sich auf die Basisqualifikation oder auf eine (und welche) spezielle Qualifikation bezieht. Die Schulungsinhalte und Forschungsbeispiele stammen aus dem Kontext der Forschungen vor allem am Sozialwissenschaftlichen FrauenForschungsInstitut SoFFI K. an der Evangelischen Fachhochschule Freiburg, für die in den letzten zehn Jahren Interview-Trainings entwickelt wurden (Übersicht → Abschnitt 6.5). Forschungsgegenstand waren Deutungsmuster z.B. von Biografien, Geschlechterbeziehungen, Partnerschaft oder die Verarbeitung der Erfahrungen von Behinderungen oder Gewalt in der Lebensgeschichte. Ein bevorzugtes Methodendesign war eine Kombination von standardisierten und qualitativen Erhebungsschritten bei biografischen Themen; in den qualitativen Teilerhebungen wurde ein hermeneutischer Zugang bei einer relativ großen Stichprobe (zwischen N=15 und N=120) verankert. Daher stellten sich Fragen, die mit der Größe des Interviewer-Teams verbunden waren. So musste z.B. entschieden werden, ob Frauen oder Männer Männer interviewen und ein besonderes Augenmerk galt den vielfältigen persönlichen Interviewstilen, die dem Forschungsinteresse angepasst werden mussten. Auch mussten wir uns mit dem Problem auseinandersetzen, Personen zu interviewen, die aus niedrigen Bildungsgruppen und „wortkargen“ Kulturen mit restringierten Thematisierungsregeln (= Regeln, was fremden Menschen erzählt wird und was nicht) kamen und die in ihrer Alltagskommunikation diskursiven Selbstvergewisserungen eher fern standen. Die Interviews mit Traumatisierten brachten uns spezifisch ambivalente Kommunikationsstile – erzählen und nicht erzählen wollen zugleich – und ihre Korrespondenz mit Ambivalenzen bei Interviewenden – hören und nicht hören wollen zugleich – näher. 15
Aufgrund der Vielfalt der unterschiedlichen Interview-Erfahrungen ist es uns wichtig zu zeigen, dass Interviewregeln, die für Projekte jeweils neu zu vereinbaren sind, bewusst entschieden, auf den Kommunikationsstil der Befragtengruppe zugeschnitten und dem Forschungsgegenstand angemessen sein müssen. Wir wählen damit einen eher pragmatischen, flexibel das gesamte Spektrum an Optionen für Interviewformen nutzenden, als einen von der Tiefe der methodologischen Prinzipiendiskussion geleiteten Weg. Unsere Erfahrungen sprechen auch gegen eine starre Festlegung auf ein einziges standardisiertes Interviewerverhalten: Alle Interviewsituationen sind Kommunikationssituationen, in die die Befragten ihre Kommunikationsstile einbringen; ein und dasselbe Interviewerverhalten erzeugt in der Konfrontation mit diesen gruppen- und themenspezifischen Stilen sehr unterschiedliche Interaktionseffekte. Leider ist gerade über die besondere Kommunikationsdynamik bei unterschiedlichen Befragtengruppen insgesamt (noch) wenig bekannt. In unserer Forschungspraxis und auch bei den zahlreichen betreuten Qualifikationsarbeiten an der Universität und Fachhochschule hat sich als Interviewtypus eine Modifikation von narrativen Interviews mit einer stärkeren Nachfrageorientierung bewährt, bei der das Interview aus drei oder vier „größeren“ Erzählaufforderungen besteht; innerhalb dieser Abschnitte wird die Erzählung ohne inhaltliche Steuerung aufrechterhalten und weitere Einzelaspekte, die in Stichworten vorgegeben sind, können in freien Formulierungen von den Interviewenden eingeführt werden (→ Abschnitt 5.3). Dieses Vorgehen mit einem gering strukturierten „Leitfaden“ führte dazu, dass sowohl die Anforderungen an narrativ Interviewende, insbesondere was die Grundhaltung der Interviewenden angeht, als auch die Anforderungen an Interviews mit stärker dialogischer Kommunikation in der Schulung ihren Platz haben. Wo immer wir uns in unserer Forschungspraxis selbst auf bestimmte forschungsstrategische Verabredungen festgelegt haben – z.B. Erzählpersonen nicht mit Widersprüchen zu konfrontieren, keine Deutungen und Zusammenfassungen anzubieten – haben wir dennoch Wert darauf gelegt, andere Optionen für das Interviewerverhalten in dieser Schulung zu vermitteln.
Die Ziele und Grenzen der Schulung Insbesondere Forschungserfahrene bezeichnen die Aufgabe der Interviewenden als komplex und fordern entsprechende Interviewschulungen. Aber während in der Psychologie für die Kommunikationsform „Beratung“, die ähnliche Anforderungen stellt wie die Kommunikationsform „qualitatives Interview“ (Maindok 2003, 165), systematisch Konzepte für die Vermittlung professioneller Gesprächsführungskompetenzen entwickelt wurden, fehlen in der qualitativen Sozialforschung entsprechende Grundlagen (Übersicht: a.a.O., 316). Die über die Jahre hinweg von uns erarbeiteten Schulungsunterlagen wurden bislang nicht veröffentlicht. Sie können gerade diese Lücke füllen. 16
Die Ziele der Schulung liegen auf unterschiedlichen Ebenen: Es sollen theoretisches Wissen vermittelt, die Aufmerksamkeit und eine Sensibilisierung für Interviewprozesse gestärkt und die Ausbildung von Reflexionsfähigkeit und einer Grundhaltung der Offenheit gefördert werden. Techniken wie das „aktiven Zuhören“ und Handlungskompetenzen im Sinne der Fähigkeit zur bewussten und angemessenen Gestaltung von Interaktionsprozessen, z.B. bei der Rollenzuweisung oder bei der Handhabung einer schwierigen Interviewdynamik, sollen erworben werden. Die Ziele werden genauer in → Abschnitt 1.4 aufgeschlüsselt. Das Manual kann im Vorfeld von Interviews Sensibilität und Kompetenzen vermitteln. Das ersetzt aber nicht das „Lernen aus Fehlern“, d.h. das Durchführen von Probe- oder regulären Interviews und die gemeinsame kritische Reflexion dieser Interviews auf Interviewerfehler hin bleiben unabdingbar. Ein solches Learning-by-doing sollte in der Nachfolge der Schulung verabredet werden. Am sinnvollsten wird die Schulung mit der praktischen Aneignung von Forschungskompetenzen verbunden, d.h. mit der Erprobung des in der Schulung erworbenen Wissens in der Forschungspraxis. Beschreibende Beispiele aus der Forschungspraxis können das nur zu einem Teil ersetzen. Die Schulung stellt kein verhaltenstherapeutisch angelegtes Programm zum Erlernen der richtigen „Techniken“ nach dem Vorbild von Mitarbeiterschulungen für z.B. Verkaufs- oder Beratungsgespräche dar, auch wenn einige Übungen aus der Gesprächsführung stammen. Der spezifische theoretische Hintergrund qualitativer Forschung verlangt eine strikte Begrenzung auf die sinnvollen, weil auf qualitative Forschung übertragbaren Aspekte von Gesprächsführung. Techniken sollten bekannt sein, aber sie können nicht technisch, d.h. schematisch und festgelegt, eingesetzt werden, da lebendige Kommunikationssituationen nicht planbar und vorhersehbar sind. Hilfreich sind Techniken erst bei einer flexiblen Anwendung auf der Basis einer Grundhaltung von Offenheit und Wertschätzung für die Erzählpersonen. Diese Grundhaltung macht die „Qualität“ als besondere Eigenheit qualitativer Forschung aus.4 Das Manual ist in seiner starken Praxisorientierung auch kein Ersatz für eine Einführung in die qualitative Sozialforschung bzw. in qualitative Interviews unter methodologischen Gesichtspunkten. Es enthält zwar ein kurzes Grundlagenkapitel und immer wieder Theorie-„Bausteine“, die aber nur die speziell für die Schulung notwendigen Aspekte zusammenfassen. Gerade für die Entscheidung für einen Forschungsgegenstand, für die Festlegung des Forschungsziels und die Wahl einer speziellen Interviewform müssen weitere Literatur und andere Forschungserfahrungen herangezogen werden. Eine Vertiefung der entsprechenden methodologischen Diskussionen ist unbedingt angeraten bzw. wird vorausgesetzt. Auf Grundlagen- und weiterführende Literatur wird jeweils hingewiesen. 4
Der Titel „Qualität qualitativer Daten“ ist doppeldeutig: Qualität als technische Güte ist ebenso gemeint wie Qualität als besondere Eigenheit qualitativer Forschung.
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Es wird immer wieder betont, dass Interviewende mit der Forschungsfrage und Thematik des Projektes vertraut sein müssen. Auch dies kann das Manual verständlicherweise nicht leisten. Sofern nicht die Interviewer und Interviewerinnen an der Entwicklung des Forschungsprojektes selbst beteiligt waren, muss die Schulung ergänzt werden um Einheiten, in denen in die konkrete Forschungsfrage und in das Forschungsinteresse eingeführt wird.
Der Aufbau der Schulung Der Aufbau des Manuals folgt – nach der Einführung in die grundlegenden Gemeinsamkeiten und Unterschiede der hier angesprochenen qualitativen Interviewformen in Kapitel 1 – einer Dreiteilung: Zunächst liegt in Kapitel 2 der Akzent bei dem Nachvollziehen der Perspektive der Erzählperson und einer Vermittlung von ersten kommunikations- und erzähltheoretischen Kenntnissen. Die Bedeutung, Rolle und Optionen der Interviewenden stehen im Mittelpunkt von Kapitel 3, in dem es um Fremdverstehen, Frageformen und um die Haltung der Offenheit geht. In diesem Kapitel wird auf Grundlagen der Gesprächsführung zurückgegriffen, für die in der Psychologie Trainingsprogramme entwickelt wurden. Einige Aspekte – bei weitem nicht alle – sind übertragbar und können für die spezifischen Zwecke qualitativer Interviews umformuliert werden. Nachdem so Erzählperson und interviewende Person aus dem Interaktionskontext herausgelöst betrachtet wurden, geht es in Kapitel 4 um die Interaktion Erzählperson – Interviewende; entsprechend wird hier vor allem interaktionstheoretisches Wissen vermittelt. Das Zusammentreffen dieser drei Wissensformen – Wissen aus dem Bereich Kommunikationstheorie bzw. Soziolinguistik und Gesprächsanalyse, Wissen über Gesprächsführung und interaktionstheoretisches Wissen – kann als das Spezifische an der Schulung von Interviewern und Interviewerinnen für qualitative Interviews gelten. In Kapitel 5 wird ausführlicher auf Forschungsentscheidungen und auf die praktische Intervieworganisation eingegangen und exemplarisch die Form von Leitfadenkonstruktion vorgestellt, die sich in unseren Forschungsprojekten bewährt hat. Kapitel 6 enthält Vorschläge für ein Schulungsprogramm und hilfreiche Materialien z.B. zum Datenschutz. Zum Sprachgebrauch: Bei narrativen Interviews wird entsprechend der Bedeutung des Zuhörens die Bezeichnung „Zuhörende“ (Lucius-Hoene/Deppermann; vgl. „produktiv zuhörender Erzählpartner“ bei Schütze verwendet. Um auch andere Interviewvarianten einzubeziehen, bei denen mehr Fragen zulässig sind, wird auch von „Interviewenden“ gesprochen bzw., wenn es weniger um die Tätigkeit des Interviewens als vielmehr um die Stellung im Forschungsprojekt geht, von „Interviewern“ oder „Interviewerinnen“. Für die komplementäre Rolle verwenden wir die Bezeichnung „Befragte“, „Erzählende“ oder „Erzählperson“. 18
Ein qualitatives Interview zu führen, scheint so leicht – nach der Schulung allerdings nicht mehr. Es wird vielen so gehen wie Kaufmanns „Forscherlehrling“: „Also öffnet der Forscherlehrling seine Handbücher, um die ihm zur Verfügung stehenden Werkzeuge zu perfektionieren. Dort erfährt er, dass selbst das kleinste Lächeln des Interviewers Einfluss auf die Äußerungen des Befragten hat. Beim Führen eines Interviews will alles so genau studiert und kontrolliert sein, dass das Sprechen zu einer delikaten Angelegenheit wird. (…) Schwer beeindruckt geht ihm sein Selbstvertrauen abhanden.“ (Kaufmann 1999, 10) Zweierlei Trost sei dem „Forscherlehrling“ schon vorab zuteil: Erstens wollen die meisten Befragten etwas erzählen und entwickeln dabei eine erstaunliche Hartnäckigkeit, mit der sie sich über alle – über methodisch korrekte ebenso wie über nach Verhaltensstandards für Interviewende völlig verkehrte – Interviewerinterventionen einfach hinwegsetzen. Der zweite Trost besteht in einem Ratschlag von C.G. Jung: „Lerne alles, was Du kannst, über die Theorie, aber wenn Du dem Anderen gegenüber sitzt, vergiss das Textbuch.“ Mit Geertz (1983, 42) können uns die Nöte des Forscherlehrlings und die Unmöglichkeit einer objektiven Erhebung allerdings nicht zu einer Ermunterung bewegen, nun der Subjektivität freien Lauf zu lassen, sondern eher zu dem Rat, eine reflektierte Subjektivität zu kultivieren und die nie völlig perfekte Interview-Interaktion bei der Interpretation als Erkenntnismittel zu nutzen (→ Abschnitt 4.8). Es haben so viele Menschen zu diesem Buch beigetragen, dass ich nicht alle namentlich erwähnen kann. Ausdrücklich danken möchte ich aber all den in ihrer Offenheit so mutigen Menschen, die sich für die Interviews in den vielen Projekten zur Verfügung gestellt haben – Frauen und Männer, Junge und Alte, aus Ost und West, Wohnungslose und gut Situierte oder Frauen, die von ihren Männer geschlagen wurden. Der Wunsch, ihnen mit der Forschung „gerecht“ zu werden und ihren eigenen „Sinn“ zu verstehen, war für mich immer eine Antriebskraft. Und ebenso möchte ich mich ausdrücklich bei den Kollegen und Kolleginnen und Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen – die vielen Interviewer und Interviewerinnen eingeschlossen – bedanken, mit denen ich die vielfältigen und intensiven Forschungserfahrungen teilen konnte, und besonders bei Sybille Obrecht, Anneliese Hendel-Kramer, Heike Klindworth und Jan Kruse für ihre aktive Hilfe und Unterstützung beim Abfassen des Manuskripts. Dass ich mich zu einem bestimmten Zeitpunkt entschlossen habe, das Material zu veröffentlichen, bedeutet nicht, dass ich es für ein „fertiges“ Produkt halte. Schulungskonzepte lassen sich immer verbessern und weiter entwickeln. Ich freuen mich über Rückmeldungen, über Kritik, Korrekturen, Ideen und Anmerkungen ([email protected] oder [email protected]).
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1. Allgemeine Grundlagen
Zunächst werden allgemeine Grundprinzipien qualitativer Interviews zusammengefasst, die sich aus der Bestimmung des Forschungsgegenstandes ableiten lassen und die für das Verständnis der Interview- als Interaktionssituation bedeutsam sind (→ Abschnitt 1.1). Ein entscheidender Schritt zu Beginn des Forschungsprozesses, von dem unter anderem die Wahl der Interviewform abhängt, ist die angemessene Formulierung und Klärung des Forschungsgegenstandes. Welche Möglichkeiten es gibt und was zu beachten ist, ist Thema in ´ Abschnitt 1.2. Anschließend wird auf die Unterschiede zwischen Interviewformen eingegangen (→ Abschnitt 1.3) und qualitative Interviews werden von Alltags- und Beratungsgesprächen abgegrenzt (→ Abschnitt 1.4). Diese Differenzierungen münden in die Formulierung unterschiedlicher Anforderungen an Interviewer und Interviewerinnen (→ Abschnitt 1.5).
1.1 Der Gegenstand qualitativer Forschung und Grundprinzipien Qualitative Forschungsverfahren begründen ihr Vorgehen in Abgrenzung zu quantitativen Verfahren mit dem besonderen Charakter ihres Gegenstandes: Qualitative Forschung rekonstruiert Sinn oder subjektive Sichtweisen – im Einzelnen sehr unterschiedlich gefasst z.B. als „subjektiver Sinn“, „latente Sinnstruktur“, „Alltagstheorien“ oder „subjektive Theorien“, „Deutungsmuster“, „Wirklichkeitskonzepte“ oder –„konstruktionen“, „Bewältigungsmuster“ oder „narrative Identität“. Ihr Forschungsauftrag ist Verstehen, gearbeitet wird mit sprachlichen Äußerungen als ‚symbolisch vorstrukturierten Gegenständen‘ bzw. mit schriftlichen Texten als deren ‚geronnenen Formen‘. Der Gegenstand kann gerade nicht über das Messen, also über den methodischen Zugang der standardisierten Forschung, erfasst werden. Ein kleines Beispiel illustriert die Unterschiede: Wenn wir in dem Fragebogen einer Studie zu reproduktiven Biografien (DESIS, → Abschnitt 6.5) ge21
fragt haben „War die Schwangerschaft geplant?“ haben wir unterstellt, wie in der standardisierten Forschung üblich, dass Forschende und Befragte den untersuchten Phänomenen und den in Frageformulierungen verwendeten Begriffen – hier dem Begriff „Planung“ – den gleichen Sinn unterlegen und die gleiche Relevanz zumessen. Wie Frauen zu Schwangerschaften kamen, wurde dann auch Thema in qualitativen Interviews bei denselben Befragten. Es ergaben sich Diskrepanzen. Einige Frauen, die bei der geschlossenen Frage Planung bejaht hatten, antworteten im qualitativen Interview sinngemäß z.B. „gewollt ja, geplant nein“ oder „weder geplant, noch ungeplant“. Der relevantere Begriff war für sie die Gewolltheit, nicht die Geplantheit, und sie „dachten“ den Begriff „Planung“ aus einer anderen Perspektive als aus der Perspektive der Bevölkerungsmedizin. In der Auswertung wurde der spezifische Sinn, der ihren Aussagen zugrunde liegt, interpretiert (Helfferich/Kandt 1996). Das Beispiel zeigt, wie qualitative Forschung Raum lässt für die Äußerung eines differenten Sinns. Sie geht aus von einer Differenz zwischen dem Sinn, den Forschende einbringen, und dem Sinn, den Befragte verleihen und der dann zum besonderen Gegenstand qualitativer Forschung wird. Sie untersucht die Konstitution von Sinn, die in standardisierter Forschung bereits als abgeschlossen und pragmatisch als gegebene Verständigungsgrundlage vorausgesetzt wird. Diese Deutungen oder dieser Sinn sind nicht „objektiv“ gegeben, sondern werden in der Interaktion der Menschen gebildet. Die soziale Wirklichkeit, so die Grundposition, ist als immer schon interpretierte, gedeutete und damit interaktiv „hergestellte“ und konstruierte Wirklichkeit Forschungsgegenstand. Daher kommt auch interaktionstheoretischen Überlegungen in den methodologischen Diskussionen zu qualitativen Interviews eine besondere Bedeutung zu. Der Sinn einer sprachlichen Äußerung, über deren Analyse der primäre Zugang zum Forschungsgegenstand erfolgt, ist in doppelter Weise in Interaktion „hergestellt“: zum einen in früheren lebensgeschichtlichen und lebensweltlichen Erfahrungen der Erzählperson, zum anderen in der konkreten Interaktion im Interview selbst. Die Äußerung ist in dieser Abhängigkeit von ihrem Kontext, in dem sie hervorgebracht wird, variabel. Sie ist aber nicht zufällig und beliebig, weil sie als Einzelerscheinung oder Indikator in Beziehung steht zu einem zu Grunde liegenden Konzept oder Muster. Eine der Annahmen qualitativer Forschung ist die, durch die Einzeläußerungen hindurch das zugrundeliegende Muster oder Konzept identifizieren zu können, denn einerseits sind die Einzeläußerungen Ausdruck dieses zu Grunde liegenden Musters, andererseits wird das Muster durch die Vielzahl seiner Äußerungen erfasst, es ist demnach keine dauerhaft fixierte Struktur. Diese Ausgangspositionen wurden u.a. in der Ethnomethodologie und im Symbolischen Interaktionismus formuliert. Weil Äußerungen „unheilbar“ (Garfinkel) kontextgebunden sind, sind für das Verstehen Informationen wichtig, in welchem Kontext sie entstanden sind und in welcher Interaktion ihr Sinn hergestellt wurde. Das Verstehen z.B. einer Geste oder einer Äußerung beruht darauf, dass das Wahrgenommene über sich hinaus auf einen Kontext und auf einen Sinn, den es in diesem Kontext hat, hinweist – und nur als solches wird es aus dem Strom der 22
visuellen oder akustischen Reize herausgehoben und „wahr“-genommen. Ein Winken kann vieles bedeuten, erst aus dem Kontext wird klar, ob es darum geht, eine Suppe zu bestellen, jemanden zu verabschieden oder vor einer Gefahr zu warnen. Das Winken zu verstehen, bedeutet somit das Ergänzen des Wahrgenommenen aufgrund der Kontextinformationen zu einem sinnhaften Ganzen mit einem Sinn, der an das Wahrgenommene herangetragen und ihm unterlegt wird. Mit diesen Ergänzungen ist es keine passive Abbildung, sondern eine aktive Konstruktion. Geertz (1983) bringt das Beispiel einer Geste, die sowohl als unbeabsichtigtes Zucken des Lides oder als absichtsvolles Zwinkern interpretiert werden kann, je nachdem in welchem Kontext sie wahrgenommen wird und wie derjenige, der sie sieht, ihren Sinn in Kenntnis bestimmter kultureller Regeln „ergänzt“. Wenn Menschen die Welt verstehen und ihr einen Sinn geben, dann tun sie dies im Kontext ihrer Lebenswelt. Forschende wollen dieses Verstehen verstehen. Diese „Verstehensleistung zweiten Grades“ findet statt im Kontext der Forschung und auch sie ist eine Konstruktion1 einer Typisierung im Sinnsystem der Wissenschaft. Die neue Konstruktion, die entsteht und die dann als z.B. inhaltliche Auswertung veröffentlicht wird, bezeichnet Schütz (1993) als „Konstruktion zweiten Grades“2. Was für die Äußerungen von Menschen in einem Interview gilt, nämlich dass wir Informationen über den Entstehungskontext, also die Lebenswelt haben müssen, um zu verstehen, gilt auch auf den Ebenen des zweiten und höheren Grades: Um zu verstehen, brauchen wir Informationen über den Entstehungskontext von Äußerungen, also über die Interviewsituation, und eine Ebene „höher“ über den Entstehungskontext der Interpretation, also über unsere eigenen Verstehensleistungen. Im Kontext dieser Schulung ist vor allem wichtig, dass Verstehen nicht nur bei der Interpretation eines Textes stattfindet, sondern auch an einer anderen, strategisch bedeutsamen Stelle des Forschungsprozesses, nämlich im Interview selbst: Die Erzählenden verstehen die Aufforderungen zu erzählen oder die Fragen der Interviewenden; die Interviewenden hören und verstehen, 1 2
Als Verstehen auf der Meta-Ebene. Der Grundgedanke, dass Wirklichkeit stets als schon gedeutete und interpretierte vorliegt und Menschen mit einer Konstruktion von Wirklichkeit leben, muss auf alle Ebenen, also auch auf die Forschenden übertragen werden. In den methodologischen Überlegungen zur qualitativen Forschung geht es immer wieder darum, dass Forschende keinen „privilegierten“ Zugang zu einer „objektiv“ gegebenen Wirklichkeit haben. Auch sie konstruieren – wenn auch auf der Basis anspruchsvoller Verfahrensstandards, die z.B. eine intersubjektive Nachvollziehbarkeit der Konstruktion verlangen. Dieser Gedanke wird uns im Zusammenhang mit der „Versionenhaftigkeit“ von qualitativen Interviewtexten beschäftigen. „Qualitative Forschung wird zu einem kontinuierlichen Prozess der Konstruktion von Versionen der Wirklichkeit – die Version, die jemand in einem Interview erzählt, muss nicht der Version entsprechen, die er zum Zeitpunkt des Geschehens formuliert hätte. Sie muss auch nicht der Version entsprechen, die er einem anderen Forscher mit anderer Fragestellung präsentiert hätte. Auch der Forscher, der dieses Interview auswertet und als Teil seiner Ergebnisse darstellt, produziert eine neue Version des Ganzen.“ (Flick 1996, 19f)
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was erzählt wird, sie ergänzen Informationen aus ihrem Kontextwissen und füllen Andeutungen. Sie fragen oder nicken, was wiederum die Erzählperson versteht etc. Der Kontext besteht hier aus dem, was die Erzählperson und was die interviewende Person einbringt, sowie aus dem Rahmen, den die Interviewsituation als solche bietet. Die Daten, mit denen qualitative Sozialforschung arbeitet, sind Texte und zwar im Fall von qualitativen Interviews eine besondere Art von Texten: Abschriften verbaler Erzählungen oder Aussagen, die in einer Interviewsituation erzeugt wurden3. Damit ist an der Texterzeugung konstitutiv eine zweite Person beteiligt und der Text kommt in einer Kommunikationssituation zustande (was die produzierten Texte von Selbstgesprächen oder schriftlichen Notizen unterscheidet). Diesen Kommunikations- und Interaktionsaspekt stellen wir in den Mittelpunkt, weil die Qualität qualitativer Daten aus der Qualität der Interaktion folgt. Hieraus leitet sich das erste Grundprinzip qualitativer Interviews ab: Der Zugang zu dem Sinn der Befragten ergibt sich in einer Kommunikationssituation (Prinzip Kommunikation, → Abschnitt 2.6). Das zweite Grundprinzip bezieht sich auf die Gestaltung dieser Kommunikation: Die Befragten sollen ihren „Sinn“ – der ein anderer sein kann als der der Forschenden – entfalten können. Dazu brauchen sie einen offenen Äußerungsraum, der gefüllt werden kann mit dem, was für sie selbst wichtig ist, und in der Art und Weise, wie sie selbst sich ausdrücken möchten (Prinzip Offenheit, → Abschnitt 3.6). Ein weiteres Grundprinzip, das für die Positionierung von Erzählpersonen und Interviewenden wichtig ist, ist der Umgang mit Vertrautheit und Fremdheit (→ Abschnitt 4.2). Fremdheit bedeutet hier die Anerkennung der Differenz und der wechselseitigen Fremdheit der Sinnsysteme von Interviewenden und Erzählenden; „Fremdheit“ steht hier als Gegenbegriff für „vertraut“, „schon bekannt“ und „sich von selbst verstehend“. Sich auf diese „Fremdheitsannahme“ einzulassen, bedeutet auch, alles das, was im eigenen Denken als selbstverständlich geltende Normalität abgelagert ist, nicht als für die Erzählperson ebenfalls gültig zu übertragen. Wichtig in diesem Zusammenhang ist das vierte Prinzip, das Prinzip Reflexivität (→ Abschnitt 4.7). Es beinhaltet die Reflexion des eigenen Parts im situativen Verstehensprozess während des Interviews und die Reflexion der Texterzeugung im rekonstruierenden Verstehensprozess während der Interpretation. Diese Grundprinzipien implizieren zugleich Kompetenzbereiche für Interviewende: Interviewende müssen sich klar darüber sein, dass sie Kommunikationspartner sind, sie müssen eine Haltung der Offenheit entwickeln und nach der Maxime der Offenheit das Interview steuern. Sie müssen die Fähigkeit zu einer Distanz im Sinne einer Zurückstellung eigener Deutungen und schließlich Reflexionsfähigkeit erwerben. Dies beinhaltet vor allem, dass Interviewende den Text nicht nach Maßgabe ihres eigenen Normalitätshorizontes aufnehmen und verstehen, sondern als Ausdruck eines fremden, eben dem Text eigenen Nor3
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Zu methodologischen Problemen bei der Substitution des Textes für die subjektive Wirklichkeit: Flick 1996, 43.
malitätshorizontes, der sich nicht einfach „von selbst versteht“. Da diese Fähigkeiten im Mittelpunkt der Kapitel 2, 3 und 4 stehen, werden die Prinzipien dort jeweils im passenden Kontext noch einmal aufgegriffen und vertieft.
Zusammenfassung: Kommunikation und Offenheit als „kleinster gemeinsamer Nenner“ qualitativer Verfahren „Qualitative Forschung hat ihren Ausgangspunkt im Versuch eines vorrangig deutenden und sinnverstehenden Zugangs zu der interaktiv ‚hergestellt‘ und in sprachlichen wie nicht-sprachlichen Symbolen repräsentiert gedachten sozialen Wirklichkeit. Sie bemüht sich dabei, ein möglichst detailliertes und vollständiges Bild der zu erschließenden Wirklichkeitsausschnitte zu liefern. Dabei vermeidet sie soweit wie möglich, bereits durch rein methodische Vorentscheidungen den Bereich möglicher Erfahrung einzuschränken (...). Die bewusste Wahrnehmung und Einbeziehung des Forschers und der Kommunikation mit den ‚Beforschten‘ als konstitutives Element des Erkenntnisprozesses ist eine zusätzliche, allen qualitativen Ansätzen gemeinsame Eigenschaft: Die Interaktion des Forschers mit seinen ‚Gegenständen‘ wird systematisch als Moment der ‚Herstellung‘ des ‚Gegenstandes‘ selbst reflektiert.“ (v. Kardoff 1995, 4) Kommentierung
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Gegenstand „…sozialen Wirklichkeit…“ – Gegenstand ist die „soziale“ Wirklichkeit, nicht eine „objektive“ Wirklichkeit; „…interaktiv ‚hergestellt‘ und in sprachlichen wie nicht-sprachlichen Symbolen repräsentiert gedacht…“ – Bezug auf den symbolischen Interaktionismus; die Annahme, dass die soziale Wirklichkeit in Symbolen und damit in Texten repräsentiert sei, macht es erst möglich, sie über Texte zu rekonstruieren; „…eines vorrangig deutenden und sinnverstehenden Zugangs…“ – Verstehen ist das entscheidende Erkenntnisprinzip. Sinn ist aus Texten verstehbar, weil Texte mehr sind als Texte; die Worte und ihr Zusammenhang weisen über den Text hinaus. Das Verstehen folgt diesen Verweisen und gelangt so zu dem Sinn, zur subjektiven Deutung etc. „… Dabei vermeidet sie soweit wie möglich, bereits durch rein methodische Vorentscheidungen den Bereich möglicher Erfahrung einzuschränken…“ – Dies entspricht dem Prinzip der Offenheit, das sowohl im Erhe- ... Prinzip Offenheit → Abschnitt 3.6 bungs- als auch im Interpretationsverfahren wichtig ist. „…Die bewusste Wahrnehmung und Einbeziehung des Forschers und der Kommunikation mit den ‚Beforschten‘ als konstitutives Element des Erkenntnisprozesses…“ – Der Text wird im Interview hervorgebracht und das Interview ist immer eine Situation, in der Erzählperson und interviewende Person verbal oder nonverbal kommunizieren. Gegenstand der Forschung ist die „hergestellte“ Wirklichkeit zugleich mit dem Prozess der „Herstellung“. Die Frage gilt nicht (nur) dem Inhalt, der gesagt wird, sondern die Frage ist: Warum sagt die Erzählperson gerade dies auf diese Weise in dieser Situation? (Und auch: Warum fragt der oder die Interviewende an dieser Stelle so, wie er oder sie es getan hat?)
... Prinzip Kommunikation → Abschnitt 2.6 ... Prinzip Reflexivität → Abschnitt 4.7 ... (Prinzip Fremdheit → Abschnitt 4.2)
Weiterführende Literatur Mit einer kommentierten Zusammenstellung der aktuell verfügbaren Lehr- und Handbücher: Ohlbrecht 2000; zu den Hauptbegriffen Qualitativer Sozialforschung: Bohnsack/ Marotzki/Meuser 2003 Bohnsack 1999; v. Kardorff 1995; Jung/Müller-Dohm 1993; Flick 1996, insbes. Kap. 2 und 3; Flick/v.Kardorff/Steinke 2000; Mayring 2002 (mit „13 Säulen qualitativen Denkens“)
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Wurzeln qualitativer Verfahren in der Ethnomethodologie und im Symbolischen Interaktionismus Zu den Stichworten „Ethnomethodologie“, „Symbolischer Interaktionismus“, „Konstruktivismus“, „Herstellung sozialer Wirklichkeit“, „subjektiver Sinn“, „Indexikalität“: Zusammenfassende Übersichtsartikel z.B. in Flick/v. Kardoff/Steinke 2000
1.2 Forschungsinteresse, Fragestellung und Forschungsgegenstand Der Forschungsprozess ist ein mehrstufiger Prozess, in dessen Verlauf eine Reihe von Entscheidungen zu treffen sind, z.B. für eine bestimmte Stichprobe oder Befragungsgruppe, für eine bestimmte Interviewform oder eine Kombination von Interviewformen und für eine Auswertungsstrategie (ausführlicher sind die Entscheidungsschritte im Forschungsprozess in → Abschnitt 5.1 aufgelistet). Da die qualitative Forschung ein hoch ausdifferenziertes Feld ist, eröffnet sich im Anschluss an die erste Entscheidung, qualitative und nicht standardisierte Methoden anzuwenden, eine Fülle von weiteren Optionen, welcher Variante qualitativer Vorgehensweisen der Vorzug zu geben ist. Die jeweiligen Entscheidungen und methodischen Wahlen bei der Erhebung von Daten (z.B. Wahl der Interviewform) ebenso wie bei der Auswertung sind dabei am Gegenstand zu begründen – und dazu müssen nicht nur die Optionen, die zur Verfügung stehen, bekannt sein, sondern es muss auch der Gegenstand klar gefasst sein. Prinzipielle Maßgabe für die Wahl einer Interviewform ist die Gegenstandsangemessenheit, d.h. das Verfahren muss geeignet sein, für den spezifischen Forschungsgegenstand angemessene Daten zu liefern (vgl. auch Garz/Kraimer 1991). Wenn so die Passung von Forschungsgegenstand und methodischem Vorgehen die zentrale Grundlage ergiebiger qualitativer Forschung ist, dann wird die Klarheit des Forschungsgegenstandes zu einer strategisch außerordentlich wichtigen Voraussetzung ergiebiger Forschung. Bevor also die Interviewformen vorgestellt werden und bevor die angemessene Haltung beim Interviewen eingeübt wird, ist der erste Schritt die Arbeit an der eigenen Forschungsfrage. Möglicherweise ist das Forschungsvorhaben, für das qualitative Interviews geführt werden sollen, bereits theoretisch und methodologisch gut positioniert. Die folgenden Hinweise sind vor allem für die gedacht, bei denen das nicht der Fall ist und bei denen der methodologischen Verortung des Forschungsgegenstandes die Schwierigkeit entgegensteht, sich in der unübersichtlichen Landschaft von „subjektiven Konzepten“, „Deutungsmustern“, „kognitiven oder sozialen Repräsentationen“, „Diskursen“ oder „Orientierungen“ zurecht zu finden und z.B. das Verhältnis von individuellen Konzepten und kollektiven Mustern, von Sinn und Handeln oder von Erfahrungen, Deutungen und Erzählungen etc. für die eigene Forschungsfrage zu bestimmen. Schwierig, aber wichtig ist es, sich die abverlangte Abstraktions-
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leistung klar vor Augen zu führen, wenn mit der qualitativen Forschung Konstruktionen und Sinn, nicht aber reale Begebenheiten als solche erhoben werden sollen, und sich von dem intuitiven Gefühl zu verabschieden, dass „die Welt an sich“ doch ein verlässlicherer und ergiebigerer Gegenstand sei als die bloß subjektive „Welt in den Köpfen von Menschen“. Bevor in Abschnitt 1.3 auf die Optionen bei der Gestaltung der Interviewform eingegangen wird, werden drei für die Klärung des Forschungsgegenstandes hilfreiche Schritte vertieft (auf die Besonderheiten bei Experteninterviews wird in dem Exkurs 4.10 eingegangen): (1) die Unterscheidung von Forschungsinteresse, Forschungsfrage und Forschungsgegenstand; die Bestimmung von Forschungsfrage und Forschungsgegenstandes in methodologischer Hinsicht gerade so, dass die Stärken qualitativer Verfahren zum Tragen kommen, (2) die Entscheidung, in welche existierende Theorie- und Forschungstradition der eigene Forschungsgegenstand eingeordnet werden soll, (3) die Klärung des Vorwissens und eines (zusätzlichen) Interesses an dem informativen Gehalt von Texten. Zu (1) Methodologische Verortung des Forschungsgegenstandes Der erste Schritt, sich des Forschungsgegenstandes zu vergewissern, ist die Abgrenzung von Forschungsinteresse und Forschungsfrage. Während das Forschungsinteresse gerade zu Beginn der Forschung noch unspezifisch und breit sein und eher ein Feld oder einen Bereich von Phänomenen benennen darf, sollte die Forschungsfrage so formuliert sein, dass eine Antwort darauf gegeben werden kann. Der Forschungsprozess sollte als ein Weg verstanden werden, an dessen Ende ein Beitrag zu dieser Antwort steht – und sei es auch nur die Erkenntnis, dass die Frage anders und neu zu formulieren ist. Der methodologisch verortete Forschungsgegenstand lässt sich aus der Forschungsfrage ableiten, er benennt aber zugleich, was in dem (sprachlichen) Material der Interviewtexte gesucht werden soll und welcher erkenntnistheoretische Status dem Material zukommt. Er fungiert so als Scharnier zwischen Forschungsfrage und Material (Daten). Die Forschungsfrage kann auch mehr umfassen als den Gegenstand und manche Antworten können erst in der Interpretation als Leistung der Forschenden, die über den Gegenstand hinausgeht, erarbeitet werden. Die folgenden Forschungsbeispiele zeigen die unterschiedlichen Genauigkeitsgrade von Forschungsinteresse, Forschungsfrage und Forschungsgegenstand. Diese Bestimmungen nähern sich in dieser Reihenfolge immer mehr der praktischen Umsetzung an und das dritte Glied in der Kette, der methodologisch verortete Forschungsgegenstand, wird gerade als das formuliert, was aus dem Material tatsächlich gewonnen werden kann.
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Forschungsbeispiele 1: Forschungsinteresse, Forschungsfrage, Forschungsgegenstand und Material (Daten) a) Wohnungslose Frauen (2000, gefördert vom Sozialministerium Baden-Württemberg, Förderprogramm Frauenforschung) Forschungsinteresse Umfassendes Verständnis der Situation, der Beziehungsgestaltung und Alltagsbewältigung bei Frauen in Wohnungslosigkeit unter Ressourcenperspektive Forschungsfrage Wie bewältigen wohnungslose Frauen ihren Alltag und wie „stellen“ sie Wohnen über Raumaneignung „her“? Gibt es dabei Unterschiede zwischen einzelnen Subgruppen, etwa alkoholabhängigen Wohnungslosen, Straßenpunks, psychisch kranken oder sehr jungen Wohnungslosen? Methodologisch verorteter Forschungsgegenstand Relationale Konzepte von Bewegungsräumen in der Stadt im Sinne „subjektiver Stadtpläne“; diese Konzepte sozialer Räume drücken nach Bourdieu zugleich die soziale Verortung aus und sie geben Aufschluss über die Raumaneignung und das Herstellen von Wohnen Material In (homogenen, kleinen) Gruppen oder auch einzeln angefertigte Stadtpläne mit den wichtigsten Orten des Alltags, die sprachlich kommentiert wurden, sprachliche Kommentare beim Aufsuchen der in den Plänen eingezeichneten Orte (weitere Informationen: http://www.soffi-f.de/?q=node/35) b) Bedeutung eines Unterstützungsangebots für langzeitbetreute Haftentlassene (Projektförderung Anlaufstelle für Haftentlassene, Freiburg) Forschungsinteresse An der Anlaufstelle für Haftentlassene in Freiburg werden Haftentlassene zum Teil über eine lange Zeitdauer hinweg betreut. Fragen der Forschung waren: Ist eine so lange Betreuung sinnvoll? Sind konzeptionelle Änderungen notwendig? Forschungsfrage für die qualitative Befragung der Zielgruppe Welche Bedeutung hat die Anlaufstelle in dem Leben der Langzeitbetreuten? Wie nutzen sie welche Angebote der Anlaufstelle? Was sind die Gründe für die Verbundenheit mit der Anlaufstelle? Methodologisch verorteter Forschungsgegenstand 1) Deutung der eigenen biografischen Entwicklung als Verlaufsmuster und Einordnung der Anlaufstelle in dieses Muster, 2) Information zur Nutzung spezifischer Angebote und 3) Subjektive Bewertung der Angebote Material 1) Biografische Erzählungen, 2) Angaben zur Nutzung, 3) subjektive Bewertung der Angebote (weitere Informationen: http://www.soffi-f.de/?q=node/32)
Nicht für jede Forschungsfrage ist es angemessen, sich bei der Suche nach Antworten qualitativer Verfahren zu bedienen – das ist aus allen Lehrbüchern zur qualitativen Sozialforschung bekannt. Fragen, für deren Beantwortung qualitative Verfahren besonders ergiebig sind, nutzen neben deren Bestimmung, Sinn oder subjektive Sichtweisen in methodisch kontrollierter Weise zu rekonstruieren, die Eigenschaft, dass die Komplexität des Analysegegen28
standes erst spät reduziert wird. Während standardisierte Verfahren die entscheidende Reduktion der Komplexität mit der Konstruktion des Fragebogens vornehmen und so eine Fülle von auf einen Datenwert reduzierten Kenngrößen quantifizieren können, erzeugen qualitative Verfahren in den Interviews (je nach Strukturierungsgrad des Leitfadens) zunächst eine Vielfalt, reduzieren aber später bei der Aufbereitung (z.B. beim Codieren) und bei der Auswertung der Texte (z.B. Bildung einer Typologie).4 Entsprechend sind geeignete Forschungsfragen – – –
Fragen nach subjektivem Sinn und nach „der Welt im Kopf von Menschen“ (genauer: siehe unten), Fragen, die auf eine erst spät reduzierte Vielfalt von Phänomenen zielen im Sinne von „Es gibt“-Aussagen, Fragen nach existierenden oder möglicherweise nach typischen Mustern in dieser Vielfalt.
Nicht geeignete Forschungsfragen sind –
Fragen, die auf (durch eine frühe Reduzierung der Komplexität mögliche) Quantifizierungen oder auf über Häufigkeitszusammenhänge erschlossene Wirkungen zielen.
Es gilt nun, den Gegenstand bei der weiteren Spezifizierung der Fragestellung als etwas zu bestimmen, das mit dem korrespondiert, was qualitative Forschung leisten kann (wobei ein Forschungsinteresse an Informationen, die aber offen erhoben werden sollen, hier zunächst ausgeklammert wird). Er muss also in irgendeiner Weise an subjektive, individuelle oder kollektiv geteilte Sinnstrukturen anknüpfen und muss benennen, was es im Rahmen der Fragestellung zu verstehen gibt. Dieser Punkt ist nicht ganz einfach, weil meist der methodologische Forschungsgegenstand mit den inhaltlichen Aspekten des Forschungsinteresses gleichgesetzt wird. Doch führt es nicht weiter, in dem obigen Beispiel aus dem Forschungsinteresse „Umfassendes Verständnis der Situation, des Alltag und der Ressourcen wohnungsloser Frauen“ methodologisch den Forschungsgegenstand als „Lebenssituation“, „Alltag“ und „Ressourcen“ zu benennen, denn damit bleibt unklar, was aus welchem Material gewonnen werden kann. Der Alltag erschließt sich als solcher nicht in Interviews, daher kann der Alltag selbst nicht methodologischer Forschungsgegenstand und nicht das sein, womit gearbeitet wird. Methodologisch können Gegenstände bei qualitativen Interviewverfahren nur Deutungen und Sinn sein, der dem Alltag oder der Orten verliehen wird. Soll der Alltags nicht nur Thematisierungsfolie sein, um grundlegende räumliche Ori4
Auch innerhalb des Spektrums qualitativer Erhebungs- und Auswertungsverfahren lassen sich die einzelnen Zugänge danach unterscheiden, wo und wie sie Komplexität reduzieren. Inhaltsanalytische Verfahren reduzieren z.B. über frühes Abgehen vom Text im Zuge der Transformation in eine Paraphrase und einen Code früher im Auswertungsprocedere die Komplexität als hermeneutische Verfahren.
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entierungen zu rekonstruieren, sondern soll er in seinen faktischen Handlungsabläufen Gegenstand sein, dann wären andere qualitative Zugänge als Interviews, etwa teilnehmende Beobachtung, sinnvoller. Da Ausgangspunkt meist das Interesse an Inhalten ist, ist es von besonderer Wichtigkeit, sich klar zu machen, dass hier der Transfer hin zur Methodologie geleistet werden muss. Der methodologisch präzisierte Gegenstand tritt als Substitut an die Stelle des komplexen und vielfältigen Inhalts – bei dem ersten der beiden oben aufgeführten Beispiele treten z.B. subjektive Konzepte von Bewegungsräumen im Alltag an die Stelle des Alltags selbst. Um diese Überlegungen noch etwas genauer zu fassen, werden Beispiele für diese methodologisch relevante Bestimmung des Forschungsgegenstandes zusammengetragen und auf ihre Brauchbarkeit hin diskutiert. Quelle sind dabei Forschungsexposés aus mehreren Seminaren zu qualitativer Forschung, aus denen sich eine Fülle möglicher Benennungen des Gegenstandes – teilweise mit Varianten innerhalb ein und desselben Exposés – zusammen tragen ließ. Die häufigsten Konzipierungen eines Forschungsgegenstands sind in Übersicht 1 zusammengestellt: Übersicht 1: Eignung von Konzipierungen des Forschungsgegenstandes für qualitative Forschung (Interviews) Konzipierung
Eignung Kommentar
Subjektiver Sinn, subjektive Konzepte, Deutungsmuster, subjektive Theorien, Alltagstheorien, Wirklichkeitskonstruktionen, kognitive Repräsentationen
+
Entspricht der spezifischen Erkenntnisrichtung qualitativer Forschung: Es geht darum, wie Subjekte welchen Sinn verleihen (zu den Theorietraditionen s.u.)
Selbstverständnis, (Selbst-)Bilder, Lebensentwürfe, Orientierungen, Normen
+-
Es ist zu prüfen, ob der Anschluss an unterschiedliche soziologische oder psychologische Theoriebildung tatsächlich intendiert ist. Wenn ja, dann ist dies zu explizieren. Die Begriffe sind klar zu definieren und abzugrenzen.
Kollektive Deutungsmuster, (sub-)kulturelle Muster oder Stile
+-
Gruppendiskussionen, in denen die „kollektive Meinung“ erzeugt wird, eignen sich besser als Einzelinterviews. Bei Einzelinterviews ist nachzuweisen, dass ein herausgearbeitetes Muster tatsächlich kollektiv verankert ist, z.B. indem Interviews aus einer sozialen Gruppe oder Subkultur kontrastiert werden mit Interviews aus anderen, konträren sozialen Gruppen.
Beziehungen (präzisiert: Deutungen/Konstruktionen von Beziehungen), Positionierungen
+
Die Sprache verfügt über feine Semantiken und Metaphern, um Relationen und Konfigurationen abzubilden; hierfür existieren spezifische Auswertungsstrategien (s.u.).
(unbewusste) Motive/ Motivation
+-
Der Gegenstand kann sich nur in der Interpretation der Texte durch die Forschenden er-
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Konzipierung
Eignung Kommentar schließen, die sehr sorgsam methodisch zu kontrollieren und zu begründen ist. Spezifische Interviewanforderungen sind notwendig.
Prozesse, Abläufe, Verläufe, Falllogik
+
Geeignet, wenn darunter nicht die Abbildung eines objektiven Verlaufs verstanden wird, sondern eine Deutung, gefasst als spezifisches Konzept eines Verlaufs. Spezifische Anforderungen an das Interviewmaterial notwendig.
(Narrative) Bewältigung
+
Erzählungen können eine Funktion haben bezogen auf die Bewältigung von Ereignissen und in den sprachlichen Formen wird Bewältigung agiert.
Erfahrungen, Handlungen
-
Sind in qualitativen Interviews nicht direkt zugänglich. Interviews eröffnen nur den Zugang zu gedeuteten und präsentierten Erfahrungen und Handlungen. Handlungen werden besser mit teilnehmender Beobachtung erfasst. Ausnahme: Interaktionen im Interview können Einblicke in Aushandlungsprozesse geben, z.B. bei Paarinterviews.
Aushandlungen
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Diese Liste möglicher und vor allem brauchbarer und unbrauchbarer Benennungen des Forschungsgegenstands ist sicher nicht vollständig. Sie hat hier lediglich die Funktion, den Bedarf an einer präziseren Fassung des Forschungsgegenstandes aufzuzeigen und nachvollziehbar zu machen. Die eigenen Ideen können mit den obigen Konzepten abgeglichen werden. Zu (2) Theorie- und Forschungstraditionen als Verortung methodologisch bestimmter Forschungsgegenstände Sofern die Forschung nicht ohnehin von Beginn an in einer bestimmten Theorie- und Forschungsrichtung verankert ist, ist es an dieser Stelle sinnvoll, sich weiter zu vergewissern, ob die in den Forschungstraditionen geführten methodologischen Diskussionen für das eigene Vorhaben hilfreich sein und zur Klärung z.B. des Bezugs zwischen Deutungsmustern und Handeln oder zwischen Narration und Identität beitragen können. Die Prüfung der Einordnung des Forschungsgegenstandes in bestehende Traditionen kann in diesem Sinn eine klärende und anregende Funktion haben. Die am weitesten verbreiteten Traditionen werden daher im Folgenden kurz vorgestellt, soweit sie zur Klärung des Forschungsgegenstandes beitragen können und spezifische Umsetzungen in Interviewformen und Interviewerverhalten erfordern. Auch diese Liste ist zwangsläufig unvollständig, so wurden z.B. die Rekonstruktionen von Sitten und Gebräuchen in ethnografischer oder historischer Tradition („Oral history“) ausgelassen. Eine weitere Vertiefung anhand der Handbücher zu qualitativer Sozialforschung wird empfohlen und weiter31
führende Literatur angegeben (zur Bestimmung des Forschungsgegenstandes von Experteninterviews → Exkurs 4.10). „Subjektiver Sinn“, „subjektive Konzepte“, „subjektive Theorien“, „Alltagstheorien“ „Subjektiver Sinn“ ist eine sehr allgemeine Bestimmung des Gegenstands qualitativer Forschung, mit der keine weiteren, spezifischen Traditionen verbunden sind, über die allgemeinen Grundlagen der qualitativen Forschung hinaus (siehe → Abschnitt 1.1). Für „subjektive Konzepte“ liegen vor allem konkrete Forschungsbeispiele vor. Die Konzepte werden dabei meist bereichsspezifisch diskutiert, z.B. als „Gesundheits“- oder „Körperkonzepte“. Synonym wird auch von „Alltagswissen“ (eine Begrifflichkeit, die auf eine wissenssoziologische Fundierung hinweist) gesprochen. Auch Lebensorientierungen können als Konzepte gefasst werden; nämlich als Biografiekonzepte. Doch ist hier die Terminologie zu schärfen, um Abgrenzungen gegenüber standardisierten Einstellungserhebungen zu schaffen, die mit Itembatterien und Skalen ebenfalls Orientierungen erheben. Werden „subjektive Theorien“ oder „Alltagstheorien“ untersucht, dann wird stärker als bei „Konzepten“ der Aspekt akzentuiert, dass die Theorien Annahmen über Zusammenhänge und Erklärungen von Phänomenen enthalten –
Weiterführende Literatur: Forschungsbeispiele: für Gesundheitskonzepte: Faltermeier/Kühnlein/Burda-Viering 1998, für Körperkonzepte: Helfferich 1992, für Konzepte von Arbeit: Kruse 2004, für Alltagstheorien: Flick 1991
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„Kognitive“ oder „soziale Repräsentationen“, Wirklichkeitskonstruktionen Den Forschungsgegenstand als „kognitive Repräsentationen“ zu verorten, führt zur „Theorie sozialer Repräsentationen“, die in den 50er Jahren in Frankreich in einer Arbeitsgruppe um den Sozialpsychologen Serge Moscovici in Abgrenzung gegen die amerikanische Sozialpsychologie begründet wurde. Schwerpunkt der Theoriebildung war die Erklärung der sozialen Genese und der Prozesse der Veränderungen von (kollektiv geteilten) Wissensbeständen und semantischen Strukturen, z.B. über die Eingliederung neuer Inhalte. Es besteht eine Nähe zur konstruktivistischen Sozialpsychologie – soziale Repräsentationen werden diskursiv und in der Interaktion von Menschen geformt und bringen Wirklichkeit hervor – ohne allerdings den relativistischen Standpunkt des Konstruktivismus zu übernehmen. Bestimmungen des Gegenstandes als „Wirklichkeitskonstruktionen“ oder „implizites Wissen“ schließen an die wissenssoziologische und sozial-konstruktivistische Perspektive an. „Implizites Wissen“ wird z.B. in neueren Ansätzen der Forschung zu Wissensbeständen, die in einer Organisation eingelagert sind, im Rahmen von interpretativen Zugängen zu Organisationskulturen aufgegriffen – hierauf wird in dem Exkurs zu Expertenwissen näher eingegangen. 32
Weiterführende Literatur: Theorie: Moscovici 1984; Einführung bei Jacob 2004; Forschungsbeispiele: für kognitive Repräsentationen von Gesundheit und Krankheit: Herzlich 1973
– „Deutungsmuster“ Auch die Bestimmung des Forschungsgegenstandes als „Deutungsmuster“ verweist auf die theoretische Tradition der Wissenssoziologie. In den 70er und 80er Jahren wurde das Konzept der Analyse von Deutungsmustern entwickelt (unter anderem unter dem Einfluss von Oevermann) und in den 90er Jahren weiter an der wissenssoziologischen Fundierung gearbeitet. Die besondere Akzentsetzung besteht in der Annahme, dass Deutungsmuster kollektive Praxisformen hervorbringen: „Deutungsmuster sind sozial geltende, mit Anleitungen zum Handeln verbundene Interpretationen der Umwelt und des Selbst. Deutungsmuster strukturieren das kollektive Alltagshandeln, indem sie Modelle von (ideal-)typischen Situationen bereitstellen, unter die Sachverhalte, Ereignisse und Erfahrungen anhand bestimmter Merkmale subsumiert werden.“ (Höffling/Plaß/Schetsche 2002, Abs. 4). Weiterführende Literatur: Theorie: Oevermann 2001; Lüders/Meuser 1997, Angabe weiterführender Literatur und Forschungsbeispiel: Höffling/Plaß/Schetsche 2002
– „Positionierungen“, Beziehungen und Konfigurationen Auch wenn Beziehungen als Forschungsinteresse in Exposés benannt werden, so wird doch selten ein Bezug zur Positioninganalyse als Zweig der Diskursanalyse hergestellt. Die „Positioning Theory“ dient der Erklärung, wie Positionierungen als diskursive Praktiken genutzt werden, um Positionen in einem Interaktionsgefüge herzustellen und zu behaupten. Da hier vor allem Auswertungsstrategien anschließen, wird hierauf nicht näher eingegangen. Weiterführende Literatur: Theorie: Harré/Langenhove 1999
– „Objektive“ oder „latente Sinnstrukturen“ Hier wird auf die Tradition der Objektiven Hermeneutik verwiesen, die annimmt, dass die den sprachlichen Äußerungen zugrunde liegenden Muster nicht nur subjektiv existieren und/oder sie die Äußerungen in ihrer Gesamtheit hervorbringen. Weiterführende Literatur: Theorie: Oevermann 1993, Oevermann et al. 1979; so gut wie alle Nachschlagewerke zu qualitativer Forschung enthalten Artikel zur Objektiven Hermeneutik.
– „Subjektive Problemsicht“, „unbewusste Motive“ Während diese Bestimmungen des Forschungsgegenstandes ähnliche Anforderungen an die Erhebungsvorgehen stellen (siehe → Abschnitt 1.3), sind die Verortungen des Gegenstandes als „subjektive Problemsicht“ oder „unbewusste Motive“ mit einer spezifischen Interviewgestaltung verbunden. Bei 33
der „subjektiven Problemsicht“ (z.B. Witzel mit einer sozialwissenschaftlichen Orientierung) geht es um „Sinn“, der erst – auch gegen Widerstände – aufgedeckt und herausgearbeitet werden muss oder soll; das Interviewvorgehen ist hier stärker als Erarbeitung einer Sichtweise zu verstehen, wobei stärker auch dialogische Interaktionen im Interview zugelassen sind. Einzuordnen sind hier auch Interviews mit szenischer Gestaltung). Weiterführende Literatur: Sozialwissenschaftliche Theorie: Witzel 1982, psychologische oder psychoanalytische Theorie und Forschungsbeispiel: Horn/Beier/Wolf 1983
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„Gestalt biografischer Erzählungen“, „Lebenskonstruktionen“, „Prozessstrukturen des Lebenslaufs“, „narrative Identität“ Einige Bestimmungen des Forschungsgegenstandes erfordern autobiografisches oder zumindest einen zeitlichen Ablauf thematisierendes Interviewmaterial, das frei generiert wurde, ohne strukturierende Eingriffe der Interviewenden. Wenn die Gesamtgestalt biografischer Selbstbeschreibungen Forschungsgegenstand sind, verweist dies auf die Gestaltanalyse, wie sie von Rosenthal (1995) entwickelt wurde; Lebenskonstruktionen wurden als Analysegegenstand von Bude (1988) vertieft und Prozessstrukturen des Lebenslaufs und biografische Handlungsschemata von Schütze (1981). Eine spezifische Ausformulierung des Forschungsgegenstandes ist die „narrative Identität“, die durch sprachlich-kommunikative Leistungen konstituiert wird. Hier steht „die Funktion der biografischen Selbstdarstellung im Dienste der aktuellen Identitätsherstellung und der Selbstvergewisserung, des Selbstwerterhalts und der Bewältigung des Erlebten“ im Vordergrund (Lucius-Hoene/Deppermann 2002, 10f). Weiterführende Literatur: Theorie und Forschungsbeispiele: Rosenthal 1995 (Gestaltanalyse), Bude 1988 (Lebenskonstruktionen), Schütze 1981 (Prozessstrukturen des Lebenslaufs), Lucius-Hoene/ Deppermann 2002 (narrative Identität)
Zu (3) Klärung des Vorwissens und eines (zusätzlichen) Interesses an dem informativen Gehalt von Texten Die Verortung des Forschungsgegenstandes hatte bisher einen starken Theoriebezug und das Interesse an der Rekonstruktion von (in einer bestimmten Richtung spezifiziertem) Sinn stand im Vordergrund. Möglicherweise reicht dies noch nicht, um wirkliche Klarheit und eine Konkretisierung zu erreichen, denn das Forschungsinteresse, das den Ausgangspunkt bildet, ist meist zu Beginn des Forschungsprozesses vielfältiger und nicht nur auf die Rekonstruktion von Sinn beschränkt. Dies gilt vor allem dann, wenn qualitative Interviewstudien in einen Forschungskontext eingebunden sind, in dem z.B. (auch) ein Interesse an Informationen besteht. Als ein weiteres Vorgehen zur Klärung des Forschungsgegenstandes wird empfohlen, die ersten drei Schritte des Leitfadenprozesses (→ Abschnitt 34
5.3: „Der praktische Weg zu einem Leitfaden – das SPSS-Prinzip“) für die weitere Präzisierung des Forschungsinteresses und der Forschungsfrage zu nutzen. Der erste Schritt besteht darin, die Vielfalt des anfänglichen Forschungsinteresses explizit zu machen, indem möglichst viele Antworten auf die Fragen „Was interessiert mich? Was möchte ich wissen?“ in Stichworten oder in Frageform gesammelt werden – dabei soll bewusst alles zugelassen werden, was in den Sinn kommt. In der Anleitung in Abschnitt 5.3 sind Kriterien genannt, nach denen diese Liste dann in dem zweiten Schritt wieder reduziert wird. Insbesondere werden Fragen, die auf Informationen und nicht auf Rekonstruktion zielen, herausgefiltert. Sofern diese Informationen für notwendig befunden werden, muss ein Platz für die Erhebung entweder außerhalb des Interviews (zusätzlicher Fragebogen) oder im Interview selbst gefunden werden (z.B. Nachfrageteil). Wenn Fakteninformationen nicht als notwendig erachtet werden – weil der Akzent auf die Rekonstruktion von Sinn gelegt wird –, werden die Fragen bzw. Stichworte ebenso gestrichen wie Fragen, die nicht offen genug sind oder die nur auf die Bestätigung eines ohnehin vorhandenen Vorwissens aus sind. Der dritte Schritt besteht darin, die verbleibenden Fragen in einen sinnhaften Zusammenhang zu bringen. Durch das Prinzip der maximalen und unzensierten Sammlung von Facetten des Forschungsinteresses wird die Breite des eigenen Interesses bewusst gemacht; anschließend erfolgt eine bewusste Trennung von der Vielfalt und eine begründete Konzentration auf einen oder zumindest wenige Aspekte im Dienste der Schärfung der Forschungsfrage(n). Das Ergebnis sollte dann eine klare Benennung sein, wie der Forschungsgegenstand als Gegenstand qualitativer Forschung verortet ist und welche Aspekte als Informationen erhoben werden sollen (möglicherweise mit einem zusätzlichen Erhebungsinstrument; wenn das Interview insgesamt stark auf die Erhebung von Fakteninformationen abzielen soll, ist zu überlegen, es als Experteninterview einzuordnen, auch wenn die Befragten in engem Sinn keine Experten sind: → Exkurs zu Experteninterviews 4.10). Der Forschungsgegenstand sollte nun so weit geklärt sein, dass die Optionen zur Interviewgestaltung auf diesen Forschungsgegenstand so bezogen werden können, dass eine optimale und produktive Passung erreicht werden kann. In dem nächsten Abschnitt 1.3 werden die Unterschiede zwischen Interviewformen erläutert.
1.3 Unterschiede zwischen qualitativen Interviewformen In dem ausdifferenzierten Bereich qualitativer Forschung gibt es eine Vielzahl von Interviewformen mit je eigenen Akzenten, was die Umsetzung der Prinzipien Offenheit, Kommunikation, Fremdheit und Reflexivität und damit die Anforderungen an Interviewende angeht. Die Vielfalt ist beeindruckend und zugleich verwirrend, denn die Bezeichnungen werden uneinheitlich ver35
wendet und die Systematiken stützen sich auch bei ein und denselben Autoren auf unterschiedliche Kriterien: Mal zielt die Bezeichnung auf einen spezifischen Forschungsgegenstand oder Anwendungsbereich, mal wird eine Unterscheidung nach Besonderheiten der Erhebungs- oder auch der Auswertungsstrategien getroffen. Daher überschneiden sich die Typen: Biografische Interviews können z.B. narrative oder teilstrukturierte Interviews sein; was Aufenanger (1991) als semistrukturelles Interview bezeichnet, entspricht Struktur-Interview bei Hopf (2000) etc. Übersicht 2: Interviewvarianten in Stichworten und weiterführende Literatur Narratives Interview*: Besteht in dem Hauptteil aus einer „Stegreif“- oder Spontanerzählung, die von Interviewenden mit einer Aufforderung initiiert wird, gefolgt meist von dialogisch angelegten Nachfrage- und Bilanzierungsteilen. Besonderheit: Im Hauptteil hat die Erzählperson das monologische Rederecht, die Interviewenden halten sich zurück. Charakterisierung und weiterführende Literatur: → Übersicht 3; Problemzentriertes Interview*: Gesprächsführend, nicht-direktiv, Besonderheit: Dialogisch, am Problem orientierte und über vorgängige Kenntnisnahme formulierte Fragen und Nachfragen, Fragesammlung in einem Leitfaden als Hintergrundskontrolle mit spontanen Fragen durch Interviewende. Charakterisierung → Übersicht 2. Weiterführend: Witzel 1982; Witzel 2000; Mayring 2002, 67ff; Episodisches Interview*: Besonderheit: Verknüpft Erzählgenerierung (Aufforderung, mehrere Situationen als Episoden zu erzählen) mit Fragesammlung in einem Leitfaden. Charakterisierung → Übersicht 2. Weiterführend: Flick 1996, 124ff; Halb-/teilstandardisiertes oder -strukturiertes Leitfaden-Interview*: Leitfaden, breites Spektrum mit mehr oder weniger ausführlichen und mehr oder weniger flexibel handhabbaren Vorgaben; Variante: Kombination von Frageformen (offen oder theoriegeleitet, in einer zweiten Sitzung Anwendung der Struktur-LegeTechnik). Weiterführend: Hopf 2000, 177f; Flick 1996, 99ff und 112ff; Fokussiertes Interview*: Gesprächsführung mit spezifischen Regeln, Leitfaden, nicht-direktiv; Besonderheit: Vorgabe eines Reizes („Fokussierung auf einen Gegenstand“), z.B. eines Films. Weiterführend: Merton/Kendall 1993; Flick 1996, 94ff; Friebertshäuser 1997; Leitfaden-Interview*: Einige der genannten Interviews sind Leitfaden-Interviews; Besonderheit: Ein Leitfaden, in dem Fragen oder Stichworte für Fragen festgehalten sind; die Formulierung und Reihenfolge der Fragen kann in unterschiedlichem Maß flexibel vorgegeben sein. Weiterführend: Friebertshäuser 1997; Hopf 1978; Biografisches Interview: Besonderheit: Fasst Interviewformen zusammen nach dem spezifischen Gegenstand, nämlich der Biografie; kann in unterschiedlichen Formen durchgeführt werden; in der Literatur allgemeiner unter „Biografische Methoden“ zu finden. Weiterführend: Fuchs-Heinritz 2000; Ero-episches Gespräch oder ethnografisches Interview:
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Besonderheit: Findet eingebettet in Feldforschung Anwendung. Charakterisierung → Übersicht 2. Weiterführend: Girtler 1992; Friebertshäuser 1997; Diskursives Interview: Aus der Aktionsforschung; Besonderheit: Kommunikative Validierung, d.h. entwikkelte Deutungen werden in einem weiteren Gespräch den Befragten vorgelegt. Weiterführend: Hopf 2000, 179; Szenisches Interview: Aus einer psychoanalytischen Tradition; Besonderheit: Die Interviewsituation wird als Gespräch ausgestaltet und als Interaktionsszene i.S. einer Konstellation von Übertragungs- und Gegenübertragungsverschränkungen bei Befragten und Interviewenden interpretiert. Weiterführend: Horn/Beier/Wolf 1983; Struktur- oder Dilemma-Interview: Präsentation eines Stimulus, fester Katalog von Nachfragen; Besonderheit: Orientiert sich an der Erfassung moralischer Urteilsstrukturen: Dilemmata werden vorgegeben und die Begründungen für die Lösungen als Text aufgenommen. Weiterführend: Hopf 2000; Friebertshäuser 1997 (Aufenanger 1991 nennt ein Dilemma-Interview mit offenen Nachfragen, was die Lösungsbegründungen angeht, „semi-strukturelles Interview“); Struktur-Lege-Technik: Eine Spielart des Leitfaden- und des problemzentrierten Interviews; Besonderheit: In das Interview werden Visualisierungen von Aspekten z.B. mit Stichworten auf Karten eingebracht, an denen Interviewende und Befragte gemeinsam arbeiten, nähert sich psychologischen Tests an. Weiterführend: Friebertshäuser 1997; Konstrukt-Interview: Eine Spielart des Leitfaden-Interviews; Besonderheit: Kombiniert unterschiedliche (psychologische) Fragetechniken, z.B. Freies Assoziieren, Vergleichsverfahren, „Methode des lauten Denkens“ etc. Weiterführend: Friebertshäuser 1997; Tiefen-/Intensiv-Interview: Freies Gespräch; Besonderheit: Interviews, die im Rahmen psychoanalytischer Theorietradition geführt und interpretiert werden. Weiterführend: Lamnek 1989, 80f; Bei einem Tandem-Interview werden zwei Interviewende eingesetzt: Hoff 1985; bei einem Paar-Interview werden Paare interviewt: Bock 1992. Die von uns in → Abschnitt 5.3 vorgestellte Variante stellt eine Mischform dar und kann als biografisches, teilnarratives Leitfadeninterview bezeichnet werden und entspricht von dem Aufbau her dem episodischen Interview, vom Gegenstand einem biografischen Interview. * Auf diese Formen wird in der Schulung ausführlicher eingegangen; auf die anderen Formen wird nur in diesem Abschnitt Bezug genommen, um die Unterschiede zu beleuchten.
Dimensionen der Unterschiede Die für uns relevanten Unterschiede zwischen den Interviewformen lassen sich zurückführen auf Unterschiede in fünf Dimensionen: (1) Forschungsgegenstand und -interesse, (2) Verortung der Beurteilungskompetenz der Äußerungen als „wahr“ oder „ausreichend“, (3) Festlegung der Rollen von Interviewen37
den und Erzählpersonen, (4) Optionen für die Interviewsteuerung und (5) Umgang mit der Zurücknahme eigener Deutungen und Annahme von „Fremdheit“. Diese Dimensionen werden zunächst aufgefächert und dann werden vier unterschiedliche Kommunikations- und Interaktionsmuster der Erhebungssituationen beschrieben, die als Differenzierung für dieses Manual bedeutsam sind und denen die meisten der genannten Interviewformen zugeordnet werden können.
(1) Unterschiede auf der Ebene des spezifischen Forschungsgegenstandes und des Forschungsinteresses mit den Polen „textbezogenes“ – „problembezogenes Sinnverstehen“ „Die Auswahl einer spezifischen Interviewtechnik strukturiert selbstverständlich die möglichen Ergebnisse vor. So erbringt eine erzählgenerierende Interviewtechnik andere Arten von Aussagen, vermutlich auch andere Themen, in jedem Fall anders strukturierte Daten als ein Leitfaden-Interview.“ (Friebertshäuser 1997, 375) Die Präzisierung des Forschungsgegenstandes führt zu einer Beantwortung der Frage, welche Daten benötigt werden und damit im Interview erzeugt werden müssen. Nach → Abschnitt 1.2 lassen sich die Forschungsgegenstände nach dem damit zusammenhängenden Bedarf an Interviewgestaltung einteilen: a) Die Erhebung von subjektiven Konzepte, subjektiven Theorien, Deutungsmustern, Orientierungen, Positionierungen verträgt eine gewisse Strukturierung z.B. in Form eines Leitfadens für die Interviewführung. Interpretationen lassen sich auch an kleineren Textsegmenten festmachen, die durchaus auf Vorgaben von Interviewenden hin produziert werden können, sofern die Offenheit gewahrt wird und der Leitfaden angemessen gestaltet ist und angemessen gehandhabt wird. b) „Subjektive Problemsicht“ oder „unbewusste Motive“ zielen auf eine Form von „Sinn“, der erst – auch gegen Widerstände – aufgedeckt und herausgearbeitet werden muss oder soll. So versucht der Forscher nach Witzel, „die originäre Problemsicht des Befragten im Laufe des Gesprächs zu entlocken (…). Die (…) Forscherfragen müssen dazu beitragen, die in einem bestimmten Problemzusammenhang stehenden Einzelheiten dem Vergessen zu entreißen.“ (Witzel 1982, 70) Hier muss der Rahmen so gesteckt sein, dass er eine solche Arbeit an einer Sichtweise ermöglicht. Das Interview hat stärker den Charakter einer gemeinsamen, aufdeckenden Arbeit an einem Thema. c) Bei Forschungsgegenständen wie Gestalten biografischer Selbstbeschreibungen, Lebenskonstruktionen, Prozessstrukturen des Lebenslaufs und biografische Handlungsschemata oder der Konstitution narrativer Identität muss das Erhebungsverfahren den Rahmen bieten, der eine sukzessive Konstruktion von Sinn in einer fortlaufenden Erzählung ermög-
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licht5. Notwendig ist ein maximal offener und nicht durch Interventionen einer interviewenden Person strukturierter Raum zum Erzählen und ein Minimum an Vorgaben von Relevanzen, Begriffen und Fragen. Prototyp ist das narrative Interview, das häufig deswegen zugleich biografisches Interview ist, weil eine Biografie gut „erzählbar“ ist. Aus dem Gesamtverlauf der „ungestörten“ Erzählung lassen sich Aussagen über Ablaufmuster und die „Gesamtgestalt“ gewinnen. d) Besteht weniger ein Interesse an Rekonstruktion und stärker ein Interesse an dem informativen Inhalt von Interviews, dann sind eine stärker strukturierte Erhebung und eine frühere Reduktion des sprachlichen Materials auf seinen informativen Gehalt zulässig und sinnvoll. Die Aufgabe des Interviews, einen freien Text oder eine Stegreiferzählung zu generieren, die später angemessene Daten für eine mikrosprachliche Analyse bietet, tritt zurück. Dies betrifft vor allem Experteninterviews, aber auch in anderen Interviewzusammenhängen kann die Frage auftauchen, inwieweit Informationen offen erhoben werden sollen. e) Aushandlungen als Forschungsgegenstand sollten in das Interview hinein genommen werden, indem die Gestaltung des Interviews Gelegenheiten vorsieht, Aushandlungen zu inszenieren. Generell wird die Interviewinteraktion bei der Auswertung reflektiert. Angesichts der Heterogenität der Forschungsgegenstände ist es schwierig, eine Bezeichnung für das Spektrum zu finden, das sich aufspannen lässt. Mit aller Vorsicht sollen zwei Pole benannt werden, die exemplarisch Anforderungen der unter b) und c) benannten Forschungsgegenstände entsprechen: Einmal, bei c), steht das textbezogene Sinnverstehen im Vordergrund und die Interviewsituation ist von einer großen Enthaltsamkeit bezogen auf strukturierende Eingriffe der Interviewenden gekennzeichnet. Umgesetzt wird dies in exemplarischer Weise in narrativen Interviews. Das andere Mal, bei b), mit der Umsetzungsform des problemzentrierten Interviews, geht es um ein eher problembezogenes Sinnverstehen und das Interview wird offener und dialogischer gestaltet.6 Die Forschungsgegenstände unter a) liegen dazwischen, denn sie erlauben strukturierende Eingriffe, die aber nicht als intentionale Hinführung der Interviewten zu einer Einsicht gestaltet sein sollen.
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Ein sequentielles Interpretationsverfahren als Rekonstruktion von Sinn folgt Schritt für Schritt der sukzessiven Aufschichtung und Konstruktion von Sinn in der Erzählung. Gemeint ist damit, dass die Erzählenden im Fortschreiten ihrer Erzählung nach und nach den Sinn entfalten; die Interpretation vollzieht dies nach, indem das Interview Sequenz für Sequenz vom Anfang bis zum Ende durchgegangen wird. Am Ende wird dann die Gesamtgestalt des Interviews erkennbar Die Unterscheidung zwischen text- und problembezogenen Verstehen darf nicht verwechselt werden mit den Auswertungsverfahren Textanalyse und Inhaltsanalyse, weil diese Bezeichnungen für spezifische Auswertungsverfahren reserviert sind, während es hier um eine Bestimmung mit Konsequenzen für die Aufmerksamkeit in der Erhebungssituation geht.
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(2) Unterschiede bezogen auf die Festlegung der Beurteilungsautorität, was den Wahrheitsgehalt und die erschöpfende Genauigkeit von Darstellungen angeht Es wird unterschiedlich gehandhabt, wer beurteilen darf, ob die Aussagen der Erzählperson „wahr“ sind und ob „ausreichend“ geantwortet wurde. Werden z.B. Erzählstrukturen untersucht, dann zählt allein die „subjektive Wahrheit“ und es gibt eine „Sinnhaftigkeitsunterstellung“ oder ein „Prinzip der wohlwollenden Interpretation“ als Annahme, dass die Äußerungen für die Erzählperson bedeutungsvoll sind und von ihr selbst für wahr gehalten werden. „Wenn diese Sinnhaftigkeit auf den ersten Blick nicht zu erkennen ist, erfordert dies von der Auswerterin (was sich übertragen lässt auf die Interviewerin: C.H.) erhöhte Anstrengungen, (…) nach Gründen zu suchen, die das rätselhafte oder zunächst unsinnig erscheinende Handeln des Erzählers als sinnhaft motiviert begreiflich machen.“ (Lucius-Hoene/Deppermann 2002, 99f) Auch liegt es allein bei der Erzählperson zu entscheiden, wann sie ihre Ausführungen für „ausreichend“ bewertet und meint, „genug“ erzählt zu haben. Wenn es dagegen um das Aufdecken von Deutungen oder Motiven geht, beurteilen die Interviewenden im Interviewverlauf, ob die Erzählperson „ehrlich“, „richtig“, „angemessen“ und „ernsthaft“ erzählt oder ob sie „ausweicht“, „vermeidet“, über etwas „hinweggeht“, eine Frage „nicht richtig verarbeitet“ (Zitate Witzel 1982) oder „noch nicht genügend kommuniziert hat“ (Maindok 2003, 171), was dann gerade Ansatzpunkte bietet, um im Interview zu einer besseren Version zu gelangen. Im Fall eines Interesses an „objektiven“ und „sachdienlichen“ Informationen – z.B. bei bestimmten Formen des Experteninterviews – werden die berichteten Fakten als wahr genommen, es sei denn, es gibt einen Grund für die Annahme, dass der oder die Interviewte täuscht. Ähnlich wie bei einer standardisierten Befragung wird die Auskunft der Befragten nicht weiter hinterfragt und nicht als eine subjektive Konstruktion analysiert.
(3) Unterschiede auf der Ebene der Optionen für die Interviewsteuerung mit den Polen „restriktiv“ – „frei“, „erzählgenerierend“ – „verständnisgenerierend“, „offen“ bzw. „schwach strukturiert“ – „stark strukturiert“ Gesteuert wird prinzipiell durch die Vorgabe des Interviewthemas, aber es können auch im weiteren Interviewverlauf detailliertere Begriffe, Sachverhalte und Unterstellungen eingebracht und Perspektiven vorgegeben werden, unter denen das Thema zu betrachten ist (z.B. eine Problemperspektive). Gesteuert werden kann das Tempo z.B. durch Zeitvorgaben oder durch das Verweilen bei einem Aspekt. Die Aufmerksamkeit der Erzählperson kann insbesondere durch ein Nachhaken oder Zurückgehen auf ein genanntes Thema oder durch die Vorgabe von Darstellungsebenen (z.B. „Wie haben Sie … erlebt?“) gelenkt werden. 40
Die Interviewformen unterscheiden sich darin, wie stark Interviewende in den Interviewverlauf eingreifen (sollen/dürfen), indem sie fragen und indem sie auf eine bestimmte Weise fragen, die den Gesprächsverlauf und das Antwortverhalten steuert. Die Optionen für Frageformen und für nonverbale Steuerungen werden restriktiver oder freier ausgelegt. Bei einigen Interviewformen werden überhaupt keine Nachfragen oder andere Interventionen zugelassen, bei anderen nur bestimmte, und z.B. Suggestivfragen, Konfrontationen oder das Anbieten von Deutungen werden ausgeschlossen. Bei wiederum anderen Interviewformen werden keine Vorgaben hinsichtlich der zulässigen Interviewer-Interventionen gemacht (Ausführlicher zu den Unterschieden bei den Frageformen: → Abschnitt 3.5). Insgesamt kann die Interviewanlage eine mehr „erzählgenerierende“ Funktion haben; ein klassisches Beispiel hierfür sind narrative Interviews, die idealer Weise in ihrem Hauptteil mit einer einzigen Erzählaufforderung auskommen. Die problemzentrierten Interviews wollen weniger einen Text als Text erzeugen, sondern einen Verständnisprozess im Laufe des Interviews vollziehen. Daher sind dort „erzählgenerierende“ mit „verständnisgenerierenden“ Strategien verknüpft; verständnisgenerierend sind z.B. Nachfragen, die bei Verständnisproblemen um Klärungen bitten oder die einer thematischen Zentrierung dienen (Witzel 1982, 92f). Mit der Bezeichnung „dialogisches“ Interview ist noch nicht festgelegt, wie stark oder schwach vorstrukturiert der Dialog auf der Seite der Interviewenden ist. Der „Dialog“ kann so offen wie ein Alltagsgespräch gestaltet sein oder er kann auf unterschiedlich stark strukturierte Fragekataloge (Leitfaden) gestützt werden, die wiederum in ihrer Anwendung unterschiedlich flexibel gehandhabt werden können (→ Abschnitt 5.3).
(4) Unterschiede auf der Ebene des theoretischen Vorwissen mit den Polen Präsentation als „fremd“ – Präsentation als „kundig“ und „ethnografisch“ –„beraterisch“ Bezogen auf das Einbringen von Vorwissen in die Interviewsituation gilt für alle Interviewformen die Notwendigkeit der Reflexion der impliziten Hypothesen und der eigenen Erwartungen und das Offensein für eine Revision des eigenen Wissens. Unterschiede zwischen Interviewformen hängen mit dem unterschiedlichen Maß an „Zurückhaltung“ bzw. an Engagement der Interviewenden in der gemeinsamen Interview-„Arbeit“ zusammen. Interviewformen, die sich v.a. in der Tradition der ethnografischen Forschung verstehen – und die dabei entweder eine offen-dialogische oder eine narrative Interviewführung verfolgen – bestehen auf einer Haltung der „ethnomethodologischen Indifferenz“, d.h. die Interviewenden enthalten sich einer Vorabinterpretation und stellen ihr eigenes Relevanzsystem zurück. Den Gegenpol bilden Interviewverfahren, bei denen das Interview auf einer Art Arbeitsbündnis beruht. Hier stehen alle die Elemente im Vordergrund, die geeignet sind, Verständnis zu signalisieren, Vertrauen aufzubauen, mit der Erzählper41
son „mitzugehen“. Das eigene Vorverständnis oder eigene Deutungen in die Interviewsituation einzubringen, wird als „vertrauensbildende Maßnahme“ gesehen. Diese Aspekte werden v.a. in psychologischen Trainings der Gesprächsführung vermittelt, so dass die Pole hier als „ethnografisch“ und „beraterisch orientiert“ bezeichnet werden sollen (in → Abschnitt 1.4 wird auf die Nähe von problemzentrierten Interviews zu Beratungsgesprächen eingegangen). Mit diesen Akzentsetzungen sind auch die unterschiedlichen Vereinbarungen verbunden, ob sich Interviewende mehr als unkundig und der Lebenswelt der Erzählperson fremd präsentieren sollen oder als mit ihr vertraut (ausführlicher: → Abschnitte 4.1 und 4.2). In der Praxis spielen zunehmend Mischformen eine Rolle, sei es, dass Interviews aus mehreren Phasen bestehen, in denen unterschiedliche Vorgehensweisen zum Tragen kommen (wie z.B. beim narrativen Interview mit Nachfragephase, aber auch bei dem halbstandardisierten Interview), sei es, dass Leitfadeninterviews über sehr wenige erzählgenerierende Aufforderungen strukturiert sind, kombiniert mit situationsflexibel und an den Sprachgebrauch der Erzählpersonen angepasst eingebrachten Nachfragen. Sie setzen sich de facto aus mehreren „kleinen“, aufeinander folgenden narrativen Interviews zusammen. Diesem Muster folgt z.B. das episodische Interview oder das von uns verwendete teil-narrative Vorgehen, das zusammen mit der Beschreibung, wie man zu einem solchen Leitfaden kommt, in → Abschnitt 5.3 vorgestellt wird.
(5) Unterschiede auf der Ebene der Rollendefinition von Interviewenden und Erzählpersonen (u.a. Rederecht, gemeinsame „Arbeit“) mit den Polen „natürlich“ – „wissenschaftlich“, „monologisch“ – „dialogisch-diskursiv“ Die Interviewkommunikation ist in jedem Fall asymmetrisch, was in der Situationsdefinition „Interview“ mit komplementären Rollen angelegt ist. Der Grad der Annäherung an eine „natürliche“ Alltagssituation ist in dem ethnografischen bzw. dem ero-epischen Interview im Kontext der Feldforschung am größten: Girtler z.B. sucht die Erzählpersonen in ihrem „natürlichen“ Lebensraum auf und zieht als Interviewort das Kaffeehaus dem Institut vor (Girtler 1992, 151). Andere Interviewer gehen noch weiter und teilen die Lebenswelt der Erzählpersonen. In allen anderen Forschungskontexten wird die Differenz zwischen den Welten der Interviewenden und den Erzählenden möglichst weitgehend hervorgehoben und die Interviewsituation als „künstliche“ Situation reflektiert. Interviewformen unterscheiden sich danach, in welchem Maß sie der Erzählperson das Recht zu einer monologischen Rede zugestehen bzw. ihr die Monolog-Pflicht aufbürden. Im narrativen Interview bekommt in der HauptInterviewphase die Erzählperson das alleinige Rederecht, die interviewende Person beschränkt sich strikt auf die Rolle der Zuhörenden (bzw., sofern damit keine expliziten Interventionen verbunden sind, auch auf die Rolle der Stützenden). Die Zuhörende akzeptiert die Darstellung, sie bewertet weder, 42
noch kommentiert sie oder drückt Zweifel aus. Gegenpol sind die Interviewverfahren, die die Rollen so definieren, dass beide, die interviewende Person und die Erzählperson, gemeinsam an etwas „arbeiten“ (Witzel 1982, 43 und 69 – mit Bezug auf Cicourels Formulierung „work at the response“ – der Befragte „soll an der Explikation seiner Sichtweise (…) arbeiten.“): Unter der „Leitung“ oder „Führung“ entsteht der Text in einem gemeinsamen Prozess. Diese Interviewform soll als dialogisch bezeichnet werden, weil das Arbeiten in der Form eines Dialogs stattfindet. Eine besondere Form des Dialogs wird bei „diskursiven“ Interviews gewählt, bei denen die in der Interpretation entwickelten Deutungen in einem erneuten Gespräch den Erzählpersonen vorgelegt werden, damit sie dazu Stellung nehmen können, oder bei dem „szenischen“ Interview, wo die Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse im Dialog Ansatzpunkt für die Interpretation bieten. Insbesondere Interviews im Rahmen der Feldforschung oder aus der Tradition der Aktionsforschung sind dialogisch angelegt und haben häufig mehr Gesprächs- als Interviewcharakter. Girtler beschreibt seine Rolle in diesem Zusammenhang als „Animieren“ (Girtler 1992, 159). Dialogische Formen haben mit ihrer „Reziprozitätsforderung“ eine größere Nähe zur Alltagskommunikation (d.h. zu der Maxime, dass bei einem Gespräch beide Partner sich einbringen) als monologische. Mit den Unterschieden in der Ausgestaltung der Rollen von Interviewenden und Erzählpersonen hängt auch die Festlegung der Grenzen zusammen, die bezogen auf eine „Zudringlichkeit“ zu definieren sind. „Aufdeckend“ arbeitende Interviewende überschreiten diese Grenzen eher als Interviewende, die das Rederecht und damit das Recht, über heikle Themen nicht zu sprechen, den Erzählpersonen überlassen. Die beschriebenen Unterschiede lassen sich, ausgehend von der fünften Differenzierung, zu vier Mustern von Kommunikations- und Interaktionsbeziehungen in der Erhebungssituation verdichten: –
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ein monologisches Muster, repräsentiert durch die Hauptphase des narrativen Interviews nach Schütze, in der die Erzählperson ein monologisches Rederecht hat. Die Rollen sind asymmetrisch; die Interviewenden haben nur den Part, die Erzählperson zu stützen, und halten sich zurück. Die strikte Asymmetrie dämpft die Kommunikation, die Erzählperson könnte auch ein Selbstgespräch halten. Sie ist mehr eine Produzentin als eine Partnerin im Interview; ein teilmonologisches, Leitfaden gestütztes Muster, repräsentiert durch das episodische Interview nach Flick oder durch unseren eigenen Ansatz (→ Abschnitt 5.3). Die Erzählperson wird ebenfalls zum Erzählen aufgefordert, wird aber gleichzeitig stärker verbal gestützt und thematisch geleitet. Die Beziehung bleibt aber stark asymmetrisch und insofern distanziert oder abstinent, als die Interviewenden sich jeder Bewertung enthalten und die Erzählung, so wie sie ist, als Erzählung akzeptieren; das Muster „gemeinsam an etwas Arbeiten“, repräsentiert z.B. durch das problemzentrierte oder Fokus-Interview. Dieses Muster ist stärker dialo43
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gisch. Die Rollen sind mehr miteinander verschränkt und die Interviewenden bringen sich als Person mitsamt ihrem Wissen stärker ein. Sie leiten einen Prozess der Reflexion bei den Befragten, die ihre eigenen Äußerungen da, wo sie unklar sind, überdenken und korrigieren sollen. Im Interview entsteht idealer Weise so etwas wie ein „Arbeitsbündnis“ (ein Leitfaden kann, muss aber nicht verwendet werden); das offene Gespräch, repräsentiert durch ethnografische Interviews nach Girtler oder Kaufmann. Die Rollen sind hier offener auf eine wechselseitige Reaktion aufeinander und Reziprozität hin angelegt, so dass die Interviewenden zwar auch hier das Interview steuern, aber eben in Form eines vorangebrachten Gesprächs, mitunter sogar mit dem Charakter einer Plauderei.
Ergänzen lässt sich das informationsorientierte, stärker strukturierte Interview, das von bestimmten Formen des Experteninterviews repräsentiert wird. Auf diese Erhebungsform wird im Weiteren nicht eingegangen, da sie vergleichsweise einfach zu handhaben ist und weniger Anforderungen an die Interviewgestaltung und die Haltung der Offenheit und Fremdheit im Interview stellt (Besonderheiten der Durchführung von Experteninterviews Exkurs 4.10). Die spezifischen Kompetenzen für die ersten drei Muster sollen in den Übungen vermittelt werden. Das zweite Muster ist am anspruchsvollsten, weil es Elemente von Muster 1 und Muster 3 umfasst. Generell wird in allen außer dem ersten Muster gefragt, mit mehr oder weniger festgelegten oder spontan formulierten Fragen. Die Fragen müssen bestimmte Kriterien erfüllen; sie müssen die Kommunikation fördern, zum Erzählen motivieren und den Erzählenden vermitteln, wie sie erzählen sollen. Die Fragen sind das große Einfallstor für unbewusste und unkontrollierte Beeinflussungen der Erzählpersonen, die dem eigentlichen Interviewziel zuwiderlaufen. Dem Umgang mit der „Kunst des Fragens“ ist daher ein eigenes Kapitel gewidmet (→ Abschnitt 3.5). Das vierte Muster verlangt vor allem viel Übung und einen intutiven Umgang mit der Situation, so dass zwar das Basiswissen ebenfalls sinnvoll ist, weitere Kompetenzen aber direkt in der Interviewpraxis im Feld erworben werden müssen.
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Anhand einer Frageliste in → Abschnitt 5.1 lässt sich die Entscheidung für ein Interviewverfahren noch einmal systematisch überprüfen. Zentrales Kriterium einer richtigen Wahl ist die Gegenstandsangemessenheit. Zu ergänzen ist, dass Interviewformen auch der Zielgruppe angemessen sein müssen. Nicht von allen sozialen Gruppen kann gleichermaßen erwartet werden, dass sie von sich aus, am Stück und ohne weitere Vorgaben, eine substanziell für die Auswertung notwendige Menge an Erzählung produzieren – dies ist aber Voraussetzung z.B. für narrative Interviews (Fuchs-Heinritz 2000, 249). Zwar kann eine gewisse Grundfähigkeit des Erzählens allgemein angenommen werden, im Einzelnen unterscheiden sich aber die Bereitschaft bzw. Kompetenz zur Selbstthematisierung und Selbstdarstellung anderen (fremden!) Interviewenden gegenüber beträchtlich. Sie hängen von dem Zusammentreffen des speziellen Themas mit darauf bezogenen kulturellen Thematisierungsregeln ab (→ Forschungsbeispiel 6 in Abschnitt 2.4) sowie von der individuellen, lebensgeschichtlichen Übung im Sprechen über sich selbst, vom Interesse am Thema etc. Für Erwachsene geben Lebensgeschichten einen guten Erzählstoff ab. Für Kinder oder Jugendliche gilt das nicht gleichermaßen (s. Rosenthal 1995, 104), aber strukturiertere Interviewformen sind bei ihnen sehr gut anwendbar, wie z.B. Befragungen zur Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit zeigen. Das heißt auch: Der Bedarf an Strukturierungsvorgaben variiert mit den und innerhalb der Befragtengruppen. Hoff (1985, 165) hat in diesem Zusammenhang eine flexible Lösung vorgeschlagen, bei der erst abgewartet wird, „ob und in welchem Maße ein Befragter von sich aus verbalisiert und strukturiert“ und dann die entsprechende Strukturierung in ihrer Dosierung darauf abgestimmt wird. Auf Einzelargumente pro und contra Leitfaden wird in → Abschnitt 5.3 eingegangen. Weiterführende Literatur: Grundlagen und Übersichten über Formen qualitativer Interviews Übersichten bei: Friebertshäuser/Prengel 1997, Flick 1996, Hopf 1995, Lamnek 1995, Mayring 2002, Garz/Kraimer 1991; mit einem Fokus auf wissenschaftstheoretische und methodologische Begründungen: Bohnsack 1999; Einzeldarstellungen in Flick et al. 1995, Friebertshäuser/Prengel 1997, Flick/v. Kardorff/Steinke 2000 Zu narrativen Interviews: Schütze 1976, Lucius-Hoene/Deppermann 2002. Zur Anwendung narrativer Interviews außerhalb des Gültigkeitsbereich von in der westlichen Kultur vorherrschenden Erzählschemata: Matthes 1984 Zur Handhabung und zu Problemen von Leitfaden-Interviews: Hopf 1978
1.4 Abgrenzung zu Alltagskommunikation und Beratungsgespräch Qualitative Interviews sind weder Alltags- noch Beratungsgespräche. Doch haben die einzelnen Interviewformen eine unterschiedlich große Affinität zu diesen anderen Kommunikationsformen: Das ethnografische Interview nähert sich der Alltagskommunikation an und die Besonderheiten des problemzen46
trierten Interviews lassen sich besser verstehen, wenn man sich die Überschneidungen mit z.B. der klientenzentrierten Gesprächsführung verdeutlicht. Eine Abgrenzung dieser Kommunikationsmuster beleuchtet noch einmal die Unterschiede zwischen den Interviewformen. Sie ist hilfreich für die Klärung der eigenen Rolle als Interviewende insbesondere dort, wo Regeln, die das Gespräch im Alltag oder in der Beratung bestimmen, bei qualitativen Interviews systematisch außer Kraft gesetzt werden.
Abgrenzung von Alltagskommunikation Häufig waren auch in anderen Zusammenhängen als bei ethnografischen Interviews „Alltagsorientierungen“ Gegenstand qualitativer Forschung und so hoffte man zunächst, gültige Aussagen dadurch zu gewinnen, dass die Interviewgestaltung sich an die kommunikativen Regeln der alltagsweltlich Handelnden annähert (Hoffmann-Riem 1980, 350). Doch prinzipiell markiert die Rollenverteilung „Erzählperson“ und „Interviewende/r“, die von der Situationsdefinition „Sozialwissenschaftliche Forschung“ vorgegeben ist, die Grenze der möglichen Annäherung. Selbst wenn in der Alltagskommunikation eine Person eine Auskunftsperson ist und die andere die Auskunft erhalten möchte, unterscheidet sich der Kontext dieses Gesprächs von den Kontexten, in denen qualitative Interviews stattfinden, samt den jeweils geltenden Regelsystemen auf mehreren Ebenen, wobei die Unterschiede für die einzelnen Interviewformen mehr oder weniger zutreffen: –
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Die Situationsdefinitionen „Alltagsbegegnung“ und „sozialwissenschaftliches Interview“ unterscheiden sich – sowohl aus der Perspektive der Erzählperson, als auch aus der Perspektive der interviewenden Person. Die Interviewenden verhalten sich, durch das Forschungsinteresse geleitet, notwendigerweise strategisch; in der Alltagskommunikation ist das nicht der Fall. Im Interview werden Regeln der Alltagskommunikation suspendiert, z.B. die Reziprozitätsnorm, nach der beide zum Gespräch beitragen, oder das Verdikt des Ausfragens (vgl. Hopf 1978, 107). Das Zurückstellen des eigenen Deutungshorizontes und Bezugssystems wie beim narrativen Interview ist in der Alltagskommunikation nicht üblich – es wäre auch eher verwirrend und widerspricht der Erwartung, dass sich auch die Zuhörenden mit der Präsentation des eigenen Bezugssystems als authentische Personen einbringen. Im Alltag greifen kommunizierende Menschen in der Regel auf gemeinsame Vorerfahrungen oder Kontextinformationen zurück. Alltagskommunikation kann dadurch unvollständiger sein und muss weniger explizieren („Du weißt schon, was ich meine“-Codes). Im Alltag sind durchaus suggestive Frageformen oder Angebote von Deutungen üblich. Sie erfüllen in der Alltagskommunikation wichtige Funktionen, können aber, unkontrolliert eingebracht, im Rahmen qualitativer Interviews dysfunktional wirken. 47
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In der Alltagskommunikation wird in der Regel naiv vorausgesetzt, dass die Erzählperson „die Wahrheit“ sagt, also die Wirklichkeit angemessen abbildet. Widersprüche verlangen Aufklärung. In bestimmten Typen von qualitativen Interviews wird auf eine solche Aufklärung verzichtet.
Einem Forschungsinteresse an Alltagsorientierungen wäre eher die teilnehmende Beobachtung angemessen oder die Konversationsanalyse, bei der Texte, die in „natürlichen“ Gesprächssituationen produziert wurden (z.B. Telefongespräche), analysiert werden. Material sind dann aber „reale und ungestellte soziale Vorgänge“ (Bergmann 2000, 524), d.h. es gibt gerade keine Interviewsituation und keine Interviewerrolle. Streng genommen ist die Orientierung an einer Erfassung „reiner“ Alltagskommunikation mit der Einordnung des Interviewer-Einflusses als Störvariable verbunden7.
QUALITATIVE INTERVIEWS ALLTAGSGESPRÄCH
ETHNOGRAF. FORSCHUNG
Dialogisch z.B. ethnografisches Interview
ÆÆ Monologisch z.B. narratives Interview
POL Kommunikation „artifiziell“
POL Kommunikation „natürlich“
Übersicht 4: Nähe unterschiedlicher qualitativer Interviewformen zum Alltagsgespräch
Die Übersicht ordnet verschiedene Kommunikationsformen in einem Kontinuum zwischen zwei Polen. Innerhalb der Sparte „qualitative Interviewformen“ sind die dialogischen Interviews, in denen Interviewende nach- und rückfragen, näher an dem Pol der „freien Spontaneität“ als die monologischen Interviews. Das ethnografische qualitative Interview ist ganz in der Nähe der Konversationsanalyse, die sich auf „natürliche Texte“ wie Telefongespräche stützt, wobei es sich bei letzterem aber nicht um Interviews handelt – daher die Markierung der Grenze durch den Doppelstrich.
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In standardisierten Verfahren gilt der Interviewereinfluss als Störfaktor, weil er als „subjektiver Faktor“ die Situationsunabhängigkeit der gewonnenen Daten gefährdet; bei der qualitativen Erhebung von Alltagskommunikation gilt er als Störfaktor, weil der Interviewer als von „außen“ kommende Person quasi ein „objektives“ Moment in die Erhebung einbringt; zur Gegenposition → Abschnitt 4.7.
Abgrenzung von Beratungsgesprächen Gemeinsamkeiten und Unterschiede existieren auch zwischen Beratungsgespräch und qualitativen Interviews in der hier angesprochenen Bandbreite von narrativen bis problemzentrierten Interviews8. Maindok sieht insbesondere das Verfahren der klientenzentrierten Gesprächsführung „geradezu auf die Bedürfnisse offener Interviews zugeschnitten“ (Maindok 2003, 166). Sie weist auf ähnliche Anforderungen hin, was das Interviewer- und Beraterverhalten angeht: ein offenes Gespräch zu führen und gleichzeitig dieses Gespräch unter strategischen Gesichtspunkten zu steuern (a.a.O., 136). Gemeinsamkeiten bestehen darin, dass Klienten zu einem „freien Ausdruck“ ermutigt werden, der Therapeut nicht beurteilt oder kritisiert, nur aufgreift, was bereits vom Klienten zum Ausdruck gebracht wurde, und sich im sprachlichen und kognitiven Horizont des Klienten bewegt (vgl. a.a.O., 150 und 154). Es gilt, nicht nur das Problem des Klienten oder der Klientin zu erfassen, sondern auch das „Bezugssystem“ oder „den Bezugsrahmen“, mit dem er oder sie dieses Problem sieht (Pallasch/Kölln 2002, 89; Dahmer/Dahmer 1982, 7). Gemeinsam ist auch die konstruktivistische Grundannahme, dass es keine objektive Realität, sondern nur die subjektive Wirklichkeit der Klienten gibt, und die große Bedeutung, die dem Zuhören, dem Verstehen und einer wertschätzenden und nicht wertenden Akzeptanz zukommt (z.B. Weinberger 1998, 99; Pallasch/Kölln 1987, 22f). Das bedeutet auch, dass die Klienten jeweils diejenigen sind, die die Gültigkeit einer Aussage beurteilen – auch wenn Erwartungen und professionsgebundene Zielvorstellungen der Beratenden den Gesprächsverlauf steuern. Gemeinsam hat die klientenzentrierte Gesprächsführung v.a. mit problemzentrierten Interviews die Prozesshaftigkeit: Das Interview/Gespräch wird als ein Prozess einer „(gemeinsamen) Arbeit“ verstanden (für problemzentrierte Interviews: Witzel 1982, 43 mit Bezug auf Cicourel; für Gesprächsführung: z.B. Weinberger 1998, 35), in deren Verlauf „zunehmend Gefühle und Erfahrungen bewusst werden, die in der Vergangenheit nicht zugänglich oder nur verzerrt wahrnehmbar waren“ (a.a.O., 31). Das Verhalten von Interviewenden bzw. Beratenden ist darauf zugeschnitten, diesen Prozess zu fördern; beide lassen daher Interventionen zu wie z.B. die Konfrontation mit Widersprüchen, das Wiederholen des vom Klienten/Befragten Gesagten mit eigenen Worten („spiegeln“). Dabei wird über das bereits Geäußerte hinausgegangen, indem zusätzliche Aspekte, von denen vermutet wird, dass sie mit dem Erleben des Befragten/Klienten in Verbindung stehen, von den Gesprächsführenden eingebracht werden. Dennoch gibt es auch hier eine auch aus forschungsethischen Gründen strikt einzuhaltende Grenze zwischen Beratung und Interview: Eine Erzählperson muss Klarheit haben, ob sie Hilfe erfährt oder Informantin ist, und es muss 8
Es gibt auch die methodische Möglichkeit, Protokolle von Beratungsgesprächen als Datenmaterial qualitativ auszuwerten. Dann handelt es sich aber bei der Erhebungssituation nicht um ein qualitatives Interview.
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vorab ein Einverständnis gegeben sein, welche Thematisierungswiderstände in einem Interview hinterfragt werden und welche Tiefenschichten von Gefühlen im Interview Thema sein sollen. Die teils prinzipiellen, teils graduellen Unterschiede zwischen Beratungsgespräch und qualitativem Interview sind: –
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In der Beratung sind professionelle Zieldefinitionen im Sinne von gemeinsam festgelegten Veränderungszielen vorgegeben wie z.B. Selbstoder Beziehungsklärung, Hilfe bei der Verarbeitung belastender Ereignisse oder beim Treffen von Entscheidungen; das Ziel bei einem Interview ist das Erzeugen von Texten für ein wissenschaftliches Interesse. Bei Beratung dient die Gesprächs-“Führung“ der Erreichung der Ziele durch ein Hinführen der Klienten Schritt für Schritt. Eine diesbezügliche Zurückhaltung der Beratenden wäre für Klienten mehr als verwirrend. Die Situationsdefinitionen sind unterschiedlich und damit der Auftrag (Heilung und Hilfe zur Selbstklärung versus Sozialforschung), das Setting (Vereinbarungen, zeitlicher Rahmen, Bezahlung), die Motivation der Erzählperson (Hilfe bei eigenem Leidensdruck oder Selbstdarstellung im Dienste der Wissenschaft). Insbesondere ist Beratung in der Regel ein Prozess, bei dem in einer bzw. in der folgenden Sitzung das aufgearbeitet werden kann, was emotional aufgerührt worden ist. Bei einem Interview ist dies nicht der Fall. Weder ist das Setting darauf angelegt, noch haben Interviewende in der Regel Beratungs-Kompetenzen. In der Beratung werden die Äußerungen der Klienten im Rahmen des professionellen Bezugssystems der Beratenden interpretiert; bei einigen qualitativen Interviewformen stellen die Interviewenden ihr Bezugssystem, den Grundannahmen folgend, zurück. Die affektive Ebene steht bei Beratung im Vordergrund; es geht um ein „einfühlendes Verstehen“. Die Gefühle der Klienten sind aufzugreifen und verbalisierend zu „spiegeln“, emotionale Entlastung und Stützung sind wichtig. Insbesondere funktioniert klientenzentrierte Gesprächsführung wie Therapie auf der Basis einer personalen Beziehung, bei der sich die Beratenden authentisch und „echt“ als Personen einbringen. In qualitativen Interviews kann es das Erzählverhalten in einer nicht gewünschten Weise beeinflussen, wenn Interviewende sich mit ihren Gefühlen „authentisch“ einbringen, während umgekehrt die sachliche Situationsdefinition „Dies ist ein Interview und ich bin hier als Interviewerin“ im Rahmen der klientenzentrierten Gesprächsführung als „Verstecken hinter einer Rolle“ nicht dem professionellen Standard der „Echtheit“ entspricht.
Was die Intervieweranforderungen angeht, so sind für problemzentrierte Interviews bestimmte Kompetenzen in Gesprächsführung sehr brauchbar. Deutlich muss aber auch sein, dass es nicht um eine „Arbeit“ auf emotionaler Ebene, eine personale Beziehung und eine Situationsdeutung bzw. eine Verstehensleistung innerhalb des professionellen Bezugssystems psychosozialer Hilfen gehen kann. Hier ist gerade die Fähigkeit zum Verzicht auf beratungsrelevante Interventionen und eine Zurückhaltung als Interviewende zentral. 50
QUALITATIVE INTERVIEWS BERATUNGSGESPRÄCH ÆÆ
KlientenZentrierte Beratung
Dialogisch
ÆÆ Monologisch
problemzentriertes Interview
z.B. narratives Interview
POL Erzähltes „stehen lassen“
POL „Gemeinsames Erarbeiten“ von Sichtweisen, Lösungen etc.
Übersicht 5: Nähe unterschiedlicher qualitativer Interviewformen zum Beratungsgespräch
Wie bei Übersicht 4 werden hier unterschiedliche Kommunikationsformen zwischen zwei Polen in ein Kontinuum eingeordnet. Das problemzentrierte Interview ist unter den qualitativen Interviewformen am weitesten in Richtung „Gemeinsames Erarbeiten“ angesiedelt und ähnelt im Vorgehen der klientenzentrierten Gesprächsführung. Der Doppelstrich markiert aber die Trennung zwischen Beratungs- und Interviewkommunikation.
1.5 Intervieweranforderungen, Schulungsziele und -bausteine Eine grundsätzliche Anforderung an Interviewende besteht darin, den Interviewverlauf als einen Kommunikations- und Interaktionsprozess mit bewussten, kontrollierten und verabredeten Signalen so handhaben zu können, dass die Kommunikation gefördert und das jeweilige Interviewziel erreicht wird. Zielgröße ist das Prinzip der Offenheit, d.h. unabhängig vom Interviewtypus ist eine Haltung zu erlernen, die dem Gegenüber Raum für die Entfaltung seiner oder ihrer Sichtweise einräumt, sei es eine Haltung „gleichschwebender Aufmerksamkeit“, eine ethnomethodologische Haltung der „Indifferenz“ und/oder die bewusste und kontrollierte Steuerung der Interviewkommunikation und -interaktion dort, wo diese Interventionen notwendig sind. In diesem Sinne fasst Maindok die Anforderungen zusammen als „Wissen über Regeln der Verständigung und die strategische Handhabung dieser Regeln“ (Maindok 2003, 14). Die Klärung der Unterschiede zwischen Interviewformen führte insofern weiter, als damit jeweils spezifische Akzentsetzungen verbunden sind – die verlangten Kompetenzen werden für die einzelnen Interviewformen damit 51
präzisierbarer. Das entschärft das „Dilemma“ (Hermanns 2000, 361; Hopf 1978, 107) der Interviewenden, die in der Interviewsituation viele, auch eigentlich unvereinbare Aufgaben erfüllen sollen, z.B. offen sein und steuern, Vertrautheit signalisieren und Distanz wahren. Es bleibt aber ein Balanceakt, mit dem Interviewende umzugehen lernen müssen. Das allgemeine Ziel kann heruntergebrochen werden auf die Aspekte: –
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– –
Wissen über die relevanten Unterschiede zwischen Interviewformen und Klärung der Erwartungen an Interviewende, Wissen über Aspekte des Erzählens, des Fragens und der Interaktionsdynamik im wechselseitigen Verstehens- und Verständigungsprozess; Sensibilisierung für die Perspektive von Erzählpersonen und für die bewusste Wahrnehmung und Einordnung des Interviews als Kommunikations- und Interaktionsprozess; Fähigkeit zur Selbstreflexion, d.h. zur Reflexion von eigenen Erwartungen an die Interviewsituation, von eigenen Aufmerksamkeitshaltungen, Eigenheiten des persönlichen Fragestils und der Formen, soziale Beziehungen (z.B. auch im Interview) zu gestalten; Fähigkeit zur Zurückstellung bzw. Kontrolle eigener Ansichten, zur Offenheit, Fähigkeit zur Übernahme einer Fremdheitsperspektive; Fähigkeit zum angemessenen Handeln in der Interviewsituation: Fähigkeit zum „aktiven Zuhören“, Kompetenzen zur Handhabung einer nonverbalen und verbalen Steuerung, Fähigkeit zur bewussten Gestaltung von Interaktionsprozessen z.B. bei der Rollenzuweisung oder bei der Handhabung einer möglicherweise schwierigen Interviewdynamik.
Die Basiskompetenzen werden in drei Zugängen vermittelt: über die Kenntnis der Rolle der Erzählperson, über eine Reflexion der Rolle von Interviewenden und auf der Ebene der Interview-Interaktion; am Ende werden technische Aspekte der Intervieweröffnung, der Umgang mit den Regelungen des Datenschutzes etc. vermittelt. Über Basiskompetenzen hinaus lassen sich die Unterschiede zwischen den beiden Grundakzenten der hier betrachteten Interviewformen – monologische und teilmonologische Kommunikation einerseits, Kommunikation als gemeinsame Arbeit andererseits9 – in differente Anforderungsprofile für Interviewende umsetzen. Die wichtigsten Differenzierungen sind: –
Je mehr Interviews darauf setzen, ohne Interviewerinterventionen monologisches Rederecht zu vergeben und Äußerungen als subjektive und situative Wahrheit der Erzählperson zu akzeptieren (narrative Variante), desto mehr sind als Kompetenzen zu gewichten: Sensibilisierung, Fähigkeiten zur Zurückstellung des eigenen Vorwissens, zur Übernahme einer Fremdheitsperspektive und zum Aushalten von Widersprüchen und Un-
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Das Kommunikationsmuster „Interview als offenes Gespräch“ wird nur am Rande behandelt, s.u.
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–
klarheiten, Handlungskompetenzen zur nonverbalen Steuerung der Erzählung und der Interviewdynamik und zur Aufrechterhaltung des Erzählflusses. Je mehr Interviews dialogisch orientiert sind und gemeinsam mit den Befragten an „genügenden“ Äußerungen „arbeiten“ (problemzentrierte Variante), desto mehr stehen die Reflexion und Kontrolle des eigenen Vorwissens und der eigenen Bewertungsmaßstäbe (Wahrheitskriterien), das Beherrschen der „Kunst des Fragens“ und die Fähigkeit, verbal eine stützende Beziehung herzustellen, im Vordergrund.
Mit dieser Breite werden auch alle Formen von Leitfaden-Interviews, das fokussierte Interview und Mischformen abgedeckt. Auch Forschungsvorhaben mit ethnografischen Interviews können von dem Manual bzw. einer Schulung insofern profitieren, als für alle Verfahren hilfreiche Basiskompetenzen vermittelt werden. Dennoch ergeben sich für diese Interviews so viele Besonderheiten, angefangen vom Feldzugang über die Bedeutung der „natürlichen“ Interviewsituation und die Kombination von starkem Engagement der Interviewenden bei gleichzeitigem Verzicht auf Strukturierungen, dass auf entsprechende weiterführende Literatur verwiesen und der Fokus des Manuals enger begrenzt werden muss. Die folgende Übersicht konkretisiert, welche Bereiche von Interviewenden kompetent beherrscht werden müssen (Stichworte, die mittig stehen, gelten für alle Formen von Interviews):
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Übersicht 6: Anforderungen an Interviewende Kommunikationsmuster Monologisch
dialogisch
Technische Kompetenz Angemessene Absprachen mit Erzählpersonen treffen, Rahmen herstellen, Eröffnung des Interviews etc. Interaktive Kompetenz: Aufmerksamkeit und Steuerung („Öffnung der Bühne“: Einführung der Rollen, Klärung der Erwartungen) „Gleichschwebende Aufmerksamkeit“, „Fremdheitsannahme“ (aktives) Zuhören Herstellen eines „Rapport“ – einer Atmosphäre von Vertrauen und Sicherheit Aufrechterhaltung der Beziehung ohne Frage-Intervention Moment des Nachfragens finden/nutzen Frageformen kennen, adäquate Frageformulierung finden Eigenen Fragestil vergegenwärtigen und kontrollieren Beherrschung nonverbaler Signale von Interesse, Aushalten können von Pausen Selbstreflexion und Wahrnehmung der eigenen Reaktionen richtige „Dosierung von Empathie“ Kommunikationstheoretisches Wissen Wissen über Erzählstrategien Wissen über Dialog-Signale Fähigkeit zum Aushandeln der Rollen und Herstellen einer produktiven Machtbalance und Kooperation Angemessenes Verhalten in schwierigen Interviewsituationen Umgang mit Vorwissen Zurückstellung des eigenen Vorwissens Hohe Vertrautheit mit der Forschungsfrage, Explizieren des eigenen Vorwissens Fähigkeit, das Vorwissen zu revidieren Umgang mit der eigenen selektiven Aufmerksamkeit und eigenen Erwartungen Interviewende müssen ihnen Unverständliches stehen lassen können Interviewende müssen am Verstehen arbeiten Friebertshäuser 1997, 377; Flick 1996, 121; Hoff 1985, 167; Witzel 1982, 91; Hermanns 2000; Maindok 2003
In den einzelnen Übungen sind die jeweiligen Lernziele und die Eignung allgemein (Basiskompetenz) oder für eine spezifische Interviewform ausgewiesen.
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2 Übungsteil I: Erwartungen an die Erzählperson und Erzählstrategien
Das Manual besteht aus praktischen Übungen, ergänzt um theoretische Vertiefungen, Forschungsbeispiele und Materialien. Die Übungen sind z.B. als Gruppendiskussionen, Rollenspiele oder Einzelübungen konzipiert; empfohlen wird jeweils ein Austausch in der Gruppe oder eine Selbstreflexion am Ende der Einheit. Die theoretischen Vertiefungen liefern in aller Kürze und Spezialisierung notwendiges Basiswissen, das in die praktischen Übungen eingeht, und/oder sie dienen der theoretischen Verortung der Lerninhalte in der methodologischen Diskussion. Ihre praktische Bedeutung für die Schulung hängt stark davon ab, in welchem Maß die Teilnehmenden über das verlangte Maß an Vorkenntnissen hinaus über Wissen und Erfahrungen verfügen. Bei Seminaren sollte die Möglichkeit der Weiterführung durch die angegebene Literatur genutzt werden. Die Forschungsbeispiele stammen überwiegend aus den Forschungen von SoFFI F. Genauere Angaben zu den Projekten sind in → Abschnitt 6.5 zusammengestellt. Die folgenden Übungen mitsamt Kommentierungen und Forschungsbeispielen bauen aufeinander auf. Bei einer Schulung oder einem Selbststudium sollte diese bewährte Reihenfolge eingehalten werden. Wer gleich zu Beginn mit den praktischen Fragen z.B. zur Situationsgestaltung oder Aufnahmetechnik beginnen möchte, ist entweder bereits qualifiziert genug oder zu ungeduldig: Qualitative Interviewführung ist zuletzt (im Sinne der Reihenfolge) eine technisch-praktische Frage. Die besondere Qualität verdankt sich einer grundsätzlichen Haltung der Offenheit und einer Sensibilisierung – qualitative Interviews sind eben in erster Linie eine spezifische Form der Kommunikation. Auf die technischen Fragen wird ausführlich in → Kapitel 5 bzw. entsprechend: am Ende der Schulung eingegangen. Für den Vorschlag einer dreitägigen Schulung (→ Abschnitt 6.1) wurde eine Auswahl getroffen. Für das ganze Pensum, das in dem Manual angeboten wird, wäre eine entsprechend längere Zeit einzuplanen. Da bei den Übungen jeweils die Übungsziele vermerkt sind, ist es recht einfach, sich für eine spezialisierten Nutzung (→ Einführung) auf diejenigen Übungen zu konzentrieren, die für die gewählte Interviewform oder angesichts der persönlich Defizite am wichtigsten sind. 55
Für Schulungen kann das Manual als Begleitmaterial dienen, für das Selbststudium oder für Lerngruppen als Lernanleitung. Dem Lernen in einer Gruppe, und wenn es nur eine Zweiergruppe ist, ist dabei der Vorzug zu geben: Man kann von den Erfahrungen des oder der Anderen lernen und eine direkte Rückmeldung für die eigenen Erprobungen bekommen. Technische Hinweise – Bei den Übungen sind jeweils die erforderliche Vorbereitung, das Lernziel und die Vermittlungsform sowie die zu veranschlagende Zeit angegeben. Die Zeitangaben beziehen sich auf eine Gruppe von etwa 5 bis 6 Personen. Bei mehr Personen muss entweder die Leitung gestrafft oder mehr Zeit eingeplant werden. Je nach Leitungsstil wird mehr oder weniger Zeit benötigt – es handelt sich bei den Angaben also nur um grobe Anhaltspunkte. In jedem Fall sind zwischen den einzelnen Übungen genügend „Puffer“ für Überleitungen und spontane Rückmeldungen einzuplanen. – Einige Übungen tragen den Vermerk „Hausaufgaben“. Dabei handelt es sich um „Aufträge“, die in der Alltagskommunikation außerhalb der Schulung erprobt werden können. Diese Anwendungen sind generell sehr empfehlenswert: Eine experimentell veränderte Alltagskommunikation ist in der Regel Quelle für viele überraschende Lerneffekte. Doch sind hier ethische Grenzen zu wahren und bei einem stärkeren Einbezug der Kommunikationspartner oder –partnerinnen sind diese über den Kontext zu informieren. – Mehrere Übungen werden in einer Konstellation durchgeführt, die häufig in Übungen der Gesprächsführung Anwendung findet (ausführlicher z.B. Weinberger 1998, 122f): Kleingruppen werden aus drei Personen gebildet. Person A übernimmt die Rolle der Erzählenden (bzw. des Klienten, der Klientin), Person B die Rolle der interviewenden (bzw. beratenden) Person, die dritte Person C beobachtet und macht sich Notizen. Bei dieser Schulung für qualitative Interviews ist die Rolle der Beobachtenden meist verzichtbar, so dass Zweier-Gruppen ausreichen (die Größe der Kleingruppen sollte nach der Größe der Schulungsgruppe entschieden werden). A und B führen eine Gesprächsaufgabe durch. Die Rollen werden gewechselt, so dass jede Person jede Rolle einmal innegehabt hat. Nachdem auf diese Weise die Aufgabe zwei- bzw. dreimal durchgespielt wurde, geben sich alle gegenseitig Rückmeldung, wie sie sich selbst und die anderen als Interviewende oder als Erzählperson erlebt haben. Für einige Rollenspiele wird die Gesamtgruppe in Kleingruppen aufgeteilt, bei anderen spielen zwei Akteure im Kreis der Gruppe. Die anderen Gruppenmitglieder haben die Aufgabe, bestimmte Aspekte zu beobachten (inhaltlicher Art oder es wird aufgeteilt, wer die Erzählperson und wer die interviewende Person beobachtet) und sich ev. Notizen zu machen. Sie teilen ihre Beobachtungen mit, nachdem die Spieler sich gegenseitig Rückmeldung gegeben haben. Die Übungs-Rollenspiele sollten jeweils auf Tonband aufgenommen werden, so dass einzelne Passagen noch einmal auf Band abgehört werden können. Bei einzelnen Themen empfiehlt sich eine Videoaufnahme (zum Rollenspiel im Interview-Training: Kahn/Cannell 1967, 237ff). – Bei Gruppenübungen werden Hinweise gegeben, wie beim Einzelstudium, wenn auf keine Gruppe zurückgegriffen werden kann, zu verfahren ist. Wird kein Hinweis gegeben, so lässt sich die Übung direkt übertragen. Mitunter wird angeraten, sich einen Partner oder eine Partnerin zu suchen. Die Übungen sind so angelegt, dass dies auch eine fachfremde Person aus dem Freundes- oder Bekanntenkreis sein kann – sie lassen sich jeweils mit wenigen Worten auch Personen erklären, die nicht mit der Materie vertraut sind.
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– Sofern in den Rollenspielen für die gespielten Interviews private Themen der Teilnehmenden gewählt werden, ist vorab mit allen Teilnehmenden Vertraulichkeit zu vereinbaren – wie später für die „realen“ Interviews und die Auswertungen auch. – Da die Forschungsbeispiele nicht zu Auswertungszwecken dargestellt werden, wird eine einfache Transkription verwendet, die nur starke Betonungen wiedergibt und die Wortstellungen beibehält. Die Interpunktionszeichen Punkt und Komma zeigen gesprochene Satzgliederungen an. Sie fehlen entsprechend, wenn „ohne Punkt und Komma“ gesprochen wurde. Die wichtigsten parasprachlichen Merkmale werden in Klammern eingefügt, Pausen werden mit Gedankenstrichen angezeigt, ein Ausklingen mit drei Punkten.
Der Einstieg Sofern es sich um eine Schulung im Kontext konkreter Forschung(en) handelt, sollte in einem ersten Schritt auf das Forschungsprojekt oder die Projekte Bezug genommen werden. Festgehalten werden sollte, welche Forschungsentscheidungen schon getroffen wurden und was sie beinhalten bzw. welche Entscheidungen noch offen sind. Wie ist der Forschungsgegenstand näher bestimmt? Welche Interviewform wurde warum gewählt? Welche Positionierungen bei den Rollen von interviewender Person und Erzählperson wurden schon festgelegt? Die in → Abschnitt 1.2 vermittelten Unterschiede und die Liste von zu treffenden Entscheidungen in → Abschnitt 5.1 liefern Anhaltspunkte. Dieser Einstieg kann die Form der Vorstellung eines fertig konzipierten Forschungsprojektes haben oder die Form einer Vergegenwärtigung, welche Entscheidungen noch zu treffen sind. Obwohl oder gerade weil es um die Kompetenzen und die Haltung der Interviewenden geht, beginnt der Übungsteil mit einer Auseinandersetzung mit den Erzählpersonen. Es geht darum, sich der eigenen Erwartungen an die Erzählenden bewusst zu werden (→ Abschnitt 2.1) und die Interviewsituation aus Sicht der Erzählenden nachzuvollziehen (→ Abschnitte 2.2 und 2.3). Die Kenntnis von Erzählstrategien hilft, sprachliche Signale einordnen und angemessen darauf reagieren zu können (→ Abschnitt 2.4). Aus der Erzählerperspektive wird auch deutlich, dass es nicht um „die Wahrheit schlechthin“ gehen kann (→ Abschnitt 2.5). In → Abschnitt 2.6 wird das „Prinzip Kommunikation“ theoretisch vertieft. Das Kapitel endet mit einer Bilanz (→ Abschnitt 2.7). Als weiterführende Literatur wird das Buch von Lucius-Hoene/Deppermann (2002) empfohlen. Dort geht es zwar um die Auswertung narrativer Interviews bezogen auf die Rekonstruktion „narrativer Identität“. Es wird aber mit einer großen Genauigkeit vorgestellt, welche sinnhafte Bedeutung auch kleinformatigere sprachliche bzw. Textmerkmale in der kommunikativen Situation des Interviews haben. Dieses für qualitative Interviews notwendige kommunikationstheoretische Wissen hilft, die Bedeutung sprachlicher Details zu identifizieren sowie die Konsequenzen eigener Interventionen einzuschätzen. 57
2.1 Erwartungen an die Erzählperson Verstehen geschieht von der Basis des eigenen Relevanzsystems aus – auch wenn im Forschungsprozess dieser Ausgangspunkt durch neues Verstehen stets aufs Neue zirkulär erweitert wird, besteht immer die implizite Erwartung, dass die Erzählperson bereits Bekanntes bzw. das theoretische Vorwissen bestätigt. Weitere Erwartungen betreffen das Einhalten der Basisregeln der Kommunikation und anderer Thematisierungsregeln. Ebenso implizit ist meist die Erwartung, die Erzählperson möge sich nicht nur als gesprächig und erzählkompetent erweisen, sondern auch Erzählungen in der von der spezifischen Interviewmethode erwünschten Form produzieren, alle relevanten und keine irrelevanten Aspekte ansprechen und – bei einem biografischen oder Leitfaden-Interview – auch noch in der „richtigen“ Reihenfolge. Das Entscheidende an qualitativen Interviews ist, sich dieser Erwartungen bewusst zu werden und vor allem bereit zu sein, dem bisher Gekannten widersprechende, irritierende und neue Äußerungen aufzugreifen. Erst wenn das der Fall ist, ist für die Erzählperson der Raum für ihre eigene Darstellung tatsächlich geöffnet (auf Verabredungen, wie mit bestimmten Fällen von „nicht erwartetem“ Erzählverhalten umgegangen werden kann, wird in → Kapitel 4 eingegangen; hier geht es zunächst nur um eine Sensibilisierung und Reflexion). Forschungsbeispiel 2: Implizite Forschungsannahmen und Erwartungen – Eine implizite Prämisse qualitativer Einzelinterviews ist es, dass das Erzählen über sich selbst eine sinnvolle Tätigkeit ist. Die Interviewform lenkt die Aufmerksamkeit auf das Individuelle und Besondere. Nicht alle Kulturen und Befragten teilen diese Prämisse. – Fragestellungen setzen oft eine Problemdefinition voraus (z.B. Behinderung, Übergang von der Schule in den Beruf, Alkoholabhängigkeit als Problem). Es kommt vor, dass Befragte aus verschiedenen Gründen diese Problem-Sicht nicht teilen. – In einem biografisch angelegten Interviewprojekt wurden die Gemeinsamkeiten von Kontrazeption und HIV-Prävention untersucht. Die Aufforderung, die Biografie unter dem Aspekt der Partnerschaften und Verhütung zu erzählen und dabei die Bedeutung z.B. von Kondomen zur HIV-Prävention einzuflechten, schlug fehl: In der subjektiven Sicht der Befragten war kein logischer Zusammenhang, so wie er sich für die Forschenden darstellte, repräsentiert. Die Erzählaufforderung wurde nach den Probeinterviews geändert. – Bei narrativen Interviews (nach Schütze) wird in der Haupterzählungsphase die Produktion einer Erzählung eines Verlaufs erwartet. Nicht gewünscht werden allgemein gehaltene Begründungen oder Beschreibungen von Zuständen und Handlungsroutinen.
Erwartungen, insbesondere implizite Erwartungen, werden vor allem dann deutlich, wenn sie verletzt werden; umgekehrt weisen Verletzungen der Erwartungen darauf hin, dass die eigenen Prämissen nicht die subjektive Sichtweise der Befragten treffen (weitere Beispiele, wie Prämissen v.a. als Teile professioneller Deutungsmuster Fragestile prägen: → Abschnitt 3.5). 58
Forschungsbeispiel 3:
Verletzte Erwartungen bezogen auf Kommunikationsregeln
Für eine Diplomarbeit wurden wohnungslose Frauen um eine Erzählung ihrer Wohnbiografie gebeten. Die Interviewerin wusste aus diffusen Hintergrundsinformationen von Gewalterfahrungen der Frauen in der offenen Straßenszene. In der biografischen Erzählung einer Frau kam wenig davon vor. Wenn es um das Leben auf der Straße ging, hieß es: „Wir sind alle Freunde“ und diese Darstellung wurde auch gegen alle vorsichtigen Versuche einer Problematisierung durchgehalten. Interviews mit wohnungslosen Frauen zu ihrer „Wohnbiografie“: Hägele 1994
Verletzt werden in dem Beispiel die Erwartung der Aufrichtigkeit und die aufgrund des Vorwissens um Gewalterfahrungen gebildete Erwartung, dass darüber berichtet werden wird. Prinzipiell wird eine „Offenheits“-Erwartung an die Befragten herangetragen. Dies beinhaltet die Erwartung, dass die Erzählperson ihr Relevanzsystem offen legt, dass sie dies vollumfänglich will, dass sie dies kann und vielleicht auch: dass sie dazu verpflichtet sei, wenn sie sich schon für ein Interview bereit erklärt hat. Weitere Kommunikationsregeln lassen sich in Anlehnung an die „Zugzwänge“ des Erzählens nach Schütze (1976) formulieren: Eine Erzählperson, die in der Erzählung so springt, dass eine diffuse Erzählstruktur ohne feststellbare Relevanzen entsteht, verletzt den „Kondensierungszwang“; ein Unterschlagen von Details und Hintergrundinformationen, so dass die interviewende Person keine plausiblen Zusammenhänge herstellen und nachvollziehen kann, verletzt den „Detaillierungszwang“; eine Darstellung ohne den Ausweis, wie sich Erzählelemente aufeinander beziehen, verletzt den „Gestaltschließungszwang“. Generell ist Kommunikation auf Verständigung gerichtet und daher wird erwartet, dass die Erzählperson sich verständlich macht bzw. machen will und keine sich widersprechenden oder unlogischen Aussagen produziert. Das Thema „Erwartungen“ wird später noch in anderen Zusammenhängen aufgegriffen. Zunächst geht es nur darum, sich darüber Rechenschaft abzulegen, dass Erwartungen an die Erzählperson regulärer Bestandteil jeder Erhebungssituation sind, um letztlich gefasst darauf zu sein, dass diese Erwartungen verletzt werden können. Offen kann man nur sein, wenn man sich mit der Möglichkeit der Irritation auseinander gesetzt hat. In den nächsten Abschnitten wird das, was aus Interviewerperspektive irritieren kann, aus der Perspektive der Erzählenden durchaus logisch nachvollziehbar.
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Übung 1: Was bringe ich mit an Erwartungen an die Erzählperson? Vorbereitung: Das Forschungsbeispiel 3 als Handout oder Papier zum Vorlesen. Kategorie: Basiskompetenz; Ziel: Vergegenwärtigen der eigenen Erwartungen bezogen auf Offenheit der Erzählperson Reflexion, Einzelarbeit; Zeit: 5 Min.; keine gemeinsame Auswertung Die Teilnehmenden werden aufgefordert: Bitte versetzen Sie sich in die Situation der Interviewerin aus Forschungsbeispiel 3 und notieren Sie sich Stichworte: – Wie hätten Sie sich als Interviewerin gefühlt? – Gesetzt den Fall, dass die Befragte bei Nachfragen während oder nach der (Haupt-)Erzählung bei ihrer Version bleibt, was schließen Sie daraus? Für die folgende Frage sollen sich die Teilnehmenden zudem Stichworte notieren. Eine Hilfe für die Beantwortung: Implizite Annahmen und selbstverständliche Regeln werden oft erst dann bewusst, wenn sie verletzt werden, daher können sich die Teilnehmenden auch vorstellen, was sie an der Art und Weise, wie eine Erzählperson spricht und was sie inhaltlich sagt, verwirren würde. – Was erwarte ich bezogen auf Kommunikationsverhalten? Welche Position habe ich selbst bezogen darauf, dass eine Erzählperson die Offenheit des Raumes nutzt, um etwas nicht zu erzählen, also zu verbergen?
2.2 Die Interviewsituation aus unterschiedlichen Perspektiven Es wird zunächst eine einfache Einstiegs-Übung vorgeschlagen, die in unseren Interview-Schulungen jeweils eine zentrale Rolle spielte. Die Übung vermittelt Einsichten darüber, was es heißt, eine Erzählung zu produzieren bzw. mit der Erwartung konfrontiert zu sein, eine Erzählung zu produzieren. Sie vermittelt darüber hinaus Einsichten in die Rolle der Interviewenden und in die Bedeutung der Rahmenbedingungen, daher wird auch in späteren Abschnitten darauf Bezug genommen. Übung 2: Produktion einer Erzählung nachvollziehen Vorbereitung: Aufnahmegeräte, Flipchart bzw. Tafel, Stifte, Wecker, Zettel mit Einführungsworten für die simulierte Interviewsituation und mit dem Einstiegs-Erzählstimulus; für die spätere Reflexion Handout: Übersicht 6 als Übersicht über Determinanten der Interviewsituation Kategorie: Basiskompetenz; Ziel: Grundlage für folgende Übungen; hier zunächst: Reflexion der Situation der Erzählperson, Nachvollziehen der Eingangssituation beim Erzeugen eines Textes in einer offenen Situation, Sensibilisierung für die Komplexität der Erzeugung einer spezifischen Version einer Erzählung
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Arbeit in Zweiergruppen, anschließend Austausch in der Gruppe; Zeit: Je nach Gruppengröße und Ausführlichkeit der zugelassenen Diskussion 30 Min. bis 1 Std. Bei dem Stimulus kann es sich – muss aber nicht – um eine Frage aus dem Bereich des Forschungsprojektes handeln. Der Stimulus muss nur maximal offen sein (z.B. „Erzählen Sie mir, wie Sie aufgewachsen sind.“ oder „Erzählen Sie mir über die Bedeutung von Arbeit in Ihrem Leben.“), um möglichst viele Erzählanfänge und -varianten zuzulassen. Der Vortext enthält einige einführende Worte und einen Hinweis, dass die Erzählperson einfach erzählen soll und keine Fragen gestellt werden. Anleitung Die Teilnehmenden teilen sich in Zweiergruppen auf. Sie bekommen jeweils ein Aufnahmegerät mit Mikrophon. Sie haben folgende Aufgabe: „Sie simulieren eine reale Interview-Situation. Bitte legen sie fest, wer zuerst die Rolle der Interviewer(in) hat und wer interviewt wird. Nach exakt fünf Minuten wird gewechselt. Die Situation: Die Erzählperson hat sich bereit erklärt, sich für das Projekt interviewen zu lassen. Es ist zu einer Verabredung gekommen und nun soll das Interview beginnen. Die Erzählperson ist über das Thema informiert und weiß auch, dass für das Gesamtinterview etwa eine dreiviertel Stunde veranschlagt ist und dass sie vor allem frei erzählen soll. Sie ist bereitwillig. Das Interview findet an dem Ort statt, wo auch die Schulung stattfindet. Thema der Forschung ist ……………… Es handelt sich um ein sehr offenes, aber nicht rein narratives Interview. Es geht bei der Übung darum, dass Sie ausprobieren, wie es ist zu interviewen, bzw. wie es ist, unter der Bedingung maximaler Offenheit eine Erzählung zu produzieren. Bitte stellen Sie am Anfang den Vortext und den Erzählstimulus vor und dann ist die Erzählperson an der Reihe.“ Die Einstiegspassagen werden auf Band aufgenommen. Nach der Gruppenarbeit mit zweimal fünf Minuten findet ein Austausch in der Gesamtgruppe unter den Fragestellungen statt, die die Moderation der Reihe nach durchgeht und dabei die Stichworte der Teilnehmenden auf einem Flipchart sammelt: 1. Wie ging es Ihnen in der Rolle des bzw. der Interviewenden? 2. Wie ging es Ihnen als Interviewten/Erzählperson? 3. Was ging in Ihnen als Interviewten vor in der kurzen Zeitspanne zwischen dem Hören der Frage und dem Beginn Ihrer Erzählung? 4. Haben Sie als Interviewte „die Wahrheit“ gesagt? Sind Notizen zu diesen vier Fragen zusammen getragen, schließt eine weitere Frage an: 5. Hätten Sie die Geschichte in einem anderen Zusammenhang anders erzählt (z.B. einer Freundin abends in der Kneipe)? Welche Faktoren gehen in die Erzeugung dieser spezifischen Version ein? Während die ersten vier Fragen später wieder aufgegriffen werden, so dass es hier reicht, die Notizen zu sammeln, kann Frage 5 ausführlicher gemeinsam diskutiert werden. Für den zweiten Teil der Frage 5 werden ebenfalls Stichworte auf einem Flipchart gesammelt, geordnet in Aspekte auf Seiten der Erzählperson, Aspekte auf Seiten der Interviewenden, Aspekte der Beziehung zwischen Erzählperson und Interviewenden und Aspekte der Situation, entsprechend der Anordnung in Übersicht 6.
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Die Übung kann mit einem Fazit beendet werden. Im weiteren Verlauf der Schulung werden in unterschiedlichen Zusammenhängen die Fragen 1 bis 4 wieder aufgegriffen. Auf die Bandaufnahmen wird später zurückgegriffen (z.B. in Übung 4). Zum Anwendungsbereich für unterschiedliche Interviewformen: Diese Übung eignet sich als allgemeine Sensibilisierungsübung für alle Formen von qualitativen Interviews. Auch Interviews mit einem stärker strukturierenden Leitfaden sollten den maximal offenen Stimulus für die Übung wählen. Es geht nicht darum, den Leitfaden zu testen, sondern die Bedingung der Offenheit aus der Perspektive der Erzählperson nachvollziehen zu können. Zum Selbststudium: Suchen Sie sich einen Partner oder eine Partnerin und spielen Sie den Interviewanfang entsprechend durch. Bitten Sie den Partner bzw. die Partnerin, sich einen offenen Stimulus für Sie auszudenken. Gehen Sie anschließend die Fragen durch und notieren Sie sich die Stichworte. Lesen Sie die unten stehenden Moderationshinweise jeweils im Zusammenhang mit den jeweils angegebenen weiterführenden Abschnitten.
Die Stichworte, die sich auf die Fragen 1 bis 5 hin ergeben haben, können abgeglichen werden mit unseren Schulungserfahrungen: Zu Frage 1: Wie ging es Ihnen in der Rolle des bzw. der Interviewenden? Je nach Erfahrung mit Interview- oder Gesprächsführung kommen hier eine Reihe von Schwierigkeiten zur Sprache, wie z.B. die Schwierigkeit, den Erzählfluss anzuregen, Angst, bei der Verfolgung des Forschungsinteresses zu zudringlich zu sein und das Unterdrücken des spontanen Impulses, an Anschlussstellen von sich zu erzählen („So ging es mir ja auch“, „Das kenne ich“). Weitere mögliche Rückmeldungen können die gestellte Aufgabe betreffen, z.B. Unklarheit, was die Steuerung des Tempos angeht, und Fragen, wie mit Pausen umzugehen ist. Diese Rolle der Interviewenden und diese Aspekte werden in → Kapitel 3 aufgegriffen. Zu Frage 2 und 3: Wie ging es Ihnen als Interviewten? Was ging in Ihnen als Interviewten vor in der kurzen Zeitspanne zwischen dem Hören der Frage und dem Beginn Ihrer Erzählung? Die Antworten folgen zwei Grundmustern: Während die einen in der Rolle der Erzählperson den Raum, der durch die offene Erzählaufforderung geöffnet wurde, nutzen und es ihnen entgegenkommt, dass sie endlich erzählen dürfen und jemand ihnen zuhören muss, fühlen andere sich nicht wohl mit der offenen Einstiegsfrage. Ein weiteres häufig genanntes Stichwort ist die Sorge: Kann ich mich verständlich machen? Frage 3 bildet vor allem ab, dass spontan und unter Zeitdruck Entscheidungen getroffen werden müssen. Typische Stichworte sind „Ich musste sortieren“, „Ich musste gewichten“ (nach Wichtigkeit, nach Intimität etc.), „Was erzähle ich, was nicht?“, „Was will die Interviewerin wissen?“ Diese Aspekte werden anschließend in den → Abschnitten 2.3 und 2.4 vertieft. 62
Zu Frage 4: Haben Sie als Erzählperson „die Wahrheit“ gesagt? Bei allen von uns durchgeführten Schulungen überwog eine Einschätzung der Art: „Zumindest war das, was ich gesagt habe, nicht gelogen.“ Damit lässt sich das, was zwischen „der Wahrheit“ und der Lüge liegt, ausloten: Bedeutet die Existenz mehrerer Versionen, dass es auch mehrere Wahrheiten gibt? Frage 4 ist insofern provokativ, als der verwendete Begriff „die Wahrheit“ eine Eindeutigkeit von Wahrheit unterstellt. Für diesen Aspekt liefern die → Abschnitte 2.5 und 3.3 den theoretischen Hintergrund. Frage 5: Hätten Sie die Geschichte in einem anderen Zusammenhang anders erzählt (z.B. einer Freundin abends in der Kneipe)? Welche Faktoren gehen in die Erzeugung dieser spezifischen Version ein? Diese Frage schließt an die „Wahrheitsfrage“ an. Mögliche Stichworte zum zweiten Teil der Frage sind in der Übersicht 6 festgehalten, geordnet in Faktoren auf der Seite der Interviewten, Faktoren auf der Seite der Interviewenden und Faktoren der Interviewinteraktion und -situation. Die Übersicht kann mit den gesammelten Stichworten abgeglichen werden. Sie ist nicht vollständig, um Ergänzungen anzuregen. Abschlussfazit der Übung 2: (1) Es gibt unterschiedliche Erzählstrategien und persönliche Stile der Erzählung. (2) Bei der Erzählung handelt es sich um eine Version der eigenen Geschichte, die in einem anderen Kontext auch anders ausfallen könnte. (3) Es handelt sich um eine Kommunikations- und Interaktionssituation, auch wenn die interviewende Person keine einzige Frage gestellt hat. (4) Das Forschungsinteresse kann nur einer situativen, nicht einer allgemeinen „Wahrheit“ gelten. (5) Konsequenzen für die Interviewerhaltung: Offenheit, Zurückhaltung bzw. Reflexion der eigenen Anteile, methodische Sorgfalt bei der Gestaltung der Interviewsituation.
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2.3 Die Erzählerperspektive: Was heißt es, zum Erzählen aufgefordert zu werden? Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen und Übungen sind die Notizen, die in Übung 2 auf die zweite und dritte Frage hin „Wie ging es Ihnen als Interviewten? Was ging in Ihnen als Interviewten vor in der kurzen Zeitspanne zwischen dem Hören der Frage und dem Beginn Ihrer Erzählung?“ zusammengetragen wurden. Die Erzählungsproduktion konnte als Selektionsprozess nachvollzogen werden: Mein Gegenüber erwartet, dass ich etwas erzähle – aber was erzähle ich? Und wie? Und was erzähle ich nicht? Als Ergebnis der spontanen Entscheidungen, in die komplexe Überlegungen eingehen, entsteht eine situationsspezifische Version. Diese Perspektive der Erzählperson wird im Folgenden vertieft und um kommunikationstheoretische Aspekte ergänzt.
Erzählen „zwischen Neuschöpfung und Konventionalität“ In narrativ-biografischen Interviews ist die Erzählaufgabe und damit die Last der Wahl eines Erzählbeginns aus dem Universum möglicher Sätze besonders „groß“. Für den Erzähler gilt: „Er muss nun im Prozess des Erzählens ständig entscheiden, welche Ereignisse und Aspekte seines Lebens erzählwürdig und biografisch relevant, welche erklärungsbedürftig sind, mit welchen affektiven und evaluativen Qualitäten er sie ausstatten soll, wie viel an intimen Details, problematischen Erfahrungen oder ungelösten Konflikten er überhaupt offenbaren will und wie er den Erwartungen seiner Hörerin entsprechen kann (…). Er wird sich also ständig zwischen zwei Polen bewegen: sich einerseits dem Erinnerungsstrom überlassen und ihn erzählerisch nacherleben, andererseits in der Auswahl und Gestaltung, der übergreifenden Sinngebung und der Adaption an die Erfordernisse der kommunikativen Situation schöpferische Distanz und Kontrolle bewahren zu suchen.“ (Lucius-Hoene/Deppermann 2002, 79)
Übung 2 ermöglichte einen Einblick in die Unterschiedlichkeit, mit der Erzählende auf eine Erzählaufforderung reagieren. Dies vertieft Übung 3. Sie kann auch dazu dienen, für Übung 4 (zusätzliches) Material über unterschiedliche Erzählstrategien zur Verfügung zu haben. Übung 3 (Hausaufgabe): Das Universum möglicher Einstiegssätze Vorbereitung: keine Kategorie: Basiskompetenz; Ziel: Erkunden der Vielfalt möglicher InterviewAnfangssätze (Bereitstellen von Material für Übung 4) Hausaufgabe; Zeit: in den Alltag eingebunden Die Teilnehmenden bekommen die Aufgabe, den bzw. einen gewählten Eingangsstimulus bei unterschiedlichen Menschen (nach Alter, sozialem Status, Alltagswelt, regionaler Herkunft etc.) und in unterschiedlichen Kontexten einzusetzen und sich jeweils die ersten Sätze (insgesamt vier bis fünf Zeilen) möglichst wörtlich zu notieren. Sie
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sollten dabei die Personen über den Hintergrund – die Teilnahme an dieser Schulung oder einem Seminar, Selbststudium – aufklären.
Forschungsbeispiel 4:
Unterschiedliche Erzählstrategien bei der Intervieweröffnung
Die Zitate stammen aus unterschiedlichen Studien mit unterschiedlichen Themen und Erzählpersonen. Das Interview begann jeweils mit einer Erzählaufforderung, das Aufwachsen in der Kindheit zu erzählen; die Formulierung war allerdings nicht immer identisch. Also wenn ich Kindheit höre, sind immer zwei ... zwei Sachen ganz wichtig, zu ... für mich zu benennen. Auf der einen Seite halt, ähm, ... also zwei Sachen in bezug auf meine Eltern, mein Elternhaus, auf der einen Seite das strenge Elternhaus, mein Vater war Pastor, und hat, ähm, aus der Sicht heraus und unheimlich streng erzogen, dogmatisch, ... das heißt, es ging also bis zur Prügelstrafe bei Ungehorsam ... und ... auf der anderen Seite wieder, dass er mit uns ... viel, im Urlaub viele Sachen gemacht hat, gute Sachen, ’ne Menge Fahrradtouren, Zelten fahren und wenn er Zeit hatte, dann waren wir auch in der Natur und wandern gegangen so also, das ist so hängen geblieben, das sind unheimlich gute Erinnerungen. Und die anderen, was hängen geblieben sind, sind die Geschichte da, ähm, ... mit den Prügeln und Strafe und so ... und weil’s so schlimm war, hat es unheimlich viel zugemacht, also verschüttet. Für mich ist das schwer. Und da bin ich immer noch dran ... interessiert, weiter zu kommen, zurück, mit der Erfahrung, was da war. „frauen leben“ 1999/Probeinterview zur Überprüfung der Übertragbarkeit des Leitfadens mit einem 27j. Mann, Osten (lacht) Naja, also Arbeiterkind könnte man sagen und halt im Osten. Ganz normal. Also Schule, pfff... gute Kindheit. Also hatte alle Möglichkeiten, konnte halt alles machen. Ziemlich gute Eltern und problemlos, würde ich sagen. Naja, also rückblickend. Glücklich. Tja, also einfach schulisch keine Probleme gehabt, meinen Freundeskreis, Geld war da. Wir haben in Weißensee gewohnt, so ziemlich ruhig auch. Und ansonsten normal denke ich. HIV-Prävention und Kontrazeption 1993, 27j. Mann, Berlin (Ost) Also ich weiß nicht, was ich zuhause nennen soll. Wir sind viel rumgezogen und meine Mutter – ich war das schwierige Kind in der Familie – ich habe verdammt noch mal viel Probleme gemacht und ich hab also mit meiner Mutter also verdammt noch mal viel Probleme gehabt. Festzustellen dass ich ein Jahr später in die Schule gekommen bin, weil ich am längsten gebraucht habe, um trocken zu werden. Ich habe also auch lange in die Hose gepinkelt und anschließend habe ich dann angefangen Nägel zu kauen. Das habe ich also bis zum Erwachsenenalter durchgehalten. Irgendwie war das eingeschliffen, das war sehr schwer wegzukriegen. LIVE – Frauen mit Behinderung 1996, 59j. Frau, Osten Ich bin im Krieg 1940 geboren, bin aus Oberschlesien, habe noch drei Brüder, wir waren eine sechsköpfige Familie und sind bei Nacht und Nebel – mussten wir fliehen. Meine Eltern – die Flucht war 45 im Februar bzw. Ende Januar. Meine Eltern sind Deutsche und mussten dann praktisch aus- waren in einer lebensbedrohlichen Situation und dann sind wir praktisch mit Sack und Pack da weg. Sind nach Erfurt verschlagen worden und dort bin ich dann auch zur Schule gegangen, acht Jahre,
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hatte eigentlich eine liebevolle Kindheit. Meine Eltern waren sehr aufmerksam und sehr rücksichtsvoll und sehr um uns bemüht. LIVE – Frauen mit Behinderung 1996, 56j. Frau, Osten* Ja mmm Kindheit ähem mmmm Vater war n Bercharbeiter und wir waren ein sieben Kinderhaushalt also neun Personenhaushalt. Und dementsprechend waren natürlich äh die sozialen äähmmm Sachen ziemlich niedrig, also das Einkommen waren sehr gering. Aber wir hatten eine Zechenwohnung und dementsprechend waren Ländereien dabei wie heute jetzt wenn-man-wenn-man die türkischen äh Gärten so sieht, so ungefähr, war es früher ja auch so in den fünfziger Jahren, ne. Mitte der fünfziger und dementsprechend – war natürlich äh ----- die Mutter war nicht berufstätig, musst ja auf die Kinder aufpassen und dementsprechend war immer-immer der Geldbeutel ziemlich hoch angehängt so in der Richtung und so in der Richtung da kann man sich dann natürlich auch ausmalen wie da die Kindheit war nich? Ich war der Älteste zuhause (holt Luft) habe auch dann meine die-erste-die-Lehrstelle mir ausgesucht und dementsprechend—auch—die Lehre ----- dann zu Ende gebracht und auch früh ins Berufsleben eingestiegen, nich, wie dat so früher mal war halt, heute nich mehr so is. -----„männer leben. Lebensläufe und Familienplanung“ 2002, 53j. Mann, Ruhrgebiet A.:Also unser Familienverhältnis kann man schon als symbiotisch fast bezeichnen, ganz enges, und ich die Tendenz habe, das auch auf meine Umwelt weiter zu übertragen. Und ich habe ein enges Vater-Tochter-Verhältnis, also was auch psychische Probleme bereitet. I.: Und das war auch – auch schon in der Kindheit war das so, das Sie mit Ihrem Vater ein engeres Verhältnis hatten? A.:Das weiß ich nicht, wann das einsetzt. Also ich habe – ich kann mich eigentlich an meinen Vater nur über Bilder erinnern, so richtig, also emotional nicht zurückerinnern. Das setzt dann – irgendwann hat das eingesetzt, und das ist halt in den letzten Jahren vor allem ganz stark geworden, wo ich dann auch also dadurch Schwierigkeiten habe mit Partnern. Und ja, also das ist eine ganz enge, extrem enge emotionale Bindung. Und das Verhältnis zu meiner Mutter ist auch sehr gut, aber es ist eben nicht sehr emotional aufgeladen. Studie zu HIV-Prävention und Kontrazeption 1992, 27j. Frau, Freiburg, hohe Bildung Es gibt häufig „professionelle“ oder eingeübte Selbstdarstellungsmuster. Viele unserer biografischen Interviews mit Haftentlassenen begannen mit „Ich bin am (Datumsangabe mit Tag, Monat, Jahr) geboren. Meine Eltern...“ * Dieses Interview wurde ausführlich dargestellt in Helfferich/Häussler-Sczepan 2002.
Übung 4: Rekonstruktion der Situation von Erzählpersonen beim Intervieweinstieg Vorbereitung: Bereitstellen von Material aus Übung 2 (Tonbandmitschnitte der Einstiegspassagen) oder Übung 3, durch die Projektleitung vorbereitetes Material oder die Einstiegspassagen aus Forschungsbeispiel 4 Kategorie: Basiskompetenz, wichtig aber insbesondere für (teil-)monologische (narrative) Interviews; Ziel: Rekonstruktion der Situation der Erzählperson unter der Perspektive von Erzähldruck und Erzählfreiheit, Nachvollziehen der Notwendigkeit der
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Selektion einer Äußerung, Sensibilisierung für den Zusammenhang von sprachlicher Form und Positionierung in der Interviewsituation, Diskussion von Grundregeln der Kommunikation Diskussion in der Gruppe; Zeit: 30 Min. Es werden sechs unterschiedlich gestaltete Einstiegspassagen – jeweils die ersten ein bis zwei Minuten bzw. Sätze – entweder aus Notizen rekonstruiert oder von der Tonbandaufnahme vorgespielt. Dabei sollte die Reihenfolge der Einstiegspassagen ein kontrastierendes Muster bilden (z.B. zuerst eine stark psychologisierende, dann eine sehr formale, gefolgt von einer sich stark auf das Umfeld beziehenden, kontrastiert von einer sehr persönlich gehaltenen Anfangspassage etc.). Zunächst werden die Passagen vorgestellt, dann die folgenden Fragen in der Gruppe diskutiert. Dabei kann auch auf die eigene Erfahrung als interviewte Person in Übung 2 zurückgegriffen oder im Gedankenspiel ergänzt werden: Wie würde ich den entsprechenden Erzählhintergrund, das entsprechende Gefühl oder Bedürfnis sprachlich umsetzen und ausdrücken? Die Fragen sind: (1) Der offene Erzählraum als Überforderung oder Äußerungschance: In welchen Passagen kommt eine Überforderung durch den offenen Erzählstimulus zum Ausdruck? In welchen Passagen wird der Raum zum Erzählen gern und bereitwillig genutzt? Welche der Befragten gestalten den eröffneten Erzählraum aktiv, welche delegieren die Steuerung an die interviewende Person? (2) Erzählroutinen und Erzählsicherheit: Was sind Zeichen dafür, dass die Erzählperson in der Selbstdarstellung geübt bzw. gewohnt ist, über sich zu sprechen? Wie drückt sich spontanes Erzählen aus, wo findet sich ein „Zurechtlegen“ einer Antwort? Was sind sprachliche Zeichen für Sicherheit oder Unsicherheit? (3) Ausrichten an Erzählnormen: Wo sind Erwartungen der Erzählperson an sich selbst erkennbar, etwas Wichtiges, etwas z.B. zeitlich Geordnetes oder „Logisches“ zu erzählen oder etwas Richtiges, etwas, von dem das Projekt „etwas hat“? Welchen impliziten Erwartungen an sich selbst und an ihre Erzählung folgt die Erzählperson? (4) Kommunikative Regeln und Rollenverteilung: Woran erkenne ich den Wunsch der Erzählperson, sich der interviewenden Person gegenüber verständlich zu machen, sich dem sprachlichen Niveau der interviewenden Person anzupassen oder Rücksicht auf sie zu nehmen? Wo wird die Interviewende direkt oder indirekt in ihrer Rolle angesprochen? (5) Thematisierungsgrenzen: Woran merke ich das Bedürfnis der Erzählperson, Dinge nicht preiszugeben, sich abzugrenzen und Privates zu schützen z.B. durch das Ausweichen auf Unverfängliches, „Oberflächliches“? Wichtig ist es, möglichst genau sprachliche Details zu benennen, an denen eine Besonderheit festgemacht werden kann. Zu Einstiegspassagen siehe auch: Lucius-Hoene/Deppermann 2002, 266f; Bude 1988 Zum Selbststudium: Das Material aus Forschungsbeispiel 4 kann genutzt werden.
Diese Übung sensibilisiert dafür, aus dem Interviewbeginn herauszuhören, wie die Erzählperson mit dem offenen Erzählraum umgeht: Die Offenheit wird nicht immer als ein großzügiges Geschenk empfunden, sondern mögli68
cherweise auch als Last. Manche Befragte sind durch die Selbstdarstellungsfreiheit eher verunsichert und wünschen eine Absicherung und Rückvergewisserung durch die Interviewenden. Diese Unterschiede machen Verallgemeinerungen schwer. Nicht alle Erzählenden brauchen oder wollen in gleichem Maße ein erzählförderndes „Klima“ und eine „Vertrauensatmosphäre“. Gestützt werden wollen vor allem diejenigen Erzählpersonen, die sich stark an der Beziehung zur interviewenden Person orientieren, die sich z.B. unsicher sind, ob sie das „Gewünschte“ erzählen, ob sie verstanden werden etc., und weniger diejenigen, die die Interviewsituation sachlich-technisch definieren und ihren festen „Erzählplan“ haben.
Das Beziehungs- und das Sachohr In der Kommunikationstheorie wird der Beziehungsaspekt von Botschaften unterschieden von dem Sachaspekt (weitere Aspekte sind Selbstkundgabe/Selbstoffenbarung und Appell, die hier aber weniger relevant sind). „Beziehungsaspekt“ meint dabei eine meist implizite Botschaft über die Beziehung zwischen Sender und Empfänger. Ein bekanntes Beispiel ist der Satz „Es ist 7.45 Uhr“, der mit dem „Sachohr“ als Information über die Uhrzeit, mit dem Beziehungsohr als Kritik an Unpünktlichkeit gehört werden kann. Beziehungsaspekte werden häufig nonverbal vermittelt. Menschen „hören“ unterschiedlich gut mit ihrem „Beziehungsohr“, d.h. sie filtern in unterschiedlich starkem Maß gerade die Beziehungsbotschaft aus dem Gesagten heraus. Während es in Gesprächsführungstrainings um die Sensibilität der Beratenden für die unterschiedlichen Aspekte – und insbesondere für den Beziehungsaspekt – in den Aussagen von Klienten und Klientinnen geht, soll im Rahmen dieser Schulung nur verständlich gemacht werden, dass manche Erzählpersonen sich stärker an Botschaften der Interviewenden über die Beziehung zwischen beiden orientieren, während andere „auf dem Beziehungsohr weniger gut hören“. Weiterführende Literatur Schulz von Thun 1998; Watzlawick/Beavin/Jackson 1990 für Gesprächsführungs-Trainings: Pallasch/Kölln 2002, 96f; Leopold 1997, 31ff
In der Einstiegspassage kommt nicht nur zum Ausdruck, wie die Erzählperson die Frage aufgefasst hat, wie sie für sich die Interviewaufgabe definiert und welche Selbstdarstellungsstile sie bevorzugt. Diese ersten Sätze enthalten zudem häufig für das gesamte Interview zentrale Motive oder Lebensthematiken. „Dies erscheint auch theoretisch plausibel, wenn man bedenkt, dass der Erzähler hier – im übertragenen Sinn nach der Geste, mit der die Interviewerin ihm die Bühne überlässt – diese nun betritt und den ihm zur Verfügung stehenden Raum in bedeutungsvoller Weise zu nutzen und sich rasch zu positionieren sucht.“ (Lucius-Hoene/Deppermann 2002, 134) Die Rekonstruktion der Perspektive der Erzählenden macht nachvollziehbar: –
Die Erzählperson steht vor dem noch unreduzierten Universum von Möglichkeiten, inhaltlich in das so offene Interview einzusteigen und
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muss eine ungeheure Orientierungsleistung vollbringen; Erzählzwänge, die sich aus dem schon vorher Gesagten ergeben, gibt es noch nicht. Unter Zeitdruck und unter dem Einfluss von vielfachen Situationsreizen (→ Übersicht 6) muss „sortiert“ werden und eine Entscheidung für eine Version der Äußerung fallen. Häufig, aber nicht immer, setzt sich das durch, was die Erzählperson bezogen auf das Interviewthema am deutlichsten „im Kopf hat“. In der Einstiegspassage muss die Beziehung zwischen interviewender und erzählender Person geregelt werden. Auch diese ist noch offen und die „Positionierung“ der eigenen Person bezogen auf die Interviewende und eine Rollenklärung müssen ebenfalls am Interviewanfang geleistet werden. Eine wie auch immer geartete gemeinsame Situationsdefinition muss mit den Interviewenden hergestellt und die Rollen müssen ausgehandelt werden. Stichworte sind hier z.B.: Verteilung der Rollen von Führung oder Macht, Rücksicht auf und Anpassung an die Interviewende (ausführlich: → Abschnitt 4.3, mit einer Vorbereitung auf den Umgang mit Interaktionsproblemen, die sich zum Interviewbeginn ergeben können). Die Erzählperson muss zudem ihre eigenen Wünsche nach Mitteilung oder danach, etwas für sich zu behalten, präsent haben.
Fazit ist: Die Einstiegssituation entfaltet eine besondere Dynamik. Die Konsequenz ist nicht nur, dass ihrer Gestaltung (und z.B. auch der Wahl des Einstiegsstimulus: → Abschnitt 3.5) besondere Aufmerksamkeit zu widmen ist, sondern auch eine Verschiebung der Aufmerksamkeit bei der Intervieweröffnung weg vom Inhalt hin zu dem Selektionsprozess als solchem. Die Bedeutung einer Interviewerhaltung wird einsichtig, bei der es nicht (nur) darum geht, einen bestimmten Erzählungsinhalt in Erfahrung zu bringen (Haltung der Interviewenden: „Ich möchte, dass die Person die bzw. ihre Wahrheit über etwas erzählt“), sondern darum, eine freie Selektion zu ermöglichen (Haltung der Interviewenden: „Ich möchte die Person sprechen lassen, damit ich weiß, wie sie aus dem Universum möglicher Interviewanfänge gerade ihren Anfang auswählt, denn damit erfahre ich viel über ihre Art, in der Welt zu sein und soziale Beziehungen zu gestalten“). Übung 5 als Reflexionsübung rundet das Thema ab:
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Übung 5: Vergegenwärtigung der eigenen Aufmerksamkeitshaltung als Erzählperson Vorbereitung: Zettel mit Platz für Stichworte zu sieben Fragen; Platz zum Eintragen von Notizen Kategorie: Basiskompetenz; Ziel: Vergegenwärtigung der persönlichen Aufmerksamkeitshaltung in der Erzählung Gruppengespräch; Zeit: 15 Min. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen werden gebeten, sich über ihre Erzählung in Übung 2 auszutauschen und sich dabei auf den verteilten Zetteln Notizen zu machen. Fragen sind: (1) Wer hat seine Erzählung mit „Ich“ begonnen? Wer hat weiter aus der IchPerspektive erzählt? Wer hat von „wir“ (für welchen Personenkreis?) oder „man“ gesprochen? (2) Welchen Stellenwert hatten Ordnungsangaben wie z.B. Personenkonstellationen, Datumsangaben etc., welchen Stellenwert hatten Gefühle und Beziehungen? (3) Welche Rolle spielten Besonderheiten oder „Nonkonformitäten“ in der eigenen Geschichte, welche Rolle das „Übliche“ oder das „Normale“, „Konforme“? Welche Rolle spielten herausragende, besondere Erfahrungen und „Wichtiges“? (4) Welchen Anteil hatten Aussagen über die eigene Person (Innenperspektive)? Kam auch eine Außenperspektive vor, d.h. die Darstellung der Sichtweise anderer Personen? (5) Welches „Tempo“ wurde eingeschlagen, d.h. bei welchen Erzählaspekten wurde länger verweilt, welche wurden nur kurz gestreift? (6) Was sagt die Art der produzierten Einstiegspassage über Sie aus? – Erwarten Sie von Befragten ähnliche Erzählanfänge? Die Antworten werden notiert und die Notizen aufgehoben – auf sie wird später in einer weiteren Reflexion zurückgegriffen (Übung 16 in → Abschnitt 3.5). Zum Selbststudium: Es kann auf die Tonbandaufnahme aus Übung 2 zurückgegriffen werden.
Die Art der Selektion, d.h. die Entscheidung, die zu der persönlichen Gestaltung der Erzählung führt, wird auf diese Weise in ihrer Bedeutsamkeit einsichtig. Ob ein Interview mit „Ich bin…“ oder mit „Mein Vater war Bergarbeiter“ anfängt, sagt viel über zu Grunde liegende Orientierungsmuster und Sinnstrukturen aus. Hier gibt es z.B. Darstellungsweisen (vgl. Lucius-Hoene/ Deppermann 2002, 127f), – – –
die jeweils „Wichtiges“, „Bedeutsames“, „Ungewöhnliches“ in den Vordergrund stellen – häufig auch unterstützt von Interviewenden, die nach „Wichtigem“ fragen (→ Übung 16), die der Interviewenden einen Ordnungsrahmen zur Einordnung anbieten (u.a. Zeitgerüst, regelhafte Stationen und Routinen, Personenkonstellationen), die Erzählungen rund um das „Ich“ und persönliche Erlebensweisen organisieren oder über den Kontext oder das Kollektiv berichten.
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2.4 Erzählstrategien und Erzählsignale Die Dauer, wie lange eine Erzählperson eine Erzählpassage aufrechterhält, hängt wesentlich von der Offenheit und Breite des Stimulus und von den Vorab-Verabredungen über die zur Verfügung stehende Zeit ab. Sie hängt auch davon ab, wie die Erzählenden die soziale Beziehung im Interview gestalten, ob sie die Führung eher an die Interviewenden delegieren wollen, ob sie vorsichtig sind, nicht zu viel (Persönliches) von sich zu zeigen etc., sowie, damit zusammenhängend, von dem „Erzählplan“. Mit „Erzählplan“ soll die mehr oder weniger feste Vorstellung von dem, was und wie ausführlich die Erzählperson erzählen will, bezeichnet werden, mit der sie in den komplexen kommunikativen Prozess des Interviews eintritt. Je vager diese Vorstellung ist, d.h. je mehr die Textproduktion von der Entwicklung der Situation und der Beziehung zur Interviewenden abhängig gemacht wird, desto mehr wird die Erzählung im situativen Kontext konstituiert als Produkt von spontanen Entscheidungen, was (nicht) erzählt wird, wann genug erzählt sei. Die Erzählperson kann z.B. etwas zum Erzählen anbieten, für das Weitererzählen aber z.B. auf ein Signal der Interviewenden warten: „Ich könnte etwas erzählen, wenn es die Interviewerin interessieren würde bzw. wenn sie mir jetzt signalisieren würde, dass sie sich dafür interessiert.“ Diese Aushandlungen laufen nicht explizit, sondern über subtile Gesprächssignale. In den folgenden Übungen geht es darum, Erzählpläne und Strategien, die Erzählpersonen beim Erzählen verfolgen, sowie Beispiele für die subtilen Signale, mit denen sie die Interviewinteraktion von ihrer Seite aus steuern, kennen zu lernen. Übung 6: Erzählpläne und situative Erzählproduktion Vorbereitung: Aufteilung in Zweier- bzw. Dreiergruppen, Aufnahmegeräte Kategorie: Basiskompetenz; Ziel: Bedeutung von vagen und konkreten Erzählplänen kennen lernen, Kenntnis subtiler Steuerungssignale auf Seiten der Erzählperson Zweier- oder Dreiergruppen mit wechselnden Rollen: Erzählperson – interviewende Person (bzw. eventuell als dritte Rolle Beobachtende; dann ist für die Übung etwas mehr Zeit zu veranschlagen)*, anschließend Austausch in der Gesamtgrupp; Zeit: 45 Min. Teil a) Die Erzählperson bekommt den Auftrag, drei Minuten lang ein Ereignis aus der letzten Woche zu erzählen. Sie bekommt vorab einige Minuten Zeit, sich zurechtzulegen, was sie erzählen will und was nicht (Entwicklung eines Erzählplans). Die interviewende Person bekommt den Auftrag, Fragen zu stellen, die die Person von ihrer Erzählung abbringen, entweder zu einem Erzählfokus heute oder zu einem anderen Thema (Tonbandaufnahme). Die Rollen werden gewechselt, so dass der Auftrag zwei- bzw. dreimal durchgespielt wird. Anschließend geben sich die Personen eine Rückmeldung, wie sie sich als Erzählperson gefühlt haben: Wie habe ich der interviewenden Person klar gemacht, dass ich meinen Strang weiter verfolgen möchte? Wie (bzw. bei welchen Fragen) war es schwierig, meinen Erzählplan weiter zu verfolgen?
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Teil b) Die Erzählperson macht es nun von der Situation – von den Fragen, von der Person der Interviewenden – abhängig, ob sie das, was sie vorher in Teil a) der Übung nicht erzählen wollte, nun doch erzählt oder nicht. Sie ist ambivalent: Einerseits möchte sie erzählen und gefragt werden, andererseits will sie doch nicht erzählen und gefragt werden. Die interviewende Person soll unterschiedliche Frageformulierungen ausprobieren, um das Gespräch zu öffnen für die Erzählung auch des Zurückgehaltenen. Die Rollen werden gewechselt, so dass der Auftrag zwei- bzw. dreimal durchgespielt wird (Tonbandaufnahme). Bei dem anschließenden Austausch (s.o.) geht es um die Fragen: Wie habe ich der interviewenden Person signalisiert, dass sie an einer bestimmten Stelle weiterfragen darf oder sogar soll? Wie habe ich ihr signalisiert, dass ich vielleicht doch erst einmal nicht weitererzählen will? Welche Fragen oder Signale haben mich als Erzählperson dazu motiviert, mehr bzw. weniger zu erzählen? Am Ende können in der Gesamtgruppe Erzählstrategien, Abschlussmarkierungen und Weiterfrag-Aufforderungen gesammelt und mit den Beispielen aus Forschungsbeispiel 5 (s.u.) abgeglichen werden. Eventuell kann auch die Tonbandaufnahme noch einmal herangezogen werden. Zum Selbststudium: Bei einem Selbststudium sollte ein Partner oder eine Partnerin für diese Übung gesucht werden. * siehe technische Hinweise am Anfang von → Kapitel 2
Übung 6 macht in Teil a) nachvollziehbar, dass Erzählpersonen, die wissen, was sie erzählen wollen, sich robust auch gegen nicht offene Fragen durchsetzen. Was definitiv nicht erzählt werden soll, wird auch mit den geschicktesten Interventionen nur selten „hervorgelockt“ werden können. In Teil b) wird das subtile Aushandeln erkennbar, in dem nonverbale und verbale Signale eine große Rolle spielen. Die Kenntnis dieser Signale hilft Interviewenden, angemessen zu reagieren und den Spielraum der Thematisierung möglichst offen zu halten. Die Entscheidung, etwas nicht zu erzählen, wird selten expliziert. Bei den indirekten Signalen spielen Abschlussmarkierungen, die vermitteln “Ich habe genug erzählt“ und Weiterfrage-Aufforderungen mit dem Angebot „Ich könnte etwas erzählen, mache das aber von einer entsprechenden verbalen oder nonverbalen Interessensbekundung der Interviewenden abhängig“ eine Rolle.
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Forschungsbeispiel 5:
Auslassungskommentierungen, Abschlussmarkierungen und Weiterfrag-Angebote
Ankündigung einer Auslassung: Ja, ich hatte auch Geschwister, aber das möchte ich nicht mit ein- beziehungsweise meinen Bruder könnte ich, aber meine Schwester nicht, ne. Das hat keinen Zweck. Mein Bruder, der ist drüben in den Westen, bei Markdorf ist das, und mit meiner Schwester möchte ich nichts veröffentlichen, das… LIVE – Frauen mit Behinderung 1996, 55j. Frau, Osten Abschlussmarkierungen direkt: Die wichtigste Abschlussmarkierung ist das Senken der Stimme und das Pausieren. „Das war’s dann.“ „Ich wüsste jetzt gar nicht, was ich da jetzt noch sagen sollte.“ „Naja, gut.“ Indirekte Markierungen: Themenwechsel Weitergehen in einem Zeitablauf, z.B. Sprung in die heutige Perspektive Abschließende Bilanzierung, z.B. „Dann hat das auch gut gepasst, so in der Richtung.“, „So war das dann eben.“ Weiterfrag-Aufforderungen direkt: „Darüber kann man noch viel mehr erzählen.“ “Ach ja, ein weites Feld eben.“ Indirekte Weiterfrag-Aufforderungen: Einfügen von Andeutungen, bei denen aufgrund ihres unverständlichen Charakters nach den Regeln der Alltagskommunikation eine Klärungsfrage der Interviewenden zu erwarten wäre, z.B.: „Alles war gut bis zu dem Tag jedenfalls, wo es nicht mehr so war.“ Dieser Satz vor einer Gesprächspause verlangt eine Klärung, was dies für ein Tag gewesen sei. Weiterführende Literatur Lucius-Hoene/Deppermann 2002, 262 zu Erzählbeendigungen, Reaktionsaufforderungen
Abschlussmarkierungen verlangen eine Initiative der Interviewenden. Bei Leitfaden-Interviews kann diese in einem Weiterfragen in einer zugelassenen Form bestehen (eine andere Möglichkeit ist es zu warten, ob die Erzählperson nicht doch weiter spricht), in der Haupterzählungsphase eines narrativen Interviews in einer nonverbalen Vermittlung des Interesses oder möglicherweise in einer Aufrechterhaltungsfrage. Es kann vorkommen, dass Erzählpersonen Abschlussmarkierungen auch bei narrativen Interviews – entgegen der Aufforderung, möglichst lange „frei“ zu erzählen – jeweils nach relativ kurzen Passagen einstreuen; sie signalisieren damit, dass sie eine Stützung, Steuerung oder Aufforderung zum Weitererzählen (über das aktuelle oder ein neues Thema) wünschen. In → Abschnitt 3.2 wird auf den Umgang mit Pausen eingegangen; zu starke Führungswünsche seitens der Erzählperson sind Thema in den → Abschnitten 4.3 und 4.4. Die Interviewenden sollten mög74
lichst bewusst und ohne Druck die Entscheidung treffen können, ob sie verbal intervenieren oder nicht, und wenn sie verbal intervenieren, ob sie ein neues Thema einführen oder bei dem alten Thema nachhaken. Nicht jede Abschlussmarkierung signalisiert tatsächlich einen definitiven Abschluss. Sie kann auch lediglich die Verantwortung für den weiteren Verlauf – ob Abschluss und Themenwechsel oder beim Thema weitererzählen – der bzw. dem Interviewenden übergeben und bedeutet dann nicht „Ich will nicht weitersprechen.“, sondern: „An dieser Stelle habe ich erst einmal genug erzählt.“ Eine besondere Herausforderung für Interviewende sind Themen, die von den Erzählpersonen ambivalent besetzt sind. In diesem Zusammenhang kommt es zu „Doppelbotschaften“, wenn diese Themen kurz „vorgezeigt“ oder angedeutet, dann aber mit einem Themenwechsel wieder überlagert werden, oder wenn Abschlussmarkierung mit impliziten WeiterfragAufforderungen verbunden werden. Auf diese besondere Situation und Umgangsmöglichkeiten mit ambivalenten Erzählhaltungen wird in → Abschnitt 4.5 eingegangen. Qualitative Interviews heben auf das Individuelle und das Besondere der Einzelpersonen ab. Das Verfahren stützt daher eine Neigung, die psychologischen oder kognitiven Prozesse bei der Produktion einer Erzählung in den Vordergrund zu stellen und die sozialen Prozesse demgegenüber zu vernachlässigen. Qualitative Interviews sind aber immer auch von sozialen Thematisierungsregeln bestimmt, d.h. es gibt sozialgruppenspezifische Konventionen, was wem unter welchen Bedingungen zu erzählen ist und was nicht. Hier besteht die Gefahr, die Thematisierungsregeln, die in der sozialen Gruppe gelten, aus der Interviewende (und Forschende) stammen, vorschnell als auch für die Erzählperson gültig anzunehmen. Solche Annahmen sind zurückzustellen: Es ist ja gerade erst Aufgabe qualitativer Interviews, auch soziale Thematisierungsregeln zu rekonstruieren und nicht die Aussagen nach den Regeln der Interviewenden vorschnell zu bewerten. Forschungsbeispiel 6:
Soziale Thematisierungsregeln
Biografische Interviews mit Frauen und Männern, die in der DDR aufgewachsen waren, begannen häufig mit der Darstellung „Bei uns war alles ganz normal“ – mit einem spezifischen Abriss von Kindergarten, Eltern, Ferien und Wohnsituation während der Kindheit. Dies war auch dann der Fall, wenn im weiteren Verlauf gar nicht „normale“ Familienverhältnisse zur Sprache kamen wie z.B. Scheidung, Alkoholabhängigkeit der Eltern etc. In den biografischen Interviews mit im Westen aufgewachsenen Frauen und Männern kam der explizite Hinweis auf die „Normalität“ nur selten vor. Die sozialen Thematisierungsregeln der DDR stellten das „Normale“ i.S. von das Übliche und Verbreitete in den Vordergrund, die sozialen Thematisierungsregeln im Westen dagegen eher das Individuelle. Die Thematisierungsregeln, inwieweit psychologische Dimensionen von Beziehungen und Emotionen einem Fremden gegenüber thematisiert werden oder nicht, hängen ab von der Generationenzugehörigkeit, von der sozialen Gruppe bzw. regionalen oder Milieu-Herkunft und von der Bildung. Aus der sozial verankerten Zurückhaltung, über
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persönliche Beziehungen zu berichten, darf nicht darauf geschlossen werden, die Beziehungen seien nicht tragfähig, der Aspekt werde verdrängt etc. Forschungsprojekte HIV-Prävention und Kontrazeption bei Frauen/bei Männern, „frauen leben“/“männer leben. Lebensläufe und Familienplanung“ Die Bereitschaft zu einer Problemperspektive unterliegt ebenfalls sozialen Thematisierungsregeln. Für die ältere Generation von Frauen mit Behinderung aus dem Arbeitermilieu gibt es sozial verankerte Regeln, nicht zu klagen, die sich auf die Bereitschaft auswirken, im Interview der Interviewerin gegenüber Probleme zu thematisieren. Helfferich/Häußler-Sczepan 2002, s. hier auch → Forschungsbeispiel 13 in Kap. 4.1
2.5 Die „Wahrheitsfrage“ aus Sicht der Erzählperson In Übung 2 wurde die Erzählerperspektive unter dem Wahrheitsaspekt reflektiert: „Haben Sie als Interviewte „die Wahrheit“ gesagt? Wie wahr ist das, was Sie erzählt haben?“ In der Diskussion der Antworten kommt schnell eine Kritik an der Frageformulierung und an dem Wahrheitsbegriff selbst auf, sofern damit unterstellt wird, es gäbe nur die eine und einzige oder „die ganze Wahrheit“. Aus Erzählerperspektive gibt es kontextgebundene, subjektive Wahrheiten im Plural. Erzählt wurde eine wahre Version. In anderen Kontexten, z.B. in einem Gespräch mit einem Freund oder einer Freundin, in einer Therapiesitzung, im anonymen Austausch mit einer unbekannten, aber sympathischen Person auf einer langen Zugfahrt oder mit einer Vorgesetzten auf einem Betriebsausflug wären keine Lügen, aber andere Versionen von Wahrheit erzählt worden, bei denen mal das eine ausgeschmückt, mal das andere weggelassen und der Spielraum von Vagheit und Konkretisierung anders genutzt worden wäre. Mit der Einsicht in die Versionenhaftigkeit der produzierten Erzählung wächst die Bereitschaft, den Plural subjektiver und situationsgebundener „Wahrheiten“ zu akzeptieren. Dies ist mit der gemeinsamen Grundposition qualitativer Verfahren verbunden, dass soziale Wirklichkeit immer als schon interpretierte, gedeutete und konstruierte Wirklichkeit Forschungsgegenstand ist (→ Abschnitt 1.1). Die „Sinnhaftigkeitsunterstellung“ unterstellt dabei, dass die Äußerungen von der Erzählperson selbst für wahr (i.S. von nicht gelogen) gehalten werden, auch wenn die Interviewende diese Position nicht teilen mag. Die Rekonstruktion von Wahrheiten als standortgebundene und in Bezugssystemen verankerte subjektive Theorien ist gerade Gegenstand qualitativer Forschung. So ist es im Kontext von spezifischen Sinnstrukturen „wahr“, dass z.B. psychische Erkrankungen ansteckend sind (Jodelet 1991) oder das Körperinnere leer und hohl ist (Helfferich 1992). Gerade im Rückblick auf die eigene Kindheit können sich sehr unterschiedliche und auch von der Erzählperson im Laufe der Erzählung revidierbare Mythen herausbilden. So können Geschwister ihre sich untereinander widersprechenden Versionen der Kindheit jeweils für unbestreitbar wahr halten. 76
Die „Wahrheitsfrage“ setzt immer einen Standpunkt und eine Logik voraus, von denen aus geurteilt wird. Von einer Unwahrheit einer Aussage zu sprechen beinhaltet erstens, dass die Aussage in einem vorgegebenen logischen System angesiedelt ist, dessen Regeln auch für sie Gültigkeit haben, und dass sie zweitens gegen diese Regeln verstößt. Die große Prämisse der qualitativen Forschung ist aber, dass die Erzählenden und die Interviewenden von unterschiedlichen logischen Systemen und Perspektiven ausgehen können. Zwar brauchen sie eine gemeinsame Kommunikationsbasis mit einem Mindestmaß an Überschneidung, aber dennoch können sich ihre Wahrheitskriterien unterscheiden. Während die wissenschaftliche Logik z.B. binär „entweder wahr oder falsch“ codiert, kennt die Alltagslogik die Existenz von Aussagen, die wahr und falsch zugleich oder die „ein bisschen wahr“ sind. Weiß man der wissenschaftlichen Logik zufolge entweder etwas oder man weiß es nicht, gibt es im Alltag kompliziertere Prozesse, Dinge zu wissen und zugleich nicht zu wissen – Lazarus (1982, 181) fand dafür den Begriff „middle knowledge“ oder „skin deep denial“. Interviews mit psychisch kranken Menschen können ein komplettes logisches System der definitiven und überzeugten Beurteilung von wahren und falschen Aussagen rekonstruieren, das völlig anderen Regeln folgt als der Wahrheitsmaßstab des „gesunden Menschenverstandes“ beinhaltet. Die „Wahrheitsfrage“ ist daher auch immer mit der Differenz zwischen der eigenen und der fremden Perspektive verbunden und eine Auseinandersetzung damit ist wichtig für die Fähigkeit, den eigenen Normalitätshorizont als Wahrheitsmaßstab zu reflektieren und, wenn es angemessen ist, bewusst zu relativieren (mehr dazu: → Abschnitte 4.1 und 4.2). Forschungsbeispiel 7:
„Wahr ist das, was man nicht vergessen kann“ (Giordano)
Eine wohnungslose Frau, die wir befragt hatten, bestand darauf, dass sie mit ihrem Bauwagen „immer am Rand“ der Stadt gelebt hatte, bis sie auch dort vertrieben wurde. Kurz darauf wurde klar, dass sie auf dem Vauban-Gelände gelebt hatte, einem „objektiv“ stadtnahen Gelände – aus dieser Sicht hätte sie die Unwahrheit gesagt oder zumindest übertrieben. In der Interpretation erklärten wir uns ihre Wahrnehmung der Gegend als „Rand der Stadt“ aus der Wildheit des erst teilweise bebauten Geländes und aus ihrer Selbstwahrnehmung als sozial „am Rand“. Sie beschrieb die soziale Ordnung aufgeteilt in diejenigen, die im Zentrum, sprich: integriert und mit Zugang zu Macht ausgestattet, leben, und diejenigen, die „am Rand stehen“. Der ihrem soziale Gefühl angemessene Ort kann nur ein „Rand“ sein. (Helfferich/Hägele/Heneka 2000)
Insbesondere bei biografischen Interviews bzw. bei Interviews, in denen es um Erinnerungen geht, werden unterschiedliche Positionen in der „Wahrheitsfrage“ vertreten: Kann hier und heute erforscht werden, was sich damals ereignet hat oder ist schon diese Frage falsch gestellt? Im Zusammenhang mit lebensgeschichtlichen Erzählungen unterscheiden Lucius-Hoene und Deppermann zwischen 77
„den Ereignissen, die stattgefunden haben, der Art und Weise, wie wir sie damals erlebt haben, der Art und Weise, wie wir uns heute daran und an unser erlebendes Selbst erinnern, und der Art und Weise, wie wir davon erzählen.
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Zwischen diesen Schritten liegen jeweils konstruktive Akte des Individuums, in denen mentale Prozesse gestalterischen Einfluss nehmen.“ (Lucius-Hoene/ Deppermann 2002, 29; vgl. Rosenthal 1995, 20) Konsens ist, dass die Erinnerung keine Abbildung von damaligen Ereignissen sein kann. Die „Wahrheitsfrage“ lässt sich nicht auf die Frage der Subjektivität reduzieren; der Verzicht auf die Annahme einer „objektiven Wahrheit“ bedeutet keineswegs notwendigerweise die Annahme einer Beliebigkeit. Eine Grundposition qualitativer Verfahren beinhaltet, dass die Wahl der Äußerung nicht zufällig und nicht beliebig geschieht und Erleben, Erfahren und Erzählen nicht in einem völlig arbiträren Verhältnis zueinander stehen. Das bedeutet auch, dass Wahrheiten im Plural sich in ihrer Entstehungsgeschichte in Kontexten zurückverfolgen lassen. Rosenthal hat diese Position für die Konstitution einer erzählten Lebensgeschichte ausformuliert:
„Die Zukunft ist ungewiss, aber die Vergangenheit ändert sich ständig“* – Positionen zur Wahrheitsfrage bei lebensgeschichtlichen Erinnerungen Rosenthal (1995) hat die Grundprämissen zweier Positionen einander gegenüber gestellt: In der einen Position wird von einem konstanten „damals objektiv Stattgefundenen“ ausgegangen, das dann durch subjektive Deutungen und die „mentalen Prozesse“ eine Modifikation erfährt. In der anderen Position gilt die Lebensgeschichte als reine „Erfindung“ von der heutigen Perspektive aus, unabhängig von jemals Erlebtem. Beide Positionen, so Rosenthal, gehen letztlich von einem Dualismus zwischen „Erlebtem“ und „Erzähltem“, zwischen „Objektivem“ und „Subjektivem“ aus und lösen diesen Dualismus entweder zu der einen oder zu der anderen Seite hin auf. Sie selbst geht von einer Position des Dualismus über zu einer Position der Dialektik: Subjektives und Objektives, Erlebtes und Gedeutetes stehen in einem dialektischen Wechselverhältnis. „Machen sich also die einen auf die einseitige Suche nach den Ereignissen, auf die die erzählte Lebensgeschichte verweist, gehen die anderen auf die einseitige Suche nach den Deutungsmustern in der Gegenwart der ErzählerInnen. Bei beiden, wenn auch von entgegengesetzten Polen aus, wird die Wechselwirkung von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem verfehlt. Es wird nicht gesehen, dass sich sowohl das Vergangene aus der Gegenwart und der antizipierten Zukunft konstituiert als auch die Gegenwart aus dem Vergangenen und dem Zukünftigen.“ (Rosenthal 1995, 17) *Quelle unbekannt
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Übung 7: Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit Vorbereitung: keine Kategorie: Basiskompetenz; Ziel: Einsicht in Versionenhaftigkeit von Überzeugungen Einzelarbeit; Zeit: 10 Min., kein anschließender Austausch Anleitung: Bitte denken Sie nach und machen Sie sich Notizen: Fallen Ihnen Beispiele ein, wo – Sie eine Beziehung zu einem Menschen nach einem Ereignis umdefiniert haben mitsamt der „wahren“ Eigenschaften dieses Menschen (z.B.: Ich habe mich in ihm oder ihr getäuscht)? – Sie Ihre Lebensgeschichte revidiert und „in neuem Licht“ gesehen haben (z.B. im Zuge einer therapeutischen Aufarbeitung)? – sich Ihre Erinnerung z.B. als Zeuge oder Zeugin in einem Widerspruch befand zu den Erinnerungen anderer Person an dasselbe Ereignis?
Der Nachvollzug der Erzählerperspektive, was die „Wahrheit“ einer Aussage angeht, ist deshalb im Rahmen einer Schulung wichtig, weil der Respekt vor der Fülle unterschiedlicher und mitunter aus der Perspektive der Interviewenden merkwürdiger „Wahrheiten“ dazu verhilft, die „Sinnhaftigkeitsunterstellung“ (s.o.) und die Offenheit für einen „fremden Sinn“ in der Interviewsituation selbst angemessen umzusetzen. Dies wiederum ist die Voraussetzung dafür, sich bewusst für Nachfragen zu entscheiden, die bei nicht nachvollziehbaren „Wahrheiten“ um weitere Aufklärung bitten, oder aber ebenso bewusst auf solche Nachfragen zu verzichten. Die einzelnen Interviewformen geben hier in unterschiedlicher Weise vor, wie mit der Wahrheitsfrage umzugehen ist (→ Abschnitt 1.3), eine bewusste Interviewsteuerung setzt aber in jedem Fall eine Reflexion der eigenen Beurteilungsperspektive und der eigenen Wahrheitskriterien voraus (→ Abschnitt 3.3).
2.6 Theoretische Vertiefung: Das Prinzip Kommunikation In Kapitel 2 wurden an unterschiedlichen Stellen Beispiele für den kommunikativen Charakter des qualitativen (auch des narrativen) Interviews geliefert. Kommunikation ist eines der Grundprinzipien der qualitativen Forschung (→ Abschnitt 1.1). Hier wird noch kurz auf den theoretischen Hintergrund hingewiesen. Sinn wird interaktiv hergestellt – diese allgemeine Aussage lässt sich auch auf die Interviewsituation beziehen. Das Grundprinzip Kommunikation besagt, dass jede Interviewsituation prinzipiell und unabhängig von der Interviewform im Besonderen eine Kommunikationssituation darstellt und dass erst in einer solchen Kommunikationsbeziehung Forschende den Zugang zu dem Sinnsystem der Erzählperson finden können. Für dialogische Interviewverfahren ist dies leicht einsichtig. Aber auch bei monologisch angelegten, narrativen Interviews mit stark asymmetrischen Rollen geht es um Sprechen und Zuhören, um 79
Fragen und Verstehen, um Selbstdarstellung und Fremdeinschätzung. Ein „soziales Vakuum“ (Maindok 2003, 109) als Erhebungskontext gibt es nicht: Die Interviewsituation hat eine soziale Definition – alle Beteiligten wissen, es handelt sich um eine Begegnung der Art „Interview“ und assoziieren entsprechende Begegnungsregeln. Die erzählte Erfahrung bleibt nicht privat, sie wird im Erzählen und Darbieten sozialisiert: „Die Hörerin repräsentiert für uns als Erzähler den sozialen Horizont unserer Geschichte, die Ausrichtung auf ein Gegenüber und den Blick von außen auf uns selbst (...). So (...) schlägt sich im Erzählen die Bezugnahme auf die reale und imaginierte Hörerin nieder.“ (LuciusHoene/Deppermann 2002, 33) „Erzählen ist als sprachliche Handlung immer intersubjektiv angelegt und ist bereits damit auf das soziale Umfeld ausgerichtet. Auch wenn es zunächst monologisch erscheint, wird es durch die Art des Sprachgebrauchs und der Ausrichtung auf die Hörerin zum sozialen Akt.“ (a.a.O., 61, Hervorhebung: Lucius-Hoene/Deppermann). In diese Kommunikationssituation bringen beide, die interviewende und die erzählende Person, ihre eigenen (und zueinander differenten: s.o.) Relevanzsysteme und Wirklichkeitskonstruktionen ein. Auch wenn nur eine Person erzählt, ist der Text doch eine Ko-Produktion und die Interviewenden sind Ko-Produzierende. Bei standardisierten Verfahren wird angestrebt, Kommunikationsaspekte möglichst wenig zum Tragen kommen zu lassen, indem z.B. versucht wird, den Einfluss von Interviewenden durch schematische Intervieweranweisungen oder Entpersönlichung der konkreten Erhebungssituation zu minimieren – Interviewende gelten als „Störfaktoren“. Die qualitative Forschung geht einen anderen Weg: Wenn es eine Bereinigung des Interviews um soziale und kommunikative Effekte nicht geben kann, dann müssen diese Effekte systematisch bei der Gestaltung des Interviews und ebenso bei der Interpretation in Rechnung gestellt und einbezogen werden. Der Einfluss wird also explizit herausgearbeitet und der Text als ein in einer spezifischen Interaktionssituation entstandener Text interpretiert (s.u.: „Prinzip Reflexivität“). Sinn wird interaktiv hergestellt und ist daher an die Interaktion als „Kontext der Äußerung, etwa an die Intentionen von Sprecher und Hörer und deren Beziehung zueinander, wie an einen Index gebunden und losgelöst von diesem Kontext nicht fassbar.“ (Hoffmann-Riem 1980, 344)
Interaktionsprozesse als Daten Die Daten sind „…immer subjektive Deutungen, die in bestimmten Interaktionsprozessen entstehen (…). Die Interaktionsprozesse von sich verändernden Forschern und Subjekten sind also die eigentlichen Daten der Sozialwissenschaften im Sinne qualitativer Forschung.“ (Mayring 2002, 32) Weiterführende Literatur Hoffmann-Riem 1980; Lucius-Hoene/Deppemann 2002, insbes. Kap. 2.5; Kahn/Cannell 1967
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2.7 Bilanz und Reflexion Die Auseinandersetzung mit der Erzählerperspektive zeigt, dass Erzählen eine hoch komplizierte kommunikative Leistung ist. –
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Gerade in der Eröffnung des Interviews vollbringen die Erzählpersonen eine komplexe Orientierungsleistung. Sie wählen aus dem Universum möglicher Interviewanfänge ihre Version aus. Hier, in dieser besonders sensiblen Phase des Interviews, sollte der Raum für mögliche Wahlen möglichst wenig eingeschränkt sein. Erzählpersonen sind unterschiedlich „stabil“ in ihren Erzählplänen. Erzählpersonen erzählen nicht einfach nur, sondern sie steuern und strukturieren mit Pausen, Abschlussmarkierungen und Weiterfrag-Angeboten die Interaktion und es wird (auch) interaktiv ausgehandelt, was sie erzählen oder zurückhalten wollen, wann sie „genug“ erzählt haben und wo sie unter bestimmten Bedingungen bereit sind, noch mehr zu erzählen. Die „Wahrheit“ der Erzählungen erweist sich als eine komplizierte Angelegenheit: Sie ist nicht unbedingt nach dem Maßstab der Interviewenden zu beurteilen und kann einer eigenen Logik folgen.
Reflexion – (Sofern die Interviewform bereits festliegt:) Welche impliziten Erwartungen an Erzählpersonen sind mit der spezifischen Interviewform verknüpft? Wie sollen Interviewende mit der Wahrheitsfrage umgehen? – Kann ich mir meine persönlichen Erwartungen vergegenwärtigen, die ich bezogen auf die Erzählpersonen hege? – Sind mir die Anforderungen klar, die allgemein an Erzählpersonen am Interviewanfang gestellt werden? Kann ich aus Einstiegspassagen Hinweise über die Erzählstrategien, Positionierungen, Erzählsicherheit der Erzählperson gewinnen? – Kenne ich wichtige Signale, mit denen Erzählpersonen die Interaktion steuern? – Wie wichtig sind mir widerspruchsfreie und mir verständliche Darstellungen? Kann ich akzeptieren, dass Widersprüche sich nicht auflösen lassen und dies eine Eigenheit des „Sinns“ des Erzählperson darstellen kann? Kann ich akzeptieren, dass das, was mir eine Lüge zu sein scheint, eine subjektive Wahrheit sein kann? Kann ich die Entscheidung, um Aufklärung zu bitten oder nicht, bewusst treffen (entsprechend den Vorgaben durch das Interviewverfahren)? – Ist mir das „Prinzip Kommunikation“ einsichtig? Weiterführende Aspekte: – Analyse der Interaktionsdynamik in der Einstiegpassage und Fragen ihrer Steuerung: → Abschnitt 4.3. – Verabredungen für schwierige Interviewsituationen und „schwierige“ bzw. nicht erwartete Erzählweisen der Erzählperson: → Abschnitt 4.4.
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3 Übungsteil II: Die Interviewenden/Hörenden – Fremdverstehen und Fragen in der Interviewsituation
Interviewende sind verantwortlich dafür, dass der Kommunikationsprozess „Interview“ gelingt. Ihre Haltung und ihr Verhalten stehen daher im Mittelpunkt dieses Kapitels. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass dies nur einen Ausschnitt aus dem Interaktionsprozess darstellt: Die Interviewenden reagieren auf die Erzählpersonen und die Erzählpersonen wiederum auf die Interviewenden. Die Verschränkung der Perspektiven wird Thema in → Kapitel 4. Die in der Literatur formulierten Anforderungen an Interviewende sind widersprüchlich (vgl. Hermanns 2000, 361; → Einführung und Abschnitt 1.4) und zudem oft unklar. In der Liste der erwünschten Eigenschaften und Fähigkeiten finden sich viele abstrakte Begriffe, die Fragen offen lassen: Was heißt es, die richtigen Fragen zu stellen? Wie drückt sich eine respektvolle Haltung gegenüber der Erzählperson aus? Wie stellt man Vertrauen her? Unter der Gesamtüberschrift „Vermittlung von Wissen über Regeln der Verständigung und der strategischen Handhabung dieser Regeln“ konkretisierte Kompetenzen betreffen zum einen das Verstehen – das aktive Hören und Aufnehmen der Äußerungen der Erzählperson und deren Interpretation und Deutung. Die entsprechenden Bausteine behandeln das Fremdverstehen (→ Abschnitt 3.1) und das aktive Zuhören (→ Abschnitt 3.2). Zum zweiten betreffen die erforderlichen Kompetenzen das Steuern des Interviews – in der Form, wie sie von der spezifischen Interviewform zugelassen ist – über einen bewussten Einsatz von nonverbalen Signalen (→ Abschnitt 3.4) und unterschiedlichen Frageformen (→ Abschnitt 3.5). Die Nachfragen werden erst auf der Basis des Verstandenen generiert und sie stellen auf Seiten der Interviewenden, ebenso wie die Erzählung auf Seiten der Erzählenden, eine Selektion aus einem Universum möglicher sprachlicher Äußerungen dar. Ein weiterer Abschnitt ist der Auseinandersetzung mit der „Wahrheitsfrage“ aus der Sicht der Interviewenden gewidmet (→ Abschnitt 3.3). Das „Prinzip Offenheit wird theoretisch vertieft (→ Abschnitt 3.6) und das Kapitel endet mit einer Bilanz (→ Abschnitt 3.7). Für den Einstieg in die Übungen kann auf die Stichworte zurückgegriffen werden, die in Übung 2 zur Situation der Interviewenden gesammelt wurden. Ein Austausch ist z.B. möglich über:
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Schwierigkeiten, den Erzählfluss bei der Erzählperson aufrecht zu erhalten, ohne in eine inhaltliche Steuerung oder einen Dialog zu fallen, Schwierigkeiten, mit Pausen oder Schweigen umzugehen, die Handhabung der Grenze von Zudringlichkeit und Neugier, das Unterdrücken des spontanen Impulses, von der eigenen Person zu erzählen, Schwierigkeiten, sich auf das Gegenüber und zugleich auf die Anleitungen für das Interviewerverhalten und auf das Forschungsinteresse zu konzentrieren.
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Im Austausch kann herausgearbeitet werden, dass die genannten Aspekte sehr unterschiedlich erlebt werden, je nachdem, in welchem Ausmaß Vorerfahrungen in Gesprächsführung oder qualitativer Interviewtechnik vorliegen. Interviewende sind ebenso unterschiedlich wie die Erzählpersonen es sind.
3.1 Fremdverstehen in der Interviewsituation „Fremdverstehen“ heißt: andere Menschen aus der Außenperspektive des oder der Anderen zu verstehen1. In diesem Abschnitt geht es darum, wie dieses wechselseitige (Fremd-)Verstehen in der Interviewsituation von der Erzählperson und von Interviewenden erbracht wird (zum Verstehen allgemein → Abschnitt 1.1).
Verstehensleistung im Alltag: Die Bedeutung des intuitiven Vorverständnisses „Ich sitze meinem Freund P. gegenüber. Wir diskutieren mal wieder über Europa 92. Er ist Kettenraucher. Auch heute hat er schon wieder ein Päckchen leer geraucht, was ich allerdings erst bemerkte, als er anfängt, seine Taschen abzuklopfen und in ihnen zu fingern. Meine Frage: „Suchst Du etwa Zigaretten?“ ist überflüssig, wird aber hoffnungsvoll aufgenommen…“ (Graumann/Metraux/Schneider 1995, 68f)
Die wechselseitigen Verstehensleistungen in diesem Beispiel lassen sich leicht rekonstruieren, ebenso lassen sich die Erfahrungen und Vorannahmen 1
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Genauer: „Fremdverstehen können wir jenen Vorgang nennen, bei dem wir einer Erfahrung den Sinn verleihen, dass sie sich auf ein Ereignis in der Welt bezieht, dem Alter Ego bereits einen Sinn verliehen hat.“ (Soeffner 2000, 165) Dieses Zitat klingt kompliziert, lässt sich aber rückwärts leicht aufschlüsseln: Alter Ego verleiht einem Ereignis Sinn (d.h. versteht), wir verleihen einer Erfahrung Sinn, dass sie sich auf dieses (von Alter Ego) gedeutete Ereignis bezieht. Das Bild fasst das Verstehen des (von einem Anderen) Verstandenen. Das Fremdverstehen ist nie unzweifelhaft, immer beruht es auf meinen eigenen Erfahrungen und es kann von dem Sinn abweichen, den Alter Ego seinen Erfahrungen verleiht.
ahnen, die A. zu seiner Frage und P. zu seiner Hoffnung bewegen. Verallgemeinert gilt: Die Zuhörenden bzw. Interviewenden verstehen das Gehörte, indem sie es in ihr eigenes Bezugs- und Relevanzsystem „übersetzen“, an ihr Vorverständnis anschließen und die Indizes mit Bedeutung aus ihrer Sicht füllen (und spezifisch auf den Beziehungsaspekt reagieren). Diese Übersetzung ist die Grundlage dafür, weitere Fragen zu stellen, d.h. auch Fragen beruhen auf Verstehensleistungen. Die allgemeinen Überlegungen zum Verstehen werden hier auf die Verstehensprozesse bezogen, die den Fragen von Interviewenden zu Grunde liegen. Besonderheit des Fremdverstehens in der Interviewsituation ist der Zeitdruck, dem es unterliegt: Noch während eine Aussage verstanden wird, geht die Erzählung weiter oder muss rasch eine Formulierung für eine Anschlussfrage gefunden werden. Das Verstehen geschieht ad hoc und gestützt auf Intuition2. Verstehensprozesse in der Interviewsituation selbst bestehen, analytisch nicht trennbar, aus Wahrnehmen – und das heißt hier: Hören, aber auch nonverbale Signale der Erzählperson Sehen – und Deuten. Dass Wahrnehmung selektiv ist, ist allgemein bekannt. Im Zusammenhang mit qualitativen Interviews ist die Form von Selektivität wichtig, die daher rührt, dass ich als Interviewende höre oder sehe, was ich deuten und einordnen kann und was von meinen Vorannahmen her einen Sinn verliehen bekommen kann. Was das Vorwissen in Frage stellt, irritiert oder gilt als „unglaublich“. Damit ist die Frage angesprochen, welches Verhältnis die Interviewenden zu ihrem eigenen Vorwissen haben und ob bzw. wie dieses Vorwissen in den Forschungsprozess eingebracht wird. Wie die eigene Einstellung als ein Teil des persönlichen Vorwissens in die Wahrnehmung und das Nachfragen eingeht, kann man gut bei Fragen in der Alltagskommunikation beobachten. Suggestivfragen oder Warum-Fragen (z.B. „Und Du hast Dich nicht gewehrt?“, „Warum hast Du Dich nicht gewehrt?“) werden auf der Grundlage gestellt, dass die Gesprächspartnerin, wäre sie an der Stelle der Erzählperson gewesen, anders gehandelt hätte. Nachfragen nach Ergänzungen und Ausschmückungen oder Unterstellungen, da werde etwas verdrängt, indizieren, dass die Gesprächspartnerin etwas in der Erzählung vermisst, was in ihrem eigenen Relevanzsystem wichtig ist. Nachfragen, die um Klärungen bitten, zeigen, dass der Anschluss an das Sinnsystem der Gesprächspartnerin so noch nicht vollzogen werden konnte. Professionelle im sozialen oder therapeutischen Bereich haben gleichfalls eigene Bezugssysteme, Relevanzen und Deutungen, die zu spezifischen Nachfragen motivieren (→ Abschnitt 3.5). Diese Beispiele zeigen, dass Fragen unter Um2
Intuition ist nach Soeffner aber nichts anderes „als ein unter bestimmten Bedingungen wirksames, abkürzendes hermeneutisches Verfahren“ (Soeffner 1979, 330). Was alles „hörbar“ oder „verstehbar“ gewesen wäre, wird deutlich, wenn die gleiche Passage, die in einem Interview von der Interviewenden in einer bestimmten Richtung verstanden wurde, nun schriftlich vorliegt und in einer langen und ausführlichen Interpretationssitzung, entlastet von einem Zeitdruck und unter Einbezug der Perspektiven mehrerer Personen, bearbeitet und „verstanden“ wird.
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ständen mehr über die Peson sagen, die die Frage stellt, als dass sie den von der Erzählperson intendierten Sinn aufgreifen. Eine minimale Basis an gemeinsamem Vorverständnis ist notwendig, damit Kommunikation gelingt. Das Vorverständnis muss aber offen dafür sein, zu hören und aufzunehmen, was ihm nicht entspricht. Voraussetzung dafür ist die Fähigkeit, sich das Vorverständnis (ebenso wie die Erwartungen an Erzählpersonen: → Abschnitt 2.1) zu vergegenwärtigen und es zu reflektieren. Über diesen gemeinsamen Ausgangspunkt hinaus gibt es Unterschiede zwischen Interviewformen (→ Abschnitt 1.3): –
Bei narrativen oder eher ethnografisch orientierten Interviews bzw. bei Mischformen mit narrativen Teilen soll das Vorwissen zurückgestellt werden. Wenn Interviewende etwas nicht verstanden haben, gilt diese „Unverständlichkeit“ als Textmerkmal, dem in der Interpretation eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird, um den Sinn dieser Unverstehbarkeit in dieser Interviewsituation zu entschlüsseln. In der Interviewsituation selbst müssen die Interviewenden nicht „verstehen“ und können auf Klärungen verzichten. Bei dialogischen, eher beraterisch orientierten Interviews ist das Verstehen auf Seiten der Interviewenden etwas, mit dem „gearbeitet“ wird. Ob sie eine Aussage verstehen konnten, wird als Kriterium der Gültigkeit der Äußerungen von Erzählpersonen genommen: Unverstandenes soll als noch ungenügende Äußerung weiter von der Erzählperson expliziert werden. Verstehen und das Verstandene verbalisieren, damit die Erzählperson dies aufgreifen kann, ist ein zulässiger Aspekt der Kommunikation. Besteht der Eindruck von Widersprüchen oder „Darstellungsfassaden“ (kalkulierte Selbstpräsentationen: Witzel 1982, 49), wird dies mit Nachfragen geklärt. Das Vorwissen und die eigenen Deutungen werden explizit eingebracht, aber sie werden offen gehalten für Revisionen. Fremdverstehen steht im Kontext gemeinsamer Arbeit an (von beiden) als zutreffend eingeschätzten Aussagen.
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Übung 8: Rekonstruktion von Fremdverstehen über Nachfrageformulierungen – die Nachfrage als Selektion aus dem Universum möglicher Nachfragen Vorbereitung: Je nach Gruppengröße ein bis vier unbeschriebene Zettel pro Person (es sollten insgesamt 12 bis 15 Zettel zusammen kommen) und Filzstifte (damit die Zettel auch aus der Entfernung lesbar sind) verteilen. Die Textpassage kann sehr langsam auf Band gesprochen oder vorgelesen werden. Der Text wird zudem auf Folie kopiert. Pinnwand, Pinnadeln, Overheadprojektor Kategorie: Basiskompetenz; besonders wichtig für dialogische (problemzentrierte) bzw. Leitfaden-Interviews; Ziel ist ausdrücklich NICHT das Einüben von Nachfragen, sondern eine Sensibilisierung für die Mechanismen des Fremdverstehens; Teilziele s.u. Gruppenarbeit; Zeit: 1 Std. Anleitung für die Arbeit in Gruppen (Anleitung für Selbststudium: s.u.)
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1. Ankündigung und Text hören lassen: Gleich hören Sie eine Gesprächspassage. Es geht darum, im Anschluss daran spontan eine Nachfrage zu formulieren, also aufzuschreiben, was Ihnen spontan einfällt. Dabei soll erarbeitet werden, wie Nachfragen zustande kommen, es handelt sich also ausdrücklich nicht um die Simulation einer Interviewsituation (insbesondere wird die bei narrativen Interviews übliche „Abstinenzregel“ ausdrücklich außer Kraft gesetzt). Es geht nicht darum, ob die Nachfrage den Interviewregeln entsprechend korrekt ist oder nicht, sondern um das spontane Reagieren. Das soll uns die Mechanismen des Verstehens verdeutlichen. Schreiben Sie gleich, nachdem Sie die Passage gehört haben, die Nachfrage, die Ihnen einfällt, auf den Zettel. Denken Sie nicht lange nach. Bei dieser Übung gibt es kein Richtig und kein Falsch bei den Nachfragen. Wenn mehrere Zettel pro Person ausgeteilt wurden: Schreiben Sie jeweils pro Zettel nur eine Nachfrage auf – eine neue Frage kommt auf einen neuen Zettel. Die Passage wird vorgelesen oder vorgespielt. Das Tempo beim Notieren der Fragen sollte der Gruppe angepasst werden und dabei darauf geachtet werden, dass die Teilnehmenden nicht zu lange nachdenken. Der Text: Ausschnitt aus einem Gespräch über Verhütung; Kontext: biografischer Ausschnitt erster Geschlechtsverkehr A: Und habt ihr euch das – habt ihr darüber gesprochen gehabt? B: Verhütung…? A: Hatte er überhaupt davon gewusst gehabt, dass Du die Pille nimmst? B: Ich hab ihm das gesagt, dass ich die Pille nehmen werde. Aber also was es NOCH für Möglichkeiten gibt oder so, darüber haben wir nich gesprochen beziehungsweise ich habe mir eigentlich dann auch überlegt, dass ich mal lieber erst mal die Pille nehme weil ich ja nich so viel Ahnung habe. – Und das war mir einfach das Sicherste. Ich wollte mich nicht noch also zu den technischen Problemen da noch mit anderen Sachen belasten. Und dass der Mann verhütet, das war – also ich muss sagen dass ist mir eigentlich auch damals gar nicht in den Sinn gekommen. Das finde ich erst so durch die letzten Jahre ist das erst mal so überhaupt so ins Blickfeld gerückt. HIV-Prävention und Kontrazeption 1992, 27j. Frau, Westen 2. Reflexion Ziel: Reflexion der Fragewurzeln im (persönlichen und untereinander unterschiedlichen) Bezugssystem der Befragten oder der Interviewenden Die Zettel werden anschließend eingesammelt und der Text auf dem Overheadprojektor gezeigt. Die Diskussionsleitung nimmt den ersten Zettel und die Art der Frage wird entsprechend den unten angegebenen Merkmalen (Zeitbezug, inhaltlicher Aspekt, Ebene) beschrieben, z.B.: „Diese Frage geht auf die heutige Situation ein und es geht um Verhütung für Männer“, oder: „Diese Frage bleibt bei der damaligen Situation und der Frager möchte mehr zu den technischen Problemen wissen“. Es wird gefragt, wer die Frage geschrieben hat und die Frage-Autoren und -Autorinnen sollen benennen, auf was im Text sie reagiert haben, wo sie einen „Anker“ im Text für ihre Frage hatten und warum ihnen dieser Aspekt, den sie in der Nachfrage aufgreifen, so wichtig ist. Dies wird mit dem zweiten Zettel wiederholt etc.
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Da der Ausgangstext so gewählt wurde, dass er viele Anknüpfungspunkte, eine widersprüchliche Selbstdarstellung und eine ambivalente Offenheit enthält, sind unterschiedliche „Anker“ und damit unterschiedliche Nachfragen zu erwarten (es sei denn, die Gruppe ist sehr homogen, dann können weitere Fragemöglichkeiten von der Leitung eingebracht werden). Die Fragen unterscheiden sich – hinsichtlich des Zeitbezugs (Nachfragen zu „damals“ oder zu heute bzw. “in den letzten Jahren“), – hinsichtlich des Situationsbezugs (genannte Details aus der Situation aufgreifend wie Pille, Verhütung, Sprachen, „keine Ahnung“ oder weiterführend, indem Gefühle, Wünsche, Ängste nachgefragt werden), – Nachfragen können eigene Aspekte neu einführen (z.B. Mutter, Aufklärung), – Nachfragen können als Einstellungs- oder Bewertungsfragen (z.B. Einstellung zu bzw. Bewertung von Pille oder Verhütung) oder als fiktionale Fragen (was wäre gewesen, wenn…) formuliert sein, – Nachfragen können Unklarheiten oder Widersprüche aufgreifen: Unklar bleibt in der Passage z.B., was mit „technischen Problemen“ oder auch mit „Sicherheit“ gemeint ist, was die „anderen Sachen“ sind, die belasten können. Die angepinnten Nachfrageversionen können daraufhin untersucht werden, welche im Bezugssystem der Befragten bleiben und welche eher aus dem Bezugssystem der Interviewenden gespeist werden. Die Zettel sollten aufgehoben werden, sie werden in Übung 15 noch einmal eingesetzt. 3. Kurze Analyse der Besonderheiten der Textpassage Ziel: Analyse der Wurzeln von Nachfrageimpulsen in der Situationsbewältigung auf Seiten der Interviewenden Für ein weiteres Reflexionsziel, nämlich für die Analyse der Wurzeln von Nachfrageimpulsen in der Situationsbewältigung auf Seiten der Interviewenden – hier konkret: Bewältigung von Verunsicherung durch Andeutungen von Belastungen im Erzähltext – ist zuvor eine Analyse der Besonderheiten der Textpassage notwendig. Sie kann als Diskussion in der Gruppe geleistet werden. Der Text liegt noch auf dem Overheadprojektor; nun wird der Aufbau der Passage gemeinsam erarbeitet: Nach dem Beginn mit einer dezidierten Aussage („Ich habe gesagt, dass ich werde“) wird die Darstellung zunehmend unklarer (sprachliche Indikatoren für Vagheit, Andeutungen von Problemen: „nicht so viel Ahnung“, „Probleme“, „belasten“, „Sicherheit“). In der fünften Zeile führt die Befragte vom Thema der Belastungen und von der damaligen Zeit weg. Thema ist jetzt die Erkenntnis, „dass der Mann verhütet“, die sie erst „in den letzten Jahren“ gewonnen hat. Dies ist ein Beispiel für eine Einbettung als Erzählstrategie mit dem Aufbau A-B-A, die Andeutung einer Problematik (B) ist eingebettet in andere Themen. Die Erzählerin deutet Probleme an, überlagert sie dann aber mit einem Themenwechsel. Die Hörenden müssen diese mittlere Passage, die Belastungen andeutet, in irgendeiner Form registrieren. Der Erzählerin beim Wegführen vom Thema zu folgen und die Nachfrage auf das Heute bzw. die letzten Jahre zu beziehen, bedeutet auch ein Überspringen dieser unklaren Mitte der Passage. Auch ein Anker bei einer eher „technischen“ Frage oder eine verallgemeinernde Frage zu Einstellungen etc. führt ebenfalls aus der Situation heraus. Am klarsten setzen die Nachfragen die Irritation um, die bei der damaligen Situation bleiben und um eine weitere Beschreibung der Belastungen bitten.
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Die erste Schlussreflexion rückt den Umgang mit der unklaren Mitte der Passage in den Mittelpunkt und die Frage, was davon abhalten kann, gerade hier mit Weiterfragen anzusetzen. Während es vorher darum ging, positive Aufmerksamkeit („Anker“) zu reflektieren, geht es jetzt darum, mögliche Vermeidungen von Nachfragen aufgrund eines Unbehagens zu reflektieren. Die daran anschließende Schlussreflexion bringt eine „inhaltsleere“ Frage (s. unten: Aufrechterhaltungsfragen) „Und wie ging es weiter?“ – sofern sie noch nicht vorher genannt worden ist – ins Spiel. Damit wird die Erzählerin zum Fortschreiten in der Erzählung ermuntert, was auch bedeutet, dass die Interviewenden die Unklarheit ungeklärt akzeptieren. Ergänzung: Einige Nachfragen werden an den Abschluss der Passage angeknüpft haben und damit der Erzählerin folgen, die von der damaligen Situation weg“führt“ und ein neues Thema anbietet. Hier kann darauf hingewiesen werden, dass gerade bei längeren Passagen Interviewende die Tendenz haben, das zuletzt Gesagte am deutlichsten wahrzunehmen und dort anzuknüpfen, sofern es um Nachfragen geht. Es kann am Ende die Passage von zwei Teilnehmenden gespielt und mit ausgewählten Nachfragevorschlägen fortgeführt werden. Dadurch kann die Wirkung bestimmter Fragevorschläge erprobt werden. Anmerkung: Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass bei einem realen Interview – um das es hier ausdrücklich nicht ging – in Form von Absprachen vorher geklärt sein muss, inwieweit es Auftrag für die Interviewenden ist, bei solchen Andeutungen von Problem nachzuhaken, oder ob es für eine Interpretation als ausreichende Information erachtet wird, dass eine Belastung angedeutet wird, die in diesem Kontext eben nicht präzisiert werden kann. Zur Interviewerkompetenz gehört eine Sensibilisierung für unangenehme Passagen, d.h. die Fähigkeit zu merken, wann ich mich als Interviewende unwohl und irritiert fühle, um dann bewusst zu entscheiden, ob diese Irritation als eine Information genommen wird oder ob – bei narrativen Interviews in einer Nachfragephase oder bei problemzentrierten Interviews direkt – um eine Klärung gebeten wird. Anmerkung: Anderes Textmaterial Es können auch andere Passagen, die mit dem Forschungsprojekt thematisch zu tun haben, gewählt werden. Wichtig für die Übung ist, dass diese Passagen eine Vielzahl von „Ankerplätzen“ anbieten und der Dynamik einer ambivalenten Erzählstrategie (Zeigen und Verstecken, widersprüchliche Nachfrageaufforderungen) entsprechen, d.h. unterschiedliche Wege der Nachfragen gleichzeitig anbieten. Zum Selbststudium: Teil (1a): Die Ankündigung und der Text werden gelesen, Variation: Schreiben Sie so viele unterschiedliche Nachfragen auf, wie Ihnen einfallen. Teil (2a): Gehen Sie die Fragen einzeln durch und wenden sie die Reflexion aus Teil (2) auf sich und Ihre Fragen an. Reflektieren Sie insbesondere die unterschiedlichen „Anker“, die möglich sind. Teil (3a): Interpretieren Sie die Textpassage, gestützt von dem Text oben.
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Fazit der Übung sollte die Erkenntnis sein, – –
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dass eine Passage sehr unterschiedliche Nachfragen auslösen kann, dass diese Nachfragen jeweils auf eine bestimmte Eigenheit des Textes („Anker“) reagieren, die als subjektiv bedeutsam vor dem Hintergrund der eigenen Geschichte gesehen wird, während der Rest der komplexen Botschaft nur noch diffus wahrgenommen wird. Diese Eigenheit wird aus dem Textfluss herausgehoben und so wahrgenommen, dass hier die fiktive Fortsetzung des Gesprächs andockt. Nachfragen beruhen in der Regel auf Reaktionen, die der gesprochene Text bei dem oder der Interviewenden auslöst, dass ein Unbehagen mit Textpassagen dazu führen kann, dass unbewusst in diesen Passagen keine „Anker“ gesetzt werden und Nachfragen vermieden werden, dass es möglich ist, ein Unbehagen, Irritationen oder Widersprüche bewusst zu registrieren und sich dennoch gegen eine Erklärung oder Aufklärung zu entscheiden.
Das Verstehen als Aufnehmen und Deuten, so die Zusammenfassung, geht üblicherweise „durch den Kopf“ (bzw. den „Bauch“) der Interviewenden hindurch und die Nachfragen sagen mitunter mehr über die Nachfragenden aus als über die Textpassage, an die sie anschließen. Auch die Nachfragen sind Selektionen aus dem Universum der möglichen Nachfragen. „Fremdverstehen“ akzentuiert die Fähigkeit, das Gehörte nicht aus dem heraus zu verstehen, was man selbst als Zuhörende als „selbstverständlich“ weiß und kennt. Diese eigenen „Anker“, an denen sich Nachfragen festmachen, mögen in eine ganz andere Richtung weisen als das, was die Erzählperson aus Übung 8 wirklich ausdrücken wollte oder ausgedrückt hat. An das Ergebnis aus Übung 8, d.h. an die Erkenntnis, wie stark Nachfragen und Verstehensprozesse mit der eigenen Person zu tun haben, wird in den → Abschnitten 4.1 und 4.2 angeknüpft: Dort geht es darum, das eigene Bezugssystem zurückzustellen, eine Haltung einer Indifferenz, Fremdheitsannahme oder gleichschwebenden Aufmerksamkeit zu entwickeln, um so mehr Raum zu gewinnen für das, was aus der Äußerung selbst heraus zu verstehen ist. In Forschungsbeispiel 26 in → Abschnitt 4.8 kann nachgelesen werden, wie die völlig verwirrte Interviewerin eine Nachfrage im Anschluss an die Passage aus Übung 8 wählte, die keineswegs den Regeln der „Kunst des Nachfragens“ entsprach, und wie in der Interpretation des Interviews dieser faux pas zum „Erkenntnismittel“ wurde.
3.2 „Aktives“ Zuhören und der Umgang mit Pausen Ein zentraler Aspekt der Interviewerkompetenz ist das Zuhören, verbunden mit einer besonderen Form der Aufmerksamkeit. Dieses „aktive“ oder „personenbezogene“ Zuhören, bei dem die Erzählperson im Mittelpunkt steht, 90
sind wir im Alltag nicht gewohnt. In der Alltagskommunikation ebenso wie in Übung 8 sagen die Nachfragen vor allem etwas über das Sinnsystem der zuhörenden Person und über ihre unbewusste Verarbeitung der (Interview-) Situation aus. „Aktives“ Zuhören soll solche von der subjektiven Wahrnehmung bestimmten Selektionsfilter zumindest in ihrer Wirksamkeit mindern. Dazu sind die spontanen Reaktionen zu kontrollieren und eine Haltung der Offenheit ist einzunehmen.
Zuhören im Alltag „In alltäglichen Gesprächssituationen werden unmerklich und fortwährend die Rollen zwischen Sprecher und Zuhörer getauscht. Der eine Partner beginnt etwas zu erzählen, der andere hört zu. An irgendeiner Stelle wird vom zuhörenden Partner ein Reizwort als ein eigenes Stichwort zum Selbsterzählen aufgefangen, und ungeduldig wartet er nun darauf, seinerseits erzählen zu können. Und so geht dieses Pingpong-Gespräch weiter; Fakten und Erlebnisse werden ausgetauscht, Interpretationen werden geliefert und Ratschläge werden erteilt. Beide hören sich gegenseitig kaum noch zu, jeder weiß sofort etwas anderes, meistens von sich selbst, zu berichten.“ (Pallasch/Kölln 2002, 67)
Sich im Interview der inhaltlichen Impulse, die dem eigenen Bezugssystem entspringen, zu enthalten, ist ungewohnt und verletzt die Regeln der Alltagskommunikation. Dort ist die Aufmerksamkeit darauf gerichtet, mit diesen Impulsen wieder „an die Reihe zu kommen“. Im Interview sollte man möglichst lange gerade nicht an die Reihe kommen – die Aufmerksamkeit kann und soll ungeteilt dem zukommen, was die Person gegenüber sagt. Das aktive Zuhören hat eine zentrale Bedeutung für die (klientenzentrierte) Gesprächsführung. ‚Aktives‘ Zuhören ist eine grundsätzliche Gesprächshaltung, bei der es um eine Konzentration auf die Klienten mit einer Zurückstellung der eigenen Deutungen, Gefühle und Mitteilungsbedürfnisse geht und um das Wahrnehmen und Verstehen der Gedanken und Gefühle des Gegenüber mit einer (oder ohne eine) Rückmeldung3, dass und wie das Gehörte wichtig genommen und verstanden wurde. ‚Aktives‘ Zuhören ist verbunden mit der Fähigkeit, den Gesprächspartner gelten zu lassen, ihm das Recht auf seine persönliche Sichtweise zuzugestehen und auf Bewertungen zu verzichten, auch problematische Äußerungen zu ertragen und Geduld und Zeit zu haben. Es finden sich meist ähnlich lautende Standard-Übungen zum ‚aktiven‘ Zuhören in den entsprechenden veröffentlichten Trainings- oder Lernprogrammen. Geübt wird vor allem das Paraphrasieren, d.h. die Zusammenfassung des Gehörten (Sachaspekt und/oder Beziehungsaspekt) in den Worten der Erzählperson oder mit eigenen Worten sowie der Umgang mit Ge3
Das Konzept des aktiven Zuhörens wurde von Gordon (z.B. 2002) im Zusammenhang mit Familien- oder Managerkonferenzen entwickelt. Die Rückmeldung des Verständnisses macht die Aktivität beim Zuhören aus. Bei qualitativen Interviews soll die Qualifizierung des Zuhörens als ‚aktiv‘ auch verwendet werden, wenn keine entsprechende Rückmeldung gegeben wird.
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sprächspausen (s. insbesondere Weinberger 1998; Pallasch/Kölln 2002). Die folgenden Vorschläge lehnen sich an diese Übungen an, formulieren sie aber noch einmal für den Zweck der qualitativen Interviewführung um. Die Grenze der Brauchbarkeit der Übungen liegt dort, wo Deutungen der Interviewenden die Erzählperson in einem für das hier betrachtete Spektrum an Interviewformen nicht zugelassenen Maß steuern. Übung 9: Hausaufgabe: Zurückstellung eigener Deutungen Vorbereitung: Einteilung in Zweiergruppen Kategorie: Basiskompetenz; besonders wichtig für(teil-)monologische (narrative) Interviews; Ziel: Einüben des aktiven Zuhörens, Konzentration auf Erzählperson, Kontrolle der eigenen Reaktionen und Verzicht auf Unterbrechungen Arbeit in Zweiergruppe; Zeit: zweimal 10 Min. für die Erzählung, anschließend Austausch, insgesamt 30 Min. Eine der beiden Personen soll im Stil der Alltagskommunikation erzählen, was sie an dem heutigen oder gestrigen Tag erlebt hat. Die zweite Person hört nur zu (mit nonverbalen Signalen der Aufmerksamkeit). Nach der vereinbarten Zeit werden die Rollen getauscht. Am Ende tauschen sich beide darüber aus, wie es ihnen jeweils mit der für eine Alltagskommunikation unüblichen und die Symmetrieregel verletzenden Zurückhaltung auf Seiten der zuhörenden Person ging. Insbesondere soll darauf geachtet werden, wann man selbst beim Zuhören ungeduldig wurde, wann und wo ein Abschweifen mit den Gedanken beim Zuhören vorkam. Variante: Einsatz als Hausaufgabe/zum Selbststudium: Diese Aufgabe eignet sich auch als Hausaufgabe, v.a. beim Selbststudium: Die Teilnehmenden können angeregt werden, auch in Situationen der Alltagskommunikation zu prüfen, ob eine Zurücknahme der eigenen Deutung zu mehr Öffnung beim Gegenüber führen kann. Sie können üben, sich bewusst dafür zu entscheiden, sich entweder symmetrisch mit dem eigenen Bezugssystem einzubringen oder darauf zu verzichten.
Übung 10: Prüfung des Verstehens – Paraphrasieren Vorbereitung: Einteilung in Zweiergruppen Kategorie: Basiskompetenz; besonders wichtig für dialogische (problemzentrierte) Interviews; Ziel: Einüben des aktiven Zuhörens, Konzentration auf den „Sinn“ der Erzählung, Überprüfung der eigenen Wahrnehmungs- und Merkfähigkeit Arbeit in Zweier- oder Dreiergruppen (dritte Rolle: Beobachten und Achten auf das Einhalten der Spielregeln, s. Einleitung zu → Kapitel 2); Zeit: zweimal oder dreimal 10 Min. für die Erzählung, anschließend Austausch Eine der beiden Personen soll im Stil der üblichen Alltagskommunikation erzählen, was sie an dem heutigen oder gestrigen Tag erlebt hat. Die zweite Person fasst nach drei oder vier Sätzen der Erzählperson zusammen, was sie verstanden hat (paraphrasieren). Die Erzählperson kann korrigieren. Sie spricht erst weiter, wenn das Verstandene „stimmt“. Bei dieser Bestätigung des Verstandenen sind die Begriffe, die die zuhörende
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Person als ihre Begriffe in das Gespräch bringt, besonderes genau zu prüfen, ob sie den Begriffen entsprechen, die die Erzählperson auch verwenden würde. Die Rollen werden dann getauscht. Am Ende tauschen sich beide über ihr Erleben der Situation aus. In dem anschließenden Austausch kann es darum gehen, welche Aspekte die Erzählperson in der Paraphrase vermisst hatte und nachgetragen haben wollte und um die Gründe, warum die paraphrasierende Person diese weggelassen hatte, oder um die Schwierigkeit, wenn man sich auf einen Aspekt konzentriert, andere Aspekte noch mitzubekommen. Zum Selbststudium: Die Aufgabe ist weniger gut oder nur nach Vorinformation als Hausaufgabe durchführbar. Besser ist es hier, sich einen Partner oder eine Partnerin zu suchen. Variante: Das Übungsfeld wird statt von einer Alltagserzählung von A durch eine Diskussion von A und B abgesteckt; ein neuer Standpunkt kann durch A erst dann eingebracht werden, wenn B den Standpunkt von A wiederholt und B die Richtigkeit dieser Zusammenfassung bestätigt hat. Es kann vorab festgelegt werden, ob mehr der emotionale Gehalt oder mehr der Sachinhalt der Aussagen des Gegenüber in der Paraphrase aufgegriffen werden soll.
Bei der klientenzentrierten Gesprächsführung geht es entsprechend der Führungsaufgabe aufgrund des Beratungsauftrags darum, bei der Paraphrase ein Stück über das hinauszugehen, was der Klient oder die Klientin geäußert hat, z.B. Befürchtungen vorwegzunehmen, frühere Äußerungen einzubeziehen oder Empfindungen aufzugreifen, „die der Klient vielleicht irgendwie spürt, die er vielleicht andeutet, die er aber noch nicht in Worte fassen kann.“ (Weinberger 1998, 56, s. auch 140) Für qualitative Interviews ist eine solche Steuerung nur aufgrund einer besonderen Bestimmung des Forschungsinteresses und nur dann zugelassen, wenn das Interview selbst tendenziell beratenden Charakter haben soll. Übungen, die in diese Richtung weiterführen, wurden daher nicht in das Manual aufgenommen; sie können in der angegebenen Literatur selbst weiter verfolgt werden. Das Paraphrasieren wird bei den meisten Interviewformen nicht als übliche Form der Interviewsteuerung eingesetzt. Es schult aber die Aufmerksamkeit und insbesondere die Merkfähigkeit der Interviewenden und ist daher ein Baustein auch in dieser Schulung. Gerade wenn längere Passagen erzählt werden, kann die Merkfähigkeit der Interviewenden rasch überfordert sein. Mit dem Paraphrasieren wird darüber hinaus auch ein Effekt erprobt, der grundsätzliche Voraussetzung für den bewussten Einsatz aller Formen der Interviewsteuerung ist: die Entschleunigung oder Verlangsamung der Reaktionen. Die Paraphrase verlangsamt den Gesprächsfluss. Diese Langsamkeit ist zum einen ein Signal an die Erzählperson, dass ihr tatsächlich der Erzählraum zur Verfügung steht und nicht eine rasche, „fremde“ Intervention folgt. Ein zweiter Effekt betrifft die Interviewenden: Der spontane Impuls zu einer eigenen Stellungnahme, wie sie in der Alltagskommunikation zu erwarten wäre, wird zurückgestellt; die Verlangsamung schiebt zwischen die Äuße93
rung der Erzählperson und eine eigene Replik die Paraphrase. Diese Form der kommunikativen „Impulskontrolle“ führt zu der Haltung, das eigene Bezugsystem zurückstellen zu können, auch wenn später im Interview nicht paraphrasiert wird, Kommunikation kann auch ohne Paraphrasieren verlangsamt werden, wenn Pausen in der Erzählung nicht gleich durch verbale oder nonverbale Aktionen auf Seiten der Zuhörenden beendet werden. Auch dies ist ein Signal dafür, dass die Erzählperson den Raum nutzen kann, denn sie erfährt, dass frei werdender Erzählraum (= Pausen) nicht sofort mit Interventionen gefüllt wird. Längere Pausen ohne einen Eingriff der Interviewenden verankern und festigen die asymmetrische Rollenverteilung und „gewöhnen“ die Erzählperson daran, die Last der Erzählung allein zu tragen. Pausen können eine unterschiedliche Bedeutung haben. Nach einer Abschlussmarkierung unterstreichen sie, dass ein Sprecherwechsel gewünscht wird. Pausen können aber auch ein Zeichen des Nachdenkens oder der Ambivalenz bezogen auf das Weitersprechen sein. Die Bedeutung der Pause lässt sich häufig aus der Blickrichtung der Erzählperson ablesen: Blickt sie zum Interviewer bzw. zur Interviewerin hin oder schweift der Blick in den Raum? Ein Verzicht auf eine direkte Anschlussfrage kann gedeutet werden als Aufforderung, weiter zu erzählen, oder als Desinteresse; auch hier wird die Bedeutung über nonverbale Signale vermittelt (→Abschnitt 3.4). Häufig fällt es Interviewenden schwerer als Erzählpersonen, Pausen zu ertragen – sie befürchten, nicht genügend forschungsrelevantes Material zusammentragen zu können. Daher werden hierzu eigene Übungen vorgeschlagen (mehr zu Pausen aus pädagogisch-therapeutischer Perspektive: Pallasch/Kölln 2002, 70; die Übungen lehnen sich an die Vorschläge der Autoren an). Übung 11: Umgang mit Pausen – Zwangspausen Vorbereitung: Einteilung in Zweiergruppen, ev. Videoaufnahme Kategorie: Basiskompetenz; besonders wichtig für narrative Interviews; Ziel: Umgang mit Pausen, insbesondere Lernen, Pausen zu ertragen Arbeit in Zweiergruppen; Zeit: zweimal 5 Min. für die Erzählung, anschließend Austausch in der Gruppe; Zeit: insgesamt 20 Min. Eine Person bekommt die Rolle zu einem freien Thema (möglich ist z.B. ein mit dem Forschungsinteresse verbundenes Thema) zu erzählen. Es soll ein etwas anspruchsvolleres, in die Tiefe gehendes Thema gewählt werden, also ein Thema, bei dem die Erzählperson beim Erzählen etwas nachdenken muss. Die zweite Person hat die Aufgabe zuzuhören und immer dann, wenn die Erzählperson in ihrer Erzählung eine Pause macht, eine ‚Zwangspause’ von zehn Sekunden einzulegen, indem der Zuhörer oder die Zuhörerin in Gedanken bis Zehn zählt. Entweder hat bis zur „Zehn“ die Erzählperson wieder mit der Erzählung eingesetzt oder, wenn die Pause noch andauert, kann eine Frage gestellt werden. Diese Regel wird vorab beiden offen mitgeteilt, damit die Erzählperson die Pause auch nutzen kann. Nach einem Durchgang werden die Rollen getauscht. In der Gruppe findet anschließend ein Austausch darüber statt, wie beide Rollen – die der Erzählerperson und die der zuhörenden Person – erlebt wurden.
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Anmerkung: Übung 11 und 12 können zusammengefasst und dann der gesamte Komplex in der Gruppe reflektiert werden. Die Videoaufnahme kann im Zusammenhang mit nonverbalen Signalen analysiert werden. Zum Selbststudium: Für diese Übung sollte ein Partner oder eine Partnerin gesucht werden.
Übung 12: Umgang mit Pausen Vorbereitung: Einteilung in Zweiergruppen, ev. Videoaufnahme Kategorie: Basiskompetenz; besonders wichtig für narrative Interviews; Ziel: Umgang mit Pausen Arbeit in Zweiergruppen; Zeit: zweimal 7 Min. für die Erzählung, anschließend Austausch, insgesamt 30 Min. Eine Person bekommt die Anleitung, langsam im Stil der Alltagskommunikation zu erzählen, wie sie sich bislang bezogen auf die Schulung gefühlt hat (dabei muss sie in der Regel etwas nachdenken). Sie soll sich Zeit zum Nachdenken und Formulieren nehmen. Die zweite Person soll zuhören und nicht intervenieren; sie soll zudem darauf achten, wohin der Blick der Erzählperson geht. Im anschließenden Austausch in der Gesamtgruppe berichten beide, wie es ihnen mit dieser ungewohnten Langsamkeit der Kommunikation ging. Variante: Es ist auch möglich, frühere Tonbandaufzeichnungen von Übungen (Übung 2 und 6) auf den Umgang mit Pausen hin abzuhören. Anmerkung: Die Videoaufnahme kann im Zusammenhang mit nonverbalen Signalen analysiert werden. Zum Selbststudium: Für diese Übung sollte ein Partner oder eine Partnerin gesucht werden. Weiterführende Literatur Pallasch/Kölln 2002, 67f – Baustein 1; Weinberger 1998, 63ff
3.3 Die „Wahrheitsfrage“ aus der Perspektive der Interviewenden Die „Wahrheitsfrage“ und die Frage der Perspektive, von der aus Wahrheit beurteilt wird, ist so zentral für das Führen qualitativer Interviews, dass das Thema hier ein weiteres Mal aufgegriffen und nun aus der Perspektive der
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Interviewenden betrachtet wird. Aus der Perspektive der Erzählpersonen hatten wir bereits nachgezeichnet, dass das Gegenteil von „Lüge“ nicht „die (objektive) Wahrheit“ ist, sondern eine Vielzahl von Versionen „subjektiver Wahrheit“ und eine situativ korrekte Aussage (→ Abschnitt 2.5). Die Perspektive der Interviewenden, die mit diesen subjektiven Wahrheiten konfrontiert sind, ist durch zwei Aspekte gekennzeichnet: Zum einen verspüren sie den intuitiven Wunsch, Widersprüche aufzuklären, vermutete Lügen zu korrigieren, Eindeutigkeit zu erfahren und Irritationen abzubauen. Zum anderen sind sie in ihren Reaktionen durch entsprechende Vorgaben der jeweiligen Interviewform gebunden. Prinzipiell ist es wichtig, vorab zu klären, was in einem Interview als „wahr“ begriffen und inwiefern eine „gemeinsam geteilte“ Wahrheit gefunden werden soll.
Notwendige Klärungen, was als „wahr“ oder „objektiv“ bezeichnet werden soll „Schon aufgrund unserer Alltagserfahrung wissen wir aber, dass wir uns missverstehen können, dass wir manchmal nicht ehrlich sind, dass wir zuweilen keine Lust haben, über uns selbst in authentischer Weise zu erzählen, dass wir gelegentlich unbedacht unsere Äußerungen über uns durch die wechselhafte ‚Naivität der ersten Einfälle‘ bestimmen lassen, dass wir unsere ‚wirklichen‘ Beweggründe nicht immer kennen, dass wir gelegentlich unkritisch übernommene Sprachformeln wiedergeben, und dass unsere Interpretationen nach Maßgabe des ‚Modells‘ eigenen Handelns und Orientierens bloß Projektionen und Übergeneralisierungen darstellen und unserem Wunschdenken oder unseren Erwartungshaltungen entsprungen sein können. Dies bedeutet im Hinblick auf die Beantwortung von Überprüfungsfragen die begriffliche Klärung dessen, was wir als ‚wirkliche‘ oder objektive Beweggründe oder als eine in wahren Aussagen dargestellt Subjektivität bezeichnen können und wollen.“ (Aschenbach/Billmann-Maheche/Zitterbarth 1985, 38)
Die Wahrheitskriterien für Aussagen der Erzählpersonen hatten bei den einzelnen Interviewformen (→ Abschnitt 1.3) ihre jeweilige Begründung darin, ob Aussagen in ihrer unhinterfragten Form, gerade so wie sie geäußert wurden, bereits ein ausreichendes Forschungsmaterial darstellen – dies ist der Fall, wenn man etwas über die Strukturen einer Erzählungsproduktion heute und hier und über die „Eigenlogik“ im Aussagesystem der Erzählperson wissen möchte – oder ob es darum geht, durch eine dialogische Strategie einer „originären“ oder „verdeckten“ Sicht näher zu kommen. Besteht die „Wahrheit“ im ersten Fall darin, dass die Erzählung in dem gegebenen Kontext gerade so produziert wurde, wie sie produziert wurde, wird im zweiten Fall die Möglichkeit angenommen, durch Rückfragen, Insistieren oder Bitten um Aufklärung zu einer angemesseneren Darstellung, zu einer „besseren Wahrheit“ zu gelangen. In jedem Fall ist die theoretische Position vorab zu klären und es ist zu begründen, warum z.B. eine zweite Aussage mit der im Interwieverlauf eine erste Aussage korrigiert wird, als eine der ersten Aussage überlegene „Wahrheit“ bewertet werden soll. 96
Für Interviewende geht es darum, die Fähigkeit zu entwickeln, den intuitiven Impuls, Stimmigkeit und Widerspruchsfreiheit herzustellen, zu kontrollieren und gegebenenfalls zurückzunehmen. Das Gefühl, etwas werde ihnen verheimlicht, könne nicht stimmen oder werde heruntergespielt und „in Wirklichkeit“ müsse das doch ganz anders gewesen sein, kann Interviewende absorbieren und verwirren, so dass sie der Erzählung nicht folgen können. Erst wenn sie mit diesem Gefühl umgehen können und wenn die Anforderungen bezogen auf die theoretische Position des Forschungsprojektes geklärt sind, können sie angemessene situative Entscheidungen treffen, ob sie bei einer irritierenden Darstellung nachfragen oder nicht.
Intuitive Haltungen von Interviewenden im Zusammenhang mit der Wahrheitsfrage: Die „Überlistung“ und die „Omnipotenz“ Schütze prägte den Begriff der „Überlistungseinstellung“ für eine Haltung, bei der die Erzählperson als Gegenüber gesehen wird, dem etwas entlockt werden muss. Schließlich verfügt diese Erzählperson über ihre eigenen Deutungsmuster, handlungsleitenden Orientierungen, Relevanzen etc., und diese in Erfahrung zu bringen ist der Sinn des ganzen Trachtens qualitativer Sozialforschung. Die Metaphern des „Hervorlockens“ oder der „Stimulierung“ einer Erzählung unterstützen eine solche Haltung. Diese Haltung steht im Zusammenhang damit, dass Verstellungen, kalkulierte Selbstdarstellungen oder andere Strategien bei den Befragten vermutet werden, die der oder die Interviewende mit entsprechenden Fragestrategien aufbrechen kann (Vgl. Hoffmann-Riem 1980, 360). „There are, of course, many ways of looking at the interview. The most common approach implies that it is a sort of battle of wits between respondent and interviewer. The respondent has somewhere inside him information which the interviewer wants, and the interviewing techniques are designed to force, trick, or cajole the respondent into releasing the information. The literature on research into the interview process and the firsthand experience of interviewers indicate that this conception is misleading and inaccurate. Rather, the interview is an interaction between the interviewer und respondent in which both participants share. As in most communication proceses, we have in the interview two people, each trying to influence the other and each actively accepting or rejecting influence attempts.” (Kahn/Cannell 1967, vi) Interviewende klagen bei Interviews, die aus ihrer Sicht nicht befriedigend verlaufen sind und in denen die Erwartung einer stimmigen, „wahren“, „authentischen“ und glaubwürdigen Darstellung verletzt wurde, sie seien an die Erzählpersonen „nicht herangekommen“ oder diese hätten „etwas verborgen“ oder „verheimlicht“ und es sei ihnen nicht gelungen, dem Interview eine andere Wendung zu geben. Sie sind überzeugt, mit einer etwas geschickteren Fragestrategie wäre man besser an die Person „herangekommen“. (Protokoll unserer Interviewschulungen)
Diese Haltungen sind nicht nur wegen der innewohnenden Überschätzung der Wirksamkeit einer „guten“ bzw. einer fehlerhaften Interviewführung problematisch (→ Übung 6 in Abschnitt 2.4 zur Stabilität des Befragtenverhaltens): Die Interviewführung und -haltung hat ihre Grenzen, was das „Hervorlocken“ angeht, spätestens da, wo Befragte bestimmte Dinge bewusst nicht erzählen wollen und zwar auch dann nicht, wenn die Interviewanweisung eine Aufdeckung als Interviewstrategie nahe legt. 97
Problematisch ist zudem die Implikation, dass sich die interviewende Person im Besitz eines Wahrheitswissens wähnt, das dem Wahrheitswissen der Erzählperson überlegen ist, wenn z.B. die Interviewenden meinen, die unbewussten Motive der Erzählperson zu kennen, die dieser selbst nicht bewusst sind. Dieser Glaube, ein überlegenes Wahrheitswissen zu haben, führt in der Interviewsituation – und von der sprechen wir hier – zur Erwartung, die Erzählperson müsse sich diesem Wissen entsprechend artikulieren. Je konkreter die Erwartungen sind, was und wie umfangreich eine Erzählperson erzählen soll, desto mehr wird das Prinzip der Offenheit verletzt. Dabei ist das Gefühl der Interviewenden, etwas werde ihnen verheimlicht, in der Regel ein durchaus guter Indikator, da die Interviewenden mit diesem Gefühl auf etwas reagieren, das „in dem Text ist“ (ein „Anker“, vgl. Übung 8). Dieses Gefühl sollte auch ausdrücklich registriert und in dem Protokoll, das nach dem Interview ausgefüllt wird, vermerkt werden. Es gilt aber wie an anderen Stellen auch, dass das Gefühl zu kontrollieren ist, als Voraussetzung für die bewusste Entscheidung, aufdeckend weiter zu fragen oder nicht. Gerade an dieser Stelle besteht die Gefahr, dass sich die subtile Interviewkommunikation verkehrt: Wenn Interviewende ihre diffusen Vorannahmen über das Verheimlichte von der Erzählperson unkontrolliert bestätigt bekommen möchten, tragen sie „ihren Sinn“ in das Interview hinein, statt den Sinn der Befragten heraus zu hören. In der Interviewsituation ist die Unterscheidung schwierig, ob eine Erzählperson nicht vollumfänglich erzählen will oder ob sie es nicht kann. In dialogischen Interviews wird dann davon ausgegangen, dass die Grenze der Thematisierungsfähigkeit erreicht ist, wenn auf Nachfragen hin keine weiteroder tiefergehenden Äußerungen gegeben werden. Eine zurückhaltende Selbstdarstellung und „Informationspolitik“ seitens der Erzählperson muss in der Interpretation aufgegriffen werden und sie kann dort als Information unter anderen gelten: „Die Erzählperson hält sich im Interview zurück.“ Oder – was dann als Teil der Interaktion zu interpretieren ist – „Die Interviewerin hatte an dieser Stelle das Gefühl, die Erzählperson halte etwas zurück.“ Auch Schweigen ist bei qualitativen Interviews – im Gegensatz zur Antwortverweigerung in standardisierten Verfahren – eine Information. Die Interpretation greift auf, was die Person erzählt und was sie nicht erzählt, und es werden gerade die Textstellen zum Ausgangspunkt der Interpretation genommen, an denen sich das Gefühl der Interviewenden festmacht, etwas werde verborgen.
3.4 Nonverbale Gesprächssignale Nonverbale Signale spielen bei allen Interviewformen eine große Rolle für die Gesprächssteuerung und zwar insbesondere da, wo der Einsatz verbaler Signale eingeschränkt wird (z.B. in der Hauptphase des narrativen Interviews). Sie erfüllen viele Funktionen: Sie melden der Erzählperson zurück, dass ihre Erzählung interessiert und stützen so die Erzählung. An nonverba98
len Reaktionen wird ablesbar, ob die Erzählung den Erwartungen der Interviewenden entspricht. Gerade wenn die Erzählperson ambivalent ist und spontan-situativ entscheidet, ob und welche Aspekte sie thematisiert, können nonverbale Signale den Ausschlag geben. Auf nonverbaler Ebene werden insbesondere Gefühle und Beziehungsaspekte vermittelt. Die Bedeutung der nonverbalen Signale hängt davon ab, wie empfänglich die Erzählperson für indirekte Botschaften ist (wie gut sie „auf dem Beziehungsohr hört“: ´ Abschnitt 2.3) und wie strikt sie sich vorab auf eine bestimmte Erzählstrategie festgelegt hat. Besonders wichtig sind nonverbale Signale auch, wenn die interviewende und die erzählende Personen keinen gemeinsamen Erfahrungshintergrund teilen. Es ist daher ein besonderes Ziel, die Bedeutung dieser Kommunikationsmittel und die Fähigkeit zu vermitteln, auf der non- oder paraverbalen Ebene kompetent agieren zu können, d.h. positive Signale einsetzen und negative Signale kontrollieren sowie Inkongruenzen vermeiden zu können, bei denen z.B. nonverbale Signale ein Desinteresse ausdrücken, verbal aber Interesse und Offenheit bekundet wird. Nonverbale Signale werden vermittelt über – – – – –
den Blickkontakt, die Körperhaltung, die Gestik (mit den Händen, Kopfhaltung), die Mimik, den Tonfall, die Lautstärke, Pausen.
Mit nonverbalen Signalen können auch emotionale Reaktionen der Interviewenden vermittelt werden, d.h. „nonverbal“ heißt nicht ausdrucksneutral4. Lachen, Seufzen, eine Mimik, die Überraschung, Zweifel oder Entsetzen kundtut, sind ebenfalls nonverbal. Mit dem Zulassen von „parasprachlichen“ Signalen und Kommentaren wie „Das ist ja klasse“, „Das tut mir aber leid“ werden zusätzlich Interventionen mit weitreichenden Folgen für den Kommunikationsfluss ermöglicht. Während bei bestimmten Frageformen eine „Abstinenz“ der Interviewenden verabredet werden kann, ist eine solche radikale Zurückhaltung bei nonverbalen Signalen nicht möglich. Dies gilt schon allein deshalb, weil manche Erzählpassagen ausdrücklich darauf angelegt sind, bestimmte emotionale Reaktionen bei den Interviewenden hervorzurufen; die Erzählperson erwartet entsprechende Reaktionen. Keine Reaktion zu zeigen, wird dann auch als Reaktion gewertet. Die strikte Kontrolle der Mimik bei einer z.B. Mitleid heischenden Darstellung verletzt Erzählererwartungen und beeinflusst so ebenfalls den Interviewverlauf. Die Frage, wie mit den nonverbalen Signalen umgegangen werden soll, beschränkt sich somit nicht nur auf die Vermittlung von Interesse und Aufmerksamkeit, sondern berührt die Zulässigkeit, emotionale Reaktionen auf Seiten der Interviewenden in das Interview einfließen zu lassen. Dies kann die Erzählperson stärken und stützen, kann aber auch direktive Erwartungen 4
Zu kulturellen Unterschieden in der nonverbalen Kommunikation: Argyle 1979.
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der Interviewenden vermitteln. Unglauben oder Entsetzen signalisieren z.B., dass eine Belastungsgrenze der Interviewenden erreicht ist und im Sinne einer Schonung der Interviewenden auf eine Vertiefung der Erzählung verzichtet werden sollte. Handlungssicherheit können Interviewende zudem über konkrete und an Interviewform und Interviewthema ausgerichtete Intervieweranweisungen gewinnen, die Klarheit schaffen, inwieweit diese emotionalen Reaktionen in der Interviewsituation angebracht sind. Zum anderen sollten Interviewende sich vorab mit ihren emotionalen Reaktionen auf Fassetten des Interviewthemas auseinandersetzen und damit umgehen können: Sie sollten diese Gefühle als eigene wahrnehmen und sie kontrollieren können. Dies gilt insbesondere, wenn im Interview belastende oder ängstigende Themen wie Gewalterfahrungen oder Traumatisierungen angesprochen werden (→ Abschnitt 4.5). Die folgenden Übungen orientieren sich wieder an den Vorbildern von Übungen im Rahmen von Trainings zur Gesprächsführung (Leopold 1997; Weinberger 1998; Pallasch/Kölln 2002), die für den speziellen Zweck umformuliert wurden. Übung 13: Einfluss nonverbaler Signale5 Vorbereitung: Stühle im Kreis, zwei Stühle in der Mitte, zwei Zettel mit je einem Erzählstimulus und verdeckten (d.h. der Erzählperson und Gruppe nicht bekannten) Instruktionen für die Interviewerrolle. Es empfiehlt sich, diese Übung auf Video aufzuzeichnen. Kategorie: Basiskompetenz; besonders wichtig für (teil-)monologische (narrative, Leitfaden-)Interviews; Ziel: Nachvollziehen der Wirksamkeit nonverbaler Signale Rollenspiel; Zeit: zweimal 5 Min., anschließend Austausch, je nach Bedeutung dieser Übung insgesamt 30-45 Min. Zwei Personen aus der Gruppe stellen sich zur Verfügung und nehmen auf den beiden einander zugewandten Stühlen Platz. Die Gruppe beobachtet. Die Leitung wählt zwei unterschiedliche Erzählstimuli oder Fragen aus, die sich in einer kurzen Erzählung beantworten lassen* und die ineinander übergehen. Die Person in der Rolle der Interviewenden klärt erst den zeitlichen Rahmen (zweimal fünf Minuten) und stellt die erste Frage. Sie hat zudem die verdeckte Instruktion erhalten, sich zugewandt zu verhalten und die Erzählung mit nonverbalen Signalen (auch möglich: verbalen Signalen) zu stützen und zu bestärken. Nach etwa 5 Minuten wird von der ersten Erzählung mit dem zweiten Stimulus zu einem weiteren Aspekt übergeleitet. Die verdeckte Instruktion für den zweiten Teil beinhaltet, dass die Interviewende unruhiger wird, unkonzentrierter und skeptischer und dies mit nonverbalen Signalen vermittelt. Am Ende der Übung berichtet zuerst die Erzählperson, wie es ihr ging, anschließend schildert die Gruppe ihre Eindrücke. Am Ende wird gemeinsam eine Liste von nonverbalen (oder auch verbalen) Signalen erstellt, die einen Einfluss auf die Erzählproduktion hatten oder haben können. Dabei – werden die Signale auf der Liste hervorgehoben, die sich besonders gut dazu eignen, ein konzentriertes, „aktives“ Zuhören auszudrücken, – wird gesammelt und eventuell noch einmal durchgespielt, welche Haltungen der Interviewenden störend sind und welche ein aufmerksames Zuhören ausdrücken. 5
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Eine ähnliche Übung findet sich bei Leopold 1997, 47.
Wenn die Übung auf Video aufgenommen wurde, können die Filmsequenzen dabei herangezogen werden. Anmerkung: Es kann auf Videoaufzeichnungen aus den Übungen 11 und 12 zurückgegriffen und anhand des Materials die Bedeutung nonverbaler Signale diskutiert werden. Zum Selbststudium: Für diese Übung sollte ein Partner oder eine Partnerin gesucht werden. * Bei einem narrativen Interview werden aus dem Gesamtthema zwei Teilstimuli herausgebrochen.
Übung 14: Nonverbale Kommunikation6 Vorbereitung: keine Kategorie: Basiskompetenz; besonders wichtig für (teil-)monologische (narrative, Leitfaden-)Interviews; Ziel: Sensibilisierung für nonverbale Kommunikationssignale Arbeit in Zweiergruppen, anschließender Austausch gleich in der Gesamtgruppe; Zeit: 10-15 Min. Zwei Teilnehmende stehen einander gegenüber, es wird verabredet, wer beginnt. Dann versuchen beide, sich nur nonverbal darüber zu verständigen, wie es ihnen geht (ohne in eine Pantomime zu verfallen). In der Gesamtgruppe wird zusammengetragen, wie es den kommunizierenden Paaren ging und welche Signale sie „verstanden“ haben. Zum Selbststudium: Für diese Übung sollte ein Partner oder eine Partnerin gesucht werden.
Die Liste nonverbaler Signale, die in Übung 13 in der Gruppe erstellt wurde, kann mit der folgenden Liste abgeglichen und entsprechend ergänzt werden. Übersicht 8: Positive und negative nonverbale Elemente Positive Signale Körperliche Zuwendung (Sitzhaltung, Anordnung der Stühle!) Ruhige, nicht starre Körperhaltung Blickkontakt Freundlicher Tonfall Gesten wie Zunicken, Zulächeln, „Ah ja“, „Mh“ Ruhe vermitteln, Zeit haben, Pausen aushalten (verbal:) Überleitungen, Aufgreifen
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Negative Signale Sich körperlich abwenden motorische Unruhe, Ablenkung Blickkontakt meiden oder abbrechen Nicht freundlicher Tonfall, z.B. distanziert, überlegen, bewertend Langeweile, Desinteresse, Zweifel zeigen, z.B. Augenbrauen hochziehen, Stirnrunzeln „Tempo machen“, unterbrechen, auf die Uhr sehen (verbal:) Abrupter Themenwechsel, Fragen nicht auf Befragten zuschneiden
Eine mögliche weitere Hausaufgabe kann darin bestehen, eine Filmsequenz aus einem Videofilm ohne Ton zu hören, die Gesten der Akteure zu deuten und anschließend dieselbe Sequenz mit Ton zu hören.
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Weiterführende Literatur: Argyle 1979
Bestimmte nonverbale Signale werden bereits mit dem äußeren Rahmen festgelegt. Die Sitzanordnung und die Stühle können z.B. eine zugewandte und entspannte Sitzhaltung unmöglich machen. Auf die weitere Gestaltung der Interviewsituation selbst (Ort des Interviews, Gestaltung der Atmosphäre etc.) wird in → Abschnitt 5.2 eingegangen.
3.5 Die „Kunst der Frage“ – Frageformen und Fragestile In allen außer dem strikt narrativen Interview wird gefragt. Fragen haben die Funktion, zu Erzählungen bzw. Äußerungen zu motivieren und so die Kommunikation aufrecht zu erhalten und Interesse und Verstehen zu zeigen. Die Beherrschung der „Kunst des Fragens“ ist Teil der Fähigkeit, den Interviewverlauf bewusst zu gestalten. Ziel des folgenden Abschnittes ist es, verbale Signale, also Frageformen differenzieren zu können, ihre Auswirkung auf die Erzählproduktion und ihre Eignung im Rahmen der jeweiligen Interviewform kennen und einschätzen zu können sowie sich den eigenen Fragestil zu vergegenwärtigen. Dies ist die Basis für eine bewusste und kontrollierte Handhabung angemessener Fragen, was v.a. für nicht rein narrative Interviews wichtig ist. Aber auch bei narrativen Interviews ist eine Auseinandersetzung mit Frageformen und mit der eigenen Aufmerksamkeitshaltung von Bedeutung. Zunächst werden einige Typen von Frageformen vorgestellt und „Interviewerfehler“ diskutiert. Fragen können danach unterschieden werden, wie stark sie eine „Präsupposition“ in das Interview einführen und dadurch steuern. Präsuppositionen heißen auch „Satzvoraussetzungen“ und beinhalten die Voraussetzungen oder Unterstellungen, die ein Sprecher implizit macht, und von denen er erwartet, dass die Zuhörenden sie mitverstehen. Grundsätzliche Typen von Fragen sind: – Erzählaufforderungen oder –„stimuli“, „erzählungsgenerierende Fragen“ Erzählstimuli sind im eigentlichen Sinn keine Fragen, sondern Aufforderungen. Sie können am Anfang des Interviews gesetzt werden und damit die Bühne für eine längere, sich im optimalen Fall über einen vorab vereinbarten Zeitrahmen erstreckende Erzählung öffnen (narratives Interview). Sie können auch mehrmals jeweils für Episoden (episodisches Interview nach Flick) oder biografische Abschnitte (siehe → Abschnitt 5.3) eingeführt werden. Die Aufforderung hat meist die Form: „Erzählen Sie (doch/einmal), wie …“. Es folgt eine Gegenstandsbestimmung, die erstens konkret genug ist, um verstanden zu werden, und zweitens offen genug ist, um eine längere Erzählung zu erzeugen. Voraussetzung ist, dass es hinreichend zu erzählen gibt: Nicht zufällig wird ein narratives Interview häufig im biografischen Zusammenhang 102
eingesetzt, weil eine Lebensgeschichte oder ein Ausschnitt daraus gut „erzählbar“ ist, während andere Erzählaufforderungen vielleicht mit wenigen Sätzen abgehandelt werden können und dann die Reihe wieder an den Interviewenden ist, einen weiteren Impuls zu geben. Für narrative Interviews ist es von entscheidender Bedeutung, einen geeigneten Erzählstimulus zu finden, der ein „erzählbares“ Thema einführt, um Material für die Rekonstruktion von subjektiven Deutungen zu gewinnen. Es wird empfohlen, die Generierungskraft einer Frage vorher durchzuspielen (zu Erzählstimuli: Lucius-Hoene/Deppermann 2002, 266 und 293ff). Erzählaufforderungen können unterschiedlich moduliert sein; die möglichen Varianten sind in ihren Nuancen genau abzustimmen und auf Präsuppositionen hin zu prüfen. Forschungsbeispiel 8:
Modulierung von Erzählaufforderungen
In einem Forschungsprojekt zu Wohngemeinschaften wurden Varianten einer ganz offenen Einstiegspassage durchgespielt. – Erzählen Sie, wie es Ihnen in Ihrer Wohngemeinschaft geht? Akzent: Reflexion des eigenen Befindens – Beschreiben Sie mir doch Ihre Wohngemeinschaft! Ich möchte mir gern vorstellen, wie Sie dort leben. Akzent: Adressatenbezug auf Interviewer bzw. Interviewerin – Erzählen Sie mir doch von Ihrem Alltag in Ihrer Wohngemeinschaft! Akzent: Alltagsabläufe – Erzählen Sie mir doch, was die Wohngemeinschaft für Sie bedeutet. Akzent: Reflexion und Einordnung – Sie wohnen ja mit anderen Menschen zusammen. Erzählen Sie mir doch etwas darüber. Akzent: Personen, die mit in der WG wohnen
Forschungsbeispiel 9:
Präsuppositionen bei Erzählaufforderungen
– Die Aufforderung „Erzählen Sie doch einfach, wie Sie…“ enthält die (gut gemeinte) Unterstellung, dass Erzählen einfach sein kann. – Werden Interviews zu Drogenbiografien mit der Erzählaufforderung eingeleitet, die Erzählperson möge ihre Erzählung mit dem ersten Kontakt zu illegalen Drogen beginnen, dann wird unterstellt, dass z.B. Kiffen den Einstieg in die Drogenkarriere darstellt. Drogenabhängige markieren aber selbst den Beginn der Drogenkarriere dort, wo sie das erste Mal Heroin konsumiert haben, und rechnen die Zeit des Kiffens nicht mit. – Die Aufforderung: „Erzählen Sie doch, wie Sie aufgewachsen sind, wie es bei ihnen zuhause war“, unterstellt eine Verbindung von „Zuhause“ und „Kindheit“ und lenkt den Fokus auf die häusliche Kindheit und die Familie, während für die Erzählperson unter Umständen die außerhäusliche Welt in der Kindheit präsenter und wichtiger war.
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Präsuppositionen lassen sich nicht völlig vermeiden. „Es ist nahezu unmöglich, eine Frage zu formulieren, die nicht auf einer Art Unterstellung oder Vermutung beruht. Selbst solche Fragen wie ‚Wie heißen Sie?‘ oder ‚Wie alt sind Sie?‘ setzen aufgrund der Vorerfahrung des Interviewers voraus, dass Menschen Namen haben und über ihr Alter Bescheid wissen und dass dies auch für den jeweiligen Befragten gilt.“ (Richardson et al. 1993, 208) Es gilt aber, Präsuppositionen bewusst zu registrieren und sich mit einer ausgewiesenen Begründung dafür zu entscheiden, sie einzuführen. Ungeübten Interviewenden fällt wegen der Diskrepanz zur Alltagskommunikation der offene Intervieweinstieg schwer und spätestens dann, wenn die Erzählpersonen um eine Konkretisierung bitten und mehr Führung wünschen, bieten sie einfacher zu beantwortende Faktenfragen an (zu Verabredungen, wie mit solchen Rückfragen von Erzählpersonen umzugehen ist: Abschnitt 4.4). Die Übungen 24a und 24b machen nachvollziehbar, wie auf Informationen zielenden Faktenfragen und Erzählaufforderungen im Interviewverlauf wirken, und ermöglichen eine praktische Einübung von Strategien, einem situativen Druck hin zu einer Vereindeutigung und Verengung der Fragen in Richtung Faktenfragen zu widerstehen und Erzählaufforderungen zur Öffnung der Interviewinteraktion einzusetzen. Die Bedeutung der Erzählaufforderungen in teilnarrativen oder narrativen Interviewformen kann nicht genug unterstrichen werden. – Aufrechterhaltungsfragen Diese Fragen haben die Funktion, eine Erzählung aufrecht zu erhalten. Sie sind inhaltsleer in dem Sinne, dass sie keine bzw. möglichst wenig Präsuppositionen oder inhaltliche Impulse liefern. Sie lassen sich weiter differenzieren in Fragen, – die in der erzählten Situation bleiben, z.B.: „Wie war das für sie?“, „Können Sie das noch näher/ausführlicher beschreiben?“ oder „Erzählen Sie doch noch ein bisschen mehr darüber.“ Auch hier gilt, dass Präsuppositionen zu beachten sind. Eine Nachfrage wie „Wie haben Sie sich dabei gefühlt?“ unterstellt die Erwartung, dass Gefühle etwas Thematisierbares und Thematisierenswertes sind, und die Frage „Was hat das bedeutet?“ beinhaltet die Orientierung daran, dass Dinge bedeutungsvoll sind. Hier gibt es eine Überschneidung mit immanenten Steuerungsfragen (s.u.), – die den Erzählgang vorantreiben, z.B.: „Wie ging das dann weiter?“, „Und dann?“ Mit diesen beiden Aufrechterhaltungsfragen kann – sofern dies zugelassen ist – das Fortschreiten in dem Erzählverlauf vom Tempo her gesteuert werden (zur Aufrechterhaltungsfunktion nonverbaler Signale: → Abschnitt 3.4). – Steuerungsfragen Steuerungsfragen steuern nicht nur das Tempo, sondern auch die inhaltliche Entwicklung des Interviews. Dabei gibt es 104
–
–
Bitten um Detaillierungen bereits benannter Aspekte (immanente Fragen, auch als „Rückgriff-Technik“ bezeichnet): Ein bestimmter Sachverhalt wird aufgegriffen und noch einmal zur Thematisierung gebracht mit Fragen wie z.B. „Können Sie … noch ein wenig ausführlicher beschreiben?“, „Können Sie ein Beispiel für … nennen?“ Auch diese Fragen bringen keine externen Themen ein. Sind diese Fragen inhaltsleer, können sie auch als Aufrechterhaltungsfragen bezeichnet werden. Sie können aber auch inhaltliche Aspekte herausgreifen und damit das Interview fokussieren. Diesen Fragen kommt neben den Aufrechterhaltungsfragen die größte Bedeutung zu. Verbunden damit, dass zu Beginn das Verstehen für die vorangegangene, abgeschlossene Äußerung der Erzählperson bekundet wird (nonverbal oder mit einem „Ja“ etc.) kann die Frage Interesse signalisieren, sie kann lenken ohne „fremde“ Inhalte einzubringen und zum Weitererzählen motivieren7. Einführung neuer Themen oder noch nicht benannter Aspekte (exmanente Fragen): Sie bringen neue Aspekte ein, die vorher nicht genannt wurden und die dem Relevanzsystem der Interviewenden entspringen, z.B. „Spielte das … eine Rolle?“ Anders als bei den vorherigen Frageformulierungen liegt hier eine deutliche Steuerung vor, indem Themen, die für die Forschenden wichtig sind, ausdrücklich an die Erzählpersonen heran getragen werden, auch wenn sie für diese nicht relevant erscheinen bzw. nicht von allein angesprochen wurden. Inhaltliche Aspekte, die eingebracht werden, sind im Leitfaden auszuweisen und der Leitfaden ist immer wieder zu überprüfen, ob die eingebrachten inhaltlichen Aspekte als Steuerungen zu rechtfertigen sind.
– Zurückspiegeln, Paraphrase, Angebot von Deutungen Damit sind Äußerungen der Interviewenden gemeint, in denen sie Aussagen der Erzählpersonen in deren Worten oder in ihren eigenen Worten zusammenfassen, indem sie Gedanken der Erzählpersonen aufgreifen, fortsetzen oder ergänzen, bei einem fehlenden Wort aushelfen und quasi mitdenken oder aber auch kommentieren z.B. mit „klar“ oder „Das kann ich mir (nicht) vorstellen.“ Beispiele finden sich bei Witzel 1982, 100ff. Paraphrasieren war Thema → in Übung 10 in Abschnitt 3.2; dort ging es allerdings um die Schulung der Aufmerksamkeit als Teilkompetenz des „aktiven“ Zuhörens und nicht um das Einüben von Zusammenfassungen des Gesagten. Angemessen paraphrasieren zu können, setzt eine gute Merkfähigkeit und eine scharfe Aufmerksamkeit voraus, damit das, was aus Sicht der Erzählperson zentral ist, auch in längeren und komplexen Gesprächspassagen erfasst werden kann. Bei Interviewformen, die gezielt Paraphrasierungen zur Aufrechterhaltung
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Vgl. die Fragetechnik des „probing“ bei Kahn/Cannell 1967 mit Anleihen aus der klientenzentrierten Gesprächsführung..
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des Interviewflusses einsetzen wollen, sollte dieser Aspekt über die Standardvorschläge für diese Schulung hinaus vertieft werden. – Aufklärung bei Widersprüchen, Selbstdarstellungen hinterfragen Hier werden die Erzählpersonen mit Ungereimtheiten konfrontiert und um Stellungsnahme gebeten oder es wird „sondiert“ (Witzel 1982), was sich hinter bestimmten, als „oberflächlich“ eingestuften Selbstpräsentationen „verbirgt“. – Suggestivfragen Die Zulassung von Suggestivfragen ist damit verbunden, dass als Teil einer aktiven Intervention die Reaktion von Befragten auf Unterstellungen bewusst und explizit provoziert, registriert und interpretiert werden soll; die Suggestivfrage funktioniert dann so wie ein kleines soziales Experiment (Pro und Contra Suggestivfragen: Richardson/Snell Dohrenwend/Klein 1993). –
Fakten-, Einstellungs-, Informations- oder Wissensfragen
Fakten-, Einstellungs-, Informations- oder Wissensfragen werden dann gestellt oder es wird nach Bewertungen und Beurteilungen dann gefragt, wenn das Forschungsinteresses informativ ausgereichtet ist. Einstellungsfragen setzen bei der interviewten Person andere Prozesse in Gang als die Aufforderung zu einer Erzählung aus dem Stegreif. Sie werden in der Regel als Frage nach Faktenwissen, nach reflektierten Argumentationen und Begründungen verstanden. Die Antwort zielt auf eine allgemeinere Ebene und die Antworthaltung ist distanzierter8. Es kann festgelegt werden, ob eine Frage im vorgegebenen Wortlaut gestellt werden soll oder ob die konkrete Formulierung der Situation und dem Sprachstil der Befragten angepasst werden kann. Auch bezogen auf die Reihenfolge von Fragen gibt es mehr oder weniger Spielräume für Flexibilität.
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Um Befragten nicht zu einem Wechsel der Erzählperspektive zu zwingen, werden im Aufbau eines Interviewsleitfadens Erzählaufforderungen und Einstellungsfragen getrennt (´ Abschnitt 5.3).
Übersicht 9: Zulässigkeit von Frageformen bei spezifischen Interviewformen Interviewform
Erzählstimuli Aufrechterhaltungsfragen Bitte um Detaillierung Einführung neuer Themen Zurückspiegeln, Angebot v. Deutungen Konfrontation mit Widersprüchen Suggestivfragen Einstellungs- und Bewertungsfragen
monologisch → dialogisch → alltagskommunikativ Erzählgenerierend: Mischform: Leitfaden-Interview: Das ethnografiNarrative Interviews Erzählung + Problemzentrierte sche Gespräch nach Schütze Leitfaden*: Interviews nach im Rahmen von Episodisches Witzel, FokusFeldforschung Interview (Flick, Interview nach Girtler Helfferich**) Hauptteil Nachfrage-/ Bilanzierungsteil X X X X X –
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– – X Wegen des Wechsels in eine reflektierende Argumentation meist an gesonderter Stelle
X X
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In einem Leitfaden werden (Stichworte für mögliche) Nachfragen zusammengestellt. Narrative Interviews und ethnografische Gespräche/Interviews verwenden keinen Leitfaden. ** → Abschnitt 5.3 *** mit eingeschränkter Geltung, wird unterschiedlich gehandhabt Literaturhinweise siehe Übersicht 2 in → Abschnitt 1.3
Prinzipiell ist das übergeordnete Ziel, Offenheit herzustellen; der Weg ist aber – abhängig von dem spezifischen Forschungsgegenstand und der Zielgruppe – unterschiedlich. Monologische Interviewformen sind am restriktivsten, ethnografische am offensten. Die Übersicht zeigt, dass bei bestimmten Interviewformen Suggestivfragen, Konfrontieren mit Widersprüchen und Insistieren auf Richtigstellungen und Klärungen, das Anbieten von Deutungen, Spiegeln, (geschlossene) Nachfragen, mit denen das eigene Verständnis überprüft wird, sowie empathische Kommentare nicht zugelassen sind. Allgemein gelten für alle Interviewformen die Frageregeln:
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Übersicht 10: Allgemeine Frageregeln Generell gilt: Ein Interviewerfehler besteht darin, unbewusst und unkontrolliert den Kommunikationsprozess zu beeinflussen, so dass die Kommunikation gestört und das Ziel des Interviews gefährdet wird. Prinzipiell ist das Spektrum der zulässigen Fragearten nach dem Forschungsgegenstand zu bestimmen. Im Einzelnen gilt: – Keine uneindeutigen oder schwer verständlichen Fragen, keine von der Erzählperson nicht beantwortbaren Fragen, – keine geschlossenen Fragen, – keine Fragen, die Alternativen vorgeben, keine Mehrfachfragen (= mehrere Fragen in einer Frage), keine überladenen Fragen, die verschiedene Aspekte zugleich ansprechen, – keine wertenden oder aggressiv klingenden Fragen, Vorsicht bei „Warum“-Fragen, keine Andeutung von Erwartungen oder Fragen, die als Antwort auf eine Bestätigung des Gefragten zielen, z.B.: statt „Klappte es in der Schule?“ „Erzählen Sie mir von der Schule.“, – keine Verwendung von Fachausdrücken oder ungebräuchlichen Fremdworten; sich generell der Sprache der Erzählperson anpassen, so weit es mit der Rolle der/des Interviewenden vereinbar ist, – keine „geschäftsmäßige“ Bestätigung der Antworten mit einem „Gut…“, keine oder nur bewusst eingesetzte Ankündigungen von Fragen wie „Ich habe jetzt eine Frage…“, kein „Abhaken“, – keine Fragen, die nicht aus dem Interviewkontext heraus erwartbar sind, keine Fragen, deren Sinn nicht einsichtig ist, also z.B. keine Fragen zu einem gänzlich anderen Thema als dem Interviewthema, – keine Fragen, die Scham- oder Schuldgefühle auslösen. Sollten Tabu-Themen angesprochen werden, sind entsprechende Frageformulierungen zu finden und einzuüben. Sinnvoll ist es zu signalisieren, dass die Interviewenden das Thema nicht tabuisieren, sondern als selbstverständlich nehmen. Vgl. Hopf 1978, 108 Insbesondere im sozialwissenschaftlichen Bereich besteht die Gefahr, dass Fragen auf dem Reflexionsniveau der Interviewenden formuliert sind, und dass dieses Niveau auch bei den Interviewten vorausgesetzt wird. Fragen, die sich auf Beurteilungen der eigenen Situation, auf eine Evaluation biografischer Phasen oder die Reflexion von Gefühlen richten, sind aber sehr voraussetzungsvoll und können überfordern (siehe Forschungsbeispiel 10 und Umgang mit „kargen“ Interviews → Kapitel 4.6).
Forschungsbeispiel 10: Prüfung von Frageformulierungen auf das bei Antworten abverlangte Reflexionsniveau hin In einem Projekt wurden Bewohner und Bewohnerinnen einer integrativen Wohngemeinschaft zu ihren Erfahrungen in der WG befragt. Der Leitfaden sah Frage vor wie z.B.: – Wie kam es dazu, dass Sie in die WG gezogen sind? – Wo gibt es im Zusammenleben Probleme, Schwierigkeiten oder Konflikte? – Was bedeutet für Sie gutes und zufriedenes Wohnen? Welche Faktoren müssen gegeben sein? – Was könnte verbessert und/oder anderes gemacht werden?
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Nach einem Pretest wurde das Abstraktions- und Reflexionsniveau verringert. Die Erzählperson wurde gebeten, die Mitglieder der WG vorzustellen. Die zweite Frage wurde z.B. umgewandelt zu einer Frage nach einem Beispiel, wo es nicht gut lief in der WG, die dritte Frage zu einer Frage nach einem positiven Beispiel.
Diese allgemeinen Frageregeln können so formuliert werden, weil die indizierten Fragen generell den Kommunikationsfluss hemmen und damit dem Basisprinzip qualitativer Interviews nicht genügen. Auch in der klientenzentrierten Gesprächsführung gelten u.a. direkte Fragen, Bewertungen, das Aufzeigen von Ursachen oder das Angebot von Lösungen als „Gesprächsstörer“. Vorsicht ist geboten bei „Warum-Weshalb-Wieso“-Fragen: Sie können als indirekte Kritik (Dahmer/Dahmer 1982, 68) aufgefasst werden, sie können eine Haltung vermitteln, „alles (oder doch das meiste) sei über Kausalketten zu erklären“ (Pallasch/Kölln 2002, 80). Das Verlangen nach einer (Selbst-)Erklärung kann die Befragten überfordern. Darüber hinaus hängt es sehr vom Forschungsgegenstand und, damit zusammenhängend, von der Interviewform ab, was als Interviewerfehler definiert ist. Übung 15: Diskussion von Frageformen und ihren kommunikativen Wirkungen Vorbereitung: Zettel aus Übung 8 Kategorie: Basiskompetenz; besonders wichtig für dialogische (problemzentrierte) und Leitfaden- Interviews; Ziel: Kennenlernen von Frageformen und ihren Wirkungen Teil a) Diskussion in der Gruppe; Zeit: 15 Min. Die Zettel mit den in Übung 8 formulierten Fragen werden einzeln durchgegangen und der Fragetypus bestimmt: Handelt es sich um eine Erzählaufforderung, eine Einstellungsfrage, eine Suggestivfrage etc.? Es ist sinnvoll, eine Liste von Aufrechterhaltungsfragen anzulegen. Bei „Warum-Wieso-Weshalb“-Fragen werden Formulierungen für Alternativen überlegt. Variante: Es können auch Tonbandaufzeichnungen aus den Übungen 2 und 6 als Material genommen werden. Teil b) Rollenspiel in Zweiergruppen; Zeit: viermal 3 Min., anschließend Austausch, insgesamt 30 Min. In den Zweiergruppen übernimmt eine Person die Rolle zu erzählen, die andere die Rolle zu fragen (das Gespräch ist unabhängig von einem Interviewtypus). Thema kann z.B. sein „Meine wissenschaftliche Zukunft“. Instruktion für die fragende Person ist in der ersten Runde, vor allem Suggestivfragen zu verwenden. Im zweiten Durchgang verwendet sie nur Aufrechterhaltungsfragen oder höchstens Paraphrasen ausschließlich mit den Worten der Erzählperson. Anschließend werden die Rollen getauscht. Bei der Auswertung in der Gesamtgruppe sollen die Unterschiede herausgearbeitet werden, was Suggestivfragen und was Aufrechterhaltungsfragen für die Erzählproduktion bedeuten. Es ist sinnvoll, nach dieser Übung für die Teilnehmenden eine auf das jeweilige Interviewverfahren zugeschnittene Liste von Frageformen mit entsprechenden Erläuterungen
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sowie Verabredungen über zugelassene nonverbale und verbale Steuerungen zusammenzustellen und sie ihnen auszuhändigen. Zum Selbststudium: Teil a) kann anhand von Notizen durchgeführt werden, für Teil b) sollte ein Partner oder eine Partnerin gesucht werden. !! Hausaufgabe: Als Hausaufgabe, die sehr empfohlen wird, werden die Teilnehmenden beauftragt, für kurze Gesprächsphasen im Alltag ausschließlich Aufrechterhaltungs- und immanente Steuerungsfragen zu verwenden.
Über allgemeine und konkretisierte Frageregeln hinaus bilden sich in der Regel professionelle und persönliche Fragestile heraus. Übung 16: Vergegenwärtigung des persönlichen Aufmerksamkeitsund Fragestils I Vorbereitung: eine zwei- bis dreizeilige Anfangspassage einer Erzählung, frei formuliert oder aus vorliegendem Material übernommen Kategorie: Basiskompetenz; besonders wichtig für dialogische (problemzentrierte) und Leitfaden-Interviews; Ziel: Eigene Aufmerksamkeitshaltung bei Fragen vergegenwärtigen Einzelarbeit, anschließend Austausch in der Gruppe; Zeit: 20 Min. Die Teilnehmenden erhalten eine relativ kurze (nicht länger als zwei, drei Zeilen) und unvollständige Anfangspassage einer Erzählung über eine für das Forschungsthema relevante Phase oder Situation. Sie sollen anschließend notieren, auf was sie am meisten neugierig sind, was sie ergänzend in erster Linie wissen möchten: – – – –
etwas über die zeitliche oder kausale Ordnung oder die Konstellation der Personen? etwas über die Gefühle und Beziehungen der Personen? etwas, was wichtig für die Erzählperson war? etwas über Routinen, das Normale und das Gewöhnliche? Diese vier Aspekte sollen in eine Reihenfolge gebracht werden: an erster Stelle steht, was den Teilnehmenden am wichtigsten ist.
Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen greifen dann auf die Notizen zurück, die sie in der Übung 5 (→ Abschnitt 2.3) zur Vergegenwärtigung der eigenen Aufmerksamkeitshaltung im Anschluss an Übung 2 festgehalten haben. Dort hatten sie die Perspektive der Erzählperson eingenommen und die von ihnen selbst produzierte Erzählung u.a. unter den Fragestellungen reflektiert: – Welchen Stellenwert hatten Ordnungsangaben wie z.B. Personenkonstellationen, Jahreszahlen etc., welchen Stellenwert hatten Gefühle und Beziehungen? – Welche Rolle spielten Besonderheiten oder „Nonkonformitäten“ in der eigenen Geschichte, welche Rolle das „Übliche“ oder das „Normale“, „Konforme“? In dem anschließenden Austausch in der Gruppe werden die Antworten zu den Aufmerksamkeits- und Nachfrageinteressen aus der Perspektive der Interviewenden und die Antworten auf die damalige Gestaltung der eigenen Erzählung verglichen. Beides gibt
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Hinweise darauf, entlang welcher Dimensionen sich Vorstellungen zu dem, was in Erzählungen vorkommt, bilden. Ergänzung: Das Material aus Forschungsbeispiel 3 (→ Abschnitt 2.3) kann herangezogen werden. Die einzelnen Einstiegspassagen stellen jeweils einen (manchmal zwei) der genannten Aufmerksamkeitshaltungen in den Vordergrund. In der Gruppe können zwei Teilnehmende im Gruppenkreis eine Interviewsituation nachspielen, bei der die Erzählperson eine Passage als Beispiel herausgreift und vorliest und die andere eine Anschlussfrage stellt, die eine andere Orientierung verfolgt. Wenn z.B. die Einstiegspassage an der Darstellung einer formalen Ordnung orientiert ist, zielt die Nachfrage auf Gefühle und Emotionen, wenn die Einstiegspassage auf das Besondere zielt, zielt die Nachfrage auf das Besondere. Die Person, die den Erzählpart übernommen hat, berichtet, wie es ihr mit dieser den Orientierungsrahmen wechselnden Nachfrage ging.
Wir haben bei unseren Interviewern und Interviewerinnen häufige eine Orientierung an „Wichtigem“ beobachtet, ablesbar z.B. an Nachfragen wie: „Fällt Ihnen noch etwas Wichtiges ein?“ oder an Rückfragen nach einem offenen Stimulus: „Erzählen Sie, was Ihnen gerade einfällt, was vielleicht wichtig für Sie war…“ Dies vermittelt den Erzählpersonen ein Forschungsinteresse, das sich auf Besonderes, Außergewöhnliches, Herausragendes etc. richtet. Die Folge kann sein, dass eine Erzählperson, die (durchaus positiv!) von der Normalität und Durchschnittlichkeit ihrer Existenz ausgeht, sich nicht als geeignete Auskunftsperson fühlt und sich zurückzieht (→ Abschnitt 4.6). Diese Orientierung von Interviewenden an Wichtigem ist zum einen ein kultureller Bias in dem Sinn, dass in unserer westlichen Gesellschaft Menschen „wichtig“ und „bedeutend“ sein sollen und vor allem „Wichtiges“ als erwähnenswert gilt. Zum anderen scheint eine Art von Übertragung stattzufinden: Die Situation – und jede Äußerung der Erzählperson – ist tatsächlich für die Interviewenden wichtig. Nur heißt das nicht, dass sich die Erzählperson vor allem an Wichtiges erinnern soll, denn auch Unwichtiges kann wichtig sein. Auch hier ist die Angemessenheit der Interviewer-Orientierung im Einzelnen am Forschungsgegenstand auszuweisen. Nicht zulässig ist eine Orientierung an „Wichtigem“, wenn es in dem Interview vor allem um die Erhebung von Alltagswissen und -deutungen gehen soll. Übung 17: Vergegenwärtigung des persönlichen Fragestils II (Auswertung von Probeinterviews) Vorbereitung (für die Leitung etwas aufwändig): Aus längeren Tonbandmitschnitten (Probeinterviews, Mitschnitte aus den Übungen 2 und/oder 6) von mehreren Teilnehmern und Teilnehmerinnen werden nur die Fragen herausgeschnitten und die Antwortbzw. Erzählpassagen gelöscht Kategorie: Basiskompetenz; besonders wichtig für problemzentrierte oder LeitfadenInterviews mit einer freien Nachfrage-Vereinbarungen; Ziel: Eigene Aufmerksamkeitshaltung bei Fragen vergegenwärtigen Gruppendiskussion; Zeit: 20 Min.
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Die auf die Fragen reduzierten Tonbandmitschnitte von mehreren Interviewern und Interviewerinnen werden verglichen und auf persönliche Fragestile hin diskutiert.
Insbesondere professionelle Strategien müssen kontrolliert werden. Schwierigkeiten bereiten in der Regel professionelle, eingeübte Fragestile, die zu einem automatisch reproduzierten Frage-Habitus und einer professionellen Situationsdefinition gehören. Dies gilt vor allem für Interviewende, die ansonsten in der psychologischen oder sozialpädagogischen Beratung arbeiten: Sie müssen, sofern nicht die vereinbarten Interview-Regeln das ausdrücklich vorsehen, ihren professionellen Stil der Nachfrage und der Gesprächssteuerung umstellen. Aufgrund der Nähe von Beratung und qualitativem Interview werden die Bezugssysteme der psychologischen oder sozialpädagogischen professionellen Kommunikation häufig unreflektiert mittransportiert. Diese Bezugssysteme sind aber implizit normativ und steuern, unkontrolliert angewendet, die Befragten in die Richtung einer psychologisierenden oder pädagogisierenden Wahrnehmung und Deutung der eigenen Person und des eigenen Lebens (so wie das Beratungsziel als Selbstexploration definiert ist). Implizite Prämissen sind z.B. eine Entwicklungsperspektive im Leben („Was hat etwas mit mir gemacht?“), die Bedeutung der Achtsamkeit und der differenzierten Wahrnehmung und Interpretation der eigenen Gefühle („in sich hinein Hören“, „inneres Erleben“) und die Bedeutung des Sprechens über Persönliches. Mit „normativ“ ist gemeint, dass hieraus auch Kriterien zur Beurteilung der Person, ihrer Präsentation und ihrer psychischen Gesundheit gewonnen, also Wertungen vergeben werden. In der Beratungskommunikation ist das Ziel, Reflexions-, Selbstexplorations- und Kommunikationsfähigkeit zu fördern, sinnvoll und wichtig, nicht aber – auch hier wieder: vom gegebenen Forschungsinteresse und der Zielgruppe abhängig – in qualitativen Interviews. In vielen Anwendungsbereichen ist zwar die Haltung der Offenheit und des Verstehens, die in diesen Berufen entwickelt wurde, zu übernehmen, Probleme aber bereiten –
– –
ein zu rasches Entwickeln von Arbeitshypothesen über die Erzählperson, die in die Fragen eingehen, mit einem zu starken Bezug auf ein „überlegenes“, professionelles Wissen (→ Abschnitt 3.3) mit seinen spezifischen Annahmen über Lebensbewältigung und Kommunikation, eine zu starke Betonung der emotionalen und affektiven Ebene, eine zu starke „Führung“, wie sie in der Beratung verlangt wird, insbesondere durch das Anbieten von Deutungen auf der Basis einer unreflektierten Empathie.
Interviewende mit einem psychologischen oder sozialpädagogischen Hintergrund bringen bereits viele Kompetenzen mit, dennoch können Beratungsund Interviewkompetenz nicht gleichgesetzt werden, zumal aus ethischen Gründen die Grenzen zwischen Beratung und Interview nicht verwischt werden dürfen (→ Abschnitt 1.4). Generell ist es ein zentrales Lernziel für alle Interviewer und Interviewerinnen, die persönlichen und professionellen Frage-Stile zu reflektieren und zu kontrollieren. 112
Die Erfahrungen in Forschungsprojekten, in denen eine große Anzahl qualitativer Interviews durchgeführt wurde, zeigt, dass sich die Qualität der Interviews mit zunehmender Interviewerfahrung der Interviewenden nicht automatisch verbessert – im Gegenteil. Dies mag daran liegen, dass die Erfahrungen auch dazu führen, dass die Aufmerksamkeit und Konzentration, die notwendige Voraussetzungen für eine Haltung der Offenheit sind, nachlassen. Es genügt also nicht, sich am Anfang auf die ersten Interviews vorzubereiten, sondern durchgeführte Interviews sollten auf Interviewerfehler hin durchgegangen und die Haltung von Offenheit sollte immer wieder gefestigt werden. Dazu kann Übung 18 eingesetzt werden. Übung 18: Kontrolle des Fragestils Vorbereitung: Aus einem durchgeführten Interview werden alle Antworten entfernt, es bleiben nur die Fragen stehen. Kategorie: Kontrolle der Kompetenzen, Ziel: Eigene Fragestile erkennen Die Liste der Fragen wird auf die Fragequalität daraufhin geprüft, ob die Anforderungen wie z.B. Offenheit, wie sie jeweils vom Forschungskontext abhängig definiert wurden, eingehalten werden. Die Aufmerksamkeit richtet sich zudem auf Besonderheiten, z.B. bezogen auf – das wiederholte Vorkommen bestimmter Frageeinleitungen (z.B. mit einem affirmativen „Ja“ oder „Okay“) – Verwendung von Abtönungspartikeln wie „vielleicht“, Verwendung von Konjunktiv – Komplexität des Frageniveaus – Bezugnahme auf bereits Erwähntes – Neigung zu Mehrfachfragen und Wiederholung von Fragen in Variationen Etc.
Eine (nicht ernst gemeinte) Karikatur: Professionelle und persönliche Fragestile Professionelle Strategien: Die Sozialarbeiterin „Konnten Sie darüber sprechen?“ „Wie haben Sie das bewältigt?“ „Können Sie noch etwas näher beschreiben, wie es Ihnen damit ging?“ „Konnten Sie das so stehen lassen?“ Professionelle Strategien: Die Psychologin „Wie haben Sie das verarbeitet?“ „Können Sie noch etwas dazu erzählen, wie sich die Beziehung entwickelt hat?“ „Wie hat sich Ihr Leben weiter entwickelt?“ „Können Sie Ihr Verhältnis zu... noch näher beschreiben?“ „Was hat das bei Ihnen ausgelöst?“ „Wie hat Sie das berührt?“ Die Bedeutsame „Was war denn sonst noch wichtig für Sie?“ „Können Sie sich noch an anderes erinnern, was für sie wichtig war?“ Die Geschäftsmäßige „Ich habe da noch eine Frage.“ „Gut. Kommen wir zu einer weiteren Frage, die ich habe.“ „Gut, ich habe da noch etwas, das für mich offen ist...“ „Nun möchte ich gern noch wissen...“ „Was mich noch interessieren würde...“
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Die Detektivin „Können Sie sich da an noch etwas erinnern, wie das war?“ „Können Sie das noch etwas genauer beschreiben?“ „Gibt es da noch etwas, an das Sie sich erinnern können?“ „Warum haben Sie das gemacht?“ Die Ordnungsliebende „In welcher Beziehung war das?“ „Was waren das für Menschen?“ „Ich kann das noch nicht richtig einordnen – in welcher Lebensphase war das?“ Die Problemorientierte „Können Sie sich erinnern, was da schwierig für sie war?“ „Können Sie etwas über die Belastungen erzählen?“
3.6 Theoretische Vertiefung: Das Prinzip Offenheit Offenheit ist neben Kommunikation (→ Abschnitt 2.6) eines der zentralen Grundprinzipien der qualitativen Forschung. Nach den bisherigen Übungen kann dieses Prinzip noch einmal mit einer Zusammenfassung bisheriger Aussagen verdeutlicht und konkretisiert werden. Das Prinzip Offenheit verlangt, dass in dieser Forschungs- als Kommunikationssituation der Erzählperson der „Raum“ gegeben wird, ihr eigenes Relevanzsystem oder ihr Deutungsmuster zu entfalten, so dass der Erzähler „…die Kommunikation weitestgehend selbst strukturiert und damit auch die Möglichkeit hat, zu dokumentieren, ob ihn die Fragestellung überhaupt interessiert, ob sie in seiner Lebenswelt – man sagt auch: in seinem Relevanzsystem – einen Platz hat und wenn ja, unter welchem Aspekt sie für ihn Bedeutung gewinnt.“ (Bohnsack 1999, 20f) Dieses Prinzip grenzt qualitative Verfahren ab gegen die Erhebungspraxis bei standardisierten Verfahren9, bei der sich die Befragten der Erhebungslogik, der Relevanzstruktur, den vorgegebenen Frageformulierungen und den in den Antwortvorgaben enthaltenen Deutungen anpassen müssen. Der Gegenbegriff von Offenheit ist das Einschränken von Äußerungsmöglichkeiten. In diesen Punkten besteht allgemeine Einigkeit. Offenheit kann auf der Ebene des Verstehens und, damit verbunden, der Aufmerksamkeit bestimmt werden, etwa als Suspendierung des eigenen theoretischen oder persönlichen Vorwissens in einer Haltung „gleichschwebender Aufmerksamkeit“ (→ Abschnitte 3.1, 3.2). Auf dieser Ebene wäre das Gegenteil zu beschreiben als eine Haltung der Interviewenden, eine vorgefasste Meinung oder theoretisches Vorwissen in die Interviewsituation hineinzutragen und nur das an den Äußerungen der Erzählperson wahrzunehmen und zu verstehen, was diesem Vorwissen entspricht. Auf der Ebene der Interviewsteuerung kann Offenheit als Zurückhaltung bei Fragen, Äußerungen 9
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Eine „offene“ Frage ist zunächst einmal der Gegensatz zu einer „geschlossenen“ Frage, bei der mit Ja/Nein oder mit anderen vorgegebenen Vorgaben geantwortet werden muss.
und überhaupt Einmischungen konkretisiert werden, wobei Zurückhaltung nicht in jedem Fall Abstinenz bedeutet (→ Abschnitte 3.4, 3.5). Das Gegenteil von Offenheit wären Interventionen, die die Erzählperson zwingen, sich in dem Relevanzsystem der interviewenden Person auszudrücken. Einigkeit besteht auch dahingehend, dass in der Interviewkommunikation die Möglichkeit der Erzählperson, den Erzählraum zu gestalten, in Konkurrenz steht zu der Möglichkeit der Interviewenden, Begriffe, Relevanzen und Situationsdefinitionen einzubringen (Flick 1995, 148). Die grundsätzliche Denkfigur für diese Spannung begegnet uns in Bildern wie „Autonomie“ oder „Authentizität“ der Erzählperson oder, dem implizit assoziierten Gegenbegriff der Fremdbestimmung oder Verfälschung entsprechend, vom „Überstülpen“ des Relevanzsystems der Forschenden, die damit das Relevanzsystem der Befragten an der „Entfaltung“ hindern. Über diese grundsätzliche Konzeption der Interviewsituation hinaus lassen sich drei strittige Punkte ausmachen, wie Offenheit umgesetzt werden kann: (1) Gibt es so etwas wie einen „authentischen“ Text oder ist jeder Text situativ produziert? Stören Interviewende prinzipiell? Lässt sich der Einfluss der Interviewsituation verhindern? Hopf (1978) setzt die „Authentizität“ der Erzählung als Ziel; entsprechend sollte die Interviewsituation möglichst „natürlich“ gestaltet sein. Vorbild sind Interviews im Rahmen teilnehmender Beobachtung, die beiläufig geführt werden, eingebettet in das Aufsuchen der Befragten in deren „natürlicher“ Lebenswelt. Je „wissenschaftlicher“ das Setting für die Interviews ist, desto stärker tritt den Befragten das wissenschaftliche Relevanzsystem als unausgesprochener, Anpassung verlangender Erwartungshintergrund entgegen. Offenheit würde optimal durch eine – natürlich real nicht mögliche – vollständige Abstinenz bis hin zur Unsichtbarkeit als Interviewende realisiert. In Gegenpositionen – denen wir uns aus interaktionstheoretischer Sicht anschließen – wird darauf verwiesen, dass es keine „authentischen“ Texte gibt. Auf praktischer Ebene hat allein schon das Wissen um die Anwesenheit einer beobachtenden Person Effekte, die die „Natürlichkeit“ der Situation begrenzen. Gegen eine „unsichtbare“ Ausforschung sprechen ethische Bedenken. Auf wissenschaftstheoretischer Ebene wird die Vorstellung von „Authentizität“ selbst als Konstruktion bezeichnet: Es kann höchstens situativ authentische Texte geben. Situative Authentizität kann aber auch in einer „unnatürlichen“ Interviewsituation erzielt werden. (2) Bedeutung von Offenheit auf der Handlungs-Ebene: Muss in jedem Fall eine Intervention durch Fragen etc. bedeuten, dass die Äußerungsmöglichkeiten beschnitten werden? Die unterschiedlichen Positionen entsprechen den unterschiedlichen Interviewformen: In narrativen Interviews wird Offenheit als weitgehende Beschränkung der Interviewenden auf die Zuhörer-Rolle gefasst. Bei problemzentrierten Interviews wird unterstrichen, dass gerade geeignete Formen von 115
aktiven Interviewer-Interventionen – z.B. solche, die die Erzählperson stützen – den Raum für Äußerungsmöglichkeiten eher erweitern als schließen. (3) Bedeutung von Offenheit als Suspendierung des eigenen Vorwissens und als „gleichschwebende Aufmerksamkeit“: Bedeutet jedes Einbringen des Vorwissens, dass die Äußerungsmöglichkeiten beschnitten werden? Die Fähigkeit zu einer Haltung „gleichschwebender Aufmerksamkeit“10 ist als Anforderung an Interviewende unumstritten. Strittig ist die Suspendierung des Vorwissens, wobei aber allen klar ist, dass ein naiver Umgang mit dem eigenen Vorwissen und eine nicht reflektierte Aufmerksamkeitshaltung tatsächlich den Raum für die Entfaltung des Relevanzsystems für die Erzählpersonen einschränken. Damit nähern sich die Positionen wieder an, denn sowohl eine „Zurückstellung“ der eigenen Deutungen als auch der bewusste und reflektierte Einsatz des Wissens verlangen Distanz und Kontrolle. Die differierenden Antworten auf die Fragen hängen stark von den wissenschaftstheoretischen Annahmen über den Forschungsgegenstand und von dem Forschungsinteresse ab; ausführlich wurde auf die Varianten in → Abschnitt 1.2 eingegangen. Es lässt sich ein Konsens bezogen auf das Prinzip Offenheit zusammenfassen: –
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Es gibt prinzipielle Grenzen von Offenheit im Sinne einer Abstinenz von Interviewenden und damit Grenzen der möglichen „Unbeeinflusstheit“ der Textproduktion. Auch „unstrukturierte“ Interviews haben eine Strukturierung, die außerhalb der Strukturierungsleistung der Befragten vorgegeben wird, auch monologische Texte, erzeugt bei narrativen Interviews, stellen eine Kommunikation dar (Lucius-Hoene/Deppermann 2002, 193). Und da wir nicht nicht kommunizieren können, ist keine Vorgabe auch eine Vorgabe und hat als solche Effekte. Die Figur der vollständig neutralen Forschenden und Interviewenden ist ebenso eine Fiktion wie die Vorstellung, ein Interview für ein Forschungsprojekt könne ungebrochen auf der Ebene der Alltagskommunikation geführt werden. Offenheit ist notwendig, aber gleichzeitig immer begrenzt. „Je stärker man das Offenheitspostulat betont (...), desto stärker läuft man in Gefahr, das ebenfalls innerhalb des interpretativen Rahmens betonte Prinzip der Kommunikation zu ignorieren: dass nämlich der Forscher/ Untersucher (bzw. sein Instrumentarium) immer in irgendeiner Weise strukturiert und an der kommunikativen Erzeugung der Daten beteiligt ist. Auch das, was vom Forscher als Offenheit gemeint ist, wird in irgendeiner, u.U. sehr unterschiedlichen Weise als Kommunikation vom Befragten interpretiert.“ (Hoff 1985, 163f) In bestimmten Forschungskontexten werden bestimmte Konkretisierungen von Offenheit als nicht relevant angenommen. Nicht in jedem Fall – bei einem entsprechend gegebenen Forschungsinteresse! – wird das Ein-
10 Der Begriff stammt aus der Psychoanalyse und wird im Kontext qualitativer Interviews selten verwendet (Flick 1996, 61).
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bringen von Vorwissen oder das Stellen von Fragen als ein Schließen der Ausdrucksmöglichkeiten gesehen. Einigkeit besteht dahingehend, dass das Einbringen von Vorwissen die Verpflichtung beinhaltet, sich dieses Vorwissens und der eigenen selektiven Aufmerksamkeit zu vergegenwärtigen und zu klären, welche Zusammenhänge und Relevanzen daraufhin erwartet werden. Interviewende können ihre „Hypothesen“ im Sinne von Ausgangsvermutungen explizit machen und sich darauf vorbereiten, dass sie Neues und ihren Annahmen Widersprechendes hören wollen und erfahren werden.
Offenheit bedeutet nicht das vollständige Ausblenden (das ist weder möglich noch in allen Forschungskontexten angeraten), sondern die bewusste Wahrnehmung, die kritische Reflexion und Kontrolle des eigenen Vorwissens, der eigenen selektiven Aufmerksamkeit und der eigenen Interview-Interventionen. Dann sind Schließungen der Äußerungsräume für die Erzählpersonen vermeidbar. Diese zu vermeidende Schließung kann z.B. darin bestehen, dass der oder die Interviewende nur fragt und hört, was schon vorher bekannt ist, oder dass Nachfragen bei den Befragten Erwartungen wecken, die seine Darstellung beeinflussen und ihnen Antworten in den Mund legen. Dabei geht es vor allem darum, dass dies unbemerkt, unbeabsichtigt und unkontrolliert geschieht: Wo Steuerungen sich nicht vermeiden lassen, muss ihr Einfluss explizit und damit ihr Effekt einschätzbar gemacht werden.
3.7 Bilanz und Reflexion Die Auseinandersetzung mit der Interviewerperspektive zeigt, – –
– – –
In der Interviewsituation leisten Interviewende Fremdverstehen, wobei sie an ihre eigenen „Relevanzen“, ihr Vorwissen und ihre Deutungen anknüpfen. Für qualitative Interviews ist das aktive Zuhören wichtig, das im Alltag nicht üblich ist. Das aktive Zuhören unterstreicht die asymmetrische Beziehung in der Interviewsituation, die der Erzählperson die Last der Erzählung aufbürdet. Gerade diese Differenz zur Kommunikation im Alltag kann Schwierigkeiten bereiten. Interviewsituationen werden nicht nur verbal, sondern wesentlich auch nonverbal gesteuert. Es gibt eine Palette unterschiedlicher Frageformen mit unterschiedlichen Auswirkungen auf die Produktion einer Erzählung. Auch wenn die Interviewenden von sich meinen, nur das „objektiv“ in einer Erzählung Interessante oder Fehlende nachzufragen, so bringen sie doch persönliche und/oder professionelle Fragestile in das Interview ein. Auch aus Perspektive der Interviewenden ist die „Wahrheit“ eine komplizierte Angelegenheit: Interviewende müssen auf Irritationen vorbereitet sein. 117
Reflexion – Ist klar, was von dem spezifischen Interviewverfahren her von den Interviewenden bezogen auf den Umgang mit eigenen Deutungen und bezogen auf zugelassene Interventionen festgelegt ist und erwartet wird? – Kann ich nachzeichnen, wie das Fremdverstehen „durch meinen Kopf“ bzw. „meinen Bauch“ geht und was Aufmerksamkeitshaltungen und Interessen mit meiner Person zu tun haben? Kann ich mein eigenes Relevanzsystem und meine Deutungen zurückstellen? Habe ich mich mit meinen eigenen (persönlichen und professionellen) Wahrheitskriterien, Kommunikationsannahmen und Fragestilen auseinander gesetzt? – Kann ich meine Aufmerksamkeit auf die Erzählperson konzentrieren und meine eigenen Gedanken „abschalten“ (das heißt gerade nicht: abschweifen lassen, sondern zurückstellen)? – Wie entwickelt ist meine Merkfähigkeit bezogen auf Erzähltes? – Kann ich einen Gesprächsprozess verlangsamen? Kann ich eine asymmetrische Gesprächsbeziehung aushalten, kann ich längere Pausen ertragen? Habe ich eine Haltung des „aktiven“ Zuhörens verstanden und kann ich sie anwenden? – Kenne ich wichtige nonverbale Signale und verbale Frageformen und ihre Bedeutung für den Kommunikationsverlauf? Kann ich positive Formen einsetzen und negative vermeiden? – Ist mir das „Prinzip Offenheit“ einsichtig?
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4 Übungsteil III: Die Interaktion im Interview – Dynamik und Gestaltung
Nachdem wir die Perspektiven und die Handlungsmöglichkeiten der Erzählpersonen und der Interviewenden kennen gelernt haben, sollen die Interaktion zwischen beiden und die Dynamik im Interview, eben das „Drama“, das beide zusammen aktiv produzieren (Hermanns 2000, 361), betrachtet werden. Zunächst wird die grundlegende Relation zwischen Erzählperson und interviewender Person als Nähe/Vertrautheit und Fremdheit angesprochen (→ Abschnitt 4.1), hier schließt eine theoretische Vertiefung des „Prinzips Fremdheit“ als drittem Prinzip qualitativer Interviews an (→ Abschnitt 4.2). Die Klärung der Rollen im Interview verlangt besondere Kompetenzen (→ Abschnitt 4.3) und ebenso der Umgang mit Interaktionsproblemen im Interviewverlauf (→ Abschnitt 4.4). Wie sich Interviewende bei bezogen auf die Erzählbereitschaft ambivalenten oder verbal nicht geübten, „wortkargen“ Erzählpersonen verhalten können, wird in den → Abschnitten 4.5 und 4.6 diskutiert. Es folgen Hinweise zu Gütekriterien qualitativer Forschung und zum vierten Prinzip qualitativer Forschung, dem „Prinzip Reflexivität“ (→ Abschnitt 4.7). Interviewfehler lassen sich nicht gänzlich vermeiden, daher wird an einem Beispiel gezeigt, wie auch eine misslungene Interviewinteraktion in der Interpretation aufgegriffen werden kann (→ Abschnitt 4.8). Am Ende steht wieder eine Bilanz (→ Abschnitt 4.9).
4.1 Nähe und Fremdheit in der Interviewsituation Jedes Interview ist ein Kommunikations- und Interaktionsprozess. Das heißt auch: Interviewende und Erzählperson reagieren wechselseitig aufeinander. Wenn sie in Kontakt treten, schätzen sie sich gegenseitig ein, bilden Erwartungshaltungen und verhalten sich zu diesen Erwartungen. Einer der wichtigsten Aspekte dieser ersten Einschätzungen ist die Wahrnehmung des Anderen als „ganz anders“ oder als eine Person mit Ähnlichkeiten zu der eigenen Person. „Nähe“ hat im Kontext qualitativer Interviews zum einen eine emotionale Dimension im Sinne von Vertrauen, Einfühlen oder Mitfühlen, zum anderen 119
eine kognitive Dimension im Sinne eines gemeinsam geteilten Erfahrungs-, Wissens- und Deutungshintergrundes (z.B. gemeinsames Wissen aufgrund der Herkunft aus demselben Dorf, aufgrund der Zugehörigkeit zu derselben Generation etc.). Häufig wird angenommen, dass aus einer kognitiven Nähe auch eine emotionale Nähe, aus Vertrautheit Vertrauen folgt. Für die Erzählperson heißt das: Sie erwartet, dass ein Interviewer oder eine Interviewerin, die denselben Erfahrungshintergrund hat wie sie selbst, sie emotional besser versteht. Forschung kann dies strategisch nutzen. Auch im Kontext der politischen Diskussion um Selbsthilfe und Selbstbestimmung wurde immer wieder die Forderung nach Forschung von Betroffenen durch Betroffene erhoben, d.h. Frauen sollen Frauen interviewen, Männer Männer, Behinderte Behinderte etc. (vgl. Friebertshäuser 1997, 391). Auf diese Weise soll gesichert werden, dass diskriminierende Deutungen Nicht-Betroffener durch subjektorientierte, aus der Innensicht der Betroffenen stammende Erkenntnisse abgelöst werden. Doch die emotionale und die kognitive Dimension von Nähe müssen nicht zwangsläufig zusammenfallen. Die Beziehung von zwei Personen, die z.B. in ihrer Herkunft, Lebenswelt, Generationen- und Geschlechterzugehörigkeit übereinstimmen, kann von Distanzierung gekennzeichnet sein und die „Fremdheit“ des Anderen, die Präsentation der Interviewenden als mit dem Hintergrund der Erzählperson unvertraut („Dummheit als Methode“: Hitzler 1991) kann mit einer vertrauensvollen Kommunikation und einer emotional nahen Atmosphäre einhergehen – nur muss die emotionale Nähe dabei anders als über den Verweis auf einen gemeinsamen Hintergrund hergestellt werden. Mit Kahn/Cannell (1967,112): Erzählpersonen müssen nicht unbedingt das Gefühl haben, der Interviewer sei so wie sie selbst, sondern sie müssen vor allem die Überzeugung gewinnen, dass der Interviewer oder die Interviewerin jemand ist, der oder die verstehen kann. Die in diesem Abschnitt vermittelten Kompetenzen betreffen das Wissen um die Dimensionen von Nähe und Fremdheit, die Fähigkeit, die „Fremdheit“ und damit auch die eigene, oft selbstverständliche Position zu reflektieren und das Handhaben der Interviewbeziehung unter diesen Aspekten.
Vertrauensvorschuss und Explikationsbedarf Um die Bedeutung zu verstehen, die dem gemeinsamen oder differenten Erfahrungshintergrund zukommt, sei noch einmal auf Übung 2, Frage 2 und 3 und auf das „Prinzip Kommunikation“ (→ Abschnitt 2.6) verwiesen: Die Erzählung ist eine Selektion spezieller Äußerungen aus dem Universum möglicher Äußerungen. Die interviewende Person ist der „soziale Horizont“, auf den hin erzählt wird, d.h. Äußerungen ausgewählt werden. In dem Maß, wie die Erzählperson sich gegenüber der interviewenden Person verständlich machen will, sind die Annahmen, was letztere bereits weiß und verstehen kann, wie sie möglicherweise auf Erzähltes reagieren wird, was sich zu erzählen lohnt und ob es sich überhaupt lohnt zu erzählen etc. ein wichtiges Bestim120
mungsmoment für die Teilnahme an dem Interview und für die Produktion der spezifischen Erzählversion. Ein gemeinsamer Hintergrund, den die Erzählpersonen und die Interviewenden teilen, erleichtert in der Regel den Zugang zu Erzählpersonen und erhöht die Teilnahmebereitschaft. Forschungsbeispiel 11:
Teilnahmemotivation und Vertrauensvorschuss
In dem Projekt „LIVE – Leben und Interessen vertreten. Frauen mit Behinderung“ war die Tatsache, dass die Interviewerin selbst eine Behinderung hatte, für einige Frauen ein wichtiger Grund, an der Befragung teilzunehmen: Sie erwarteten, dass die Interviewerin sie versteht. Die Erwartung ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass die unten zitierten Frauen Unverständnis seitens Nichtbehinderter berichteten und sich als von der Welt der NichtBehinderten „abgetrennt“ erlebten. Beispiele aus den Angaben zur Teilnahmemotivation: „Dann wollte ich eigentlich so mal mit jemandem so richtig mal drüber reden, weil man ja nicht mit jedem drüber reden kann. … Und eigentlich nur, weil manche es einfach so nicht verstehen.“ LIVE, 20j. Frau, Eiermann/Häußler/Helfferich 2000, 145 „Ja, einen Menschen zu haben, mit dem man sich einfach so ungezwungen über dieses Problem überhaupt (…) unterhalten kann, damit man mal den Druck losbekommt (…). Das sind ja viele Dinge, die man eigentlich für sich behält auch.“ LIVE, 57j. Frau, Eiermann/Häußler/Helfferich 2000, 145 In dem Projekt „frauen leben“ legten Frauen aus den neuen Bundesländern Wert darauf, von Personen interviewt zu werden, die ebenfalls aus den neuen Bundesländern stammten. Frauen aus den alten Bundesländern war es insbesondere wichtig, zum Thema „Lebensläufe und Familienplanung“ von Frauen und nicht von Männern befragt zu werden. „frauen leben. Lebensläufe und Familienplanung“ (Bei den standardisierten Telefoninterviews im Projekt „männer leben“ hatten die Interviewerinnen, die Männer interviewten, geringere Verweigerungs- und Abbruchraten als die Interviewer, deren Interviews zudem kürzer ausfielen. Hier versprach die spezifische Geschlechterinkongruenz „Frauen interviewen Männer“ eher eine höhere Teilnahmerate. In der qualitativen Teilstudie wurden dennoch Männer als Interviewer eingesetzt.) „männer leben. Lebensläufe und Familienplanung“, Zwischenbericht vgl. für ähnliche Forschungserfahrungen auch Kahn/Cannell 1967, 198 Beispiel für einen negativen Einfluss auf die Teilnahmebereitschaft: In der schriftlichen Ablehnung einer Teilnahme: „Ich wäre zu einem Gespräch/Interview bereit gewesen, hätten Sie nicht ausdrücklich erwähnt, dass die Gesprächspartnerin selbst behindert sein würde (….). Nach vielen eigenen Erlebnissen/Kontakten/Gesprächen während des Aufenthalts in Kliniken und auch in stundenlangen ‚Warteschleifen‘ vor Untersuchungsräumen, bei denen Menschen in gleicher oder ähnlicher gesundheitlicher Situation das dringende Bedürfnis hatten, mit Fremden über ihre Behinderung zu diskutieren (…) glaube ich, dass ein Interview durch eine ebenfalls Behinderte zu keinem im Sinne der Untersuchung guten Ergebnis kommen kann.“ LIVE, Frau mit unbekanntem Alter, Eiermann/Häußler/Helfferich 2000, 148
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Der zweite Bereich, in dem die (In-)Kongruenzen sich auswirken, ist der Thematisierungsinhalt. Bei einem gemeinsamen Erfahrungshintergrund sind Erzählpersonen in der Regel bereiter, auch solche „Insider“-Aspekte zu thematisieren, die üblicherweise Fremden gegenüber nicht angesprochen werden. Diesem Zugewinn an Thematisierungsbereitschaft steht aber ein Verlust an Explikation gegenüber: Je größer der geteilte gemeinsame Erfahrungshintergrund ist, desto verkürzter kann sich eine Erzählperson ausdrücken und sie wird dennoch erwarten, verstanden zu werden. Ausdrücke verweisen indexikal auf einen Hintergrund; wenn dieser Hintergrund auch beim Hörenden präsent ist, reicht bereits ein undeutlicher, für Außenstehende vager oder unverständlicher Hinweis zum Verständnis, denn er transportiert eine Fülle an Bedeutungen für diejenigen, die denselben Hintergrund haben. Witzige Beispiele aus dem Alltag liefert immer wieder die Kommunikation von Familienmitgliedern, die sich schon lange kennen1. Der Aufwand, sich verständlich zu machen, und damit die Umsetzung des „Detaillierungszwanges“ (Schütze 1984) sind davon abhängig, wie viel Detailwissen und wie viel gemeinsam geteilte Bedeutungen auf der Seite der Interviewenden die Erzählperson voraussetzen kann. Übung 19: Auswirkungen eines gemeinsamen Erfahrungshintergrundes Vorbereitung: Keine Kategorie: Basiskompetenz; Ziel: Nachvollziehen der Auswirkung eines gemeinsam geteilten Erfahrungshintergrundes bei Adressaten einer Äußerung Einzelarbeit, anschließend Austausch in der Gruppe; Zeit: 30 Min. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen werden aufgefordert: „Bitte schreiben Sie einen Brief, in dem sie plastisch vermitteln, wie es Ihnen in den ersten Tagen ihres Studiums im Fach X in der Stadt Y ging. Sie schreiben genauer gesagt drei Briefe zu dem gleichen Thema, die aber an unterschiedliche Personen gerichtet sind: a) an eine Person, die das gleiche Fach studiert hat, aber die Stadt nicht kennt, b) an eine Person, die das Fach nicht kennt, aber die Stadt, c) an eine Person, die weder das Fach, noch die Stadt kennt. Sie beginnen den Brief nur, d.h. sie schreiben nur die erste halbe Seite. Im Austausch wird herausgearbeitet, was die drei Varianten desselben Themas voneinander unterscheidet.
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Auch das Prinzip des „name dropping“ beruht auf diesem Prinzip: Wenn Person A wichtige und bedeutsame Namen fallen lässt, muss Person B, wenn sie als eine gelten möchte, die einen ähnlichen Erfahrungshintergrund wie A hat, so tun, als würde sie die Namen kennen. Die Bitte um Explikation würde das Eingeständnis bedeuten, sich in As Erfahrungswelt nicht auszukennen.
Übung 20: Zusammentragen von Vor- und Nachteilen eines gemeinsamen Erfahrungshintergrundes Vorbereitung: Keine Kategorie: Basiskompetenz; Ziel: Differenzierte Handhabung der Kongruenz bzw. Inkongruenz des Erfahrungshintergrunds von Erzählpersonen und Interviewenden Gruppengespräch; Zeit: 20 Min. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen werden gebeten, anhand einer definierten Forschungsaufgabe Vorteile und Nachteile zusammenzutragen, die mit dem Einsatz von Interviewenden verbunden sind, die a) den Hintergrund oder die Lebenswelt der Erzählpersonen in großem Maß teilen, b) einen kontrastierenden Hintergrund mitbringen. Wenn kein Beispiel zur Verfügung steht, kann das Projekt LIVE als Vorlage dienen: Was sind Vor- und Nachteile von Frauen oder Männern, Menschen mit oder ohne Behinderung als Interviewende, wenn Frauen mit Behinderung interviewt werden sollen? Weiterführende Literatur mit einem Forschungsbeispiel Trevino, A. Javier (1992); dort werden die Vorteile und Nachteile einer Interviewkonstellation abgewogen, in der ein Mann ohne Alkoholprobleme Frauen bei den Anonymen Alkoholikern interviewt.
Mit Inkongruenzen bzw. Kongruenzen des Erfahrungshintergrundes umgehen, heißt in erster Linie, sich ihrer bewusst werden. Interviewende müssen ihren eigenen Hintergrund und ihre Position im Interview in Relation zu der Erzählperson reflektieren können. Drei Aspekte bestimmen dabei in jedem Interview die Konstellation: Erzählpersonen und Interviewende treten einander immer als Frauen oder Männer, als Angehörige einer bestimmten Alterskohorte und als Angehörige einer bestimmen Kultur gegenüber. Die so selbstverständliche eigene Geschlechter-, Alters- und ethnische oder soziale Zugehörigkeit wird häufig nicht aufmerksam genug beachtet. (Hinzu kommt der Unterschied, dass eine Person dem Bezugssystem Wissenschaft angehört, die andere aber nicht.) Übung 21: Selbstwahrnehmung und Reflexion des eigenen (zur Erzählperson kongruenten/inkongruenten) Hintergrundes Vorbereitung: keine, Voraussetzung aber: Mindestens ein Mann und eine Frau in der Gruppe Kategorie: Basiskompetenz; Ziel: Selbstwahrnehmung und Reflexion der eigenen Geschlechtszugehörigkeit und der Geschlechterkonstellation im Interview Vordiskussion in zwei Untergruppen und Zwischendiskussion (jeweils 5 Min.), zweimal Rollenspiel (jeweils 5 Minuten), anschließend Austausch in der Gesamtgruppe; Zeit: 35 Min. Es werden zwei Untergruppen, wenn möglich nach Geschlecht getrennt, gebildet und ein Teilnehmer und eine Teilnehmerin für das Rollenspiel ausgewählt. Der Teilnehmer hat den Auftrag, im Rahmen eines Forschungsprojektes ein Gespräch mit der Teilneh-
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merin zu führen (ohne strenge Standards der Interviiewführung). Thema ist „Alltag und Versorgung von Kleinkindern/Babies“ (dies ist auch das Thema des Forschungsprojektes). Es ist keine Voraussetzung, aber naheliegend, dass die Teilnehmerin als Gesprächspartnerin selbst eigene Erfahrungen mit dem Thema hat. Der Teilnehmer soll im Rahmen seines Auftrags möglichst viel über die subjektive Sichtweise der Frau in Erfahrung bringen, auch persönliche Aspekte. Vor dem Spiel haben die beiden Untergruppen jeweils einen Auftrag zu erfüllen: Die anderen (männlichen) Teilnehmer beraten den Gesprächsführer, wie er sich als Mann präsentieren soll, damit die Erzählbereitschaft gefördert wird, und sie legen die Einstiegsfrage für das Gespräch fest. Die (weiblichen) Teilnehmerinnen diskutieren mit der Erzählperson, was sie von einem männlichen Gesprächsführer erwarten und was aus ihrer Sicht ihre Gesprächsbereitschaft fördern würde bzw. wie sie auf welche Haltungen reagieren würden. Die Zeit für diese Diskussion ist begrenzt auf 5 Minuten – dies ist den Gruppen vorher mitzuteilen. Die Untergruppen machen sich jeweils Notizen von der Vorbesprechung und auch von ihren Beobachtungen während des Spiels. Das Rollenspiel wird einmal durchgeführt. In den beiden Untergruppen wird anschließend die Performanz diskutiert. Es können Veränderungen vorgeschlagen werden, mit denen die beiden Akteure dann in die zweite Runde einsteigen. Nach der zweiten Runde findet ein Austausch in der Gesamtgruppe statt, in dem die eigene Präsentation als Frau und Mann mit einer bestimmten Ausstrahlung (physische Merkmale, Kleidung etc.) bewusst gemacht wird. Anmerkung: In dem Artikel von Trevino (1992) werden Strategien vorgeschlagen, die Beziehung zwischen männlichem Interviewer und weiblicher Erzählperson zu beeinflussen: u.a. kann der Interviewer eine „feminisierte“ Identität präsentieren, indem er z.B. das Kleinkind der Erzählperson auf den Schoß nimmt oder indem er sich als fürsorglichversorgend in der Interviewsituation verhält (Anbieten von Getränken). Es können auch 2 Strategien der „Desexualisierung“ von Interviewsituationen verfolgt werden, z.B. können Interviewerinnen, die Männer interviewen, einen Ehering tragen. Zum Selbststudium/Hausaufgabe: Für das Selbststudium oder für eine Hausaufgabe sollen Personen des anderen Geschlechts in ein Gespräch über ein geschlechternahes Thema verwickelt werden: Frauen sprechen Männer auf Fußball oder Autos bzw. Motorräder an, Männer Frauen auf Kinder oder Kosmetik. Dabei wird die eigne Haltung variiert im Sinne einer feminisierten oder maskulinisierten Identität nach Trevino.
In Übung 20 zwingt die Inkongruenz zur Reflexion der eigenen Präsentation als Mann oder Frau – dies sind unausweichliche Zuschreibungen in der Interaktion. Doch eine ähnliche Sensibilität und Reflexion ist auch dann angeraten, wenn Frauen Frauen und Männer Männer interviewen. In ähnlicher Weise wie bei der Geschlechterinkongruenz sind der Umgang mit Altersunterschieden und die Selbstpräsentation in der professionellen Rolle, die in dem Erwartungshorizont der Erzählperson mit einem bestimmten Status verbun2
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„Female researchers, for instance, may need to discourage sexual advances from male subjects (…), while male researchers may need to cultivate a presentation of self that is perceived as sexually non-threatening by their female respondents.“ (Trevino 1992, 516)
den ist, zu prüfen. Die „Fremdheit“, die sich daraus ergibt, dass die Interviewenden, nicht aber die Erzählpersonenen, zu dem Bezugssystem Wissenschaft gehören, markiert einen nicht hintergehbaren Unterschied zwischen den Akteuren (mehr zur professionellen Interviewerrolle: → Abschnitt 4.3). Forschungsbeispiel 12: Nähe erübrigt Explikation, Fremdheit fördert Explikation In dem Forschungsprojekt „männer leben“ wurden die Interviewer aus derselben Region gewählt, aus der die Befragten stammten. Der bereits zitierte 50jährige Befragte wurde von einem Interviewer aus dem Ruhrgebiet interviewt. „In meiner Kindheit? Ja, das war so eine Sache – ich bin Sohn eines Bergmanns, der Zweitgeborene, ich habe noch einen Bruder …“ In der Interviewauswertung berichtete der Interviewer, der selbst im Ruhrgebiet aufgewachsen ist, der Befragte habe ihn an dieser Stelle „Sohn eines Bergmanns“ fragend angesehen. Der Interviewer hatte daraufhin genickt – er hatte den Gesichtsausdruck als Vergewisserung verstanden, ob er mit dieser Aussage „Sohn eines Bergmanns“ etwas anfangen könne. Die gemeinsame Kenntnis, was es bedeutet, in einer BergmannsFamilie aufgewachsen zu sein, ersparte eine Explikation, was das genau bedeutet. „männer leben. Lebensläufe und Familienplanung“ 2002, 50j. Mann, Ruhrgebiet Die männlichen Interviewer in dem Projekt waren zwischen 25 und 30 Jahre alt. a) „Zu meiner Kindheit also des war in de sechziger Jahre da isch mer natürlich ganz äh-äh da isch der Verkehr no net so groß gwese da isch-äh also völlig freies Aufwachsen in der Natur …“ „…des ware RESCHTLOS Mädle in meinem Alter, ne? Und dann sind – dann s isch heutzutage glaub nimme so sind so Sportveranstaltunge gwese groß…“ „..war do net dass mer jetz- heut isch des ganz andersch, des kriegsch ja mit, da schätztäh – ob a Jung isch oder a Mädle der – unterhält sich mit de Eltere über dFreundin, ne?“ Der Interviewer berichtete bei der Rekapitulation der Interviewsituation in der Auswertungssitzung, dass der Erzähler besorgt gewesen war, dass der Interviewer versteht, was er meint. b) „Die Schule war im Ort, es war ne Zwergschule, wie mer sie heute nennt, ja, gibt’s nur noch ganz wenige (…). Beschäftigung in der Kindheit denk ich mal waren dieselben ähnlich vergleichbar wie die heutigen (Hustet). Aber man hat des genutzt was da war, viel Natur, draußen viel gespielt – und ähm hat sich mit Freunde und Bekannte getroffe ---- Clique nennt mers heut (lacht).“ Im der Auswertungssitzung wird der Eindruck der rekonstruierenden Perspektive des Erzählers hervorgehoben, die sich darin niederschlägt, dass er vor allem das detailliert beschreibt, was (damals) anders war als heute. „männer leben. Lebensläufe und Familienplanung“, 2002 a) 35-40j. Mann, Freiburg Land, b) 40-45j. Mann, Freiburg Land Mitunter erkunden Erzählpersonen den Erfahrungshintergrund der interviewenden Person: z.B. „Ich weiß nicht, ob Sie verheiratet sind / Kinder haben“, „Kennen Sie (das)
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auch…?“. Diese Rückvergewisserungen wurden vor allem von älteren Erzählpersonen, die in der DDR aufgewachsen waren, geäußert und zwar auch dann, wenn die Interviewenden ebenfalls aus dem Osten stammten.
Ein gemeinsamer Hintergrund hat so eine zweifache Auswirkung: Einerseits entsteht über Nähe ein für die Thematisierungsbereitschaft förderlicher Vertrauensvorschuss. In gleichem Zug aber erübrigt sich eine Explikation, da man gemeinsame Vorannahmen teilt. Das wiederum kann ein Nachteil sein, weil Selbstverständlichkeiten, die aber im Interviewkontext wichtig sein könnten, nicht in eine Textform gebracht werden und damit nicht in die Auswertung als Material eingehen können. Aufgrund dieser Vor- und Nachteile gehen die interviewstrategischen Folgerungen, die gezogen werden, auch in unterschiedliche Richtungen: Wollen die einen „kundige“ Interviewer einsetzen, schlagen andere vor, ein Interviewer möge sich eher „nicht so wissend und kenntnisreich zeigen, wie er zu sein glaubt“ (Hermanns 2000, 361; vgl. Aschenbach/Billmann-Mahecha/Zitterbarth 1985, 40: „inkompetent, aber akzeptabel“).
Zurückstellen des eigenen Bezugsystems Die „Fremdheitsannahme“ hängt eng zusammen mit der in den Übungen 9 und 10 vermittelten Fähigkeit, eigene selbstverständliche Deutungen zurückzustellen. Ein gutes Beispiel, was dies konkret heißt, liefert Geertz (1983), dessen Anmerkungen zu einer „verstehenden“ Ethnografie als methodologische Grundlagen auch für qualitative Interviews wichtig sind. Forschungsbeispiel 13: Zurückstellen selbstverständlicher Deutungen (Geertz) Zu den großen unhinterfragten und grundlegenden Selbstverständlichkeiten gehört das Verständnis davon, was eine Person ausmacht: Die abendländische Vorstellung sieht die Person als fest umrissenes, integriertes und sich von anderen sowie von „der Gesellschaft“ abhebendes Individuum, das – so zumindest die sozialpädagogische Variante – mit sich selbst (mit etwas, das es in sich hat?) „übereinstimmen“ und dann „authentisch“ sein kann. Diese Vorstellung liegt der selbstverständlichen Art zugrunde, wie wir als Angehörige dieser Kultur in der Welt „sind“ und uns selbst erleben. Unsere abendländische Vorstellung von der Person „…erweist sich, wie richtig sie uns auch erscheinen mag, im Kontext der anderen Weltkulturen als eine recht sonderbare Idee.“ (Geertz 1983, 294) Geertz rekonstruiert die Vorstellungen von der Person, die in Bali, Java und Marokko selbstverständlich sind. Würden wir unsere selbstverständliche Art, als Person in der Welt zu sein, zu Grunde legen, würden Angehörige dieser anderen Kulturen als gespalten, oberflächlich, unzugänglich oder eben nicht als Individuen, gerade als „recht sonderbar“ erscheinen. Ein Verständnis der Art der Menschen in Bali, Java oder Marokko, in der Welt zu sein, kann nur aus ihrem Bezugssystem gewonnen werden. Für die Zurückstellung unser eigenen Deutung im Dienste eines offenen, besseren Verstehens fremder Vorstellungen, ist es hilfreich, sich vor Augen zu halten, dass unsere Vorstellung von der Person im Spiegel der anderen Kulturen „recht sonderbar“ ist.
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„Statt zu versuchen, Erfahrungen anderer in den Rahmen unserer Vorstellungen einzuordnen – und nichts anderes steckt in den meisten Fällen hinter der so übermäßig betonten ‚Empathie‘ –, müssen wir, um zu einem Verstehen zu gelangen, solche Vorstellungen ablegen und die Erfahrungen anderer Leute im Kontext ihrer eigenen Ideen über Person und Selbst betrachten.“ (ebd.)
Gemeinsamer Hintergrund und Abgrenzungsnotwendigkeit Prinzipiell ist mit einem gemeinsam geteilten Erfahrungshintergrund auch eine größere Vergleichbarkeit der beiden Akteure auf persönlicher Ebene gegeben, deren emotionale Konsequenzen die folgenden Forschungsbeispiele zeigen. Aufgrund der Vergleichbarkeit können eigene Wünsche und Ängste auf die andere Person übertragen3 werden (in beide Richtungen) und die andere Person kann unausgesprochen zu einem Vergleichsmaßstab werden. Forschungsbeispiel 14: Nähe erzwingt Abgrenzung, Nähe erzeugt Schonung Eine an Multiple Sklerose erkrankte Frau wurde in dem Projekt LIVE von einer Interviewerin interviewt, die gehbehindert war und im Rollstuhl saß. Die erkrankte Befragte hatte große Angst davor, „im Rollstuhl zu landen“. Das Benutzen von Gehhilfen war für sie bereits ein massives Zugeständnis an die unberechenbare Erkrankung – die Interviewerin, die selbstverständlich Gehhilfen in Anspruch nahm, personifizierte und aktualisierte diese Ängste. Im Interview ließ sich interpretieren, dass die Befragte gegenläufig den Kampf gegen sich selbst und gegen jede Abhängigkeit betonte. Aus dem Protokoll der Auswertung eines anderen Interviews mit den Interviewerinnen: Interview mit einer Frau mit derselben Behinderung, wie die Interviewerin sie hatte: „Wenn ich halt mit Menschen zu tun hab, die dieselbe Behinderung haben, dann ist das wie mich im Spiegel anzugucken, ich seh mich dann noch mal anders… ich bin dann verletzlicher und mir macht das dann einfach noch mal was anderes aus. Und ich finde, das ist auch so ein Schutz, nicht auf diese Ebene zu gehen.“ In dem genannten Forschungsprojekt wurden von den Erzählpersonen als Beispiele für Diskriminierungen andere Behinderungen genannt, als die Interviewerin sie hatte. Saß diese z.B. im Rollstuhl, wurden keine Beispiele für die Diskriminierung von Rollstuhlfahrerinnen erwähnt. Auch in anderen Zusammenhängen, z.B. bei Erzählungen über schwierige Lebenserfahrungen, kommt dieser Aspekt der Schonung des Gegenübers vor. Eine blinde Interviewerin traf auf eine sehbehinderte Frau, die an einer Netzhauterkrankung mit der Gefahr einer Erblindung erkrankt ist. Die Krankheit ist erblich, die Tochter leidet ebenfalls daran. Im Interview tauchte die Tochter nur an einer Stelle kurz als Thema auf, auch die Interviewerin fragte nicht nach. Dieses „gemeinsame Ausblenden“ 3
Die Begriffe „Übertragung“ und „Gegenübertragung“ sollen hier nicht in ihren psychoanalytischen Dimensionen ausgelotet werden. Es reicht ein Bezug auf die Annahme, der anderen Person, die ja denselben Hintergrund hat und in einer ähnlichen Situation ist wie ich, würde es ähnlich gehen wie mir, sie würde dasselbe fürchten oder wünschen. Hätte diese Person einen gänzlich anderen Hintergrund, würde diese Vermutung keinen Nährboden haben.
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haben wir in der Interpretation darauf zurückgeführt, dass die blinde Interviewerin in einem ähnlichen Alter wie die Tochter war und dass beide sich gegenseitig schonten. Alle Beispiele: LIVE – Leben und Interessen vertreten. Frauen mit Behinderung Eiermann/Häußler/Helfferich 2000, 146ff Weiterführende Literatur Weitere Forschungsbeispiele für den Bereich persönlicher Interviews allgemein: Kahn/ Cannell 1967, 180ff
Gerade wenn sich die Erfahrungen der Akteure ähneln, können eher Konkurrenzen oder Rivalitäten auftreten oder das Schicksal der jeweils anderen kann eher als Bedrohung wahrgenommen werden (dies gilt wechselseitig!), als wenn eine Vergleichbarkeit der Lebenssituationen nicht gegeben ist. Die aufgrund des gemeinsamen Hintergrundes erzeugte Dynamik mündet nicht per se in eine Öffnung und in besseres Verstehen, sondern kann auch Abwehr oder Distanzierung erzeugen. Auch wegen der komplizierten Übertragungen ist gerade bei einer Kongruenz von Erzählperson und Interviewenden die Fremdheitsunterstellung von zentraler Bedeutung: Diese Fremdheitsunterstellung beinhaltet die Differenz, dass das Gegenüber anders denkt und handelt als die Interviewenden es an seiner oder ihrer Stelle tun würden, und geht einher mit einer Distanz der Interviewenden zum Inhalt der Erzählung. Selbst in der (pädagogischen) Gesprächsführung ist Empathie ausdrücklich vereinbar mit einer klaren Trennung und Abgrenzung zwischen den Klienten und den Beratenden, und umgekehrt bedeutet Distanz nicht Desinteresse oder Teilnahmslosigkeit. „Verbrüderungen“ werden als hinderlich eingestuft. Für qualitative Interviews kann das Ziel übernommen werden, dass Interviewende sich der eigenen Fragen und des eigenen Hintergrundes bewusst sein müssen und sie erst aus einer Kontrolle der eigenen Betroffenheit und einer Distanz zum Inhalt der Erzählung heraus eine angemessene Nähe herstellen können (Pallasch/Kölln 2002, 84f). Bei psychosozial stark belastenden Interviewthemen spielt die Fremdheitsannahme insofern eine besondere Rolle, als Interviewende in ihrer Rolle als Zuhörer-Zeuge bzw. Zuhörerin-Zeugin in der Interviewsituation selbst Möglichkeiten finden müssen, das Gehörte zu bewältigen. Hier ist eine klare Trennung wichtig, damit die Bewältigungsstrategien, die Teil der Erzählung sind, andere und auch konträr zu denen sein dürfen, die die Interviewende in dieser Situation anwenden würde, und zwar ohne dass sich die Interviewende dadurch bedroht fühlt. Auf diesen Aspekt wird später noch genauer eingegangen (→ Abschnitt 4.5). In solchen Fällen muss eine Interviewschulung auch eine intensive Auseinandersetzung mit dem belastenden Thema und mit den Bewältigungsstrategien der Interviewenden umfassen.
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Forschungsbeispiel 15: Fehlende Fremdheitsannahme und Interviewinteraktion Die Interviewerinnen in dem Projekt LIVE teilten mit den Befragten den Erfahrungshintergrund des Lebens als Frau mit einer Behinderung. Sie hatten für sich selbst einen Weg gefunden, damit umzugehen, der darin bestand, aktiv zu sein, Benachteiligungen und Probleme anzuprangern, eine positive Einstellung zu der Behinderung zu entwickeln und die eigenen Interessen auch politisch zu vertreten. Zu Beginn der Interviewphase war es Thema in den begleitenden Auswertungssitzungen, die befragten Frauen – meist Frauen, die älter waren und die eine kürzere Ausbildung hatten als die Interviewerinnen – zu „verstehen“: Die Befragten hatten teilweise ein negatives Bild von Behinderung und von sich selbst und wollten oder konnten ihre eigenen Interessen nicht offensiv vertreten. Am schwierigsten zu verstehen war, dass sie angaben, gar keine Probleme zu haben. Die ersten Interviews waren von einer Interaktion gekennzeichnet, bei der die Interviewerinnen tendenziell problemorientiert auftraten und eine Problembeschreibung erwarteten. Einige der erzählenden Frauen lehnten aber eine Problemperspektive für sich ab und stellten die Normalität, das Problemlose und die Kontinuität ihrer Lebensvollzüge in den Vordergrund. Wo immer Ängste und Belastungen von den Interviewerinnen angesprochen wurden, antworteten sie ausweichend. Das wiederum verstärkte die Orientierung der Interviewerinnen, die verdrängte Probleme vermuteten und diese aufdekken wollten, was aber wiederum die Befragten mit einer verstärkten Betonung der Normalität beantworteten. Die Fremdheitsannahme hätte hier die Annahme bedeutet, dass die Erzählpersonen, aus einer „fremden“ Welt stammend, „fremde“, aber für sich sinnhafte Bewältigungsmuster entwickelt haben. Zu diesen Mustern gehören ihre Vorstellungen von Behinderung, Leben als Frau, sozialen Beziehungen, ihr Umgehen mit Einschränkungen, und ihre Definition, was „Probleme“ sind. In der Auswertung der Interviews ließen sich diese Muster als milieuspezifische Bewältigungsmuster (Nachkriegskindheit, Arbeitermilieu) beschreiben und die Strategie des „Problem-Discounting“ der Frauen entsprach einer sozialen Thematisierungsregel, Fremden gegenüber nicht zu klagen und nicht das Besondere des eigenen Schicksals herauszustreichen. LIVE – Leben und Interessen vertreten. Frauen mit Behinderung, Helfferich/Häußler-Szepan 2002, s. auch → Forschungsbeispiel 6 in Abschnitt 2.4
Die Regulierung von Nähe und Fremdheit auf kognitiver und emotionaler Ebene in der Praxis Für die praktische Regulierung gibt es unterschiedliche Ansatzpunkte: Erste Entscheidungen zur Konstellation kognitiver Fremdheit werden mit der Wahl der Interviewenden nach dem Kriterium der (In-)Kongruenz der Erfahrungshintergründe getroffen. Die Rollenzuweisung in der Eröffnungssituation (→ Abschnitt 4.3) bietet eine Gelegenheit, sich mehr oder weniger als der Lebenswelt und „Probleme“ der Erzählperson „kundig“ zu präsentieren. Auch im weiteren Interviewverlauf kann kognitive Vertrautheit oder Fremdheit dadurch signalisiert werden, ob und wie um Erklärungen gebeten und damit die eigene Unkenntnis zugegeben wird.
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Auf emotionaler Ebene sind die vertrauensvolle und freundliche Beziehung oder Interaktion herzustellen, die als „Rapport“ bezeichnet werden. Neben der Freundlichkeit werden Wärme, Vertrauen, Wertschätzung und Neutralität (im Sinne von Offenheit der Interviewenden für das, was gesagt wird) als Merkmale des Rapports genannt. In qualitativen Interviews bedeutet Wertschätzung vor allem, dass die positive Aufmerksamkeit allein der Erzählperson gehört, was nonverbal (→ Abschnitt 3.4) oder verbal (durch z.B. Aufforderungen zum Weitererzählen, Anknüpfen an Gesagtes etc.), je nach Interviewform, ausgedrückt werden kann. Für das Herstellen von Vertrauen ist es wichtig, Sicherheit zu geben, die sich auf die Vertraulichkeit (Vorkehrungen zum Datenschutz → Abschnitt 5.4), auf Informationen, was mit dem Interview geschieht, aber auch auf eine verständliche Sprache der Interviewenden beziehen kann. Letztlich ist hier auch das (Vertauens-)Verhältnis ausschlaggebend, das die Erzählperson zu Wissenschaft und Forschung und zu dem konkreten Forschungsprojekt hat (→ Abschnitt 4.3). Ein ungefragtes Duzen ist keine vertrauensbildende Maßnahme!
4.2 Theoretische Vertiefung: Das Prinzip Fremdheit und die Relativierung des eigenen „Normalitätshorizonts“ Im Vordergrund der methodischen Anmerkungen, die sich auf das Prinzip „Fremdheit“ beziehen, steht die Differenz der Bezugssysteme von Interviewenden und Erzählenden (Bohnsack 1999, 97ff; mit Verweis auf die Wurzeln in der Phänomenologie). Für das methodische Vorgehen ist von Bedeutung, dass die Deckungsgleichheit und die Differenz zwischen dem Vorverständnis der Erzählperson und dem der Interviewenden nicht vorab gewiss ist. Zentrale Fragen der qualitativen Methode setzen gerade dort an, wo Unterschiede in dem Vorverständnis, in den Interpretationsrahmen und Relevanzsystemen zwischen Befragten und Befragenden anzunehmen sind. Bohnsack greift die kommunikationstheoretische Problematisierung in der Phänomenologie auf, „dass sich Beobachter und Beobachteter, Interviewer und Befragter überhaupt so ohne weiteres gar nicht verstehen, zumal sie häufig unterschiedlichen sozialen Welten, unterschiedlichen Subkulturen oder Milieus angehören, unterschiedlich sozialisiert sind und somit in unterschiedlichen Sprachen sprechen. Auch wenn Syntax, also Grammatik und Wortschatz, dieselben sind, also z.B. beide die deutsche Sprache sprechen, ist die Semantik, also der mit der sprachlichen Äußerung verbundene Sinngehalt unterschiedlich.“ (a.a.O., 18f) In dem „Prinzip der Fremdheit“ wird vorausgesetzt, dass die Person gegenüber fremd ist, und Aufgabe der Interviews ist es, „das andersgeartete Handeln und Bewusstsein von dessen Zentren, dessen Focus her zu begreifen“. Das Fremde soll „in seiner andersgearteten milieugebundenen Normalität begriffen werden (…), die aus einer andersgearteten existenziellen oder erlebnismäßigen Verankerung resultiert.“ (a.a.O., 100) 130
Die Reichweite der Fremdheitsannahme im Kontext qualitativer Interviews ist begrenzt durch ein notwendiges Minimum an Gemeinsamkeit: Kommunikation bedarf immer auch einer gemeinsamen Grundlage der Verständigung, eines Systems oder Mediums, an dem beide teilhaben und in dem Ausdrücke jeweils entsprechend verstanden, d.h. von beiden mit der gleichen oder einer ähnlichen Bedeutung versehen werden können. Um miteinander sprechen zu können, müssen bestimmte Vorannahmen gemeinsam geteilt werden und wechselseitige „Idealisierungen“4 erfüllt sein. Dies ist minimal eine gemeinsame Sprache, das Beherrschen bestimmter Basisregeln der Kommunikation und eine gemeinsame Situationsdefinition („Dies ist ein Interview“). Die Differenz- oder Fremdheitsannahme ist mit dem Prinzip der Offenheit verbunden, denn Offenheit heißt gerade Offenheit für Fremdes. Der Kern des Offenheits-Prinzips liegt darin, das aufzunehmen, zu hören, erzählen zu lassen, was nicht bekannt, was neu, einzigartig und fremd ist. Sich auf die Annahme einer prinzipiellen Fremdheit einzulassen, fördert eine Haltung des Respekts der Erzählperson gegenüber. Als fremd angenommenen Kulturen und Sinnsystemen wird eine Eigenlogik zugestanden, von der nicht erwartet wird, dass sie auf den ersten Blick entschlüsselbar ist. Da das Bezugssystem der Interviewenden sich im ersten Zugang für das Verstehen als unzureichend erweisen könnte, muss an dem Verstehen gearbeitet und das Bezugssystem geöffnet werden, damit das Gehörte Anschluss an vorhandene Bedeutungen finden kann. Im ersten Moment Unverstandenes muss noch lange nicht „unsinnig“ sein, der Sinn zeigt sich vielleicht erst nach einer entsprechenden Arbeit am Verstehen. Die Kriterien der Sinnhaftigkeit einer Äußerung sind nicht aus dem Bezugssystem der Interviewenden zu entlehnen, sondern sie ergeben sich aus der erst noch zu dechiffrierenden Eigenlogik. In der Methodik der Interviewführung entspricht dies der Grundhaltung, die Äußerungen der Erzählperson nicht über das Regelwerk des eigenen Verstehenssystems zu filtern und in eine dem eigenen Sinnsystem anschlussfähige Version zu transformieren, sondern es – für den Moment der Interviewsituation – als fremd „stehen zu lassen“. Mit der Arbeit am Verstehen als Arbeit an dem eigenen Bezugssystem, um den zunächst nicht verstandenen, fremden Sinn zu erschließen, wird das eigene Bezugssystem Schritt für Schritt um weitere Sinn-Möglichkeiten erweitert (mit einem Bild der „hermeneutischen Spirale“: Mayring 2002, 30). Diese „Fremdheitsannahme“ wurde insbesondere in der Ethnologie und Kulturanthropologie weiterentwickelt zu einer Haltung, auch Vertrautes zu 4
Dieser Begriff geht hier auf Schütz zurück. Idealisierung meint allgemein das Vertrauen in die Konstanz der Weltstruktur, in die Gültigkeit von Vorerfahrungen und in das Vermögen, auf die Welt zu wirken (Schütz/Luckmann 1994, 29). Die Idealisierung der Kongruenz der Relevanzsysteme umfasst das Vertrauen, der Andere, wäre er an unserer Stelle, würde ähnlich erleben und ähnliche Erfahrungen machen – damit wird eine Differenz der Perspektiven überwunden und die Basis für Kommunikation geschaffen (Schütz 1993, 13).
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„befremden“ und die unhinterfragte Geltung von Selbstverständlichem zu suspendieren. Indem die Fremdheitsannahme den Respekt vor dem Gegenüber fördert und auf eine Anpassung des fremden Sinns an die eigene Weltsicht der Interviewenden verzichtet, hilft sie auch zu einer Haltung, die eigenen Erklärungen und Deutungen nur als eine Möglichkeit unter anderen anzusehen, den eigenen Standpunkt oder „Normalitätshorizont“ zu relativieren und damit auch, ihn in einer offenen Erwartungshaltung zurückzustellen. Auch dies korrespondiert mit den Grundprinzipien der Offenheit und Reflexion: Die eigenen Annahmen und Interaktionsstile verlieren ihren Charakter als selbstverständlich gültige, unbewusste und nicht kontrollierte Automatismen, werden Gegenstand der Reflexion und können geöffnet werden. Weiterführende Literatur Bohnsack (1999); Amann/Hirschauer 1997; Flick 1996, Kap. 6, Geertz (1983, 289ff) mit einer Analyse des ethnografischen Verstehens
4.3 Rollen und Rollenaushandlung Interviewende und Erzählpersonen nehmen sich wechselseitig wahr und reagieren aufeinander. Dies geschieht im Rahmen der von beiden als „Interview“ definierten Situation, die eine Konstellation komplementärer Rollen (Erzählen – Interviewen) verankert. Beide nehmen sich also nicht nur bezogen auf ihren Hintergrund wahr (→ Abschnitt 4.1), sondern auch in ihren Rollen. In dieser Konstellation wird das Interview inszeniert und produziert. Interaktionskompetenz der Interviewenden bedeutet die Fähigkeit, mit der Rollenaushandlung und den damit verbundenen Positionierungen umgehen zu können. In den folgenden Übungen werden beispielhaft typische Schwierigkeiten der Rollenaushandlung und Interaktion vorgestellt oder durchgespielt; in der Gruppe sollen dann Lösungsmöglichkeiten diskutiert werden. Wir schlagen jeweils Vereinbarungen vor, die sich in unseren Projekten bewährt haben. Jedes Projekt kann aber eigene – dem Forschungsgegenstand angemessene – Vereinbarungen festhalten. Wichtig ist lediglich, dass die Interviewenden auf entsprechende Situationen vorbereitet sind und Vereinbarungen festgelegt wurden. Die Übungen enden meist mit einer Selbstreflexion, denn um die Interviewsituation bewusst als interaktive Rollenaushandlung gestalten zu können, ist neben dem Wissen um Formen der Interaktionsdynamik die Auseinandersetzung mit unangenehmen und angenehmen Aspekten (z.B. Macht, Konkurrenz, Verantwortung) der eigenen Rolle als Interviewende bzw. Interviewender wichtig. Alle getroffenen Vereinbarungen zum Umgang mit schwierigen Situationen sollten im Laufe eines Forschungsprojektes anhand der Erfahrungen der Interviewenden überprüft, gegebenenfalls ergänzt und aktualisiert werden. Die Vereinbarungen haben bei größeren Projekten mit mehreren Interviewern und Interviewerinnen auch den Sinn einer Standardisierung des Vorgehens; 132
ihre wichtigste Funktion für die Einzelnen besteht aber darin, Handlungssicherheit zu schaffen und Entscheidungsspielräume zu klären. Zu den Aufgaben der Interviewenden gehört es, dass sie die Interviewsituation vorbereiten und die Rollen der Beteiligten entsprechend konturieren und verteilen. Die Rollen scheinen von Beginn an klar festgelegt: Die Erzählperson erzählt, die interviewende Person hört zu bzw. – je nach Interviewform – stellt mitunter auch Fragen. Diese Grundkonstellation kann aber in viele Richtungen ausdifferenziert werden und zwar nicht nur im Sinne einer persönlichen Ausgestaltung, sondern unter strukturellen Aspekten. Innerhalb des Rahmens kann die Rolle der Interviewenden ausgestaltet werden als „überlegene(r) Vertreter oder Vertreterin der Wissenschaft, die eine Teilnahme der Erzählperson an der Studie für selbstverständlich hält“, „persönlich am Thema Interessierte“ oder als „für die Interviewbereitschaft unendlich dankbare Forschungsmagd“. Die möglichen komplementären Parts zu dem Interviewer oder der Interviewerin könnte die Erzählperson sein als „wichtige und kompetente Informantin mit eigenem Anliegen“, „aufgeklärte Wissenschaftsfreundin, die das Projekt für sinnvoll hält“, „Zuarbeiterin mit Ehrfurcht vor den höheren Weihen der Wissenschaft“, „pragmatischgutmütige Unterstützerin einer Qualifikationsarbeit“ oder als „bereitwillige, aber wissenschaftsferne und vom Zweck des Unternehmens nicht überzeugte Versuchsperson“. Hermanns (2000) weist weiter darauf hin, dass die Erzählpersonen mehrere soziale Rollen in ihrem Alltag haben und geklärt werden muss, in welcher dieser Rollen sie in dem Interview angesprochen werden. In dem Beispiel von Hermanns ist die Befragte z.B. Heimbewohnerin, alter Mensch, Frau. Aus ihrer Perspektive kann auch der Interviewer unterschiedliche Rollen einnehmen. „Eine wesentliche Kompetenz des Interviewers besteht darin, Rollen zu verstehen, zu erfassen, ‚als wer‘ er selbst gesehen wird, ‚als wer‘ sein Gegenüber handelt und spricht. Eine zweite Kompetenz besteht darin, der Interviewpartnerin die Übernahme anderer Rollen zu ermöglichen.“ (Hermanns 2000, 363f). Die interviewende Person und die Erzählperson treten beide mit entsprechenden Vorstellungen von ihrem Part im Interview in die Interviewsituation ein (wir bezeichnen das als „Interaktionsentwurf“). In der Interaktion können diese Entwürfe modifiziert, ausgehandelt und schließlich in neuer Form realisiert werden. Die miteinander verschränkten Prozesse der Selbst- und Fremdpositionierung sind in die Interaktion vor dem Interview und während des Interviews eingelagert und müssen von den Interviewenden in der Interviewsituation gehandhabt werden. Der wichtigste strukturelle Aspekt ist der Machtaspekt. Prinzipiell sind die beiden Rollen „Erzählperson“ und „Interviewer/in“ komplementär und asymmetrisch angelegt. Gleichzeitig gibt es Elemente, die in Richtung eines Gleichgewichts weisen. So besitzen beide, Erzählpersonen und Interviewende, ein Machtpotenzial – aber jeweils in unterschiedlichen Formen: die Erzählperson, weil ihre Erzählung begehrt ist und sie mit einer Verweigerung oder einem Abbruch der Situation das gesamte Vorhaben zum Scheitern bringen kann, ohne selbst Schaden zu leiden, die interviewende Person, weil sie einen Wissensvor133
sprung hat, denn nur sie weiß, welche Fragen kommen werden, und weil sie das Interview steuern wird. Sie hat es damit in der Hand, die Erzählperson in eine unangenehme Situation zu bringen. Die Erzählperson weiß zwar, dass jede ihrer Äußerungen besonders wichtig ist, sie weiß aber nicht genau, warum. Auf alles, was jenseits der Situation selbst mit der Äußerung geschieht, hat sie keinen Einfluss mehr. Umgekehrt ist die interviewende Person von der Erzählperson und ihrer Erzählbereitschaft abhängig (diese Betrachtung kann auch einsichtig machen, warum die „Überlistungshaltung“ von Interviewenden so üblich ist: Intuitiv wird das Interview mit einem Machtkampf assoziiert: → Abschnitt 3.3). Zusammengefasst: Die Erzählperson hat die Macht als Informantin, die über Wissen verfügt, die interviewende Person als diejenige, die die Situation definiert und über mehr Hintergrundsinformationen verfügt. Auch die Frage der differenten oder kongruenten Erfahrungshintergründe lässt sich unter dem Aspekt der Rollenkonfiguration reformulieren. Teilt die interviewende Person die Erfahrungswelt der Erzählperson, wird eine egalitäre Komponente in die Konstellation eingeführt: „Wir verstehen uns, wir haben Gemeinsames“. Im Fall eines naiven und der Lebenswelt der Erzählperson fremden Interviewenden wird die Erzählperson in der Beziehung zwischen beiden zu einer Expertin, sie hat einen Wissensvorsprung und ihre Informationen – und sie selbst – sind noch wichtiger als sonst. Die Verteilung der Machtpotenziale und der Wissensvorsprung auf Seiten des bzw. der Interviewten entwickeln in Experteninterviews eine besondere Dynamik. Daher finden sich in der Literatur zu Experteninterviews eine Reihe von Hinweisen auf die Bedeutung bestimmter Rollenkonfigurationen für den Interviewverlauf. Gläser und Laudel (2009, 178ff) haben unterschiedliche Typen von Gesprächspartnern aufgelistet. Bogner und Menz haben unterschiedliche Interviewerrollen, wie sie aus Sicht der Interviewten wahrgenommen werden, typisiert: Der oder die Interviewende kann von den Interviewten als Experte in demselben Wissensbereich oder in einem anderen Wissensbereichen, als naiver Laie, als Autorität, als potenzieller Kritiker oder als Komplize eingeordnet werden – mit den entsprechenden Folgen für die Interaktion und die Auskunftsbereitschaft (Bogner/Menz 2005, 50ff). Diese Einordnung ist beeinflusst von der Geschlechter- und Alterskonstellation und von der Selbstdarstellung der Interviewenden als kompetent. Den Einfluss von Alter und Geschlecht analysierten Abels und Behrens (2005); ihre Beobachtungen lassen sich auf andere Formen qualitativer Interviews übertragen. Forschungsbeispiel 16: Professionelle Rolle und Autorität (Hopf) Hopf (1978) beschreibt Erfahrungen aus einem Forschungsprojekt, bei dem Schulräte durch Sozialwissenschaftler (Verwaltungswissenschaftler, Soziologen) mit einem Leitfaden interviewt wurden. In dieser Konstellation von Erzähl- und interviewenden Personen wurde eine spezifische Rollenverteilung beobachtet: „Prozesse spontaner, durch die Befragten unterstützter Rollenübernahmen können auch in der hier behandelten Schulratbefragung beobachtet werden. Sie zeigen sich vor allem darin, dass die Interviewer Segmente ihrer Wissenschaftler-Rolle in die Interviewsitua-
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tion einbrachten, die unter dem Gesichtspunkt beruflicher Konkurrenz funktional sein mögen, deren Effekt in der Interviewsituation jedoch dysfunktional, da restriktiv ist. Zu diesen unter dem Gesichtspunkt der Interviewsituation dysfunktionalen Teilen der Wissenschaftler-Rolle gehören unter anderem: Leistungsangst und Kompetenzanspruch und die Tendenz zu einem abstrahierenden und kategorisierenden Sprachgebrauch. (…) Die Schulräte repräsentierten in der Interviewsituation eine bestimmte Art von Autorität, die sowohl politisch-bürokratische als auch professionelle Aspekte hat. Und sie spielten diese in Einzelfällen auch aus, sei es dadurch, dass sie in der Interviewsituation kurzfristig Lehrer-Schüler-Beziehungen etablierten, oder dadurch, dass sie sich in ihrem Verhalten an Kommunikationsmodellen orientierten, die durch das Bild professioneller, von Expertise getragener Kommunikation geprägt sind. Beide Arten der Gesprächslenkung hatten für die Interviewer provokative Bedeutung: sie aktualisierten Leistungsängste, Kompetenzansprüche und auch die Tendenz zu einem auf professionelle Kategoriensysteme beschränkten Sprachgebrauch.“ In der Folge verzichteten Interviewer auf Nachfragen, um nicht die eigene Unwissenheit zu offenbaren, führten voreilige Kategorisierungen ein und ließen sich auf „ausgesprochen rechthaberische Dispute“ ein (Hopf 1978, 11).
Rollenkonturen und -erwartungen in der Interaktion im Vorfeld des Interviews Dass ein Interviewer oder eine Interviewerin jemanden um die Teilnahme an einer Interviewstudie gebeten hat, legt noch nicht fest, wie das Verhältnis zwischen beiden ausgestaltet werden soll. Und dass sich die Erzählperson bereit erklärt hat, sich interviewen zu lassen, legt noch nicht fest, in welcher Form sie sich auf das Interview einlässt. Wesentliche kommunikative Voraussetzungen für die eigentliche Erzählsituation werden im Vorfeld geschaffen (vgl. Lucius-Hoene/Deppermann 2002, 82) und die Ausdifferenzierung der Rollen wird in den ersten Kontakten mit den Erzählpersonen, längst vor dem eigentlichen Interview, aktiviert. Übung 22: Rollenpositionierung bei dem ersten Kontakt Vorbereitung: Keine, fakultativ Tonbandaufzeichnung Kategorie: Basiskompetenz; Ziel: Sensibilisierung für eigene unbewusste Rollenpositionierungen und Rollenzuweisungen an Erzählpersonen Gruppengespräch; Zeit: 20 Min. Zwei Teilnehmende werden gebeten, eine telefonische Kontaktaufnahme durchzuspielen: A bekommt den Auftrag, um ein Interview zu bitten und möglichst zu einer konkreten Vereinbarung zu kommen (Zeit, Ort), B ist die potenzielle Erzählperson. Dieses Telefonat wird mehrere Male durchgespielt, dabei können Varianten eingebaut werden (unterschiedliche Erzählpersonen z.B. nach Alter, sozialer Situation, Bereitschaft oder Misstrauen, unterschiedliche Interviewthemen und -anforderungen, Setting Diplomarbeit oder Forschung etc.). Die anderen Gruppenmitglieder beobachten das fiktive Telefongespräch und halten fest, welche Rollen die Beteiligten eingenommen oder zugewiesen haben. Hinweise geben z.B. die Erwähnung von „Wissenschaft“, die Verwendung von Fremdwörtern etc.
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In der Regel muss vor allem geübt werden, Forschungsanliegen und -ziele in einfachen Worten zu vermitteln. In einer Schlussrunde kann gesammelt werden, welche Informationen und Rollenzuweisungen bei Erzählpersonen welche Bedenken auslösen können und wie am Telefon Befürchtungen abgebaut werden können. In der Regel werden z.B. an dieser Stelle von der Erzählperson Sorgen bezogen auf die Anonymität geäußert.* Die Übung kann auf Tonband aufgezeichnet werden. Zum Selbststudium: Für diese Übung sollte ein Partner oder eine Partnerin gesucht werden. * Informationen zum Datenschutz: → Abschnitt 5.4
Auch mit der Ausgestaltung der Interviewsituation werden die Positionierungen von Erzählperson und interviewender Person gesteuert, z.B. mit der Wahl eines Ortes, der Sitzanordnung, eventuell auch dem Anbieten von Getränken etc. (ausführlich dazu: → Abschnitt 5.2). Die Erzählperson betritt nach der eigentlichen Intervieweröffnung die so vorbereitete „Bühne“ mit einer bestimmten Vorstellung von dem Interview, die sie nicht nur über ihre persönliche Haltung, sondern auch aufgrund der Vorinformationen und der vorangegangenen Interaktion gebildet hat. Bei dem ersten persönlichen Treffen gibt es dann eine Eröffnungsphase, in der häufig mit einem ersten Alltagsgespräch die Situation eingeleitet wird. Es ist meist noch einmal das Procedere zu klären und die Erwartungen an die Erzählperson sind zu konkretisieren. Eventuell müssen weitere Informationen gegeben werden, zumindest sollte auf noch offene Fragen der Erzählperson eingegangen werden. Das Aufnahmegerät ist eventuell noch einmal zu überprüfen und nun konkret der Rapport herzustellen (→ Abschnitt 4.1; zu den praktischen Details dieser Aufgaben der Projektvorstellung und Intervieweröffnung → Abschnitt 5.2). Die Gestaltung dieser Situation steuert ebenfalls implizit oder explizit die Positionierungen der beiden Akteure, denn das hier herzustellende Vertrauen, z.B. indem die Vertraulichkeit der Informationen zugesichert wird, bedeutet – ebenso wie „Freundlichkeit“ – für die Rollenkonfiguration, dass die Interviewenden ihren Machtvorsprung abbauen und Schutz zusichern.
Rollenaushandlung in der Einstiegspassage von Interviews: Macht und Führung Für die Positionierungen und Rollenaushandlungen sind die ersten Worte, d.h. die Eröffnungsfrage und die daraufhin produzierte Einstiegspassage, noch einmal eine dramatische Phase, denn diese Situation ist hochgradig offen, komplex und ambivalent (vgl. die Reflexion im Anschluss an → Übung 2 und Übung 4). Auch wenn die prinzipielle Konfiguration Erzählperson – Interviewende/r bereits geklärt ist, werden bei der Eröffnung vor allem der Macht- und der Führungsaspekt ausgehandelt im Sinne der Fragen „Wer bestimmt hier, wie das Interview läuft?“ und „Kann ich meinen Wunsch nach 136
Rückvergewisserung, ob das, was ich sage, in die richtige Richtung geht, erfüllt bekommen?“ Diese Rollenklärungen erzeugen eine spezifische Interaktionsdynamik, die sich in der Regel aber auf den Interviewanfang beschränkt. Forschungsbeispiel 17: Strategien der Erzählperson im Umgang mit Macht in der Interviewsituation Erzählpersonen können in unterschiedlicher Weise Macht demonstrieren, z.B. durch: – Versuche, die interviewende Person dazu zu zwingen, ihr Konzept zu verlassen, z.B. durch Verlassen der Interview-Erzähl- bzw. der Frage-Antwort-Ebene durch Rückfragen auch persönlicher Art an die Interviewende/den Interviewenden, – eine klar bekundete Absicht, dass der Erzählauftrag, so wie die Erzählperson ihn verstanden hat, von ihr auch durchgesetzt wird, ungeachtet dessen, was der/die Interviewende will, – eine autonome und von den Erzählaufforderungen oder Nachfragen abgekoppelte Erzählung, die somit die Steuerungen der Interviewenden außer Kraft setzt.
Übung 23: Aushandlung von Machtpositionen beim Interviewbeginn Vorbereitung: Keine Kategorie: Basiskompetenz; Ziel: Einüben von Rollenzuweisungen unter dem Machtaspekt Gruppendiskussion mit Rollenspielanteilen; Zeit: 30-40 Min. Die Strategien aus Forschungsbeispiel 17 werden zu Grunde gelegt. In der Gruppe werden Vorschläge für mögliche Strategien für Interviewende im Umgang mit diesem Erzählerverhalten zusammengetragen und diskutiert. Es können immer wieder spontan Sequenzen gespielt werden, bei denen eine Person die Rolle der Erzählperson übernimmt, die die Definitionsmacht über die Interviewsituation übernehmen will, und eine andere Person die vorgeschlagene Haltung oder Interventionen einbringt. Dabei ist auch eine Strategie möglich, die Erzählperson ihre Situationsdefinition durchsetzen zu lassen. In der Diskussion sollte auch diskutiert werden, inwieweit Interviewende sich überhaupt darauf einlassen, die Macht in der Interviewsituation zu behalten – dies wird auch von dem gewählten Interviewverfahren und dem Forschungsgegenstand abhängen. Haltungen oder Interventionen, die für gut befunden werden, werden gesammelt. In der Schlussrunde wird reflektiert, wie die Teilnehmer und Teilnehmerinnen selbst mit Fragen der Macht umgehen: Fühlen sie sich in Frage gestellt, wenn die Erzählperson sich durchsetzen will? Welche Vorstellungen und Phantasien verbinden sie selbst mit der „Macht des Interviewenden“? Anmerkung: Der Vorschlag, Strategien zu überlegen, soll nicht dahingehend missverstanden werden, es sei in jedem Fall eine verbale Intervention notwendig. Auch ein bewusster Verzicht auf eine Reaktion ist eine Reaktion! Zur Einführung dieser Übung kann auf die Notizen aus Übung 2, Frage 2 zurückgegriffen werden. Die Vereinbarungen, die in unseren Forschungsprojekten erarbeitet wurden, können zum Vergleich herangezogen werden (Forschungsbeispiel 20).
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Zum Selbststudium: Zunächst kann anhand von Forschungsbeispiel 17 eine Liste von möglichen Reaktionen zusammengestellt werden, incl. der Möglichkeit, das Interview einfach laufen zu lassen. Anschließend wird ein Partner oder eine Partnerin gesucht, um die Strategien durchzuspielen.
Auf einen bestimmten Machtaspekt, nämlich auf die Macht der Verweigerung auf Seiten der Erzählperson, und die daraus folgenden Interaktionsprobleme wird ausführlich in → Abschnitt 4.4 eingegangen. In Übung 2 wurden unterschiedliche Ausgestaltungen für den Erzählpart erarbeitet: Wollen die einen selbst „das Heft in der Hand“ behalten und nicht „geführt“ werden, wollen andere eine eher zurückhaltend-reaktive Rolle übernehmen; empfinden die einen den eröffneten Gestaltungsraum, der erzählend zu füllen ist, als Freiraum, sehen die anderen diese Aufgabe als Last an. Diese zweite Gruppe von Erzählpersonen bringt einen Interaktionsentwurf in das Interview ein, der eine Entlastung durch die Delegation der Verantwortung an die interviewende Person einfordert. Das ist angesichts der verunsichernden Aspekte der Situation zwar verständlich, bereitet aber insofern Probleme, als es der methodischen Forschungsabsicht geradewegs zuwider läuft. Interviewende müssen also einen Umgang mit diesen Führungswünschen finden. Forschungsbeispiel 18: Rückfragen bei einem Führungswunsch seitens der Erzählperson Beispiele für Signale für einen Führungswunsch: Rückfragen mit Bitte um Führung: „Können Sie das ein bisschen konkretisieren?“, „Also ganz allgemein?“, „Wollen Sie dazu noch mehr wissen?“, „Tun Sie das bitte noch mal näher ausführen, was Sie wissen wollen.“ Präsentation als unsicher: „Ich weiß nicht, was ich da erzählen soll.“, „Das ist mir zu offen, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.“, „Ja, nee, sonst weiß ich jetzt erst mal nichts. Müssen Sie genauer nachfragen, wenn Sie mehr wissen wollen.“, „Das kann ich jetzt gar nicht sagen.“ Anbieten von Konkretisierungen: „Meinen Sie, ob ich glücklich war?“, „Sollen es Fakten sein? Soll’s vom Erleben her sein?“, „Soll ich jetzt auf den Kindergarten eingehen?“ Kurze Erzählsequenzen mit einer dezidierten Abschlussmarkierung (→ Forschungsbeispiel 4 in Abschnitt 2.4), die einen Sprecherwechsel einfordert und die interviewende Person in Zugzwang bringt. Allgemein: Verwenden von „Rückvergewisserungspartikeln“ (angehängtes „ja“, „verstehen Sie“ etc.) Zitate aus diversen Interviews; vgl. Lucius-Hoene/Deppermann 2002, 260ff
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Übung 24: Umgang mit Führungswünschen Vorbereitung: Keine. Bei einer größeren Gruppe können Kleingruppen gebildet werden Kategorie: Basiskompetenz; besonders wichtig für (teil-)monologische (narrative, Leitfaden-)Interviews, Ziel: Einüben von Reaktionen auf zu Beginn geäußerte Führungswünsche, Reflexion des eigenen Umgangs mit Führung Gruppendiskussion mit Rollenspielanteilen; Zeit: 30-40 Min. Die Rückfragen aus dem Forschungsbeispiel 18 oder andere Signale der Führungsdelegation werden zu Grunde gelegt. In der Gruppe werden Vorschläge für mögliche Antworten für Interviewende zusammengetragen und diskutiert, wobei immer wieder spontan Sequenzen gespielt werden, bei denen eine Person die Rolle der Erzählperson übernimmt, die eine konkretere Befragung und weniger offene Fragen wünscht (wobei sie sich auf Formulierungen wie oben stützen oder eigene finden kann), und eine andere Person die vorgeschlagenen Interventionen einbringt. Einerseits sollen die Antworten die Offenheit der Ausgangsfrage erhalten, andererseits soll dem Wunsch nach Konkretisierung in irgendeiner Weise Rechnung getragen werden. Interventionen der Interviewenden, die für gut befunden werden, werden gesammelt. In der Schlussrunde wird reflektiert, wie die Teilnehmer und Teilnehmerinnen selbst mit Fragen der Führung umgehen: Führen sie lieber, als dass sie geführt werden oder umgekehrt? Belasten sie Wünsche von anderen nach Führung? Anmerkung: Zur Einführung dieser Übung kann auf die Notizen aus → Übung 2, Frage 2 zurückgegriffen werden. Die Vereinbarungen, die in unseren Forschungsprojekten erarbeitet wurden, können zum Vergleich herangezogen werden (→ Forschungsbeispiel 20). Zum Selbststudium: Analog zu Übung 22: Zunächst wird eine Liste möglicher Reaktionen aufgestellt, dann werden die Varianten in einem Rollenspiel mit einem Partner oder einer Partnerin durchgespielt.
Forschungsbeispiel 19: Machtaspekte, Wunsch nach Führung In der Studie „männer leben. Lebensläufe und Familienplanung“ definierte ein Erzähler seinen Erzählauftrag dahingehend, dass er einen „Abriss“ gibt. Er strukturierte seine Erzählung über Meilensteine und verwendete Abschlussmarkierungen wie „Das war ein Abriss jetzt ja über die (lacht) Kindheit“, „Des sind eigentlich so Eckdaten“, „Ansonsten so Eckpunkte“, „Des waren also e paar Punkte, die ganz wichtig ware und wertvoll, so Meilensteine, wenn man so will“, sprach den Interviewer direkt an: „Jetzt haben Sie noch ein paar Stichworte“ und machte Andeutungen „Das kann mer ausschweifend behandle des Thema“, „Da könnt mer sicher noch viele Dinge (lacht) äh dazu erwähnen“. Die Erzählpassagen sind lang und flüssig, dennoch sagte der Erzähler von sich „Ich bin kein Vielredner.“ In einer Abschlussmarkierung wollte er indirekt einen bestimmten Fragestil durchsetzen: „Jetzt müssen Sie bohren (lacht), mehr kriegen Sie im Moment SO net.“ Der Interviewer blieb bei seinen offenen Fragen. In einer späteren Passage bekundete er das gewünschte Interesse: I: Des ist ganz grob der Werdegang, ohne jetzt noch ohne jetzt nähere Details kann ich au noch erkläre, wenn Sie wolle, aber ich denk des –
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A.: I.:
Ja, gerne doch. Na gut, ich bin also… „männer leben. Lebensläufe und Familienplanung“, 2002 40-45j. Mann, Freiburg Land
Einstiegspassage: I.: Eigentlich soll es darum gehen, wie Sie aufgewachsen sind. A.: Ja, ich bin eigentlich – I.: So wie Sie Ihre Kindheit erlebt haben. A.: Ich bin Einzelkind, ich bin allein aufgewachsen und bin von meinen Eltern halt immer verwöhnt worden. Ich mein--- ich weiß nicht, auf was Sie raus wollen, das ist eben die Sache. I.: So einfach so ja Ihre Kindheitssituation, ja. A.: Also ich kann da nicht viel dazu sagen. Das kann jetzt in die oder in die Richtung gehen. Ich meine, man kann viel jetzt erzählen. I.: Oder wenn Sie sich jetzt so zurück erinnern, irgendwelche zentralen Ereignisse Ihrer Kindheit oderA.: Naja, es ist eben so ich meine- alles was bis zum Alter von zehn Jahren geschah, weiß ich gar nicht mehr. Es ist mir gar nicht so im Gedächtnis geblieben. Es geht halt einfach nur darum, ich weiß dass ich bin irgendwann mit 6 Jahren umgezogen bin, dass meine Mutter mich hatte, dann bis drei oder vier Jahre hatte ich eine Tagesmutter und dann war halt meine Mutter zuhause immer ziemlich. Jetzt immer noch obwohl ich jetzt studiere, arbeitet sie jetzt auch nicht. Sie ist halt zuhause. Ja, es war halt immer jemand da, mein Vater kam heim, nachmittags, typisch eben, gar kein zentrales Ereignis. Ich kann mich da an nix erinnern. -------------------Schlusspassage: I.: Hm. Ja, also. Von meiner Seite aus wäre es das gewesen. Wenn Ihnen noch was einfällt – A.: Es ist eigentlich- so wie Sie auch gesagt haben am Anfang, es ist eben- Sie tun nicht so viele Fragen stellen (lacht) und lassen die Leute sehr viel erzählen und das ist, was mir ein bisschen entgegen geht, um meinen Redeschwall hier zu unterbrechen. Also mir ist es lieber, wenn man mehr Fragen stellt (…). In dem Interview war das zentrale Motiv eine Semantik der „Unterordnung versus Aufbegehren“, interpretiert für die Kindheit als vergebliches Aufbegehren gegen und Unterordnung unter den autoritären Vater. Kommentar auf dem Protokollbogen: „Sie kritisierte im Anschluss die Offenheit und Unkonkretheit der Fragen, obwohl sie keinerlei Eindruck vermittelte, dass sie während des Interviews ins Stocken geraten würde. (...) Sie war allgemein etwas skeptisch, sogar misstrauisch eingestellt.“ HIV-Prävention und Kontrazeption 1991, 25j. Frau, Freiburg, Studentin
Führungswünsche sind nicht unbedingt nur darauf zurückzuführen, dass die Erzählpersonen nicht sprechen können, es kann auch sein, dass sie in der Interviewsituation nicht sprechen wollen (zum Umgang mit Erzählpersonen aus sozialen Milieus, in denen eine diskursive Selbstvergewisserung nicht für wichtig gehalten und kultiviert wird: → Abschnitt 4.6). Für das Verständnis von Führungswünschen sei noch einmal an die Diskussion nach Übung 2 und die Anmerkungen zu Beginn des Abschnitts erinnert: Je freier die Produktion der Äußerungen ist, desto mehr exponiert sich eine Person und umso größer 140
ist die Unsicherheit oder das Risiko, die Erwartungen der Interviewenden zu verletzen oder mit der Darstellung auf negative Reaktionen zu stoßen. Eine reaktive Rolle und der Wunsch nach Führung können so auch als Strategien der Absicherung der Selbstpräsentation angesichts der fehlenden Situationskontrolle gesehen werden. Interviewende zu möglichst konkreten, geschlossenen Fragen zu zwingen, macht den Part der Erzählperson bequemer und sicherer. Entsprechend geht es auf Seiten der Interviewenden entscheidend darum, Sicherheit zu vermitteln. Allerdings ist nicht jede Rückfrage zu Interviewbeginn als Wunsch nach Führung bzw. nach einer komplementär-passiven Rolle zu verstehen. Es kann sich auch um einen Versuch handeln, Zeit für die „Sortierungsarbeit“ bei der Textproduktion zu gewinnen. Sind Führungswünsche allein durch Unsicherheit auf Seiten der Erzählperson motiviert, können sie sich im weiteren Interviewverlauf mit einer zunehmenden Erzählsicherheit erübrigen. Im Interviewverlauf „spielt“ sich eine bestimmte Interaktion ein, daher hat der Umgang der Interviewenden mit Führungswünschen auf Seiten der Erzählperson gerade zu Beginn des Interviews eine große Bedeutung. Erzählpersonen können von Beginn an daran „gewöhnt“ werden, dass nicht jeder Führungswunsch durch eine Intervention der Interviewenden erfüllt wird und dass sie die Last der Aufrechterhaltung der Erzählung selbst tragen müssen. Umgekehrt gilt, dass sich Erzählpersonen an konkrete Fragen und eine verbal aktive Rolle der Interviewenden – und damit an einen entlasteten eigenen Part – „gewöhnen“ und dann eher einen Frage-Antwort-Stil reproduzieren. Das Interview ist dann nur noch schwer in seinem Stil zu verändern und die Erzählperson nur mit Mühe zur Produktion einer längeren Erzählung anzuregen. Gerade schwierige Interviewanfänge, in denen die Macht- und Führungsaspekte ausgehandelt werden, haben sich in der späteren Auswertung als sehr aufschlussreich herausgestellt5. Mit den „Machtspielchen“ oder mit den Führungswünschen inszenieren die Erzählpersonen im Interview ihre Art, soziale Beziehungen herzustellen. Auch auf den anderen Auswertungsebenen erwiesen sich „Macht“, „Unter- oder Überlegenheit“ oder „Sicherheit/Absicherung“, „Aktivität/Rückzug“ häufig als zentrale Motive (vgl. → Forschungsbeispiel 19).
5
Insgesamt kommt der Einstiegssituation in der Auswertung eine besondere Rolle zu. In der Regel klingt das Leitmotiv des gesamten Interviews in der Einstiegspassage an (vgl. Bude 1988).
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Forschungsbeispiel 20: Vereinbarungen zum Umgang mit Macht und Führungswünschen Für unsere Interview-Trainings wurden nach den entsprechenden Rollenspielen im Team Vereinbarungen diskutiert und in einem Protokoll festgehalten. Umgang mit „Machtspielchen“ zu Beginn des Interviews – Vereinbarung: Wenn Interviewende das Gefühl eines „Machtspielchens“, einer entsprechenden „Rollenzuweisung“ oder einer Infragestellung ihrer Rolle als Interviewende haben: – sich klarmachen, dass es nichts mit der eigenen Person zu tun hat, sondern eine Inszenierung (eben ein Spiel) der Erzählperson ist, die ihre Art der Gestaltung sozialer Beziehungen wiedergibt, – drüberstehen: Das Spiel gibt sich meist von allein, wenn die Beziehung insgesamt klarer wird, Geduld: Im Interview ist Platz genug auch für Dominanzgesten – auf keinen Fall konkurrieren, – bei persönlichen Fragen, die die Erzählperson stellt, oder Fragen, die die InterviewEbene verlassen, darauf hinweisen, dass nach dem Interview noch Zeit ist und dann gern die gewünschten Auskünfte gegeben werden kann (Ausnahme: Krise bei der Erzählperson: → Abschnitt 4.4), – auf keinen Fall selbst auf eine Metaebene wechseln, Zurechtweisen (“Ich stelle hier die Fragen“), die Konkurrenzgeste kommentieren etc. – selbst auf der InterviewEbene bleiben. Umgang mit Führungswünschen – Vereinbarung: – Formulierungen von Fragen und Erzählaufforderungen, die möglichst offen sind, vorab überlegen und einüben, – Sicherheit vermitteln (jeweils projektbezogen präzisiert) – vorher Strategien überlegen, wie Sicherheit vermittelt werden kann, – Pausen ertragen können, – prinzipiell den Fragestil nicht verändern.
4.4 Schwierige Interaktionsdynamik Auch wenn die Erzählperson den Eindruck gewonnen hat, die interviewende Person könne sie verstehen, und auch wenn eine Machtbalance etabliert wurde, die eine Kooperation der beiden Akteure ermöglicht, können Schwierigkeiten in der Interviewinteraktion auftreten. Sie können sehr unterschiedliche Hintergründe und Ursachen haben, z.B. können sie mit der emotionalen Besetzung des Interviewthemas oder mit den Thematisierungsgrenzen der Erzählperson zusammenhängen. Aber auch ein „konventionelles“ Thema kann an Belastungen rühren oder an solche Aspekte, bei denen eine positive Selbstpräsentation nicht so einfach möglich ist oder die die Erzählperson überfordern. Eine mögliche Reaktion der Erzählperson ist dann ein Rückzug aus der Kommunikation. Interviewende sollten die kommunikative Bedeutung eines solchen „Rückzugs“ kennen und über (vereinbarte) Strategien verfügen, wie damit und wie mit emotionalen Belastungen im Interview umgegangen werden kann. 142
Schwierige Interaktionssituation: Rückzug der Erzählperson Bei Interviews, in denen Fragen gestellt werden, sind die wichtigsten Gründe dafür, dass die Kommunikation ins Stocken gerat: –
Die Erzählperson versteht eine Frage nicht, sie versteht nicht, was die Frage im Interviewkontext soll (und hält sie vielleicht für unangemessen), oder sie versteht nicht, welche Antwort die Frage erfordert. Die Erzählperson versteht die „Sprache“ nicht; das kann sich auf einzelne Worte beziehen oder auf die gesamte Formulierung; vielleicht verlangt die Frage auch etwas, was die Erzählperson nicht leisten kann. Die Frage berührt etwas, das die Erzählperson in dem Interviewkontext für sich behalten möchte.
– –
Entsprechende Frageformulierungen wurden in → Übersicht 9 in Abschnitt 3.5 als Interviewfehler beschrieben, weil sie die Kommunikation stören. Wichtig ist in jedem Fall, dass die Interviewenden eine rasche Vermutung entwickeln, woran es liegt, dass die Kommunikation stockt, und über entsprechende Reaktionsmöglichkeiten verfügen. Die wichtigste Auswirkung eines phasenweisen Rückzugs der Erzählperson ist der Druck, unter den der oder die Interviewende dadurch gerät. Wenn sich die Erzählperson nicht wie gewünscht auf die Rolle der Erzählenden einlässt und im Extremfall die Erzählaufforderung boykottiert, ist das Ziel des ganzen Unterfangens, nämlich ergiebiges Interviewmaterial zu erzeugen, gefährdet. Der Druck auf die Interviewenden entsteht in der Regel dadurch, dass diese sich für das Erreichen dieses Zieles verantwortlich fühlen und unter Erfolgszwang stehen. Forschungsbeispiel 21: Rückzug der Erzählperson – Der „Trichter“* a) Auszug aus einem biografischen Interview: I: A: I: A: I: A: I: A: I: A: I: A: I: A:
Und wie war das mit Freundschaften so? (4) Ja, die sind erst so mit fünfzehn sechzehn dann (4) Und Freundschaften zu Jungen dann auch (1) Ja, das war erst so mit fünfzehn sechzehn vorher halt Freundinnen Und wie haben Sie das erlebt, so die Freundschaften zu Jungen? (5) War okay (16) Was war denn daran okay? (20) Also gab es da besonders gute oder besonders schlechte Erfahrungen (4) Ne, schlechte Erfahrungen eigentlich nicht. Eher gute? Ja. (12) Haben Sie viele Erfahrungen mit Jungen gehabt (3) Ja so im Teenageralter eigentlich nicht, erst später (30) Was war dann später? (3) So ab 18 dann. HIV-Prävention und Kontrazeption, Vorinterview, 25j. Frau, Osten
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b) Auszug aus der Einstiegspassage eines Interviews mit einem Migranten I: Ähm (3) So die erste Frage hab ich jetzt an dich ähm: Erzähl doch mal von Beginn an. (1) Also wie du in deiner Kindheit aufgewachsen bist? Und lass dir einfach Zeit dabei. also A: Wie ja? Was heißt wie ich aufgewachsen bin I: also: w=wie deine Kindheit war A: ((lacht)) I: al=al=als du sozusagen also (.) von Beginn an sozusagen. du kannst dir wirklich Zeit lassen also (2) wie w=wa wie in der Familie: (.) wie=wa wie war deine Kindheit sozusagen A: ((lacht)) schön ((lacht)) eigentlich. Ja? Ganz normal? (2) War nix besI: W=w=was ist - was ist normal? A: ja war nix Besondres meine Eltern (.) haben mich geliebt? Oder lieben mich immer noch? Und (.) eben (3). Weiß jetz nit (3) I: wie war’s dennA: Schwierige Frage I: Ja, schwierige, aber da=das ist wie gesagt einfach, ganz offen, wie gesagt, soll das gestaltet (1) Äh wie war das mit den Eltern, du hast grad Eltern gesagt also (3) wie (.) also duA: Mh I: Hast du Geschwister oder? A: Ja? Ich hab eine Schwester, eine jüngere I: Nur die jüngere Schwester? A: Ja I: Und die: wie war dann die- sozusagen Geschwisterliebe bei euch oder wie ihr seid ja gemeinsamA: Das Verhältnis ja mit der Schwester? ((lacht)) Ja (.), so ich glaub, so wie bei jedem? (.) In der Jugend viel Ärger miteinander und je älter man wird, desto (.) mehr mag man sich und (.) ja, kommt man sich irgendwie (.) entgegen. I: Ja (1) A: ((lacht)) (1) ((Räuspern)) (2) I: Ähm (3). Ihr seid ihr s=ihr seid in Russland aufgewachsen oder? A: Kasachstan I: Kasachstan. A: Ja. Familienplanung und Migration im Lebenslauf von Männern, 23j. Mann In der Textanalyse des Interviews fand der karge Anfang eine Erklärung: Zentrale Motive des Interviews waren Konstruktionen von Normalität und Kontinuität; der Beginn der Erzählung in der Kindheit nicht in Deutschland stand dieser Folie entgegen. * Transkription vereinfacht; die Zahlen in Klammern geben die Länge der Pausen an, (.) = Mikropause.
In der Regel häufen sich unter Druck die Interviewerfehler: Die Fragen werden länger und es werden mehrere Fragen in einer Frage gestellt in der Hoffnung, dass bei einer größeren Auswahl an Formulierungen doch eher eine passende dabei wäre, oder weil noch während des Sprechens die gefundene Formulierung verbesserungsbedürftig erscheint. Auch können Interviewende in ihrer Hilflosigkeit zu Alternativfragen und geschlossenen Fragen greifen, geleitet von dem Gefühl, dass wenigstens ein „Ja“ oder ein „Nein“ als Ant144
wort ein Minimum an Information abwerfen würde. Allerdings sind solche Antworten nicht brauchbar, da nicht klar ist, ob die Erzählperson tatsächlich „Ja“ oder „Nein“ meint oder ob sie damit den Interviewenden nur ruhig stellen möchte. Diese Dynamik haben wir „Der Trichter“ genannt, weil sich beobachten lässt, dass die Fragen der Interviewenden immer länger und die Antworten der Erzählperson immer kürzer werden. Mit längeren und zunehmend auch geschlossenen Fragen kommt der Interviewende der Erzählperson entgegen und entlastet sie vom Selbstformulieren, was mit noch kürzeren Antworten quittiert wird, die wiederum den Druck auf den Interviewenden erhöhen, woraufhin wiederum die Fragen länger werden etc. Für die Analyse erweist sich das Konzept des „Gesprächsraums“ als hilfreich: Sitzen Erzählperson und Interviewende auf Stühlen einander gegenüber, so kann der Raum zwischen ihnen als Gesprächsraum veranschaulicht werden. Aus diesem Raum kann sich entweder die Erzählperson zurückziehen; dies erzeugt dann einen Druck auf die interviewende Person, den Raum zu füllen. Oder die interviewende Person zieht sich zurück und „überlässt“ den Raum der Erzählperson. Die Interviewanteile, visualisiert als Besetzung des Gesprächsraums zwischen den Personen, verhalten sich wie kommunizierende Röhren: Mit dem Rückzug der einen Person steigt der Anteil der anderen Person. Aus → Übung 2 sind die Schwierigkeiten bekannt, die eine Erzählperson haben kann, den Gesprächsraum selbst und ohne anleitende, konkrete Fragen im Sinne einer (Interview-)“Führung“ zu strukturieren und zu füllen, und die Dynamik der Besetzung des Vakuums wurde diskutiert. Bei (teil-)narrativen Interviews ist notwendig, in einer entsprechenden Situation auf den Rückzug der Erzählperson reagieren und eine Schließung und Verengung der Kommunikation vermeiden zu können. Dies ist nur möglich, wenn – der eigenen Verunsicherung und dem eigenen Bedarf nach Sicherheit entgegen – die Fragen nicht konkretisieren, sondern, z.B. durch Erzählaufforderungen, öffnen. Generell hilft die Vorstellung des Gesprächsraums, um schnell und intuitiv die Verschiebungen der Anteile und der Machtbalancen im Interviewverlauf zu erfassen, um gegebenenfalls gegensteuern zu können. Die folgenden beiden Übungen gehören daher zu dem Standardrepertoire einer Interviewschulung. Übung 25: Umgang mit dem Rückzug der Erzählperson Vorbereitung: Zettel mit den Instruktionen, zwei Stühle im Kreis der Gruppe Ziel: Kategorie: Basiskompetenz: Kompetenz, nach einer (drohenden) Schließung der Interviewkommunikation wieder eine Öffnung zu erreichen und einen „Trichter“ zu vermeiden Rollenspiel (3-5 Min.), Diskussion in der Gruppe (5-10 Min.), Widerholung des Rollenspiels (3 Min.), abschließende Diskussion in der Gruppe (5-10 Min.), insgesamt: 20-30 Min. Zwei Teilnehmende spielen ein Interview mit verteilten Rollen InterviewendeErzählperson und suchen sich ein Thema aus. Das Thema ist sehr offen, z.B. das Auf-
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wachsen in der Kindheit. Die Erzählperson bekommt verdeckt folgende Instruktion: Sie ist bereitwillig, aber sehr unsicher und weiß nicht, worauf das Interview hinauslaufen soll. Sie möchte sich daher bedeckt halten. Sie beantwortet die Fragen durchaus kooperativ, aber so kurz und sparsam wie möglich und nicht über das hinausgehend, was gefragt konkret wurde. Wenn z.B. gefragt wird „Und Ihre Geschwister?“, ist die Antwort nur die Bestätigung, dass sie Geschwister habe „Ja, ich habe Geschwister“. Wenn die Frage der Interviewenden öffnet, kann aber durchaus mehr erzählt werden. Die Interviewende Person bekommt die Instruktion, möglichst zu Narrationen über die Kindheit anzuregen. Die restlichen Gruppenmitglieder werden ebenfalls verdeckt instruiert, auf das Frageverhalten des oder der Interviewenden und insbesondere auf Veränderungen der Frageformulierungen im Verlauf des Spiels zu achten. Nach 3 bis 5 Minuten wird das Spiel abgebrochen. In der Auswertungsrunde wird zunächst aus der Perspektive des oder der Interviewenden berichtet, dann aus der Perspektive der Erzählperson, wie die Situation erlebt wurde. Die Anderen ergänzen ihre Beobachtungen zum Frageverhalten. Im Regelfall reagiert die Interviewende auf die (freundliche) Zurückhaltung der Erzählperson mit einer Konkretisierung ihrer Fragen und ein „Trichter“ wird inszeniert. In der Auswertung werden diese situativen Zwänge der Schließung herausgearbeitet. In der anschließenden Wiederholung wird die interviewende Person offen instruiert, durchgehend Fragen mit „Erzählen Sie mir etwas…“, „Lassen Sie sich Zeit“ einzuleiten und durch Kommentierungen wie „Ich möchte mir das gern vorstellen können“ oder „Genau das interessiert uns“ etc. zu stützen. In der abschließenden Diskussion der Wiederholung soll vor allem die Interviewte aus ihrer Perspektive reflektieren, welche Frageformen zu einem Abbau der Unsicherheit und zu einer Öffnung angeregt haben. Es ist möglich, die Interaktion ein weiteres Mal durchzuspielen, da es vor allem darum geht, Handlungssicherheit zu gewinnen. Abschluss der Übung und Selbststudium Siehe Übung 26.
Übung 26: Sensibilisierung für die Besetzung des „Gesprächsraums“ und für Machtbalancen Bei dieser Übung handelt es sich um eine Variation der Übung 25. Vorbereitung: Zettel mit den Instruktionen, zwei Stühle im Kreis der Gruppe Ziel: Kategorie: Basiskompetenz: Vergegenwärtigen der eigenen emotionalen und kommunikativen Reaktion und Wahrnehmung der Verschiebung der Machtbalance bei einem Rückzug der Erzählperson Rollenspiel (3-5 Min.), Diskussion in der Gruppe (10 Min.) Die Anlage der Übung entspricht dem Verlauf von Übung 25 mit dem Unterschied, dass die Erzählperson die Instruktion bekommt, dass sie sich auf das angeschnittene Thema nicht einlassen möchte und dass sie versuchen soll, das durchzusetzen, ohne die Interviewebene zu verlassen (verdeckte, nicht offene Verweigerung). Der oder die Interviewende bekommt den verdeckt erteilten und als wichtig unterstrichenen Auftrag, das Thema – im Nachfrageteil eines narrativen Interviews oder in einer anderen Interviewform, also mit zugelassenen Fragen – zu eruieren. Die Gruppe bekommt den Auftrag, die Frageformulierungen und die Interviewanteile zu beobachten. Das Thema kann
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hier beliebiger gewählt werden und muss nicht notwendigerweise so offen sein wie bei der obigen Übung. In der Auswertungsrunde reflektieren zunächst die beiden Akteure und dann die Gruppe, wie sich die Besetzung des Gesprächsraums im Interviewverlauf verändert hat und wie es ihnen dabei ging. Dabei kann auch mit Kreide der jeweilige Anteil am Gesprächsraum auf dem Fußboden eingezeichnet werden. Die beiden Akteure werden dann gebeten, die Situation unter dem Aspekt von Macht zu reflektieren: Die Erzählperson hat die Macht der Verweigerung und kann Hilflosigkeit bei dem bzw. der Interviewenden erzeugen, zumal dann, wenn diese bzw. dieser unter Erfolgsdruck steht. Ein Rückzug aus dem Gesprächsraum kann bequem und entlastend sein. Interviewende erleben den Zwang, sich nicht aus dem Gesprächsraum zurückziehen zu können. Anmerkung: Abschluss der Übung Im Anschluss an die Übungen 25 und 26 werden Verhaltensweisen besprochen, wie mit einer solchen Situation der Schließung umgegangen werden kann, und das Ergebnis wird als Vereinbarung festgehalten. Beispiele für solche Vereinbarungen liefert das Forschungsbeispiel 22. In der abschließenden Selbstreflexion sollte das Verhältnis der Teilnehmenden zu ihrer späteren Tätigkeit als Interviewende unter den Stichworten Verantwortung, Erfolgsdruck, Abhängigkeiten etc. angesprochen werden. Zum Selbststudium: Analog zu Übung 22 und 23: Zunächst wird eine Liste möglicher Reaktionen aufgestellt, dann werden die Varianten in einem Rollenspiel mit einem Partner oder einer Partnerin durchgespielt. Die Selbstreflexion kann zu den Stichworten einzeln erarbeitet werden.
Forschungsbeispiel 22: Vereinbarungen zum Umgang mit einem Rückzug der Erzählperson Bei einem Widerstreben signalisiert die Erzählperson, dass sie auf ein bestimmtes Thema nicht antworten möchte. – Oberste Regel: sich nicht aus der Ruhe bringen lassen, den Fragestil nicht ändern, Erzählaufforderungen beibehalten, Offenheit signalisieren, – Vermutungen anstellen, woran das Stocken liegen kann: War die Frage zu zudringlich, unverständlich, unerwartet, nicht beantwortbar? – Pausen aushalten, – keinesfalls konkretisierende und geschlossene Fragen stellen (Ausnahme: Eingehen auf soziale Thematisierungsregeln: s.u.), – zu einem anderen Thema wechseln, das ergiebiger ist.
Das Forschungsbeispiel 21 zeigt vor allem auch die Hartnäckigkeit von Erzählpersonen: Wenn sie nicht erzählen möchten, kann auch die noch so geschickte Frageweise sie nicht dazu bewegen, etwas preiszugeben. Hier sollte auch besprochen werden, wie hartnäckig ihrerseits Interviewende sein sollen und wann sie das unergiebige Thema verlassen sollen.
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Schwierige Interaktionssituation: Emotionale Belastungen Es kommt immer wieder vor, dass ein Interview, egal zu welchem Thema, an emotional belastende Ereignisse rührt. Insbesondere bei biografischen Interviews ist damit zu rechnen, dass mitunter stark negative Erfahrungen z.B. aus der Kindheit Thema werden. In solchen Situationen sollten die Interviewenden ihren Handlungsspielraum kennen, die Erzählperson zu entlasten. Übung 25: Umgang mit emotionalen Belastungen Vorbereitung: keine, wenn vorhanden: Tonbandaufzeichnung als Material Kategorie: Basiskompetenz; Ziel: Handlungssicherheit im Umgang mit Belastungen Gruppendiskussion, Zeit: 15-25 Min. Es ist schwierig, zu diesem Thema ein Rollenspiel durchzuführen, daher beschränkt sich die Übung auf eine Gruppendiskussion. Thema ist: Wie kann ich in der Interviewsituation damit umgehen, wenn die Erzählperson anfängt zu weinen, um Fassung zu ringen, nicht weitersprechen kann etc. Sofern Tonbandaufzeichnungen zu einer emotional belastenden Gesprächspassage vorhanden sind, können sie eingesetzt werden. Bei der Selbstreflexion sollte der eigene Umgang mit Hilflosigkeit angesprochen werden. Anmerkung: Auf die Vereinbarungen in Forschungsbeispiel 23 kann zurückgegriffen werden. Zum Selbststudium: Es wird eine Liste möglicher Reaktionen aufgestellt und mit den Vorschlägen aus Forschungsbeispiel 23 abgeglichen.
Forschungsbeispiel 23: Vereinbarungen zum Umgang mit emotionalen Belastungen Umgang mit emotionalen Belastungen der Erzählperson – Vereinbarung: Bei einer emotionalen Krise (Erzählperson weint, ringt um Fassung etc.): – Abstellen des Tonbandes anbieten; der Krise den Vorrang vor der Durchführung des Interviews einräumen. Fehlende Passagen später in dem Interviewprotokoll in Stichworten für eine Rekonstruktion festhalten. Nach dem Abstellen des Tonbandes kann in eine andere Rolle gewechselt und ein tröstendes Gespräch begonnen werden. – Wenn es möglich ist, zu einem späteren Zeitpunkt zum Interview zurückkommen und das belastende Thema überspringend bei einem neuen Thema einsetzen; dies dient auch einer Zurückführung in das Heute und einem Anknüpfen an die Alltagsnormalität. – Adressen von Beratungsstellen kennen und dabei haben.
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Weitere schwierige Interaktionssituationen: Störungen, Verlassen der Rollen und Verletzung der Kommunikationsregeln Für weitere Fragen können bzw. sollten Vereinbarungen festgehalten werden. Wenn diese Themen relevant sind für die geplanten Interviews, können auch Gruppendiskussionen mit Rollenspielanteilen nach dem Muster der Übungen 22 und 23 durchgeführt und so Vereinbarungen in der Gruppe erarbeitet werden. Nach unseren Erfahrungen erstreckt sich weiterer Regelungsbedarf auf Fragen wie: –
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Wie ist damit umzugehen, wenn trotz vorheriger Absprache Kinder herumspringen, der Partner oder die Partnerin anwesend sein möchte oder dauernd das Telefon klingelt? Bei welchem Maß an Störung sollte versucht werden, auf einer Meta-Ebene die Situation zu klären, ab wann kann bzw. darf das Interview abgebrochen werden? Wie ist bei Verletzungen der Kommunikationsregeln zu reagieren? Welche Strategien sind empfehlenswert, wenn die Erzählperson sich nicht den Vereinbarungen fügt, eine ganz andere Erzählung als vereinbart produziert, widersprüchliche Angaben macht? Was ist, wenn sie offensichtlich betrunken ist? Wann können Interviewende ein Interview vorzeitig beenden, weil ihnen die Situation „unheimlich“ ist? Diese Fragen sind vor allem abhängig vom Interviewthema und Interviewtypus zu entscheiden. Wichtig ist, dass Interviewende hier entsprechende Handlungssicherheit haben. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass Projektleitungen auch für den Schutz der Interviewenden verantwortlich sind. Wie ist mit Forderungen der Erzählpersonen an die Interviewenden umzugehen, wie mit einem offensiven Einfordern einer emotionalen Rückmeldung durch Interviewende? Wo kann eine Interviewende sich abgrenzen, wo ist sie an Vorgaben der Durchführung gebunden? Ist es in Ordnung, auf das Ende des Interviews zu vertrösten, sind Interviewende in solchen Fällen zu einem Gespräch danach verpflichtet?
(vgl. auch Hinweise zum Umgang mit Gesprächskrisen in Form von Abschweifen, Widerständen und Ängsten beim Erzählen, Gegenfragen seitens der Erzählperson, Aufbrechen weltanschaulicher Diskrepanzen und Gesprächsabbruch: Lucius-Hoene/Deppermann 2002, 302ff) Bei Leitfaden-Interviews kann es sinnvoll sein, auf die Flexibilität der Handhabung hinzuweisen. Erfahrungsgemäß fühlen sich ungeübte Interviewende gestresst, wenn die Erzählperson sich z.B. bei biografischen Interviews nicht an eine Chronologie oder allgemein nicht an den Aufbau des Leitfadens hält oder wenn sie einen „Redeschwall“ vorbringt. Hier ist eine Klärung wichtig, inwieweit vom Interviewtypus her steuernd eingegriffen werden soll oder nicht. Sollte in Fällen eines „abschweifenden“ Redeschwalls interveniert werden, dann sind die möglichen Optionen – von Rückführung bis unhöflichem Unterbrechen – zu klären.
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Weiterer Vereinbarungsbedarf kann sich sowohl während der Schulung als auch während der späteren Feldphase ergeben. Die Liste der Vereinbarungen sollte dann entsprechend ergänzt werden.
4.5 Exkurs: Ambivalente Strategien – Sprechen und nicht sprechen wollen, hören und nicht hören wollen Eine besondere Interaktion ergibt sich bei qualitativen Interviews mit Extrembelasteten oder Traumatisierten, d.h. mit Menschen, die personale Gewalt, Krankheitserfahrungen oder Krieg in einem Maß erlebt haben, dass ihre Bewältigungsmöglichkeiten überschritten wurden. Traumatisierende Erfahrungen kamen in unseren Forschungen z.T. in „gewöhnlichen“ biografischen Interviews und in Interviews zum Thema „Krankheit“ vor; z.T. waren sie explizit Forschungsthema. Dabei versteht es sich von selbst, dass die Interviews nur mit solchen Personen geführt wurden, die die Erfahrungen soweit bewältigt hatten, dass sie darüber mit einer Distanz berichten konnten und dies auch wollten. Die Interviews waren ausdrücklich nicht als explorierende oder Beratungsgespräche vereinbart. Verglichen mit anderen Schulungen standen bei den Schulungen der Interviewerinnen in diesen Projekten vor allem der sorgsame Umgang mit den Grenzen der Thematisierung, die die Erzählpersonen signalisieren, und die Auseinandersetzung mit den eigenen Bewältigungsstrategien im Vordergrund. In der Kommunikation und Interaktion mit Menschen mit extrem belastenden Erfahrungen gibt es besondere Muster (die auch in der Beratungsarbeit beschrieben werden), auf die Interviewende vorbereitet sein sollten. Eine spezifische Kommunikationsstrategie ist das „Austesten“: Damit wird die Belastbarkeit oder die Reaktion des Gegenüber ausgetestet, indem das Thema vorgezeigt und dann wieder „versteckt“ wird. Im Hintergrund steht nicht nur die Angst, das Schweigegebot, z.B. bei Erfahrungen sexuellen Missbrauchs, zu übertreten, sondern auch die Befürchtung, negative Kommunikationserfahrungen könnten sich wiederholen und die Interviewerin könnte z.B. spontan und gut gemeint mit Unglauben, Entsetzen („Das darf nicht wahr sein“), Ablehnung, Bagatellisierung oder Beschuldigungen reagieren. Die Interviewerin könnte sich auch als nicht belastbar erweisen; dann nämlich kommt auf die Erzählperson die zusätzliche Aufgabe zu, zu trösten und für die emotionale Stabilisierung der Interviewerin zu sorgen. Wir haben in solchen Interviews häufig eine doppelte Aufmerksamkeit auf Seiten der Erzählperson – achten auf die eigene Erzählung und auf die Reaktion der Interviewenden – und eine explizite Schonung der Interviewenden beobachtet. Zu klären ist, wie die Interviewenden mit einem solchen Austesten umgehen können: Sollen sie das Thema aufgreifen? Sollen sie auf Nachfragen verzichten? Wie kann allgemeiner mit dem ambivalente Erzählmuster umgegangen werden, das wir häufig in Interviews mit Extrembelasteten gefunden 150
haben und das sich als „Erzählen und zugleich nicht erzählen wollen“ beschreiben lässt? Angesichts dieser Ambivalenz entsteht der Eindruck, dass es „das“ richtige Verhalten von Interviewenden nicht gibt, da alle Varianten, das Aufgreifen des „erzählen Wollens“ ebenso wie das Akzeptieren des „nicht erzählen Wollens“, nachteilige Effekte haben. Wird das Thema verfolgt, kann dies zu weit gehen und die Erzählperson blockt ab; wird auf das Thema nicht eingegangen, wertet die Erzählperson dies als Desinteresse und negative Einstellung der Interviewenden und sie verfolgt das Thema ebenfalls nicht weiter. Wenn die Interviewerin von sich aus das Thema Gewalterfahrungen in Interviews mit wohnungslosen Frauen ansprachen, wurden diese Erfahrungen in der Reaktion der Erzählpersonen herunter gespielt („Discounting“-Strategie: vgl. Helfferich 2003; s. auch Forschungsbeispiel 3), was von uns dahingehend interpretiert wurde, dass eine Selbstpräsentation als eine auch in Hinblick auf Gewalt Stigmatisierte als Zumutung empfunden wurde. Die Ambivalenz der Erzählpersonen beim Erzählen von starken Belastungen kann sich in einer eingebetteten Thematisierung wie im Übungstext in Übung 8 in Abschnitt 3.1 ausdrücken: Dort wurde am Ende der Passage der Fokus aus der belastenden Situation heraus verlagert hin zu einem anderen Thema und in eine andere Zeit. Wenn die Interviewerin hier bereitwillig dieser Verlagerung folgt, ist die Interaktion von einer Ausblendung gekennzeichnet, bei der die Erzählperson und die Interviewende gemeinsam – unabgesprochen und unbewusst – vom belastenden Thema abkommen. In der Aufarbeitung, wie es zu speziellen Nachfragen kommt, konnte in der Übung herausgearbeitet werden, dass ein solches gemeinsames Ausblenden eine Reaktion der Interviewenden auf das Unangenehme sein kann, das von den im mittleren Textteil angedeuteten Belastungen ausgeht, also eine Form der Bewältigung der verunsichernden Interviewsituation und eine Rettung an ein „sicheres Thematisierungsufer“. Dieses Beispiel beleuchtet das Problem, dass Interviewende – so wie dies für Beraterinnen diskutiert wird – als Zuhörende zu Zeugen und Zeuginnen einer Traumatisierung werden und damit eigene Bewältigungsstrategien entwickeln müssen, mit dem Gehörten umzugehen. Das macht die Situation komplex und schwierig. Emotionale Reaktionen auf Seiten der Interviewerin können als Ausdruck von Bewältigung verstanden werden, z.B. Zweifel an der Darstellung können eine Distanzierung von der Möglichkeit, selbst Opfer zu werden, bedeuten. Das Überspringen des Themas bzw. bestimmter Einzelheiten sowie das Festhaken an Nebensächlichkeiten können motiviert sein durch die Angst, zu neugierig zu sein, das Falsche zu fragen, alles zu verschlimmern oder das Gehörte nicht ertragen zu können (ausführlicher: Hedlund/Eklund 1986). Wir haben oft beobachtet, dass gerade im Anschluss an Schilderungen zu Gewaltsituationen Interviewerinnen nach außen hin völlig unmotiviert geschlossene Detailfragen stellten. Ein Verzicht auf weitere Fragen kann von der Angst bestimmt sein, den „Deckel von einem Topf“ zu nehmen, eine den Interviewrahmen sprengende Erzählung anzustoßen und die Kontrolle über die Interviewsituation völlig zu verlieren. Der ambivalenten Haltung der Er151
zählperson, erzählen und zugleich nicht erzählen zu wollen, entspricht eine ambivalente Haltung bei Interviewenden, wissen und zugleich nicht wissen bzw. hören und zugleich nicht hören zu wollen. Die Komplexität der Situation liegt darin, dass möglicherweise unterschiedliche Bewältigungsstrategien aufeinander treffen und in Interaktion treten. Wird dies nicht reflektiert, kann sich die Interviewerin bedroht fühlen, wenn sie der Erzählperson bei der Beschreibung und Inszenierung von Bewältigungsformen folgen muss, die ganz anders sind, als ihre eigenen. Hier ergibt sich ein spezieller Schulungsbedarf, der hier nicht abgedeckt werden kann, insbesondere wenn Traumatisierungen (Teil-)Aspekt eines Forschungsgegenstandes sind: Zum einen müssen die Interviewenden sich in besonderer Weise mit dem Thema, mit ihrer eigenen Betroffenheit und ihren Bewältigungsstrategien auseinander setzen. Zum zweiten ist, wie auch das Forschungsbeispiel 14 in Abschnitt 4.1 zeigte, die Fremdheitsannahme besonders wichtig, weil sie hilft, zwischen der Betroffenheit der Erzählperson und der eigenen Betroffenheit zu trennen. Traumatisierungen können als Thema auch unerwartet in einem Interview z.B. zu Krankheiten (Traumatisierung durch eine Diagnoseeröffnung) auftauchen. Aufgrund der spezifischen Kommunikation und Interaktion sind besondere Vereinbarungen zu treffen. Forschungsbeispiel 24: Vereinbarungen für Interviews mit Extrembelasteten Umgang mit Extrembelastungen (Traumatisierungen) – Vereinbarung: Achtung – nicht immer können Menschen, die traumatisierende Gewalt erlebt haben, ihre eigenen Grenzen gut genug schützen. Sie können in Gefahr geraten, der Interviewerin zuliebe oder aus einem Gefühl der Verpflichtung heraus mehr zu erzählen, als sie von sich aus wollen und verkraften. Die Interviewerin trägt eine besondere Verantwortung, die Grenzen zu wahren. Wird eine Traumatisierung „vorgezeigt“ und das Thema anschließend wieder überdeckt: – signalisieren, dass das Thema gehört wurde, dass die Interviewende mit dem Thema vertraut ist und nicht negativ reagieren wird, – verdeckt die Erzählperson das Thema nach diesem Signal wieder: nicht nachhaken, – der Erzählperson freistellen, ob sie mehr dazu erzählen möchte und ihr die Kontrolle überlassen, wie viel sie erzählt. Dazu kann auf die Meta-Ebene gewechselt werden; mit einer ausdrücklichen Frage: „Möchten Sie noch mehr erzählen…“, vermitteln, dass es akzeptiert wird, wenn die Erzählperson auf das Thema nicht weiter eingeht, – auf keinen Fall auf „Zugzwänge des Erzählens“ setzen. Ein Interview ist keine Beratung; im Rahmen eines Interviews gibt es nur wenig Möglichkeiten, aufgerührte Erinnerungen aufzufangen, – Option: anbieten, das Aufnahmegerät abzustellen, – gegebenenfalls Adressen von Beratungseinrichtungen kennen und weitergeben. (→ Verabredungen für den Umgang mit emotionalen Belastungen, Forschungsbeispiel 23 in Abschnitt 4.4)
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Prinzipiell ist wichtig, mit der Dynamik der Kommunikation von Extrembelasteten vertraut zu sein, sich selbst mit dem Thema und mit den eigenen Bewältigungsstrategien auseinander zu setzen mit dem Ziel, eigene Gefühle als Bewältigungsreaktionen in der Interviewsituation wahrnehmen zu können.
4.6 „Karge“ Interviews Die Betrachtung von Thematisierungsregeln (→ Abschnitt 2.4) zeigte soziale Grenzziehungen dessen, was man fremden Menschen üblicherweise über sich erzählt. Qualitative Forschung hat ihre eigenen Vorstellungen von solchen Grenzziehungen, die nicht in allen anderen Kulturen gelten müssen. Eine der impliziten Prämissen qualitativer Verfahren ist, dass Kommunikation, Mitteilung an Andere, auch an Fremde, wichtig ist, und dass eine Diskursivierung des individuellen Erlebens und der Alltagsereignisse Sinn macht. Als Angehörige einer „sprechenden Zunft“ ist es Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen oft nicht spontan einsichtig, dass es soziale Milieus gibt, in denen dies nicht gilt und eine solche Diskursivierung gering geschätzt oder sogar als überflüssig betrachtet wird. Die Diskursivierungsbereitschaft ist vor allem in den sozialen Gruppen niedrig, in denen ein starker kollektiver Zusammenhang herrscht und weniger die Einzigartigkeit individueller Erfahrung als vielmehr gemeinschaftsstiftende Momente kultiviert werden. Diese Gruppen haben in der Regel einen dichten gemeinsam geteilten Erfahrungshintergrund, daher reicht eine verkürzte Sprache, um anderen Mitgliedern der Gruppe gegenüber auch komplexe Befindlichkeiten zu vermitteln. Anders formuliert: Es wird weniger eine explizite und elaborierte Sprache ausgebildet, um sich verständlich zu machen; zentraler subkultureller Wert ist z.B. mehr das „Tun“ und weniger das „Reden“. Eine „karge“ Sprache ist aber für Forschende schwierig zu entschlüsseln, weil sie voll von indexikalen Hinweisen ist, die sich nur aus dem Situationskontext erschließen lassen. Generell ist bei einer entsprechenden Zielgruppe aus einer solchen nicht-diskursiven Kultur zu überlegen, ob z.B. ein Gruppendiskussionsverfahren sinnvoller ist, weil dabei methodisch weniger die individuelle Besonderheit der Existenz im Mittelpunkt steht. Dennoch sind oft gerade auch „wortkarge“ Einzel-Interviews in der Auswertung sehr ergiebig, wenn die differente Äußerungsstrategie in Rechnung gestellt wird. Für die qualitativen Interviews ist festzuhalten, dass möglicherweise die Erzählperson und die interviewende Person über unterschiedliche Sprachstile verfügen und in unterschiedlichem Maß von der Selbstverständlichkeit und Relevanz von Diskursivierungen ausgehen. Wird von der Interviewform her eine ausgiebige und persönlich in die Tiefe gehende sprachliche Offenbarung verlangt und entspricht dies aber nicht der Thematisierungskultur der Erzählperson, müssen besondere Zugangs- und Interviewstrategien entworfen und Vereinbarungen getroffen werden, inwieweit ein Abweichen von dem übli153
chen Interviewschema, das problemlos bei Erzählpersonen mit einem mehr explizierenden Code funktioniert, vertretbar ist. Forschungsbeispiel 25: Vereinbarungen für „karge“ Interviews Es kann eine subkulturelle Überzeugung vorliegen, Alltägliches wäre der Erwähnung nicht wert, es gäbe aber auch nichts Besonderes über die eigene Person zu berichten. Dies Haltung kann durch eine entsprechende Orientierung von Interviewenden verstärkt werden, die vor allem nach „Wichtigem“ nachfragen (→ Übung 16 in Abschnitt 3.5). – Ankündigungs-, Erzählaufforderungs- oder Fragestrategien mit der Betonung „Uns interessiert das ganz Normale/der normale Alltag ist uns wichtig/wie das normalerweise geht – das Besondere trifft ja immer nur auf wenige zu“. Die Thematisierung der eigenen Person kann als unangenehm und wichtigtuerisches „sich in den Vordergrund Stellen“, „zuviel Aufhebens um sich selbst Machen“ empfunden werden. – Es kann die Möglichkeit verabredet werden, Fragen allgemeiner zu stellen und unpersönliche Erzählungen zu generieren: „Wie haben andere das gemacht/Wie war das bei anderen?“, „Wie war das überhaupt so? Ich würde mir gern ein Bild machen…“ etc. Dabei ist es hilfreich, darauf hinzuweisen, dass man sich die Zeit, die Menschen etc. ja gar nicht richtig vorstellen könnte. Die Aufgabe wird so umdefiniert, dass es weniger um eine Selbstreflexion als um ein Bild der Umstände, der Personen etc. gehen soll. Je nach Forschungsgegenstand wird damit mehr oder weniger brauchbares Material erzeugt. Allgemein gilt, dass Menschen auch über sich sprechen, wenn sie über Andere und Anderes sprechen. Fragen, die in ihrer Formulierung eine Abstraktionsleistung verlangen, können auch dann, wenn sie offen zur Erzählung auffordern, zu komplex sein. Dies gilt z.B. für Bilanzierungs- und Reflexionsfragen, die auf Gefühle zielen, oder für Fragen danach, wie jemand etwas „erlebt“ hat, „mit etwas umgegangen ist“ etc. – Es kann vereinbart werden, Fragen zu konkretisieren und eine Erzählung auf einer stärker anschaulichen Ebene anzuregen, z.B. eine Schilderung von Tagesabläufen, eine Erzählung von Beispielen etc.
4.7 Zwischenbilanz: Gütekriterien für qualitative Interviews und das Prinzip Reflexivität Gütekriterien für qualitative Interviews Zentrale Gütekriterien quantitativ-standardisierter Forschung beziehen sich darauf, dass ein Instrument unabhängig vom Kontext und von den Erhebenden bei denselben Personen identische Messdaten erbringt (Reliabilität als Stabilität der Ergebnisse bei wiederholtem Einsatz des Instruments bei derselben Person, Objektivität als Unabhängigkeit der Ergebnisse vom Untersucherverhalten und der Erhebungssituation; weitere Gütekriterien sollen hier außer Acht bleiben). Nun sind die Daten bei qualitativen Interviews, also die Er154
zählungen bzw. die Texte, immer kontextabhängig und die Versionen bei einer Wiederholung eines Interviews nie identisch – die Gütekriterien der standardisierten Verfahren greifen damit nicht. In aktuellen Diskussionen wird die Meinung vertreten, dass qualitative Forschung eigener, dem spezifischen Forschungsgegenstand „Sinn“ und dem Auftrag „Verstehen“ angemessener Gütekriterien bedarf (Übersicht: Steinke 1999 und 2000). Die Unmöglichkeit von Objektivität ist ja nicht ein Mangel, sondern Ausgangspunkt qualitativer Forschung, daher kann es nicht um anzustrebende Objektivität gehen, sondern um einen anzustrebenden angemessenen Umgang mit Subjektivität. Der Unterschied ist einsichtig: Würde ein Fragebogen, von ein und derselben Person in unterschiedlichen Situationen ausgefüllt, unterschiedliche Ergebnisse erbringen, würden die Ergebnisse als beliebig gelten und das Erhebungsinstrument würde verworfen. Aus der Perspektive qualitativer Forschung wäre es aber erschreckend und nur eingeschränkt brauchbar, wenn eine Person in jedem Kontext – jeder interviewenden Person gegenüber, in jeder Situation interviewt – dieselbe Version ihrer Erzählung produzieren würde. Es läge der Verdacht nahe, dass die Person über eine „geronnene“ Version ihres Erlebens verfügt, die sie ritualisiert und in kanonischer Form vorträgt. In der standardisierten Forschung fühlt man sich aufgrund der Kontextunabhängigkeit der Ergebnisse berechtigt, den Kontext, in dem die Daten entstanden sind, bei der Diskussion der Ergebnisse als irrelevant zu vernachlässigen. In der qualitativen Forschung werden die Ergebnisse immer als kontextspezifisch erzeugte diskutiert. Die Versionenhaftigkeit der produzierten Daten (Texte) stellt in der qualitativen Forschung kein wissenschaftslogisches Problem dar, weil sie nicht auf Beliebigkeit, sondern auf spezifische Produktionen hinweist. Es geht nicht (nur) um den Text als Produkt der Erhebung, sondern um die Produktion von Versionen in bestimmten Kontexten. Der Gegenstand, der „Sinn“, wird als „flüssig“ voraussetzt und seine unterschiedlichen Äußerungen verfolgt. In einem gegebenen Kontext ist eine spezifische Version oder Variante in allen Text-Details alles andere als zufällig, vielmehr werden die Gesamtstruktur, jeder einzelne Satz und jeder Satzteil als sinnhaft unterstellt (z.B. Lucius-Hoene/Deppermann 2002, 99). Das Augenmerk bei der Interpretation wird darauf gerichtet, dass gerade in dem spezifischen Interaktionskontext diese eine Version hervorgebracht wurde. Eine Standardisierbarkeit und identische Replizierbarkeit des Forschungsverfahrens, die für die methodische Kontrolle in standardisierten Verfahren unabdingbar sind, können für qualitative Forschung höchstens in dem Sinne relevant sein, als eine gewisse Vergleichbarkeit der Interviewsituationen im Falle größerer Stichproben bei der Interpretation hilfreich sein kann. Für qualitative Verfahren werden dem Gegenstand der Forschung angemessene Wege der methodischen Kontrolle diskutiert: –
Methodische Kontrolle über Offenheit: Methodische Kontrolle ist gerade umso mehr gegeben, je offener und je weniger standardisiert das Erhe-
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bungsverfahren ist (vgl. Hoffmann-Riem 1980, 3506). Das Motto lautet: „Weniger Eingriff schafft mehr Kontrollmöglichkeiten, durch weniger Eingriffe des Forschers soll mehr methodische Kontrolle erreicht werden.“ (Bohnsack 1999, 20) Je umfassender Befragte in ihrer Sprache ihre Sichtweise entfalten können, „desto geringer ist die Gefahr, dass die Interviewer oder auch diejenigen, die das Interview auswerten, den Befragten missverstehen.“ (a.a.O., 21) Die Gegenposition bei dialogischen Interviews besagt allerdings, dass Rückfragen von Interviewenden „Auslassungen, Verzerrungen oder Zurückhalten von Informationen verhindern oder korrigieren“, den „emotionalen Widerstand gegen das Erzählen bestimmter Erfahrungen“ mindern (Witzel 1982, 98) und damit zu mehr Gültigkeit führen können. Hier kommen wieder die unterschiedlichen Prämissen bei eher narrativ-monologischen und bei eher problemzentriert-dialogischen Interviews zum Tragen. Methodische Kontrolle über Reflexivität: Methodische Kontrolle durch Offenheit ist aber notwendig begrenzt, weil es in der Interviewsituation eine Nicht-Kommunikation ebenso wenig wie einen Nicht-Eingriff gibt (→ Abschnitt 2.6). Strukturierungsvorgaben und Steuerungen sind unumgänglich und im Dienst bestimmter Forschungsinteressen auch in größerem oder geringerem Umfang bewusst angestrebt. Steuerungen darüber, dass das Vorwissen der Interviewenden/Forschenden eingebracht und/oder die Interviewsituation und Interaktion als Erhebungskontext gestaltet wird, werden dadurch kontrolliert, dass sie bewusst gemacht und expliziert werden und ihr Einfluss diskutiert und nachvollzogen wird („Reflektierte Subjektivität“: Steinke 2000, 330f). Dies gilt für Interviewende ebenso wie für Interpretierende (zum „Prinzip Reflexivität“ s.u.). Methodische Kontrolle bedeutet auch, dass die Interpretation kommunikativ erzeugter Daten die Kommunikation reflexiv mit einbezieht; Datum ist nicht eine vom Kontext abgelöste Erzählung, sondern eine Version, der die Merkmale ihrer Entstehung angeheftet sind. Methodische Kontrolle über intersubjektive Nachvollziehbarkeit: Für standardisierte Verfahren ist die Nachprüfbarkeit der Ergebnisse an die Wiederholbarkeit z.B. des Experiments gebunden. Die entsprechende Analogie für die qualitative Forschung ist das Kriterium der „intersubjektiven Nachvollziehbarkeit“, das neben der Dokumentation des gesamten Forschungsprozesses und der Interpretation in Gruppen die Anwendung codifizierter, also regelhafter Vorgehensweisen umfasst (Steinke 1999). Für die Interviewsituation selbst bedeutet dies z.B., dass die Hoffmann-Riem hofft auf umso mehr Gültigkeit, „je mehr es gelingt, die Befragtenrolle in Anlehnung an die mit dem Forschungsthema verbundenen alltagsweltlich vertrauten Rollen zu modellieren“ und je mehr „eine autonome Selbstdarstellung“, „eine eigene Relevanzsetzung“ und „eine Annäherung an die kommunikativen Regeln der alltagsweltlich Handelnden“ stattfinden kann (Hoffmann-Riem 1980, 350). Zu einer kritischen Einschätzung der damit verbundenen Annahme einer Konvergenz zwischen qualitativem Interview und Alltagskommunikation → Abschnitt 1.3.
Regeln des Interviewerverhaltens geklärt, festgehalten und überprüft werden und dass Verabredungen für den Umgang mit schwierigen Interviewsituationen getroffen werden. Weiterführende Literatur: Qualitätskriterien qualitativer Forschung Allgemeine Darstellungen: Steinke 1999; Kurzfassung: Steinke 2000 Zur methodischen Kontrolle des Fremdverstehens: Bohnsack 1999, 20ff
Das Prinzip Reflexivität V. Kardoff (1995, 4) hatte „die bewusste Wahrnehmung und Einbeziehung des Forschers und der Kommunikation mit den ‚Beforschten‘ als konstitutives Element des Erkenntnisprozesses“ als Grundprinzip qualitativer Forschung definiert (→ Abschnitt 1.1, Übersicht 1). Steinke (2000, 232ff) weist die „reflektierte Subjektivität“ als eigenes Gütekriterium qualitativer Interviews aus und schlägt Wege vor, wie sie gesichert und geprüft werden kann. Für uns ist die Umsetzung der Reflexivität in der Erhebungssituation relevant. Dort bedeutet sie vor allem Selbstreflexion, also das Wahrnehmen und Vergegenwärtigen, welches Vorwissen, welche impliziten Annahmen und unbewussten Erwartungen, welchen „Normalitätshorizont“ und welche Aufmerksamkeitshaltungen, welche Ängste und Bewältigungsstrategien man als Interviewende oder Interviewender in die Situation einbringt. Das Bewusstmachen macht die Aspekte verfügbar in dem Sinne, dass sie ihre Macht verlieren, die Aufmerksamkeit für fremde und zuwider laufende Deutungen zu verschließen und das Verhalten zu lenken, ohne dass die Interviewenden es merken. Sie können für eine bewusste Gestaltung der Interviewsituation und der Interviewbeziehung eingesetzt oder zurückgestellt werden. Die Reflexivität erstreckt selbst sich auf so selbstverständliche Aspekte wie auf die Selbstpräsentation als Mann oder Frau (→ Übung 20 in Abschnitt 4.1). Indirekt relevant ist die Reflexion des Interviewverhaltens auch bei der Interpretation. Für Interviewende ist es wichtig zu wissen, dass in der Interpretation die Erzeugung des Textes im Kontext reflektiert wird, also nicht nur die Äußerungen der Erzählperson gerade an dieser Stelle, sondern auch die Fragen und das gesamte Verhalten der Interviewenden und das wechselseitige Reagieren der Akteure aufeinander. Reflexion in diesem Sinn bedeutet, dass die Kommunikation zwischen Interviewenden und Erzählpersonen „explizit Bestandteil der Erkenntnis“ wird (Flick 1996, 15, → Abschnitt 4.8)7. Eine Folge der hohen Bedeutung, die der Reflexivität beigemessen wird, ist, dass Interviewende nicht nur ihren Deutungshorizont über die Öffnung für Fremdes systematisch zu erweitern lernen, sondern dass sie zugleich sehr viel über sich selbst erfahren. 7
Anzumerken bleibt, dass es eine dritte Ebene der Reflexivität gibt, die hier außer Betracht bleibt: die Selbstreflexion der Interpretierenden und die Reflexion des Verstehensprozesses bei der Interpretation.
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4.8 Reflexion der Interaktion in der Interpretation Dieser – kurze – Abschnitt vermittelt keine Kompetenzen, sondern dient der Einordnung von korrektem und fehlerhaftem Interviewerverhalten. Interviewende mögen kurz erschrecken, wenn sie lesen, dass ihre Fehler auch noch von den kritischen Augen der Interpretierenden aufgespürt werden. Sie können aber eher entlastet sein: Zum einen wird davon ausgegangen, dass Irritationen, Fehler, das Stellen nicht zugelassener und nicht öffnender Fragen, das spontane Bekunden von eigenen Gefühlen und Einsichten etc. (mehr oder weniger) unvermeidbar sind. Zum anderen wird eine Störung der Interviewkommunikation oder ein Interviewfehler nicht dazu führen, dass das Interview verworfen wird. Fehler werden insofern „Erkenntnismittel“, als unterstellt wird, dass die Interviewenden an dieser Stelle aus einem bestimmten, zu rekonstruierenden Grund diesen Fehler begangen haben. Der Fehler sagt also auch etwas aus über die Dynamik der Passage, in der er vorkommt. Unsere Auswertungssitzungen begannen jeweils mit einer Rekonstruktion der Interviewsituation, um einen ersten Zugang zu der Art der Interaktion und zu dem Prozess der wechselseitigen Selbst- und Fremdpositionierung in den Rollen zu finden. Eine weitere Routinefrage zu Beginn der Auswertung war die Frage nach problematischen und schwierigen Interviewpassagen – dies sind gerade auch solche Passagen, in denen Interviewende irritiert oder unter Druck waren und merkten, dass sie sich nicht so verhalten, wie sie sich verhalten sollten. Gab es solche Passagen, dann wurde von der strikten Vorgabe, bei der Interpretation sequentiell – Abschnitt für Abschnitt – vorzugehen, abgewichen und nach einer Analyse der Einstiegspassage gleich eine solche problematische Passage betrachtet. Sie wurde im Detail analysiert und dabei darauf geachtet, woran sich die Irritation der Interviewenden festgemacht hat. Forschungsbeispiel 26: Reflexion der Interaktion in der Interpretation In Übung 8 hatten wir eine Textpassage als Ausgangspunkt für freie Nachfragen genommen. In der Auswertungssitzung zu diesem Interview, aus dem das Zitat stammte, hatte die Interviewerin diese Passage als für sie selbst hochgradig schwierig und irritierend genannt. Die Nachfrage der Interviewerin war entsprechend unkorrekt gewesen. I.: Und war das dann so, also die Entscheidung für die Pille eher – ja eben, dass das einfach ist – oder auch, dass es absolut sicher ist? Was stand da so mehr im Vordergrund? A.:Ich glaube doch eher die A- – ja, das ist ein bisschen schwer. Nein, Moment damals die Sicherheit. Ich würde – hätte jetzt gedacht, erst an Einfachheit, aber ich glaube, dass ich doch… Denn dass der Mann verhütet, das war schon damals klar, aber das war einfach auch – das ist alles eine Erfahrungssache. Ich glaube, da hätte ich gar kein Vertrauen gehabt, zu dem Zeitpunkt hätte ich das Vertrauen noch nicht gehabt – wirklich alles so in der Hand hatte. Im weiteren Verlauf werden die Fragen der Interviewerin noch konkreter, um herauszufinden, ob die Erzählerin nun die Pille genommen hatte oder nicht – sie hatte die Pille nicht genommen – und es kommt zu einer weiteren Nachfrage der Interviewerin:
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I.: Und war das also bei Dir schon aus der Angst heraus, schwanger zu werden, oder waren da noch andere Sachen im Spiel? A.:Nein, da waren auch noch andere Sachen im Spiel ------- Ja das wäre mir einfach zuviel gewesen. Also --------------------- ja irgendwie hat es mich, also vielleicht --- belastet oder – ich weiß es auch nicht, was ich gedacht habe, was da --- ja, einfach keine Bereitschaft da. Die Fragen der Interviewerin sind so, wie sie nicht sein sollten: Konfus, unklar, zu lang, mit dem Angebot von Alternativen, zwischen denen die Erzählerin wählen soll, und einer Fülle von Präsuppositionen und Begriffen, die die Interviewerin einbringt. In der ersten Nachfrage soll die Erzählerin gezwungen werden, ihre Aussage so zu reformulieren, dass sie in das Bezugssystem der Interviewerin passt: Diese denkt nämlich, dass „Sicherheit“ und „Einfachheit“ der Verhütung zwei getrennte Dimensionen darstellen, während die Erzählerin beide Dimensionen vermengt. Die Erzählerin möchte der Interviewerin folgen, kann aber nicht die gewünschte Klarheit herstellen, da die Dinge für sie eben verwirrt sind. Erst in einer späteren Passage mit einer immer noch nicht korrekten, aber mit „andere Sachen“ deutlich offeneren Wendung (die zudem eine Formulierung der Befragten aufgreift: siehe Passage in Übung 8), zeigt sich noch einmal der eigentliche Kern der Passage: Es geht um die Belastung der Situation. Die Interviewerin erklärte ihre nicht angemessenen Fragen damit, dass sie den Druck und die Verworrenheit gespürt hatte, selbst völlig verwirrt war und sich daraufhin Klarheit verschaffen wollte. Die Interaktionsebene liefert so einen weiteren Hinweis auf die in der erzählten Situation herrschende Belastung. HIV-Prävention und Kontrazeption 1991, 27j. Frau, Westen Nicht korrektes Interviewerverhalten ist häufig ein Indikator für bei den Erzählpersonen liegende Schwierigkeiten, die in der Interviewsituation aber nicht explizit gemacht werden können. Insbesondere reagieren ungeübte Interviewende mit einer stärker direktiven Interviewführung, wenn sie sich durch Erzählpersonen latent bedroht oder verunsichert fühlen. In der Interpretation wird dies reflektiert und die Information aufgenommen, dass eine Bedrohung von der Erzählung ausging.
In der Auswertung wird damit nicht nur gefragt, warum die Erzählperson an gerade dieser Stelle gerade diese Formulierung wählt, sondern auch, warum die interviewende Person gerade an dieser Stelle den Fehler macht, den sie gemacht hat. Die Einsicht, dass auch Interviewerfehler so „Erkenntnismittel“ werden können, kann von einem Perfektionsdruck entlasten, über den Kaufmann seinen „Forscherlehrling“ so anschaulich verzweifeln ließ, weil er meinte, auf jedes Detail achten zu müssen (→ Einführung) – dies soll aber nicht als Ermunterung zu Nachlässigkeit verstanden werden.
4.9 Bilanz und Reflexion Bei der Betrachtung der Interaktion von interviewender und erzählender Person, wurde deutlich: –
Kognitive Nähe bzw. Fremdheit im Sinne eines gemeinsamen bzw. unterschiedlichen Erfahrungshintergrundes spielt eine große Rolle für die 159
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Teilnahmebereitschaft ebenso wie für die Wahl dessen, was die Erzählperson erzählt (Stichworte: Insider-Wissen, Explikationen), aber auch für Prozesse wie Abgrenzung und Vertrauen. Um ein Interview in dieser Dimension steuern zu können, ist es notwendig, sich den eigenen Hintergrund und damit die eigene (unbewusste) Selbstpräsentation und Position im Interview zu vergegenwärtigen. Das Prinzip Fremdheit ist eng verbunden mit dem Prinzip Offenheit, denn es geht gerade um Offenheit für Fremdes. Zum Prinzip Fremdheit gehört wiederum die Fähigkeit der „Befremdung der eigenen Kultur“ (Amann/Hirschauer 1997), der „Relativierung des eigenen Normalitätshorizontes“ (Bohnsack 1999), d.h. der eigene selbstverständliche Maßstab wird zurückgestellt als Voraussetzung dafür, für Neues offen sein zu können. Die Kommunikationssituation „qualitatives Interview“ ist eine komplexe Rollenkonfiguration, bei der die vorgegebenen Rollen von erzählender und interviewender Person vielfältig ausdifferenziert werden können. Macht- und Führungsaspekte sind dabei zu beachten. Es gilt, sich mit diesen Aspekten vertraut zu machen, um angemessen reagieren zu können, und in den Projekten für Interviewende Vorgehensweisen und Handlungsspielräume zu vereinbaren. In qualitativen Interviews können besondere, schwierige Situationen vorkommen, z.B. ein Rückzug von Erzählpersonen, das Auftreten emotionaler Belastungen, ambivalente Erzählstrategien von Erzählen und gleichzeitigem Verbergen oder einfach „karge“ Äußerungen von Erzählpersonen. Diese Situationen müssen wahrgenommen, der eigene Part muss (z.B. eigene Bewältigungsstrategien müssen) reflektiert und angemessene Verhaltensweisen müssen entwickelt und eingeübt werden. Es wird diskutiert, ob für qualitative Interviews mit ihrem spezifischen Forschungsgegenstand „Sinn“ und dem spezifischen Auftrag des „Verstehens“ eigene Gütekriterien zu entwickeln sind. Für qualitative Interviews ist Objektivität im strengen Sinn kein praktikables Kriterium, wohl aber der reflektierte Umgang mit Subjektivität. Spezifische Formen methodischer Kontrolle tragen der Versionenhaftigkeit der produzierten Daten und dem kommunikativen Charakter des Forschungsprozesses Rechnung. Reflexion ist ein zentrales Prinzip der qualitativen Forschung sowohl in der Erhebungs- wie in der Interpretationssituation. Gegenstand der Interpretation und eine eigene Auswertungsebene ist auch die InterviewInteraktion: Sie gibt Auskunft darüber, wie interviewende und erzählende Person aufeinander reagieren, und auch das ist ein Datum, das sich in das Bild von dem rekonstruierten Sinn einfügen muss. Dies ist gerade dort wichtig, wo Interviewende im Interview unter Druck geraten sind und Fehler in der Interviewführung gemacht haben.
Reflexion – Sind mir die Dimensionen und die Konsequenzen von Nähe und Fremdheit im Interview klar? – Kenne ich die Auswirkungen und die Vor- und Nachteile eines gemeinsam geteilten bzw. eines differenten Erfahrungshintergrundes zwischen interviewender und erzählender Person? – Kann ich meinen Erfahrungshintergrund und meine Selbstpräsentation als Frau oder Mann, als Angehörige oder Angehöriger einer Generation, Alterskohorte und einer besonderen Kultur reflektieren? – Kann ich nachvollziehen, dass ein gemeinsamer Hintergrund zu besserem Verstehen und einer Öffnung, aber auch zu einer Abgrenzung führen kann und dass die Fremdheitsannahme auch dann wichtig ist, wenn die Erzählende und die interviewende Person sehr viel gemeinsam haben? – Kenne ich Möglichkeiten, Nähe und Fremdheit bzw. Distanz im Interview zu regulieren? – Ist mir das „Prinzip Fremdheit“ oder die „Fremdheitsannahme“ in ihren theoretischen Wurzeln einsichtig? – Die prinzipiellen Rollen im Interview sind Interviewer bzw. Interviewerin und Erzählperson. Kenne ich Beispiele für Ausdifferenzierungen dieser Rollen? – Kann ich unbewusste Rollenpositionierungen in den Kontakten mit der Erzählperson wahrnehmen? Traue ich mir eine angemessene Positionierung der Rollen im Vorfeld eines Interviews, z.B. bei dem telefonischen Erstkontakt, zu? – Kann ich „Machtausübung“ oder „Führungswünsche“ seitens der Erzählperson und Verschiebungen der Machtbalance im Interview wahrnehmen und einordnen, kenne ich Strategien, im Interview mit entsprechenden Rollenzuweisungen umzugehen? – Habe ich mir meine eigenen Vorstellungen, Wünsche und Ängste bezogen auf Macht und Führung vergegenwärtigt? – Bin ich darauf vorbereitet, mit Druck in der Interviewsituation umzugehen? Bin ich auf (partielle) Verweigerungen von Erzählpersonen eingestellt? Kann ich die Position einer Erzählperson, die sich zurückzieht, nachvollziehen? Kann ich meine eigenen Reaktionen reflektieren? Weiß ich, was ich tun kann oder sollte? – Bin ich auf den Umgang mit emotionalen Belastungen im Interview vorbereitet? – Bin ich darauf vorbereitet, dass Erzählpersonen bei Belastungen ambivalent in ihren Erzählungen sind und habe ich mich mit der Parallele zwischen „sprechen und zugleich nicht sprechen wollen“ und „hören und zugleich nicht hören wollen“ auseinander gesetzt? Kenne ich meine eigenen Bewältigungsstrategien? Kenne ich die Projektregeln, wo und wie nachgefragt werden soll und darf und wo die Erzählperson eher vor dem Überschreiten von Thematisierungsgrenzen zu schützen ist? – Verfüge ich über Strategien für den Umgang mit „kargen“ Interviews? – Kenne ich die zentralen Gütekriterien für qualitative Interviews und die Grundrisse der Diskussion über die Qualität qualitativer Daten? Weiß ich, was „methodische Kontrolle“ umfasst? – Ist mir das „Prinzip Reflexivität“ einsichtig? – Weiß ich um die Analyse von Interview-Interaktion in der Interpretation?
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4.10 Exkurs: Experteninterviews Die Interview-Schulungen, die am Sozialwissenschaftlichen FrauenForschungsInstitut (SOFFI F.) entwickelt wurden, qualifizieren in besonderer Weise für die Durchführung teilnarrativer und narrativer Interviews mit einem Forschungsinteresse an Sinnrekonstruktion. Interviews, in denen Informationen zu Fakten erhoben werden sollen – darunter insbesondere Interviews mit Experten und Expertinnen –, bedürfen in weit geringerem Maß jener Fähigkeiten der Verlangsamung, der Zurückstellung von Deutungen, der Offenheit für subjektive Sinngebung und des „hemeneutischen Ohrs“, die in den Übungen vermittelt werden. Sie vertragen mehr Strukturierung, eine vereinfachte Transkription und eine schneller die Komplexität reduzierende Auswertung (Meuser 2005). In bestimmten Kontexten kann eine sehr offene Erzählaufforderung, die eine ausführliche Narration erzeugen möchte, bei Experten und Expertinnen geradezu Verwirrung erzeugen, wenn diese nämlich eine Interviewkommunikation in der Art eines knappen und zeitökonomischen Fachgesprächs erwarten (Trinczek 2005, 214). Es soll daher kurz auf die Durchführung von Interviews mit Experten und Expertinnen eingegangen werden, um die Anwendung des Gelernten auf eine Untergruppe von Interviews, bei denen der Fokus auf Fakteninformationen liegt, und dabei speziell auf Experteninterviews einzugrenzen. Die Kürze ist auch deshalb möglich, weil zwei gute Einführungen vorliegen, die nicht nur die methodologische Fundierung der Experteninterviews leisten, sondern auch Hinweise zur Durchführung und Auswertung geben (Bogner/Littig/ Menz 2005, Gläser/Laudel 2009). Dieser Abschnitt bezieht sich vor allem auf die Schnittmenge von (A) Interviews mit Personen, die als Experten befragt werden, und (B) einem Forschungsinteresse an Fakteninformationen. Nicht alle Interviews, die Fakteninformationen erheben, werden mit Experten oder Expertinnen geführt, nicht alle Experteninterviews erheben Fakteninformationen. Experteninterviews können eine unterschiedliche Funktion haben und unterschiedlichen Forschungsinteressen dienen (Bogner/Menz 2005, 34). Bei einer Systematisierung von Typen von Experteninterviews differenzierten Bogner und Menz einen Typus „systematisierendes Experteninterview“, bei dem der Experte als Ratgeber gesehen wird, der Auskunft über „objektive“ Tatbestände gibt (Bogner/Menz 2005, 37). Dieser Typus macht gerade die Schnittstelle aus, um die es im Folgenden gehen soll. Bei einem anderen Typus, dem „theoriegenerierenden Experteninterview“, wird Deutungswissen erhoben und bei der Auswertung rekonstruiert. Für diesen Typus treffen viele der für qualitative Interviews allgemein geltenden Voraussetzungen für eine gelingende Interviewdurchführung zu. Diese werden nicht mehr wiederholt, aber es wird ergänzend auf solche Besonderheiten von Experteninterviews allgemein eingegangen, die noch nicht abgedeckt sind.
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Wer ist Experte oder Expertin? Die Definition, wer als Experte oder Expertin gelten soll, ist flexibel. Es gibt in der Literatur unterschiedliche Vorschläge und Einigkeit besteht nur dahingehend, dass die Definition jeweils von der Forschungsfrage und von dem Handlungsfeld abhängt, in dem die Personen agieren. Definitionskriterium kann der von den Forschenden zugeschriebene Status „Experte“ oder die faktische Position in einer (betrieblichen) Hierarchie sein. Das Kriterien kann an der Person oder an dem spezifischen Wissen, an dem Experten teilhaben, festgemacht werden (a.a.O., 40f). Auch wenn ein weiter Begriff, demzufolge alle Menschen Experten ihres Lebens sind, und ebenso ein sehr enger Begriff, der den Expertenstatus einer Funktionselite vorbehält, zu Recht kritisiert werden, kann es in bestimmten Kontexten Sinn machen, auch Laien als Experten zu befragen. Denn ungeachtet der Pluralität von Formen von Experteninterviews gibt es doch eine Besonderheit, die für alle Experteninterviews gilt und die einen Unterschied zu qualitativen Interviews mit Nicht-Experten ausmacht: Ein Experte oder eine Expertin wird aufgrund ihres speziellen Status und nicht als Privatperson befragt. Zwar ist faktisch ein Experte bzw. eine Expertin auch immer als „ganze Person“ und nicht nur Informationslieferant in der Interviewsituation anwesend. Aber das interaktive Signal bei der Verabredung der Interviews ist ein besonderes: Wird jemand als Experte oder Expertin adressiert, erwartet die Person nicht, dass sie über ihre sehr persönlichen Angelegenheiten sprechen soll, sondern über fachliches, abstraktes „Sonderwissen“, das sie sich in besonderer Weise angeeignet hat. Dies entspricht einem alltagsweltlichen Verständnis von „Expertise“, und die Angefragten sortieren das Anliegen der Forschenden entsprechend ein. Das heißt, dass Laien ein Status als Experten und Expertinnen zugeschrieben werden kann. Dies sollte sogar gezielt dann getan werden, wenn in dem Interview eine spezifische Kommunikation eingeführt werden soll, die auf Wissen und Handlungsroutinen als Ressourcen abhebt und die eine Orientierung an einer persönlichen, lebensgeschichtlichen Problematik zurücknimmt. Die Adressierung der Befragten als Experten und Expertinnen ist dann Teil der spezifischen Gestaltung der Interviewinteraktion. Ein solches Vorgehen wurde in einem Forschungsprojekt angewendet, in dem wohnungslose Frauen als Expertinnen zu ihrem „Sonderwissen“ über bestimmte Orte in der Stadt befragt wurden, oder in einer Befragung von Frauen mit chronischen Erkrankungen als Expertinnen für ihren eigenen Körper und dessen Behandlung. Die wohnungslosen Frauen als Expertinnen anzusprechen signalisierte, dass in dem Projekt nicht die Geschichte der Wohnungslosigkeit, Gewalterfahrungen, Diskriminierungen etc. als Thema erwartet wurden.
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Bestimmung des Forschungsgegenstandes Wie bei allen qualitativen Interviewprojekten steht am Anfang des Forschungsprozesses die Bestimmung des Forschungsgegenstandes (→ Kapitel 1.2). Für Experteninterviews liegt eine differenzierte Diskussion des Gegenstandes vor, die ihre Quelle darin hat, dass die Befragtengruppe „Experten“ speziell über ihr „Sonderwissen“ definiert werden kann. Der Gegenstand „Expertenwissen“ ist dann konstitutiv für die Definition der Sonderform „Experteninterview“ und muss entsprechend genau bestimmt werden. Das Expertenwissen kann auf unterschiedliche Weise gefasst werden (Grundlage für die folgende Zusammenstellung: a.a.O., 34ff). Wenn dieses Wissen als „Deutungswissen“ bestimmt wird, wird ein Anschluss an eine rekonstruktive Tradition der qualitativen Forschung und an wissenssoziologische und konstruktivistische Ansätze hergestellt. Besondere Aufmerksamkeit hat in den letzten Jahren das „implizite Wissen“ („Tacit knowledge“) von Experten und Expertinnen im Rahmen der interpretativen Zugänge zu Organisationskulturen erfahren (z.B. Liebig 2001). Weniger rekonstruktiv, sondern eher pragmatischinformationsbezogen ausgerichtet ist das Interesse an Expertenwissen als „technischem Wissen“ im Sinne von Wissen z.B. über Anwendungsroutinen und als „Prozesswissen“ im Sinn von fachlichem, praktischem Erfahrungswissen.
Grad der Strukturierung des Erhebungsinstruments Allgemein gilt, dass eine Passung von Forschungsgegenstand und methodischen Strategien zu erreichen ist. Für Experteninterviews wird allgemein eine stärkere Strukturierung als sinnvoll angesehen, wobei der Grad der Strukturierung im Einzelnen davon abhängt, ob eher Informationen oder Deutungswissen erhoben werden soll. Ein rein narratives Interview wird nicht als geeignet angesehen und ein (flexibel gehandhabter und der Sprache des oder der Befragten angepasster) Leitfaden empfohlen (Meuser 2005, 77). Als Vorteil wird genannt: Ein Leitfaden – – –
wird dem thematisch begrenzten Interesse an Expertenwissen gerecht, wird dem Status des oder der Befragten als Experte bzw. Expertin gerecht, die interviewende Person stellt sich nicht inkompetent dar.
Trinczek (2005) hat auf die phasenabhängige Notwendigkeit der Strukturierung hingewiesen: Während zu Beginn des Interviews eine Strukturierung mit einem Leitfaden sinnvoll und notwendig ist, können im weiteren Verlauf des Interviews, abhängig vom Thema, eine Öffnung und eine Zurücknahme der Vorstrukturierung angesagt sein. Die Erarbeitung des Leitfadens folgt nicht dem in Kapitel 5.3 vorgeschlagenen Vorgehen, sondern es werden stärker strukturierende, weniger Narrationen erzeugende Fragen aufgelistet (→ Kapitel 5.3). 164
Die Interaktionssituation Für Interviews mit Experten und Expertinnen wird wie für qualitative Interviews allgemein die naive Annahme abgelehnt, ein Experte oder eine Expertin sei Lieferant objektiver Informationen, und es wird ein erhöhter Reflexionsbedarf in methodologischer Hinsicht erkannt. Wie auch in diesem vorliegenden Manual wird die Interviewsituation als Kommunikations- und Interaktionssituation betrachtet, in der die Auskunftsbereitschaft der Befragten hergestellt, gefördert oder eingeschränkt wird. Der Reflexionsbedarf bezieht sich auf die Gestaltung der Interviewsituation und der Rollenkonfiguration in der Interviewsituation mit ihren Folgen für den Interviewverlauf und die Auskunftsbereitschaft. Eine Besonderheit von Experteninterviews allgemein ist dabei, dass die Interaktion entweder dem Modell „Auf gleicher Augenhöhe“ folgt oder als hierarchisches Gefälle zwischen Experten und Laien ausgestaltet ist (verbunden mit anderen Hierarchie herstellenden Merkmalen wie Alter und Geschlecht, die jeweils mit impliziten Kompetenzzuschreibungen verbunden sind: Laien, Jüngeren und Frauen wird weniger Expertise zugetraut). Die Auswirkungen dieser Konstellationen Interviewte – Interviewende auf die Produktion von Interviewtexten sind klar erkennbar. Entsprechende Hinweise, wie die Interviewsituation bei Experten unter Nutzung dieses Wissens strategisch gestaltet werden kann, finden sich bei Bogner/Menz (2005, 50ff), Gläser/Laudel (2009, 172ff) und Abels/Behrens (2005; zu Besonderheiten der Geschlechter- und Alterskonstellation bei Interviewenden und Befragten: → Kapitel 4.3). Neben der stärkeren Strukturierung des Leitfadens, die durch das Interesse an Fakteninformationen gerechtfertigt wird, ist die Ausrichtung des Interviews an den Regeln der Kommunikation wesentlich, wie Experten und Experten sie in ihren Wissenskulturen und Arbeitszusammenhängen etabliert haben. Dies kann – muss aber nicht: auch dies hängt davon ab, wer zu was befragt werden soll –, vor allem darauf hinauslaufen, Fragen so präzise zu formulieren, dass eine optimale Beantwortbarkeit im Sinne eines Abrufens von Expertenwissen in kurzer Zeit möglich ist. Zeit kann für Experten und Expertinnen eine kostbare Ressource sein, die im Interview nicht über Gebührt strapaziert werden sollte. Als Fazit: Gemeinsam ist allen Formen von qualitativen Interviews, dass der Text in einer Interviewsituation als Interaktions- und Kommunikationssituation erzeugt wird. Darüber hinaus sind einige der in den vorangegangenen Kapiteln vermittelten Inhalte zu präzisieren, wenn es um Experteninterviews geht: Der Expertenstatus ist zu definieren, das Expertenwissen, das erhoben werden soll, zu präzisieren (→ Kapitel 1.2) und strategische Überlegungen zur Ausgestaltung der Rollenkonfiguration in der Interviewsituation sind anzustellen (→ Kapitel 4.3). Interviews, die Fakteninformationen erheben sollen – und dies gilt für alle auf Fakteninformationen ausgerichteten Interviewformen, auch für sol165
che, die nicht mit Experten geführt werden -, sind robuster. Sie vertragen mehr Steuerung und strukturierende Eingriffe durch den Leitfaden und konkreter zugespitzte Fragen, die als Antwort die Informationen abrufen und nicht Narrationen initiieren (→ Kapitel 2 und 3). Die „Wahrheitsfrage“ stellt sich anders: Die Informationen werden als wahr unterstellt und nicht als Konstruktion, deren Sinngehalt es zu entschlüsseln gilt (→ Kapitel 2.5).
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5 Interviewplanung und Intervieworganisation
In den Kapiteln 2 bis 4 konnte das Wissen über Regeln der Verständigung im Interview erworben, die strategische Handhabung dieser Regeln erlernt und die Grundhaltung, die das Besondere qualitativer Interviews ausmacht, eingeübt werden. Nun geht es um das, auf das manche schon warten mögen: um die praktische Umsetzung und die konkreten Schritte der Interviewdurchführung. Zunächst einmal wird eine Hilfe gegeben, um die im Forschungsprozess bereits getroffenen Entscheidungen, u.a. die Entscheidung für eine bestimmte Interviewform, zu bilanzieren (→ Abschnitt 5.1). Die folgenden Abschnitte sind Einzelaspekten gewidmet: der Stichprobenfestlegung, Kontaktaufnahme und Interviewanbahnung (→ Abschnitt 5.2), der Erstellung eines Leitfadens (exemplarisch für teilnarrativ ausgerichtete Interviews, die Fragen zulassen: → Abschnitt 5.3), der Handhabung von Datenschutzbestimmungen (→ Abschnitt 5.4) und der Dokumentation des Forschungsprozesses (→ Abschnitt 5.5).
5.1 Forschungsstrategische Entscheidungen in der Interviewplanung Wie jede andere Forschung ist auch qualitative Forschung eine „Abfolge von Entscheidungen“ (Flick 1995, 148), die bewusst zu treffen sind. Es ist ein schlichtes Gebot wissenschaftlichen Arbeitens – und notwendig, soll das Gütekriterium der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit des Forschungsprozesses erfüllt sein –, diese Entscheidungen auszuweisen und das Vorgehen als dem Forschungsgegenstand angemessen zu begründen. Die folgende Liste von Forschungsentscheidungen kann helfen, den aktuellen Stand des Forschungsprojektes, in dessen Rahmen Interviews durchgeführt werden sollen, zu bilanzieren oder aber noch offene Entscheidungen vor dem Hintergrund des inzwischen erworbenen Wissens zu treffen.
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Entscheidungsschritte Der erste Komplex von Entscheidungen betrifft die Grundlagen und dürfte der schwierigste sein. Er besteht darin, den Forschungsgegenstand, seine theoretische Verortung, die Interviewform und die Auswertungsstrategien festzulegen – zwischen diesen Aspekten besteht ein enger Verweisungszusammenhang. (1) Entscheidung für einen (präzisen) Forschungsgegenstand: Das Thema hat eine inhaltliche Fassette (z.B. Arbeitslosigkeit, Krankheit, moralische Begründungen etc.) und eine theoretisch-methodologische, die den Status dessen bestimmt, was da als Ergebnis präsentiert werden soll: Sollen Deutungsmuster, subjektive Theorien, latente Sinnstrukturen, Bewältigungsmuster (von Arbeitslosigkeit, Krankheit …), Relevanzsysteme, narrative Identität etc. untersucht werden? Für mit diesen wichtigen Feinheiten wenig Vertraute ist es sinnvoll, sich anhand von Übersichtsartikeln in den Handbüchern (z.B. Flick 1996, Flick/v. Karorff/Steinke 2000) oder von beispielhaften Forschungen, in deren theoretische Tradition sich das Vorhaben einordnen lassen könnte, eine Orientierung zu verschaffen und sich für einen Zugang zu entscheiden. Die Entscheidung für einen Forschungsgegenstand umfasst die Entscheidung für bestimmte Basisannahmen und theoretische Prämissen (→ Abschnitt 1.2). Grundsätzlich ist zu unterscheiden, ob es mehr – – –
um die Frage geht, wie Menschen sprechen, um daraus Schlüsse für einen gemeinten Sinn oder Deutungsmuster zu ziehen, darum geht, ein Problem mit Menschen zusammen zu erarbeiten, und dabei auch z.B. unbewusste oder verdeckte Anteile – auch gegen den Widerstand der Befragten – zur Thematisierung zu bringen, um Informationen und Inhalte geht (ist dann ein qualitatives Verfahren angemessen?).
(2) Entscheidung für eine Zielgruppe und eine Eingrenzung der Stichprobe (→ Abschnitt 5.2): Wer soll überhaupt interviewt werden? Welcher Grad an Verallgemeinerbarkeit wird angestrebt? Wie viele Interviews sind zu führen, damit (für wen) die Ergebnisse in welchem Grad verallgemeinerbar sind? Auch diese Entscheidungen können eng mit den Entscheidungen unter (1) und (3) zusammenhängen, wenn z.B. an die Bedeutung von Einzelfallanalysen für die objektive Hermeneutik gedacht wird. (3) Entscheidung für eine Interviewform: Diese Entscheidung hängt nun von den vorherigen Entscheidungen ab, da bestimmte theoretische Traditionen bestimmte Interviewformen verlangen. Möchte ich biografische Verlaufsmuster untersuchen, sollte ich narrative Interviews führen, will ich zu einem eher tabuisierten Thema forschen, muss ich mich für LeitfadenInterviews mit Nachfragemöglichkeiten entscheiden. Soll das Aufdecken verdeckter Anteile im Interview über eine gemeinsame „Arbeit“ an ei168
nem Thema ermöglicht werden, sind monologische Interviewformen ausgeschlossen. Folge ich der Tradition der objektiven Hermeneutik, kann ich mit einer Einzelfallstudie Fallstrukturen rekonstruieren. Für viele theoretische Verortungen, z.B. wenn „subjektive Alltagstheorien“ oder „subjektive Konzepte“ untersucht werden sollen, sind die methodischen Festlegungen bezogen auf die Interviewform nicht ganz eng und Mischformen – so offen und monologisch wie möglich, so strukturiert und dialogisch wie nötig – können empfohlen werden (→ Abschnitt 1.3). (4) Entscheidung für eine Auswertungsstrategie: Auf diesen Aspekt wird hier nur insoweit eingegangen, als wiederum die Bestimmung des Forschungsgegenstandes, die Auswertungsstrategien und die Interviewform eng zusammenhängen und die Entscheidungen unter (1), (2) und (3) hier schon eine Vorentscheidung für (4) bedeuten können. Mit diesen Entscheidungen ist der Hauptteil der Entscheidungsarbeit geleistet. Weitere Entscheidungen betreffen Einzelaspekte der Umsetzung. Insbesondere ergeben sich aus der Wahl der Interviewform Folgerungen für den Handlungsspielraum der Interviewenden, so wie es in den → Abschnitten 1.3 und 3.5 dargestellt wurde. Die Entscheidungen unter (5) sind damit weitgehend nicht mehr offen. (5) Entscheidungen und Klärungen bezogen auf das Interviewerverhalten: Wir haben mehrfach betont, wie wichtig es ist, dass die Handlungsspielräume für Interviewende klar gefasst sind. Interviewende müssen wissen, wie sie die den qualitativen Verfahren strukturell inhärenten Spannungsverhältnisse z.B. zwischen Vertrautheit und Fremdheit, zwischen Offenheit und Strukturierung situativ ausgestalten können – – – –
bezogen z.B. auf die Grundhaltung der Offenheit (→ Abschnitt 3.6), bezogen auf den Umgang mit strukturierenden Interventionen (zugelassene Frageformen, Handhabung von Nachfragen: → Abschnitt 3.5), bezogen auf die Handhabung von Interessenbekundung, nonverbalen Signalen, Dosierung von Empathie (→ Abschnitt 3.4), Umgang mit Widersprüchen und Inkonsistenzen (→ Abschnitte 2.5 und 3.3). In diesen Zusammenhang gehören auch – sofern relevant – Festlegungen, wie die Interviewenden eingeführt und qualifiziert werden und ihnen die nötigen Kompetenzen vermittelt werden (z.B. Schulung, Einführung in das Projekt, Probeinterview, Einbezug in die Auswertungen).
Es folgen eine Reihe von Entscheidungen, die die Ausgestaltung der Beziehung zwischen Interviewenden und Erzählpersonen betreffen: (6) Entscheidung bezogen auf die Fremdheit/Vertrautheit der Akteure: Festlegung, wer wen interviewt, insbesondere unter Berücksichtigung des Kriteriums der Kongruenz oder Inkongruenz des Erfahrungshintergrundes (→ Abschnitt 4.1). 169
(7) Entscheidungen zur Profilierung der professionellen Rolle im Vorfeld: Festlegung, wie, in welchem Kontext und mit welchen Positionierungen das Projekt vorgestellt wird (und damit Entwurf, welches Verhältnis zwischen Interviewenden und Erzählpersonen bestehen soll) und wie ausführlich den potenziellen Erzählpersonen die Zielsetzung und das Vorgehen erklärt wird; Festlegung, wie (persönlich) sich die Interviewer und Interviewerinnen selbst vorstellen. In diesem Zusammenhang müssen sowohl mündliche als auch schriftliche Vorstellungen (Informationsblatt für Interviewte) erprobt werden (→ Abschnitte 5.2 und 6.2); Festlegung der Selbstpräsentation gegenüber der Erzählperson: kompetent und mit Vorwissen oder naiv und unwissend, Betonung von gemeinsamem Hintergrund oder Fremdheit (s.o.; → Abschnitte 4.1 und 4.2). (8) Entscheidungen zur Profilierung der professionellen Rolle im Interview: Festlegung der Rolle der Interviewenden und des Umgangs mit Machtaspekten im Interview (→ Abschnitt 4.3). (9) Entscheidung zur Ausgestaltung der räumlichen Aspekte: Festlegung des Ortes, an dem das Interview stattfinden soll, und der räumlichen Ausgestaltung der Situation (→ Abschnitt 5.2) unter der Maßgabe, dass damit u.U. eine Rollenpositionierung verbunden ist; Festlegung, ob die Erzählperson den Ort wählen darf. (10)Entscheidungen für das Verhalten der Interviewenden in schwierigen Interviewsituationen: Festlegung von Vereinbarungen z.B. zum Umgang mit Störungen durch Dritte, den Umgang mit emotionalen Belastungen etc. (→ Abschnitte 4.4 bis 4.6). Es ist über weitere konkrete Vorbereitungen zu entscheiden: (11)Entscheidungen bezüglich der Ausgestaltung der Instrumente: Festlegung des Eingangsstimulus bei narrativen Interviews (→ Abschnitt 3.5; für narrative Interviews: Lucius-Hoene/Deppermann 2002, 293ff) und eventuell weiterer Fragen und Vereinbarungen für den Nachfrage- und Bilanzierungsteil (a.a.O., 296f); bei problemzentrierten Interviews Festlegung von Stichworten und/oder Erarbeitung eines Leitfadens, bei Mischformen Erarbeitung eines Leitfadens (→ Abschnitt 5.3). (12)Entscheidung für Rekrutierungswege: Festlegung der Zugangswege zu den Erzählpersonen (→ Abschnitt 5.2) und Strategien der Motivierung (Anreize für die Teilnahme?). (13)Entscheidungen zum Umgang mit ethischen Aspekten: Festlegung des Umgangs mit ethischen Aspekten des Vorhabens und mit dem Datenschutz (insbesondere Anonymisierungsstrategien), Erstellen von Einwilligungserklärungen und Datenschutzverpflichtungen (→ Abschnitt 5.4). Eine besondere Verpflichtung, Schaden von Erzählpersonen zu verhindern und abzuwenden, ergibt sich bei Interviews mit stark belasteten Menschen. Weitere Entscheidungen betreffen Durchführungsdetails:
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(14)Entscheidungen über die zeitliche Durchführung: Festlegung, ob ein Vorgespräch stattfinden soll, ob einmalige Interviews oder mehrere Interviewtermine stattfinden sollen; Festlegung der voraussichtlichen Interviewdauer. (15)Entscheidungen über die personelle Durchführung: Festlegung wie viele1 Interviewende wie viele Erzählpersonen (z.B. Paare2) bei einem Interview interviewen. Schlussendlich gibt es eine Reihe von technischen Entscheidungen zu treffen: (16)Entscheidungen bezogen auf die Forschungsdokumentation: Erstellung von entsprechenden Formularen (→ Abschnitte 5.2 und 6.2). (17)Entscheidung bezogen auf die Fortführung der Interviewerqualifizierung in die Auswertungsphase hinein: Festlegung der Auswertung von Probeinterviews und regulär durchgeführter Interviews unter Einbezug der Interviewenden. Aus unserer Erfahrung ist dies absolut sinnvoll, da der größte Lerneffekt über die direkte Verbindung zur praktischen Durchführung von Interviews erzielt werden kann. Einige Entscheidungen führen über die konkrete qualitative Erhebung hinaus: (18)Entscheidung über den Einsatz weiterer Instrumente: Festlegung, ob weitere Instrumente zum Einsatz kommen, z.B. ein Fragebogen, um am Ende des Interviews weitere Angaben festzuhalten. Dies kann die Interviewsituation von dem reinen Fakten-Aufnahme-Interesse der Forschung entlasten. Weiterführende Literatur: Schritte der Forschungsarbeit Allgemeine Darstellungen: Flick 1995; Przyborski/Wohlrab-Sahr (2008) Für Interviewformen: Für narrative Interviews ausführlich: Lucius-Hoene/Deppermann (2002); für Leitfaden-Interviews → Abschnitt 5.3 Zur Einzelaspekten: Friedrichs 1990 zu Erhebungssituation, Fehlerquellen; Hermanns 2000 zur Gestaltung der Interviewsituation
5.2 Praktische Einzelaspekte: Die Festlegung der Stichprobe, der Zugang zu Erzählpersonen und die Ausgestaltung der Interviewsituation Die Entscheidungen sind z.T. mit praktischen Arbeitsschritten verbunden. Die konkreten praktischen Schritte, die absolviert werden müssen, sind hier noch einmal in der chronologischen Reihenfolge zusammengestellt:
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Zu „Tandem-Interviews“ mit zwei Interviewenden: Hoff 1985 Zu Paar-Interviews: Bock 1992
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Treffen von grundlegenden Entscheidungen und damit verbundene Klärungen (→ Abschnitt 5.1), Bestimmung der Stichprobe (→ Abschnitt 5.2), Erstellung der Instrumente – Erarbeitung der Erzählaufforderung(en) oder eines Leitfadens (→ Abschnitt 5.3), Erstellung von Unterlagen zur Projektvorstellung (→ Abschnitte 5.2 und 6.2), Rekrutierung der Erzählpersonen (→ Abschnitt 5.2), Vorbereitung von Unterlagen für den Datenschutz (Informationsblatt, Einwilligungserklärung; → Abschnitt 5.4 und 6.2), Erstellung eines Protokollformulars für die Interviews (→ Abschnitte 5.5 und 6.2), Vorbereitung des Interviewortes, technische Vorbereitung (→ Abschnitt 5.2), Vorbereitung der Intervieweinführung (→ Abschnitt 5.2), Erstellung von Formularen für die projektbegleitende Dokumentation.
In den folgenden Abschnitten werden Hilfen für diese Schritte gegeben.
Die Stichprobe Die Frage, wer befragt werden soll und für wen die Ergebnisse gültig sein sollen, erscheint einfacher, als sie ist. Es sollen hier nur einige grundsätzliche praktische Aspekte aufgegriffen werden, da diese Aspekte nicht mehr direkt zu der Interviewschulung gehören; auf weiterführende Literatur (insbesondere Merkens 1997 und 2000) wird verwiesen,. Fragen der Stichprobe hängen mit Fragen der Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse zusammen, die wiederum ein grundsätzliches Problem qualitativer Forschung darstellt. Wird keine Verallgemeinerbarkeit angestrebt, kann das qualitative Material nur den Status der Illustration beanspruchen, nicht aber den Status empirischer Daten. In der standardisierten Forschung ist die Verallgemeinerbarkeit an das Kriterium der Repräsentativität gebunden, das dann erfüllt ist, wenn die Stichprobe in ihrer Zusammensetzung nach Geschlecht, Alter und sonstigen relevanten Merkmalen, wie z.B. Bildung, Ausländeranteil oder Familienstand und Kinderzahl, der Zusammensetzung der Grundgesamtheit entspricht. Falls dies gilt, kann z.B. eine in einer Bevölkerungsstichprobe gewonnene Aussage auf die gesamte Bevölkerung verallgemeinert werden. Abgesehen davon, dass wir nicht immer wissen, wie sich die interessierende Grundgesamtheit zusammensetzt3, ist diese Repräsentativität für qualitative Stichproben kein sinnvolles Kriterium.
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So wissen wir nicht, wie sich die Grundgesamtheit aller Personen, die illegale Drogen konsumieren, oder aller Menschen, deren Partner(in) wegen häuslicher Gewalt aus der Wohnung gewiesen wurde, zusammensetzt. Für Aussagen über regional definierte so-
Qualitative Forschung zielt auf das Besondere. Hier – und insbesondere bei Einzelfallanalysen – stellt sich die Frage, ob und wie das Allgemeine im Besonderen zu fassen ist. Die Antwort hängt wiederum von theoretischen Prämissen und von der Konzipierung des Forschungsgegenstandes ab: Gerade im Bereich der objektiven Hermeneutik wird davon ausgegangen, dass die zu Grunde liegenden latenten Sinnstrukturen bereits anhand des Einzelfalls bestimmt werden können und eine objektive Gültigkeit über diesen Fall hinaus haben. Auch wenn die Positionen zur Aussagekraft von Einzelfallstudien strittig sind, so ist doch allgemein anerkannt, dass Verallgemeinerungen von Interpretationen qualitativer Interviews auf die Rekonstruktion typischer Muster und nicht auf Verteilungsaussagen wie in der standardisierten Forschung zielen. Wann aber lässt sich berechtigt annehmen, dass die eigene Stichprobe für eine Gruppe typische Muster abbildet? Was ersetzt das Kriterium der Repräsentativität? Die Artikel von Merkens (1997, 2000) liefern eine Fülle von Hinweisen zur Stichprobenkonstruktion bei unterschiedlichen theoretischen Zugängen. Ergänzt werden soll hier eine Variante, in der mehrere Überlegungen zusammengeführt werden und die zu den in diesem Manual behandelten Interviewformen bei einem angepeilten „mittleren“ Stichprobenumfang – bei qualitativen Interviews wäre dies eine Größenordnung zwischen 6 und 30 Interviews – passt4. Um zugleich die Stichprobe festzulegen und die Verallgemeinerbarkeit einschätzen zu können, kann ein dreistufiges Vorgehen von Verengung, Gewinn an Breite und (eventuell erneuter) Verengung der Gruppendefinition5 gewählt werden: –
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Es empfiehlt sich, in einem ersten Schritt das inhaltliche Interesse an bestimmten Gruppen zu präzisieren: Sollen z.B. generelle Aussagen über typische Muster von Drogenkarrieren angestrebt werden oder macht es Sinn, die Frage für eine bestimmte Altersgruppe, für bestimmte illegale Drogen oder für eine bestimmte Region (z.B. Frankfurt/Main oder Hochschwarzwald) zu stellen? Sinnvoll sind möglichst enge und präzise Bestimmungen. In einem zweiten Schritt sollte das Kriterium der „inneren Repräsentation“, das als Gütekriterium für Stichproben das Kriterium der Repräsentativität ersetzt, beachtet werden. Nach Merkens (1997, 100) ist eine „angemessene Repräsentation in diesem Sinne (…) immer dann erreicht, wenn einerseits der Kern des Feldes in der Stichprobe gut vertreten ist und andererseits auch die abweichenden Vertreter hinreichend in die Stichprobe aufgenommen worden sind.“ Die Stichprobe sollte also maziale Gruppen kann in der Regel auf Daten der Statistischen Landesämter oder des Statistischen Bundesamtes (Mikrozensus etc.) zurückgegriffen werden. Für Forschung nach dem Muster der Gounded Theory würde sich eine andere Herangehensweise ergeben. Bei standardisierten Verfahren wird der Begriff der „Grundgesamtheit“ verwendet, in der ethnografischen Tradition spricht man eher vom komplexer vorgestellten „Feld“.
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ximal unterschiedliche und ebenso als typische geltende Fälle umfassen (vgl. Merkens 2000, 291f). Diese Konstruktion der Stichprobe erschwert über die gewollte Heterogenität vorschnelle Verallgemeinerungen. In einem dritten Schritt ist nach der Durchführung der Interviews noch einmal zu prüfen, welche Konstellationen nicht in der Stichprobe vorkommen. Konnten z.B. nur männliche Drogenabhängige interviewt werden, kann keine Aussage über typische Karrieremuster bei drogenabhängigen Frauen gemacht werden. Steinke (2000) formuliert ein Prinzip der „Limitation“ als ein Gütekriterium qualitativer Forschung, das gerade die Überprüfung des Geltungsbereichs der Aussagen am Ende der Erhebung beinhaltet. Ihre Überlegungen können hier sinngemäß übertragen werden.
Das Prinzip umfasst also eine enge Fassung der Gruppe, um die es gehen soll, eine breite Variation innerhalb dieser Gruppe und zum Schluss möglicherweise noch einmal eine Verengung der Gruppendefinition und damit eine Limitation der Aussagekraft. Anders als bei standardisierten Verfahren kann bei qualitativen Verfahren meist die Stichprobe Schritt für Schritt gezogen bzw. vervollständigt werden. Das wiederum ermöglicht eine Berücksichtigung des Prinzips der „Bildung von Gegenhorizonten“, dem v.a. in der Interpretation eine besondere Bedeutung zukommt (Bohnsack 1999 für Gruppendiskussionsverfahren). Für die Stichprobenkonstruktion bedeutet es, dass sukzessive kontrastierende Extreme in die Stichprobe aufgenommen werden. So könnten einem Interview zur Drogenkarriere mit einer in jungem Alter eingestiegenen und rasch verelendeten Frau ein Interview mit einem spät eingestiegenen und über Jahre kontrolliert konsumierenden Mann gegenüber gestellt werden oder einem Interview mit einer Drogenabhängigen aus Frankfurt ein Interview mit einer Drogenabhängigen aus dem Hochschwarzwald (dies sind nicht unbedingt übertragbare Beispiele; die konkreten Entscheidungen müssen jeweils für den Forschungsgegenstand ausgewiesen werden). Der Vorschlag, in die Stichprobe eine maximale Variation und extreme Fälle einzuführen, ermöglicht solche Kontrastierungen, wobei in der Interpretation der eine Fall einen „Gegenhorizont“ abgibt, vor dem die jeweiligen Besonderheiten des anderen Falls klarer zutage treten. –
Die praktische Umsetzung kann darin bestehen, vorab ein Schema festzulegen, welche (kontrastierenden) Merkmale in der Stichprobe vertreten sein sollen, oder die Stichprobe erst sukzessive aufzubauen, indem der (n+1)te Fall danach ausgesucht wird, wie er in kontrastierender Relation zu den bisher interviewten (n) Fällen steht (vgl. auch „theoretical sampling“; ergänzt nach Merkens: mit Berücksichtigung des „Kerns“ des Feldes: s.o.).
Ein einfacher Prüfstein dafür, ob eine Verallgemeinerung statthaft ist, bietet das Saturierungsprinzip. Als saturiert gilt eine Stichprobe, wenn noch zusätz-
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lich durchgeführte Interviews keine neuen Informationen mehr erbringen und mit den durchgeführten Interviews der Erkenntnisgewinn abge“sättigt“ ist (Bertaux 1981). –
Die praktische Umsetzung des Saturierungsprinzips ist nur bei einer etwas größeren Stichprobe und bei einer Flexibilität bei der Festlegung der Anzahl der geführten Interviews möglich. Dann wird nicht der Umfang der Stichprobe vorab festgelegt, sondern so lange interviewt, bis keine neuen Informationen oder Typen zu den bisherigen Informationen oder Typen hinzukommen.
Zur Anzahl der Interviews (Umfang der Stichprobe) Der mögliche Stichprobenumfang beginnt bei N=1 – auf die Rolle von Einzelfallanalysen wurde bereits hingewiesen. Wie auch immer der Umfang gewählt wird, er ist in seiner Angemessenheit, was die Konzeption des Forschungsgegenstandes, die angestrebte Verallgemeinerbarkeit und die Festlegung der Auswertungsstrategien angeht, zu begründen. Prinzipiell gilt: Je weniger Fälle untersucht werden, desto intensiver ist das Auswertungsverfahren gestaltet. Übliche Stichprobengrößen jenseits von Einzelfallstudien beginnen bei einer hermeneutischen Interpretation mit N=6 (eine Größe, die auch bei Diplomarbeiten erreicht werden kann) bis N=120. In den meisten Fällen sind die Ressourcen limitierende Randbedingung. Insbesondere sind qualitative Interviews aufgrund der Sorgfalt, die auf die Transkription verwendet werden muss, zeitaufwändig und teuer.
Zugang zu Erzählpersonen und Kontaktanbahnung In der Praxis werden die Auswahl der Erzählpersonen und der Umfang der Stichprobe häufig durch die Zugänglichkeit gesteuert. In Betracht gezogen werden können mehrere Zugangswege, die jeweils ihre eigenen Vor- und Nachteile haben: –
Zugang über „Türwächter“ (Gatekeeper): Schlüsselpersonen in Institutionen wie z.B. Selbsthilfeorganisationen, Beratungsstellen, Personalratsmitglieder übernehmen es, Kandidaten und Kandidatinnen für ein Interview anzusprechen. Die Auswahlkriterien sind vorab festzulegen. Ein Vorteil ist die Erleichterung des Kontaktes, da eine bekannte bzw. Vertrauensperson um die Teilnahme bittet. Nachteile sind mögliche Verzerrungen durch eine Selektion auf Seiten des Türwächters und eine Verschärfung der Datenschutzproblematik. Aufgrund von Datenschutzbestimmungen können Türwächter nicht Namen, Telefonnummer oder Adresse weitergeben, sondern sie müssen die potenziellen Erzählpersonen erst um ihr Einverständnis bitten. 175
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Beim Schneeballsystem werden Personen, die man kennt, gefragt, ob sie Personen kennen, die bestimmte Kriterien für die Interviewteilnahme erfüllen, oder ob sie Personen kennen, die wiederum Personen kennen etc. Am Ende von durchgeführten Interviews können auch die Interviewpartner oder -partnerinnen nach weiteren Kontakten gefragt werden, d.h. sie können ihrerseits als „kleine“ Gatekeeper den Zugang zu anderen Erzählpersonen öffnen. Ein Vorteil ist die Möglichkeit, bestimmte Kriterien festzulegen und so die Suche gezielt zu gestalten (z.B.: Gesucht wird noch eine Drogenabhängige mit Kindern). Nachteilig ist, dass die Rekrutierungskreise möglicherweise zu homogen und eng bleiben.
Für den Gatekeeper-Zugang ebenso wie für das Schneeballsystem sind Projektinformationen vorzubereiten, die weitergegeben werden können. –
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Aushänge, Flyer, Anzeigen, auf die hin sich Interessierte melden (Selbstmelder), sind ein weiterer Rekrutierungsweg. Ein Vorteil ist die in der Regel hohe Teilnahmemotivation derjenigen, die sich melden. Darin liegt aber auch der Nachteil: Die Interessierten sind in der Regel eine besondere Teilgruppe derer, über die Aussagen gemacht werden sollen. Bei der Koppelung der qualitativen Befragung an standardisierte Verfahren kann am Ende eines Telefon- oder face-to-face-Interviews die Bereitschaft zu einem weiteren, diesmal qualitativen Interview erfragt werden. Nach unseren Erfahrungen ist die Teilnahmebereitschaft relativ hoch. Ein Vorteil ist die Möglichkeit einer gezielten Auswahl; nachteilig kann sich auswirken, dass die Erzählpersonen von dem Inhalt der standardisierten Befragung auf einen möglichen Inhalt des qualitativen Interviews schließen.
Erste Projektvorstellung Auf die Bedeutung der ersten Kontaktaufnahme mit einem Informationsblatt oder am Telefon wurde bereits unter dem Aspekt der Rollenpositionierung hingewiesen (→ Abschnitt 4.3, Übung 21). Insgesamt sind aber weitere Informationen zum Projekt, zur Durchführung und zum Datenschutz zu vermitteln. In → Abschnitt 6.2 findet sich eine Zusammenstellung, welche Angaben für die telefonische Vorstellung relevant sind. Die beiden häufigsten Fehler bei einer Telefonkontaktierung sind eine zu komplizierte Sprache und ein „Zuschütten“ mit Informationen. Es ist hier nicht einfach abzuwägen, wie viel konkrete Vorinformationen vermittelt werden sollen: Einerseits soll die Erzählperson wissen, um was es geht, andererseits soll sie nicht die Vorstellung gewinnen, es werden Erzählungen zu bestimmten thematischen Aspekten von ihr verlangt, obwohl auch andere Aspekte wichtig wären (LuciusHoene/Deppermann 2002, 265f). Die Vorstellung ist unbedingt zu üben, um sich an eine einfache Sprache und an eine gewisse Langsamkeit zu gewöhnen und der Erzählperson Zeit 176
zum Einbringen ihrer Bedenken und ihres Interesses zu lassen. Ein Informationsblatt sollte ähnliche Informationen enthalten, wie am Telefon vermittelt wurden. Hier wird insbesondere bereits formuliert, welche Art von Erzählung von der Erzählperson erwartet wird (dies ist besonders wichtig bei narrativen Interviews: Flick 1996, 122).
Die Ausgestaltung der Interviewsituation Prinzipiell kann jeder Ort für ein Interview gewählt werden, solange die Bedingungen einer ungestörten Aufmerksamkeit und guten Akustik, die eine Tonbandaufnahme ermöglicht, erfüllt sind. Zu beachten ist, dass ein Büro in einem Institut eine andere Positionierung vermittelt als das Wohnzimmer der Erzählperson. Die Erzählperson selbst bestimmen zu lassen, wo das Interview durchgeführt wird, hat den Vorteil, dass es dort geführt werden kann, wo sie sich wohl und sicher fühlt, hat aber den Nachteil, dass sehr unterschiedliche Intervieworte gewählt werden. Allerdings kann auch die Wahl des Ortes als „Erkenntnismittel“ reflektiert werden: Es sagt z.B. etwas über eine Erzählperson, die bei ihren Eltern wohnt, aus, ob sie keinesfalls oder unbedingt möchte, dass das Interview dort durchgeführt wird. Es sollte bei der Vereinbarung darauf geachtet werden, dass für die angekündigte Interviewzeit keine weiteren Personen stören. Im Einzelnen ist das Ausmaß zu tolerierender Einbindung dritter Personen für ein spezielles Projekt neu zu entscheiden. In jedem Fall ist genügend Zeit einzuplanen: Interviews können länger dauern als angekündigt! Wenn das Interview nicht projektextern (z.B. bei Erzählpersonen zuhause) stattfindet und der Raum hergerichtet werden kann, ist auf die Sitzanordnung zu achten: Am günstigsten ist eine Anordnung der Stühle an einem Tisch über Eck, schräg einander gegenüber. Ein frontales Gegenübersitzen „wirkt leicht bedrohlich und zwingt den Klienten, Sie direkt anzuschauen oder aber dem Blick deutlich auszuweichen“ (Weinberger 2002, 192). An einem Tisch zu sitzen, vermeidet eine eher Unsicherheit auslösende, offene Sitzhaltung. Zu klären und vor allem einzuüben sind auch die Begrüßung und die Einführungsworte, in denen noch einmal das Vorgehen erläutert und auf Fragen der Erzählperson eingegangen werden kann. Wenn Getränke gereicht werden sollen, sind sie vorher bereit zu stellen. In dieser Eingangsphase ist eine offene und freundliche Atmosphäre herzustellen und die Bereitschaft, an einem Interview teilzunehmen, ist zu würdigen. Es kann für den Einstieg auch hilfreich sein, Zeit zu haben für ein informelles alltagskommunikatives Gespräch. Darüber hinaus sind bestimmt Dinge vorzubereiten: – –
Bei den Unterlagen der Interviewenden sollte sich ein nach dem Interview auszufüllender Protokollbogen (→ Abschnitte 5.5 und 6.2), ein Informationsblatt für die Erzählperson und
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eine Einwilligungserklärung befinden. Der Datenschutz (→ Abschnitt 5.4) erfordert diese beiden zuletzt genannten Unterlagen. Vorschläge für Formulare sind im → Abschnitt 6.2 zu finden, eine Visiten- oder Kontaktkarte: Diese Karte soll den Erzählpersonen die Kontaktaufnahme ermöglichen, wenn sie z.B. Interesse an weiteren Informationen oder auch an der Abschrift des Interviews bzw. der Cassette haben. Da die Adressen der Befragten von Seiten des Forschungsprojektes vernichtet werden müssen (→ Abschnitt 5.4), gibt es nur zwei Möglichkeiten, diese Wünsche umzusetzen: Die Erzählperson nimmt von sich aus Kontakt auf oder sie erklärt sich gleich einverstanden, dass ihre Adresse zum Zweck des Zusendens von Material aufbewahrt wird. Eine Visitenkarte dazulassen, ist in jedem Fall empfehlenswert. Bei Interviews mit belasteten Menschen sollten die Interviewenden Adressen von Hilfeeinrichtungen parat haben.
Der Umgang mit der Technik ist vor dem Interview zu üben (zu der „Recorderangst“: Hermanns 2000, 362), d.h. die Ausstattung ist zu überprüfen (evtl. Ersatzbatterien mitbringen) und die Aufnahmequalität sollte, wenn möglich, vor Ort noch einmal getestet werden. Für die technische Ausrüstung werden heute Minidisc-Aufnahmegeräte bevorzugt. Eine von Kruse, Wenzel-Cremer und Cremer verfasste Anleitung für das Überspielen der Minidisc in den PC und für die Transkription am PC findet sich auf der Homepage des Instituts für Soziologie, Universität Freiburg. Weiterführende Literatur zu praktischen Aspekten der Durchführung Zur Stichprobenfestlegung und Frage der Verallgemeinerbarkeit: Merkens 1997 und 2000, Flick 1996, Kap. 7 für narrative Interviews allgemein: Lucius-Hoene/Deppermann 2002, 295ff
5.3 Konstruktion von Instrumenten – der Weg zu einem Leitfaden Nach der Entscheidung für eine Interviewform gehört zu den wichtigsten Vorarbeiten für ein qualitatives Interview die Klärung, was wie gefragt bzw. zu welchen Aspekten wie zu einer Erzählung aufgefordert werden soll. Diese Klärung mündet in die Erstellung eines „Instruments“, in dem Anweisungen für Fragen und Erzählaufforderungen festgehalten werden. Ein solches Instrument hat für unterschiedliche Interviewtypen eine unterschiedliche Gestalt. Für narrative Interviews bietet das Buch von Lucius-Hoene/Deppermann (2002, 295ff) eine detaillierte und hilfreiche Praxisanleitung, um die Erzählaufforderungen und Fragen, die für das Interview vorbereitet werden müssen, zu konzipieren. Das Instrument besteht hier aus der vorab formulierten Erzählaufforderung für den Hauptteil des Interviews (Stegreif- oder Spontanerzählung). Im zweiten Teil, dem Nachfrageteil, knüpfen die Interviewenden an 178
erzählte Inhalte an, wobei auch hier vorab Formulierungen überlegt und Stichworte gesammelt werden können. Im dritten Teil, dem Bilanzierungsteil, können dann neue Themen von den Interviewenden eingebracht und z.B. Bewertungen erfragt werden. Es wird empfohlen, bei Fragen nach Einstellungen oder Bewertungen mehrere Formulierungsvarianten parat zu haben. Auch wenn auf diese Weise quasi ein kleiner „Leitfaden“ entsteht, werden narrative Interviews in der Regel nicht als Leitfadeninterviews bezeichnet. Experteninterviews: Vorsicht bei weiten und unspezifischen Erzählaufforderungen Für Experteninterviews bzw. für Interviews, in denen Fakteninformationen abgefragt werden, kann der Leitfaden stärker strukturiert sein und die Fragen können direkter auf die relevante Information zielend formuliert sein. Thematische Sprünge sind möglich. Abhängig vom Forschungsgegenstand (Forschungsinteresse eher rekonstruktiv oder informationsbezogen) und der Verortung der Experten und Expertinnen in spezifischen Kommunikationskulturen sind zu unspezifische Erzählaufforderungen nicht zu empfehlen. Die Unterordnung von Fragen unter offene Erzählaufforderungen, wie sie in dem folgenden Verfahren vorgestellt wird, sollte bei der Konstruktion eines Leitfadens für ein Experteninterview nicht gegangen werden.
Da durch die Arbeit von Lucius-Hoene und Deppermann der Bereich der narrativen Interviews sehr gut abgedeckt ist, beschränkt sich die Darstellung hier auf Leitfadenkonstruktionen und insbesondere auf Mischformen zwischen narrativen und strukturierten Interviews. Ausführlich vorgestellt wird eine Form eines Leitfadeninterviews, bei dem ein großes Augenmerk darauf gerichtet wird, mit der Strukturierung immer wieder narrative Teilerzählungen zu generieren. Dieses Vorgehen, das sich für einen breiten Anwendungsbereich eignet, wird „teilnarrativ“ genannt.
Anwendungsbereich von Leitfaden-Interviews und Anforderungen Ob ein Leitfaden ein geeignetes Instrument ist, hängt in erster Linie vom Forschungsgegenstand ab (´ Abschnitt 1.2). Leitfaden-Interviews – in der hier vorgeschlagenen Form - eignen sich, wenn einerseits subjektive Theorien und Formen des Alltagswissens zu rekonstruieren sind und so maximale Offenheit gewährleistet sein soll, und wenn andererseits von den Interviewenden Themen eingeführt werden sollen und so in den offenen Erzählraum strukturierend eingegriffen werden soll. Diese Eingriffe sind durch das Forschungsinteresse zu legitimieren. Sie sind immer dann sinnvoll, wenn das Forschungsinteresse sich auf bestimmte Bereiche richtet und Texte zu bestimmten Themen als Material für die Interpretation braucht, eine selbständige Generierung solcher Texte aber nicht erwartet werden kann. Dies gilt z.B. für
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solche Aspekte, die in einem halböffentlichen Diskurs, wie es das Interview darstellt, nicht „thematisierungsüblich6“ sind, z.B. für bestimmte private Aspekte der Biografie. Der zweite große Anwendungsbereich von Leitfadeninterviews sind Forschungen mit einer größeren Stichprobe. Ein Leitfaden standardisiert in gewissem Sinn die inhaltliche Struktur der Erzählungen und erleichtert dadurch die Auswertung. Er ermöglicht es zudem, Unterthemen „quer“ durch alle Interviews zu verfolgen.
Anforderungen an einen Leitfaden sind: – –
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Er muss als Ganzes und in allen seinen Teilen (Einzelfragen) den Grundprinzipien der qualitativen Forschung gerecht werden und Offenheit ermöglichen. Er darf nicht überladen sein mit zu vielen Fragen. Ein unrealistisches Pensum an Fragen und das Interesse an zu vielen Einzelaspekten führen automatisch zu einem gehetzten und „bürokratischen Abhaken“ (Hopf 1978, 102) der einzelnen Fragen. Damit bleibt zu wenig Äußerungszeit für offene und über eine gewisse Erzählzeit hinweg aufrechterhaltene Darstellungen. Er soll formal übersichtlich und gut zu handhaben sein, damit die Aufmerksamkeit der Interviewenden nicht von der Interviewsituation und der Erzählperson abgezogen wird. Die Komposition eines Leitfadens sollte dem „natürlichen“ Erinnerungsoder Argumentationsfluss folgen und nicht zu abrupten Sprüngen und Themenwechseln zwingen. Erinnerungsfragen dürfen nicht mit von heute aus zu reflektierenden oder bilanzierenden Fragen vermengt werden – wenn Einstellungs- und Bewertungsfragen gestellt werden, dann in einem gesonderten Block (möglichst am Ende des Interviews). Generell sollten Fragen, die eine längere Darstellung generieren, am Anfang gestellt werden; Fragen, die zwar offen gestellt sind, aber keine längere Aussage stimulieren, kommen ans Ende. Fragen dürfen nicht abgelesen werden. Eher ist es möglich, am Ende des Interviews eine Unsicherheit zu zeigen in dem Sinne: „Jetzt muss ich noch mal in meinen Unterlagen nachsehen, ob ich auch nichts vergessen habe“ und dann noch einmal zu „blättern“. Ein Leitfaden darf nicht dazu verführen, dass angebotene Informationen oder „Weiterfragauforderungen“, die über den im Leitfaden abgesteckten Rahmen hinausgehen, abgeblockt oder Vertiefungen übergangen werden (vgl. Hopf 1978). Priorität hat die spontan produzierte Erzählung – allein dies schon macht klar, dass ein guter Leitfaden nicht viele Fragen enthalten darf.
„Üblich“ bezieht sich auf die soziale Gruppe, aus der die Erzählperson stammt.
Optionen für Leitfaden-Fragen Ein guter Leitfaden besteht nicht aus einer Frageliste, sondern ist komplexer aufgebaut. Er sollte die Differenzierungen in unterschiedliche Frageformen nutzen (→ Abschnitt 3.5). Fragen sollten unterschieden werden – –
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nach ihrem Rang: den höchsten Rang haben öffnende, erzählgenerierende Einstiegsfragen; andere Fragen können diesen Einstiegsfragen als Nachfragen unter- und zugeordnet werden, nach der Festlegung der Formulierung: Es können statt Frageformulierungen Stichworte vorgegeben werden. Die Formulierung kann dann der Interviewsituation angepasst werden. Für andere Fragen kann eine exakte Formulierung vorgegeben werden, nach der Verbindlichkeit: Fragen oder Stichworte können mit Zusätzen versehen werden wie „Nur fragen, wenn das Thema nicht von selbst zumindest kurz angeschnitten wurde“ oder „Obligatorisch“, „kann auch am Ende gestellt werden“ etc., nach Grad der inhaltlichen Steuerung: Es sind neben inhaltsbezogenen Fragen auch Steuerungsfragen oder Aufrechterhaltungsfragen aufzunehmen (mit denen das Tempo der Erzählung beeinflusst werden kann: → Abschnitt 3.5). Jeder gute (d.h. flexible und offene) Leitfaden lässt viel Raum für die Führung und Aufrechterhaltung des Interviews!
Zu vermerken bzw. bei der Einführung der Interviewenden in die Handhabung des Leitfadens zu klären ist, wie verbindlich eine Reihenfolge einzuhalten ist. Es empfiehlt sich, eine Frage aufzunehmen, die der Erzählperson gegen Ende des Interviews noch einmal die Gelegenheit gibt, eigene Relevanzen zu setzen und den Interviewverlauf zu kommentieren: „Haben wir etwas vergessen, was Sie gern noch ansprechen würden?“ oder „Wir haben über … gesprochen. Vielleicht gibt es aber noch etwas anderes, das Ihnen am Herzen liegt.“ Eine geeignete Abschlussfrage kann die Interviewbeendigung einleiten (z.B. eine Frage mit einem Ausblick: „Und was wünschen Sie sich für die Zukunft?“). In unseren Projekten galt die Maxime: „So offen und flexibel – mit der Generierung monologischer Passagen – wie möglich, so strukturiert wie aufgrund des Forschungsinteresses notwendig“. Fragen mit vorgegebenen Formulierungen werden nur in begründeten Fällen aufgenommen; ein Grund kann dabei eine gewünschte Vergleichbarkeit über alle Interviews hinweg sein. Kann eine Frageformulierung spontan gewählt werden, kann der Erzählduktus der Erzählperson besser aufgegriffen und die Gesamterzählung stärker gestützt werden. Das Gleiche gilt für die Handhabung einer Reihenfolge: Wo immer möglich, ist eine flexible Handhabung zu bevorzugen. Diese Überlegungen führen zu Leitfäden mit maximal vier durch Erzählaufforderungen eingeleitete Blöcke und einem flexibel handhabbaren, hierarchisierten Nachfragereservoir. 181
Der praktische Weg zu einem Leitfaden – das SPSS-Prinzip bei der Leitfadenerstellung Um das Grundprinzip der Offenheit zu wahren und dennoch die für das Forschungsinteresse notwendige Strukturierung vorzugeben, bewährt sich ein Vorgehen, das sich – leicht zu merken – als „SPSS bei der Leitfadenerstellung“ abkürzen lässt. Dieses Vorgehen hat einen wichtigen Nebeneffekt: Es dient gleichzeitig der Vergegenwärtigung und dem Explizieren des eigenen theoretischen Vorwissens und der impliziten Erwartungen an die von den Interviewten zu produzierenden Erzählungen. Hinter dem Kürzel „SPSS“ stehen die vier Schritte „Sammeln“, „Prüfen“, „Sortieren“ und „Subsumieren“. 1. Schritt: „S“ wie das Sammeln von Fragen Zunächst werden alle Fragen gesammelt, die im Zusammenhang mit dem Forschungsgegenstand von Interesse sind – es sollen ausdrücklich möglichst viele Fragen zusammengetragen werden. Alle Bedenken bezogen auf die Eignung der konkreten Formulierung der Frage und bezogen auf ihre inhaltliche Relevanz werden zunächst zurückgestellt. Hilfreich ist es, sich selbst zu fragen: „Was möchte ich eigentlich wissen? Was interessiert mich?“ oder in der Literatur berichtete Zusammenhänge aufzugreifen. Die Frageliste in dem Projekt „Platzverweis“ umfasste etwa 50 Fragen unterschiedlichster Art, wie z.B.: „Wie hat sich die Gewalt ausgewirkt auf die Möglichkeiten einer Trennung?“, „Sind Kinder im Haushalt?“, „Welche Rolle spielten die Nachbarn?“, „Verarbeitung der Gewalt?“ 2. Schritt: „P“ wie Prüfen: Durcharbeiten der Liste unter Aspekten des Vorwissens und der Offenheit Diese Frageliste bereits als Leitfaden zu nehmen, ist ein grundsätzlicher Fehler, selbst wenn die Fragen vergleichsweise offen formuliert wären. Die Liste muss weiter bearbeitet werden – und das heißt vor allem: Sie wird drastisch reduziert und strukturiert. Die Fragen werden geprüft und es ist davon auszugehen, dass ein Großteil der Fragen die Prüfung nicht besteht und nur die wirklich wichtigen und brauchbaren Fragen oder Frageaspekte übrig bleiben. Die Frageliste wird mit Hilfe mehrerer Prüffragen revidiert: –
Die erste Prüffrage eliminiert alle Faktenfragen. Viele Fragen sind reine Informationsfragen („Sind Kinder dabei gewesen?“). Erfahren wir diese Informationen von allein, wenn erzählt wird? Brauchen wir sie überhaupt und wenn ja: Können sie an anderer Stelle erfragt und die Fragen aus dem qualitativen Interview abgekoppelt werden? Fragen nach Informationen, die „einsilbig“ geliefert werden können, z.B. Angaben zum Alter, zu einem Ort, zur Ausbildung etc., werden besser ausgegliedert und in einem kleinen Fragebogen oder Notizblatt vor oder besser nach dem Interview erhoben.7
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Es dürfte inzwischen selbstverständlich sein, wird aber gerade an dieser Stelle mitunter vernachlässigt: Qualitative Forschung ist weder dazu da, Hypothesen zu prüfen
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Die zweite Prüffrage betrifft ebenfalls die Eignung einer Frage für das Interviewvorhaben: Tragen Fragen der Besonderheit des Forschungsgegenstandes Rechnung, also dem Faktum, dass ich nur subjektive Sichtweisen von heute aus und damit retrospektive Deutungen erheben kann? Eignen sich Fragen überhaupt dazu, offene Antworten oder Erzählungen zu erzeugen? Werden sie dem gerecht, was für die Erzählpersonen erzählbar und erzählwürdig ist? Die nächsten Prüffragen erkunden die mit Frageformulierungen verbunden impliziten Erwartungen: Was weiß ich bereits? Welche Fragen sind Ausdruck der Erwartung, dass die Erzählpersonen mein Vorwissen bestätigen soll? Aber: Wenn ich es eigentlich schon weiß, was die Erzählperson erzählen wird, warum frage ich dann noch? Es gibt eine große Verführung zu Beginn einer qualitativen Studie, sich bereits Gewusstes bestätigen zu lassen. Alle Fragen, die nur Vorwissen abfragen, werden gestrichen oder es werden neue Formulierungen gefunden. Zu neuen Formulierungen führt die Prüfung: Worauf bin ich neugierig, was weiß ich noch nicht? Natürlich sollte der Erkenntniswunsch so formuliert sein, dass er der besonderen Eignung qualitativer Interviewverfahren Rechnung trägt. In eine ähnliche Richtung weist die Prüffrage: Was würde mich eigentlich überraschen, was würde meinen Vorabannahmen von dem Forschungsgegenstand widersprechen (für diese Frage sollte man sich Zeit nehmen)? Sind die Fragen so formuliert, dass Erzählpersonen auch völlig andere Zusammenhänge berichten können als erwartet? Oder werden mit der Frageformulierung implizit oder explizit Vorstellungen (Präsuppositionen; Abschnitt 3.5) vermittelt, die in eine bestimmte Richtung weisen und die andere Richtungen ausschließen? Überrascht hätten uns z.B. in den Interviews zu häuslicher Gewalt Erzählungen von Frauen, in denen keine destruktiven Auswirkungen der Gewalt vorkommen. Wir prüften die Fragen, ob sie auch Frauen, die mit Gewalt aus ihrer eigenen Sicht „unbeschadet“ leben, zu einer entsprechenden Erzählung auffordern. Verlangt die Frage von der Erzählperson die Beantwortung meines allgemeinen Forschungsinteresses, meiner übergeordneten Forschungsfrage? Ist sie nicht eigentlich eine Frage an die Interviewten, sondern eine Überprüfung der theoretischen Zusammenhänge? Kann ich von den Erzählpersonen mit ihrer eigenen subjektiven Welt eine Antwort darauf überhaupt verlangen? Diese Prüffrage eliminiert Fragen nach abstrakten Zusammenhängen wie z.B.: „Wie verarbeitete die Frau die Gewalterfahrung?“ Oder: „Welche Auswirkungen hatte die Gewalt?“ Das diese Frage motivierende, grundlegende Forschungsinteresse kann nicht in eine Frage in einem Leitfaden übersetzt werden: „Bitte erzählen Sie mir doch, (außer in speziellen Zusammenhängen und in einer speziellen Bedeutung wie bei der Grounded Theory), noch dazu, Informationen zu sammeln!
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wie Sie die Gewalterfahrungen verarbeitet haben.“ Eine solche Übersetzung trägt nämlich eine sozialwissenschaftliches Erklärungsfolie (Coping, Bewältigung, Verarbeitung) an die Erzählperson heran. Von dieser wird ein hohes Niveau der Selbstreflexion in einer bestimmten Richtung verlangt, d.h. sie muss für sich wissen, welche ihrer Verhaltensweisen wie als Verarbeitungsform gesehen werden kann. Es gilt: Man kann von den Erzählpersonen keine direkte Antwort auf die Forschungsfrage verlangen. Sie sind nicht in einen wissenschaftlichen Diskurs verortet, sondern in ihrem Alltag. Und die Antwort auf die Forschungsfrage zu finden, ist Aufgabe der Forschenden, die das in den qualitativen Interviews erzeugte Textmaterials der Mühe einer sorgfältigen Interpretation unterziehen müssen.. Wie Erzählerwartungen wieder geöffnet werden können, zeigt das folgende Beispiel: In dem Projekt wurde z.B. vermutet, dass Frauen sich vor Nachbarn schämen, wenn die Polizei gerufen wird. Diese entsprechende Frage war damit nicht eigentlich offen, sondern sie stand für eine Erzählerwartung und eine starke Präsupposition. Damit wurde deutlich, dass es mehr um den Wunsch ging, bereits Bekanntes mit Lebensgeschichte ausgeschmückt zu bekommen. Die Frage wurde auf ein Stichwort („Umfeld“) reduziert, das nur eingebracht werden sollte, wenn das Thema nicht von allein angesprochen wurde. Das Forschungsinteresse wurde erweitert: Gibt es Konstruktion von familiären Grenzen in der Vorstellungswelt der Frauen, die das Private der Familie gegen ein Außen der Nachbarschaft oder des Umfeldes abtrennen? Dies wurde nicht als Interview-, sondern als Auswertungsfrage für die Forschenden festgehalten; von dem Interview ist nur zu verlangen, dass die Erzählpersonen genug Text über Familie generieren, dass Material für diese Auswertungsfrage vorliegt. Solchen Revision fallen in der Regel mehr als die Hälfte aller Fragen auf der ersten Frageliste zum Opfer. Es werden Fragen ersatzlos gestrichen, bei anderen Fragen wird die Formulierung revidiert und es bleibt erst einmal nur ein Stichwort übrig. Diese ersten beiden Schritte haben zugleich den Charakter einer Bestandsaufnahme, denn die Frageliste als Ergebnis des ersten Schrittes bildet das – möglicherweise diffuse – Vorwissen über Zusammenhänge ab, das aus der Literatur oder aus eigenen Felderfahrungen stammt. Bei der Prüfung der Fragen werden dann diese eigenen Vorannahmen und der Wunsch, sie bestätigt zu bekommen, vergegenwärtigt. Damit fördert das Vorgehen die Neugier, dass alles auch ganz anders sein könnte als erwartet. In dem Prozess werden auch der Wunsch, Informationen von den Befragten zu bekommen, und der Auftrag, die Erzählperson Texte generieren zu lassen, klarer. Viele, die noch wenig Erfahrung mit qualitativer Forschung haben, erwarten sich Sicherheit und Erfolg von einem Interview, wenn sie möglichst viele Fakten in Erfahrung bringen. Dieses Interesse ist legitim, aber es sollte nicht dazu führen,
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dass der Leitfaden zu einer Liste von Faktenfragen wird. Es ist es wichtig, sich immer wieder zu vergegenwärtigen, dass es darum geht, Texte produzieren zu lassen, die dann intensiv ausgewertet werden können. 3. Schritt; „S“ wie Sortieren Im nächsten Schritt werden die verbleibenden Fragen und Stichworte sortiert. Wird um Erzählungen mit einer zeitlichen Dimension gebeten (Lebensgeschichte, Erzählung eines Handlungsablaufs etc.) liegt ein Sortieren nach der zeitlichen Abfolge nahe, bei dem z.B. alle Fragen, die sich auf ein Vorher beziehen, gebündelt werden und ebenso alle Fragen zum Heute. Sortiert werden kann aber auch, je nach Forschungsinteresse, nach inhaltlichen Aspekten. Insgesamt sollten zwischen einem und vier Bündel entstehen. Einige Fragen werden als Einzelfragen stehen bleiben – sie bekommen später einen gesonderten Platz im Leitfaden. 4. Schritt: „S“ wie Subsumieren In diesem letzten Schritt erhält der Leitfaden seine besondere Form. Es gilt nun für jedes im dritten Schritt sortierte Bündel eine einzige, möglichst einfache Erzählaufforderung zu finden, unter die die Einzelaspekte „subsumiert“ (= untergeordnet) werden können. Gesucht wird ein guter, d.h. möglichst erzählgenerierend wirkender und möglichst wenig Präsuppositionen enthaltender Impuls. Zu prüfen ist: Eignet sich die gewählte Formulierung dazu, eine Erzählung zu evozieren, in der möglichst viele der interessierenden Aspekte von allein angesprochen werden? Die Erzählaufforderung wird in der ersten Spalte eingetragen. Die auf der reduzierten Frageliste diesem Bündel zugeordneten Aspekte werden entweder in Stichworte transformiert, die in die zweite Spalte eingetragen werden, oder sie werden als konkrete, vorformulierte Fragen in die dritte Spalte eingetragen. Die Stichworte in der zweiten Spalte fungieren als „Memos“ für mögliche Nachfragen und die Spalte dient als „Check“-Liste der Überprüfung, ob dieser Aspekt bereits von allein thematisiert wurde. Die Stichworte werden bei einer frei und ohne inhaltliche Impulse aufrecht erhaltenen Erzählung nur dann aufgegriffen, wenn sie nicht von allein angesprochen wurden. Sie können auch genutzt werden, um bei einer abgeschlossenen oder stockenden Erzählung mit offenen Formulierungen einen neuen Impuls zu geben. Die dritte Spalte enthält die Fragen, die obligatorisch und mit einer vorgegebenen Formulierung allen Erzählpersonen gestellt werden sollen. Forschungsbeispiel 27 zeigt eine solche übergeordnete Erzählaufforderung, unter die Stichworte „subsumiert“ sind. In der Interviewpraxis wurden bei diesem Beispiel fast alle Stichworte von fast allen Erzählerinnen von allein angesprochen.
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Die vierte Spalte ergänzt Vorschläge für Aufrechterhaltungsfragen oder inhaltsleere Steuerungsfragen(´ Abschnitt 3.5), die helfen, bei relativ kurzen Erzählpassagen der Erzählperson diese zum Weitererzählen zu motivieren und Interesse und Verstehen zu bekunden. Nach dem Bündeln der Fragen und der Subsumierung eines Bündels unter eine einzige, offene Erzählaufforderung bleiben möglicherweise einzelne Fragen „übrig“. Es empfiehlt sich, solche Fragen oder auch wenig zusammenhängende Einstellungsfragen zusammen mit der Abschlussfrage am Ende des Leitfadens zu platzieren. Hier stört ein stärkerer Abfragecharakter nicht mehr. Eingeleitet werden kann dieser Schlussteil z.B. mit: „Jetzt am Ende unseres Interviews habe ich noch einige konkrete Fragen zu…“ Die Stichworte in der „Check-Liste“ können genommen werden, um bei einer abgeschlossenen oder stockenden Erzählung mit offenen Formulierungen einen neuen Impuls zu geben. Ansonsten werden sie bei einer frei und ohne inhaltliche Impulse aufrechterhaltenen Erzählung nur dann eingeflochten, wenn sie nicht von allein angesprochen werden (im vorliegenden Fall wurden fast alle Stichworte von fast allen Erzählerinnen von allein angesprochen). Übersicht 11: Bereinigung der Frageliste und Subsumieren Liste aller interessierenden Fragen In den Papierkorb: Nicht geeignete Fragen
In einen gesonderten Fragebogen: Fragen nach Fakten mit EinWort-Antworten
Umwandeln in ein Stichwort in der Check-Liste: Fragen, die vermutlich von allein auf eine Erzählaufforderung hin beantwortet werden, die man aber im Auge behalten will, mögliche Anregungen für Anschlussfragen
Umwandlung in eine einen Erzählbereich öffnende Erzählaufforderung
Forschungsbeispiel 28: Reduktion, Ordnung und Subsumtion bei der Bearbeitung einer Fragesammlung In einer Arbeit wurden die leiblichen, jugendlichen Väter von jugendlichen Schwangeren befragt. Das Forschungsinteresse war primär rekonstruktiv, bei einigen Aspekten wurden Informationen gewünscht. Ziel war, ihre subjektive Sichtweise der Vaterschaft und ihre Vorstellungen, wie Vaterschaft in ihrer Lebenswelt gestaltet werden kann, zu erheben. Ein besonderer Fokus galt der Rolle der eigenen Eltern. Die erste Fragesammlung umfasste 65 Fragen, die sich stark an dem Vorbild eines standardisierten
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Fragebogens orientierten. Die Prüfung und Reduktion der Liste wird hier für die ersten 29 Fragen gezeigt. 1. Bitte erzähl einmal etwas über deine Kindheit 1.1 Wie war das mit Freunden und Freundinnen? 1.2 Wie war das mit deiner Freizeit, was hast du so gemacht? (Mit wem?) 2. Und wie war das mit deiner Familie? 2.1 Was macht dein Vater beruflich bzw. was arbeitet dein Vater? 2.2 Ist deine Mutter berufstätig? Was macht sie? 2.3 Beschreibe einmal dein Verhältnis zu deinen Eltern in deiner Kindheit 3. Wie würdest du dein Verhältnis heute zu deinen Eltern beschreiben? 3.1 Zu deinem Vater? Bitte berichte ausführlich 3.2 Zu deiner Mutter? Bitte berichte auch hier ausführlich 4. Hast du Geschwister? 4.1 Wenn ja, wie viele? 4.2 Wie alt sind sie? (gestrichen) 4.3 Wie war dein Verhältnis zu deinen Geschwistern, als du Kind warst? 4.4 Wie würdest du dein Verhältnis heute zu deinen Geschwistern beschreiben? 4.5 Wie alt war deine Mutter, als sie ihr erstes Kind geboren hat bzw. wenn keine Geschwister: Wie alt war deine Mutter, als du geboren warst? 5. Wo habt ihr in deiner Kindheit gewohnt? 6. Wie habt ihr gewohnt (Mietwohnung, eigenes Haus, Eigentumswohnung etc.) 7. Wissen deine Eltern, dass Du Vater bist? 7.1 Wenn nein: warum nicht? 7.2 Wenn ja: Wie haben sie es erfahren? (Wann und durch wen?) 7.3 Wie haben sie reagiert? 7.4 Wie stehen sie heute zu euch und ihrem Enkelkind? 7.5 Unterstützen sie euch? 7.6 Wenn ja: in welcher Form. Bitte berichte einmal ausführlich. 7.7 Wenn nein: was sind aus deiner Sicht ihre Gründe dafür? 8. Und wie war das bei dir mit der Schule? 8.1 Wie waren so deine Erfahrungen? 8.2 Wie lange bist du zu welcher Schule gegangen? 8.3 Welchen Schulabschluss hast du? Ggf: Warum hast du dann die Schule verlassen (geschmissen)? 8.4 Wie alt warst du, als Schluss war mit der Schule? Im ersten Schritt wurden Faktenfragen eliminiert. Sie wurden teilweise ganz weggelassen, teilweise in einen Kurzfragebogen zu Personenangaben aufgenommen. Gestrichen wurden die Fragen 4.2, 5, 6 und 8.4; in den Kurzfragebogen aufgenommen und dabei teilweise etwas umformuliert wurden die Fragen 2.1 und 2.2, 4.1, 4.4, 8.2 und 8.3 (aktuelle Tätigkeit bzw. Beruf Vater / Mutter, Anzahl Geschwister, Alter der Mutter bei Geburt 1. Kind, Schulart, Jahr des Abschluss /geht noch zur Schule). Fragen, die zu weit ausholen, wurden gestrichen (die Fragen 1.1 und 1.2 zur Kindheit) und diskutiert, ob das Verhältnis zu Vater und Mutter in der Kindheit wichtig für die Rekonstruktion von Vaterschaftskonzepten in der jugendlichen Lebenswelt sei oder nicht. Damit blieben von 29 Fragen 11 Fragen übrig. Das Ordnen (3. Schritt) orientierte sich an der biografischen Zeit: In dem ersten Entwurf wurde zwischen Kindheit und heute hin- und hergesprungen. Die zeitliche Ordnung sah nun erste Fragen zu der Zeit vor der Vaterschaft vor, dann Fragen zum Eintritt
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der Schwangerschaft und der Reaktion der Eltern. Für die aktuelle Situation wurden die Bereiche Herkunftsfamilie, Vaterschaft und Schule/Ausbildung geordnet. Im 4. Schritt der Subsumtion wurde eine übergeordnete Erzählaufforderung formuliert für die Zeit vor Eintritt der Schwangerschaft: Erzähl mir doch etwas über Dein Leben bevor schwanger wurde Nachfragebereiche: Verhältnis zu den Eltern früher (alte Frage 2.3) Geschwister (alte Frage 4.2) Ausbildung, eventuell Schulabschluss Neu: Peers, Freizeit Erzähl doch bitte über die Beziehung zu und wie es zu der Schwangerschaft kam Beziehung, eigene Reaktion, Spezielle Nachfrageteil zu Vater und Mutter: Und wie war es mit Deinem Vater und Deiner Mutter? Erzähl doch etwas, ob und wie sie es erfahren haben und wie es dann weiterging (alte Fragen 7.1 bis 7.3) Erzähl doch bitte, wie es weiterging Geburt, Veränderungen der Beziehung und der eigenen Lebenssituation Nachfragebereiche: Verhältnis zu Freunden heute Verhältnis zu Vater, Mutter, Geschwistern heute (alte Fragen 3 und 4.3) Schule/ Ausbildung / berufliche Zukunft Abgegrenzter Nachfrageteil: Wie stehen Dein Vater und Deine Mutter heute zu euch und ihrem Enkelkind? Unterstützen sie euch und wenn ja: Wie? Eventuell Einstellungsfragen und Fragen zur Bewertung der Veränderungen durch die Vaterschaft
Im Original besteht dieser Beispiel-Leitfaden aus vier querformatigen Blättern in großer, aus der Entfernung lesbarer Schrift –pro Block ein Blatt. Das schafft nicht nur Übersichtlichkeit, sondern lässt auch Platz für Notizen. Bei der Durchführung ist es von zentraler Bedeutung, dass die Interviewenden mit dem Leitfaden so vertraut sind, dass sie sich mit einem einzigen Blick eine Orientierung verschaffen können. Zu den Verabredungen gehörte, dass die Reihenfolge der Blöcke nicht eingehalten werden muss. Die Leitfadenkonstruktion hat sich insofern bewährt, als die Umsetzung des Frageinteresses stark an die durch die Erzählperson vorgegebene inhaltliche und interaktive Dynamik der Erzählung angepasst und daran ausgerichtet werden kann. Je unflexibler ein Leitfaden ist, desto mehr verlagert sich die Last der Aufrechterhaltung des Interviews auf die Seite der Interviewenden (wie beispielsweise beim „Trichter“ in ´ Abschnitt 4.4 beschrieben wurde) und Erzählpersonen finden sich mehr in der bequemeren Rolle einer Auskunfts- als in der unbequemeren Rolle einer Erzählperson. Dieser Weg zum Leitfaden scheint mühsam, er lohnt sich aber auch deshalb, weil er gleichzeitig hilft, Vorannahmen zu überprüfen und mit den unterschiedlichen Frageformen vertraut zu werden.
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5.4 Forschungsethik, Datenschutzbestimmungen und Einwilligungserklärung Qualitativ Interviewende müssen sich mit ethischen Fragen der Forschung auseinander setzen. Eine Reihe ethischer Implikationen wurde bereits in den Abschnitten berührt, in denen es um Vereinbarungen für das Interviewerverhalten in schwierigen Interaktionssituationen und in Interviews mit stark belasteten Menschen ging. Hopf (2000) weist vor allem auf die beiden Prinzipien der „informierten Einwilligung“ (Erzählpersonen müssen informiert sein über alles, was mit ihren Äußerungen geschieht und müssen auf dieser Basis mit dem Interview einverstanden sein und freiwillig teilnehmen) und der „Nicht-Schädigung“ (Erzählpersonen dürfen durch die Forschung keine Nachteile erfahren oder Gefahren ausgesetzt werden) hin. Ethische Prinzipien sind z.B. in dem Ethik-Kodex der Deutschen Gesellschaft für Soziologie verankert. Rechtlichen Schutz bietet das Datenschutzgesetz. Rechtsgrundlage des Datenschutzes auch für qualitative Forschung sind das Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) von 1990 9 und entsprechende Ländergesetze. Im BDSG ist das Grundrecht verbrieft, dass jeder grundsätzlich selbst über die Preisgabe seiner personenbezogenen Daten entscheiden kann. Das BDSG enthält Bestimmungen, welchen Auflagen die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten unter Einsatz von Datenverarbeitungsanlagen unterliegt und welche technischen und organisatorischen Maßnahmen zur Sicherung und zum Schutz personenbezogener Daten (z.B. Zugangs-, Weitergabe- oder Verfügbarkeitskontrolle) zu treffen sind. Die Formulierungen sind für statistische Datensätze formuliert und müssen sinngemäß auf qualitative Interviews übertragen werden. 8
Für die Durchführung von Interviews sind mehrere Punkte relevant: – Die Einwilligungserklärung: Es gilt: Ohne eine Einwilligungserklärung der Erzählperson kann ein qualitatives Interview nicht verwendet werden! Nach unseren Erfahrungen stellt es aber auch kein Hindernis dar, Erzählpersonen um eine Einwilligung zu bitten, im Gegenteil: Die Sorge der Erzählpersonen gilt häufig gerade dem Datenschutz und der Garantie der Vertraulichkeit. Erzählpersonen müssen in die Lage versetzt werden, informiert darüber zu entscheiden („informed consent“), ob ihre Daten verarbeitet werden dürfen10 („informationelle Selbstbestimmung“). §4 Abs 1 BDSG schreibt vor: „Die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung personen8
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Die Fassung vom 20.12.1990 (BGBl. I S. 2954) ist derzeit aufgrund der umfangreichen Änderungen (zuletzt geändert durch das Gesetz vom 21. August 2002 BGBl. I S. 3322) im Internet nur als Arbeitsfassung einzusehen. Aktuelle Informationen lassen sich am besten über eine Suchmaschine mit den Suchbegriffen BDSG oder Bundesdatenschutzgesetz eruieren. 10 Da eine Reidentifizierung einer natürlichen Person bei statistischen Datensätzen wenn, dann mit Hilfe der Datenverarbeitung möglich ist, ist die Einwilligung in die Datenverarbeitung beim Datenschutz besonders wichtig.
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bezogener Daten sind nur zulässig, soweit dieses Gesetz oder eine andere Rechtsvorschrift dies erlaubt oder anordnet oder der Betroffene eingewilligt hat.“ Die formalen und inhaltlichen Anforderungen umfassen: – die konkrete Benennung des vorgesehenen Zwecks der Forschung, Benennung von Träger und verantwortlichen Leitern der Forschung sowie von Kooperationspartnern, Angabe der (dauerhaft geregelten) Stellen der Datenhaltung und des Personenkreises, der von den personenbezogenen Daten Kenntnis erhält, – ausreichende Informationen über die vorgesehene Verarbeitung der Daten, auch über den Zeitpunkt der Löschung der Daten, – einen ausdrücklichen Hinweis, dass eine – auch teilweise – Nichtteilnahme keine Nachteile nach sich zieht und die Möglichkeit des jederzeitigen Widerrufs der Einwilligung gegeben ist. Die Einwilligung muss freiwillig erfolgen und schriftlich vorliegen. Sie muss hinreichend bestimmt sein, d.h. auf eine Verwendung in einem konkreten Forschungsprojekt hin. Für die Möglichkeit, dass sich das Forschungsinteresse erweitert, kann aber eine entsprechende Formulierung aufgenommen werden (vgl. Metschke/Wellbrock 2002, Kap. 4; s.u.). –
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Die Anonymisierung: Die Transkripte müssen anonymisiert werden, was nach §3 des BDSG bedeutet, dass personenbezogene Einzelangaben nicht mehr einer „bestimmten oder bestimmbaren natürlichen Person“ zugeordnet werden können. Als „Pseudoanonymisierung“ wird „das Ersetzen des Namen oder anderer Identifikationsmerkmale durch ein Kennzeichen“ definiert. Da die Anonymisierung ein Akt der Datenverarbeitung ist, muss die befragte Person der Datenverarbeitung vorher zustimmen (zur Diskussion der „Bestimmbarkeit“ einer Einzelperson, wenn Namen weggelassen wurden, über detaillierte Informationen zu den Lebensumständen, wie sie in der Regel bei qualitativen Interviews vorliegen: Metschke/Wellbrock 2002, Kap. 3.3). Für qualitative Interviews ist zu prüfen, ob das Risiko der Bestimmbarkeit ausreichend gemindert worden ist. Anonymisierungen sind zu dem frühest möglichen Zeitpunkt durchzuführen – möglichst schon während der Transkription. Das Trennungs- und Löschungsgebot: Da das Risiko einer Deanonymisierung bleibt, gewinnt das Trennungs- und Löschungsgebot an Gewicht: Die Tonträger sind zu löschen, sobald sie für den Forschungsprozess nicht mehr benötigt werden (s.u.). Die Adressen oder Telefonnummern der Befragten müssen spätestens nach Abschluss des Forschungsvorhabens vernichtet werden. Sollten sie gehalten werden (was nur mit einer guten Begründung mit der Forschungsnotwendigkeit zulässig ist, z.B. bei Wiederholungsbefragungen), müssen sie strikt getrennt und nicht zusammenführbar mit den Interviewdaten aufbewahrt werden und die Befragten müssen auch hier explizit einer Aufbewahrung zustimmen. Verpflichtung der Mitarbeitenden auf die Wahrung des Datengeheimnisses. 191
Insbesondere das Löschungsgebot kann sich als problematisch erweisen zum einen, weil es mit der Empfehlung der Kommission „Selbstkontrolle in der Wissenschaft“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft kollidiert, der zufolge Primärdaten über zehn Jahre bei der datenhaltenden Institution aufbewahrt werden sollen. Zum anderen behindert es Bemühungen, Datenbanken oder Archive mit qualitativen Interviews aufzubauen. Letzteres wird auch durch die Engführung bei der Bestimmung des Verwendungszwecks eingeschränkt; bei einer engen Formulierung wäre jede Datenweitergabe an andere für eine Re-Analyse ausgeschlossen. Soll eine solche Weiterverwendung der Interviews in irgendeiner Weise ins Auge gefasst werden, so ist mit der Einwilligungserklärung eine entsprechend breit gefasste Zustimmung der Befragten sicherzustellen, ohne den Zweck der Einwilligung für einen eng gefassten „bestimmten“ Zweck dadurch zu unterlaufen. Möglich sind auch gestufte Einwilligungen: Mit einer ersten Einwilligung erklären sich die Erzählpersonen bereit für eine Verwendung des Interviews im Zusammenhang mit einem aktuellen Projekt, mit einer zweiten für eine Archivierung und eine Öffnung der Zugänglichkeit. Eine Verweigerung der zweiten Einwilligung gefährdet dann nicht die Teilnahme insgesamt. Lösungen für die aufgeworfenen Fragen zeichnen sich in einer Kombination von Anonymisierung und Aufbewahrung von Daten in einer treuhänderischen Stelle ab. Die aktuelle Diskussion kann in der Internet-Zeitschrift www.qualitative-research.de verfolgt werden. Ein Beispiel eines Informationsblatts, das bei den Erzählpersonen verbleibt, einer Einwilligungserklärung sowie ein Text für eine förmliche Verpflichtung der Mitarbeiter auf das Datengeheimnis sind im Anhang zu finden. Nach unserer Erfahrung ist die Handhabung der Einwilligungserklärung unproblematisch, obwohl sie zu der absurden Situation führt, dass alle Vorkehrungen für eine Anonymisierung getroffen werden, die Erzählpersonen aber mit ihrem eigenen Namen die Erklärung unterschreiben sollen. Wichtig ist, dass Interviewer vertraut sind mit der Anonymisierung und den Erzählpersonen angemessen Auskunft geben können. Darüber hinaus sind ethische Aspekte angesprochen. Prinzipiell gilt, dass es in der Verantwortung der Forschenden liegt, mögliche negative Folgen, die sich aus der Teilnahme an einer qualitativen Studie ergeben, vorherzusehen und die Erzählpersonen entsprechend zu schützen. In ihrer Verantwortung liegt es auch, dass die Zusagen, die aufgrund der datenschutzrechtlichen Bestimmungen getroffen werden müssen, auch tatsächlich eingehalten werden. Weiterführende Literatur Hopf 2000, unter anderem mit relevanten Auszügen aus dem Ethik-Kodex der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und zu den Prinzipien der informierten Einwilligung und der Nicht-Schädigung Metschke/Wellbrock 2002 mit weiteren Beispielen für Einwilligungserklärungen Kluge/Opitz 2000, Corti/Day/Backhouse 2000
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5.5 Interviewbegleitende Dokumentation Zwei Instrumente sind für die forschungsbegleitende Dokumentation wichtig: Interviewprotokolle und Laufzettel. Interviewprotokolle werden nach dem Interview ausgefüllt; ein Beispiel ist im Anhang (→ Abschnitt 6.2) zu finden. Ein Protokoll enthält zunächst kurze Angaben zu der Erzählperson. Diese Angaben werden in der Regel nicht erfragt, sondern werden dem Interviewinhalt entnommen bzw., wenn sie auch nach dem Interview nicht bekannt sind, als Schätzung eingetragen (z.B. Alter). Der Protokollbogen enthält weiter formale Angaben zum Interview wie Code-Nr., Datum, Ort, und eventuell Angaben zur Kontaktaufnahme und zur Teilnahmemotivation. Die wichtigste Funktion des Protokollbogens besteht aber darin, Stichworte zur Interviewatmosphäre und zur besonderen personalen Beziehung zwischen interviewender Person und Erzählperson festzuhalten. Die Interviewenden sollten durch die Schulung sensibilisiert sein, Fassetten dieser Interviewbeziehung und ihrer Dynamik wahrzunehmen, z.B. Unsicherheiten, aber auch die komplementäre Inszenierung und Ausgestaltung der Erzählund Interviewerrolle. Im Protokollbogen wird auch vermerkt, ob es schwierige Passagen, Irritationen etc. gab. Solchen Passagen kommt in der Interpretation eine besondere Aufmerksamkeit zu (→ Abschnitt 4.8). Die letzten Zeilen des Protokollbogens dienen einer Überprüfung: Wurde die Einverständniserklärung unterschrieben? Wurde eine Kontakt- oder Visitenkarte überreicht? Der „Laufzettel“ dient der Übersicht über den Forschungsablauf und über den aktuellen Stand der Interviewdurchführung. Zudem entspricht sie auch der Verpflichtung zu einem sorgfältigen Umgang mit den sensiblen Daten. Dies ist insbesondere wichtig, wenn mehrere Personen in den Forschungsprozess involviert sind. Entsprechende Vorschläge für Formulare finden sich in → Abschnitt 6.2.
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6. Anhang
6.1 Beispiel für eine Schulung Vorschlag für den Ablauf einer dreitägigen Schulung, ausgerichtet auf eine Mischform mit narrativen Anteilen und Nachfragestrukturierung Empfehlenswert ist es, wenn die Teilnehmenden Vorkenntnisse zu theoretischen Aspekten mitbringen. Zu Beginn sind die Teilnehmenden auf die Vertraulichkeit hinzuweisen, falls in den Übungen persönliche Informationen mitgeteilt werden (Schweigepflicht): Beispiel: Dreitägige Interviewer-Schulung mit dem Schwerpunkt Erlernen einer Haltung der Offenheit und Selbstreflexion 1. Tag ZEIT Vormittags
INHALT Vorstellungsrunde Einführung in das Forschungsprojekt Vorstellung des Programms, Klärung der Ziele Übung 1: Was bringe ich mit an Erwartungen an Erzählpersonen? Übung 2: Produktion einer Erzählung nachvollziehen Theorie: Input: Was heißt „erzählen“ – Qualitative Forschung als Kommunikation, Diskussion: Was bedeutet das für Erzählende, was für Interviewende?
Kaffeepause vormittags
Übung 5: Vergegenwärtigung der eigenen Aufmerksamkeitshaltung Projektspezifische Informationen: Positionierung des Forschungsprojektes, Begründung der gewählten Interviewform, Klärung erster Implikationen für Interviewende
Mittagspause nachmittags Theorie: Die „Wahrheitsfrage“ – mit Aufgreifen von Ergebnissen aus Übung 2, theoretischem Input (Rosenthal), Forschungsimplikationen Übung 6: Erzählpläne und situative Erzählproduktion Diskussion von Forschungsbeispiel 5 zu Erzählsignalen Kaffepause
ZIEL Kennenlernen Zielklärung Vergegenwärtigung impliziter Erwartungen Kennen der Perspektive der Erzählperson Theoretische Vertiefung: Interviewen als Kommunikation
Vergegenwärtigung der eigenen Aufmerksamkeitshaltung Klärung der projektbezogenen Erwartungen an Interviewende
Auseinandersetzung mit der „Wahrheitsfrage“, Einblick in Versionenhaftigkeit Sensibilisierung: Erkennen von Erzählsignalen
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nachmittags
2. Tag vormittags
Theorie: Erzählstrategien, Erzählzwänge Diskussion von Forschungsbeispiel 6 zu Thematisierungsregeln (Bezug auf Forschungsbeispiel 4 möglich), theoretischer Input zu Erzählzwängen (Schütze) Bilanz und Reflexion
Theoretische Vertiefung: Kommunikationswissen
Einleitend: Interviewer-Perspektive aus Übung 2 aufgreifen Input: Was heißt „Verstehen“? Handout
Theoretische Vertiefung Fremdverstehen
Übung 8: Rekonstruktion von Fremdverstehen über Nachfrageformulierungen Kaffeepause vormittags
Übung 9 oder 10 zum aktiven Zuhören: Aktives Zuhören Übung 11 oder 12: Umgang mit Pausen
Übung 13: Einsatz nonverbaler Gesprächssignale Theorie: Input: Unterschiedliche Frageformen und ihre Auswirkungen auf den Interviewverlauf Frageformen – interviewspezifische Verabredungen zur Zulässigkeit von Frageformen
Mittagspause nachmittags Fortsetzung: Theorie Frageformen Übung 16: Vergegenwärtigung der eigenen Aufmerksamkeitshaltung Einführung in den Leitfaden bzw. in die Anlage einer narrativen Interviewführung Zeit für projektspezifische Präzisierungen oder Vertiefung der Projektfragestellung Bilanz und Reflexion 3. Tag vormittags
Kaffeepause
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Einführung: Konstellationen Erzählpersonen Interviewende in Forschungsbeispielen Übung 19: Auswirkungen eines gemeinsamen Erfahrungshintergrundes, evtl. Diskussion von Forschungsbeispiel 12 Übung 20: Vor- und Nachteile eines gemeinsamen Erfahrungshintergrundes Theorie: Prinzip Fremdheit, Fremdheitsannahme und ihre Wurzeln Diskussion von Forschungsbeispiel 15
Vergegenwärtigung der Bedeutung des eigenen Deutungshorizontes für das Fremdverstehen Einüben einer Aufmerksamkeitshaltung Zurückstellung eigener Deutungen Sensibilisierung für nonverbale Steuerung Sensibilisierung für verbale Steuerung und ihre Auswirkungen auf den Kommunikationsprozess Handlungssicherheit über Klärung von Anforderungen
Vergegenwärtigung des persönlichen Aufmerksamkeits- und Fragestils
Sensibilisierung für Nähe-Fremdheits-Konstellation im Interview
Theoretische Vertiefung: Fremdheitsannahme
vormittags
Einführung: Interviews als Rollenkonfigurationen, die Machtbalance im Interview Übung 22: Erstkontakt Übung 23 und 24: Aushandlung von Machtpositionen und Führungswünschen beim Interviewbeginn Protokollieren von Vereinbarungen; Verabredungen zum Umgang mit Widersprüchen, Irritationen etc. Übung 25: Schwierige Interaktionssituationen – der Rückzug Input und Diskussion: Umgang mit „kargen“ Interviews
Sensibilisierung für/ Handhabung von Rollenpositionierung, Klärung von Verhaltensoptionen
Sensibilisierung für/ Handhabung von Interaktionsdynamik, Klärung von Verhaltensoptionen
Erarbeiten weiterer projektrelevanter Vereinbarungen Mittagspause nachmittags Theorie: Methodisch kontrolliertes Fremdverstehen in der Einblick in die AuswerAuswertung, erster Zugang zum Auswertungsvorgehen tung, Sensibilität für „Spiegelbildlichkeit Interviewen – Interpretieren“ Sinnrekonstruktion in der Auswertung Technische Details der qualitativen Erhebung und der Interviews; Informationen über Datenschutz und ethische Aspekte Technische Fragen, Verabredung der ersten Auswertungssitzung
Der Vorschlag der Schulung ist von den Zeitvorgaben her (insbesondere für die Theorie-Bausteine) sehr eng gefasst. Je nach individuellem Stil und Gruppengröße ist das Programm noch zu kürzen oder der zeitliche Rahmen auszuweiten. Es sind Schulungen mit anderen Schwerpunkten möglich, z.B. bei der Erzählerperspektive und kommunikationstheoretischem Wissen, der Interviewerperspektive mit weiteren Bausteinen aus Trainings für klientenzentrierte Gesprächsführung, der Vertrautheits-/Fremdheitskonstellation mit einer Akzentuierung und einem Ausbau entsprechender Übungen und Vertiefungen. Die Übungen werden dann entsprechend aus dem Fundus in anderer Weise ausgewählt. Prinzipiell muss eine Schulung immer auf ein spezifisches Projekt zugeschnitten werden. Insbesondere sind projektspezifische Teile eigenständig und nach Bedarf zu ergänzen. Kann der Zeitrahmen erweitert werden, so sollten „kleine“ Felderfahrungen eingebunden werden, indem die Teilnehmenden mit einem Recorder ausgestattet, direkte Interviewerfahrungen erproben. Einige Übungen lassen sich einfach um solche Felderfahrungen erweitern. Am Ende ist es wichtig, einen Ausblick in die Auswertung qualitativer Interviews zu geben. Die Schulung findet ihre Fortsetzung in gemeinsamen Auswertungssitzungen, an denen die Interviewenden beteiligt sind. Anders als in standardisierten Verfahren können sich die Feldphase und die Auswertungsphase überschneiden – während noch Interviews geführt werden, werden die ersten Texte schon ausgewertet. 197
Im Rahmen eines Lehrangebots zu qualitativer Forschung eignen sich Übung 2 (Produktion einer Erzählung nachvollziehen), Übung 8 (Rekonstruktion von Fremdverstehen über Nachfrageformulierungen – die Nachfrage als Selektion aus dem Universum möglicher Nachfragen), Übung 19 (Auswirkungen des gemeinsamen Erfahrungshintergrundes) und als Hausaufgaben Übung 9 (Zurückstellung eigener Deutungen) und Übung 11 (Umgang mit Pausen – Zwangspausen) besonders gut für eine Integration in den Lehrplan.
6.2 Materialien Beispielhafte Elemente bei einer telefonischen Kontaktaufnahme Vorstellung der eigenen Person mit Namen und Funktion in dem Projekt Mein Name ist …………….. Ich bin Interviewer aus/komme von ……….. (Institution/Ort, sofern relevant) und ich arbeite für das Projekt ………………. Vergewissern, dass man mit der richtigen Person spricht: Spreche ich mit ...? Anknüpfen an Kontaktweg Sie haben sich bereit erklärt…/sich auf unsere Anzeige hin gemeldet / ich habe Ihre Telefonnummer bekommen über ……. prüfen, ob die Info stimmt – Sie haben sicherlich noch Fragen zu dem Projekt/wünschen weitere Informationen auf Fragen warten! Nicht mit Informationen „zuschütten“. Informationen anbieten: („Ich kann Ihnen gern noch etwas erzählen über…“) zum Projekt: Träger, Forschungsinteresse – ein sprachliche einfache Vorstellung vorbereiten!!! Eventuell Informationen zu den Kooperationspartnern zur Durchführung: z.B. Dauer des Interviews, Themen, möglicher Ort, Vorgehen (siehe Einwilligungserklärung: Bandaufnahme, Transkription) zur Anonymität: Wichtig: Betonen der Ernsthaftigkeit des Datenschutzes. Bedenken betreffen oft auch die Frage, ob das Interview veröffentlicht wird. Stichworte siehe Datenschutzerklärung (s.u.)
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Auf Fragen und Bedenken eingehen: Projektbezogen motivieren: Bedeutung des Interviews und der Person Antworten vorbereiten auf Fragen: Wie sind Sie auf mich gekommen? Kann ich Ihnen überhaupt Antworten gebn? Wie lange dauert das Interview? Was passiert mit den Interviews? (s.o.) Bedenken: Ängste, nicht anonym zu bleiben. Nach dem Interview werden Namen und Telefonnummer vernichtet. (Wenn nur Telefonnummer bekannt:) Wir können uns an einem neutralen Ort treffen, dann erfahre ich ihre Adresse nicht. (siehe Infos zur Anonymität) Ich will mich noch nicht festlegen. Sie können auch dann noch absagen, wenn wir einen Termin vereinbart haben. Sie können sich auch vorher noch vergewissern, dass es sich um ein seriöses Projekt handelt – Tel.-Nummern, eventuell Homepage. Falls der Eindruck entsteht, der/die Erzählperson möchte eigentlich doch nicht richtig – vor dem Interviewtermin noch einmal anrufen und sich noch einmal der Bereitschaft vergewissern. Ich habe Befürchtungen wegen dem Datenschutz bei den freien Interviews. (siehe Infos zur Anonymität) Verabredung treffen: Zeit und Ort auf ausreichend Spielraum für ein eventuell längeres Interview achten, ruhiger Ort wegen der Tonbandaufnahme erforderlich wichtig: ungestörte Rahmenbedingungen verabreden!
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Kommentiertes Beispiel für einen Ablaufplan für Interviewer und Interviewerinnen Ablaufplan Qualitative Interviews Projekt __________ Zeitraum ________ 1. 2.
Anruf, Mitteilung einer Nummer (-- oder anderer Kontaktweg --) Anruf bei Befragtem 3a. Falls Verweigerung: Grund erfragen, notieren; Verweigerung in Übersicht eintragen bei unpassendem Termin: Weitergabe an anderen Interviewer
3b. Terminvereinbarung, Durchführung 4. Am Ende vom Interview: Hinterlassen von Visitenkarte mit Telefonnummer, falls die Zusendung von Ergebnissen bzw. der Cassette oder Abschrift gewünscht wird Einwilligungserklärung unterschreiben lassen Datenschutzzusicherung dalassen 5. Wieder zu Hause: Ausfüllen Protokollbogen Cassette/Diskette an Projektzentrale mitsamt 1. Protokollbogen, 2. unterschriebener Einwilligungserklärung
Beispiel für eine Übersicht über den Bearbeitungsstand von Interviews (empfehlenswert bei einer größeren Anzahl von Interviews) Code Nr.
200
durchgeführt oder verweigert
Cass. Protoabgege- kollben bogen ausgefüllt
Datum
Datum
Ja/nein
zur TranTranskript skription zurück
An wen/ Datum Datum
Anony- Band Auswer- Evtl. migelöscht tung Personensierung erfolgt merkmale erfolgt
Datum
Datum
Datum
Kommentiertes Beispiel für einen Interviewprotokollbogen !!!NACH dem Interview auszufüllen!!! Interview Code Nr. (eventuell hier die Regel der Code-Vergabe festhalten) Hinweis: bitte nach dem Interview ausfüllen
Interviewer: ____________ (sofern Interviewermarkierung nicht Teil des Codes ist) Datum
___________
Dauer _________ Min
Ort/Räumlichkeit ______________________ (Evtl. Angaben zum Kontaktweg) Teilnahmemotivation: (außerhalb des eigentlichen Interviews oder im Interview erfragt) Befragte/r: Alter Ausbildung
______ (falls nicht bekannt, in groben Kategorien geschätzt) ___________ (falls nicht bekannt: in groben Kategorien ge-
Beruf/Berufsstatus
_______________________________
schätzt)
Kinder _________ Partnersch./Familienstand _________________ – Für die folgenden Informationen ist mehr Platz einzuräumen, aus Darstellungsgründen wurden hier die Leerzeilen weggelassen -Zusätzliche Informationen, besondere Vorkommnisse bei Kontaktierung oder im Interview: Interviewatmosphäre, Stichworte zur personalen Beziehung Interaktion im Interview, schwierige Passagen Check: Einverständniserklärung unterschrieben? Karte mit Adresse und Telefonnummer des Projektes dagelassen, falls Interesse an Ergebnissen und Wunsch, Cassette oder Abschrift zu bekommen? Cassette abgegeben am ........................... an ……….......... 201
Beispiel für ein Informationsblatt zum Verbleib bei den Erzählpersonen Wir informieren Sie über das Forschungsprojekt, für das wir Sie gern interviewen möchten, und über unser Vorgehen. Der Datenschutz verlangt Ihre ausdrückliche und informierte Einwilligung, dass wir das Interview speichern und auswerten. Die verantwortliche Leitung des Projektes liegt bei … (Träger und Leitung), Kooperationspartner sind …. In dem Forschungsprojekt soll … (Zweck und Ziel des Forschungsvorhabens), befragt werden … (Befragtengruppe) Die Forschung findet statt im Rahmen von/wird gefördert durch/wurde in Auftrag gegeben von… Die Durchführung der Studie geschieht auf der Grundlage der Bestimmungen des Bundesdatenschutzgesetzes. Der Interviewer unterliegt der Schweigepflicht und ist auf das Datengeheimnis verpflichtet. Die Arbeit dient allein wissenschaftlichen Zwecken. Wir sichern Ihnen folgendes Verfahren zu, damit Ihre Angaben nicht mit Ihrer Person in Verbindung gebracht werden können: –
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Wir gehen sorgfältig mit dem Erzählten um: Wir nehmen das Gespräch auf Band auf. Das Band wird abgetippt und anschließend entweder gelöscht oder Sie können das Band bekommen. Auch die Abschrift können Sie bekommen (bzw. andere Handhabung der Datenverarbeitung). Wir anonymisieren, d.h. wir verändern alle Personen-, Orts-, Straßennamen. Alle Altersangaben werden um ein bis zwei Jahre nach unten oder oben verändert. Berufe werden durch andere vergleichbare Berufe ersetzt (bzw. andere entsprechende Anonymisierungsregeln). Ihr Name und Ihre Telefonnummer werden am Ende des Projektes in unseren Unterlagen gelöscht, so dass lediglich das anonymisierte Transkript existiert. Die von Ihnen unterschriebene Erklärung zur Einwilligung in die Auswertung wird in einem gesonderten Ordner an einer gesicherten und nur der Projektleitung zugänglichen Stelle (bzw. Datentreuhänder) aufbewahrt. Sie dient lediglich dazu, bei einer Überprüfung durch den Datenschutzbeauftragten nachweisen zu können, dass Sie mit der Auswertung einverstanden sind. Sie kann mit Ihrem Interview nicht mehr in Verbindung gebracht werden. Die Abschrift wird nicht veröffentlicht und ist nur projektintern für die Auswertung zugänglich. Die anonymisierte Abschrift wird von den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Projektes gelesen, die ebenfalls der Schweigepflicht unterliegen. In Veröffentlichungen gehen aber einzelne Zitate ein, selbstverständlich ohne dass erkennbar ist, von welcher Person sie stammen (eventuell ergänzt um Regelungen, ob sich die Datenhaltung nur auf das vorliegende Projekt oder auf anschließende Projekte bezieht und ob die Abschrift an Dritte außerhalb des Projektes weitergegeben
werden kann. Es kann auch vereinbart werden, dass wichtige und gut formulierte Passagen Eingang finden in Lehrmaterial – natürlich ohne dass die Person identifizierbar ist). Wir möchten die anonymisierte Abschrift aufbewahren bis … /zugänglich machen für …. Die Datenschutzbestimmungen verlangen auch, dass wir Sie noch einmal ausdrücklich darauf hinweisen, dass aus einer Nichtteilnahme keine Nachteile entstehen. Sie können Antworten auch bei einzelnen Fragen verweigern. Auch die Einwilligung ist freiwillig und kann jederzeit von Ihnen widerrufen und die Löschung des Interviews von Ihnen verlangt werden. Wir bedanken uns für Ihre Bereitschaft, uns Auskunft zu geben, und hoffen, unsere wissenschaftliche Arbeit dient dazu…
Beispiel für eine Einwilligungserklärung und eine Verpflichtungerklärung Forschungsprojekt…………………………………. – Einwilligungserklärung – Ich bin über das Vorgehen bei der Auswertung der persönlichen, „freien“ Interviews mit einem Handzettel informiert worden (u.a.: die Abschrift gelangt nicht an die Öffentlichkeit, Anonymisierung bei der Abschrift, Löschung des Bandes bzw. Aushändigung, Löschung von Namen und Telefonnummer, Aufbewahrung der Einwilligungserklärung nur im Zusammenhang mit dem Nachweis des Datenschutzes und nicht zusammenführbar mit dem Interview). Ich bin damit einverstanden, dass einzelne Sätze, die aus dem Zusammenhang genommen werden und damit nicht mit meiner Person in Verbindung gebracht werden können, als Material für wissenschaftliche Zwecke und die Weiterentwicklung der Forschung genutzt werden können. Unter diesen Bedingungen erkläre ich mich bereit, das Interview zu geben und bin damit einverstanden, dass es auf Band aufgenommen, abgetippt, anonymisiert und ausgewertet wird. Unterschrift ......................................
(Ort), den ................................
Ich bin damit einverstanden, dass einzelne Sätze, die aus dem Zusammenhang genommen werden und damit nicht mit meiner Person in Verbindung gebracht werden können, als Material für wissenschaftliche Zwecke und die Weiterentwicklung der Forschung genutzt werden können.
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Forschungsprojekt…………………………………. – Niederschrift über die förmliche Verpflichtung auf das Datengeheimnis – Herr/Frau _________, geboren am ____ wurde heute auf die Wahrung des Datengeheimnisse nach §5 des Bundesdatenschutzgesetzes1 vom 20.12.1990 (BGBl. I S. 2954), zuletzt geändert durch Gesetz vom 21. August 2002 (BGBl. I S. 3322) – evtl. Nennung von Landesgesetzen – verpflichtet. Sie/er wurde darauf hingewiesen, dass es untersagt ist, geschützte personenbezogene Daten unbefugt zu einem anderen als dem zur jeweiligen rechtmäßigen Aufgabenerfüllung gehörenden Zweck zu verarbeiten, bekannt zu geben, zugänglich zu machen oder sonst zu nutzen, und dass diese Pflichten auch nach Beendigung der Tätigkeit fortbestehen. Dies gilt ohne Rücksicht darauf, ob die personenbezogenen Daten in automatisierten oder nicht automatisierten (manuellen) Verfahren verarbeitet wurden. Sie/er wurde darüber belehrt, dass Verstöße gegen das Datengeheimnis nach §41 BDSG – evtl. Nennung von Landesgesetzen – sowie anderen einschlägigen Rechtsvorschriften mit Freiheits- oder Geldstrafe geahndet werden können; dienst- oder arbeitsrechtliche Konsequenzen werden dadurch nicht ausgeschlossen. Eine Verletzung des Datengeheimnisses wird in den meisten Fällen gleichzeitig eine Verletzung der dienst- oder arbeitsrechtlichen Pflicht zur Verschwiegenheit darstellen; in ihr kann zugleich eine Verletzung spezieller Geheimhaltungspflichten liegen (z.B. §203 StGB). Sie/er erklärt, über die Pflichten nach §5 BDSG – evtl. Nennung von Landesgesetzen – sowie die Folgen ihrer Verletzung unterrichtet zu sein, genehmigt und unterzeichnet dieses Protokoll nach Verlesung und bestätigt den Empfang einer Ausfertigung. Datum, Unterschrift der/des Verpflichteten und Bestätigung durch den/die Verpflichtende/n, dass die Unterschrift in seiner/ihrer Gegenwart geleistet wurde. .................................
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§ 5 Datengeheimnis: Den bei der Datenverarbeitung beschäftigten Personen ist untersagt, personenbezogene Daten unbefugt zu erheben, zu verarbeiten oder zu nutzen (Datengeheimnis). Diese Personen sind, soweit sie bei nicht-öffentlichen Stellen beschäftigt werden, bei der Aufnahme ihrer Tätigkeit auf das Datengeheimnis zu verpflichten. Das Datengeheimnis besteht auch nach Beendigung ihrer Tätigkeit fort.
6.3 Liste der Übungen, Übersichten und der Forschungsbeispiele Liste der Übungen 1: 2: 3: 4: 5: 6: 7: 8: 9: 10: 11: 12: 13: 14: 15: 16: 17: 18: 19: 20: 21: 22: 23: 24: 25: 26: 27:
Was bringe ich mit an Erwartungen an die Erzählperson? ............. Produktion einer Erzählung nachvollziehen ................................... (Hausaufgabe): Das Universum möglicher Einstiegssätze ............. Rekonstruktion der Situation von Erzählpersonen beim Intervieweinstieg ............................................................................. Vergegenwärtigung der eigenen Aufmerksamkeitshaltung als Erzählperson ................................................................................... Erzählpläne und situative Erzählproduktion ................................... Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit ...................................... Rekonstruktion von Fremdverstehen über Nachfrageformulierungen – die Nachfrage als Selektion aus dem Universum möglicher Nachfragen .................................................. Hausaufgabe: Zurückstellung eigener Deutungen .......................... Prüfung des Verstehens – Paraphrasieren ....................................... Umgang mit Pausen – Zwangspausen ............................................. Umgang mit Pausen ........................................................................ Einfluss nonverbaler Signale .......................................................... Nonverbale Kommunikation ........................................................... Diskussion von Frageformen und ihren kommunikativen Wirkungen ...................................................................................... Vergegenwärtigung des persönlichen Aufmerksamkeits- und Fragestils I ...................................................................................... Vergegenwärtigung des persönlichen Fragestils II (Auswertung von Probeinterviews) ................................................ Kontrolle des Fragestils .................................................................. Auswirkungen eines gemeinsamen Erfahrungshintergrundes ................................................................. Zusammentragen von Vor- und Nachteilen eines gemeinsamen Erfahrungshintergrundes .......................................... Selbstwahrnehmung und Reflexion des eigenen (zur Erzählperson kongruenten/inkongruenten) Hintergrundes ...... Rollenpositionierung bei dem ersten Kontakt ................................. Aushandlung von Machtpositionen beim Interviewbeginn ............. Umgang mit Führungswünschen .................................................... Umgang mit dem Rückzug der Erzählperson ................................. Sensibilisierung für die Besetzung der „Gesprächsraums“ und für Machtbalacen .................................................................................. Umgang mit emotionalen Belastungen ...........................................
60 60 65 67 71 72 79 86 92 92 94 95 100 101 109 110 111 113 122 123 123 135 137 139 145 146 148
205
Liste der Übersichten 1: Eignung von Konzipierungen des Forschungsgegenstandes für qualitative Forschung (Interviews) .................................................... 2. Interviewvarianten in Stichworten und weiterführende Literatur ..... 3: Zusammenfassung – Die wichtigsten Interviewformen nach differenzierenden Merkmalen ........................................................... 4: Nähe unterschiedlicher qualitativer Interviewformen zum Alltagsgespräch ................................................................................. 5: Nähe unterschiedlicher Interviewformen zum Beratungsgespräch ... 6: Anforderungen an Interviewende ...................................................... 7: Bedingungsfaktoren für die Produktion einer Version einer Erzählung ................................................................................. 8: Positive und negative nonverbale Elemente ...................................... 9: Zulässigkeit von Frageformen bei spezifischen Interviewformen ..... 10: Allgemeine Frageregeln .................................................................... 11: Bereinigung der Frageliste und Subsumieren ....................................
30 36 45 48 51 54 64 101 107 108 187
Liste der Forschungsbeispiele 1: 2: 3: 4: 5: 6: 7: 8: 9: 10: 11: 12: 13: 14: 15: 16: 17: 18: 19: 20: 206
Forschungsinteresse, Forschungsfrage, Froschungsgegenstand und Material (Daten) .............................................................................. Implizite Forschungsannahmen und Erwartungen .......................... Verletzte Erwartungen bezogen auf Kommunikationsregeln ......... Unterschiedliche Erzählstrategien bei der Intervieweröffnung........ Auslassungskommentierungen, Abschlussmarkierungen und Weiterfrag-Angebote ...................................................................... Soziale Thematisierungsregeln ....................................................... „Wahr ist das, was man nicht vergessen kann“ (Giordano) ............ Modulierung von Erzählaufforderungen ......................................... Präsuppositionen bei Erzählaufforderungen ................................... Prüfung von Frageformulierungen auf das bei Antworten abverlangte Reflexionsniveau hin ............................................................ Teilnahmemotivation und Vertrauensvorschuss .............................. Nähe erübrigt Explikation, Fremdheit fördert Explikation ............. Zurückstellen selbstverständlicher Deutungen (Geertz) ................. Nähe erzwingt Abgrenzung, Nähe erzeugt Schonung .................... Fehlende Fremdheitsannahme und Interviewinteraktion ................ Professionelle Rolle und Autorität (Hopf) ...................................... Strategien der Erzählperson im Umgang mit Macht in der Interviewsituation ..................................................................... Rückfragen bei einem Führungswunsch seitens der Erzählperson . Machtaspekte, Wunsch nach Führung ............................................ Vereinbarungen zum Umgang mit Macht und Führungswünschen
28 58 59 66 74 75 77 103 103 109 121 125 126 127 129 134 137 138 139 142
21: Rückzug der Erzählperson – Der „Trichter“ ................................... 22: Vereinbarungen zum Umgang mit einem Rückzug der Erzählperson ............................................................................. 23: Vereinbarungen zum Umgang mit emotionalen Belastungen ......... 24: Vereinbarungen für Interviews mit Extrembelasteten ..................... 25: Vereinbarungen für „karge“ Interviews .......................................... 26: Reflexion der Interaktion in der Interpretation ................................ 27: Beispiel eines Leitfadens (Auszug; Interview zu Platzverweis) ...... 28: Reduktion, Ordnung und Subsumtion bei der Bearbeitung einer Fragesammlung ...............................................................................
143 147 148 152 154 158 186 187
6.4 Literatur Abels, Gabriele; Behrens, Maria (2005): ExpertInnen-Interviews in der Politikwissenschaft. Geschlechtertheoretische und politikfeldanalytische Reflexion eine Methode, In: Bogner, Alexander; Littig, Beate; Menz, Wolfgang (Hg.): Das Experteninterview. Theorie, Methode, Anwendung. Wiesbaden: VS, 2. Auflage, 173-190 AG Bielefelder Soziologen (1973) (Hg.): Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt, 2 Bde. Amann, Klaus; Hirschauer, Stefan (1997): Die Befremdung der eigenen Kultur. Ein Programm. In: Hirschauer, Stefan; Amann, Klaus (Hg.): Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnografischen Herausforderung soziologischer Empirie. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 7-52 Argyle, Michael (1979): Körpersprache und Kommunikation. Paderborn: Junfermann Aschenbach, Günter; Billmann-Mahecha, Elfriede; Zitterbarth, Walter (1985): Kulturwissenschaftliche Aspekte qualitativer psychologischer Forschung. In: Jüttemann, Gerd (Hg.): Qualitative Forschung in der Psychologie. Grundfragen, Verfahrensweisen, Anwendungsfelder. Weinheim/Basel: Beltz, 25-44 Aufenanger, Stefan (1991): Qualitative Analyse semi-struktureller Interviews – Ein Werkstattbericht. In: Garz, Detlef; Kraimer, Klaus (Hg.): Qualitativ-empirische Sozialforschung: Konzepte, Methoden, Analysen. Opladen: Westdeutscher Verlag, 3559 Bergmann, Jörg R. (2000): Konversationsanalyse. In: Flick, Uwe; v. Kardorff, Ernst; Steinke, Ines (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt, 524-537 Bertaux, Daniel (1981): From the Life-History Approach to the Transformation of Sociological Practice. In: Berteaux, Daniel (Hg.): Biography and Society. Berverly Hills/ London: Sage, 29-45 Bock, Marlene (1992): Das halbstrukturierte-leitfadenorientierte Tiefeninterview. Theorie und Praxis der Methode am Beispiel von Paarinterviews. In: Hoffmeister-Zlotnik, Jürgen (Hg.): Analyse verbaler Daten. Über den Umgang mit qualitativen Daten. Opladen: Westdeutscher Verlag, 90-109 Bogner, Alexander; Menz, Wolfgang (2005): Das theoriegenerierende Experteninterview. Erkenntnisinteresse, Wissensformen, Interaktion. In: Bogner, Alexander; Littig, Beate; Menz, Wolfgang (Hg.): Das Experteninterview. Theorie, Methode, Anwendung. Wiesbaden: VS, 2. Auflage, 33-70 Bogner, Alexander; Littig, Beate; Menz, Wolfgang (2005): Das Experteninterview. Theorie, Methode, Anwendung. Wiesbaden: VS, 2. Auflage
207
Bohnsack, Ralf (1999): Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in Methodologie und Praxis qualitativer Forschung. Opladen: Leske + Budrich, 3. Auflage Bohnsack, Ralf; Marotzki, Winfried; Meuser, Michael (2003) (Hg.): Hauptbegriffe Qualitativer Sozialforschung. Opladen: Leske + Budrich/UTB Bude, Heinz (1988): Was sagt der Anfang eines offenen Interviews über die Lebenskonstruktion einer Rheumakranken? In: Jüttemannn, Gerd (Hg.): Komparative Kasuistik. Heidelberg: Asanger, 218-226 Corit, Louise; Day, Annette; Backhouse, Gill (2000): Confidentiality and informed consent: Issues for consideration in the preservation of and provision of access to qualitative data archives. In: Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research (Online Journal), 3, 1. Jg., http://qualitative-reseach.net/fqs-texte/3-00/3-00 coritetal-e.htm, 23.04.03 Dahmer, Hella; Dahmer, Jürgen (1982): Gesprächsführung. Eine praktische Anleitung. Stuttgart/New York: Thieme Eiermann, Nicole; Häußler, Monika; Helfferich, Cornelia (2000): LIVE. Leben und Interessen vertreten. Frauen mit Behinderung. Stuttgart: Kohlhammer, Schriftenreihe des BMFSFJ, Bd. 183 Faltermeier, Toni; Kühnlein, Irene; Burda-Viering, Martina (1998): Gesundheit im Alltag: Laienkompetenz in Gesundheitshandeln und Gesundheitsförderung. Weinheim/München: Juventa Flick, Uwe (1991) (Hg.): Alltagswissen über Gesundheit und Krankheit. Subjektive Theorien und soziale Repräsentationen. Heidelberg: Asanger Flick, Uwe (1995): Stationen des qualitativen Forschungsprozesses. In: Flick, Uwe; v. Kardorff, Ernst; Keupp, Heiner; v. Rosenstiel, Lutz; Wolff, Stephan (Hg.): Handbuch Qualitative Sozialforschung. Grundlagen, Konzepte, Methoden und Anwendungen. Weinheim: Beltz, Psychologie Verlags Union, 147-173 Flick, Uwe (1996): Qualitative Forschung. Theorien, Methoden, Anwendung in Psychologie und Sozialwissenschaften. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt, 2. Auflage Flick, Uwe; v. Kardorff, Ernst; Keupp, Heiner; v. Rosenstiel, Lutz; Wolff, Stephan (Hg.) (1995): Handbuch Qualitative Sozialforschung. Grundlagen, Konzepte, Methoden und Anwendungen. Weinheim: Beltz, Psychologie Verlags Union Flick, Uwe; v. Kardorff, Ernst; Steinke, Ines (2000) (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt Flick, Uwe; v. Kardorff, Ernst; Steinke, Ines (2000a): Was ist qualitative Forschung? Einleitung und Überblick. In: dies. (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt, 13-29 Friedrichs, Jürgen (1990): Methoden empirischer Sozialforschung. Opladen: Westdeutscher Verlag Friebertshäuser, Barbara (1997): Interviewtechniken – ein Überblick. In: Friebertshäuser, Barbara; Prengel, Annedore (Hg.): Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. Weinheim/München: Juventa, 371-395 Friebertshäuser, Barbara; Prengel, Annedore (1997) (Hg.): Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. Weinheim/München: Juventa Fuchs-Heinritz, Werner (2000): Biografische Forschung. Eine Einführung in Praxis und Methoden. Opladen: Westdeutscher Verlag, 2. Auflage Garz, Detlef; Kraimer, Klaus (1991): Qualitativ-empirische Sozialforschung im Aufbruch. In: Garz, Detlef; Kraimer, Klaus (Hg.): Qualitativ-empirische Sozialforschung: Konzepte, Methoden, Analysen. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1-33 Geertz, Clifford (1983): Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt/M.: Suhrkamp Girtler, Roland (1992): Methoden der qualitativen Sozialforschung. Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 3. Auflage
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211
Schütz, Alfred; Luckmann, Thomas (1994): Strukturen der Lebenswelt. Frankfurt/M.: Suhrkamp, Bd. 1, 5. Auflage Schütze, Fritz (1976): Zur Hervorlockung und Analyse von Erzählungen thematisch relevanter Geschichten im Rahmen soziologischer Feldforschung. In: AG Bielefelder Soziologen (Hg.): Kommunikative Sozialforschung. München: Fink, 159-260 Schütze, Fritz (1981): Prozessstrukturen des Lebenslaufs. In: Matthes, Joachim; Pfeifenberger, Arno; Stosberg Manfred (Hg.): Biogafie in Handlungswissenschaftlicher Perspektive. Nürnberg: Verlag der Nürnberger Forschungsvereinigung e.V., 67-156 Schulz von Thun, Friedemann (1998): Miteinander Reden. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt, 3 Bde. Soeffner, Hans-Georg (1979): Interaktion und Interpretation. Überlegungen zu Prämissen des Interpretierens in der Sozial- und Literaturwissenschaft. In: Ders. (Hg.): Interpretative Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaften. Stuttgart: J.B. Metzler, 328351 Soeffner, Hans-Georg (2000): Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. In: Flick, Uwe; v. Kardorff, Ernst; Steinke, Ines (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt, 164-174 Steinke, Ines (1999): Kriterien qualitativer Forschung. Ansätze zur Bewertung qualitativempirischer Sozialforschung. Weinheim/München: Juventa Steinke, Ines (2000): Gütekriterien qualitativer Forschung. In: Flick, Uwe; v. Kardorff, Ernst; Steinke, Ines (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt, 319-331 Trevino, A. Javier (1992): Interviewing Women: Researchers Sensitivity and the Male Interviewer. In: Humanity & Society, 4, 16. Jg., 504-523 Trincek, Rainer (2005): Wie befrage ich Manager? Methodische und methodologische Aspekte des Experteninterviews als qualitative Methode empirischer Sozialforschung. In: Bogner, Alexander; Littig, Beate; Menz, Wolfgang (Hg.) (2005): Das Experteninterview. Theorie, Methode, Anwendung. Wiesbaden: VS, 2. Auflage, 209-222 Vogel, Berthold (1995): „Wenn der Eisberg zu schmelzen beginnt…“ – Einige Reflexionen über den Stellenwert und die Probleme des Experteninterviews in der Praxis der empirischen Sozialforschung. In: Brinkmann, Christian; Deeke, Axel; Völkel, Brigitte (Hg.): Experteninterviews in der Arbeitsmarktforschung. Diskussionsbeiträge zu methodischen Fragen und praktischen Erfahrungen. Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung Nr. 191, Nürnberg, 73-83 Watzlawick, Paul; Beavin, Janet H.; Jackson, Don D. (1990): Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Bern/Stuttgart/Toronto: Huber, 8. Auflage Weinberger, Sabine (1998): Klientenzentrierte Gesprächsführung. Eine Lern- und Praxisanleitung für helfende Berufe. Weinheim/Basel: Beltz, 8. Auflage Witzel, Andreas (1982): Verfahren der qualitativen Sozialforschung: Überblick und Alternativen. Frankfurt/M.: Campus Witzel, Andreas (2000): Das problemzentrierte Interview. In: Forum Qualitative Sozialforschung/Forum Qualitative Social Research On-Line-Journal 1, 1.Jg, http://www. qualitative-research.net/fqs-texte-1-00/1-00witzel-d.htm, 05.05.2003
212
6.5 Forschungsprojekte (SoFFI F.), in denen Schulungen durchgeführt wurden Kooperation und Mitarbeit Methodenkombination Kooperation: WiBIG u.a. Qualitative InterBerlin (Prof. Dr. B. Kaviews mit Frauen zu vemann, B. Leopold) Vorgeschichte, Eskalati- H. Beilharz, E. Bornon der häuslichen Geschein, J. Ewald, E. Fewalt und Weiterentderer, A. Hendelwicklung, N=29 Kramer, M. Hotel, P. Kämmer-Kupfer, C. Schröter, B. Schweizer, V. Thierfelder
Titel
Laufzeit
Auftrag
Beratung und Hilfen bei „Platzverweis“ bei häuslicher Gewalt
10/02-4/04
Sozialminist. Bad.-Württ.
männer leben – Lebensläufe und Familienplanung
11/01-4/04
BZgA
a) Standardisiertes Instrument, Bevölkerungsbefragung , Zufallsstichprobe, Telefoninterviews (EMNID), N=1.503, Leipzig, Gelsenkirchen, Freiburg b) Qualitativbiografische Interviews bei einer Teilstichprobe, N=100
Kooperation: Forschungsstelle Partnerund Sexualforschung der GSW, Leipzig (Prof. Dr. K. Starke), Zentr. f. Ruhrgebietsforschung (Prof. Dr. K.P. Strohmeier), Inst. f. Arbeits- u. Sozialmed. Univ. Leipzig H. Klindworth, S. Krumm, Dr. W. Walter, H. Wunderlich
frauen leben – Lebensläufe und Familienplanung
11/97 – 6/99 BZgA
a) Standardisiertes Instrument, Zufallsstichprobe, Telefoninterviews, N=1.468, Leipzig, Freiburg, Hamburg b) Qualitativbiografische Interviews bei einer Teilstichprobe, N=101, Leipzig-Freiburg
Kooperation: NordigInstitut f. Gesundheitsforschung, Hamburg (Prof. Dr. W. Karmaus), Forschungsstelle Partner- und Sexualforschung, Leipzig (Prof. Dr. K. Starke, Prof. Dr. K. Weller), M. Engelhard, A. Heneka, E. Lorenz, H. Klindworth, M. KüppersChinnow
LIVE – Leben und Interessen vertreten – Frauen mit Behinderung
10/96 – 9/98
M. Häußler, N. Eiera) Standardisiertes Inmann, strument, Stichprobe M. Roth über Landesversorgungsämter, N=987 b) Qualitativ-biografische Interviews bei einer Teilstichprobe N=60
BMFSFJ
Methoden
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HIV-Schutz und Kontrazeption als sinnhaftes Handeln von Frauen / … von Männern
4/92 – 12/95 BMFT Abt. f. Med. Soz., Univ. Freiburg
a) Qualitativbiografische Interviews, Selbstmelder, Frauen N=41, Männer N=40 b) Bevölkerungsbefragung, Zufallsstichprobe, Frauen: N=918, Männer N=739, Ost-Berlin, Freiburg
Kooperation: HumboldtUniv. Berlin (Dr. J. Begenau) J. Fichtner, K. Schehr, E. Weise
Wiss. Begleitung 1/92 – 12/95 BMFSFJ Modellprojekt An- dito laufstelle für vergewaltigte Frauen, Freiburg
Methodenkombination A. Hendel-Kramer u.a. Qualitative Interviews mit vergewaltigten Frauen (n=15)
DESIS – Deutsche 11/91 – Studie zu Infertilität 5/94 und Subfekundität dito
BMFT
a) Standardisiertes Instrument, Bevölkerungsbefragung, Zufallsstichprobe, N=1.531, Rostock, Freiburg, Hamburg b) Qualitativbiografische Interviews bei Teilstichprobe, N=119
Leitung: Nordig-Institut f. Gesundheitsforschung Hamburg (Prof. Dr. W. Karmaus), Kooperation: Inst. f. Sozialmedizin, Univ. Rostock (Prof. Dr. K. Neumann) U. Häberlein, K. Schehr, E. Müller, S. Meier, Ch. Goethe, K. Griese
Determinanten der Aussagebereitschaft bei Opfern von Menschenhandel
2/08-6/09
Bundesministerium des Inneren
Qualitative Einzelinterviews zu Viktimisierungsprozessen N=53
Prof. Dr. B. Kavemann, H. Rabe, Ass.jur., M. Wagner
Familienplanung und Migration im Lebenslauf von Frauen
12/2006 9/2009
BZgA
a) Standardisierte Befragung, N=2.500, Oberhausen, Stuttgart, Berlin, Nürnberg Qualitative Einzelinterviews N=50, Gruppendiskussionen N=18
Institut für Soziologie der Univ. Freiburg; Kooperation mit vier Kommunen H. Klindworth, Dipl. biol.; Dr. J. Kruse, D. Niermann, H. Wunderlich, S. Bethmann, Y. Heine, D. Niermann, M. Novak, Ch. Preisner, K. Seibel, R. Wagner
Familienplanung und Migration im Lebenslauf von Männern
12/08-12/09
Landesstiftung Qualitative EinzelinterBaden-Württem views berg N=20, Gruppendiskussionen N=8
D. Niermann, Dr. J. Kruse, A. Salman, F. Storch, A. Tausch
Weitere Informationen zur Forschungstätigkeit des Sozialwissenschaftlichen FrauenForschungsInstituts SoFFI F. und zu Projektveröffentlichungen: Homepage www.soffi-f.de
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