Arbeitsmarktpolitik in der sozialen Marktwirtschaft: Vom Arbeitsforderungsgesetz zum Sozialgesetzbuch II und III
 9783531168876, 3531168878 [PDF]

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Zitiervorschau

Silke Bothfeld · Werner Sesselmeier · Claudia Bogedan (Hrsg.) Arbeitsmarktpolitik in der sozialen Marktwirtschaft

Silke Bothfeld · Werner Sesselmeier Claudia Bogedan (Hrsg.)

Arbeitsmarktpolitik in der sozialen Marktwirtschaft Vom Arbeitsförderungsgesetz zum Sozialgesetzbuch II und III

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Frank Schindler VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16887-6

Inhalt

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Inhalt

Claudia Bogedan/Silke Bothfeld/Werner Sesselmeier Arbeitsmarktpolitik in der sozialen Marktwirtschaft – Vom Arbeitsförderungsgesetz zum Sozialgesetzbuch II und III. Eine Einleitung

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I. Grundzüge der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland im Wandel Werner Sesselmeier/Gabriele Somaggio Arbeitsmarktpolitik im wohlfahrtsstaatlichen Vergleich

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Sigrid Gronbach Soziale Gerechtigkeitsleitbilder in der Arbeitsmarktpolitik – von der Verteilung zur Teilhabe

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Katrin Mohr Von „Welfare to Workfare“? Der radikale Wandel der deutschen Arbeitsmarktpolitik

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Matthias Knuth Grundsicherung „für Arbeitsuchende“: ein hybrides Regime sozialer Sicherung auf der Suche nach seiner Governance

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II. Das Instrumentarium der Arbeitsmarktpolitik zwischen Universalismus und Zielgruppenorientierung Frank Oschmiansky/Mareike Ebach Vom AFG 1969 zur Instrumentenreform 2009: Der Wandel des arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums

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Gerhard Bosch Berufliche Weiterbildung in Deutschland 1969 bis 2009: Entwicklung und Reformoptionen

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Peer Rosenthal Arbeitslosenversicherung im Wandel

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Oliver Nüchter/Alfons Schmid Eine subjektive Dimension der Arbeitsmarktpolitik. Einstellungen zur Arbeitslosenversicherung und Grundsicherung für Arbeitsuchende in Deutschland

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Karen Jaehrling Gleichstellung und Aktivierung – Wahlverwandtschaft oder Stiefschwestern?

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Inhalt

III. Akteure der Arbeitsmarktpolitik zwischen Aufgabenerfüllung und Steuerungswandel Holger Schütz Neue und alte Regelsteuerung in der deutschen Arbeitsverwaltung

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Volker Hielscher/Peter Ochs Das prekäre Dienstleistungsversprechen der öffentlichen Arbeitsverwaltung

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Petra Kaps Die Rolle der Kommunen in der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik

191

Tanja Klenk Vom Arbeitsförderungsgesetz zum Sozialgesetzbuch II und III: Pfadwechsel in der korporatistischen Arbeitsverwaltung?

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Wolfgang Schroeder/Andreas D. Schulz Arbeitsmarktpolitik und Sozialpartner

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Stefanie Kremer/ Silke Bothfeld Reflexive Regulierung von Beschäftigungsbedingungen: Königsweg oder Sackgasse?

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Manon Irmer/Aysel Yollu-Tok Die Europäischen Institutionen als Drahtzieher der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland? Zur Bedeutung der Europäischen Beschäftigungsstrategie und des Europäischen Sozialfonds im arbeitsmarktpolitischen Geschehen

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Ausblick Silke Bothfeld/Werner Sesselmeier/Claudia Bogedan Arbeitsmarktpolitik – ein emanzipatorisches Projekt in der sozialen Marktwirtschaft

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Anhang Daten und Fakten

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Arbeitsmarktpolitik in der sozialen Marktwirtschaft

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Claudia Bogedan/Silke Bothfeld/Werner Sesselmeier

Arbeitsmarktpolitik in der sozialen Marktwirtschaft – Vom Arbeitsförderungsgesetz zum Sozialgesetzbuch II und III. Eine Einleitung Arbeitsmarktpolitik in der sozialen Marktwirtschaft

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Stabilität und Wandel der deutschen Arbeitsmarktpolitik

Im Bundestagswahljahr 2009, vierzig Jahre nach ihrer Institutionalisierung in Deutschland befindet sich die deutsche Arbeitsmarktpolitik wieder an einer Wegscheide. Entgegen der Sparbemühungen und der Ausgabenreduzierungen der vergangenen Jahre wird angesichts der ökonomischen Rezession erneut auf das SGB III zugegriffen, um den Beschäftigungsabbau zu bremsen und den Einbruch der Binnennachfrage abzufedern: Nach Jahren der allgemeinen Skepsis gegenüber den Instrumenten der Arbeitsförderung hat die Bundesregierung im konjunkturellen Abschwung mit dem schnellen und flexiblen Umbau des Kurzarbeitergeldes (KuG) bereits im Winter 2008 erneut auf die Stabilisierungsfunktion der Arbeitsmarktpolitik gesetzt. Zwar können KuG und Arbeitslosengeld den Abbau von Beschäftigung nicht verhindern, aber sie können ihn verzögern oder – zusammen mit dem Arbeitslosengeld I - abfedern. Das institutionelle Gedächtnis der aktiven Arbeitsmarktpolitik in Deutschland scheint also auch durch die jüngste Phase der Arbeitsmarktreformen nicht gelöscht. Tatsächlich war die Abfederung konjunktureller Arbeitslosigkeit ein zentrales Ziel der deutschen Arbeitsmarktpolitik bei der Einführung des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) im Jahr 1969. Während in den vergangenen vier Jahrzehnten über die Notwendigkeit einer aktiven Arbeitsmarktpolitik Einigkeit bestand, unterlagen ihre Ziele und ihr Instrumentarium zahlreichen Veränderungen. Dabei entwickelt sich die Arbeitsmarktpolitik in Deutschland allerdings nicht unbedingt in Reaktion auf die Wahrnehmung neuer bzw. anwachsender Probleme. Faktoren für den Wandel sind nicht allein der spezifische und veränderliche Problemdruck, sondern auch strategische Interessen der jeweiligen Regierungen, politischnormative Vorstellungen der politischen Akteure, vorhandenes teilweise auf Erfahrungen basierendes Politikwissen sowie die vorherrschenden wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Leitvorstellungen in der arbeitsmarktpolitischen Arena. Die Analyse des Wandels der Arbeitsmarktpolitik, weniger seine Erklärung, steht im Zentrum des vorliegenden Bandes, denn neben Profil und Ausgestaltung der Instrumente 1 der bundesdeutschen Arbeitsmarktpolitik (vgl. dazu Oschmiansky/Ebach ) haben sich auch grundlegende Zielvorstellungen (vgl. Gronbach und Mohr) verändert. Die AutorInnen dieses Bandes zeichnen diesen Wandel nach und zeigen dabei die Gleichzeitigkeit von pfadabhängigen und pfadabweichenden Veränderungen auf. Denn, nicht nur die Pfadbrüche, auch die inkrementellen Veränderungen haben die Gestalt der aktiven Arbeitsmarktpolitik verwandelt. Dies gilt insbesondere für die Reformen der vergangenen Dekade, in der 1

Kursiv gedruckte Namen verweisen auf Beiträge in diesem Band.

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zudem mit der EU (Irmer/Yollu-Tok) und den Kommunen (Kaps) neue Akteure die arbeitsmarktpolitische Arena betraten, während traditionelle Akteure wie die Sozialpartner einen tendenziellen Bedeutungsverlust erlitten (Klenk; Schroeder/Schulz). Mithilfe der vorliegenden Analysen und Bewertungen der Entwicklungen – insbesondere der aktuellen – wird ein umfassenderes Bild des Wandels sichtbar.2 Dabei werden bestehende Dilemmata sowie die Widersprüchlichkeit der Entwicklungen deutlich, denn sie geben nur teilweise Antwort auf die veränderten Rahmenbedingungen, die die aktive Arbeitsmarktpolitik in Deutschland mit neuen Herausforderungen konfrontierte. So fehlt beispielsweise nach wie vor eine Flankierung flexibler Erwerbsbiografien im Sinne eines breiteren Zugangs zu Weiterbildung und zur sozialen Sicherung. Außerdem wurde trotz des wachsenden Bedarfs an gut qualifizierten Arbeitskräften der Qualifikationsschutz bei der Vermittlung in Arbeit aufgehoben, was einen Anstieg unterwertiger Beschäftigung und die tendenzielle Abwertung von Qualifikationen zur Folge haben wird. Schließlich deutet sich an, dass die Systeme der Sicherung des Lebensunterhalts bei Arbeitslosigkeit immer weniger ihre Funktion als Schutz vor Armut bei Arbeitslosigkeit erfüllen werden. Die Entwicklungen der Arbeitsmarktpolitik, die in den einzelnen Beiträgen dieses Bandes untersucht werden besser zu verstehen, sollen vorab noch einmal die Grundfunktionen der Arbeitsmarktpolitik als zentrales Element der Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik und die Herausforderungen herausgearbeitet werden, mit denen die Arbeitsmarktpolitik konfrontiert ist.

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Die Rolle der Arbeitsmarktpolitik in der Sozialen Marktwirtschaft

Die Einführung des AFG muss in enger Verbindung mit dem Stabilitäts- und Wachstumsgesetz im Jahr 1967 gesehen werden: Die Beschäftigungspolitik sollte nachfrageseitig mit dem Stabilitätsgesetz und angebotsseitig mit dem AFG reguliert werden (Lampert 1989). Die Einführung des AFG erfolgte 1969 durch die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, unter dem Eindruck des kurzzeitigen Wirtschaftseinbruchs 1966/67. Damit wurde erstmals systematisch in Deutschland eine aktive Arbeitsmarktpolitik etabliert. Verstanden als Teil der Wirtschafts- und Sozialpolitik wurde mit dem AFG die Idee eines vorbeugenden Schutzes in Ergänzung zum eher nachsorgend konzipierten Versicherungsgedanken realisiert. Die aktive Arbeitsmarktpolitik war dabei eben als ergänzendes Element einer allgemeinen Beschäftigungspolitik konzipiert, die auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene auf die Herstellung von Vollbeschäftigung und auf die Bekämpfung konjunktureller, friktioneller, saisonaler und auch struktureller Arbeitslosigkeit zielte. Dabei war sie auf begleitende wirtschafts-, struktur- sowie bildungspolitische Maßnahmen angewiesen. Durch die Steigerung der Produktivität vermittels der Qualifizierung der Arbeitskräfte erhoffte man sich damals insgesamt eine verbesserte Leistungsfähigkeit der Arbeitsmärkte. In den politischen Debatten bestand bald Einigkeit über drei zentrale Aufgabenfelder des AFG, nämlich die Förderung der beruflichen Bildung, der Erhalt und die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. In den Auslegungen zum AFG in den Folgejahren betonte der damalige Präsident der Bundesanstalt

2 Die Beiträge des Bandes fokussieren stärker die jüngeren Reformen. Für Bilanzen der Frühjahre der aktiven Arbeitsmarktpolitik in Deutschland sei auf frühere Werke verwiesen: Kühl 1982; Lampert 1989; Seifert 1995.

Arbeitsmarktpolitik in der sozialen Marktwirtschaft

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für Arbeit, Josef Stingl, die Orientierung auf eine „vorausschauende“ Arbeitsmarktpolitik3 (Kühl 1982: 260). Die aktive Arbeitsmarktpolitik fügte sich somit in die Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik ein (Lampert 1997) und wurde zu einer der tragenden Säulen des als konservativ-korporatistisch bezeichneten Wohlfahrtsstaats (Sesselmeier/Somaggio), der auf versicherungsförmig organisierten sozialen Sicherungssystemen, dem Prinzip der Selbstverwaltung und dem darin enthaltenen Recht der Mitgestaltung der Tarifparteien basiert (Schroeder). In dieser Tradition der Bismarckschen Sozialgesetzgebung hatte sich bereits nach dem Zweiten Weltkrieg die Arbeitslosenversicherung (Rosenthal) und die Arbeitsvermittlung unter der gemeinsamen Verantwortung der Bundesanstalt für Arbeit (heute Bundesagentur für Arbeit, BA), einer öffentlichen Einrichtung mit eigenem Haushalt (Parafiskus) entwickelt (Schütz und Hielscher/Ochs). Die BA unterlag somit prinzipiell weder der Kontrolle noch der direkten Steuerung des Bundesarbeitsministeriums, sondern war qua definitione selbstverwaltet. Die konkrete Ausgestaltung der aktiven Arbeitsmarktpolitik in Deutschland erfolgte in einem Spannungsfeld von vier Grundfunktionen (vgl. beispielsweise Lampert et al. 1991; Bäcker et al. 2008). Der Wandel der arbeitsmarktpolitischen Funktionen wird jedoch nur selten in einer Gesamtschau thematisiert (anders Aust et al. 2008).

Ökonomische Stabilisierung Da das Niveau von Beschäftigung und Arbeitslosigkeit nicht nur individuelle, sondern auch gesamtwirtschaftliche Auswirkungen auf die Einkommen, Binnenkonsum und -nachfrage hat, besteht ein grundsätzliches wirtschaftspolitisches Interesse an der institutionellen Regulierung des Arbeitsmarktes. Anders als in regulären Warenmärkten ergibt sich der Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage nach Arbeit und damit die gesamtwirtschaftliche Stabilität in einem Arbeitsmarkt eben nicht aus einem marktlich koordinierten freien Ausgleich zwischen beiden Seiten. Vielmehr entsteht ein Gleichgewicht auf der Grundlage einer komplexen Funktion des Zusammenwirkens verschiedenster arbeitsmarktpolitischer Institutionen und der Güternachfrage (Schmid 1987). Die Arbeitsmarktpolitik wirkt dabei durch zweierlei Mechanismen stabilisierend auf die Produktion und den Konsum in einer Volkswirtschaft. Zum einen werden ‚Preis’ und Qualität und damit die Produktivität und Nachfrage nach Arbeitskräften durch die Lohnfindung, die arbeitsrechtliche Regulierung und indirekt auch durch die vorgelagerten Systeme der beruflichen Ausbildung bestimmt. Das institutionelle Beschäftigungssystem bildet somit eine Garantie für ein bestimmtes Niveau der Qualität und Quantität des verfügbaren Arbeitskräftepotentials und somit einen verlässlichen Handlungsrahmen für die Arbeitsmarktakteure – für die Unternehmen ebenso wie für die Beschäftigten und ihre Vertretungen. Im internationalen Vergleich wurde allerdings auch deutlich, dass die Regulierung des deutschen Beschäftigungssystems zwar einen wandelbaren und qualitativ hochwertigen Arbeitsmarkt garantiert, gleichzeitig jedoch ein hohes Maß an Segmentation produziert (Schmid 1994). Angesichts des strukturellen Wandels des Beschäftigungssystems steht insbesondere die Arbeitsmarktpolitik vor neuen Herausforderungen. Zum anderen stellt das Haushaltseinkommen und die Nachfrage der Privathaushalte 3 1974 legte die BA ihre Konkretisierungen und Weiterentwicklungen unter dem Titel „Überlegungen zu einer vorausschauenden Arbeitsmarktpolitik“ vor.

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auf dem Konsumgütermarkt eine zentrale Komponente einer Volkswirtschaft dar. Daher hat die soziale Absicherung des Risikos der Arbeitslosigkeit nicht nur eine auf der individuellen Ebene dekommodifizierende, sondern gleichzeitig eine makroökonomisch stabilisierende Funktion (automatischer Stabilisator), wenn sie bei steigender Arbeitslosigkeit und dem Ausfall von Erwerbseinkommen Einkommens- und Konsumausfälle durch die Bereitstellung des Arbeitslosengeldes ausgleicht. Damit kann in einer Volkswirtschaft in Zeiten schlechter Konjunktur die Nachfrage, zumindest nach Konsumgütern, zwar nicht konstant gehalten, jedoch vor einem dramatischen Einbruch geschützt werden. So sind entsprechend der Entwicklung der Arbeitslosigkeit die Ausgaben der Bundesagentur für die passiven Leistungen stufenförmig angestiegen, um in der Zeit nach der Wiedervereinigung dauerhaft auf einem hohen Niveau (zwischen 1,5 und 1,9% des Bruttoinlandsprodukts; vgl. Tabelle 6 im Anhang) zu verharren; im Jahr 2005 wurde der Spitzenwert erreicht, was einer Summe von mehr als 42 Mrd. Euro entsprach. Seit 2005 ist der Anteil jedoch wiederum auf rd. 1,2% abgesunken.

Erhöhung der Passförmigkeit von Angebot- und Nachfrageseite Da es sich beim Arbeitsmarkt um keinen idealtypischen Markt handelt, indem sich Angebot und Nachfrage durch eine ‚unsichtbare Hand’ des Marktes automatisch ausgleichen (Schmid 1987), ist es Aufgabe der Institutionen des Arbeitsmarktes, zu denen die aktive Arbeitsmarktpolitik zählt, auf den Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage nach Arbeit hinzuwirken. Die ökonomische Erwartung an die aktive Arbeitsmarktpolitik besteht somit einerseits in der Vermeidung von Überschussnachfrage und Überschussangebot von Arbeit und andererseits in der Verbesserung der qualitativen Passförmigkeit zwischen Angebot und Nachfrage (Matching-Effizienz) durch die arbeitsmarktpolitischen Instrumente. Angesichts des strukturellen Wandels von der Industrie- zur Dienstleistungsproduktion, der zu einer Änderung der nachgefragten Arbeitsqualifikationen führt, gewann diese Funktion in den 1960er Jahren an Bedeutung, so dass die aktive Arbeitsmarktpolitik auf die Verringerung und Vermeidung von strukturellen Arbeitsmarktungleichgewichten auf Teilarbeitsmärkten ausgerichtet wurde. Folglich lag ein erster Schwerpunkt arbeitsmarktpolitischer Aktivitäten in der Anfangszeit bei der Qualifizierung und Weiterbildung von Arbeitskräften (Oschmiansky/Ebach). Neben der Fort- und Weiterbildung bediente sie sich außerdem der Instrumente der Arbeitsvermittlung und -beratung sowie Mobilitätshilfen, um eine höhere Anpassungsfähigkeit und räumliche wie sektorale Mobilität und schließlich eine verbesserte Leistungsfähigkeit der Arbeitsmärkte zu erreichen. Eine Fortsetzung findet dieser Gedanke in der Formulierung von Zumutbarkeitskriterien, die den Arbeitslosen eine Pflicht zur beruflichen und regionalen Mobilität auferlegt. Vor allem in dieser Perspektive wirkte sie als mikroökonomische Ergänzung zur Wirtschafts-, Struktur- und Sozialpolitik.

Arbeitsmarktpolitik als Sozialinvestition Historisch betrachtet war die Leitidee der Steigerung der Produktivität und somit die Qualifikation der Arbeitskräfte bereits 1969 im Arbeitsförderungsgesetz angelegt. Erst recht in der heutigen Zeit wird das Anwachsen der Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften mit

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Hoch- oder Fachhochschulstudium diagnostiziert, während für Arbeitskräfte mit abgeschlossener Berufsausbildung oder ohne Ausbildung zukünftig ein Rückgang in der Nachfrage erwartet wird (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008). Folgerichtig war daher, dass die „Vermeidung unterwertiger Beschäftigung“ schon 1969 als Handlungsziel in die Präambel des Gesetzes aufgenommen wurde. Diese Zielstellung wurde jedoch durch die Verengung auf die „Ausgleichsfunktion am Arbeitsmarkt“ beim Übergang vom Arbeitsförderungsgesetz zum Sozialgesetzbuch III (1997) aufgegeben und auf die Formulierung der Aufgabe der Arbeitsvermittlung, eine „passgenaue Vermittlung“ herbeizuführen, reduziert. Als übergreifende Zielstellung konnte sie seitdem, auch bei der Einführung des Jobaqtiv-Gesetzes 2001 nicht wieder durchgesetzt werden. Auch wenn die Vermeidung unterwertiger Beschäftigung kein explizites Ziel mehr darstellt, so unterstützen dennoch einige Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik die individuelle Entscheidung für Humankapitalinvestitionen. Erstens, soll durch die verstärkte präventive Ausrichtung das Eintreten von Arbeitslosigkeit im Vorfeld verhindert bzw. durch die ‚passgenaue Vermittlung’ Phasen der Arbeitslosigkeit verkürzt sowie durch den Qualifikations- und Einkommensschutz bei der Arbeitsvermittlung der Erhalt einmal erworbener Qualifikationen zumindest vorerst gewährleistet werden. So soll in Phasen konjunktureller und friktioneller Arbeitslosigkeit der Verlust des Arbeitsplatzes und der damit verknüpfte Verlust von Humankapital als Folge eines andauernden Ausschlusses aus dem Arbeitsmarkt verhindert werden. Untersuchungen der Vermittlungspraxis zeigen jedoch, dass dieses implizite Versprechen nicht immer eingelöst werden kann (vgl. Hielscher/Ochs). Zweitens bildet das Arbeitslosengeld in der Suchphase bei Arbeitslosigkeit einen Puffer und ermöglicht damit für die Beschäftigten die notwendige Mobilität und Flexibilität (Chetty 2008). Empirische Untersuchungen konnten belegen, dass die qualifikatorische Passförmigkeit zwischen dem Angebot an und der Nachfrage von Arbeit durch ein in Dauer und Höhe großzügiges Arbeitslosengeld gefördert wird (Gangl 2004). Denn die Zahlung eines ausreichenden Arbeitslosengeldes vermindert unterwertige Beschäftigung und schützt erworbene Qualifikationen, indem sie die Eigenverantwortlichkeit stärkt und die Arbeitskräfte zur Investition in berufliche Ausbildung ermuntert. Schließlich sollen, drittens, die Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung bzw. Fortbildung und Umschulung die Entwicklung von beruflichen Qualifikationen unterstützen (Bosch), so dass es nahe liegend erschien, im Zuge einer aktivierenden und investiven Strategie die Elemente der „Förderung“ auszubauen. Wie sich jedoch zeigt, wurden ausgerechnet im Bereich der Fortbildung und Umschulung die Ausgaben und Teilnahmezahlen immer weiter zurückgestutzt. Die Aufgabe des Ziels der Vermeidung unterwertiger Beschäftigung und die verschärften Zumutbarkeitskriterien entfalten jedoch erheblichen Druck auf Arbeitslose und Beschäftigte. So wird das Problem der unterwertigen Beschäftigung, insbesondere bei westdeutschen AkademikerInnen, bereits sichtbar - es fällt bei Frauen sogar noch deutlicher aus, als bei Männern (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006, zur besonderen Situation von Frauen in der arbeitsmarktpolitischen Förderung, siehe Jaehrling).

Arbeitsmarktpolitik als Sozialpolitik Faktisch hat die Schaffung von Erwartungssicherheit und ökonomischer Stabilität gleichsam eine ökonomische und eine sozialpolitische Komponente, indem die Arbeitsmarktpoli-

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tik implizit ein bestimmtes Sicherungsniveau und ein Unterstützungsversprechen für die Beschäftigten institutionalisiert, benachteiligte Gruppen besonders unterstützt und ganz generell Erwartungssicherheit im Falle des Eintretens des Risiko Arbeitslosigkeit bietet. Diese Eigenschaft der Arbeitsmarktpolitik ist Ausdruck des Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG, das das staatliche Handeln normativ bindet und dem Staat zum Schutz Hilfebedürftiger, der Gewährleistung eines Existenzminimums und allgemein zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit verpflichtet (Kremer/Bothfeld). Auch in der Ökonomie wird anerkannt, dass die arbeitsmarktpolitische Zielsetzung sowohl eine marktfördernde als auch eine marktkorrigierende Komponente enthält, und „für alle Arbeitsfähigen und Arbeitswilligen eine möglichst ununterbrochene, ihren Neigungen und Fähigkeiten entsprechende Beschäftigung zu bestmöglichen Bedingungen“ (Lampert 1997: 431) sichern soll. Auf welche Weise dieses Ziel erreicht werden soll, unterliegt jedoch politischen Aushandlungsprozessen. Zwar sind die Lohnersatzleistungen bei Arbeitslosigkeit hochgradig akzeptiert (Schmid/Nüchter) und werden prinzipiell als Teil des Gesellschaftsvertrags verstanden, doch beinhaltet ihre Bezeichnung als ‚passive’ Leistung die (negative) Konnotation der Alimentierung arbeitsloser Personen anstelle einer Motivierung und Ermutigung zur Wiedereingliederung. Die Neuauslegung des Verhältnisses zwischen der konditionalen (d.h. an vorherige Beitragsleistung geknüpfte) Gewährung lebensstandard- bzw. Existenz sichernder Lohnersatzleistung und der Verpflichtung zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bildet den Kern der Aktivierungspolitiken, die prinzipiell auf die Erhöhung der Erwerbstätigenquote zielen und damit Spannungen mit dem existierenden System verursachen (Jaehrling). Diese Integrationsfunktion der Arbeitsförderung („aktive“ Arbeitsmarktpolitik) steht vor allem in der offiziellen Evaluierung der jüngsten Arbeitsmarktpolitik, aber auch in der generellen Arbeitsmarktforschung unter Beobachtung und wird im Hinblick auf ihre Effektivität (Wirkungsgrad) und Effizienz (Kosten gemessen an den Wirkungen) bewertet. Dabei ist der sozialpolitische Aspekt, d.h. die Bereitstellung eines Sicherungsnetzes für die TeilnehmerInnen, nur soweit legitimierbar, sofern die Wirkungen des Instrumenteneinsatzes als der Erhalt von Motivation und Beschäftigungsfähigkeit interpretiert werden können und möglicherweise langfristig statistisch nachweisbare Effekte erzielt werden können. Insofern ist die Bildung der Zielindikatoren kritisch daraufhin zu prüfen, inwiefern tatsächlich nachhaltige Effekte der Arbeitsmarktintegration erzielt werden können (vgl. Neubäumer 2009). Hiermit sind also die vier Pole genannt, die den Rahmen für die Entwicklung der Arbeitsmarktpolitik aufspannen. Das aktuelle Problem besteht darin, dass das SGB III keine konkreten Zielstellungen mehr enthält und damit Gefahr läuft, seine Legitimität als mikround makro- sowie als sozialpolitisches Steuerungsinstrument zu verlieren. Dies ist umso problematischer, als dass die Entwicklungen im Beschäftigungssystem, aber auch politische Entwicklungen die Arbeitsmarktpolitik mit neuen Herausforderungen konfrontieren.

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Bedingungen und Anforderungen arbeitsmarktpolitischen Wandels

Wie schon erwähnt wurde, entstand das AFG unter dem Eindruck der Rezession der Jahre 1966/ 67. Seitdem haben sich die Probleme und Herausforderungen jedoch erheblich verändert und ausdifferenziert und bilden nun einen vielgestaltigen Begründungszusammenhang für ihre Fortentwicklung. Zu den wichtigsten Herausforderungen gehören die strukturelle Arbeitslosigkeit, die Veränderung der Produktionsstrukturen in Folge wirtschaftlicher

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Globalisierung, die soziale Modernisierung sowie die schwindende Regulierungsmacht durch die Europäisierung der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik.

Von konjunktureller zu struktureller Arbeitslosigkeit Seit Einführung des AFG im Jahr 1969 durchlief die Bundesrepublik Deutschland wie auch ihre Nachbarländer einen sozioökonomischen Strukturwandel und eine soziale Modernisierung – zwar ohne großen Knall aber nicht minder weit reichend in ihren Wirkungen. Versteht man die aktive Arbeitsmarktpolitik als Teil einer allgemeinen Beschäftigungspolitik, die auf die Herstellung von Vollbeschäftigung, oder zumindest eines ‚hohen Beschäftigungsniveaus’ zielt, so zeigt sich allein beim Blick auf die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen, dass diese Funktion in den vier Jahrzehnten in weite(re) Ferne gerückt ist. Während bei der Einführung 1969 die Arbeitslosenquote gerade mal 0,9 % betrug, wuchs diese kontinuierlich an und erreichte ihren Höchstpunkt 2005 mit 13,4 % (vgl. dazu den Tabellenanhang). Bereits Mitte der 1970er Jahre mit dem Einbruch des Bruttoinlandsprodukts infolge der Ölkrise wurde das junge AFG auf eine harte Belastungsprobe gestellt. Das Ende des „kurzen Traums immerwährender Prosperität“ (Lutz 1984) stellte neue Herausforderungen an die aktive Arbeitsmarktpolitik. Die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit rückte als neues Ziel ins Zentrum. Mit dem raschen und anhaltenden Anstieg der Arbeitslosen regten sich zunehmende Zweifel an einer keynesianisch eingebundenen und inspirierten Arbeitsmarktpolitik. Über die 1980er Jahre verharrte die Arbeitslosigkeit nach ihrem rasanten Anstieg in Folge der zweiten Erdölkrise zu Beginn des Jahrzehnts auf hohem Niveau. Zudem erhöhte sich der Anteil der Langzeitarbeitslosen erneut. Der rasante Anstieg der Arbeitslosigkeit zwischen 1990 und 1991 in Ostdeutschland ging einher mit einem Rückgang des dortigen Arbeitsvolumens um nahezu ein Fünftel. Der Versuch, diese Dynamik umzukehren, prägte die nachfolgende Dekade. Mit den Herausforderungen wuchsen dann auch die Ausgaben (sie schnellten von 1,92 % des BIP 1990 auf 2,40 % im Jahr 1991 (vgl. Tabelle 6 im Anhang). Die Entwicklung der Arbeitslosigkeit 4 ergibt bis 2005 ein Treppenmuster, da aus jedem Abschwung eine Restarbeitslosigkeit zurückbehalten wurde (Hysteresis). Über die Jahre wuchs folglich das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit zur zentralen Herausforderung in der aktiven Arbeitsmarktpolitik an, die maßgeblicher Ausgangspunkt für die sogenannten Hartz-Reformen war.

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Wir beziehen uns bei der Betrachtung der Abschwünge auf die Definition des Sachverständigenrates für eine ausgeprägte konjunkturelle Abschwungphase (Sachverständigenrat 2008, Kasten 2, Seiten 78ff). Demnach ergeben sich seit Einführung des AFG fünf Abschwungphasen: Abschwung I (2. Quartal 1973 bis 2. Quartal 1975), Abschwung II (4. Quartal 1979 bis 4. Quartal 1982), Abschwung III (1. Quartal 1991 bis 3. Quartal 1993), Abschwung IV (1. Quartal 2001 bis 2. Quartal 2005) und die aktuelle Abschwungphase, Abschwung V (2.Quartal 2008 bis heute).

14 Abbildung 1:

Claudia Bogedan/Silke Bothfeld/Werner Sesselmeier Treppenförmiger Anstieg von Langzeitarbeitslosigkeit (eigene Darstellung)

Dieses Anwachsen der Langzeitarbeitslosigkeit ist Teil eines umfassenden Wandels von Arbeitsmärkten, der meist auf die drei großen Veränderungen zurückgeführt wird – die ökonomische Globalisierung, De-Industrialisierung und soziale Modernisierung.

Die ökonomische Globalisierung Der Strukturwandel der Wirtschaft zeigt sich unter dem Großtrend Globalisierung in unterschiedlichen Facetten (vgl. Sesselmeier 2008). Erstens kann eine zunehmende Liberalisierung des internationalen Handels und der Finanzmärkte beobachtet werden. In Deutschland ist dies eng verbunden mit der Entwicklung des europäischen Binnenmarktes. Zweitens hat die Veränderung der Informations- und Kommunikationstechnologien neue Möglichkeiten der globalen Arbeitsteilung eröffnet. Drittens entstanden neue Absatz- und Produktionsmärkte nach dem Mauerfall im Ostblock und auch in sich entwickelnden (ehemaligen) Entwicklungs- und Schwellenländern. Und viertens machten die Transportkosten einen verschwindend geringen Anteil an den Gesamtkosten aus.

De-Industrialisierung Die Abnahme der Beschäftigten als auch der Bruttowertschöpfung im sekundären Sektor (vgl. Sesselmeier 2008), schlägt sich unmittelbar im Arbeitsmarkt in Form der nachgefragten Qualifikationen nieder. Sie stellt damit die aktive Arbeitsmarktpolitik vor große Herausforderungen. Betrug 1969 der Anteil der Beschäftigten im tertiären Sektor 42,3 %, so

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wuchs dieser bis 2007 auf 72,4 % an (Daten des Statistischen Bundesamtes). Auch wenn ein großer Teil der Dienstleistungen ‚produktionsbezogen’ ist, d.h. der Planung und Durchführung der Güterproduktion sowie der Verteilung der Güter dient, und folglich die Zahlen nicht überzubewerten sind, hat sich die Art und Weise, wie gewirtschaftet wird, erheblich verändert. Erstens entstanden zahlreiche neue Berufe, und die Halbwertzeit von Wissen nahm ab. Unter dem Stichwort „Lebenslanges Lernen“ wird diese Notwendigkeit eines individuell und kollektiv veränderten Verständnisses von Qualifizierung in einem zunehmend von neuen Technologien und einem globalen Wettbewerb um Ideen und Innovation gekennzeichneten Arbeitsmarkt zusammengefasst. Veränderte Wissensanforderungen treffen zusammen mit häufigeren Berufs- und Tätigkeitswechseln. Der Arbeitsförderung ist es bislang nur unzureichend gelungen, die Weiterbildungsbeteiligung im notwendigen Maß zu steigern (CEDEFOP 2008). Zweitens ist mit der De-Industrialisierung auch das Ende der fordistischen Produktionsweise verbunden, die Grundlage einer auf Massenkonsum und damit allgemeinen Wohlstandsentwicklung zielenden Regulationsweise war. Folglich kann, drittens, ein Bedeutungsverlust des sogenannten Normalarbeitsverhältnisses und der damit verbundenen Normalerwerbsbiografie des männlichen Industriearbeiters beobachtet werden (vgl. Geißler 2002; Wimbauer 2006). Der Bedeutungsverlust ist gespeist sowohl aus den veränderten Rahmenbedingungen des Arbeitsmarktes als auch einer sozialen Modernisierung.

Soziale Modernisierung Die soziale Modernisierung beschreibt eine Heterogenisierung gesellschaftlicher Verhältnisse und einen Wandel der Wertorientierungen. Zu beobachten ist eine wachsende Pluralisierung von Lebensstilen, die sich in unterschiedlichen Familien-, Wohn- und Lebensformen zeigt. Dies zeigt sich auch in einer Modernisierung tradierter Geschlechterrollen, die einhergehen mit einer gewachsenen Erwerbsbeteiligung von Frauen, einem größerem Maß an Selbstbestimmung und sich wandelnder Lebens- und Haushaltsformen (Leiber et al. 2005). Die Frauenerwerbstätigkeit stieg in den vergangenen vier Jahrzehnten kontinuierlich. Die Erwerbsquote der Frauen lag in der BRD im europäischen Vergleich auf einem besonders niedrigen Niveau (1969 waren es 30,3 %, 2007 45,1 %, wobei die Teilzeitquote der Frauen 51,1 Prozent betrug, vgl. Tabelle 2 im Anhang). Mit der Wiedervereinigung trafen 1990 zwei gegensätzliche Traditionen der Arbeitsmarktintegration von Frauen aufeinander. Während in Westdeutschland das männliche Familienernährer-Modell dominierte und Frauen tendenziell als Hausfrau und Mutter zu Hause oder in Teilzeit erwerbstätig waren, waren in der DDR Frauen vollständig in die Erwerbsarbeit integriert (Trappe 1995). Die Rolle der Frau hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten seit der Wiedervereinigung in beiden Teilen Deutschlands jedoch insofern gewandelt, dass die Rollenteilung an Klarheit verloren hat. Vor diesen Hintergründen sind die sozialen Sicherungssysteme nur unzureichend in der Lage neue Übergänge zwischen unterschiedlichen Phasen einer Erwerbsbiografie angemessen abzusichern, um somit die für eine funktionierende Marktdynamik notwendige „Risikobereitschaft“ der Marktteilnehmer zu erhöhen (Schmid 2002). Vor allem aber hat

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sich der deutsche Arbeitsmarkt im internationalen Vergleich als wenig flexibel und inklusiv erwiesen (vgl. Eichhorst et al. 2004; Schmid 2008).

Europäisierung und Machtverlust nationaler Regierungen Den gewachsenen Herausforderungen steht ein Verlust an nationalstaatlicher Regulierungsmacht im Bereich der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik gegenüber, die sich durch die Einbindung in die Beschäftigungsstrategie der Europäischen Union und die Monitoring- und Bewertungssysteme der OECD ergibt. Dieser Wandel von einer nationalstaatlichen Sozialpolitik hin zu einer europäischen vollzog sich mit dem Inkrafttreten des EU-Vertrags von Amsterdam zum 1. Mai 1999 durch die Festschreibung der Gemeinschaftskompetenz nach Art. 136 Abs. 1 EG in diesem Feld mit den Schwerpunkten Förderung der Beschäftigung, Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, angemessener sozialer Schutz, Sozialer Dialog, Entwicklung des Arbeitskräftepotenzials und Bekämpfung von Ausgrenzungen. Es hat sich zwar die Einsicht durchgesetzt, dass Sozialpolitik nicht von Brüssel aus gemacht werden kann, sondern eine Kernaufgabe der Mitgliedsländer ist. Gleichwohl hat die europäische Ebene auf Grund der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion ein eigenes Interesse an der Funktionsfähigkeit des sozialen Sicherungssystems. Denn neben der eher juristisch orientierten Aufwertung der Sozialpolitik veränderte sich auch deren ökonomischer Stellenwert im Zuge der EWU, da sich durch die EWU die Optionen der nationalen Wirtschaftspolitik verändert haben. Auf der einen Seite entfallen die Möglichkeiten einer nationalen Geld-, Zins- und Wechselkurspolitik, und die Einsatzfähigkeit der Finanz- und Budgetpolitik ist durch die Maastricht-Kriterien restringiert. Auf der anderen Seite sind damit die regulierenden und mikroökonomisch ausgerichteten Politikfelder wie eben die Sozialpolitik als Träger der Anpassungslasten an makroökonomische Änderungen in das Zentrum nationalstaatlicher Wirtschaftspolitik gerückt. Die EU hat somit nicht nur ein Interesse an den makroökonomischen Politikfeldern, sondern gerade auch an den mikroökonomisch orientierten Bereichen, da diese jetzt die Aufgabe haben, Ungleichgewichte zwischen den Mitgliedsstaaten zu bewältigen. Hier kann es zu einem Spannungsverhältnis zwischen den verschiedenen Aufgaben der Sozialpolitik – soziale Sicherung zum einen und zwischenstaatliches Allokationsinstrument zum anderen – kommen. Die Herausforderungen für und Anforderungen an eine effektive und effiziente aktive Arbeitsmarktpolitik haben sich in den vergangenen Jahren somit grundlegend verändert. Entgegen der Steuerungseuphorie von 1969 wurde allerdings in den Folgejahren – parallel zur wachsenden Arbeitslosigkeit und der Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit – die Wirksamkeit der Arbeitsförderung seitens der Politik und der Wissenschaft angezweifelt und ihr Nutzen in Frage gestellt. Die in diesem Band diagnostizierten Veränderungen der arbeitsmarktpolitischen Ziele und Instrumente bilden den aktuellen Stand der Entwicklungen ab und bewerten ihn im historischen Kontext. Es deutet sich jedoch an – und dies werden die Beiträge im einzelnen zeigen – dass dieser keinesfalls das Ergebnis linearer Entwicklungsprozesse ist, wie es die Debatten um die arbeitsmarktpolitische Aktivierung (vgl. Aust et al. 2008; Eichhorst et al. 2008; Koch et al. 2009) oder den Wohlfahrtsstaatsumbau deutlich machen (stellvertretend für die nahezu unüberschaubare Literatur hierzu Lütz/Czada 2004 sowie Haubner et al. 2009).

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Wandel der arbeitsmarktpolitischen Ziele und Instrumente

Der vorliegende Band bilanziert die Entwicklung von 40 Jahren aktiver Arbeitsmarktpolitik in Deutschland. In Teil I werden die Veränderungen in den Grundzügen der deutschen Arbeitsmarktpolitik diskutiert. Teil II behandelt den Wandel der Instrumente und Teil III beschäftigt sich mit den alten und neuen Trägern der Arbeitsmarktpolitik und ihren sich wandelnden Rollen, um abschließend und zusammenfassend zu einer allgemeineren Diagnose bezüglich des aktuelle erreichten Standes nach 40 Jahren aktiver Arbeitsmarktpolitik in Deutschland zu gelangen (Bothfeld/Sesselmeier/Bogedan). Im Anhang des Bandes werden die zentralen arbeitsmarktpolitischen Indikatoren im Zeitverlauf sowie institutionelle Informationen präsentiert. Die Mehrzahl der Beiträge wurde im kollegialen Kreis im Rahmen von zwei AutorInnenworkshops im August 2008 in Berlin und im Februar 2009 in Düsseldorf diskutiert. Das Engagement und die Diskussionsfreudigkeit der teilnehmenden Kolleginnen und Kollegen haben zur Kohärenz des gesamten Bandes entscheidend beigetragen. Wir möchten außerdem Hartmut Seifert, Jürgen Kühl und Bernd Reissert für ihr Diskussionsbeiträge sowie Renate Anstütz und Florian Stege für ihre technische Unterstützung danken. Weiterer Dank gilt Frank Schindler vom VS-Verlag, der die Produktion des Bandes sofort befürwortete und die Herausgeberinnen und den Herausgeber durch schnelle und flexible Hilfe unterstützte.

Literatur Aust, J./Baethge-Kinsky,V./ Müller-Schoell, T./Wagner, A. (Hrsg.) (2008): Über Hartz hinaus. Stimmt die Richtung in der Arbeitsmarktpolitik? Edition Hans-Böckler-Stiftung 214, Düsseldorf. Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2008) Bildung in Deutschland 2008. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Übergängen im Anschluss an den Sekundarbereich I, Berlin. Bäcker, G./ Naegele, G./ Bispinck, R./ Hofemann, K./ Neubauer, J. (2008), Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland. Band 1: Grundlagen, Arbeit, Einkommen und Finanzierung. Wiesbaden: VSA. CEDEFOP (2008) http://www.cedefop.europa.eu/etv/projects_networks/Statistics/indicators_ continuing.asp (letzter Abruf 30.03.2009). Chetty, R. (2008): Moral Hazard vs. Liquidity and Optimal Unemployment Insurance. In: Journal of Political Economy 116. 2. 173-234. Eichhorst, W./Kaufmann, O./ Konle-Seidl, R. (Hrsg.) (2008): Bringing the Jobless into Work? Experiences with Activation Schemes in Europe and the US, Berlin u.a.: Springer. Eichhorst, W./Thode, E./Winter, F. (2004): Benchmarking Deutschland 2004. Arbeitsmarkt und Beschäftigung, Berlin u.a: Springer. Gangl, M. (2004) Institutions and the structure of labour market matching in the United States and West Germany, European Sociological Review. 20. 3. 171-187. Geißler, R. (20023): Die Sozialstruktur Deutschlands. Die gesellschaftliche Entwicklung vor und nach der Vereinigung, Opladen: Westdeutscher Verlag. Haubner, D./Mezger, E./Schwengel, H. (Hrsg.) (2009): Reformpolitik für das Modell Deutschland, Marburg: Metropolis. Koch, S./ Kupka, P./ Steinke, J. (2009): Aktivierung, Erwerbstätigkeit und Teilhabe. Vier Jahre Grundsicherung für Arbeitsuchende, Gütersloh und Nürnberg.

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Claudia Bogedan/Silke Bothfeld/Werner Sesselmeier

Konsortium Bildungsberichterstattung (2006) Bildung in Deutschland. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration, Berlin. Kühl, J. (1982): Das Arbeitsförderungsgesetz (AFG) von 1969, in: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. 15. 3. 251-260. Lampert, H. (1989): 20 Jahre Arbeitsförderungsgesetz. In: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. 22. 2. 173-186. Lampert, H. (1997): Arbeitsmarktordnung. In: Schmid, A./D. Kahsnitz/G. Ropohl (Hrsg.) Handbuch zur Arbeitslehre,München: Oldenbourg. 429 - 442. Lampert, H./J. Englberger/U. Schüle (1991): Ordnungs- und prozeßpolitische Probleme der Arbeitsmarktpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin: Duncker und Humblot. Leiber, S./ A. Thiel,/A. Ziegler (2005): Demografie. In: Bothfeld, S./C. Klenner/S. Leiber/A. Thiel/A. Ziegler: WSI-FrauenDatenReport 2005 - Handbuch zur ökonomischen und sozialen Situation von Frauen, Berlin: Edition Sigma.11-55. Lutz, Burkart (1984): Der kurze Traum immerwährender Prosperität. Eine Neuinterpretation der industriell-kapitalistischen Entwicklung im Europa des zwanzigsten Jahrhunderts, Frankfurt /New York: Campus. Lütz, Susanne/Czada, Roland (Hrsg.) (2004): Wohlfahrtsstaat – Transformation und Perspektiven, Wiesbaden: VS Verlag. Neubäumer, Renate (2009): Mikroökonomische Evaluation aktiver Arbeitsmarktpolitik – Grundlagen, Ergebnisse und eine kritische Bestandsaufnahme, in: Sozialer Fortschritt. German Review of Social Policy 58 (im Erscheinen). Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2008): Die Finanzkrise meistern – Wachstumskräfte stärken, Jahresgutachten 2008/2009, Wiesbaden. Schmid, G. (1987): Zur politisch-institutionellen Theorie des Arbeitsmarkts. Die Rolle der Arbeitsmarktpolitik bei der Wiederherstellung der Vollbeschäftigung. In: Politische Vierteljahresschrift. 28. 2. 133-161. Schmid, G. (Hrsg.) (1994) Labor Market Institutions in Europe. A Socioeconomic Evaluation of Performance, Armonk/ New York: M.E. Sharpe. Schmid, G. (2002): Wege in eine neue Vollbeschäftigung. Übergangsarbeitsmärkte und aktivierende Arbeitsmarktpolitik, Frankfurt/New York: Campus. Schmid, G. (2008): Full Employment in Europe. Managing Labour Market Transitions and Risks, Cheltenham: Edward Elgar. Seifert, H. (Hrsg.) (1995): Reform der Arbeitsmarktpolitik. Herausforderung für Politik und Wirtschaft. Köln: Bund Verlag. Sesselmeier, W. (2008): Sozio-ökonomischer Wandel: Ein Überblick. In: Funk, L. (Hrsg.): Anwendungsorientierte Marktwirtschaftslehre und Neue Politische Ökonomie. Wirtschaftspolitische Aspekte von Strukturwandel, Sozialstaat und Arbeitsmarkt. Eckhard Knappe zum 65. Geburtstag. Marburg, 163-186. Trappe, H. (1995): Emanzipation oder Zwang? Frauen in der DDR zwischen Beruf, Familie und Sozialpolitik, Berlin: Akademie Verlag. Wimbauer, C. (2006): Frauen – Männer, in: Lessenich, S./Nullmeier, F. (Hrsg.): Deutschland – eine gespaltene Gesellschaft. Frankfurt/New York: Campus. 136-157

Arbeitsmarktpolitik in der sozialen Marktwirtschaft

I. Grundzüge der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland im Wandel

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Arbeitsmarktpolitik im wohlfahrtsstaatlichen Vergleich

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Werner Sesselmeier/Gabriele Somaggio

Arbeitsmarktpolitik im wohlfahrtsstaatlichen Vergleich

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Hintergrund

Die Rahmenbedingungen für die Arbeitsmarktpolitik, erst auf Grundlage des Arbeitsförderungsgesetzes von 1969 und ab 1998 auf Grundlage des Sozialgesetzbuches II und III, veränderten sich stetig. Dies war mit einem Wandel im Verständnis und in der Stellung der Arbeitsmarktpolitik verbunden, welcher einerseits in den Veränderungen des theoretischen Mainstreams, der die Verlagerung von der nachfrageorientierten Wirtschafts- (makroökonomische Sicht) hin zur Angebotspolitik auf dem Arbeitsmarkt (mikroökonomische Sicht) beschreibt, begründet lag. Andererseits ist dieser Zeitraum von einem sozioökonomischen Strukturwandel gekennzeichnet, dessen Hauptaspekte die zunehmende internationale Verflechtung von Kapital und Akteuren durch Waren- und Dienstleistungsströme sind. Zudem kommt durch die Informatisierung der Arbeitswelt der IKT eine Schlüsselrolle zu, wodurch sich zu den bestehenden drei klassischen Sektoren der Informationssektor generiert (Sesselmeier 2008: 15). Dieser Strukturwandel ist vom Wegfall einfacher Tätigkeiten insbesondere im Industriesektor gekennzeichnet, womit sich die strukturelle Arbeitslosigkeit verschärfte (Schettkat 1999; Adnett/Hardy 2005: 71). So war die makroökonomische Wirtschaftspolitik mit Fokus auf die Nachfrageseite nicht mehr adäquat, um die Beschäftigungssituation zu verbessern. Eine Anpassung der Arbeitsmarktpolitik als Instrument für die Beschäftigungssteigerung wurde erforderlich (Høj et al. 2006 9ff.; Eichhorst/Hemerijck 2008: 5). Die OECD Jobs Study von 1994, die vor dem Hintergrund dieser wirtschaftlichen Rahmenbedingungen neben einer Deregulierung auch eine Effizienzsteigerung der aktiven Arbeitsmarktpolitik forderte, untermauerte das Ziel der Verbesserung der Beschäftigungssituation. Zudem veränderte die zunehmende Integration in die EU, welche mit einer Übertragung der Geld- und Währungspolitik an eine supranationale Instanz, der EZB, einherging, die politischen Rahmenbedingungen. Seither gewinnen die in nationaler Hand verbleibenden Politikfelder, wie Sozial- oder Arbeitsmarktpolitik innerhalb der einzelnen Mitgliedsstaaten an Bedeutung. Um wohlfahrtsstaatlichen Unterschieden Rechnung zu tragen, bildet die Europäische Beschäftigungsstrategie (EBS) den Rahmen für Reformen zur Verbesserung der Beschäftigungssituation. In jüngerer Zeit konkretisiert sich dies in der Flexicuritystrategie, die eine Kombination verschiedener Arten von Flexibilität und sozialer Sicherung in Verbindung mit wohlfahrtsstaatlichen Merkmalen vorsieht. Kernelement der Flexicurity ist dabei die aktivierende Arbeitsmarktpolitik. Unter Aktivierung wird ein Bündel an Maßnahmen verstanden, das unterstützend beim Wiedereintritt in den Arbeitsmarkt wirkt (Eichhorst et al. 2008: 4). Ziel des Artikels ist die Herausarbeitung der Stellung der Arbeitsmarktpolitik im Rahmen der Wirtschaftspolitik und deren Bedeutungswandel im Zeitverlauf. Um diesen auf europäischer Ebene darzustellen, werden im zweiten Kapitel zunächst die Kriterien zur Einteilung in die Wohlfahrtsstaatstypologie nach Esping-Andersen sowie das Zusammenspiel der einzelnen Politikbereiche beschrieben. Dies erklärt die verschiedenen Ausgangssi-

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tuationen in den einzelnen Mitgliedsstaaten bei der Durchführung der Reformen, die unterschiedliche Schwerpunkte innerhalb der Arbeitsmarktpolitik legen und sich zudem durch ein unterschiedliches Institutionengefüge auszeichnen. Daher wurde die Umsetzung der Reformen nicht einheitlich angegangen. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede werden im dritten Kapitel dargelegt. Hierbei sind die theoretischen Wirkungskanäle der einzelnen arbeitsmarktpolitischen Instrumente zur Arbeitsmarktflexibilisierung von besonderer Relevanz. Der Bedeutungswandel der Arbeitsmarktpolitik wird zudem ländervergleichend skizziert.

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Die Wirtschafts- und Sozialpolitik innerhalb der europäischen Wohlfahrtsstaaten

Ein Staat wird als Wohlfahrtsstaat bezeichnet, wenn dieser die soziale Verantwortung zum Erhalt eines gewissen Mindestniveaus an Wohlfahrt übernimmt (Esping-Andersen 1990: 18). Im Allgemeinen zeichnen sich die europäischen Wohlfahrtsstaaten durch ein entsprechendes soziales Sicherungssystem aus. Obwohl in diesem Kontext oft von einem Europäischen Wohlfahrtsstaat gesprochen wird (Shelburne 2005; Scharpf 2002), unterscheiden sich dessen soziale Sicherungssysteme meist erheblich. Dies ist auf verschiedene wohlfahrtsstaatliche Hintergründe und institutionelle Rahmenbedingungen in anderen Politikbereichen zurückzuführen, welche unterschiedliche Pfade für Reformen vorgeben und zugleich Erklärungsgrundlage für die diversen Ausgangspositionen der Reformvorhaben bilden.

2.1 Sozialpolitik in den einzelnen Wohlfahrtsstaatenclustern Grundsätzlich sind drei verschiedene Wohlfahrtsstaatstypologien identifizierbar: der liberale, der konservative sowie der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaatentyp.1 Diese Einteilung geht auf Esping-Andersen (1990) zurück, der die Wohlfahrtsstaaten anhand der Ausprägung der einzelstaatlichen Sozialsysteme gruppierte. Dabei sind die Sozialstaaten meist jedoch nicht durchgängig durch die Strukturmerkmale nur eines Modells geprägt (Boeckh 2006: 410). 2.1.1 Kriterien zur Einteilung von Wohlfahrtsstaatstypologien Aufgrund der Vielschichtigkeit der Wohlfahrtsstaaten wird der Vergleich auf die Kriterien der Dekommodifizierung und der Destratifizierung reduziert. Unter Dekommodifizierung wird die relative Entkoppelung von den Risiken und Zwängen kapitalistischer Märkte im Falle eines Eintritts eines Arbeitsmarktrisikos verstanden (Sesselmeier 2008: 33). Ein Individuum kann sich in einem dekommodifizierenden Wohlfahrtsstaat einen gewissen Lebensstandard mit Hilfe staatlicher Institutionen unabhängig von Marktmechanismen sichern (Esping-Andersen 1990: 22). Darüber hinaus werden die Wohlfahrtsstaaten am Grad der Destratifizierung gemessen. Diese beschreibt die Struktur und die Durchlässigkeit sozialer Sicherungssysteme in 1 Häufig werden diese drei Typen um eine südeuropäische und – neuerdings – eine osteuropäische Variante ergänzt.

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Bezug auf Lebenslagen und Solidaritätsbeziehungen (Sesselmeier 2008: 33). In diesem Kontext werden insbesondere die Aus- und Rückwirkungen sozialpolitischer Einkommensleistungen auf die Sozialstruktur der Gesellschaft und die Ausprägungen bzw. Reduzierung sozialer Ungleichheiten betrachtet (Bäcker et al. 2008: 51). Anhand dieser Kriterien werden die genannten Wohlfahrtsstaatencluster gebildet, welche im Folgenden genauer dargestellt werden. 2.1.2 Sozialpolitik in den Wohlfahrtsstaaten Die Wohlfahrtsstaatstypologien implizieren eine unterschiedliche Funktion der Sozialpolitik, weil politische Entscheidungen von nationaler Politik getroffen werden, welche die vorherrschenden Rahmenbedingungen berücksichtigen und die sozialen Gruppen repräsentieren (Armingeon 2007: 913). Im liberalen Wohlfahrtsstaat, wie bspw. Großbritannien ist die Sozialpolitik entsprechend der gesamten Volkswirtschaft flexibel ausgestaltet. Die staatlichen Aktivitäten beschränken sich auf die Gestaltung der Rahmenbedingungen, innerhalb derer die Märkte frei von jeglichem politischen und sozialen Eingriff agieren (Cernat 2006: 15). Infolgedessen konzentriert sich der Staat auf die makroökonomische Stabilitätspolitik, wie Inflation, Arbeitslosigkeit, Währungsstabilität und den Staatshaushalt. In diesen Wohlfahrtsstaaten erfüllen die Marktmechanismen eine selbstregulierende Funktion, die sich durch einen geringen Einfluss der Gewerkschaften sowie einen geringen Kündigungsschutz bei einer gleichzeitig hohen Lohnflexibilität kennzeichnet. Diese schwache Regulierung geht mit einer geringen finanziellen staatlichen Unterstützung einher, die aber mindestsichernde Leistungen für alle Betroffenen garantiert (Boeckh 2006: 412; Sesselmeier 2008: 34). Weitere wohlfahrtsstaatliche Elemente finden sich in der Unterstützung und Förderung von privaten Absicherungssystemen gegen Arbeitsmarktrisiken wider. Eine unterstützende Funktion hinsichtlich der Arbeitsplatzsuche bzw. des Wiedereintritts ins Erwerbsleben kann der (aktiven) Arbeitsmarktpolitik nicht zugeschrieben werden. Der Grad an Dekommodifizierung ist sehr gering, das Individuum ist bei nur geringer Absicherung gegenüber Marktrisiken auf sich selbst gestellt (Esping-Andersen 1990: 22). Insgesamt ist eine hohe Ungleichheit verbunden mit einem geringen Grad an Destratifizierung zu konstatieren. Das sozialdemokratische Regime der skandinavischen Länder ist durch einen universalistischen Staat gekennzeichnet. Damit nimmt innerhalb dieses Wohlfahrtsstaatenclusters die Gleichheit eine hohe Priorität ein (Esping-Andersen 1990: 22; Hansen et al. 2002: 189), weshalb die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme durch Steuern erfolgt. Sowohl die Finanzierung als auch die soziale Sicherung schließt alle Bedürftigen ein. Der Fokus liegt vor allem auf der Absicherung gegenüber Arbeitsmarktrisiken und auf einer marktunabhängigen Existenzsicherung, woraus ein hoher Grad an Dekommodifizierung folgt. Die angestrebte Gleichheit wird durch einen hohen Grad an Destratifizierung erreicht. Dies erfordert eine starke Präsenz des Staates, der die Verteilungsprozesse koordiniert. Neben einer derartigen Regulierung sind auch liberale Elemente zu erkennen. Aufgrund eines niedrigen Kündigungsschutzes herrscht eine hohe Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt vor. Um diese Flexibilität bei hohen Lohnersatzleistungen zu garantieren, ist eine aktiv ausgerichtete Arbeitsmarktpolitik implementiert, die unterstützend beim Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt agiert. Gleichzeitig weist die Arbeitsmarktpolitik hohe Sanktionierungsmaß-

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nahmen auf. Insgesamt ist die Sozialpolitik auf die Vollbeschäftigung ausgerichtet (Boeckh et al. 2006: 413). Für das konservative Regime, wie bspw. in Deutschland ist die enge Koordination zwischen Staat, Gewerkschaften und Industrieverbänden charakteristisch. Im Gegensatz zu den beiden anderen Wohlfahrtsstaatstypen ist der Arbeitsmarkt rigide. Die Lohnflexibilität wird durch die Gewerkschaften eingeschränkt. Zudem ist die passive Arbeitsmarktpolitik in Form hoher Lohnersatzleistungen ausgeprägt. Jedoch spielt die aktive Arbeitsmarktpolitik eine untergeordnete Rolle (Sesselmeier 2008: 33f.). Dies impliziert einen hohen Grad an Dekommodifizierung. Die Absicherung gegenüber Arbeitsmarktrisiken ist jedoch nur für sozialversicherungspflichtige Erwerbstätige gedacht. Demgemäß ist die soziale Sicherung vor allem durch Beiträge finanziert, was zu hohen Lohnnebenkosten führt. Aufgrund der einkommensabhängigen Leistungen der Sozialpolitik werden die vom Markt herbeigeführten Statusunterschiede reproduziert, wodurch Arbeitsmarktsegmentation entsteht. Dies fördert die Ungleichheit, was ebenfalls, wie im liberalen Typus, einen geringen Grad an Destratifizierung impliziert (Sesselmeier 2008: 34). Zur Verbesserung der Beschäftigungssituation sowohl aus qualitativer als auch aus quantitativer Sicht ist es daher notwendig einen hohen Grad an Kommodifizierung und an Destratifizierung zu erlangen. Dies kann durch Aktivierungsstrategien erreicht werden, die aber im Einklang mit anderen Politikbereichen stehen müssen.

2.2 Das Zusammenspiel der Politikfelder in den verschiedenen Wohlfahrtsstaaten Eine umfassendere Betrachtung berücksichtigt neben dem Arbeitsmarkt noch weitere Märkte. Bei der Ausgestaltung der Politikfelder sind nationale wirtschaftspolitische sowie Produktmarktstrategien erkennbar, die eine unterschiedliche Funktion der Arbeitsmarktpolitik als Teilbereich der Sozialpolitik gegenüber anderen Politikbereichen und im Wechselspiel mit diesen implizieren (Schröder 2008). Aus dieser Komplementarität ergeben sich bei Reformen in einem Politikbereich Koordinationsprobleme, die in Betracht gezogen werden müssen (Klär/Fritsche 2008: 460). Die Ausprägungen der betrachteten Sektoren innerhalb der einzelnen Cluster werden in Tabelle 1 gezeigt. Diese zeigt, setzt das liberale Wohlfahrtsstaatenregime die politischen Instrumente nach den neoklassischen Annahmen und dem politischen Liberalismus ein. Güter- und Finanzmarkt sind kaum reguliert, der Preismechanismus koordiniert wirtschaftliche Aktivitäten. Flexible Märkte erfordern allgemeines Humankapital, um die Arbeitskräfte beliebig einsetzen zu können. Individuen sind eigenverantwortlich bei der Humankapitalbildung, womit der niedrige Bildungsstand erklärt werden kann. Im Gegensatz hierzu zieht sich in den konservativen Wohlfahrtsstaaten ein regulierter Arbeitsmarkt bis in die anderen Marktbereiche durch. Finanz- und Gütermarkt sind einem koordinierten Wettbewerb unterworfen. Die Produktmarktstrategie verlangt spezifisches Humankapital, dessen Bildung durch den Staat unterstützt wird und das zugleich die Arbeitsmarktflexibilität einschränkt. Eine Mischform stellt der sozialdemokratische Typus dar. Flexible Arbeitsmärkte stehen relativ rigiden Güter- und Finanzmärkten gegenüber, die durch staatliche Institutionen koordiniert werden. Dies schränkt aber den Wettbewerb dennoch nicht ein, weshalb eine hohe soziale Absicherung notwendig ist (Eichhorst/Hemerijck 2008: 5).

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Tabelle 1: Überblick über die Sektoren in den Modellen des Kapitalismus nach Amable (2003) Sektor Marktwettbewerb, Produktmarkt

Arbeitsmarkt

liberal freierWettbewerb, Koordinationdurch Preismechanismen, kurzfristigausgerichtet, geringeHürdenbei Kreditvergabe allgemeinesHumankaͲ pital,geringerBilͲ dungsstand flexibel

Lohnsystem

flexibel

SozialeSicherung

alsMindestsicherung

Finanzsektor

Bildungssektor

konservativ koordinierter Wettbewerb

sozialdemokratisch hoheKoordinationund staatlicheEingriffe

langfristigausgeͲ richtet

langfristigausgerichtet, hoheHürdenbeiKreditͲ vergabe spezifischesHumankapiͲ tal,hoherBildungsstand

spezifischesHuͲ mankapital,hoher Bildungsstand rigide  rigide

fürsorgend,staͲ tuserhaltend

flexibelmitstarken Sanktionen zentralisierteundkoorͲ dinierteLohnverhandͲ lungen fürsorgend

Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Amable (2003) Die komplementäre Abstimmung der Marktbereiche beeinflusst das Reaktionsvermögen bei Störungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in den jeweiligen Wohlfahrtsstaaten. Daraus resultieren für die Arbeitsmarktflexibilität unterschiedliche Möglichkeiten, welche in den Wohlfahrtstaaten in verschiedener Weise auftreten (Esping-Andersen/Regini 2000: 16): ƒ extern (numerische) Flexibilität, ƒ intern (numerische) Flexibilität, ƒ funktionale Flexibilität, ƒ Lohnflexibilität. Bei externer Flexibilität reagieren die Unternehmen auf Veränderungen in der Güter- bzw. Dienstleistungsnachfrage mit Einstellungen oder Entlassungen. Vor allem die liberalen und sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten sind von diesem Flexibilitätstyp geprägt (Madsen 2006). Im Gegensatz hierzu steht die interne Flexibilität. Unternehmen passen bei konjunkturellen Schwankungen ihre Arbeitsnachfrage durch Arbeitszeitänderungen (Überstundenauf- bzw. -abbau, Kurzarbeit etc.) an. Dieser Flexibilitätstypus kennzeichnet insbesondere das konservative Wohlfahrtsstaatsregime. Bei funktionaler Flexibilität können die Arbeitskräfte unterschiedliche Aufgaben übernehmen und innerhalb des Unternehmens an verschiedenen Stellen der Arbeitsprozesse flexibel eingesetzt werden. Liegt Lohnflexibilität vor, werden Arbeitsnachfrageschwankungen mit Lohnanpassungen kompensiert. Lohnflexibilität ist insbesondere in den liberalen Wohlfahrtsstaaten zu beobachten. Durch die Integration der Länder in die Europäische Währungsunion (EWU) mit damit einhergehenden geld- und fiskalpolitischen Restriktionen entsteht die Notwendigkeit auf nachfrageseitige Veränderungen mit arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen zu reagieren. Ziel ist es, die gesamtwirtschaftliche Flexibilität trotz eines Wandels des Instrumentenmix zu erhalten oder sogar zu erhöhen, wobei gerade die Ausgestaltung der Arbeitsmarktpolitik die

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Struktur der Arbeitslosigkeit bestimmt (Esping-Andersen/Regini 2000: 6), die sich durch Reformen beeinflussen lässt. Ansätze hierzu werden durch die unterschiedlichen Funktionen der Arbeitsmarktpolitik innerhalb der Wohlfahrtsstaatentypen vorgegeben, was unterschiedliche Ausgangssituationen für Reformen impliziert. Zugleich geben die verschiedenen Politikfelder den Pfad eines jeweiligen Wohlfahrtsstaates für notwendige Reformen vor.

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Arbeitsmarktpolitik als Teil der Sozialpolitik innerhalb der Wohlfahrtsstaatstypologien vor dem Hintergrund der Flexicurity

Die Bedeutung der Arbeitsmarktpolitik in den europäischen Wohlfahrtsstaaten ist sehr unterschiedlich. Zur Verbesserung der Beschäftigungssituation sind verschiedene arbeitsmarktpolitische Instrumente einzusetzen, deren Einfluss den Arbeitsmarkt verschiedenartig flexibilisiert. Vor dem Hintergrund der zunehmenden strukturellen Arbeitslosigkeit empfahl die OECD Jobs Study von 1994 eine Ausrichtung der Reformen auf die externe Flexibilität. Von Seiten der EU wird ebenfalls Druck auf die Wohlfahrtsstaaten zu Reformen ausgeübt (Lodovici 2000: 53): Die EU gibt dabei den Rahmen in Form der Europäischen Beschäftigungsstrategie (EBS) zur Beschäftigungssteigerung vor. Die Reformen, die auf der EBS basieren, finden vor dem Hintergrund der Flexicurity statt, innerhalb derer zwei Ziele verfolgt werden: Erstens die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes (Flexibility) und zweitens die soziale Sicherung (Security). Dabei werden verschiedene Arten von Flexibilität im Kontext der sozialen Sicherung innerhalb der jeweiligen wohlfahrtsstaatlichen Traditionen berücksichtigt (European Commission 2007, Madsen 2006). Damit eröffnen sich verschiedene Ansatzpunkte für zielführende Reformen.

3.1 Arbeitsmarktpolitik im Kontext der Arbeitsmarktflexibilität Die Arbeitsmarktpolitik innerhalb der einzelnen Wohlfahrtsstaaten setzt unterschiedliche Instrumente ein, die verschiedenartig auf die Arbeitsmarktflexibilität wirken. Die relativ hohe soziale Sicherung der Arbeitskräfte innerhalb der europäischen Wohlfahrtsstaaten wird durch arbeitsmarktpolitische Instrumente gekennzeichnet (Lodovici 2000: 33), die unterschiedliche Ansatzpunkte von Reformen bilden: ƒ Arbeitsmarktordnungspolitik o Lohnbildungsprozess o Beschäftigungsschutz ƒ Finanzierung von aktiver und passiver Arbeitsmarktpolitik, ƒ Anspruchsvoraussetzungen für Sozialleistungen ƒ Bezugsdauer und -höhe von Lohnersatzleistungen, Beim Lohnbildungsprozess ist die Rolle der Gewerkschaften hervorzuheben, die durch einen hohen Machteinfluss bei Lohnverhandlungen die externe und Lohnflexibilität beeinflussen, was sich aber nicht unbedingt nachteilig auf die Beschäftigung auswirken muss. So berücksichtigen zentralisierte Gewerkschaften in den Lohnverhandlungen ihren Einfluss auf die makroökonomischen Rahmenbedingungen und üben bspw. während eines Abschwungs Lohnzurückhaltung aus (Bassanini/Duval 2006: 91). Allerdings kann sich dies

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negativ auf die Beschäftigung niedrig qualifizierter Arbeitskräfte auswirken, deren Produktivität unterhalb der tariflichen Entlohnung liegt. Dezentral organisierte Gewerkschaften tragen dagegen der unternehmerischen Situation Rechnung. So beeinflussen sie die Beschäftigung ebenfalls positiv. Insgesamt reagiert der Lohn im unteren Bereich unabhängig vom Zentralisierungsgrad der Gewerkschaften nicht flexibel. Ein weiterer Aspekt der Arbeitsmarktordnungspolitik sind die Regelungen des Beschäftigungsschutzes. Diese wirken einschränkend auf die externe Flexibilität. Denn der Arbeitsmarkt kann bei einem niedrigen Beschäftigungsschutz flexibel reagieren. In diesem Fall begegnen Arbeitgeber einer veränderten Nachfrage mit Entlassungen oder Einstellungen. Bei einem Anstieg der Nachfrage setzt ein geringer Beschäftigungsschutz für die Unternehmen Anreize einzustellen, auch wenn zu Beginn eines Aufschwunges dessen Nachhaltigkeit nicht einzuschätzen ist. Die Folgen für die Beschäftigung sind daher negativ mit dem Beschäftigungsschutz korreliert (Bassanini/Duval 2006: 93). Bei hohem Beschäftigungsschutz gewinnen alternative Reaktionsmöglichkeiten, wie die interne oder die funktionale Flexibilität, an Bedeutung. Eine weitere Komponente mit Einfluss auf die Flexibilisierung ist die Finanzierung, die entweder durch Steuern und/oder durch Beiträge erfolgt. Deren Beschäftigungswirkung wird durch den Abgabenkeil bestimmt.2 Je höher dieser ist, bspw. bei vorwiegender Beitragsfinanzierung, desto höher ist der tarifliche Lohn festzulegen, damit sich der Nettolohn erhöht. Dies wirkt einschränkend auf die Lohnflexibilität. Ebenso reduziert sich die externe Flexibilität durch tendenziell geringere Einstellungen aufgrund des höheren Arbeitgeberlohnes. Empirisch liegt nach Bassanini und Duval (2006) für die Auswirkungen der Finanzierungsarten auf den Arbeitsmarkt jedoch keine Evidenz vor. Ferner beeinflusst die Arbeitsmarktpolitik auf unterschiedliche Weise die Arbeitsmarktflexibilität. Die passive Arbeitsmarktpolitik (Konle-Seidl/Eichorst 2008: 39), worunter die Höhe und die Bezugsdauer von Lohnersatzleistungen zu subsumieren ist, schränkt die externe und die Lohnflexibilität ein. Dabei sind drei Effekte in Betracht zu ziehen: Erstens bilden Lohnersatzleistungen eine finanzielle Absicherung, mit der Arbeitsuchende ein adäquates Job-Matching erzielen können (OECD 2006: 56), was aber auch Anreize für einen schnellen Wiedereinstieg reduziert. Zweitens kann eine höhere finanzielle Absicherung den Lohn erhöhen und Neueinstellungen verringern (Bassanini/Duval 2006: 89). Drittens bedeuten hohe gesetzliche Anspruchsvoraussetzungen Leistungseinschränkungen und Aktivierung. Der Anspruch hängt dabei in der Regel von in der Vergangenheit kumulierten Beschäftigungszeiten innerhalb eines bestimmten Zeitraumes ab. Schließlich können Bildungsmaßnahmen, wie Umschulungen, Fort- und Weiterbildungen sowie die aktive Unterstützung bei der Arbeitssuche, Subventionen im privaten Sektor (vor allem Lohnsubventionen für Arbeitgeber) als Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik die Arbeitsmarkteingliederung fördern (Kluve et al. 2007; Eichhorst et al. 2008). Sie fördert die Arbeits(kräfte)mobilität und -anpassung, erleichtert das Matching von Arbeitskräften und produktiven Arbeitsplätzen und fördert zudem die Besetzung von Arbeitsplätzen. Diese werden zumeist mit Hilfe von Sanktionen hinsichtlich der passiven Arbeitsmarktpolitik durchgesetzt. Diese Vielzahl an Einsatzmöglichkeiten der arbeitsmarktpolitischen Instrumente scheinen auch die Arbeitsmarktindikatoren, wie die unterschiedlichen Arbeitslosenoder Beschäftigungsquoten in den jeweiligen Wohlfahrtsstaaten aufzeigen, zu beeinflussen. 2 Dieser ergibt aus der Differenz zwischen dem Arbeitgeberlohn, also der Teil der Arbeitskosten, der Unternehmen pro Arbeitskraft entsteht, und dem Nettolohn der Arbeitnehmer.

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Ein Zusammenhang zwischen den Arbeitsmarktindikatoren und den institutionellen Rahmenbedingungen drängt sich auf. Dabei wirken Regulierungen stärker auf die Betroffenheit von verschiedenen Personengruppen als auf die Höhe der Arbeitslosigkeit an sich. Infolgedessen erhöht sich das Risiko von Arbeitslosigkeit und deren Persistenz für Problemgruppen (Esping-Andersen/Regini 2000: 3). Die Ausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente auf die Wiedereingliederung von bestimmten Personengruppen erfolgt in den Wohlfahrtsstaaten auf unterschiedliche Weise.

3.2 Wandel der Stellung der Arbeitsmarktpolitik Auf der Grundlage der arbeitsmarktpolitischen Instrumente und ihrer Wirkungen auf die Arbeitsmarktflexibilität erfolgt nun eine kursorische Einordnung der jeweiligen nationalen Arbeitsmarktpolitik der Wohlfahrtsstaaten. Hierzu werden Länder gewählt, die repräsentativ für jeweils einen Wohlfahrtsstaatentyp und für Arbeitsmarktreformen unterschiedlicher Intensität stehen. So wird die Entwicklung von Großbritannien (liberaler Wohlfahrtsstaat), Dänemark (eher sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaat und Vorbild bei der Umsetzung der Flexicuritystrategie) und Deutschland (konservativer Wohlfahrtsstaat) kurz betrachtet. In die Analyse einbezogen werden zudem die Niederlande, die radikale Änderungen zu einem recht frühen Zeitpunkt durchgeführt haben (Sproß/Lange 2008: 31). Es wird im Folgenden die Situation vor und nach den Reformen getrennt skizziert. 3.2.1 Arbeitsmarktpolitik mit unterstützender Funktion Lange Zeit wurden die Instrumente der Arbeitsmarktpolitik auf die geltenden Rahmenbedingungen der anderen Politikbereiche abgestimmt und so die Arbeitsmarktrisiken minimiert. Die Arbeitsmarktpolitik reagierte vielmehr, als dass sie vorbeugte, und war daher als Hilfsinstrument der Konjunktur- und Wachstumspolitik zu betrachten (Altmann 2004: 251). Spezifische Marktmechanismen wurden unterstützt oder zumindest nicht behindert. Bis in die 1990er Jahre lag daher der Fokus auf dem Einsatz der fiskal- und geldpolitischen Instrumente, um der Dämpfung konjunktureller Schwankungen Vorrang einzuräumen und Arbeitsmarktrisiken zu reduzieren. Nahezu in allen beschriebenen europäischen Wohlfahrtsstaaten waren durch die Arbeitsmarktpolitik wenig Anreize gegeben, schnell wieder in Beschäftigung zu gelangen. Im Gegenteil wurden zwischen 1970 und 1990 die Lohnersatzleistungssysteme großzügiger ausgestaltet, der Abgabenkeil größer und die Anreize für eine Frühverrentung erhöht (Høj et al. 2006: 7). Zudem wurde, bspw. in Deutschland, versucht, durch moderate Lohnforderungen die Arbeitslosenquote zu senken. Die Arbeitsmarktpolitik flankierte damit die makroökonomische Nachfragepolitik, indem sie sowohl in den konservativen als auch in den sozialdemokratischen Wohlfahrtstaatenclustern zur Erreichung von Chancengleichheit und dem Statuserhalt eine gut ausgebaute passive Arbeitsmarktpolitik implementierte, die durch hohe Lohnersatzleistungen gekennzeichnet war. Diese finanzierte sich in den konservativen Wohlfahrtsstaaten vor allem aus Beiträgen, welche proportional zum Einkommen festgelegt wurden, was die Arbeitsmarktsegmentation förderte und die externe Arbeitsmarktflexibilität einschränkte, welche durch den rigiden Kündigungsschutz verstärkt wurde (Allard/Lindert 2006: 10). Interne Flexibilität kompensierte dieses Arrangement bis zu einem gewissen Grad. Obwohl im

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liberalen Wohlfahrtsstaat die externe Flexibilität durch freie Märkte, Deregulierung und Privatisierung (Palaginis 2002: 230) mit einer wenig ausgestalteten Arbeitsmarktpolitik hoch war, lag die Beschäftigungsquote auf einem relativ niedrigen Niveau. Trotz der Reduktion der sozialen Leistungen auf ein Mindesteinkommen, das lediglich bedürftigen Menschen, wie Geringqualifizierten, Alleinerziehenden und Arbeitslosen zugute kam (Peter 2005: 2), gab es auch hier wenige Anreize, wieder zügig in Beschäftigung einzutreten. Zudem galten erleichterte Bedingungen für den Eintritt in den Vorruhestand, die zwar eine Verringerung der Arbeitslosenquote mit sich brachten, welche aber an der Senkung des Erwerbstätigenpotenzials ansetzten. Erst mit der Regierung Thatchers im Jahr 1979 gewann die aktive Arbeitsmarktpolitik an Bedeutung und wirkte unterstützend auf die Arbeitsmarktflexibilität (Boyle 2007: 141). So entstanden bereits erste Grundzüge des WorkWelfare, dessen Inhalt arbeitgeberorientiert war (Boyle 2007: 142). Dagegen wurde mit den Wirtschaftskrisen in den 1970er und 1980er Jahren die externe Flexibilität durch Verringerungen der passiven Arbeitsmarktpolitik in den konservativen und sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten erhöht (van Orschoot 2008: 466; Sproß/Lang 2008: 43; Wurzel 2006: 5; Björklund 2000: 155). Auch hinsichtlich der Lohnflexibilität waren Unterschiede zwischen den Wohlfahrtsstaatenclustern zu erkennen. Diese war insbesondere während den 1970er Jahren aufgrund mächtiger Gewerkschaften eingeschränkt, die hohe Lohnsteigerungen durchsetzten und damit die Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigten (Hansen et al. 2002: 191; Altmann 2004: 251). In Dänemark wurden deshalb Reformen bereits nach den Ölkrisen in den 1970er und 1980er Jahren durchgeführt. Maßnahmen, wie Reformen zur Erweiterung des öffentlichen Dienstleistungssektors, die Fokussierung auf die Aktivierung Langzeitarbeitsloser, also Personen, die länger als ein Jahr ohne Arbeit sind, gestalteten den Arbeitsmarkt flexibler (Hansen et al. 2002: 191). Allerdings wurde die Arbeitsmarktflexibilität zwar nicht durch die Existenz eines Mindestlohns reduziert, aber starke Gewerkschaften begünstigten die Beschäftigten, was für Arbeitsuchende die Hürden für eine Wiederbeschäftigung erhöhte. Dagegen herrschte in den liberalen Wohlfahrtsstaaten eine relative hohe Lohnflexibilität vor, die durch die Machtbeschneidung der Gewerkschaften noch verstärkt wurde. Trotz der Notwendigkeit von Anpassungen der arbeitmarktpolitischen Instrumente an die wirtschaftliche Situation wurden in den Wohlfahrtsstaaten zunächst weitreichende arbeitsmarktpolitische Reformen umgangen. Bis in die 1990er Jahre spielte damit die Arbeitsmarktpolitik in den nationalen wirtschaftspolitischen Portfolios eine unterstützende und eher nachrangige Rolle. Die Ineffizienz der institutionellen Rahmenbedingungen nahm zu (Lodovici 2000: 31). Diese Entwicklung der Arbeitsmarktpolitik deutete auf eine ungünstige Ausrichtung im Hinblick auf die Beschäftigung hin, was auf das ökonomische Paradigma während dieses Zeitraumes zurückzuführen war. Die Forschung und damit auch die Politikberatung basierte auf den Grundlagen der modernen Arbeitsmarkttheorien (vgl. Sesselmeier et al. 2009), die alle das Versagen des Lohnes als Allokationsmechanismus und damit das Versagen des Arbeitsmarktes diagnostizierten. Seit den 1990er Jahren wird dies als Grund für eine sich verfestigende, persistente Arbeitslosigkeit angesehen. 3.2.2 Arbeitsmarktreformen innerhalb der Wohlfahrtsstaatencluster Durch die Veränderungen der makroökonomischen Rahmenbedingungen und dem stetigen Anstieg der Arbeitslosigkeit rückte die Arbeitsmarktpolitik unweigerlich ins Zentrum der

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Politikgestaltung, womit sich deren Funktion und darüber hinaus auch der ökonomische Blickwinkel wandelten. Damit wurde anerkannt, dass die anderen wirtschaftspolitischen Maßnahmen kein adäquates Mittel gegen die steigende Arbeitslosigkeit waren. Diese Empfehlungen waren einheitlich auf Deregulierung und Effizienzsteigerung der aktiven Arbeitsmarktpolitik ausgerichtet im Hinblick auf die Erhöhung der externen Flexibilität und der Lohnflexibilität nach dem Vorbild des liberalen Wohlfahrtsstaatentyps. Abhängig vom Wohlfahrtsstaatentyp und dessen institutionellen und makroökonomischen Rahmenbedingungen gestalteten sich jedoch die Reformen auf unterschiedliche Weise (Adnett 1996: 79ff.). Daher wurden die tatsächlichen Reformvorhaben aber letztlich durch die Integration in die EWU angestoßen, die selbst Anforderungen an die nationale Arbeitsmarktpolitik stellte und gleichzeitig die nationalen Makropolitiken relativierte. Im ersten Schritt trat mit der EWU die EBS in Kraft, die sich an den Empfehlungen der OECD orientiert. Den Rahmen setzt in einem zweiten Schritt das Konzept der Flexicurity, welches gerade den wohlfahrtsstaatlichen Unterschieden der Länder Rechnung trägt. Dadurch vollzieht sich ein Wandel hin zur aktivierenden Arbeitsmarktpolitik, welche den Fokus auf die Eigenverantwortung der Arbeitnehmer und Arbeitslosen legt (Tergeist/Grubb 2006). Arbeitsmarktpolitische Instrumente, welche aktivierend wirken, basieren auf der Grundlage des „Make work pay“ (Peter 2005: 3; Boyle 2007: 138). In Großbritannien sind die Reformvorhaben als „Dritter Weg“ bekannt, weil sie einen Kompromiss zwischen sozialdemokratischem und marktliberalem Kurs darstellen. Dem Konzept der Flexicurity am meisten entspricht das Ergebnis der dänischen Reformen. Dort bleibt der Arbeitsmarkt weiter flexibel, indem mangelnde Kooperation bei der Stellenvermittlung bzw. bei Teilnahme an Bildungsmaßnahmen sanktioniert wird. Daher spielt die Arbeitsmarktpolitik zur Erreichung des Beschäftigungsziels eine wichtige Rolle. Dies verdeutlicht das „goldene Dreieck“, welches durch einen flexiblen Arbeitsmarkt (geringer Kündigungsschutz), hohe soziale Sicherung und aktive Arbeitsmarktpolitik charakterisiert ist (Kvist/Pedersen 2008; Erhel/Gazier 2007; Hansen et al. 2002). Die konservativen Wohlfahrtsstaaten führten die Reformen zu einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik unterschiedlich durch. Während die Niederlande die Bildungsmaßnahmen und Vermittlungsunterstützung für Leistungsansprüche voraussetzen (van Oorschot 2008: 476), werden die Leistungen in Deutschland seit den Hartz-Reformen bei mangelnder Inanspruchnahme der Maßnahmen reduziert. Zudem wurden diese Ersatzleistungen mit der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II stark gekürzt (Eichhorst/Hemerijck 2008: 21), was die Arbeitsanreize erhöhen sollte. Damit vollzog sich eine Verschiebung von der Status- zur Bedarfsorientierung und zur Grundsicherung. Darüber hinaus ist in den konservativen Wohlfahrtsstaaten der Arbeitsmarkt durch verstärkte Arbeitszeitflexibilisierungen gekennzeichnet (Gorter 2000: 204). Dagegen verringern starke Gewerkschaften (Deutschland, Dänemark) sowie die Existenz von Mindestlöhnen (Deutschland, Niederlande) die Lohnflexibilität. Wie in anderen europäischen Ländern fokussieren die Reformen in Deutschland die aktivierende Arbeitsmarktpolitik, die durch den Einsatz ihrer Maßnahmen in einem frühen Stadium der bzw. bei einer absehbaren Erwerbslosigkeit ansetzt (Knuth 2000: 66). Dies verdeutlicht die Verlagerung der reparierenden, unterstützenden hin zur vorbeugenden Funktion und damit einen Bedeutungsgewinn der Arbeitsmarktpolitik, welcher den Anpassungsmechanismus untermauert, den dieser Politikbereich seit der Schaffung der EWU zunehmend ausüben muss, um angemessen auf externe Störungen auf den nationalen Märk-

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ten zu reagieren. Mit den in Deutschland durchgeführten Reformen ist hierbei mehr eine Annäherung an die liberalen und sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten als umgekehrt zu erkennen.

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Ausblick

Steigende strukturelle Arbeitslosigkeit, welche die OECD Jobs Study 1994 auf den Plan brachte, machte Reformen auf dem Arbeitsmarkt erforderlich. Ziel war es, diesen in allen Ländern durch Deregulierung zu flexibilisieren (OECD 1994). Dies rief Kritik der Institutionenökonomik hervor, in deren Folge ein Paradigmenwechsel erfolgte. Das Ziel der Flexibilisierung wurde zwar akzeptiert, jedoch sollte dieses auf der Grundlage der geltenden nationalen institutionellen Rahmenbedingungen erreicht werden. So, anders als von der OCED gefordert, geht die Arbeitsmarktflexibilisierung nicht mit einer gleichförmigen Deregulierung einher (Eichhorst/Hemerijck 2008: 4), da das Zusammenspiel zwischen Arbeitsmarkt- und Wirtschaftsstrukturen der einzelnen Wohlfahrtsstaaten die Übertragung nur einzelner Komponenten auf verschiedene Länder erschwert (Green-Pedersen/Lindbom 2005: 82). Ferner hat die OECD lediglich eine beratende Funktion. Deshalb steht die EU als Intermediär zwischen OECD mit deren Forderungen und den nationalen Regierungen, welche die Forderungen der OECD im Rahmen der EU umsetzen sollen (Armingeon 2004: 239). Diese Umsetzung erfolgt mit der EBS, die den einzelnen Wohlfahrtsstaaten Leitlinien zur Gestaltung der Arbeitsmarktpolitik an die Hand gibt. Diese Leitlinien konzentrieren sich auf Flexicurity, die einerseits die Flexibilisierung (Flexibility) berücksichtigt, aber andererseits der sozialen Absicherung (Security) Rechnung trägt. Die Verbesserung der Beschäftigungssituation vollzieht sich innerhalb der wohlfahrtsstaatlichen pfadabhängigen Kombination der beiden Komponenten. Bisherige Reformansätze erfolgten so an unterschiedlichen arbeitsmarktpolitischen Instrumenten, weil sie unter Berücksichtigung unterschiedlicher wohlfahrtsstaatlicher Aspekte durchgeführt wurden. Vor diesem Hintergrund prägte eine hohe strukturelle Arbeitslosigkeit die Einführung des SGB II, das nunmehr die Problemgruppen fokussiert, während sich das AFG bzw. jetzt SGB III auf den Erhalt des Status konzentrierte. Dies implizierte eine Verschiebung von der passiven zur aktiven Arbeitsmarktpolitik mit aktivierenden Komponenten. Im Rahmen der Flexicurity gestaltete sich auch der deutsche Arbeitsmarkt flexibler. Jedoch ging dies mit einer Zunahme an befristeten und Zeitarbeitsverträgen einher, die de facto die externe Flexibilität erhöhten. Zudem wurde durch Arbeitszeitregelungen die interne Flexibilität erhöht, ohne dass die Arbeitslosenquote in Deutschland merklich gesunken wäre (OECD 2006: 30). Dagegen erzielten in den 1990er Jahren die liberalen und sozialdemokratischen Länder starke Rückgänge in der Arbeitslosenquote und ein Anstieg der Beschäftigungsquote. Dennoch waren die Beschäftigungsraten der Problemgruppen in allen Ländern weiterhin unterdurchschnittlich, was u. a. durch die zunehmende Teilnahme an Bildungsmaßnahmen zu erklären ist (OECD 2006: 34). Insgesamt scheint bisher aber das sozialdemokratische Modell am besten abzuschneiden und den Trade-off zwischen Sozialausgaben und Wettbewerbsfähigkeit überwunden zu haben (De Grauwe/Polan 2003). Kritiker sind aber skeptisch, was die Nachhaltigkeit dieser Ausrichtung anbelangt, denn gerade in Dänemark existiert eine hohe verdeckte Arbeitslosigkeit, welche bei jedem weiteren wirtschaftlichen Abschwung mehr zu Tage tritt (Green-Pedersen/Lindbom 2005: 83). Zudem kommen Seifert und Tangian

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(2008) in ihrer Studie zu dem Ergebnis, dass die Flexibilität am Arbeitsmarkt nicht gleichgewichtig mit der sozialen Sicherung einhergeht. Vielmehr besteht ein negativer Zusammenhang zwischen beiden Komponenten. Dies deutet darauf hin, dass das Konzept der Flexicurity erst noch beweisen muss, ob sie ein Allheilmittel ist.

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Soziale Gerechtigkeitsleitbilder in der Arbeitsmarktpolitik

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Sigrid Gronbach

Soziale Gerechtigkeitsleitbilder in der Arbeitsmarktpolitik – von der Verteilung zur Teilhabe Soziale Gerechtigkeitsleitbilder in der Arbeitsmarktpolitik

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Einführung: „Gerechtigkeit“ in der Arbeitsmarktpolitik?

Gerechtigkeitsvorstellungen strukturieren moderne Gesellschaften in mehrfacher Hinsicht: Erstens liegen sie den staatlichen Institutionen als Zuteilungsregeln (Leisering 2007) zugrunde. Zweitens spiegeln sie sich in den in der Bevölkerung vorherrschenden Wertvorstellungen, die idealerweise mit den institutionellen Strukturen übereinstimmen. Drittens strukturieren Gerechtigkeitsvorstellungen auch die öffentlichen Diskurse, in denen immer wieder eine Vergewisserung über gemeinsame Vorstellungen erzielt werden muss. Insbesondere soziale Gerechtigkeit verkörpert institutionalisierte Verteilungsprinzipien demokratischer Wohlfahrtsstaaten, die gesellschaftlich legitimiert werden müssen und deshalb auch immer wieder Gegenstand politischen Streits sind. Im Rahmen der Legitimierung sozialpolitischer Reformen wird das kulturell verankerte Verständnis von sozialer Gerechtigkeit – wenn auch zumeist implizit – aufgerufen, definiert und diskutiert, denn es werden Fragen nach den Kernaufgaben des Sozialstaats aufgeworfen, nach den Zielgruppen der Sozialpolitik und nach den Verteilungsmodi der Sozialleistungen. Sozialreformerische Diskurse sind daher immer auch Gerechtigkeitsdiskurse, weil die gesellschaftliche Konzeption sozialer Gerechtigkeit die sozialstaatlichen Aufgaben definiert und sie legitimieren soll. Vor einigen Jahren wurde mit den rot-grünen Arbeitsmarktreformen das normative Gerüst der Arbeitsmarktpolitik verschoben: Erwerbslose, die steuerfinanzierte Lohnersatzleistungen (Arbeitslosen- und/oder Sozialhilfe) bezogen, wurden aus Gründen der Gerechtigkeit in ein gemeinsames Transfer- und Institutionensystem überführt und sollten gleichermaßen in die aktive Arbeitsförderung einbezogen werden. Dieser Aufsatz geht der Frage nach, welche gerechtigkeitsspezifischen Grundlagen der arbeitsmarktpolitischen Institutionen durch die rot-grünen Arbeitsmarktreformen 2003 bis 2005 revidiert wurden. Dabei wird deutlich, dass hinsichtlich der Verknüpfung zwischen den neu implementierten Gerechtigkeitsvorstellungen und den Einstellungen der Bevölkerung eine deutliche Diskrepanz bestand. Sie ließ sich auch oder vielmehr gerade durch den politischen Vermittlungsdiskurs der Regierungsverantwortlichen nicht verringern, denn dieser offenbarte die fehlende Anschlussfähigkeit der Aktivierungsrhetorik an gesellschaftlich legitimierte, bestehende Gerechtigkeitsvorstellungen. Insbesondere der so genannten Hartz-IV-Reform fehlt daher – bis heute – die breite gesellschaftliche Akzeptanz. Im Folgenden werden zunächst die sozialphilosophischen Grundlagen der sozialen Gerechtigkeitsbegriffe und im zweiten Teil ihre Institutionalisierung im deutschen Sozialstaat, insbesondere im Feld der Arbeitsmarktpolitik dargestellt. Im dritten Teil wird der durch die rot-grünen Reformen eingeleitete gerechtigkeitspolitische Paradigmenwandel und seine mangelhafte diskursive Vermittlung gegenüber der Öffentlichkeit geschildert.

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Sigrid Gronbach Sozialphilosophische Gerechtigkeitsprinzipien

Heutige westliche Gerechtigkeitstheorien haben ihre ideengeschichtlichen Wurzeln in der antiken griechischen Philosophie. Die Ahnväter der Gerechtigkeit als philosophischtheoretisches Sujet, Platon und sein Schüler Aristoteles, sprachen von ihr als der vornehmsten politischen Tugend, weil sie das menschliche Zusammenleben regelt (Demandt 1999: 63). Seit der Antike hat sich Gerechtigkeit zu einem zentralen Gegenstand in der Moral-, Rechts- und politischen Philosophie entwickelt. Dies setzte voraus, dass Gerechtigkeit als über-individuelle Kategorie definiert wurde. Die Entstehung des modernen Rechts- und später des Sozialstaats gründen auf einer theoretischen und später institutionellen Konzeptionalisierung der formalen Gerechtigkeit in der politischen Verfassung und der Rechtsprechung sowie auf der materialen Gerechtigkeit des Sozialstaates. „Theorien der Gerechtigkeit drehen sich darum, ob, wie und warum Personen unterschiedlich behandelt werden sollen. Welche ursprünglichen oder erworbenen Charakteristika oder Positionen in der Gesellschaft, so fragen sie, legitimieren eine unterschiedliche Behandlung von Personen durch soziale Institutionen, Gesetze und Sitten?“ (Moller Okin 1995 [1987]: 281)

Soziale Gerechtigkeit ist keine spezifisch sozialpolitische Begriffspaarung, sondern bezieht sich auf die politische und institutionelle Gestaltung eines Gemeinwesens, also darauf, wie gesellschaftliche Güter, Pflichten und Rechte in einer Gesellschaft verteilt werden, weshalb sie auch oft mit distributiver Gerechtigkeit gleichgesetzt wird. Normen sozialer Gerechtigkeit betreffen die Gestaltungsprinzipien gesellschaftlicher und staatlicher Institutionen zur Erreichung bzw. Erhaltung einer definierten „sozial gerechten Gesellschaft“, sie beziehen sich also auf Prinzipien einer gesteuerten (Um-) Verteilung gesellschaftlicher (das heißt auch privater) Güter. Zu diesen zählen sowohl materielle Grundgüter wie Einkommen oder Vermögen als auch gesellschaftliche Positionen und Beteiligungsmöglichkeiten. Während soziale Gerechtigkeit in erster Linie Verteilungsfragen gesellschaftlicher Güter, das heißt sozialer Positionen und ökonomischer Chancen thematisiert, beziehen sich die ausgleichende oder Tauschgerechtigkeit sowie die politische Gerechtigkeit im Rahmen des politischen und des Recht sprechenden Systems auf Fragen der bürgerlichen und politischen Freiheiten und Rechte. So unterscheiden die heutigen sozialphilosophischen Gerechtigkeitstheorien in der Regel zwischen der politischen, der Tausch- bzw. ausgleichenden Gerechtigkeit und der sozialen Gerechtigkeit. Letztere kann verschiedenen Verteilungsprinzipien folgen; die relevantesten sind das Bedarfs- und das Leistungsprinzip. Als weiterer Aspekt sozialer Gerechtigkeitskonzeptionen ist die Teilhabe- oder Chancengerechtigkeit zu nennen, der kein spezifisches Verteilungsprinzip sondern ein Zielprinzip innewohnt. Unter Leistungsgerechtigkeit wird heute eine Gerechtigkeit verstanden, die auf Grund erbrachter Leistungen Güter oder Ansprüche zuteilt und dabei von allen askriptiven Merkmalen absieht (Kramer 1992: 102). Diesem Prinzip wird häufig eine normative Überlegenheit gegenüber anderen Verteilungsprinzipien attestiert, weil es erstens objektiv sei (denn Leistung sei messbar), und zweitens ein reziprokes Prinzip als die am plausibelsten zu rechtfertigende Form der Gerechtigkeit argumentierbar sei (Möhring-Hesse 2004: 200f.; Neckel/Dröge 2002; Hinsch 2002; Ullrich 1999). Das Leistungsprinzip gilt gleichermaßen als Rechtfertigungsinstanz legitimer sozialer Ungleichheiten in modernen Gesellschaften, denn Ungleichheiten gelten in dessen Rahmen als gerecht, wenn sie den Ungleichheiten der Leistungen zwischen Individuen und Gruppen entsprechen (Neckel et al. 2004: 141).

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Das Bedarfs- oder auch Fürsorgeprinzip gewährt öffentliche Sach- oder Geldleistungen vorleistungsfrei, wenn eine als solche politisch definierte Notlage eintritt. Voraussetzung ist in der Regel die vorherige Überprüfung und Bestätigung materieller Bedürftigkeit. Wenn das Bedarfsprinzip mit dem Subsidiaritätsgedanken verbunden ist, tritt das Anrecht auf staatliche Transfers nur und erst dann ein, wenn der/die Einzelne nicht in der Lage ist, sich selbst oder mit Unterstützung seiner nächsten Angehörigen zu helfen (Zohlnhöfer 1990: 4). Teilhabegerechtigkeit ist ursprünglich ein vorrangig politischer Gerechtigkeitsbegriff. Er bezieht sich auf gleiche Zugangsmöglichkeiten bei der Gestaltung des Gemeinwesens, also auf die Gleichverteilung der demokratischen aktiven und passiven Mitwirkungsrechte in politischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozessen (Koller 2002: 103). Teilhabegerechtigkeit wurde und wird daher häufig von der materiellen, unmittelbar Güter verteilenden Verteilungsgerechtigkeit abgegrenzt, weil sie auf einer – vermeintlich – immateriellen Dimension der gleichen Chancenverteilung basiere (Nolte 2005). Sie ist jedoch in der Regel unabdingbar zugehöriges Leitziel in leistungsgerechten Verteilungssystemen. „Der Begriff ‚Teilhabe’ … wird heute für alle Formen der Beteiligung an Prozessen demokratischer Willensbildung, sozialer Gestaltung und Produktion wie Verteilung des ökonomischen Reichtums verwendet.“ (Nullmeier 1997: 221) Denn moderne Wohlfahrtsstaaten, die das Ausmaß sozialer Ungleichheiten begrenzen wollen, verknüpfen die Geltung leistungsgerechter Normen in der Regel mit dem Prinzip der Chancen- bzw. Teilhabegerechtigkeit, um die ungleichen Startbedingungen der Einzelnen im Wettkampf um Güter und sozialen Status auszugleichen: Werden bestimmte gesellschaftliche Güter, z.B. Ausbildungsmöglichkeiten, Arbeitsplätze, öffentliche Ämter, nach dem Kriterium der individuell erworbenen Qualifikation, d.h. der erbrachten und vorweisbaren individuellen Leistungen, vergeben, muss der Zugang zu diesen Möglichkeiten allen gleichermaßen möglich sein, um gerecht zu sein. Das bedeutet, allen Gesellschaftsmitgliedern müssen die gleichen Möglichkeiten offenstehen (ungeachtet ihrer sozialen Herkunft, aber im Rahmen ihrer kognitiven und anderen personalen Fähigkeiten), sich entsprechend ihrer Ambitionen die erforderlichen Qualifikationen oder anderen Fähigkeiten und Merkmale anzueignen, die dafür benötigt werden, in Auswahlverfahren um leistungsadäquat verteilte gesellschaftliche Güter oder Positionen mit gleichen Chancen teilnehmen zu können. „[W]enn Leistung ein Resultat von freier Tätigkeit (am Markt) ist, dann ist die Herstellung von Leistungsfähigkeit eine Frage der Umverteilung von Chancen.“ (Blanke 2005: 40, Hervorhebung im Original) Gerechte Teilhabe soll hier deshalb als Bestandteil des sozialen Gerechtigkeitsspektrums zählen, weil sie die Verteilung vor allem gesellschaftlicher Bildungsgüter und Chancen thematisiert und dadurch, wie auch bedarfs- oder leistungsgerechte Verteilungen, individuelle Positionen in der Gesellschaft beeinflusst. Die Gewährung formaler Freiheitsrechte reicht nicht aus, um allen Individuen die volle Nutzung ihrer Fähigkeiten zu ermöglichen (Zohlnhöfer 1990: 10), anders formuliert: „[F]ormale Gleichheit1 zieht Forderungen auf der materialen Ebene nach sich.“ (Schnabl 2006: 44) Chancen oder Teilhabemöglichkeiten beziehen sich zwar auf immaterielle Güter (Bildungschancen, Arbeitsmarktintegration, kulturelle Partizipation), zu ihrer Erlangung sind jedoch materielle Zuteilungen und Umver1 Formale Gleichheit wird gesichert durch die Institutionalisierung von Menschenrechten und Lebenschancengleichheit, die Bekämpfung von Diskriminierung, Unterdrückung und Ausbeutung und die Ermöglichung der Ausbildungschancengleichheit (Schnabl 2006: 43).

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teilungen notwendig, die zum Abbau von finanziellen und anderen Zugangsbarrieren bzw. zur Erweiterung von Optionen für Individuen führen, damit diese ihre Fähigkeiten in größtmöglichem Umfang einsetzen können. Als sozialstaatliche Zielsetzung gilt daher die angemessene Teilhabe an der Entwicklung der gesellschaftlichen Wohlfahrt (Blanke 2005: 39).

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Gerechtigkeit als politische und soziale Kategorie

3.1 Institutionalisierte Gerechtigkeit im deutschen Sozialstaat Die Übernahme staatlicher und gesellschaftlicher Verantwortung für sozialen Ausgleich, um Armut und gesellschaftliche Ungleichheit zu verringern, setzt die Anerkennung von sozialen Menschenrechten voraus. Die Erweiterung der bürgerlichen Freiheits- und politischen Teilhaberechte um soziale Rechte seit Ende des 19. Jahrhunderts, wie sie Thomas H. Marshall (1992 [1949]) am Beispiel Großbritanniens nachgezeichnet hat, dehnte den Geltungsbereich gesellschaftlicher Gerechtigkeitsnormen von der Marktsphäre (Tauschgerechtigkeit), der rechtlich-formalen (bürgerlichen) und der politischen auf die neu entstehende sozialpolitische Sphäre aus. Soziale Rechte kamen als weiteres gesellschaftliches Integrationsinstrument hinzu. An den modernen Verfassungsstaat wurden im Lauf des 19. Jahrhunderts materielle Gerechtigkeitsforderungen herangetragen, die nicht schon durch die Wahrung von Verfahrensgerechtigkeit verwirklicht waren (Kaube 2003: 46). Umgekehrt wird seither die Legitimität einer politischen Ordnung auch an den durch sie versprochenen und hergestellten verteilungsgerechten Zuständen gemessen (ebenda: 47). Heutigen sozialpolitischen Institutionen als „geronnene Werte“ liegen spezifische Gerechtigkeitskonzeptionen zu Grunde, die sich aus einem dominantem Gerechtigkeitsprinzip des Sozialstaats ableiten lassen. So kann sozialdemokratischen Regimes das Egalitätsprinzip als das prioritäre zugeordnet werden, das sich in der universellen Gewährung von Leistungen und der Gewährung umfassender sozialer Rechte abbildet. Liberale und konservative Regimes basieren hingegen stärker auf leistungsgerechten Äquivalenz-Prinzipien. Die „normative Qualität des bundesdeutschen Sozialstaats“, die seine legitimatorische Grundlage bildet, liegt nach Frank Nullmeier (1997: 222) in der Verknüpfung, Durchdringung und Hierarchisierung der drei Gerechtigkeitsprinzipien Leistung, Bedarf und Teilhabe. Der bundesdeutsche Sozialstaat stiftet Gemeinschaftlichkeit erstrangig durch die Teilhabe an der Arbeitsgesellschaft, was sich in seinem erwerbszentrierten sozialen Sicherungssystem widerspiegelt (ebenda: 224). So gilt im deutschen Sozialsystem als dominantes Verteilungsprinzip die Leistungsgerechtigkeit, die sich in der Konstruktion des sozialen Sicherungssystems als Sozialversicherung und ihrem inhärenten Ziel der Lebensstandardsicherung ausdrückt. Die beitragsabhängige Bestimmung der Höhe von Sozialleistungen ist das legitimatorische Prinzip der deutschen Sozialversicherung vor allem in der Renten- und in der Arbeitsmarktpolitik. Die Sozialversicherung ist zwar anerkanntermaßen das gestaltungsprägende Merkmal des deutschen Sozialstaats, neben dem hier zu vernachlässigenden Versorgungsprinzip2 2 Das Versorgungsprinzip gleicht politisch definierte Leistungen oder verursachte Schäden aus. Seine Adressaten sind gesellschaftliche Gruppen, die dem Staat gegenüber besondere Dienstleistungen (z.B. BeamtInnen, SoldatInnen) oder politisch verursachte Opfer gebracht haben (z.B. Kriegsversehrte). Da das Versorgungsprinzip eher auf

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spielt aber auch die Existenzsicherung durch die bedarfsabhängige Fürsorge der Sozialhilfe eine gewichtige Rolle. In der Politik der Armutsvermeidung gilt als Verteilungsmaßstab die Bedarfsorientierung, also das Anrecht auf existenzsichernde staatliche Unterstützung bei individuell nachgewiesenem Bedürfnis und eigener Hilflosigkeit. Das dritte, gewissermaßen übergeordnete Gerechtigkeitsprinzip legitimiert Maßnahmen zur Erhöhung der gesellschaftlichen Teilhabe. Trotz seines Ursprungs als politischer Gerechtigkeitsbegriff ist das Teilhabeziel in der deutschen Sozialpolitik nicht neu. Er wurde und wird vor allem verwendet zur Legitimation von Integrationspolitiken zugunsten von Menschen mit Behinderungen oder von Einkommensarmut Betroffener, die deren materielle und gesellschaftliche Ausgrenzung bekämpfen sollen – beides zum einen im Sinne der ausreichenden materiellen Versorgung Nichtarbeitsfähiger bzw. der Arbeitsmarktintegration Arbeitsfähiger und zum anderen im Sinne der Erhöhung von Selbstbestimmungsmöglichkeiten und gesellschaftlichen Mitwirkungsmöglichkeiten.

3.2 Institutionalisierte Gerechtigkeit in der Arbeitsmarktpolitik Die Finanzierung des Systems, Zugangsvoraussetzungen, Art und Höhe der gewährten Leistungen in der Arbeitsmarktpolitik gründen bis zur Reform 2004 auf dem leitenden Prinzip der Sozialversicherung, der Leistungsgerechtigkeit. Gleichwohl entspricht die Arbeitslosenversicherung „weit weniger als gemeinhin vermutet dem Versicherungsprinzip. Dies äußert sich an solchen sprachlichen Details wie der hier geltenden ‚Beitrags-’ statt der sonst üblichen ‚Versicherungspflicht’.“ (Nullmeier/Vobruba 1995: 25) Die Versicherung gegen Arbeitslosigkeit ist in erster Linie eine Risikoversicherung; das Arbeitslosengeld ist als Versicherungsleistung ausgestaltet, die bedarfsunabhängig gewährt wird und auf die ein Rechtsanspruch besteht. Die Arbeitslosenversicherung sollte vor allem für diejenigen Gruppen vorsorgen, denen eine eigenständige, private Vorsorge nicht möglich ist (Rieger 1992: 161f.). In der Orientierung der Lohnersatzrate am vorherigen Einkommen und am Familienstand drückte sich das Ziel der Lebensstandardsicherung wie die Berücksichtigung auch von Bedarfsaspekten aus (Nullmeier/Vobruba 1995: 25). Als Konsequenz aus der Lohn- bzw. Beitragsabhängigkeit des Arbeitslosengeldes sind niedrig Verdienende, wenn sie arbeitslos werden, gegebenenfalls auf ergänzende Leistungen der sozialen Fürsorge (bis Ende 2004 Sozialhilfe, seither Grundsicherung für Arbeitsuchende) angewiesen. Institutionen und Finanzierung der aktiven Arbeitsmarktpolitik für Erwerbslose i.S. der Erfassung durch die Bundesagentur für Arbeit waren bis Ende 2004 ausschließlich an die Arbeitslosenversicherung geknüpft. Verkürzt formuliert: Wer keinen Anspruch auf passive Versicherungsleistungen (Arbeitslosengeld, -hilfe) hatte, musste in der Regel auch auf aktive Arbeitsförderung durch Fortbildungsmaßnahmen oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen verzichten. Begründet wurde dieses Äquivalenzprinzip mit der Finanzierung der passiven wie der aktiven Leistungen aus dem Beitragsaufkommen, das ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen an die Bundesanstalt für Arbeit abführten. Während aber aus dem Beitragssystem Rechtsansprüche auf passive Transferleistungen entstehen, wurden Rechtsansprüche auf aktiv arbeitsfördernde Maßnahmen seit Bestehen des AFG sukzessive abgebaut. dem Gedanken der ausgleichenden als der distributiven Gerechtigkeit beruht (Huster 2004: 35) und ihm kein Verteilungskriterium zugrunde liegt, wird es im Folgenden nicht weiter berücksichtigt.

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Das Äquivalenzprinzip wurde und wird darüber hinaus dadurch aufgeweicht, dass einige der Leistungen Nicht-BeitragszahlerInnen offen stehen (z.B. Berufsberatung, Vermittlung). Mit Einführung der steuerfinanzierten Grundsicherung für Arbeitsuchende im Jahr 2005 (Sozialgesetzbuch II) war denn auch die Absicht verbunden, das aktive arbeitsmarktpolitische Instrumentarium für all jene Erwerbslose zu öffnen, die keine Ansprüche gegenüber der Arbeitslosenversicherung aufbauen können. Übersicht: Arbeitsmarktpolitische Gerechtigkeitsnormen Norm

Teilhabe

Leistung

Bedarf

Ziel

gesellschaftliche Integration

LebensstandardͲ sicherung

Existenzsicherung

Wert Leitidee

Stärkungsozialer Integrationschancen

Äquivalenzbeziehung

solidarischer Ausgleich

Verteilungsmodus

universell

selektiv

bedarfsabhängig

AdressatInnen

gesamteBürgerschaft

versicherungspflichtige ArbeitnehmerInnen

einkommensarme BürgerInnen

SozialerSicheͲ rungszweig







Arbeitslosengeld (SGBIII)



Arbeitslosenhilfe (SGBIII) aktiveArbeitsmarktpolitik (SGBIII)





aktiveArbeitsmarktͲ politik(SGBII)









Sozialhilfe (SGBXII) 

ArbeitslosengeldII

Quelle: eigene Darstellung 3.3 Sozialpolitische Gerechtigkeitsdiskurse Der Verteilung des gesellschaftlich erwirtschafteten Wohlstandes und der Verteilung gesellschaftlich erwirtschafteter Güter liegen gerechtigkeitstheoretische Maßstäbe zu Grunde, die verhandel- und wandelbar sind. Während die „Zuteilung“ politischer Freiheits- und

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Partizipationsrechte in modernen Gesellschaften weitestgehend konsensuell symmetrisch erfolgt3 (Iser 2003: 262), werden materiale gesellschaftliche Güter, Positionen oder soziale Anrechte auch asymmetrisch vergeben. So ist soziale Gerechtigkeit ein politischer, weil interessengebundener moralisch-ideologischer Kampfbegriff (Blasche 2003: 15). Er ist zugleich eine analytische Kategorie, die als der normative Strang der Sozialstaatsdiskurse erfasst werden kann. Lange Zeit schien über den Stellenwert der bundesdeutschen Verteilungsprinzipien gesellschaftlicher Konsens zu bestehen. Seit den 1990er Jahren werden diese allerdings wieder stärker in Frage gestellt. So ist das Wiedererstarken gerechtigkeitsbezogener Diskurse, wie sie in der Bundesrepublik im Zuge der Rentenreform Ende der 1950er Jahre, der Sozialhilfeeinführung Anfang der 1960er und der Verabschiedung des Arbeitsförderungsgesetzes Ende der 1960er Jahre geführt wurden, mit der Wahrnehmung grundlegender Herausforderungen zu verstehen: Erfolgreiche Handlungskonzepte der Vergangenheit scheinen für die momentanen und künftigen Probleme nur noch bedingt tauglich zu sein (Blanke 2005: 31). In den Sozialstaatsdebatten seit den 1990er Jahren wird jedoch weniger die umverteilungspolitische Aufgabe der Sozialpolitik betont als vielmehr – wieder – ihre sozialintegrative Zielsetzung: in Deutschland als Integration in die Erwerbsarbeit. So ist nicht erstaunlich, dass arbeitslose SozialleistungsempfängerInnen seit den neunziger Jahre im Zentrum sozialpolitischer Reformdiskurse und Reformbemühungen der Aktivierung stehen, die auf die schnellstmögliche Reintegration arbeitsfähiger TransferleistungsempfängerInnen in die Erwerbsarbeit abzielt (vgl. auch Mohr in diesem Band). In der gerechtigkeitspolitischen Dimension verschiebt der Aktivierungsdiskurs den Fokus von der (um-)verteilungsgerechten zur gesellschaftlichen Teilhabe (oder besser: Teilnahme) am Arbeitsmarkt. Anstelle der ‚alten’ Wohlfahrtspolitik der Umverteilung des Wohlstandes müsse die ‚neusozialdemokratische’ Politik darauf zielen, die Wohlstandsproduktion zu stimulieren, um dadurch die Arbeitsmarktintegration zu verbessern (so der sozialdemokratische Vordenker Anthony Giddens 2001: 10). In den Worten von Rolf G. Heinze (2002: 186), einem Mitglied der Benchmarking-Gruppe des Bündnisses für Arbeit, heißt dies: „Im Zuge der andauernden Beschäftigungskrise wird die Integration in den Arbeitsmarkt zur Schlüsselaufgabe sozialer Gerechtigkeit in Deutschland, denn damit steht und fällt die Verteilung des ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapitals.“

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4.1 Die Verschiebung des arbeitsmarktpolitischen Normengerüstes durch Rot-Grün Der Abbau der Arbeitslosigkeit als wichtigstes Ziel der rot-grünen Regierung führt denn auch zur größten arbeitsmarktpolitischen Reform der Bundesrepublik, wozu insbesondere die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zählt. Schließlich würde sich nach Aussage des damaligen Bundeskanzlers die Effizienz des Sozialstaates nicht an Transfers oder der Höhe des Sozialbudgets, sondern an den Möglichkeiten, die er zur Erwerbsbeteiligung eröffne, bemessen (Schröder 2003: 29). 3 Politische Rechte und Freiheitsrechte sind, jedenfalls innerhalb der westlichen Bürgergemeinschaft, kollektive Güter.

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Bereits die ersten beiden „Hartz-Gesetze“ spiegeln die Grundannahmen wider, die seither in der Arbeitsmarktpolitik handlungsleitend bleiben: Der Arbeitsmarkt müsse flexibilisiert werden, indem das „Fordern“ gegenüber den Arbeitslosen nach Mobilität und Anpassung an den Arbeitsmarkt sowie Anreize zur unternehmerischen Eigenaktivität erhöht werden. Dem weit verbreiteten Deutungsmuster entsprechend, dass die Lohnzusatzkosten und restriktive Kündigungsregelungen die Schaffung neuer Beschäftigung verhindern, wird niedrig entlohnte sowie geringfügige Beschäftigung attraktiv geregelt und befristete Beschäftigung erleichtert. Allen anders lautenden Ankündigungen zum Trotz werden die „fördernden“, qualifizierungsorientierten Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik nicht gestärkt und von den Arbeitsämtern immer weniger gefördert.4 Die schnellstmögliche Reintegration Arbeitsuchender als primäre Zielsetzung aktivierender rot-grüner Arbeitsmarktpolitik wird von der SPD mit dem Erreichen „gerechter Teilhabe“, vom Koalitionspartner mit der Ermöglichung „gerechten Zugangs“ begründet: „Denn für uns als Grüne ist es eine der zentralen arbeitsmarktpolitischen Aufgaben in dieser Gesellschaft, Zugangsgerechtigkeit herzustellen, weil Massenarbeitslosigkeit ein Gerechtigkeitsproblem ist. Mit dem Hartz-Konzept gehen wir auf einem Weg weiter, den wir begonnen haben, einen Weg des Paradigmenwechsels, der die Integration in den Arbeitsmarkt will, diese vorbereitet und der die Ausgrenzung endlich beendet.“ (Abg. Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen, Plenarprotokoll (PlPr) 15/11, 15.11.2002: 676)

Auch wenn der eher technische Begriff des „Zugangs“ zum Arbeitsmarkt weniger euphemistisch anmutet als der demokratietheoretisch aufgeladene Teilhabebegriff der SozialdemokratInnen, ist den Regierungsparteien gemeinsam, dass sie nichts weniger als einen „fundamentale[n] Systemwechsel“ (Sell 2005a: 14) einleiten. Dieser wird jedoch nicht durch eine breite gesellschaftliche Debatte auch im Parlament vorbereitet und begleitet, wie noch bei der Entwicklung des Arbeitsförderungsgesetzes Mitte der sechziger Jahre. Er „vollzieht sich in den Hinterzimmern von Kommissionen und durch die Zuarbeit von Unternehmensberatungen, die sich wie Roland Berger und McKinsey im Zentrum der umgetauften Bundesanstalt für Arbeit positioniert haben und dort die gleichen Strategien realisieren, die sie früher bei der Treuhandanstalt und dann bei der Bahn, Post und Telekom ‚erfolgreich’ durchgespielt haben“ (ebenda: 14). Aus der Überordnung des arbeitsmarktlichen Integrationsziels resultiert eine Befürwortung bzw. zumindest Hinnahme wachsender, wie weit auch immer ‚begrenzter’ sozialer Ungleichheiten und die Relativierung der gerechtigkeitspolitisch motivierten staatlichen Umverteilung materieller Ressourcen. So wird auf die institutionalisierten verteilungsgerechten Prinzipien des Bedarfs und der Leistung in der Regel nicht rekurriert – und wenn, mit bemerkenswerten Ergebnissen. So spitzt der damalige nordrhein-westfälische Ministerpräsident Peer Steinbrück zu: „Der Staat hat die Aufgabe, für eine gerechte Einkommens- und Vermögensverteilung zu sorgen. Soziale Gerechtigkeit muss künftig heißen, eine Politik für jene zu machen, die etwas für die Zukunft unseres Landes tun: die lernen und sich qualifizieren, die arbeiten, die Kinder be4 Von 2002 auf 2003 sanken die TeilnehmerInnenzahlen in Maßnahmen zur beruflichen Weiterbildung von 340.000 auf 260.000. 2004 erhielten nur noch 184.000 Personen eine Weiterbildungsförderung, 2005 schließlich noch 114.000. Ähnlich verlief die Entwicklung bei den Maßnahmen zur beruflichen Weiterbildung Behinderter (Bundesagentur für Arbeit 2006: 44).

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kommen und erziehen, die etwas unternehmen und Arbeitsplätze schaffen, kurzum, die Leistung für sich und unsere Gesellschaft erbringen. Um die – und nur um sie – muss sich Politik kümmern.“ (Steinbrück 2003: 18)

Kern des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt ist die neue Systematisierung der aktiven und passiven Arbeitsmarktpolitik durch die Zusammenlegung der Leistungssysteme Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zur neuen, steuerfinanzierten Grundsicherung für Arbeitsuchende. Um die Chancen für alle Arbeitsuchenden zu erhöhen, sollen Zuständigkeiten und Leistungen künftig „aus einer Hand“ kommen. Durch das einheitliche System soll die Verantwortungsverschiebung zwischen Arbeits- und Sozialämtern unterbunden, der verwaltungsaufwendige Bezug zweier Leistungen (d.h. ergänzende Sozialhilfe bei niedrigem Arbeitslosenhilfe-Satz) beendet und die Gerichtsbarkeit vereinheitlicht werden (Bundestags-Drucksache (BT-Drs) 15/1516, 05.09.2003: 42f.). Einsparungen, die bei den Transferleistungen erzielt werden, sollten im Wesentlichen für eine bessere Betreuung, verstärkte Eingliederungsförderung durch eine höhere Arbeitsförderungsquote und eine bessere soziale Absicherung aufgewendet werden (BT-Drs. 15/1279, 27.06.2003: 23). Allen erwerbsfähigen LeistungsbezieherInnen sollte gleichermaßen der Zugang zu arbeitsfördernden Maßnahmen eröffnet werden, die außerdem im Sinne der Aktivierungslogik dem Bezug passiver Leistungen vorgezogen werden sollen. Die zentralen politischen Legitimationsargumente für die Zusammenlegung lauten, das bestehende System sei intransparent, ineffizient und ungerecht (vgl. ausführlicher Gronbach 2007). Diese auf institutionelle Fehlwirkungen abhebenden Argumente werden gleichwohl immer wieder mit Begründungen verknüpft, die die Ursache von Arbeitslosigkeit auf der Angebotsseite verorten. Letztendlich steht hinter dem Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt „die Vorstellung, dass es durchaus möglich sei, über niedrigere Leistungen und mehr Druck die Mobilität der Arbeitslosen zu erhöhen und damit zumindest die Dauer der Arbeitslosigkeit zu reduzieren“ (Sell 2005b: 302). Die normativen key words der Reform lauten Eigenverantwortung und Aktivierung. Die folgende Äußerung des damaligen SPD-Fraktionsvorsitzenden Franz Müntefering in seinem Plenarbeitrag zur Agenda 2010 macht stellvertretend das zugrundeliegende Denkmuster der Aktivierungsrhetorik deutlich: Während die Statusorientierung ansonsten legitimes Ziel sozialstaatlicher Institutionen ist, wird sie im Falle Arbeitsloser als Fehlverhalten markiert: „Es gibt nicht nur die Arbeitslosigkeit, sondern es gibt auch die Erwartung, dass eine bestimmte Arbeit mit einem bestimmten Status und einem bestimmten Stundenlohn an einer bestimmten Stelle anfällt. (…) Es kann nicht sein, dass Arbeitslose bestimmte Arbeiten wegen des Status nicht erledigen.“ (PlPr 15/32, 14.03.2003: 2508)

Normatives Ziel der Zusammenlegung soll die Gleichbehandlung aller Arbeitslosen sein, die steuerfinanzierte Transferleistungen beziehen. Hierzu zählen Personen, die keine Rechtsansprüche auf Lohnersatzleistungen gegenüber der Arbeitslosenversicherung erworben haben sowie, in der Regel, Langzeitarbeitslose, deren Ansprüche auf Sozialversicherungsleistungen ausgelaufen sind und die daher Arbeitslosen- oder/und Sozialhilfe erhalten. Die Gleichbehandlung bezieht sich sowohl auf die Höhe der passiven arbeitsmarktpolitischen Leistungen wie auf den Zugang zu den aktiven, deren prioritäres Ergebnis künftig die schnellstmögliche Vermittlung Arbeitsloser in den regulären Arbeitsmarkt sein soll.

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Als ungerecht wird die Trennung in Arbeitslosenhilfe- und SozialhilfeempfängerInnen aus zweierlei Gründen befunden: Zum einen könne die unterschiedliche Höhe der Transferbezüge nicht länger gerechtfertigt werden. Zum anderen widerspreche der Ausschluss arbeitsuchender SozialhilfeempfängerInnen vom Arbeitsmarkt bzw. von Maßnahmen der Arbeitsförderung dem rot-grünen Gerechtigkeitsverständnis. Das zentrale Gerechtigkeitsargument zur Rechtfertigung der niedrigen Höhe des Arbeitslosengeldes II lautet, dass zum Ausgleich für dessen geringe Höhe die künftig erhöhte „Zugangsgerechtigkeit“ für ehemalige SozialhilfeempfängerInnen zu Arbeitsförderungsmaßnahmen deren „Selbstbestimmung“ stärken würde (z.B. Abg. Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen, PlPr 15/67, 17.10.2003: 5744). Zudem dient der Bedarfscharakter der neuen Grundsicherung als Rechtfertigung dafür, ihre Höhe an der der Sozialhilfe zu orientieren und den Zugang zur Transferleistung durch niedrige Vermögensfreibeträge auf die Gruppe der „wirklich Bedürftigen“ zu konzentrieren. Die Statusunterschiede zwischen Sozialhilfe- und ArbeitslosenhilfeempfängerInnen werden auch hinsichtlich ihrer Verpflichtung zur Arbeitsaufnahme eingeebnet. Letztere waren, da sie sich im Rechtskreis des Sozialgesetzbuch III befanden, niedrigeren Zumutbarkeitserwartungen ausgesetzt als SozialhilfeempfängerInnen, die zu Tätigkeiten herangezogen werden konnten, die lediglich mit einer Mehraufwandsentschädigung vergolten wurden. Im neuen Rechtskreis des SGB II orientieren sich die Zumutbarkeitserwartungen an denen des alten Bundessozialhilfegesetzes, womit die Erwerbslosen im Grundsicherungsbezug deutlich höheren Erwartungen an die Arbeitsaufnahme ausgesetzt sind als diejenigen im Arbeitslosengeldbezug.

4.2 Die diskursive Vermittlung des neuen arbeitsmarktpolitischen Paradigmas Mittlerweile ist die Einschätzung weit verbreitet, dass die politische Vermittlung der so genannten Hartz-Gesetze, und hier wiederum vor allem des Vierten, ein ausgewiesenes Beispiel für einen äußerst misslungenen politischen Legitimierungsversuch darstellt. Vivien Schmidts (2002: 184) Analyse der frühen rot-grünen Reformen verweist bereits auf den nicht erfolgten Gebrauch „kommunikativer Diskurse“ der RegierungsakteurInnen zur Vermittlung ihrer sozialpolitischer Reformziele. Dies sei jedoch unabdingbar, um die Öffentlichkeit einerseits von der Notwendigkeit der Reformen, andererseits von ihrer Passförmigkeit mit vorhandenen Normen und Werten der in Deutschland verankerten Wohlfahrtskultur zu überzeugen. Paul Nolte attestiert eine generelle „große Sprachlosigkeit der Reformen“ (Nolte 2004: 33), und der Sozialdemokrat Thomas Meyer (2004: 188) sekundiert, als eigentliches Gerechtigkeitsproblem der Agenda 2010 erweise sich „das fast völlige Ausbleiben eines öffentlichen Begründungsdiskurses“, in dem die verantwortlichen AkteuerInnen deutlich machen, welche Maßstäbe sie zugrunde legen, worin der normative Zusammenhang zwischen den einzelnen Projekten bestehe und welche Ziele sie mit dem Projekt verfolgten. Im Fall der rot-grünen arbeitsmarktpolitischen Reformen ist schließlich nicht gelungen, die Öffentlichkeit für die neue normative, gerechtigkeitsbezogene Zielsetzung zu gewinnen, die hinter dem Bruch mit dem – wenn auch eingeschränkten – Äquivalenzprinzip der Arbeitsmarktpolitik und der Hierarchieverschiebung von der Verteilungs- zur Teilhabe-

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gerechtigkeit innerhalb eines stark verteilungsgerecht, hier: leistungsgerecht besetzten Systems steht. In ihrem Sozialbericht 2005 stellt die Bundesregierung fest, die Agenda 2010 definiere die Aufgabenverteilung zwischen Staat und BürgerInnen neu, wodurch „die grundlegenden Sozialstaatsprinzipien von Solidarität und Subsidiarität neu gewichtet“ werden (BT-Drs 15/5955, 11.08.2005: 19). Das hinter den arbeitsmarktpolitischen Reformen stehende Aktivierungskonzept stellt vor allem die Revitalisierung des zwar durchaus wohlfahrtsstaatlich verankerten Subsidiaritätsprinzips in der Arbeitslosensicherung dar. Während aber einerseits der Äquivalenzaspekt des leistungsgerechten Prinzips der Arbeitsmarktpolitik stark geschwächt wird, wird andererseits der Reziprozitätsaspekt überproportional, und zwar einseitig für die Seite der LeistungsempfängerInnen, gestärkt. Neugebauer (2007) konstatiert, dass in der Reformkommunikation nur unzureichend die gesellschaftlich dominierenden Wertvorstellungen nach staatlich verbürgter sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit unterlegt waren und vermittelt wurden. In der Öffentlichkeit wurde der rot-grüne Reformdiskurs als Absicht antizipiert, die Verbindung dieser beiden Grundwerte, die traditionell fest verknüpft sind, auflösen zu wollen und somit auf eine Reformulierung des wohlfahrtsstaatlichen Grundgerüstes zu zielen. Um einen solchen Wandel zu rechtfertigen, müssten die proklamierten „neuen“ Werte an die gesellschaftlich vorhandenen aber anschlussfähig sein in dem Sinne, dass sie entweder an die traditionellen ankoppeln oder an Werte, die sich in der Gesellschaft neu herausgebildet oder deren Geltung sich verstärkt haben. In der öffentlichen politischen Vermittlung thematisierte Rot-Grün jedoch vehement individuelle Tugenden, in erster Linie die der Eigenverantwortung. Zur Legitimation hilft die Rhetorik der Eigenverantwortung allerdings nicht viel weiter. Wie Kaufmann (2006) und Nullmeier (2006) verdeutlichen, stellt die Forderung nach verstärkter Übernahme von eigener Verantwortung kein Gerechtigkeitskriterium dar sondern eine Verbrämung für sozialstaatliche Kürzungen durch die (Re-)Individualisierung gesellschaftlicher Risiken. Eigenverantwortung genießt zwar im Wertespektrum der Deutschen generell eine sehr hohe Wertschätzung, jedoch vor allem in Verbindung mit dem Wunsch, „seine eigene Phantasie ausleben zu können“ sowie mit dem Bedürfnis, „von anderen Menschen unabhängig zu sein“ (Klages 2006: 115). Die Wertschätzung bezieht sich also vor allem auf Muster der privaten Lebensführung, nicht darauf, wie die Sicherung der individuellen Lebensverhältnisse organisiert und finanziert sein soll. Da im Gegenteil Klages feststellt, dass das Streben nach Eigenverantwortlichkeit fest verbunden ist mit dem Wertelement der Hilfsbereitschaft gegenüber sozial Benachteiligten und gesellschaftlichen Randgruppen, kann nicht davon ausgegangen werden, dass in der Gesellschaft der Bundesrepublik die Norm der Eigenvorsorge über kollektiven Vorsorgesystemen dominiert. Wird der Begriff der Eigenverantwortung so eindimensional eingesetzt wie im mainstream der rot-grünen Sozialstaatsdebatte, transportiert er keine Ermöglichungsideen sondern reduziert die Verantwortungsmöglichkeiten der BürgerInnen auf ihre Marktteilnahme und auf ihre Arbeitsverpflichtung. So wirkt die „neue“ Arbeitsmarktpolitik denn auch nicht als Angebot sondern als Zwang zur Eigenverantwortung, der durch erheblich erweiterte staatliche Kontroll- und individuelle Mitwirkungspflichten durchgesetzt wird – und mitnichten die propagierte Rücknahme staatlicher Steuerung bewirkt. Die Begründung der Reformpolitik mit ihren prognostizierten Beschäftigungswirkungen, der notwendigen Haushaltskonsolidierung und der erforderlichen Senkung der Lohn-

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nebenkosten haben in der Öffentlichkeit kein Vertrauen in die Reformrichtung geweckt, sondern sogar so weit geführt, dass der Begriff der Reform seine bislang positive Konnotierung verloren hat (Neugebauer 2007: 129f.). Angesichts dessen, dass sich auch in den gesellschaftlichen Mittelschichten eine Furcht vor sozialer Ausgrenzung durch Armut und Arbeitslosigkeit ausbreitet – ungeachtet ihrer tatsächlich begrenzten Betroffenheit (hierzu Böhnke 2006: 126ff.) –, unterlief die rot-grüne politische wie diskursive Praxis die gesellschaftlichen Erwartungen an ein Sicherheit und tatsächliche Teilhabegerechtigkeit verkörperndes Reformprojekt.

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Fazit

Der von der rot-grünen Bundesregierung initiierte arbeitsmarktpolitische Paradigmenwechsel hat keineswegs zur Gleichstellung aller Erwerbslosen geführt, sondern den Graben zwischen den versicherungs- und steuerfinanzierten Leistungssystemen noch vertieft. Die Leistungshöhe und -voraussetzungen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende, die für den weit überwiegenden Teil der Erwerbslosen gelten, orientieren sich an paternalistischen Leitlinien der Fürsorge, die zur Legitimation der Reform versprochenen gleichen Zugangsmöglichkeiten zu qualifizierten Förderinstrumenten sind dem überwiegenden Teil der Arbeitsuchenden jedoch weitest gehend verschlossen. „Fordern und Fördern“ überzeugt dann als sozialpolitisches Leitbild nicht, wenn neben dem Fordern nicht auch, der sozialinvestiven Zielsetzung folgend, die bestehende asymmetrische gesellschaftliche Verteilung der Teilhabechancen auf dem Arbeitsmarkt und im Bildungssystem thematisiert und verändert wird. Jene Diskursbeiträge, die Teilhabe-, Beteiligungs- oder Zugangsgerechtigkeit als neues arbeitsmarktpolitisches Leitbild in den Mittelpunkt stellen, tun dies häufig in Abgrenzung von der vermeintlich „veralteten“ Verteilungsgerechtigkeit. Diese Polarisierung ist allerdings nicht zwangsläufig notwendig. Vielmehr sind Verteilung und Teilhabe zwei Seiten einer Medaille: die Erhöhung gesellschaftlicher Teilhabechancen in der Bundesrepublik erfordert auch die Umverteilung gesellschaftlicher Ressourcen.

Literatur Blanke, B. (2005): Vom Sozialversicherungsstaat zum „sozialen Dienstleistungsstaat“. Essay über eine andere Perspektive auf den deutschen sozialpolitischen Diskurs. In: Hitzel-Cassagnes, T./Schmidt, Th. (Hrsg.) (2005): Demokratie in Europa und europäische Demokratien. Festschrift für Heidrun Abromeit. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. 31-55. Blasche, S. (2003): Begründung des Sozialstaates aus philosophischer Sicht. In: Blasche, S./v. Hauff, M. (Hrsg.) (2003): Leistungsfähigkeit von Sozialstaaten. Marburg: Metropolis. 11-28. Böhnke, P. (2006): Am Rande der Gesellschaft – Risiken sozialer Ausgrenzung. Opladen: Barbara Budrich. Bundesagentur für Arbeit (2006): Arbeitsmarkt in Deutschland. Zeitreihen bis 2006. Nürnberg. Demandt, A. (1999): Die Idee der Gerechtigkeit bei Platon und Aristoteles. In: Münkler, H./Llanque, M. (Hrsg.) (1999): Konzeptionen der Gerechtigkeit. Kulturvergleich – Ideengeschichte – Moderne Debatte. Baden-Baden: Nomos. 57-68. Giddens, A. (2001): Die Frage der sozialen Ungleichheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Soziale Gerechtigkeitsleitbilder in der Arbeitsmarktpolitik

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Sigrid Gronbach

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Von „Welfare to Workfare“? Der radikale Wandel der deutschen Arbeitsmarktpolitik

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Von „Welfare to Workfare“? Der radikale Wandel der deutschen Arbeitsmarktpolitik

Wie in vielen anderen westlichen Ländern hat in Deutschland in den letzten Jahren ein Paradigmenwechsel in der Arbeitsmarktpolitik statt gefunden, der sich als Wandel von einer aktiven zu einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik beschreiben lässt und der im größeren Kontext eines Wandels vom Welfare- zum Workfare-Staat (Jessop 1994) steht, in dessen Zuge sich auch andere Sicherungssysteme und Politikfelder grundlegend verändern. Dieser Wandel verlief zunächst schleichend und inkrementell, fand in den ‚HartzReformen’ aber seinen plötzlichen Kulminationspunkt. Im Beitrag soll dieser Wandel der Arbeitsmarktpolitik rekonstruiert werden. Hierzu soll zunächst der Begriff des Workfare-Staats vorgestellt und gegenüber enger gefassten Definitionen von Workfare-Programmen abgegrenzt und diskutiert werden (1. Abschnitt). Dann soll der Wandel der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland als Paradigmenwechsel von einer aktiven zu einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik sowie als Teil und Ausdruck des Wandels vom Welfare- zum Workfare-Staat dargestellt werden (2. Abschnitt). In einem dritten Schritt soll schließlich der Versuch unternommen werden, den sich zwar längerfristig anbahnenden, dann aber doch recht plötzlichen Durchbruch der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik in Deutschland zu erklären (3. Abschnitt). Dabei wird insbesondere auf politische Gelegenheitsstrukturen und die Rolle internationalen Politiklernens abgehoben. Der letzte Teil (4. Abschnitt) dient der Zusammenfassung und abschließenden Bewertung.

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Welfare- und Workfare-Staat: Begriffe, Definitionen, Implikationen

Der Begriff „Workfare“, der aus der Zusammenziehung der englischen Wörter „work“ und „welfare“ rührt und erstmals Ende der 1960er Jahre von Präsident Nixon in einer Fernsehansprache zum „War on Poverty“ verwendet wurde (vgl. Nathan 1993), wird in der Debatte über den Wandel der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik sehr unterschiedlich verwendet. In einem engen Sinn bezeichnet Workfare die Abhängigkeit der Gewährung von Fürsorgeleistungen von der Teilnahme der Hilfebedürftigen an Arbeit (Lødemel/Trickey 2001: 6). In dieser strikten „work-for-benefit“-Form ist Workfare aber nur in sehr wenigen Ländern verwirklicht und wird häufig mit Sozialhilfeprogrammen in den USA assoziiert. Selbst in seinem Mutterland USA sind Programme, bei denen lediglich der „welfare cheque“ abgearbeitet werden muss, jedoch nicht die einzige und häufig auch nicht die dominante Form, in der aktivierende Sozial- und Arbeitsmarktpolitik betrieben wird.1 Auch hier existieren unterschiedlichste Programme, die mit einer Mischung aus „carrots“ and „sticks“ (Peck 2001: 10) arbeiten, und durch Verhaltensmodifikationen sowie institutionelle Unters1 So standen etwa im weithin als Vorbild gepriesenen und häufig kopierten Riverside County-Programm Unterstützung bei der Arbeitssuche und Vermittlung im Mittelpunkt des Agierens der Sozialbehörde (Handler 2004: 28).

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tützung versuchen, erwerbsfähige Hilfebedürftige (wieder oder erstmalig) in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Im Rahmen der britischen New-Deal-Programme stellt das pure Abarbeiten der staatlichen Leistung im gemeinnützigen Sektor ebenfalls nur eine von vier „Optionen“ dar, die von den Erwerbslosen wahrgenommen werden können bzw. müssen.2 Über den angelsächsischen Raum hinaus spielen Workfare-Programme im strikten Sinn kaum eine Rolle. Gleichwohl haben in den meisten westlichen Ländern in den letzten Jahren Reformen der sozialen Absicherung bei Erwerbslosigkeit und der Arbeitsförderung stattgefunden, bei denen es darum ging, staatliche Unterstützungsleistungen stärker von Pflichten zur Mitwirkung an der eigenen Vermittlung und/oder der Teilnahme an aktivierenden Arbeitsfördermaßnahmen abhängig zu machen und Anreizstrukturen so zu restrukturieren, dass Teilhabe an Erwerbsarbeit maximiert wird. Innerhalb dieser generellen Entwicklungsrichtung bestehen wiederum große Unterschiede zwischen einzelnen Ländern (Barbier/Ludwig-Mayerhofer 2004) – etwa zwischen skandinavischen Staaten, wo eine Ausrichtung auf Qualifizierung oder „human capital development“ vorherrscht (vgl. Torfing 1999), und dem liberalen Großbritannien, wo die Arbeitsmarktpolitik einer „workfirst“-Logik folgt (vgl. Mohr 2007)3. Diese Bandbreite von Variationen innerhalb eines generellen Entwicklungstrends sowie das breite Spektrum an Maßnahmen zur Arbeitsmarktintegration lassen sich mit dem engen Begriff von Workfare nicht erfassen. Diese lassen sich besser mit einem weiten Begriff von Workfare beschreiben, wie er zuerst von Bob Jessop (1994, 1999) für den allgemeinen Wandel des Wohlfahrtsstaats geprägt und später von Jamie Peck (2001) für das Feld der Arbeitsmarktpolitik verwendet wurde. Jessop betrachtet den Wandel von Wohlfahrtsstaaten, der sich im Zuge des Umbruchs vom Fordismus zum Postfordismus ereignet, als einen Wandel vom stärker auf Dekommodifizierung und sozialstaatliche Regulierung ausgerichteten keynesianischen Wohlfahrtsund Nationalstaat (KWNS) zum postfordistischen, auf Kommodifizierung und Deregulierung ausgerichteten postnationalen Schumpeterianischen Workfare-Regime (SWPR). Der KWNS war „keynesianisch, weil er versuchte durch eine makroökonomische Nachfragesteuerung Vollbeschäftigung und Wirtschaftswachstum herzustellen“ (Jessop 1999: 350, Hervorhebung K.M.). Das SWPR demgegenüber ist schumpeterianisch, weil es permanente Innovation und Flexibilität durch angebotsseitige Maßnahmen fördert und die Wettbewerbsfähigkeit der Ökonomie stärken will. Die alte Regulationsform kann als „welfare state“ charakterisiert werden, da sie in besonderem Maß auf die Steigerung der Wohlfahrt der Gesellschaftsmitglieder und die Verallgemeinerung des kollektiven und des Massenkonsums ausgerichtet war. Die neue Regulationsweise kann nach Jessop entsprechend als Workfare-Regime bezeichnet werden, weil sie die Sozialpolitik den Zielen der Arbeitsmarktflexibilität und Wettbewerbsfähigkeit unterordnet. War der KWNS national, weil der territoriale Nationalstaat die primäre Ebene politischer Regulation darstellte, ist das SWPR postnational, weil verschiedene Ebenen von Governance eine Rolle spielen und die Funktion des Staates vor allem darin besteht, den Austausch und die Koordination zwischen diesen Ebenen herzustellen. Schließlich war der KWNS Staat, weil staatliche Institutionen Marktkräfte ergänzten und eingrenzten und der Staat eine dominante Rolle in der Formung 2 Die anderen Optionen bestehen in der Teilnahme an einer Aus- bzw. Weiterbildung, Lohnkostenzuschüssen sowie der Unterstützung bei der Existenzgründung (Mohr 2004: 296). 3 Für die Unterscheidung zwischen „human capital development“- und „work first“-Ansätzen vgl. Peck/Theodore 2000 sowie Hanesch 2001.

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der Zivilgesellschaft und der Identitäten seiner BürgerInnen spielte. Das SWPR ist demgegenüber Regime, da nicht-staatliche Koordinationsmechanismen wichtiger werden und der Staat deshalb seine Vorherrschaft einbüßt. Wie sein Vorgänger ist das SWPR ein Idealtyp, der in dieser reinen Form in Realität nicht existiert, sondern spezifische Kombinationen der vier Merkmale aufweist und national unterschiedlich ausgeformt ist. Dennoch gibt es eine in allen Ländern zum Tragen kommende Essenz von Workfare: „the imposition of a range of compulsory programs and mandatory requirements for welfare recipients with a view to enforcing work while residualizing welfare” (Peck 2001: 10, Hervorhebung im Original). In Abgrenzung vom Idealtyp „Welfare“, der für das Recht auf staatliche Unterstützung im Bedarfsfall steht und auf die passive Kompensation des Ausfalls von Markteinkommen ausgerichtet ist, charakterisiert Peck Workfare als marktorientierten Zwang, der auf die aktive Arbeitsmarktintegration orientiert. Während Welfare die Subjekte als Leistungsempfänger konstruiert, rekonstituiert Workfare sie als aktive Arbeitsuchende (ebd.: 12). Welfare und Workfare stehen auch für verschiedene Modi der Reproduktion der Arbeitskraft: Stärkte und sicherte die Wohlfahrtspolitik die Masseneinkommen als Nachfragefaktor und sorgte für die Reproduktion einer geschlechtlich strukturierten Industriearbeiterschaft, werden Workfare-Strategien in einem anderen Arbeitsmarktkontext verfolgt: Im Kontext fallender Löhne, chronischer Arbeitslosigkeit und der Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen ist Workfare darauf ausgerichtet, die Teilnahme an prekärer und niedrig entlohnter Beschäftigung zu maximieren, indem Erwerbslose in die untersten Bereiche des Arbeitsmarktes kanalisiert oder in unmittelbarer Nähe dazu permanent beschäftigungsfähig gehalten werden (ebd.).

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Der Wandel vom Welfare- zum Workfare-Staat in Deutschland

Auch der Wandel des deutschen Wohlfahrtsstaats im Allgemeinen und der Arbeitsmarktpolitik im Speziellen lässt sich mit der von Jessop entwickelten Figur eines Wandels vom keynesianischen Welfare- zum schumpeterianischen Workfare-Staat beschreiben. Auch hier wurde in einem längeren Prozess die Sozialpolitik den Imperativen der Wettbewerbsfähigkeit und der Flexibilisierung der Arbeitsmärkte untergeordnet und die makroökonomische Steuerung von Nachfrage- auf Angebotsorientierung umgestellt. Leistungen wurden stärker von Gegenleistungen abhängig gemacht und die Arbeitsmarktpolitik darauf ausgerichtet, Erwerbslose so schnell wie möglich auch in prekäre und niedrig entlohnte Arbeit zu integrieren. Dieser Wandel erstreckt sich über mehr als zwei Jahrzehnte und ist über weite Strecken durch inkrementelle Reformen – zu Beginn der ersten rot-grünen Regierungszeit sogar kurzfristig durch eine gegenläufige Bewegung – gekennzeichnet. Dennoch lässt er sich als Paradigmenwechsel im Sinne Peter Halls (1993) charakterisieren, bei dem nicht nur die Instrumente und ihre Justierung verändert werden, sondern eine grundlegende Veränderung der Annahmen und Ziele von Politik stattfindet (Mohr 2008). In den ‚Hartz-Reformen’ der Jahre 2003 bis 2005 fand dieser längerfristige Paradigmenwechsel seinen Kulminationspunkt.

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2.1 Inkrementeller Wandel in den 1980er und 1990er Jahren Seinen Ausgangspunkt nimmt dieser Wandel Mitte der 1980er Jahre nicht in der Arbeitslosenversicherung und Arbeitsförderung, sondern in der Sozialhilfe, wo sich in Deutschland die ersten Ansätze einer konditionierten Sozialpolitik entwickelten (Brütt 2001: 273f.). Das Bundessozialhilfegesetz, durch das in Deutschland ein Rechtsanspruch auf Sozialhilfe geschaffen wurde, beinhaltete zwar bereits seit seiner Einführung 1962 die Verpflichtung zur Selbsthilfe sowie Instrumente zur Arbeitsverpflichtung.4 Bis Ende der 1980er Jahre waren sie jedoch selten eingesetzt worden. Zehn Jahre Massenarbeitslosigkeit sowie Einschnitte in die beiden vorgelagerten Systeme der Arbeitslosensicherung – das Arbeitslosengeld und die Arbeitslosenhilfe – hatten jedoch dazu geführt, dass die Kommunen die administrative und finanzielle Verantwortung für immer mehr Arbeitslose trugen. Indem sie Programme finanzierten, durch die Sozialhilfeempfänger einen Anspruch auf Arbeitslosengeld erwerben konnten, war es ihnen möglich, einen Teil dieser Verantwortung zurück an die Bundesanstalt für Arbeit zu verschieben. Zum anderen konnten die Workfare-Elemente des BSHG auch genutzt werden, um Leistungsbezieher abzuschrecken und so die kommunalen Haushalte zu entlasten. Dementsprechend wurden diese Programme seit Ende der 1980er Jahre von den Kommunen verstärkt genutzt, um die fiskalischen Lasten, die ihnen die andauernde Massenarbeitslosigkeit aufbürdete, zu reduzieren. In der Arbeitsförderung selbst kam es zu Kürzungen der Leistungen5 und zu einer Verschärfung der Anspruchsbedingungen. Auch senkte die konservativ geführte Regierung die Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik. Sie hob aber gleichzeitig die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung an, um das Budget der Bundesanstalt für Arbeit zu konsolidieren. Zudem weitete sie die Anspruchsdauer des Arbeitslosengelds für Ältere sukzessive bis auf drei Jahre aus (Clasen 1994: 179), um die Erosion des Versicherungsprinzips zu stoppen. Auf die hohe Arbeitslosigkeit wurde außerdem mit einer Strategie der Reduzierung des Arbeitskräfteangebots durch Frühverrentung und abgefederte Übergänge in die Rente reagiert (vgl. Trampusch 2005). Die Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik und ihre grundsätzliche Ausrichtung blieben in den 1980er Jahren nahezu unverändert. In den 1990er Jahren weitete sich das kommunale Engagement in der Aktivierung von SozialhifebezieherInnen aus. In der klassischen Arbeitsförderung führten die Konsequenzen der deutschen Vereinigung zu einer Delegitimierung der traditionellen Instrumente und zu einer Neuausrichtung der aktiven Arbeitsmarktpolitik (Heinelt 2003: 140). Diese kulminierte in der Verabschiedung des Arbeitsförderungsreformgesetzes von 1997,6 mit dem das Ziel der Herstellung von Vollbeschäftigung mithilfe staatlicher Intervention aus den Prinzipien der Arbeitsmarktpolitik getilgt und die spezielle Verantwortung der Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Angelegenheiten des Arbeitsmarktes betont wurde (Bäcker et al. 2008: 540).7

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Nach der „Hilfe zur Arbeit“ des BSHG konnten die Kommunen Arbeitsgelegenheiten in regulär entlohnter Beschäftigung im gemeinnützigen Bereich (so genannte Entgeltvariante) oder nach der Aufwandsentschädigungsvariante, bei der den Arbeitslosen eine geringe Aufstockung ihrer Leistung gewährt wird und die der Praxis der heutigen Ein-Euro-Jobs entspricht, schaffen. 5 Das Arbeitslosengeld wurde von 68 auf 63 Prozent und die Arbeitslosenhilfe von 58 auf 56 Prozent des früheren Nettoeinkommens gesenkt. 6 Mit dem Arbeitsföderungsreformgesetz (ARFG) wurde das Arbeitsfördergesetz (AFG) von 1969 reformiert und als Drittes Buch (SGB III) in das Sozialgesetzbuch eingegliedert. 7 Vgl. auch Oschmiansky/Ebach in diesem Band.

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Die Enttäuschung über die traditionellen Instrumente8 führte außerdem zu einer deutlichen Senkung des Budgets dieser Maßnahmen sowie zu mehreren Veränderungen, die einen ‚marktnäheren’ Einsatz der Maßnahmen erlaubten (Heinelt 2003: 127 und 134f.). So wurden Lohnkostenzuschüsse an private Arbeitgeber ausgeweitet, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen auch für den gewerblichen Bereich geöffnet und private Arbeitsvermittler zugelassen. Gleichzeitig wurden die Auflagen für Arbeitslose, sich um Arbeit zu bemühen, Arbeitsangebote oder Arbeitsgelegenheiten anzunehmen, sowohl in der Arbeitslosenversicherung als auch in der Sozialhilfe ausgeweitet (Heinelt 1994: 201, Mohr 2004: 293, 299ff.). Auch die Leistungen gerieten in den 1990er Jahren weiter unter Druck: Die Anspruchsbedingungen und die Zumutbarkeitskriterien wurden verschärft, die Leistungshöhe des Arbeitslosengeldes und der Arbeitslosenhilfe wurde erneut gesenkt9 und die Anpassung der Sozialhilfesätze an steigende Lebenshaltungskosten mehrfach ausgesetzt. Der Zugang zur ‚originären Arbeitslosenhilfe’, die Arbeitslosen mit wenigstens 150 Tagen Beitragszeit den Bezug von Versicherungsleistungen ermöglicht hatte und die bereits während der 1980er Jahre mehrfach zur Zielscheibe von Kürzungen geworden war, wurde weiter verschärft, bis sie 1999 endgültig abgeschafft wurde (Trube 2002: 20). Die 1990er Jahre stehen damit für eine schleichende Residualisierung und schrittweise Konditionierung der Leistungen sowie für die beginnende angebotsorientierte Reformulierung der Arbeitsmarktpolitik. Eine radikale Umorientierung und -strukturierung der Arbeitsmarktpolitik fand jedoch erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit den rot-grünen ‚Hartz-Reformen’ statt.

2.2 Die ‚Hartz-Reformen’ Die rot-grünen Arbeitsmarktreformen, die unter dem Namen ‚Hartz-Reformen’ allgemein bekannt geworden sind, stehen im Kontext der Neuformulierung sozialdemokratischer Politik. Sie bilden zudem den Kernbestand eines umfassenden Reformpakts, das dazu dienen sollte, die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu stärken und die Sozialausgaben zu begrenzen. Neben wirtschafts-, bildungs- und familienpolitischen Maßnahmen beinhaltete die „Agenda 2010“ auch Kürzungen im Gesundheitswesen und bei den Renten. Wie in vielen anderen europäischen Ländern bemühten sich auch die deutschen Sozialdemokraten in den späten 1990er Jahren darum, ihr Politikverständnis zu reformulieren, um für neue Wählerschichten attraktiv zu werden. Sie bezogen sich dabei stark auf das von Anthony Giddens formulierte und von Tony Blair erfolgreich adaptierte Paradigma des Dritten Wegs und das Konzept eines aktivierenden Staats (Giddens 1999). Dieser soll – so das damals wegweisende gemeinsame Papier von Schröder und Blair – „das Sicherheitsnetz aus Ansprüchen in ein Sprungbrett in die Eigenverantwortung umwandeln“ (Schröder/Blair 1999). Statt lediglich (nun als passiv geltende) Leistungen zu gewähren, soll er seine BürgerInnen aktivieren und dabei unterstützen, unabhängig von staatlicher Hilfe zu werden. Um dazu in der Lage zu sein, muss der Staat sich selbst reformieren und in der Erbringung seiner Dienstleistungen effizienter werden. Gleichzeitig sollen die BürgerInnen 8

Hierunter fallen vor allem die berufliche Aus- und Weiterbildung sowie Maßnahmen im zweiten Arbeitsmarkt. Die Sätze für Arbeitslose ohne Kinder wurden von 63 auf 60 Prozent beim Arbeitslosengeld und 56 auf 53 Prozent bei der Arbeitslosenhilfe gesenkt. 9

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mehr Eigenverantwortung an den Tag legen. Diese doppelte Inpflichtnahme bringt das deutsche Prinzip des Workfare – das „Fördern und Fordern“ - sinnfällig zum Ausdruck. Obwohl das theoretische Fundament damit gelegt war, fanden in den ersten Jahren der rot-grünen Bundesregierung keine weit reichenden politischen Veränderungen der leistungsrechtlichen Strukturen und Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik statt. Im Gegenteil wurden in der ersten Legislaturperiode sogar einige Reformen unternommen, die als Abkehr von dem von der Vorgängerregierung eingeschlagenen Weg der Deregulierung und Aktivierung gedeutet werden können (vgl. Feil et al. 2008: 173).10 Dies kann zum einen auf die Abgrenzung von der Vorgängerregierung zurückgeführt werden, deren Sozialabbaukurs die Sozialdemokraten im Wahlkampf heftig kritisiert hatten. Zum anderen war das linke Lager in der SPD zu Beginn der ersten Amtszeit der Regierung Schröder noch relativ einflussreich und hatte in Oskar Lafontaine als Parteivorsitzendem und Finanzminister eine starke, dem Lager der „neuen“ Sozialdemokraten um den Kanzler Paroli bietende Führungsfigur. Der Rücktritt Lafontaines 1999 schwächte die SPD-Linke dauerhaft. Das politische Klima war durch einen hegemonialen Diskurs über Reformstau und Reform erzwingende Sachzwänge geprägt (vgl. Lessenich 2003). Auch begannen die Arbeitslosenzahlen 2001 weiter zu steigen, woraufhin die Regierung stärkere Initiative in Richtung einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik entwickelte. Im September 2001 wurde das “Job-AQTIV-Gesetz” (vgl. Trube 2002) verabschiedet, dessen zentrales Ziel es war, den Service der Bundesanstalt für Arbeit zu verbessern, um Erwerbslose schneller in Arbeit zu bringen. Zudem beinhaltete es Maßnahmen zur Früherkennung drohender Langzeitarbeitslosigkeit sowie eine Eingliederungsvereinbarung zwischen Arbeitsverwaltung und Leistungsbeziehenden. Dieses neue Instrument, welches das Prinzip des „Förderns und Forderns“ institutionalisieren sollte, wurde in der Praxis jedoch kaum angewandt. Das Job-AQTIV-Gesetz wurde auch schnell von den sich überschlagenden Entwicklungen überholt. Im Januar 2002 wurde bekannt, dass die Bundesanstalt für Arbeit ihre Vermittlungsergebnisse geschönt hatte. Unter dem öffentlichen Druck der nahenden Bundestagswahlen setzte Bundeskanzler Schröder deshalb umgehend eine Kommission ein, die Vorschläge für eine weitreichende Reform der Arbeitsmarktpolitik unterbreiten sollte. Deren Bericht wurde im August 2002 der Öffentlichkeit vorgestellt (Kommission Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt 2002). Er beinhaltete nicht nur Vorschläge für eine grundlegende Restrukturierung der Arbeitsverwaltung (1.), sondern auch für weitreichende Veränderungen im Leistungsrecht (2.) sowie der Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik (3.). Zentrale Vorschläge der Kommission wurden in den Jahren 2003 bis 2005 mit den vier Gesetzen für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt umgesetzt. 1.) Im Rahmen der Reform der Arbeitsverwaltung, die durch das dritte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt erfolgte, wurde die Bundesanstalt für Arbeit in Bundesagentur umbenannt und nach den Grundsätzen des New Public Management neu strukturiert. Das bisherige Weisungsverhältnis zwischen Bundesregierung und Bundesanstalt wurde durch ein „Agency Modell“ und die Steuerung über Zielvereinbarungen ersetzt. Die Selbstverwaltung und der sozialpolitische Auftrag der BA wurden geschwächt (vgl. Klenk 10

So wurde unmittelbar nach der Wahl die Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall revidiert. Auch der in die Rentenformel eingeführte „demografische Faktor“ wurde zunächst zurück genommen und zur Eindämmung von Scheinselbständigkeit wurden geringfügige Beschäftigungsverhältnisse der Versicherungspflicht unterworfen.

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in diesem Band). Eine weitere zentrale Neuerung war die Öffnung der Arbeitsvermittlung für private Anbieter, die durch Konkurrenz die Effizienz der BA auf diesem Gebiet steigern sollte. Vor Ort wurden die lokalen Arbeitsämter zu „Kundenzentren der Zukunft“ umgebaut, in denen neue Formen des Kundenstrommanagements, verstärkte Zusammenarbeit mit den Unternehmen im Rahmen von Arbeitgeberservices und Online-Stellenangebote für höhere Vermittlungserfolge sorgen sollten. 2.) Die Veränderungen im Leistungsrecht, die im Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt sowie dem vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt enthalten waren, betrafen die drei Bereiche der Mindestsicherung bei Langzeitarbeitslosigkeit, die Bezugsdauer des versicherungsbasierten Arbeitslosengelds sowie das Zumutbarkeits- und Sanktionsregime. Mit der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zur neuen, deutlich stärker bedürftigkeitsgeprüften und auf Niveau der Sozialhilfe liegenden Grundsicherung für Arbeitssuchende wurde die alte Arbeitslosenhilfe abgeschafft und eine neue einheitliche Mindestsicherung für alle Langzeitarbeitslosen geschaffen. Die neue Leistung, die im Sozialgesetzbuch II (SGB II) kodifiziert ist, ist in noch stärkerem Maße als die Arbeitslosen- und Sozialhilfe von der Bereitschaft des/der Arbeitslosen abhängig, Arbeit zu suchen oder an Aktivierungsmaßnahmen teilzunehmen und wie bei der Jobseeker’s Allowance in Großbritannien signalisiert bereits der Name einen Paradigmenwechsel: LeistungsbezieherInnen werden nicht länger als Arbeitslose betrachtet, deren Einkommen gesichert werden muss, sondern als Arbeitsuchende, die so schnell wie möglich in den Arbeitsmarkt integriert werden sollen. Die zweite gravierende Veränderung des Leistungssystems trat mit der Verkürzung der maximalen Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes nach dem SGB III für Ältere von maximal 32 auf maximal 18 Monate zu Beginn des Jahres 2006 in Kraft. Beide Veränderungen erhöhen auf dem Wege der Residualisierung von Leistungen den Druck auf Erwerbslose zur raschen Integration in den Arbeitsmarkt. Die Verkürzung der Bezugsdauer des versicherungsbasierten Arbeitslosengelds zwingt Erwerbslose sich schneller eine neue Arbeitsstelle zu suchen, da sie sonst in das Arbeitslosengeld II mit seinen geringen Leistungen und seinen strikten Bedürftigkeitsprüfungen fallen würden. Wirkt hier eher die Angst vor dem Absturz als treibende Kraft, sind es beim Arbeitslosengeld II die „Hungerpeitsche“ (Weber) niedriger Leistungen sowie der verstärkte direkte Druck zur Aufnahme einer Arbeit, die der Workfare-Logik Geltung verschaffen. Beide Veränderungen schwächen das im deutschen Sozialstaat bisher dominante Prinzip der Lebensstandardsicherung, denn eine solche relative Absicherung der bisherigen Einkommensposition wird im Rahmen des Arbeitslosengelds nun deutlich kürzer gewährt und im Bereich der Sicherung bei Langzeitarbeitslosigkeit vollständig zugunsten des Mindestsicherungsprinzips aufgegeben. Dabei war vor allem die rasche Verweisung vom Versicherungs- auf das Fürsorgesystem politisch sehr umstritten, was schließlich dazu führte, dass die Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengelds von der Nachfolgeregierung teilweise wieder zurück genommen wurde. Die dritte wesentliche Veränderung im Leistungsrecht betrifft das Zumutbarkeits- und Sanktionsregime. Existierte in der Arbeitslosenhilfe noch eine abgestufte Zumutbarkeitsregelung, bei der in der ersten Zeit noch Rücksicht auf den vorherigen Berufsstatus genommen wurde, gilt für BezieherInnen der Grundsicherung nach dem SGB II nun jede Arbeit

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als zumutbar, zu die oder der Arbeitslose körperlich und geistig in der Lage ist, unabhängig von der Länge der Arbeitszeit, ortsüblichen Löhnen oder tariflichen Regelungen. Dies hat den Druck auf Langzeitarbeitslose, fast jede Arbeit annehmen zu müssen, enorm verschärft. Damit sind auch Arbeitsbedingungen und Löhne in den unteren Segmenten des Arbeitsmarkts unter Druck geraten. Gleichzeitig wurden auch die Sanktionsmöglichkeiten erheblich ausgeweitet und das Instrument einer sanktionsbewehrten Eingliederungsvereinbarung verbindlich für alle Langzeitarbeitslosen gemacht.11 3.) Um eine schnelle Integration in den ersten Arbeitsmarkt zu erreichen, wurde außerdem eine Reihe neuer Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik eingeführt (vgl. Oschmiansky/Ebach in diesem Band). Gemeinsam ist den neuen Förderinstrumenten, dass es bei ihnen nicht um die Erhaltung oder gar Verbesserung des beruflichen Status des/der Arbeitslosen geht, sondern um die schnelle Integration in den ersten Arbeitsmarkt, die auch in Beschäftigung führen kann, die früher als unterwertig gegolten hätte. Die Ausweitung des Niedriglohnsektors und die Zuführung von beschäftigungsfähigen Arbeitskräften in diesen ist bewusstes Ziel dieser work-first orientierten aktivierenden Arbeitsmarktpolitik. Die Aufwertung der Arbeitskraft durch Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen, die Kernstück der aktiven Arbeitsmarktpolitik war und die in den skandinavischen Ländern auch im Rahmen aktivierender Arbeitsmarktpolitik noch einen hohen Stellenwert einnimmt, spielen im Repertoire der neuen deutschen Arbeitsmarktpolitik dagegen nur noch eine untergeordnete Rolle. Auch die am ehesten einer engen Definition von Workfare entsprechenden „Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung“ (auch „Ein-Euro-Jobs“ genannt), die bisher vor allem im Bereich der Sozialhilfe genutzt wurden, wurden mit Einführung der neuen Grundsicherung für Arbeitsuchende stark ausgeweitet. Sie stellen hinsichtlich Teilnehmerzahl und finanziellen Aufwendungen mittlerweile das gewichtigste Arbeitsförderinstrument im Rechtskreis des SGB II dar. Auf den ersten Blick widersprechen sie der Logik des workfirst-Ansatzes, da sie vor allem dazu dienen, Hilfebedürftige wieder an Arbeit heranzuführen und ihre Beschäftigungsfähigkeit wieder herzustellen bzw. zu erhalten. Sie sind jedoch auch in dieser Funktion elementarer Bestandteil einer Workfare-Politik, welche die Erwerbslosen in Niedriglohnarbeitsmärkte kanalisiert bzw. in ihrer Nähe beschäftigungsfähig hält. Bestimmte Workfare-Elemente existierten in Deutschland bereits lange vor den ‚Hartz-Reformen’ – wie etwa die Hilfe zur Arbeit im BSHG – oder waren bereits im Vorfeld schrittweise eingeführt worden – wie Lohnkostenzuschüsse an private Arbeitgeber sowie die Eingliederungsvereinbarung. Auch der Trend zur Residualisierung von Leistungen ist bereits seit längerem zu beobachten. Dennoch stellen die rot-grünen Arbeitsmarktreformen eine neue Qualität und den entscheidenden Durchbruch zu einer workfaristischen Politik der Aktivierung dar, da sie alle Ressourcen, leistungsrechtlichen Strukturen und Instrumente dafür mobilisieren, erwerbsfähige Hilfebedürftige so schnell wie möglich in Arbeit zu integrieren. In geradezu prototy11

Die Verschärfung der Sanktionen geschah in zwei Schritten. Zunächst wurde für Erwachsene eine 30-prozentige Kürzung eingeführt, die sich bei mehreren Verstößen innerhalb eines Zeitraums von drei Monaten akkumulieren konnte. Bei Jugendlichen konnte ein mehrfacher Verstoß gegen Auflagen zur Einstellung der Leistungen bzw. Ersetzung der Geld- durch Sachleistungen führen. Mit dem Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende (Deutscher Bundestag 2006) wurden die Sanktionen nochmals verschärft. Bei einem zweiten Verstoß binnen Jahresfrist können nun die Leistungen bei Erwachsenen um 60 Prozent gekürzt und bei einer weiteren Pflichtverletzung komplett eingestellt werden. Bei jungen Erwachsenen ist dies bereits bei der zweiten Regelwidrigkeit möglich.

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pischer Weise sind die Reforminhalte – Leistungskürzungen, Verschärfung der Zumutbarkeitskriterien und Sanktionen sowie neue Instrumente, die in Niedriglohnarbeit kanalisieren – darauf ausgerichtet, Arbeit zu erzwingen, während Sozialleistungen residualisiert werden, was laut Peck (2001: 10), die Essenz von Workfare darstellt.

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Der plötzliche Durchbruch der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik

Der Wandel der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland verlief dennoch zunächst eher inkrementell als radikal. Die 1990er Jahre waren zwar von einer Neuformulierung der Ziele und Prinzipien der Arbeitsmarktpolitik sowie einer graduellen Umwandlung der aktiven zu einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik gekennzeichnet. Erst mit den ‚Hartz-Gesetzen’, die zwischen 2003 und 2005 verabschiedet wurden, erfolgte eine radikale Reform, die eine strukturelle Neuorganisation des Leistungssystems und des institutionellen Settings beinhaltete (vgl. Knuth in diesem Band) und den Paradigmenwechsel vollendete. Wie ist es zu erklären, dass der Durchbruch des Workfare-Staats damit in Deutschland relativ spät (und nach einem Intermezzo gegenläufiger Politik), dann aber sehr plötzlich und rasch erfolgte? Hierfür spielen zum einen situative Faktoren sowie die spezifische politische Gelegenheitsstruktur, in deren Kontext die Reformen durchgeführt wurden, eine Rolle. Zum anderen muss dem internationalen Policy-Transfer und Politiklernen eine wichtige Rolle zugeschrieben werden. Die Ausrichtung der Arbeitsmarktpolitik auf Aktivierung der Erwerbslosen war bereits seit Mitte der 1990er Jahre von supranationalen Akteuren wie der OECD und der EU propagiert worden. Auch die US-amerikanische „Welfare Reform“ der New Democrats im Jahr 1996 übte starken Einfluss auf die europäische Reformpolitik aus. In Großbritannien wurden diese Reformimpulse besonders engagiert aufgenommen und von Tony Blair im Vorfeld der Unterhauswahlen von 1997 mit den Ideen des wichtigsten Stichwortgebers der neuen Sozialdemokratie, Anthony Giddens, zu einer publizitätsmächtigen Reformstrategie amalgamiert. Als wichtiges Element des „Dritten Weges“ fand das Konzept des „Förderns und Forderns“ auch bei anderen sozialdemokratischen Parteien in Europa starken Widerhall und beeinflusste nationale Reformstrategien (s.o. Kap. 2.2.). Auch für die Hartz-Reformen bildeten die britischen Arbeitsmarktreformen ein wichtiges Vorbild (vgl. Knuth 2006). Durch Diffusion und Expertisentransfer wurden die britischen Konzepte bis hinein in die Gestaltung der Instrumente auf die deutsche Arbeitsmarktpolitik übertragen. Dafür dass der Durchbruch zu einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik in Deutschland schließlich relativ plötzlich erfolgte – auch wenn der Pfad dorthin bereits seit längerem angelegt war –, sind sicher situative Faktoren (Heinelt 2003: 142f.) wie der Vermittlungsskandal der Bundesanstalt für Arbeit und die massiv steigende Arbeitslosigkeit im Vorfeld der Bundestagswahl 2002 mit entscheidend gewesen. Diese Ereigniskonstellation eröffnete ein Window of Opportunity, dass es den herrschenden Akteuren ermöglichte, auch innerhalb eines grundlegende Reformen eher behindernden politischen Systems weitreichende Reformen durchzusetzen. Normalerweise zwingt die Struktur des politischen Systems in Deutschland Regierungen dazu, die Zustimmung verschiedener Akteure zu suchen und kompromisshafte, kleinteilige Reformschritte zu unternehmen. Dies liegt zum einen an der föderalen Struktur des Staats, zum anderen am Verhältniswahlrecht, das Koalitionsregierungen hervor bringt, die

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oftmals nur mit knappen Mehrheiten ausgestattet sind. Zu den sich daraus ergebenden Vetopunkten kommt, dass die Gewerkschaften in Deutschland vergleichsweise stark sind und gegen ihren Widerstand in Kernbereichen ihrer Interessenvertretung – und hierzu gehört die Arbeitsmarktpolitik – nur schwer weitreichende Veränderungen durchgesetzt werden können. In der politischen Konstellation kurz vor und während der Hartz-Reformen fiel jedoch eine Reihe von Vetospielern aus. Der Vermittlungsskandal und der Kampf Schröders um die nahende Bundestagswahl beschleunigten und radikalisierten zudem den Reformprozess. Um überhaupt eine Chance auf Wiederwahl zu haben, musste Kanzler Schröder Handlungsfähigkeit in der Arbeitsmarktpolitik beweisen. Programmatisch stand die Umwandlung des versorgenden Wohlfahrtsstaats in einen aktivierenden Wettbewerbstaat bereits seit längerem auf der Agenda der neuen Sozialdemokratie und die Reformen waren entsprechend ideologisch vorbereitet (siehe 2.). Die Linke in der SPD war nach dem Rücktritt Lafontaines im März 1999 geschwächt und konnte der plötzlichen Entschlossenheit der neuen Sozialdemokraten um Kanzler Schröder wenig entgegen setzen. Auch andere Vetospieler fielen als Hindernis weitgehend aus, da sich die Gewerkschaften gegenüber der sozialdemokratisch geführten Regierung defensiv verhielten und ihr Protest gering blieb. Durch die Auslagerung des Agenda-Settings in eine unabhängige Kommission konnte die Regierung sich darauf zurückziehen, dass die Empfehlungen von externen und parteiunabhängigen Experten gemacht worden waren, was eine erhöhte Legitimität versprach. Schließlich wurden die Reformen von den Unionsparteien mit getragen, so dass auch aus der parlamentarischen Opposition kein Widerstand erwuchs.

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Fazit: Workfare als neue Regulation der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland

Legt man die Maßstäbe des engen Workfare-Begriffs auf die deutsche Politik der Aktivierung an, so muss die Frage einer Entwicklung von Welfare zu Workfare mit nein beantwortet werden. Zwar werden Workfare-Programme, bei denen Leistungsbeziehende als Gegenleistung für die Grundsicherung ohne weitere Entschädigung gemeinnützige Arbeit leisten müssen, immer wieder von einzelnen AkteurInnen aus Wissenschaft und Politik als Mittel zur gebotenen Herstellung von Reziprozität zwischen LeistungsbezieherInnen und staatlichem Gemeinwesen sowie als Anreizverstärker zur Aufnahme regulärer Existenz sichernder Beschäftigung propagiert (vgl. BMWI 2007). Sie sind in dieser Form in Deutschland bisher aber nicht umgesetzt.12 Dagegen steht eine in Deutschland in weiten Teilen der politischen Eliten und in der Bevölkerung verankerte Zurückhaltung gegenüber allzu direkten Formen der Zwangsarbeit. Aber auch pragmatische Gründe wie das Problem der Schaffung und Administration von Millionen von „work-for-benefit“-Maßnahmen und der Verdrängung regulärer Beschäftigung verhindern bisher und auf absehbare Zeit eine flächendeckende Einführung dieses Prinzips.13

12 Die hauptsächlich bei Jugendlichen zur Überprüfung der Arbeitsbereitschaft und zur Arbeitsgewöhnung eingesetzten Trainingsmaßnahmen dienen einem anderen ideologischen und funktionalen Zweck. Auch werden sie nur selektiv angewendet und beziehen sich in der Regel auf den ersten Arbeitsmarkt. 13 Bereits heute üben auch VertreterInnen der Wirtschaft Kritik an den Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung, da diese dazu führen, dass z.B. dem lokalen Handwerk Aufträge entgehen.

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Begreift man Workfare jedoch im Sinne von Jessop und Peck als polit-ökonomische Tendenz, bei dem die Arbeitsmarktpolitik den Imperativen der Wettbewerbsfähigkeit untergeordnet und auf die Bedingungen von Niedriglohnarbeitsmärkten ausgerichtet wird, bei dem an die Stelle des Rechts auf staatliche Unterstützung die Pflicht zur Wiedererlangung der eigenen Beschäftigungsfähigkeit tritt und bei dem die Arbeitsmarktbeteiligung maximiert, während die Abhängigkeit von staatlicher Unterstützung minimiert werden soll, so ist die im Titel gestellte Frage eindeutig positiv zu beantworten. Auch in Deutschland hat ein solcher Paradigmenwechsel in der Arbeitsmarktpolitik statt gefunden. Dieser erfolgte über weite Strecken inkrementell, fand jedoch in den ‚HartzReformen’ seinen Kulminationspunkt. Bereits seit Ende der 1980er Jahre fanden ausgehend von der Sozialhilfe eine Entwicklung zu einer stärkeren Konditionierung des Leistungsbezugs sowie eine schrittweise Residualisierung staatlicher Unterstützungsleistungen für Erwerbslose statt. Die aktive Arbeitsmarktpolitik ersetzte zunehmend eine makroökonomische Beschäftigungspolitik und wurde ihrerseits immer stärker auf die Flexibilisierung von Arbeitsmärkten und die Ausdehnung des Niedriglohnsektors ausgerichtet. Erwerbslose wurden als Arbeitsuchende redefiniert und auf ihre Eigenverantwortung verpflichtet. Diese Tendenz erlangte mit den Hartz-Reformen eine neue Qualität und einen bis dato unvergleichlichen Schub. Die Arbeitsmarktreformen der frühen 2000er Jahre stehen dabei im Kontext einer allgemeineren Strategie, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft im Rahmen der Globalisierung – vor allem durch eine Rückführung der so genannten Lohnnebenkosten und damit durch einen Rückbau des Sozialstaats – zu stärken. Zwar ist diese Ausrichtung des Sozialstaats sowie der Arbeitsmarktpolitik nicht unumstritten und in sich widerspruchsfrei. Dennoch ist derzeit nicht in Sicht, dass die mit den Hartz-Reformen vollendete Neuausrichtung der aktiven zu einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik von einer kritischen Masse machtvoller politischer Akteure grundlegend in Frage gestellt und revidiert würde. Workfare im Sinne von Jessop und Peck kann daher auch in Deutschland mittlerweile als etablierter Modus der Regulation der Arbeitsmarktpolitik gelten.

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Grundsicherung „für Arbeitsuchende“: ein hybrides Regime sozialer Sicherung auf der Suche nach seiner Governance Grundsicherung „für Arbeitsuchende“

1

Einleitung

Vier Jahre nach ihrer Einführung hat die Grundsicherung „für Arbeitsuchende“1 noch immer keine sichere Governance gefunden. Es liegt durchaus im Bereich des Möglichen, dass das zentrale Versprechen der Hartz-Reformen, nämlich „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt aus einer Hand“ zu schaffen, für die Mehrheit der Erwerbslosen und Erwerbsarmen am Ende unerfüllt bleibt, weil dafür keine verfassungskonforme und politisch mehrheitsfähige Lösung gefunden werden kann. Die von diesem Dilemma Betroffenen sind zum großen Teil jene, die den nach der Logik der Hartz-Reformen angeblich notwendigen Preis - die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe – für die versprochenen „Dienstleistungen aus einer Hand“ zu zahlen hatten. Der Artikel fragt nach den Ursachen dieser Entwicklung jenseits von parteipolitischen Mehrheitskonstellationen und verfassungsrechtlicher Auslegung. Nach einer kurzen Bilanz der Reformen (Kap. 2) werden Theorieansätze der Pfadabhängigkeit und der Regimetheorie eingeführt (Kap. 3), um die Grundsicherung als einen Pfadwechsel weg vom Regime der Arbeitslosenversicherung charakterisieren zu können (Kap. 4). Dieser Pfadwechsel hat zu einem eigenständigen „hybriden“ Regime sozialer Sicherung geführt, das Elemente von Sozialfürsorge und Arbeitsförderung kombiniert (Kap. 5). Die Abkoppelung dieses Regimes von den Prinzipien der Sozialversicherung impliziert eine Stärkung der Rolle der Kommunen, ungeachtet der empirischen Evidenz über deren Leistungsfähigkeit und auch entgegen den Interessen eines großen Teils von ihnen (Kap. 6).

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„Hartz IV“ – die Unvollendete

2.1 Vorläufige Bilanz der Hartz-Reformen Die mit dem Namen „Hartz“ verbundenen Reformen lassen sich – nicht ganz kongruent mit der Nummerierung der einzelnen Gesetzgebungsschritte – in vier Elemente unterteilen: (1) Einführung einiger neuer arbeitsmarktpolitischer Instrumente und Modifikation weiterer, letzteres teilweise auch unabhängig von den Empfehlungen der Hartz-Kommission („Hartz I/II“– 2003);

1 Da die Mehrzahl der LeistungsbezieherInnen im SGBII in Wirklichkeit nicht arbeitsuchend ist, kann die offizielle Bezeichnung dieses Leistungssystems nur in Anführungszeichen benutzt werden. Eine treffendere Bezeichnung wäre „Grundsicherung für Erwerbsarme“, womit Mangel an Erwerbsmöglichkeiten ebenso umfasst wäre wie Armut trotz Erwerbstätigkeit.

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(2) Modernisierung der Aufbau- und Ablauforganisation der Bundesanstalt für Arbeit („Hartz III“ – 2004)2, die in diesem Zusammenhang umbenannt wurde in „Agentur“, ohne dass ihre rechtliche Stellung tatsächlich dem entsprechen würde, was in der Theorie öffentlicher Verwaltung als government agency bezeichnet wird; (3) Umgestaltung des Sozialleistungssystems für Erwerbslose und Erwerbsarme ohne (ausreichenden) Anspruch auf Leistungen der Arbeitslosenversicherung, kommuniziert als „Zusammenlegung“ von Arbeitslosen- und Sozialhilfe („Hartz IV“ – 2004); (4) Versuch der Schaffung einheitlicher und effizienterer Anlaufstellen für alle Arbeitsuchenden und Leistungen wegen Erwerbslosigkeit oder Erwerbsarmut Beziehenden unter dem Neologismus Job-Center („Hartz IV – 2004 mit Nachspiel 2005). Unter dem Motto „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ stellte die HartzKommission das Element (4) ins Zentrum ihrer Reformvorschläge, um damit (2) zu begründen und (3) zu rechtfertigen. Denn nach seinerzeit herrschender Vorstellung war die „Zusammenlegung“ der steuerfinanzierten Sozialleistungen einerseits des Bundes, andererseits der Kommunen die unabdingbare Voraussetzung dafür, auch die Dienstleistungen von (damals noch) Bundesanstalt für Arbeit und Sozialämtern zusammenzuführen. Dadurch sollten einerseits bestehende institutionelle Brüche in der Arbeitsmarktpolitik überwunden, andererseits die aktive Arbeitsförderung durch Einbeziehung von „flankierenden“ sozialen Dienstleistungen der Kommunen ganzheitlicher und damit für Langzeitarbeitslose mit multiplen Vermittlungshemmnissen wirksamer gestaltet werden. Die Bilanz dieser vier Reform-Elemente fällt differenziert aus: (1) Soweit es sich bei der Instrumenten-Reform um originäre Innovationen handelte, waren diese nach den Ergebnissen der Evaluationen überwiegend nicht erfolgreich im Sinne einer Verbesserung der Integrationschancen am Arbeitsmarkt (vgl. Kaltenborn et al. 2006; Jacobi, Kluve 2007 sowie den Beitrag von Neubäumer in diesem Band), und mehrere wurden inzwischen schon wieder abgeschafft.3 (2) Dem Umbau der Bundesanstalt zur Bundesagentur für Arbeit wurden in der Evaluation tendenziell positive Effekte attestiert (vgl. BMAS 2006: Vff.).4 Jedoch führt das Scheitern von (4) dazu, dass diese Errungenschaften unmittelbar nur dem versicherten Teil der Arbeitslosen bzw. dem nicht bedürftigen Teil der Arbeitsuchenden zugute kommen. Auf dem vorläufigen Tiefpunkt der Arbeitslosigkeit im Oktober 2008 waren dies rd. 30% der Arbeitslosen und sogar nur rd. 14% der Personen, die Arbeitslosengeld oder Arbeitslosengeld II bezogen (Statistik der Bundesagentur für Arbeit 2009). Das System „BA pur“ ist also eine Dienstleistung nur für eine Minderheit der Erwerbslosen bzw. Erwerbsarmen. (3) Die „Zusammenlegung“ der Leistungen für erwerbsfähige Bedürftige unter der den Charakter der neuen Leistung verschleiernden Bezeichnung „Arbeitslosengeld II“ (ALG II) wurde durch die Schaffung eines neuen Sozialgesetzbuches „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ (SGB II) verwirklicht. Bis dahin Sozialhilfe Beziehende hatten 2 Teilweise auch schon durch Art. 3 des Gesetzes zur Vereinfachung der Wahl der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat vom 23. März 2002. 3 Insbesondere durch das Gesetz zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente vom 21.12.2008. 4 Zur Kritik der Qualität der so produzierten Dienstleistungen vgl. Hielscher, Ochs 2009.

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davon in finanzieller Hinsicht leichte Vorteile, Arbeitslosenhilfe Beziehende – und damit die Mehrheit der Betroffenen – eher Nachteile (Blos, Rudolph 2005; Goebel, Richter 2007). Die neuen Geldleistungen werden von Sozialverbänden und Teilen der Wissenschaft als zu niedrig kritisiert, insbesondere die Leistungssätze für Kinder (vgl. Becker 2008). Die Unzufriedenheit der Betroffenen sowie Ungereimtheiten einzelner Vorschriften beschäftigen die Sozialgerichte. (4) Zur Schaffung von örtlich jeweils einer einheitlichen Anlaufstelle kam es nicht. Politische Differenzen über die Trägerschaft der neuen Leistungen führten zunächst zu einem zweifachen Kompromiss: (a) Dienstleistungen für ALG II Beziehende werden im Regelfall durch eine „Arbeitsgemeinschaft“ (ARGE) erbracht, die in öffentlicher oder privater Rechtsform von der jeweiligen Kommune zusammen mit der örtlich zuständigen Agentur für Arbeit zu bilden ist. (b) 69 Kreise oder kreisfreie Städte, die durch ein auf die Bundesländer nach Maßgabe ihrer Stimmen im Bundesrat kontingentiertes Antragsverfahren ermittelt wurden, haben als so genannte „zugelassene kommunale Träger“ (zkT) die Aufgaben nach dem SGB II zur alleinigen Wahrnehmung übernommen. Der Kompromiss, das neue Gesetz in zwei unterschiedlichen Formen der Aufgabenwahrnehmung umsetzen zu lassen, wurde als ein bis 2010 befristetes Experiment5 deklariert. Da es jedoch verfassungsrechtlich nicht möglich ist, die Kommunen zum Eingehen einer Arbeitsgemeinschaft mit der Agentur für Arbeit zu zwingen, kam es in einigen Regionen zu einer dritten Form, bei der BA und Kommunen die ihnen im Gesetz originär zugeordneten Aufgaben jeweils für sich allein, in mehr oder weniger loser Kooperation wahrnehmen (vgl. Kirsch et al. 2009). In dieser „getrennten Aufgabenwahrnehmung“ erbringt die Agentur für Arbeit die Unterhaltsleistungen und die arbeitsmarktpolitische Förderung, während die Kommune zuständig ist für die Kosten der Unterkunft und Heizung und die flankierende soziale Förderung. Durch Auflösung von Arbeitsgemeinschaften erhöhte sich die Anzahl der Regionen mit getrennter Aufgabenwahrnehmung, von denen es aktuell (Frühjahr 2009) 23 gibt.6 Es stellte sich bald heraus, dass der für die Mehrzahl der Arbeitslosen und Leistungsempfänger geschaffene eigenständige „Rechtskreis“ des SGB II auch eigenständige Organisationsformen verlangte. Deshalb wurde die Fiktion eines gemeinsamen „Job-Centers“ für Versicherte und Nichtversicherte bereits nach 18 Monaten aus dem Gesetz gestrichen.7 Das Ziel, eine „einheitliche Anlaufstelle“ für alle Arbeitslosen und Arbeitsuchenden zu schaffen, wurde also gleich in dreifacher Hinsicht verfehlt: a) Versicherte und nicht versicherte Erwerbslose haben unterschiedliche Anlaufstellen, b) die Anlaufstellen für die Nichtversicherten sind nicht einheitlich verfasst, sondern existieren in drei verschiedenen Varianten und tragen – infolge von Marketing-Strategien dieser neuen Akteure am Arbeitsmarkt – von Ort zu Ort unterschiedliche Bezeichnungen, c) in Regionen mit getrennter Aufgabenwahrnehmung müssen alle ALG II Beziehenden zwei Dienststellen „anlaufen“. 5 Da die Entscheidung für die eine oder andere Form durch Selbstrekrutierung der Kommunen zu Stande kam, handelte es sich jedoch nicht um ein Zufallsexperiment; vielmehr waren die regionalen Ausgangsbedingungen der einen und der anderen Gruppe im Durchschnitt höchst unterschiedlich (IAW 2006), und die Herausforderung der Evaluation bestand darin, mit diesem Problem methodisch angemessen umzugehen. 6 Etwa 70 ARGE-Verträge laufen schon vor dem Ende des Experimental-Zeitraums aus, was in die getrennte Aufgabenwahrnehmung führt, wenn nicht eine grundlegend neue Konstruktion gefunden wird. 7 Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende v. 20. Juli 2006.

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2.2 Grundsicherung für Arbeitsuchende im Verfassungsstreit Welche der beiden hauptsächlichen Formen der Aufgabenwahrnehmung – ARGE oder zkT – im Wettbewerb besser abschneidet, war die Kernfrage der offiziellen, gesetzlich verankerten Evaluation (§ 6c SGB II).8 Nach dem inzwischen vorliegenden Ergebnis haben die ARGEn - unter bestmöglicher statistischer Kontrolle der beträchtlichen Unterschiede zwischen den Arbeitsmärkten und der Struktur der Leistungen Beziehenden in Regionen mit der einen oder der anderen Form der Aufgabenwahrnehmung – in dem durch gesetzliche Vorgaben begrenzten Beobachtungszeitraum einen leichten Vorsprung bei der Integration in bedarfsdeckende Erwerbstätigkeit vorzuweisen (Bundesregierung 2008). Mit diesem Ergebnis ist jedoch die Kontroverse über die richtige Form der Aufgabenwahrnehmung keineswegs entschieden. Denn selbst wenn die Politik mehrheitlich der wissenschaftlich gewonnenen Evidenz folgen wollte, so könnte sie es doch nicht in der einfachen Weise tun, die ARGE ab 2011 unbefristet zur Regelform zu erklären. Denn bereits am 20. Dezember 2007 hat das Bundesverfassungsgericht auf Antrag von fünf Kreisen mit knapper Mehrheit von 5 : 3 Richterstimmen entschieden, dass die ARGE als eine „Mischverwaltung“ zwischen dem Bund und einer dem jeweiligen Bundesland zuzuordnenden Kommune nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sei (Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 20.12.2007). Andererseits, selbst wenn man sich über die Ergebnisse der Evaluation vollständig hinwegsetzen würde, ist der umgekehrte Weg einer Verallgemeinerung des kommunalen Modells durch die Föderalismusreform I verbaut, da nunmehr durch Bundesgesetz Gemeinden und Gemeindeverbänden Aufgaben nicht übertragen werden dürfen (Art. 84 Abs. 1 und Art. 85 Abs. 1 GG). Rein kommunale Lösungen sind also nur auf freiwilliger Basis möglich, und die Mehrzahl der Kommunen – oder zumindest die Mehrzahl der Großstädte, in deren Zuständigkeit sich die Mehrheit der zu betreuenden Personen befindet – scheint daran nicht interessiert zu sein. Den gordischen Knoten der Aufgabenwahrnehmung durchschlagen zu wollen, indem man zu den ursprünglichen Vorstellungen der Hartz-Kommission und des ersten Gesetzentwurfs (Bundesregierung 2003) einer alleinigen Bundeszuständigkeit für die Umsetzung zurückkehrt, wäre rechtspolitisch zumindest riskant, da interessierte kommunale Spitzenverbände das Grundgesetz gegen eine solche Lösung in Stellung bringen würden.9 Die verfassungsrechtlich einfachste Lösung, die Zuständigkeit für die Grundsicherung „für Arbeitsuchende“ den Ländern zu übertragen, wurde von diesen wegen der damit langfristig verbundenen finanziellen Risiken einhellig abgelehnt, indem sie sich für eine rechtliche Absicherung des Status quo mit ARGEn und Opti8 Die gesetzliche Definition des Untersuchungsgegenstandes lautete „Wahrnehmung der Aufgaben durch die zugelassenen kommunalen Träger im Vergleich zur Aufgabenwahrnehmung durch die Agenturen für Arbeit“ – aber letztere gibt es in Reinform nur in Fällen der „getrennten Aufgabenwahrnehmung“, die vom Gesetzgeber nicht vorgesehen war und im Grunde ein Vollzugsdefizit des Gesetzes darstellt. 9 „Als bundesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechtes werden diejenigen sozialen Versicherungsträger geführt, deren Zuständigkeitsbereich sich über das Gebiet eines Landes hinaus erstreckt.“ (Art. 87 Abs. 2 GG). Die Zuständigkeit der Bundesagentur für Arbeit für die Arbeitslosenhilfe als einem regimekompatiblen Anhängsel der Arbeitslosenversicherung blieb unangefochten; nach Wegfall der Arbeitslosenhilfe müsste jedoch die Alleinzuständigkeit des Bundes für die Umsetzung der neuen Aufgabe der Grundsicherung nach Art. 87 Abs. 2 GG geregelt werden: „Erwachsen dem Bunde auf Gebieten, für die ihm die Gesetzgebung zusteht, neue Aufgaben, so können bei dringendem Bedarf bundeseigene Mittel- und Unterbehörden mit Zustimmung des Bundesrates und der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages errichtet werden.“ Der Präsident des Deutschen Landkreistages, Hans-Günther Henneke, wird nicht müde, die Möglichkeit einer verfassungsrechtlichen Infragestellung der Bundeskompetenz für die Grundsicherung immer wieder anzudeuten (vgl. Henneke 2008a u. b).

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onskommunen aussprachen.10 Also: Wer die Zuständigkeit für die Ausführung des SGB II problemlos haben dürfte, will sie nicht; wer sie ursprünglich wollte, bekommt sie von anderen mit politischen und rechtlichen Mitteln streitig gemacht; die Interessenlage der Kommunen ist nicht zu vereinheitlichen; der inzwischen weithin akzeptierte Status quo ist sowohl aufgrund der „Experimentierklausel“ als auch des Urteils des Bundesverfassungsgerichts nur noch bis Ende 2010 aufrecht zu erhalten und bedarf zu seiner Absicherung neuer Regelungen. Nach vielfältigen Debatten und Verhandlungen hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales Entwürfe zur Anpassung des Grundgesetzes an die Realität der ARGEn sowie zur einzelgesetzlichen Schaffung einer auf Dauer tragfähigen rechtlichen Grundlage für ihr Funktionieren lanciert (BMAS 13.02.2009). Aufgrund von Widerständen in der Unionsfraktion wird es jedoch in der 16. Legislaturperiode nicht mehr zur Verwirklichung dieser Vorschläge kommen. Nach den aktuellen Umfragen über Wählerpräferenzen wird die Bundestagswahl im Herbst 2009 wahrscheinlich zu Mehrheitsverhältnissen führen, die eine Grundgesetzänderung schwieriger machen als derzeit. Somit ergibt sich die äußerst widersprüchliche Zwischenbilanz einer unvollendeten Reform. Auf der vordergründigen Ebene der Verwaltungsabläufe wurde die Umstellung trotz anfänglich massiver Mängel der verwendeten Software recht gut bewältigt. Durch gesteigerten Personaleinsatz und damit verbesserte quantitative Betreuungsrelationen konnte die Kontaktdichte mit den nunmehr als „Kunden“ bezeichneten Klienten erhöht werden. Ob ihnen damit auch wirksamer geholfen wird, wird womöglich nie wissenschaftlich zufriedenstellend geklärt werden können, da die Datenlage bezüglich des alten Zustandes – insbesondere bei der Sozialhilfe – unzureichend ist (vgl. den Beitrag von Kaps in diesem Band). Gesichert ist nur, dass das „Fördern und Fordern“ trotz günstiger Konjunktur keine Integrationen im versprochenen Ausmaß erzeugt.11 Das Versprechen von „Dienstleistungen aus einer Hand“, deren angemessener Preis der Umbau des Sozialleistungssystems sein sollte, wurde in geradezu grotesker Weise verfehlt. Die verfassungsrechtliche und politische Blockade gegen eine Stabilisierung der Strukturen der Leistungserbringung birgt das Risiko, dass diese sich vom Ideal von Leistungen „aus einer Hand“ noch weiter entfernen und dass die Intensität und Qualität von „Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ für Nichtversicherte hinter den Stand vor der Reform zurückfällt. Wie ist es möglich, dass sich das organisationsrechtliche Kernstück der Reform so schwierig in die Governance des deutschen Gemeinwesens einpassen lässt?

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Pfadabhängigkeit von Regimes sozialer Sicherung

3.1 Pfadabhängigkeit und Pfadwechsel Aufbauend auf dem Neo-Institutionalismus und der Analyse der historischen Entwicklung von Wohlfahrtsstaaten hat Pierson (2000, 2004) viel zur Popularisierung des Konzepts der 10

Sonderkonferenz der 85. Arbeits- und Sozialministerkonferenz am 9. Mai 2008 in Berlin. In den ersten drei Jahren nach der Reform waren 1,5 Mio. Bedarfsgemeinschaften ohne Unterbrechung im Leistungsbezug – das sind rund 20% der Bedarfsgemeinschaften, die in diesem Zeitraum jemals im Leistungsbezug waren, oder rund 36% der 2006 erreichten Höchstzahl von Bedarfsgemeinschaften, oder 45% des Anfangsbestandes vom Januar 2005 (Graf, Rudolph 2009). 11

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Pfadabhängigkeit als Instrument zur Analyse wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung beigetragen. Gegen vage Konzepte, nach denen Früheres „irgendwie“ bedeutsam sei für spätere Entwicklungen, grenzt er sich ab, indem er die metaphorische Veranschaulichung von Pfadabhängigkeit zitiert, die von Levi (1997) vorgeschlagen wurde: Wenn man einen Baum erklettert, dessen Stamm sich verzweigt, dann ist es durchaus möglich, von einem Zweig zum anderen überzuwechseln – aber je weiter man sich schon vom Stamm entfernt hat, desto mühsamer und teurer (im Sinne der Entwertung früherer Anstrengungen) wird diese Übung. Diese Metapher enthält nicht nur die ökonomische Begründung für Pfadabhängigkeiten, sondern auch die Relativierung und Dynamisierung des Konzepts: Pfadwechsel sind möglich, verursachen aber ökonomische, soziale und politische Kosten, die im Falle von „Hartz IV“ nur zu offensichtlich sind.12 Ein weiterer Aspekt ist für die Analyse hervorzuheben: Pfadwechsel führen nicht in beliebige Richtungen, sondern sie münden in andere bereits vorgezeichnete Pfade, die ihre eigene Entwicklungslogik aufweisen. Neben der institutionellen Pfadabhängigkeit verweist die jüngere Forschung über „Wohlfahrtskulturen“ (Pfau-Effinger 2005; van Oorschot et al. 2008) auf eine weichere Form der Pfadabhängigkeit, die sich daraus ergibt, dass nicht nur die jeweilige nationale Ausprägung des Wohlfahrtsstaates, sondern auch einzelne Zweige sozialer Sicherung innerhalb eines nationalen wohlfahrtsstaatlichen Gefüges durch Ideen und Diskurse von Gerechtigkeit, Reziprozität und „Verdienthaben“ (deservingness) geprägt sind, die wiederum notwendiger Weise in Sprache und Sprachgebrauch eingeschrieben sind (Barbier 2008). Ein Pfadwechsel, der als Bruch der etablierten Wohlfahrtskultur wahrgenommen und nicht durch die erfolgreiche Etablierung eines neuen und positiv wahrnehmbaren Diskurses vorbereitet wird, führt zu den politischen Rückwirkungen, die wir in Deutschland seit „Hartz IV“ beobachten. Außerdem erfordert ein solcher Pfadwechsel die Entwicklung neuer sprachlicher Formen, in denen das Neue verhandelt werden kann. Die Einführung des SGB II hat zur Entwicklung einer Fülle von neuen Begriffen geführt, deren Gebrauch sich bei einem Regime, das so viele erfasst13 und die Gesellschaft so nachhaltig prägt und bewegt, nicht auf die Gesetzessprache und den Verwaltungsvollzug beschränken kann. Nach wie vor aber fehlt ein entsprechender Oberbegriff, weshalb diese Lücke durch das inzwischen zum Schimpfwort gewordene, einstige gesetzgebungstechnische Kürzel „Hartz IV“ ausgefüllt wird (Knuth 2006) – zum Missvergnügen der Politiker, die keine bessere Sprachschöpfung hervorgebracht haben.

3.2 Regimes sozialer Sicherung Die einflußreichsten Paradigmen in der Geschichte zumindest der Sozialwissenschaften sind wohl jene, die zum Zeitpunkt ihres Erscheinens eine Bedarfslücke füllen und zugleich so unvollständig und unvollkommen ausgeführt sind, dass sie zur kritischen Weiterentwicklung herausfordern. Diese Feststellung trifft mit Sicherheit auf Esping-Andersens „Wohlfahrtsregimes“ (Esping-Andersen 1990) zu. Neben der Abarbeitung am theoretischen Kern der „Dekommodifizierung“ (Room 2000) und der Kritik an der Geschlechterblindheit des 12

Zusammen mit den fiskalischen Mehrausgaben können die politischen Rückwirkungen - das mögliche Ende der SPD als Volkspartei - als Kosten des Pfadwechsels aufgefasst werden. 13 In nur drei Jahren haben 22,1% der nach Alter und Erwerbsfähigkeit mindestes eines Mitglieds potenziell betroffenen Bedarfsgemeinschaften Bekanntschaft mit der Grundsicherung gemacht. (Graf, Rudolph 2009)

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ursprünglichen Konzepts (Lewis 1992) gab es Erweiterungen der Typologie „nach außen“ zur besseren Einordnung der südeuropäischen Länder (Ferrera 1996). Ebenso aber ist eine Erweiterung „nach innen“ erforderlich: Nationale Wohlfahrtsregimes sind keineswegs funktional optimierte und hinsichtlich ihrer tragenden Ideen konsistente Gebilde, sondern sie sind stets labile und vorübergehende Arrangements von Interessen, Institutionen und Ideen, wobei sich unterschiedliche historische Schichten von Arrangements überlagern können (Pfau-Effinger 2005, S. 7). Nationale Wohlfahrtsregimes sind „hybrid“ in dem Sinne, dass Teilbereiche nach jeweils unterschiedlichen institutionellen und ideologischen Logiken konstruiert sein können, die, wenn man sie für sich allein klassifizieren wollte, sogar unterschiedlichen Regime-Typen im Sinne von Esping-Andersen zugeordnet werden müssten (Barbier 2004). In diesem Sinne unterscheide ich Regimes sozialer Sicherung, die zusammen ein je nationalstaatlich spezifisches, mehr oder weniger konsistentes oder spannungsreiches wohlfahrtsstaatliches Arrangement bilden. „Regime-Qualität“ erlangt ein Teilbereich sozialer Sicherung, wenn folgende Merkmale gegeben sind: (1) Es gibt eine konstitutive und distinkte Problemdefinition und Anspruchsgrundlage („Arbeitslosigkeit“, „Bedürftigkeit“, „Behinderung“; „Arbeitsunfall“ etc.). Sofern ein Regime nicht nur der materiellen Versorgung, sondern auch der Prävention und Problemüberwindung dient, ergibt sich aus der Problemdefinition explizit oder implizit auch die Zielsetzung und Handlungslogik aktiver Interventionen. (2) Es gibt eine Bevölkerungsgruppe von relevanter Größe und relativ stabiler Zusammensetzung, für deren Lebenslage – oder einen bestimmten Aspekt davon, z. B. Krankenversicherung – die Leistung wesentlich ist. Deshalb sind Änderungen, die große Teile der bisherigen Leistungsbezieher von der Leistung ausschließen oder im Umstellungsprozess die Kontinuität des Leistungsbezuges gefährden würden, mit hohen sozialen und politischen Risiken belastet. (3) Es gibt ein eigenständiges System der Finanzierung, das nicht ohne Rückwirkung auf die fiskalische Lastenverteilung zwischen verschiedenen öffentlichen Händen, auf die Arbeitskosten oder die Brutto-Netto-Relation der Arbeitseinkommen geändert werden kann. Deshalb sind Änderungen kaum ohne kompensatorische Folge-Änderungen in anderen Bereichen durchzusetzen und folglich mit hohen politischen Kosten verbunden. (4) Ein Regime verfügt über eine eigenständige interne wie externe Governance im Sinne von definierter Gewährleistungsverantwortung für die Erbringung von Leistungen, Mechanismen der Steuerung dieser Leistungen, interner organisatorischer Verfasstheit einschließlich etwaiger partizipativer Elemente (siehe Ziff. 8 unten) sowie schließlich eine gesicherte Einbettung in die gesamtgesellschaftliche Governance. (5) Es entwickelt sich eine eigenständige Fachbürokratie mit eigenen professionellen Standards, Karrieremustern und Interessen an Beschäftigungssicherheit, Kontinuität professioneller Handlungsroutinen und Aufstiegschancen. (6) Zwischen Sozialbürokratie und LeistungsempfängerInnen entwickelt sich eine Beziehung von relativer Dauerhaftigkeit, die durch ein eigenständiges System von Rechten und Pflichten geregelt wird – die wiederum Einfluss auf das Verhalten der LeistungsempfängerInnen haben (sollen). Die gewählte Bezeichnung „Regime“ soll nicht zuletzt diesen Zwangs- oder Verpflichtungscharakter ausdrücken.

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(7) Aus dem Diskurs über Rechte und Pflichten in einem solchen Regime entsteht eine spezifische Rechtfertigungs- und Gerechtigkeitslogik, d. h. eigenständige Argumentations- und Denkfiguren von Gerechtigkeit, Angemessenheit, Zumutbarkeit und dem „Verdient-Haben“ einer Leistung. Wer Änderungen des Regimes durchsetzen will, muss diese Diskurse verändern. (8) Nicht notwendiger, aber typischer Weise besitzt ein solches Regime eine eigenständige Form der Einbeziehung externer Repräsentanten gesellschaftlicher Interessen in seine Steuerung und Legitimation. Korporatistische Partizipation an der governance eines Regimes sozialer Sicherung zieht ihre gesellschaftliche Legitimation und Stabilität üblicher Weise aus der Art und Weise der Finanzierung, d. h. die partizipierenden Organisationen repräsentieren diejenigen, die das Regime in relevanten Teilen finanzieren. Sowohl diese Repräsentanten als Individuen als auch die Organisationen, die sie repräsentieren, entwickeln im Maße ihrer Einflusschancen und ihres Prestigegewinns ein Interesse am Erhalt des Regimes und damit ihrer Position.14 (9) Soweit ein Regime wesentlich nicht nur Geldleistungen, sondern auch Sach- und Dienstleistungen administriert, die die Fachbürokratie nicht vollständig selbst erbringt, entwickelt sich eine „Industrie“ von spezialisierten, privaten oder gemeinnützigen Dienstleistern, die Interesse an der Erhaltung und Ausweitung ihres jeweiligen Tätigkeits- und Geschäftsfeldes haben, also einerseits an der Erhaltung des institutionellen Status quo, andererseits an der Ausweitung des Dienstleistungsmarktes, in dem sie tätig sind.

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„Hartz IV“ als Pfadwechsel

Nach den im vorstehenden Abschnitt entwickelten Kriterien ist offensichtlich, dass die Arbeitslosenhilfe - ungeachtet ihrer Finanzierung aus Steuermitteln – Bestandteil des Regimes der Arbeitslosenversicherung war:15 Problemdefinition, Bürokratie, Rechte und Pflichten, Steuerung und Dienstleister waren identisch, und der Unterschied zwischen LeistungsempfängerInnen von Arbeitslosengeld und -hilfe war gradueller Art. Aus der Sicht der Versicherten handelte es sich beim Gesamtsystem beider Leistungen um eine degressive Lohnersatzleistung bei Arbeitslosigkeit mit der Besonderheit, dass die Degression nach Erschöpfung der maximalen Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes in Form der niedrigeren Lohnersatzrate der Arbeitslosenhilfe sprunghaft einsetzte und sich dann langsamer mit jährlich 3% real fortsetzte. Bedürftigkeit war nur die letzte von fünf kumulativ erforderlichen Anspruchsvoraussetzungen (vgl. § 190 Abs. 1 SGB III a. F.). Im Bewusstsein der Anspruchsberechtigten war nicht die Bedürftigkeit der wesentliche Anspruchsgrund, sondern die vorherige Beitragsleistung bzw. – solange es noch eine „originäre“ Arbeitslosenhilfe gab – der Eintritt in den Arbeitsmarkt. Die Bedürftigkeit – oder genauer: der eventuelle Mangel an Bedürftigkeit – hatte insofern in der Arbeitslosenhilfe anspruchsbegrenzende, nicht anspruchsbegründende Funktion wie in der Sozialhilfe (und heute in der Grundsiche14 Im Extremfall der freiwilligen skandinavischen Arbeitslosenversicherungen nach dem „Genter System“ (vgl. Clasen, Viebrock 2006) bildet das Regime sozialer Sicherung einen wesentlichen Kanal der Mitgliederrekrutierung und damit einen Stützpfeiler gewerkschaftlicher Organisation. 15 Ausführlicher wurde diese Argumentation entwickelt in Knuth 2006.

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rung). Dieser für die Verankerung der Arbeitslosenhilfe in der Wohlfahrtskultur wesentliche Unterschied wurde im Reformdiskurs ausgeblendet, indem das Nebeneinander von zwei steuerfinanzierten Leistungen mit Bedürftigkeitsprüfung als unsinnige Verdoppelung hingestellt wurde (vgl. Berthold et al. 2000). Ungeachtet der Steuerfinanzierung der Arbeitslosenhilfe wurde weder die Zuständigkeit des Bundes16 noch die Zuständigkeit von Arbeitgebern und Gewerkschaften im Rahmen der korporatistischen Selbstverwaltung auch für die Administrierung der Arbeitslosenhilfe und die arbeitsmarktpolitische Förderung der BezieherInnen dieser Leistung in Frage gestellt, zumal die aktive Förderung dieses Personenkreises aus Beitragsmitteln finanziert wurde – soweit nicht die Selbstverwaltung durch Anordnungen den Zugang von Arbeitslosenhilfe Beziehenden in kostenintensive Maßnahmen wie z. B. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen mit dem Argument der „versicherungsfremden Leistungen“ kontingentierte. Die Arbeitslosenhilfe war insofern integraler Bestandteil des in Deutschland traditionell auf gesamtstaatlicher Ebene zusammengefassten Regimes von Arbeitslosenversicherung und Arbeitsförderung. Die Arbeitslosenhilfe wurde von den Versicherten nach den gleichen Grundprinzipien Bismarck’scher Sozialversicherung betrachtet wie die eigentliche Versicherung: als einen durch Beiträge erworbenen Anspruch, der in einer Äquivalenzbeziehung zu der in den Beiträgen ausgedrückten Lebensleistung stand.17 Insofern war dieses Regime den Systemen anderer Länder nicht unähnlich, in denen durch Beitragszahlungen ein Anspruch auf eine Lohnersatzleistung erworben wird, die zu einem erheblichen Teil aus Steuermitteln bezuschusst wird.18 Die deutsche Besonderheit bestand lediglich darin, dass die Scheidelinie zwischen Beitrags- und Steuerfinanzierung vertikal statt horizontal verlief, d. h. der steuerfinanzierte Teil wurde nach dem beitragsfinanzierten Teil bezogen, anstatt dass die beitragsfinanzierten Leistungen von vornherein aus Steuermitteln komplementiert worden wären. Von diesem Regime der Arbeitslosenversicherung war das der Sozialhilfe in allen Dimensionen klar getrennt. Die einzigen Überlappungen bestanden in zuletzt 210.00019 Personen (Kaltenborn, Schiwarov 2006), die Leistungen aus beiden Systemen bezogen, sowie darin, dass manche Dienstleister – insbesondere Beschäftigungsträger – in beiden Regimes tätig waren. Der Bund war nur für die Rahmengesetzgebung zuständig, während die Regelsätze auf Länderebene festgesetzt wurden und die letztlich für die Finanzierung verantwortlichen Kommunen große Spielräume bei der Umsetzung besaßen. Der wesentliche Anspruchsgrund war die Bedürftigkeit im Rahmen der Haushaltsgemeinschaft, mit gewissen über sie hinausgreifenden intergenerationellen Rückgriffsmöglichkeiten. Nicht zuletzt infolge der schrittweisen Abschaffung der originären Arbeitslosenhilfe zwischen 1976 und 1999 wuchs die Anzahl der in erster Linie wegen fehlenden Zugangs zum Arbeitsmarkt bedürftigen SozialhilfebezieherInnen so stark an, dass es zur Herausbildung einer eigens16

Vgl. Fußnote 9. Diese Denkfigur dominierte die „Nachwehen“ der Leistungsreform, insbesondere die Debatten um die WiederHeraufsetzung der maximalen Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für langjährig beitragszahlende Ältere. 18 Für das in Skandinavien verbreitete “Genter System“ vgl. Clasen, Viebrock 2006, Leonardi 2006; zur zunehmenden Fiskalisierung der Sozialversicherungen in Frankreich vgl. Barbier, Théret 2004. 19 Diese Zahl muss immer wieder hervorgehoben werden gegenüber dem seinerzeitigen Diskurs, der die Unzulänglichkeiten deutscher Arbeitsmarktpolitik vorrangig auf die Reibungen an der Schnittstelle zwischen Arbeitslosen- und Sozialhilfe erklären wollte, um damit die Abschaffung der ersteren zu begründen - siehe auch den Bericht der Hartz-Kommission, in dem die Anzahl der Betroffenen nur geringfügig höher geschätzt wurde (Hartz 2002). Um diesen angenommenen 240.000 unmittelbar von Schnittstellenproblemen Betroffenen eine Leistung „aus einer Hand“ bieten zu können, wurde eine neue Leistung für 6-7 Mio. Personen geschaffen. 17

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tändigen Fachbürokratie nicht nur für die Gewährung der Geldleistung, sondern auch für die Überwindung der Hilfedürftigkeit durch „Hilfe zur Arbeit“ kam. Vor dem Hintergrund dieser Regime-Explikationen erweist sich die vierte Stufe der Hartz-Reformen nicht einfach nur als eine leistungstechnische „Zusammenlegung“ zweier steuerfinanzierter Sozialleistungen, sondern sie beinhaltete die „Hybridisierung“ von zwei Regimes sozialer Sicherung mit jeweils eigenen Traditionen und Entwicklungslogiken. Deshalb musste das Ansinnen der rot-grünen Bundesregierung in ihrem ersten Gesetzentwurf, dieses zu schaffende hybride Regime ausschließlich durch die Bundesagentur für Arbeit und unter Fach- und Rechtsaufsicht des Bundes administrieren zu lassen, nicht nur aufgrund der seinerzeitigen parteipolitischen Konstellation und ungeachtet der versprochenen finanziellen Entlastungen für die Kommunen den Widerstand eines Teils der Kommunen und Länder hervorrufen. Es ging und geht hier nicht einfach nur um einen Meinungsstreit darüber, ob die Bundesagentur oder die Kommunen die besseren „Dienstleister am Arbeitsmarkt“ sind. Deshalb ändert auch die Evidenz der wissenschaftlichen Evaluation nichts an der Debattenlage, die in ähnlicher Form bereits die Einführung der Arbeitslosenversicherung im Jahre 1927 begleitete (vgl. Engeli 1983). Das Verfassungsdilemma, in dem das angeblich zentrale Element der Reform – „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt aus einer Hand“ – zu scheitern droht, wurde dadurch heraufbeschworen, dass die Architekten der „Agenda 2010“ die Reform der Leistungen für nicht versicherte Erwerbslose als „Zusammenlegung“ von Arbeitslosen- und Sozialhilfe gerahmt und substanzielle Anleihen am kommunal geprägten Regime der Sozialfürsorge genommen haben. Ein kleines Gedankenexperiment möge helfen, die angebliche Alternativlosigkeit der „Zusammenlegung“ zu durchbrechen: Mit ähnlichem materiellem Ergebnis hätte man auch die Arbeitslosenhilfe stärker degressiv ausgestalten, aber mit einem „armutsfesten“ Sockel leicht oberhalb der Sozialhilfe ausstatten können.20 Unter der Bedingung des Abschlusses einer Eingliederungsvereinbarung hätten für den Arbeitsmarkt verfügbare Bezieher von Sozialhilfe in die Arbeitslosenhilfe auf Sockelniveau überwechseln können, evtl. unter Zahlung einer „Einsteuerungsprämie“ des Sozialhilfeträgers an die BA. Auch auf diese Weise hätte man die Kommunen entlasten und das Doppelbezieher-Problem lösen können. Die Zuständigkeit des Bundes für die so reformierte Arbeitslosenhilfe wäre wohl von niemandem in Frage gestellt worden und es hätte weder politischen noch verfassungsrechtlichen Streit über die Trägerschaft gegeben. Allerdings wären bei dieser Reform innerhalb des Regimes der Arbeitslosenversicherung auch die Zuständigkeit der Selbstverwaltung und die Regeln der Zumutbarkeit von Arbeitsangeboten vermutlich unverändert geblieben. Man hätte offen über die Leistungskürzung debattieren müssen, anstatt sie unter der Formel von der „Zusammenlegung“ bis zur „Agenda“-Fernsehansprache von Bundeskanzler Schröder im März 2003 zu verschleiern. Das neue hybride Regime der Grundsicherung entspricht in seiner anspruchs- und leistungsrechtlichen Grundlogik der Sozialhilfe; die überwiegend als Fortschritte gegenüber der Sozialhilfe zu charakterisierenden Veränderungen (Bedarfsgemeinschaft statt Haushaltsgemeinschaft, Einschränkung der intergenerationellen Unterhaltspflichten, Pauschalierung von Leistungen, höhere Freibeträge bei Einkommen und Vermögen, gleitende Anrechnung von Erwerbseinkommen) sind gradueller Natur. Auch die Verpflichtung zur be-

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Vorschläge zur „armutsfesten“ Ausgestaltung der Arbeitslosenhilfe lagen vor – vgl. Adamy 1995; Hauser 1995.

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dürftigkeitsmindernden Verwertung21 der eigenen (Rest-) Arbeitskraft entstammt der Sozialhilfe22: Grenzen der Zumutbarkeit von Arbeit liegen allein in der Person oder der Bedarfsgemeinschaft des Hilfebedürftigen, allenfalls noch in der rechtsstaatlichen Ordnung im Allgemeinen (Unzumutbarkeit von rechts- oder sittenwidriger Arbeit), aber nicht in der Ordnung des Arbeitsmarktes (Zumutbarkeit der Unterschreitung von Tarifstandards oder ortsüblichen Marktlöhnen). Die Auswirkungen dieser fast schrankenlosen Zumutbarkeit in der Grundsicherung auf die Arbeitsmarktordung werden im Vergleich zur Sozialhilfe erheblich dadurch gesteigert, dass – im Gegensatz zur Sozialhilfe – der unzureichende Zugang oder die unzureichende Bereitschaft zu Erwerbstätigkeit als vorrangige Ursache der Hilfebedürftigkeit gesehen wird (vgl. § 1 Abs. 1 SGB II).23 In der Grundsicherung für „Arbeitsuchende“ wurde das Regime der Sozialhilfe - durch Einschränkung auf Bedarfsgemeinschaften mit Personen, die als erwerbsfähig definiert sind – in einen arbeitsmarktpolitischen Kontext gestellt. Dadurch wurden die schlummernden, d. h. von den Kommunen nicht konsequent exekutierten „Workfare“-Elemente der Sozialhilfe „aktiviert“ (vgl. den Beitrag von Katrin Mohr in diesem Band): Dieses ist gemeint, wenn die „Zusammenlegung“ der Leistungssysteme und der ihnen zugrunde liegenden Regimes hier als „Hybridisierung“ bezeichnet wird.

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Die Grundsicherung als eigenständiges Regime sozialer Sicherung

Inzwischen hat sich die „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ als ein – nach den oben in Abschnitt 3.2 entwickelten Kriterien – weitgehend eigenständiges Regime sozialer Sicherung etabliert: (1) Die Bevölkerungsgruppe, für deren Lebenslage die Grundsicherung wesentlich ist, ist weitaus größer als in den Vorläufersystemen, und sie ist trotz aller Aktivierungsbemühungen ziemlich stabil. (2) Es gibt ein eigenständiges System der Finanzierung aus Haushaltsmitteln des Bundes und der Kommunen und damit indirekt der Länder, dessen Änderung Folgewirkungen für die gesamte fiskalische Architektur der Bundesrepublik haben würde und deshalb von den politischen Akteuren möglichst vermieden wird. (3) Entgegen ursprünglich skeptischen Erwartungen hat sich gerade aus den Schwierigkeiten des Neuanfangs im Jahre 2005 (vgl. Czommer et al. 2005) eine eigenständige „SGB-II-Bürokratie“ entwickelt. Selbst in den meisten zugelassenen kommunalen Trägern unterscheidet sich diese organisatorisch wie mental vom alten Sozialamt (Knuth et al. 2007); selbst in den 23 regionalen Einheiten mit „getrennter Aufgaben21 Vorrangiges Ziel der Grundsicherung ist nicht die Überwindung von Arbeitslosigkeit, sondern die Verringerung oder Überwindung von Hilfebedürftigkeit. An die Stelle des dichotomen Zielkonzepts der Arbeitsförderung tritt ein graduelles, weshalb auch die Zielgruppe nicht zutreffend als „Arbeitslose“ angesprochen werden kann. Auch die Bezeichnung des Gesetzes „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ bezeichnet lediglich einen Anspruch, aber nicht die Realität, in der ein großer Teil der BezieherInnen von ALG II von der Arbeitsuche entbunden ist. 22 Zur Rücknahme und späteren erneuten Verschärfung der „Workfare“-Elemente in der Sozialhilfe vgl. den Beitrag von Kaps in diesem Band (m. w. N.). 23 Vgl. die wesentlich offenere Formulierung in § 1 BSHG, in dem „eine der Würde des Menschen entsprechende Lebensführung“ als Oberziel genannt wird – während sich das Oberziel des SGB II als „Unabhängigkeit vom Leistungsbezug durch Erwerbstätigkeit“ zusammenfassen lässt.

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Matthias Knuth wahrnehmung“ haben die jeweils zuständigen Arbeitsagenturen eigenständige Einheiten für die Grundsicherung geschaffen (Kirsch et al. 2009). Das mehrheitlich praktizierte Modell der Arbeitsgemeinschaften entdeckte seine eigene Identität spätestens, seit sein Bestand durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts gefährdet erscheint: Über Nacht sind die Klagen über die ARGE als eine „unmögliche Organisationsform“ verstummt; die Auflösung der ARGEn erscheint den dort Beschäftigten nicht attraktiv. Es gibt in Deutschland bisher kein anderes System sozialer Sicherung, in dem der Zwangs- und Verpflichtungscharakter, der mit dem Regimebegriff ausgedrückt werden soll, so deutlich hervortritt. Dieses ergibt sich nicht nur aus der Philosophie des Gesetzes, sondern ist nach den Ergebnissen der Evaluation bezüglich Aktivierung, Eingliederungsvereinbarungen und Sanktionen auch eine empirische Realität (vgl. ZEW et al. 2008). Der öffentliche Diskurs über das Regime der Grundsicherung ist noch ein widersprüchliches Konglomerat von Ideologemen teils aus der Tradition von Arbeitslosenversicherung und Arbeitsförderung, teils der Sozialhilfe. Die Fachkräfte vor Ort dagegen haben durchaus eine eigene, regime-typische und in sich konsistente Sichtweise ihres Tuns entwickelt. Obwohl nicht verpflichtend, wurden in der Mehrzahl der regionalen Einheiten Beiräte gebildet, in denen die Sozialpartner beteiligt sind (Bundesregierung 2008, S. 52). Offensichtlich besteht also doch ein Bedarf an korporatistischer Legitimationshilfe, auch wenn man den Beiräten keine Entscheidungsrechte einräumen will.24 Insbesondere durch die sprunghafte Ausweitung der Arbeitsgelegenheiten hat sich eine auf SGB II-Maßnahmen spezialisierte Dienstleistungsindustrie entwickelt.

Allein die Governance bleibt teilweise ungeklärt: Die Gewährleistungsverantwortung ist zwischen BA und Kommunen aufgeteilt; es gibt keine auf Dauer verfassungskonforme und politisch konsensfähige Form, wie diese originären Zuständigkeiten zu einem einheitlichen Gesamtprozess zusammengefügt werden könnten. Diese Zusammenfügung der originären Zuständigkeiten ist aber nicht nur politisches Versprechen, sondern auch sachliche Notwendigkeit, da die Trennlinie der originären Zuständigkeiten „quer“ zu den Teilprozessen von Geldleistung einerseits und Dienstleistung andererseits verläuft. Die Gewährung der Kosten für Unterkunft und Heizung durch die Kommunen setzt die gleiche Bedürftigkeitsprüfung voraus wie die eigentliche Unterhaltsleistung, und insbesondere bei der Anrechnung von Einkommen in monatlich wechselnder Höhe sind beide Leistungsprozesse wie kommunzierende Röhren miteinander verbunden. Die Aktivierung durch „Fördern“ ist auf flankierende soziale Leistungen angewiesen, für die die Kommunen die Gewährleistungsverantwortung haben. Die Auflösung dieser Gemengelage durch erneute Verschiebung der originären Zuständigkeiten ist in beiden Extremen verfassungsrechtlich blockiert: Weder können die Kommunen durch Bundesgesetz verpflichtet werden, die Verantwortung für die Grundsicherung allein zu übernehmen, noch kann der Bund diese Zuständigkeit an sich ziehen bzw. der BA allein zuweisen, ohne erneute Verfassungsklagen erwarten zu müssen. 24

Der Entwurf des BMAS zur Stabilisierung der ARGEn als „Zentren für Arbeit und Grundsicherung“ sieht obligatorische Beiräte vor – vgl. BMAS 13.02.2009.

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Also gibt es keine Alternative zur Fortsetzung der Kooperation zwischen BA und Kommunen; diese ist aber ohne Änderung des Grundgesetzes über 2010 hinaus nicht zulässig.

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Ausblick: Stärkung des kommunalen Elements

Da die Grundsicherung für Erwerbsarme inzwischen als eigenständiges Regime sozialer Sicherung etabliert ist, erscheint es nicht sehr wahrscheinlich, dass das verfassungsrechtliche Dilemma seiner Verortung in der Governance der Bundesrepublik dadurch gelöst wird, dass man dieses Regime flächendeckend in seine bundesstaatlichen und kommunalen Bestandteile zerfallen lässt. Auch wenn es unmöglich ist, Prognosen zu treffen über eine künftige Lösung des Governance-Dilemmas, so ist doch zumindest eine sehr wahrscheinliche Tendenz hervorzuheben: Die Stärkung des kommunalen Elements. Mindestens wird die Fortdauer der kommunalen Optionsmodelle gesichert werden, was bei allen durch die Bundesevaluation festgestellten Performanz-Schwächen ihre relative Stärkung bedeutet, wenn alle ARGEn in getrennte Aufgabenwahrnehmung zerfallen würden. In diesem Fall würden auch mehr Kommunen als bisher die damit verbundenen Unannehmlichkeiten von ihren Bürgern abwenden sowie das Entstehen von nicht mehr durch den Bund finanzierten Personalüberhängen25 vermeiden wollen, indem sie Alleinverantwortung für die Grundsicherung übernehmen. Diesem Wunsch wird sich der Gesetzgeber nicht verschließen können, da die Ausweitung der Option einzelgesetzlich möglich ist und keine Änderung des Grundgesetzes verlangt. Falls es dagegen doch noch zu einer Verfassungsänderung kommen sollte, die die Arbeitsgemeinschaften zwischen Agenturen für Arbeit und Kommunen absichert, so wird der politische Preis auch in diesem Fall in einer Ausweitung der Optionsmöglichkeiten bestehen. Die Ausweitung des kommunalen Elements würde zwar den Ergebnissen der „Experimentierklausel“-Evaluation widersprechen und Erwartungen auf eine „evidenzbasierte“ Politik ins Reich naiver Träume verweisen, aber die theoretischen Überlegungen zur Pfadabhängigkeit beim Umbau von Regimen sozialer Sicherung bestätigen: Da der Rückbau des Regimes der Arbeitslosenversicherung als „Zusammenlegung“ der Arbeitslosen- mit der Sozialhilfe betrieben wurde, wächst die Bedeutung der Kommunen, die traditionell für die Sozialhilfe zuständig sind.

Literatur Adamy, W. (1995): Arbeitslosigkeit und Sozialhilfe - Ausgrenzung stoppen. In: Soziale Sicherheit, H. 6, S. 201–209. Barbier, J.-C. (2004): Systems of social protection in Europe: Two contrasted paths to activation, and maybe a third. In: Lind, Jens; Knudsen, Herman; Jørgensen, Henning (Hg.): Labour and employment regulation in Europe. Bruxelles: PIE Lang (Work & society, 45), S. 233–254. Barbier, J.-C. (2008): The puzzling resilience of nations in the context of Europeanized welfare states. Communication to the RC19 Meeting “The future of social citizenship: politics, institutions and outcomes”, Stockholm, September 2008. Barbier, J.-C.; Théret, B. (2004): Le nouveau système français de protection sociale. Paris: La Découverte. 25

Zur Personalsituation der Kommunen vgl. den Beitrag von Kaps in diesem Band.

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Grundsicherung „für Arbeitsuchende“

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II. Das Instrumentarium der Arbeitsmarktpolitik zwischen Universalismus und Zielgruppenorientierung

Vom AFG 1969 zur Instrumentenreform 2009

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Vom AFG 1969 zur Instrumentenreform 2009: Der Wandel des arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums Vom AFG 1969 zur Instrumentenreform 2009

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Einleitung

Im Arbeitsförderungsgesetz (AFG) war von Beginn an ein breites Spektrum arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen angelegt. Die verfolgten Ziele waren vielfältig und zeugten von den hohen Erwartungen, die in das AFG gesetzt wurden. Die Maßnahmen waren darauf auszurichten, dass ein hoher Beschäftigungsstand erzielt und aufrechterhalten, die Beschäftigungsstruktur und Qualifikation insbesondere auch der Erwerbstätigen ständig verbessert und damit das Wachstum der Wirtschaft gefördert wird. Außerdem sollte die Eingliederung dreier Zielgruppen (Frauen, Behinderte, Ältere) speziell gefördert werden. Die Bundesanstalt für Arbeit (BA) als Träger der Maßnahmen wurde in die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Bundesregierung eingebunden. Zur Realisierung seiner Zielsetzungen sah das AFG ein Ensemble von Maßnahmen vor, die auch heute noch überwiegend zum arbeitsmarktpolitischen Instrumentarium gehören, aber schrittweise erheblich verändert und durch eine Vielzahl zusätzlicher Maßnahmen ergänzt wurden. Etappenweise hat sich die Zielrichtung der Arbeitsförderung erheblich verändert. Mit dem Übergang in das SGB III 1998 war zwischenzeitlich der ausführliche Zielkanon komplett eliminiert worden, da „ein solcher Katalog nicht erfüllbare Erwartungen und Forderungen an die Arbeitsförderung auslöst“ (BT-Drs. 13/4941: 142). Die „Kernnorm“ des Arbeitsförderungsrechts war zurechtgestutzt auf das Ziel Unterstützung des Ausgleichs am Arbeitsmarkt durch zügige Stellenbesetzung. Mit dem Job-AQTIV-Gesetz 2001 kehrte erneut ein ausdifferenzierter Zielkanon ein, der nun auch wieder Ziele aktiver Arbeitsförderung enthielt, insbesondere die ständige Verbesserung der Beschäftigungsstruktur und die Förderung der individuellen Beschäftigungsfähigkeit durch Erhalt und Ausbau von Kenntnissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten, ohne dass dies allerdings praxisrelevant wurde. Im Folgenden soll zunächst der vierzigjährige Wandel des arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums von 1969 bis zur 2009 in Kraft getretenen Instrumentenreform beschrieben werden (Abschnitt 2).1 Anschließend wird dargestellt, zu welchem Wandel es beim Einsatz der arbeitsmarktpolitischen Instrumente gekommen ist (Abschnitt 3). Abschließend werden der Wandel bilanziert und Anforderungen an zukunftsfähige arbeitsmarktpolitische Instrumente formuliert (Abschnitt 4).

1 Zielgruppenspezifische Maßnahmen (berufliche Rehabilitation, Förderung der Berufsausbildung, Vorruhestandsund Altersteilzeitregelungen) werden aufgrund der gebotenen Kürze nicht berücksichtigt.

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Frank Oschmiansky/Mareike Ebach Das arbeitsmarktpolitische Instrumentarium gestern und heute

Betrachten wir die ersten Ansätze aktiver Arbeitsmarktpolitik vor Inkrafttreten des AFG, so zeigt sich zum einen, dass sie sehr defensiv angewandt wurden2 und zum anderen, dass insbesondere Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften ihnen sehr kritisch gegenüberstanden, vor allem einer Finanzierung solcher Maßnahmen aus Sozialversicherungsbeiträgen (vgl. Schmid/Oschmiansky 2006 und 2007). Rein „passiv“ war die Arbeitsmarktpolitik aber auch vor 1969 nicht. Mit dem Kurzarbeitergeld, den beruflichen Bildungsmaßnahmen, Lohnkostenzuschüssen (unter dem Namen Eingliederungsbeihilfen), Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (unter dem Namen „Wertschaffende Arbeitslosenhilfe“ bzw. „Notstandsarbeiten“) und der Förderung der ganzjährigen Beschäftigung in der Bauwirtschaft (durch Schlechtwettergeld und Beihilfen zu Winterbaumehrkosten) waren diverse „aktive“ Arbeitsförderinstrumente vorhanden. Selbst eine Überbrückungsbeihilfe zur Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit sah das „Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung“ (AVAVG) bereits vor (§ 135), auch wenn sie nur in Ausnahmefällen gewährt werden sollte. Eine größere Bedeutung erlangte allerdings nur die Winterbauförderung, während beispielsweise berufliche Bildungsmaßnahmen lediglich in Ansätzen verwirklicht wurden. Das AFG: Innovation und Kontinuität Der im AVAVG bereits angelegte Instrumentenkasten wurde ins AFG praktisch unverändert übernommen.3 Betrachten wir nur separat die Arbeitsförderinstrumente, so würde man aus heutiger Sicht in der Rückschau allenfalls von einem „Reförmchen“ sprechen. Allerdings hatte sich die Zielstellung der Arbeitsförderung deutlich verändert. Den aktiven Arbeitsmarktinstrumenten kam nunmehr im Rahmen der Globalsteuerung die Rolle der flankierenden Feinsteuerung zu, insbesondere die Zuführung qualifizierter Arbeitskräfte bei der Wachstumsförderung und beim regionalpolitischen Ausgleich. Der entscheidende Unterschied gegenüber dem AVAVG war zudem, dass auf die vormals als Kann-Leistungen definierten Bildungshilfen nunmehr unter bestimmten Voraussetzungen ein Rechtsanspruch bestand. Dieser beinhaltete vor allem die Sicherung des Lebensunterhaltes der ArbeitnehmerInnen während der Bildungsmaßnahme.4 Durch die Maßnahmen der beruflichen Ausund Fortbildung, dem „Herzstück“ der reformierten Arbeitsförderung, sollte Arbeitslosigkeit präventiv vermieden werden. Daher ging nach § 5 AFG neben der Vermittlung von Arbeit auch die Förderung der beruflichen Bildung der Zahlung von Arbeitslosengeld und -hilfe vor, die nur als letztes Mittel der Sicherung der Existenz bei Arbeitslosigkeit greifen sollte. Die Reform der Förderbedingungen bei beruflichen Bildungsmaßnahmen führte zu einem gewaltigen Anstieg der Teilnehmerzahlen (vgl. hierzu auch die Tabellen im Anhang) 2 In der Regel wurden in den sechziger Jahren weniger als 0,2 % des BSP für aktive Arbeitsfördermaßnahmen ausgegeben. Der größte Anteil (bis zu 84 % im Jahr 1963) entfiel auf saisonale Maßnahmen für die Bauwirtschaft (vgl. Schmid/Oschmiansky 2007). 3 Gleichwohl kam es im Detail zu erheblichen Verbesserungen bei den Fördervoraussetzungen und -konditionen (vgl. Schmid/Oschmiansky 2006). 4 Die Unterhaltsregelung sah eine Unterstützung in Höhe von 120 % des in Frage kommenden Arbeitslosengeldes zuzüglich Familienzuschlag vor. Durch das Erste AFG-Änderungsgesetz vom 22. Dezember 1969 wurde es auf 130 % im ersten Halbjahr und anschließend 140 % des Arbeitslosengeldes erhöht.

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und damit verbunden zu einer grundlegenden Verschiebung der Ausgabenstruktur der BA. Fortbildung und Umschulung wurden zu Beginn der siebziger Jahre vom finanziellen Aufwand her das gewichtigste Tätigkeitsgebiet der BA. Im Jahr 1971 übertrafen die Ausgaben für berufliche Bildungsmaßnahmen die Ausgaben für das Arbeitslosengeld um fast das Doppelte. Der Anteil der Ausgaben für berufliche Bildungsmaßnahmen an allen Ausgaben für Arbeitsmarktpolitik (aktiv, passiv und Verwaltung) lag Anfang der siebziger Jahre bei über 30 %. Im Zeichen der Beschäftigungskrise: Neue Problemlage, alte Instrumente Mit dem Einsetzen der Massenarbeitslosigkeit in Folge der ersten Ölpreiskrise 1973/74 zeigte sich, dass das Instrumentarium des AFG primär auf die Vermeidung struktureller, saisonaler oder kurzfristig konjunktureller Arbeitslosigkeit abzielte. Da eine Phase anhaltender Arbeitslosigkeit damals nicht vorstellbar erschien, wurden in den folgenden Jahren die arbeitsmarktpolitischen Zielsetzungen des AFG nur schrittweise, die detaillierte inhaltliche Ausgestaltung der Instrumente dagegen durch zahlreiche Gesetzesnovellierungen, Anordnungen und Erlasse um so häufiger den „neuen Erfordernissen“ des Arbeitsmarktes angepasst. Dabei glich die Anpassung der Ausgestaltung der Instrumente einer permanenten Achterbahnfahrt nach Haushaltslage, wobei unterm Strich und über die Jahre die Fördervoraussetzungen erschwert und die Konditionen verschlechtert wurden (vgl. detailliert Steffen 2008, Schmid/Oschmiansky 2005, 2006 und 2008). Als Beispiel sei nur die Höhe des Unterhaltsgeldes bei beruflicher Weiterbildung genannt, das zeitweise erhöht wurde (so 1975 zwecks antizyklischer Steuerung auf 90 % des maßgeblichen Nettoarbeitsentgelts) und letztlich auf der Höhe des Arbeitslosengeldes gelandet ist. Folgerichtig wurde es in Arbeitslosengeld bei Weiterbildung umbenannt. Einem ähnlichen Entwicklungsmuster folgen auch ABM (vgl. dazu Wagner in diesem Band) und das Kurzarbeitergeld (vgl. ausführlicher die Chronik im Anhang). Zwischenzeitlich stark aufgewertet wurden in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre Lohnkostenzuschüsse, die vorher nur eine Randexistenz führten. In den Jahren 1977/78 wurde mehr als jede zwölfte Arbeitsvermittlung mit Lohnkostenzuschüssen subventioniert (noch 1973 war es nur jede zweihundertste). Aber auch hier wurde schnell die Reißleine gezogen, da eine Evaluation erhebliche Mitnahme- und Verdrängungseffekte diagnostizierte (vgl. Schmid/Semlinger 1980). 1981 wurde eine Nachbeschäftigungspflicht eingeführt und Anfang 1982 der Kreis, der für eine Förderung in Frage kommenden Arbeitskräfte, sowie Höhe und Dauer der Förderung drastisch eingeschränkt. Im Grunde dauerte es bis zum Jahr 1986, als mit der Förderung der Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit (Überbrückungsgeld) ein gänzlich neues Instrument aufgenommen wurde, auch wenn, wie oben beschrieben, es in Ansätzen bereits im AVAVG vorhanden war. Im Zeichen der deutschen Vereinigung: Im Osten wenig Neues Nach der deutschen Vereinigung wurde das AFG im Grundsatz auf die neuen Bundesländer übertragen. Lediglich für eine Übergangszeit galten einige Sonderregelungen, insbesondere erweiterte Regelungen zum Kurzarbeitergeld, großzügigere Vorruhestands-, ABM- sowie

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Fortbildungs- und Umschulungs-Regelungen. So kamen die aus der alten Bundesrepublik bekannten arbeitsmarktpolitischen Instrumente zügig, in großer Zahl und verbunden mit einem beispiellosen Mittelaufwand zur Anwendung. Die Nebenwirkungen waren sinkende Effizienz und ein Imageschaden gerade für Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik, da der Arbeitsmarktpolitik die Hauptlast zur Lösung der anpassungsbedingten Beschäftigungskrise in Ostdeutschland aufgebürdet worden war. Die quantitative Ausweitung beruflicher Bildungsmaßnahmen lockte zahlreiche Bildungsträger an, die ohne ausreichende Gegenleistung eine „schnelle Mark“ verdienen wollten, von den unerfahrenen Arbeitsämtern profitierten und dadurch Weiterbildungsmaßnahmen diskreditierten. Bei bis zu über einer halben Million Zugängen in ABM (1991) waren Wettbewerbsverzerrungen und Verdrängungseffekte in großem Umfang nicht zu vermeiden. Eine Zielgruppenorientierung bei insgesamt fast drei Mio. Personen (1991) in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen war gar nicht möglich. Instrumente wie „Kurzarbeit Null“ hatten im Grunde keine positive arbeitsmarktpolitische Funktion, sondern dienten der statistischen Verringerung der Arbeitslosenzahl und der sozialpolitischen Abfederung. Nachdem die Sonderregelungen für Ostdeutschland überwiegend ausgelaufen waren, kam es bei verschiedenen Instrumenten bundeseinheitlich zu starken Restriktionen. 1994 wurde das Unterhaltsgeld bei beruflicher Weiterbildung auf die Höhe des Arbeitslosengeldes abgesenkt und die individuelle Förderung auch bei den als arbeitsmarktpolitisch notwendig anerkannten Fällen in eine Ermessenleistung in Abhängigkeit von der Haushaltslage umgewandelt. Das ursprüngliche Ziel, mit der Förderung von Fortbildung und Umschulung über die Verbesserung individueller Arbeitsmarktchancen hinaus auch strukturwirksam zur Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung beizutragen, wurde mit diesen Änderungen endgültig aufgegeben. Auch die TeilnehmerInnenstrukturen in beruflichen Bildungsmaßnahmen hatten sich erheblich verändert. Während 1973 nicht einmal 6 % der neu eingetretenen TeilnehmerInnen zu den Arbeitslosen zählten, waren es 1975 schon über 31 und Mitte der neunziger Jahre etwa 95 %. Die anhaltend extrem hohe Arbeitslosigkeit insbesondere in Ostdeutschland intensivierte eine bis heute währende Diskussion über die Möglichkeit, „passive“ Leistungen in Mittel zur aktiven Beschäftigungsförderung umzuwandeln. In Folge dieser Diskussion wurde 1993 die „Produktive Arbeitsförderung Ost“ nach § 249h AFG, einem „Zwitterinstrument“ aus ABM und Lohnkostenzuschuss, eingeführt. Grundgedanke war, kostenneutral statt Arbeitslosigkeit gesellschaftlich notwendige Arbeit in den Bereichen Umwelt, soziale Dienste und Jugendhilfe zu finanzieren, die auf dem regulären Arbeitsmarkt nicht geleistet wurde. Der Lohnkostenzuschuss entsprach den durchschnittlichen monatlichen Aufwendungen für Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe einschließlich der Sozialversicherungsbeiträge und wurde für maximal drei Jahre gewährt. Das Instrument war zunächst auf Ostdeutschland begrenzt, wurde später (als § 242s AFG) aber in ähnlicher Form auf Westdeutschland ausgeweitet. Mit diesem Instrument waren zunächst große Hoffnungen verbunden und es wurde bis 1999 offensiv angewandt (mit über 270.000 Zugängen im Rekordjahr 1998). Umbenannt in Strukturanpassungsmaßnahmen (SAM) wurde es allerdings rasch zu einem Nischeninstrument (Zugänge 2003: 38.000). Die SAM gingen zu Beginn des Jahres 2004 in den damals reformierten ABM auf. Zudem wurde 1993 ein Sonderprogramm des Bundes für Langzeitarbeitslose befristet ins AFG (§ 62d AFG) übernommen. Wesentliche Besonderheit war, dass in diesem Rahmen (wie auch bei § 249h AFG) als Ergänzung der Förderung von Einzelmaßnahmen Pro-

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jektförderung ermöglicht wurde, die sich nach Evaluation des Sonderprogramms „als eindeutig sinnvoll bestätigt“ hatte (Schmid et al. 1994: 254). Einordnung in das Sozialgesetzbuch: Abgesang an alte Hoffnungen, alter Wein in neuen Schläuchen und wirkliche Innovationen Mit dem Arbeitsförderungs-Reformgesetz (AFRG) und der Einordnung des AFG in das Sozialgesetzbuch als SGB III ist die Philosophie der öffentlichen Arbeitsförderung grundlegend geändert worden. In den Vordergrund rückte der Arbeitsmarktausgleich; betont wurde die „besondere Bedeutung“ der ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen. Der aktiven Arbeitsmarktpolitik wurde ausdrücklich aufgegeben, „die Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen nicht zu gefährden“. Gleichzeitig erhielt die Palette der arbeitsmarktpolitischen Instrumente erheblichen Zuwachs durch die Einführung eines Eingliederungsvertrags für Langzeitarbeitslose, eines Einstellungszuschusses bei Neugründungen, der Beauftragung Dritter mit vermittlungsunterstützenden Dienstleistungen sowie Zuschüssen zu Sozialplanmaßnahmen. Dazu wurde bei einer Vielzahl der Instrumente die Terminologie geändert.5 Eine wichtige Neuerung war, dass durch die Einführung eines Eingliederungstitels6 die Gestaltungsspielräume der Arbeitsämter beim Einsatz des Instrumentenkastens erhöht wurden. In die gleiche Richtung zielte die erstaunlichste Neuerung, die als eine wirkliche Innovation bezeichnet werden kann: die Einführung der Freien Förderung (§10 SGB III a. F.). Die Arbeitsämter konnten danach bis zu 10 % ihres Eingliederungstitels für neuartige Förderansätze und Modellversuche einsetzen.7 Im Laufe des Jahres 1998 ging auch die Projektförderung nach § 62d AFG (siehe oben) in der Freien Förderung auf. Die Zentrale der BA schloss jedoch 2003 mit einer Geschäftsanweisung Projektförderungen ausdrücklich aus. Dem innovativen Charakter des Instrumentes waren damit die Flügel gestutzt. Das Job-AQTIV-Gesetz: Lernen von Nachbarländern? Weit mehr als eine erneute Hinzufügung zusätzlicher Instrumente setzte mit dem JobAQTIV-Gesetz ein. Es war einerseits der Beginn einer Phase des „Reformfiebers“ und wurde andererseits als Übergang von der aktiven zur „aktivierenden“ Arbeitsmarktpolitik interpretiert (vgl. hierzu ausführlich den Beitrag von Mohr in diesem Band). Auf Instrumentenebene wurden drei neue Instrumente hinzugefügt: die Möglichkeit zur Beauftragung Dritter mit der gesamten Vermittlung von Arbeitsuchenden, Beschäftigung schaffende Infrastrukturförderung (ein den SAM ähnliches Instrument) sowie ein Einstellungszuschuss bei Vertretung (Job-Rotation). Letzteres hatte sich in Dänemark als höchst erfolgreich er5 Eingliederungsmaßnahmen, kurzzeitige Qualifizierungsmaßnahmen und Maßnahmen der Arbeitsberatung wurden unter dem neuen Begriff Trainingsmaßnahmen gebündelt. Die Lohnkostenzuschüsse West bzw. Ost wurden in Strukturanpassungsmaßnahmen umbenannt. An die Stelle des alten Begriffs „Fortbildung und Umschulung“ (FuU) trat der Begriff „Förderung der beruflichen Weiterbildung“ (FbW). Mit dem Instrument Eingliederungszuschuss wurden die Leistungen Einarbeitungszuschuss, Eingliederungsbeihilfe, Eingliederungshilfe und der Lohnkostenzuschuss für Ältere zusammengefasst. Mobilitätshilfen lösten die Leistungen zur Förderung der Arbeitsaufnahme ab. 6 Im Eingliederungstitel sind die Ermessensleistungen der aktiven Arbeitsförderung zusammengefasst. 7 Der maximale Prozentsatz wurde im Verlauf nur von wenigen Ämtern ausgeschöpft. Der durchschnittliche Anteil der Freien Förderung lag 1999 bei 4 %. 2002 war mit 2,2 % der geringste Anteil zu verzeichnen, 2006 mit 4,5 % der höchste.

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wiesen. Betriebe, die ihren Beschäftigten die Teilnahme an einer beruflichen Weiterbildung ermöglichen und für diese Zeit Arbeitslose als VertreterIn einstellten, konnten einen Zuschuss in Höhe von 50 bis 100 % des Arbeitsentgelts der VertreterInnen erhalten. In Deutschland konnte sich das Instrument allerdings nicht etablieren.8 Im März 2002 wurde in Folge des „Vermittlungsskandals“ der Vermittlungsgutschein eingeführt. Mit der gleichzeitigen Abschaffung der Erlaubnispflicht für private Arbeitsvermittlung und der Möglichkeit, Vermittlungsverträge zwischen privaten Vermittlern und Arbeitsuchenden abzuschließen, wurde der Markt für private Arbeitsvermittlung bzw. Personaldienstleistung nahezu vollständig dereguliert. Die „Hartz“-Instrumente“: Viel Wind um nichts? In Fortführung der „aktivierenden Arbeitsmarktpolitik“ band die „Hartz-Kommission“ einen riesigen bunten Strauß neuer Instrumente, auch wenn ein Großteil der Vorschläge in erster Linie auf einen Mix von Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsvermittlung (Frühzeitige Meldepflicht, Neue Zumutbarkeit, PSA etc.) und einer Subventionierung potentiell prekärer Arbeitsverhältnisse (Ich-AG, Mini-Jobs etc.) zielte (vgl. Oschmiansky 2004a und b). Infolge der Vorschläge wurden folgende Instrumente neu eingeführt: Entgeltsicherung für ältere Arbeitnehmer (ein Kombi-Lohn-Modell), ein Lohnkostenzuschuss für Betriebe bei Einstellung Älterer in Form der Befreiung von den Arbeitgeberbeiträgen zur Arbeitslosenversicherung (Beitragsbonus für Arbeitgeber bei Beschäftigung Älterer), ein Existenzgründungszuschuss (die sog. „Ich-AG“ als Pflichtleistung der Arbeitsagenturen), Personal-Service-Agenturen (PSA) als integrationsorientierte Zeitarbeitsgesellschaften, die zunächst in jeder Agentur einzurichten waren, die Beauftragung von Trägern mit Eingliederungsmaßnahmen nach § 421i a. F. sowie ein „Job-Floater“, der kleinen und mittleren Unternehmen, die einen Arbeitslosen einstellen, günstige Darlehen ermöglichte. „Hartz IV“: Instrumenteninnovation für Langzeitarbeitslose? Mit der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zur Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) zum 1. Januar 2005 wurde der arbeitsmarktpolitische Instrumentenkatalog des SGB III im Wesentlichen auch auf das SGB II übertragen. Ausgeschlossen ist die Förderung über den Gründungszuschuss, der aus den beiden Instrumenten Existenzgründungszuschuss und Überbrückungsgeld hervorgegangen ist. Eine Förderung der Existenzgründung ist im SGB II über ein Einstiegsgeld möglich, das im Gegensatz zum Gründungszuschuss eine Ermessensleistung ist. Neben dieser Gründungsförderungsvariante ist das Einstiegsgeld aber auch als Kombilohnvariante zur Förderung einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung möglich. Zusätzlich zu arbeitsmarktpolitischen Eingliederungsleistungen nach dem SGB III können für erwerbsfähige Hilfebedürftige „Weitere Leistungen“ erbracht werden (§ 16 Abs. 2 a. F.), die die Leistungen des SGB III allerdings nicht aufstocken dürfen. Das Gesetz nannte beispielhaft die Betreuung minderjähriger oder behinderter Kinder sowie die Pflege von Angehörigen, Schuldner- und Suchtberatung, psychosoziale Betreuung, das angesprochene Einstiegsgeld und Leistungen nach dem Altersteilzeitgesetz. Die offene Formulierung dieser „Weiteren Leistungen“ führte zu heftigen Auseinandersetzungen über den Ge8

Die höchsten Zugangszahlen gab es noch im Jahr 2004 mit bundesweit lediglich 1831 Personen.

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staltungsspielraum (vgl. FH Frankfurt am Main et al. 2008: 36f.). Einige SGB II-Einrichtungen sahen darin eine Generalklausel für ergänzende Ermessens-Eingliederungsleistungen (so auch die juristische Fachliteratur; vgl. ebd.: 37). Das BMAS hingegen hob den Charakter der ergänzenden Einzelfallhilfe hervor und schloss Projektförderungen über § 16 Abs. 2 a. F. im Verlauf des Jahres 2007 grundsätzlich aus. 9 Das am stärksten diskutierte und kritisierte (vgl. u.a. Bundesrechnungshof 2006; Kettner/Rebien 2007; Bundesagentur für Arbeit 2008) arbeitsmarktpolitische Instrument sind die Arbeitsgelegenheiten (AGH oder „1-Euro-Jobs“) des SGB II. Dieses Instrument ist nicht neu, sondern wurde bereits in großem Umfang im Rahmen des Bundessozialhilferechts eingesetzt (vgl. Kaps in diesem Band). AGH sollen für diejenigen erwerbsfähigen Hilfebedürftigen geschaffen werden, die keine Arbeit finden können. Diese Arbeiten begründen kein Arbeitsverhältnis im Sinne des Arbeitsrechts und sollen zusätzlich und im öffentlichen Interesse sein. Eine Entlohnung gibt es nicht, lediglich der Mehraufwand (Fahrtkosten, Arbeitskleidung etc.) wird durch eine Aufwandsentschädigung ersetzt.10 Mit je etwa 800.000 Teilnehmern in den Jahren 2006 und 2007 und Jahresdurchschnittsbeständen von ca. 300.000 sind AGH unterdessen das am stärksten genutzte arbeitsmarktpolitische Instrument in Deutschland (zu den Teilnehmerzugängen an den unterschiedlichen arbeitsmarktpolitischen Instrumenten vgl. auch die Tabellen im Anhang). Ergänzt wurde das arbeitsmarktpolitische Instrumentarium des SGB II zum 1. Oktober 2007 durch einen Beschäftigungszuschuss, den Arbeitgeber erhalten können, wenn sie einen langzeitarbeitslosen erwerbsfähigen Hilfebedürftigen einstellen, der mehrere Vermittlungshemmnisse aufweist und absehbar in den nächsten 24 Monaten auch bei Einsatz von arbeitsmarktpolitischen Regelinstrumenten nicht in ein Beschäftigungsverhältnis integriert werden kann. Der Beschäftigungszuschuss kann bis zu 75 % des berücksichtigungsfähigen Arbeitsentgelts betragen. Die Förderungsdauer von zunächst zwei Jahre kann danach unbefristet verlängert werden, wenn sich die Integrationsaussichten des Beschäftigten in ein ungefördertes Beschäftigungsverhältnis nicht verändert haben. Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente 2009: Mehr Schein als Sein? Mit dem Gesetz zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente (BGBl. I 2008: 2917ff., überwiegend in Kraft seit 1.1.2009) ist das arbeitsmarktpolitische Instrumentarium erneut erheblich überarbeitet worden. Ziel des Gesetzgebers war es, die hohe Anzahl an arbeitsmarktpolitischen Instrumenten zu reduzieren und zu vereinfachen und sie für die Anwender vor Ort handhabbarer zu gestalten (BT-Drs. 16/10810: 2). Abgeschafft wurden im SGB III u.a. die Förderung der beruflichen Weiterbildung durch Vertretung (JobRotation), der Einstellungszuschuss bei Neugründungen, der Beitragsbonus für Arbeitgeber bei Beschäftigung Älterer, die Beschäftigung schaffende Infrastrukturförderung sowie einige Maßnahmen zur Förderung der Berufsausbildung. Ein neuer § 46 SGB III (Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung) bündelt eine Reihe von Maßnahmen, die zuvor einzeln geregelt waren. Er soll die positiven 9

Die „Weiteren Leistungen“ wurden von den SGB-II-Trägern sehr unterschiedlich genutzt (zwischen 0,2% und 71,1% der TeilnehmerInnen arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen). Im Schnitt wurden hierfür in 2007 14,1% der Mittel (rund 600 Mio. EUR) aufgewandt. 10 Neben dieser Mehraufwandsvariante ist eine AGH auch in Entgeltvariante möglich, d.h. in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis, seit 1. Januar 2009 aber ohne Einbezug in die Arbeitslosenversicherung. 2007 entfielen allerdings nur 7 % aller AGH auf die Entgeltvariante.

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Elemente der Instrumente Beauftragung Dritter mit der Vermittlung (§ 37 SGB III a.F.), PSA, Trainingsmaßnahmen, Eingliederungsmaßnahmen (§ 421i SGB III a.F.) sowie Aktivierungshilfen zu einem einzigen Instrument zusammenfassen. Neben einer Betreuung und Unterstützung durch Dritte bei der Arbeit- und Ausbildungssuche sind z.B. auch Bewerbungstrainings, Arbeitnehmerüberlassungen mit dem Ziel der Vermittlung oder ganzheitliche Maßnahmen zur Erreichung von Integrationsfortschritten möglich. Ein weiteres zentrales neues Instrument ist das Vermittlungsbudget (§ 45 SGB III), in dem alle bisherigen sehr differenzierten Leistungen bei der Anbahnung und Aufnahme eines Arbeits- oder Ausbildungsverhältnisses zusammengeführt sind. So gehen alle Leistungen zur Unterstützung der Beratung und Vermittlung, Mobilitätshilfen, Einzelfallhilfen im Rahmen der Freien Förderung (§ 10 SGB III a.F.) sowie Einzelfallhilfen als „Weitere Leistungen“ (§ 16 Abs. 2 Satz 1 SGB II a.F.) im Vermittlungsbudget auf. Was künftig konkret „bei der Anbahnung oder Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung“ (§ 45 Abs. 1) geleistet wird, entscheidet der Vermittler oder Fallmanager. Das Vermittlungsbudget soll nur in Betracht kommen, wenn die Eingliederungsaussichten erheblich verbessert werden können. Zu befürchten ist hier der fortschreitende Ausschluss von arbeitsmarktfernen Personen (die sog. Betreuungskunden; vgl. hierzu den Beitrag von Hielscher/Ochs in diesem Band), die bislang zumindest noch Ansprüche auf Erstattung von Bewerbungskosten und ähnliches hatten. Weitere wichtige Änderungen11 betreffen die Freie Förderung und die „Weiteren Leistungen“. Die Nutzung der Freien Förderung im SGB III ist zum einen von den örtlichen Agenturen für Arbeit auf die BA-Zentrale übergegangen, zudem von 10 % des Eingliederungstitels auf 1 % reduziert und mit einer Begründungspflicht hinterlegt worden. Im SGB II ist die Nutzung der offenen Generalklausel „Weitere Leistungen“ in eine Freie Förderung überführt worden. Die Nutzung ist auf einen Anteil von 10 % des Eingliederungstitels beschränkt worden. Projektförderung ist möglich, aber auf maximal zwei Jahre und ein Mittelvolumen von weniger als zwei Mio. Euro begrenzt. Hinzu kommt auch hier eine „rigide Begründungspflicht für die Nutzung des Instrumentariums, die eher eine Nicht-Nutzung generieren wird (und soll)“ (Sell 2008: 4). Der Förderkatalog des SGB II gleicht nunmehr noch mehr als zuvor dem des SGB III. Eine Orientierung an speziellen Problemlagen langzeitarbeitsloser oder stark arbeitsmarktferner Personen ist nicht zu erkennen. Wenn die angestrebte Vereinfachung durch schlichte Reduzierung der Instrumentenanzahl erzielt werden sollte, ist auch dies nur bedingt gelungen. Die Anzahl einzelner Maßnahmen wurde durch Zusammenlegung in den §§ 45 und 46 zwar verringert, aber solange fast alle bisherigen Instrumente weiterhin einsetzbar bleiben sollen und außerdem wechselnde Sonderprogramme eine Reduzierung der Instrumentenanzahl unterlaufen, bleibt die Reform hier widersprüchlich. Zudem ist kaum anzunehmen, dass die zentralen neuen §§ 45 und 46 SGB III von detaillierten Weisungen der BA-Zentrale und Rechtsverordnungen des BMAS (§ 47 SGB III) verschont bleiben. 11 Die Vielzahl der Änderungen kann an dieser Stelle nur auszugsweise referiert werden. Zu nennen wären beispielsweise noch der neu eingeführte Rechtsanspruch auf eine Hauptschulabschlussvorbereitung im Rahmen einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme für Jugendliche (§ 61a SGB III) und für Erwachsene im Rahmen einer beruflichen Weiterbildungsmaßnahme (§ 77 SGB III) sowie die Abschaffung der Förderung über eine ABM im SGB II. Ersatz sollen die AGH in der Entgeltvariante bieten. Außerdem wurde die institutionelle Förderung von Einrichtungen der beruflichen Aus- und Weiterbildung oder der beruflichen Rehabilitation (§§ 248-251 SGB III a.F.) gestrichen.

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Bezweifeln lässt sich auch, ob Arbeitsuchende nun besser verstehen, welche Förderinstrumente ihnen (potentiell) zur Verfügung stehen, weil diese ab jetzt nicht mehr Trainingsmaßnahme, PSA oder Aktivierungshilfe heißen, sondern hinter der Bezeichnung „Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung“ verschwunden sind. Für die Arbeitsuchenden kommt es auf die VermittlerInnen bzw. FallmanagerInnen und deren Kompetenz an. Diese „AnwenderInnen vor Ort“ sind mit hohen Anforderungen an ihre Flexibilität und Kreativität konfrontiert, wenn sie einerseits eine individuelle bedarfsgerechte Unterstützung anbieten sollen, andererseits aber der flexible Fördermitteleinsatz im Rahmen Freier Förderung (SGB III) bzw. „Weiterer Leistungen“ (SGB II) reduziert wird, die Erprobung innovativer Ansätze aktiver Arbeitsförderung zentralisiert wird und eine hierarchische Steuerung der praktischen Umsetzung zu erwarten ist. Da weiterhin fast durchgängig eine Ausschreibung nach Vergabeverfahren für die einzelnen Maßnahmen erfolgen muss, werden vor Ort ebenfalls weiterhin regelmäßige Trägerwechsel stattfinden, die einer kontinuierlichen Arbeit nicht förderlich sind.

3

Der Wandel des Instrumenteneinsatzes: Vom Niedergang der „Klassiker“ und der aktiven Arbeitsmarktpolitik

Bis Ende der achtziger Jahre wurden in der Regel etwa 90 % der Ausgaben12 für aktive Arbeitsmarktpolitik auf die „klassischen“ Instrumente berufliche Bildungsmaßnahmen, Kurzarbeitergeld, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Förderung der ganzjährigen Beschäftigung in der Bauwirtschaft verwandt (vgl. Abb. 1). Dabei standen bis zum Einsetzen der Beschäftigungskrise 1974 berufliche Bildungsmaßnahmen und Maßnahmen für die Bauwirtschaft im Vordergrund. Beide Maßnahmen zusammen machten bis zu 92,5 % (1970 und 1973) der Ausgaben aus. Mit dem Einsetzen der Massenarbeitslosigkeit gewannen das Kurzarbeitergeld und ABM stark an Bedeutung. Der Anteil für diese beiden Maßnahmen summierte sich 1983 auf 47 % an allen Ausgaben und 1991 auf 50 %. Insbesondere in den 1990er Jahren hatte die Förderung des Zweiten Arbeitsmarktes (durch ABM, §249h und später SAM) einen Anteil von in der Regel einem Drittel an den Gesamtausgaben der hier betrachteten Arbeitsfördermaßnahmen. Das Kurzarbeitergeld wurde in den Krisenjahren 1974/75, 1982/83 sowie im ostdeutschen Transformationsprozess 1991 stark eingesetzt; in den jüngeren Krisen (1993, 1996/97 und 2003) dagegen kaum noch.13 Kurzarbeitergeld und Saisonale Maßnahmen für die Bauwirtschaft sind seit Mitte der 1990er Jahre nahezu bedeutungslos.

12

Ohne Berücksichtigung der Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation, Förderung der Berufsausbildung und Vorruhestands- und Altersteilzeitregelungen. Die aktuelle Weltwirtschaftskrise in Folge der Banken- und Finanzkrise beschert dem Kurzarbeitergeld allerdings ein Comeback. Im Dezember 2008 wurde an 270.000 ArbeitnehmerInnen Kurzarbeitergeld gezahlt mit stark steigender Tendenz. 13

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Abbildung 1:

Verteilung der Ausgaben für aktive Arbeitsförderung nach Art der Instrumente 1969-2007 in % (ohne SGB II)

100

90

Sonstige Ausgaben

Saisonale Maßnahmen für die Bauwirtschaft

80

70 "Beschäftigung schaffende Maßnahmen" (ABM, SAM, Produktive Lohnkostenzuschüsse)

60 Kurzarbeitergeld 50

40

30

20

Berufliche Bildung

10

19 69 19 70 19 71 19 72 19 73 19 74 19 75 19 76 19 77 19 78 19 79 19 80 19 81 19 82 19 83 19 84 19 85 19 86 19 87 19 88 19 89 19 90 19 91 19 92 19 93 19 94 19 95 19 96 19 97 19 98 19 99 20 00 20 01 20 02 20 03 20 04 20 05 20 06 20 07

0

Quellen: BA 1969-2007 und BMAS 1999; eigene Berechnungen. Ohne Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation, Förderung der Berufsausbildung und Vorruhestands- und Altersteilzeitregelungen. Unter „Sonstiges“ wurde u.a. zusammengefasst: Lohnkostenzuschüsse, PSA, Beauftragung Dritter, Vermittlungsgutschein, Mobilitätshilfen, Förderung der Selbständigkeit, Freie Förderung und Trainingsmaßnahmen.

Der sprunghafte Anstieg des Anteils der Sonstigen Ausgaben ab 1988 gründet sich auf der Übertragung von Maßnahmen zur Eingliederung von AussiedlerInnen (insbesondere Sprachförderung) in den Finanzierungsbereich der BA. Im „Rekordjahr“ 1990 kamen knapp 400.000 AussiedlerInnen in die Bundesrepublik und die BA wendete allein vier Mrd. DM für spezielle Maßnahmen für diese Gruppe auf (zur Entwicklung der Ausgaben insgesamt vgl. die Tabellen im Anhang). Die exorbitante Zunahme der Sonstigen Ausgaben ab 2003 hat unterschiedliche Gründe. Zum einen sinken die Gesamtausgaben für die hier betrachteten Instrumente (von 15,8 Mrd. € 2002 auf 12,5 Mrd. € 2004 und 5,2 Mrd. € 2007 bedingt durch die SGB II Einführung). Betroffen sind davon besonders Bildungsmaßnahmen sowie „Beschäftigung schaffende Maßnahmen“. Bei beiden Maßnahmetypen kommt es allein von 2002 auf 2004 fast zu einer Halbierung der Ausgaben. Gleichzeitig wurden diverse neue unter Sonstiges fallende Instrumente dem Instrumentenkasten hinzugefügt (vgl. Abschnitt 2). Hauptursache waren aber starke Ausgabenverlagerungen in den Bereich der Förderung der Selbständigkeit. Der Anteil der Ausgaben zur Förderung der Selbständigkeit stieg in großen Schritten von 6 % im Jahr 2002 auf 44 % im Jahr 2006 an. 2005 wendete die BA (im SGB III) eine

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größere Summe für die Förderung der Selbständigkeit auf als für die vier „Klassiker“14 zusammen. Betrachten wir den Instrumenteneinsatz ausgewählter Arbeitsförderinstrumente seit der Einordnung des AFG ins SGB III 1998 (siehe hierzu auch die Tabellen im Anhang, die die Entwicklung der Zugänge abbilden), diesmal unter Einbeziehung des SGB II, differenzierter anhand von Teilnehmerbeständen ergibt sich folgendes Bild. Abbildung 2:

Teilnehmerbestände in ausgewählten Arbeitsfördermaßnahmen (Anteile in Prozent)

100% 90% 80% 70% 60% 50%

Förderung der Selbständigkeit

Sonstiges Förderung abhängiger Beschäftigung (EGZ, PSA etc.) Trainingsmaßnah men Beschäftigung schaffende Maßnahmen (ABM, AGH etc.)

Unterstützung der Arbeitsuche durch Dritte

40% 30% 20%

Berufliche Bildung

10% 0% 1998

1999

2000

2001

2002

2003

2004

2005

2006

2007

Quellen: BA 1998-2007; eigene Berechnungen. Ohne Daten für zugelassene kommunale Träger; Beauftragung Dritter ist erst ab 2004 ausgewiesen; für Eingliederungsmaßnahmen nach §421i lagen für 2003 keine Zahlen vor; Unter Sonstiges ist zusammengefasst: Freie Förderung; „Sonstige Weitere Leistungen“, flankierende Leistungen des SGB II und das ESF-BA-Programm. Daten für die Freie Förderung lagen erst ab 2000 vor. Ohne Berücksichtigung der Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation, Förderung der Berufsausbildung, Vorruhestands- und Altersteilzeitregelungen, Kurzarbeitergeld und Maßnahmen für die Bauwirtschaft.

In den letzten Jahren zeigt sich ein deutlich veränderter Instrumenteneinsatz. Eine starke Verschiebung auch auf der Teilnehmerebene geht vor allem zu Lasten der beruflichen Bildungsmaßnahmen. Das einstige „Herzstück“ der aktiven Arbeitsmarktpolitik innerhalb des AFG ist bei Betrachtung der Teilnehmerrelationen auf dem Weg zu einem Nischenprodukt. 14

Berufliche Bildungsmaßnahmen, Kurzarbeitergeld, ABM, Förderung der ganzjährigen Beschäftigung in der Bauwirtschaft.

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Eine ähnliche Entwicklung nahmen bis zur Zusammenlegung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe auch die „Beschäftigung schaffenden Maßnahmen“. Hier ist es durch die Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung im SGB II zu einer Renaissance gekommen. Wie bereits erwähnt, ist insbesondere die Förderung der Selbständigkeit stark angestiegen. Allerdings führte die Zusammenlegung der Instrumente Überbrückungsgeld und Existenzgründungszuschuss zum neuen Gründungszuschuss zu einer Reduktion. Auch die Unterstützung der Arbeitsuche durch Dritte wird häufiger genutzt als berufliche Bildungsmaßnahmen.15 Darüber hinaus wurde hinsichtlich der Struktur des Mitteleinsatzes umgesteuert. Machten die im Eingliederungstitel des SGB III festgelegten Mittel für Ermessensleistungen im Jahr 1999 noch 66 % aller für aktive Leistungen der Arbeitsmarktpolitik eingesetzten Mittel aus, sank dieser Anteil auf unter 50 % im Jahr 2004.16 Auch zeigt sich, dass der Anteil für aktive Arbeitsmarktpolitik an den Ausgaben für Arbeitsmarktpolitik insgesamt seit Jahren stark sinkend ist. Nur noch ein Fünftel der Mittel wird darauf verwendet (vgl. Oschmiansky u.a. 2007: 292f.). Besonders eklatant ist das Verhältnis im Rahmen des SGB II. Hier wurden im Jahr 2006 nur 12,6 % der Gesamtausgaben für aktive Maßnahmen eingesetzt. Die Planungen für 2008 sahen hier nur eine marginale Steigerung auf 13 % vor (vgl. BIAJ 2008; eigene Berechnungen).

4

Einige Lehren aus 40 Jahren aktiver Arbeitsmarktpolitik: Anforderungen an zukunftsfähige arbeitsmarktpolitische Instrumente

Deutlich geworden ist, dass das arbeitsmarktpolitische Instrumentarium sowie der Einsatz einzelner Instrumente einen erheblichen Wandlungsprozess durchliefen. Mit der Installierung des AFG wurde die aktive Arbeitsmarktpolitik aufgewertet. Zielsetzung war, zur Feinsteuerung auf dem Arbeitsmarkt beizutragen, unterwertige Beschäftigung und Arbeitslosigkeit zu verhüten. Mit dem Einsetzen der Beschäftigungskrise wurde das arbeitsmarktpolitische Instrumentarium im Wesentlichen zum Kürzungsposten öffentlicher Ausgaben. Einen Bedeutungszuwachs erhielten die Arbeitsförderinstrumente durch die deutsche Vereinigung. Zum einen wurden die Instrumente in einem zuvor nicht gekannten quantitativen Ausmaß eingesetzt. Zum anderen diente der Einsatz der Arbeitsförderinstrumente in Ostdeutschland häufig in erster Linie der sozialpolitischen Abfederung der dortigen Beschäftigungskatastrophe. Innovative neue Instrumente kamen allerdings kaum zur Anwendung. Dagegen waren die letzten Jahre geprägt von einer fortwährenden Implementierung neuer Instrumente. Allerdings zeigte sich in umfangreichen Evaluationsstudien, dass kaum eines dieser neuen Instrumente erfolgreich ist. Gerade die meisten der durch die „HartzGesetze“ implementierten Instrumente erwiesen sich als Misserfolg. Außerhalb des § 46 SGB III ist kein einziges der vielen durch „Hartz I“ und „Hartz II“ hinzugefügten Instrumente mehr in Kraft. 15 Obwohl in die Abbildung nur eingelöste und nicht ausgegebene Vermittlungsgutscheine integriert wurden. Hinzu kommen hier die Maßnahmen zur Beauftragung Dritter nach § 37 a.F. und Eingliederungsmaßnahmen nach § 421i a.F.. 16 Ein Vergleich mit späteren Jahren ist aufgrund der SGB-II-Reform nicht sinnvoll.

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Die skizzierte Kritik an der Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente zum Jahresbeginn 2009 hat deutlich gemacht, dass dieses Gesetz nicht als vorläufiger Schlusspunkt arbeitsmarktpolitischer Reformen auf der Instrumentenebene verstanden werden darf. Abschließend wollen wir daher Anforderungen an künftige Reformen formulieren. ƒ

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Gerade Maßnahmen zur Behebung oder Verminderung der häufig komplexen und höchst unterschiedlichen Problemlagen der SGB II-BezieherInnen lassen sich meist nur schlecht in ein striktes Regelwerk packen. Der Fachkraft vor Ort sollte daher ein möglichst flexibles Instrumentarium zur Verfügung gestellt werden. Ein kleinteiliger, stark normierter Rechtsrahmen (Sell 2008: 9) ist hier kontraproduktiv. Entsprechend müssen die örtlichen Maßnahmeträger in der Lage sein, ein generelles Angebot zur Leistungserbringung vorzuhalten und dieses bedarfsorientiert auszudifferenzieren. Das ist nur möglich, wenn diese Träger frühzeitig strukturell in die Planung und Steuerung von Maßnahmen einbezogen werden (Reis 2007: 185). In Abschnitt 3 wurde zeigt, dass sich der Instrumenteneinsatz stark von den beruflichen Bildungsmaßnahmen hin zu vermittlungsorientierten Maßnahmen wie der Einschaltung privater Vermittler oder dem Einsatz von Lohnkostenzuschüssen verschoben hat. Angesichts der enormen Unterbeschäftigung sind die Erfolgsmöglichkeiten dieser Instrumente jedoch begrenzt. Einen arbeitsmarktpolitischen Beitrag zum Strukturwandel leisten sie nicht. Dagegen ist die Gefahr von Substitutions- und Verdrängungseffekten bei diesen Instrumenten besonders stark angelegt. Zudem zeigen Evaluationen (vgl. BMAS 2006), dass diese Instrumente keineswegs erfolgreicher als berufliche Bildungsmaßnahmen sind. Angesichts dieser Befunde sollte berufliche Weiterbildung, nachdem die Ausgaben dafür in den letzten Jahren deutlich gesunken sind, sukzessive wieder zum Kern aktiver Arbeitsmarktpolitik werden. Individuelle Problemlagen arbeitsmarktnäherer Arbeitsloser korrelieren häufig mit Begebenheiten des regionalen Arbeitsmarktes. So wichtig der Blick nach außen (in andere Länder) sein kann, so ist nicht nur aufgrund der Erfahrungen mit Job-Rotation davor zu warnen, anderswo erfolgreiche Instrumente einfach zu adaptieren. Passende Instrumente müssen sich aus dem Umfeld entwickeln, in dem sie anschließend eingesetzt werden. Unterschiedlichste Bedingungen sind entsprechend zu berücksichtigen und dies gilt nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch auf Ebene der Bundesländer und Kommunen. Ein arbeitsmarktpolitisches Instrument ist nie per se „gut“ oder „schlecht“. Sein Wert hängt vom richtigen Einsatz bei den richtigen Zielgruppen ab. Ein Instrument kann im ländlichen Raum sinnvoll sein, im städtischen oder großstädtischen weniger und umgekehrt. Ein Instrument kann bei höherer regionaler Arbeitslosigkeit sinnvoll sein, bei geringerer weniger. Daher benötigt eine dezentralisierte Arbeitsmarktpolitik qualifizierte Informationen für eine effektive Steuerung der Prozesse am Arbeitsmarkt, beispielsweise Analysen zum Ungleichgewicht regionaler Arbeitsmärkte, Informationen zu regionalen Problemstrukturen auf der Angebots- und Nachfrageseite und zu regionalen Erfolgen bzw. Misserfolgen einzelner arbeitsmarktpolitischer Instrumente und Träger, um darauf aufbauend passgenaue Instrumente und Projekte zu entwickeln.

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Zusammenfassend lassen sich unsere Vorschläge auf folgenden Nenner bringen: Zukunftsweisend wäre eine größere Flexibilität für die Akteure vor Ort, auch damit die arbeitsmarktpolitischen Instrumente stärker auf regionale Problemlagen zugeschnitten werden können und eine Rückbesinnung auf berufliche Bildungsmaßnahmen, die sowohl quantitativ als auch qualitativ ausgebaut werden sollten.

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Gerhard Bosch

Gerhard Bosch

Berufliche Weiterbildung in Deutschland 1969 bis 2009: Entwicklung und Reformoptionen Berufliche Weiterbildung in Deutschland 1969 bis 2009

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Einleitung

In der international vergleichenden Arbeitsmarktforschung dient der deutsche Arbeitsmarkt meistens als Referenzfall für vergleichsweise stark ausgeprägte berufliche Arbeitsmärkte (Marsden 1990). Kaum bekannt ist, dass sich die unterschiedliche Struktur des deutschen Arbeitsmarktes erst in den letzten Jahrzehnten herausgebildet hat. In den 50er Jahren hatten die meisten angelsächsischen Länder noch ähnlich hohe Anteile an Auszubildenden wie in Deutschland. Während dort aber berufliche Arbeitsmärkte zumindest unterhalb der Ebene der Professionals an Bedeutung verloren, expandierten sie in Deutschland seit den 70er Jahren kräftig. Der Anteil der Beschäftigten mit einem beruflichen Abschluss stieg von 29 Prozent 1964/65 auf 70 Prozent im Jahre 2000 (Geissler 2002: 339). Damit wurden in Deutschland Tätigkeitsbereiche ‚verberuflicht‘, die in vielen anderen Ländern entweder Anlerntätigkeiten blieben oder mittlerweile sogar eine akademische Ausbildung voraussetzen. Berufliche Arbeitsmärkte brauchen einen starken Ordnungsrahmen und viele Akteure, die an ihrer Stabilisierung und Weiterentwicklung interessiert sind. Die Voraussetzungen hierfür wurden 1969 mit dem Berufsbildungsgesetz geschaffen. Dabei ist es kein Zufall, dass fast zeitgleich auch das Arbeitsförderungsgesetz (AFG) verabschiedet wurde. Beide Gesetze sind gedanklich eng verknüpft und wurden als ‚bildungspolitische Einheit‘ gesehen (Voelzke 1991: 257). In der ersten großen Wirtschaftskrise 1966/67 war deutlich geworden, dass bei raschem strukturellem Wandel Beschäftigungssicherheit mit und ohne Betriebswechsel oft erst mit Weiterbildung gewährleistet werden konnte. Die in den folgenden Jahrzehnten immer wieder reformierten Berufsbilder und die anerkannten Aufstiegsfortbildungen zum Meister, Techniker oder Fachwirt boten den zentralen Referenzrahmen für die durch das AFG geförderten Umschulungen und Fortbildungen. In der Neuordnung von Berufen wurde auch immer wieder versucht, die Verbindung von Erstaus- und Weiterbildung zu stärken (Bosch 2008). Ein Beispiel sind Wahlmodule, die man sowohl in der Erstaus- oder in der Weiterbildung absolvieren kann. Durch den in den Zumutbarkeitskriterien verankerten Berufsschutz sollten zudem die Anreize zur Weiterbildung erhöht und bei Arbeitslosigkeit der Erhalt von Bildungsinvestitionen gesichert werden. Auch für die betriebliche Weiterbildung boten die Berufsbilder einen wichtigen Orientierungsrahmen. Im AFG von 1969 wurden zunächst relativ großzügige Weiterbildungsanrechte für Beschäftigte und Arbeitslose verankert. Damit kam zwangsläufig die bis heute diskutierte Frage auf, ob eine Finanzierung über Beitragsmittel angemessen sei. Sowohl bei der Beratung des AFG als auch in den folgenden Jahren wurden immer wieder Alternativen zur Beitragsfinanzierung erörtert. Zur Diskussion standen eine Steuerfinanzierung der Weiterbildungsmaßnahmen, eine Arbeitmarktabgabe, die auch von Selbständigen und Beamten

Berufliche Weiterbildung in Deutschland 1969 bis 2009

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erhoben wird und eine Umlagefinanzierung durch die Unternehmer. Das zentrale Argument für eine Steuerfinanzierung war, dass der Kreis der Begünstigten über die Beitragszahler weit hinausreiche. Über eine Arbeitsmarktabgabe sollten alle Erwerbstätigen Anrechte auf Weiterbildung erwerben, was angesichts der hohen Mobilität vor allem zwischen Selbständigkeit und abhängiger Beschäftigung Sinn macht. Eine Umlagefinanzierung lässt sich mit dem hohen betrieblichen Nutzen einer praxisorientierten Weiterbildung für die Unternehmen rechtfertigen (Siegers 1973; Sachverständigenkommission Kosten und Finanzierung der beruflichen Bildung 1974). Hinter diesen unterschiedlichen Finanzierungsmodellen stand die Vorstellung, die Finanzierung der beruflichen Weiterbildung auf eine breitere Basis zu stellen und dazu beizutragen, die Weiterbildung zu einer vierten Säule des Bildungssystems mit universellem Zugang auszubauen. Die Praxis hat jedoch einen ganz anderen Verlauf genommen. Heute dient die berufliche Weiterbildung in der Arbeitsmarktpolitik vorrangig nur noch als kurzfristige Vermittlungshilfe. Im Zuge der zunehmenden Verengung der Weiterbildungsförderung in den letzten 40 Jahren ist es zu Abspaltungen in andere Finanzierungssysteme gekommen. So wurde nach Beendigung der Förderung der Aufstiegsfortbildung als Ersatz mit dem Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz (AFBG) das steuerfinanzierte sogenannte ‚MeisterBAföG‘ geschaffen. Zudem hat die weitgehende Reduzierung längerfristiger Weiterbildungsmaßnahmen durch die Hartz-Gesetze die Debatte über alternative Finanzierungskonzepte (Steuerfinanzierung, Fondsregelungen, Arbeitsversicherung) wiederbelebt. Im Folgenden soll zunächst nachgezeichnet werden, wie sich die Weiterbildungskonditionen und Teilnehmerstrukturen in der durch die Arbeitsmarktpolitik geförderten beruflichen Weiterbildung in den letzten 40 Jahren entwickelt haben (Abschnitt 2). Anschließend werden die Evaluationsergebnisse zu dieser Weiterbildung skizziert (Abschnitt 3). Es folgt eine Analyse der Teilnahme an beruflicher Weiterbildung insgesamt, also unter Einschluss der betrieblichen Weiterbildung (Abschnitt4). Abschließend werden neue Finanzierungskonzepte skizziert (Abschnitt 5).

2

Vom Recht auf Weiterbildung zur Vermittlungsförderung

Schon im Gesetz über die Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) von 1927 war eine Möglichkeit zur Förderung beruflicher Weiterbildung vorgesehen. Diese setzte jedoch Arbeitslosigkeit voraus und war eine Ermessensleistung. Bis 1969 spielte berufliche Weiterbildung in der Praxis der Arbeitsmarktpolitik nur eine untergeordnete Rolle. Das änderte sich mit dem AFG von 1969, mit dem erstmals ein Rechtsanspruch auf berufliche Weiterbildung für Arbeitslose und Beschäftigte geschaffen wurde. Weiterbildung sollte nicht alleine Arbeitslosigkeit abbauen oder vermeiden, sondern auch unterwertige Beschäftigung vermeiden und beruflichen Aufstieg ermöglichen. Zugleich sollten damit auch makroökonomische Ziele erreicht werden. Angestrebt war ein auf Wachstum und Verbesserung der Beschäftigungsbedingungen ausgerichtetes Weiterbildungsgesetz, das aber aus praktischen Erwägungen, vor allem zur Vermeidung des Aufbaus neuer Strukturen und Finanzierungsmodi, in die Hände der Bundesanstalt für Arbeit (BA) gelegt wurde, einer Behörde, die keine gesamtwirtschaftlichen Ziele verfolgt. Das damit erzeugte Spannungsverhältnis zwischen langfristigen makroökonomischen Weiterbildungszielen und

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arbeitsmarktpolitischer Vermittlungslogik bestimmt die Weiterbildungspolitik der BA bis heute. Mit dem Rechtsanspruch auf eine berufliche Weiterbildung wollte man 1969 vor allem die individuelle Initiative fördern. Der Kreis der Begünstigten wurde weit gezogen und war nicht auf Beitragszahler beschränkt. Anfangs wurde sogar ein Studium an Hochschulen gefördert. Das Unterhaltsgeld (UHG) lag in den ersten 6 Monaten einer Maßnahme bei 81,25 Prozent des Nettogehalts und erhöhte sich dann auf 87,5 Prozent für die weitere Dauer der Maßnahme. Zudem wurde das UHG dynamisiert, indem nach einem Jahr die Bemessungsgrundlage halbjährlich um 4 Prozent angehoben wurde. Damit wurden insbesondere Anreize für die Teilnahme an längerfristigen Maßnahmen geschaffen. Diese neuen Möglichkeiten wurden dankbar angenommen, wie aus Abbildung 1 ersichtlich. Vor allem schon gut qualifizierte Beschäftigte nutzten die Chance zu einer Aufstiegsfortbildung, während die Förderung von Arbeitslosen bis 1975 nur eine untergeordnete Rolle spielte. Abbildung 1:

Eintritte in berufliche Fortbildung und Umschulung (FuU) 1971 – 1997, entnommen aus: Klose/Bender 2000: 423

In den folgenden Jahren wurden die Leistungen vor allem zur Haushaltssanierung und weniger aus grundsätzlicher Kritik am Sinn von beruflicher Weiterbildung reduziert, wobei es je nach Haushaltslage zwischendurch immer mal wieder auch Verbesserungen zu verzeichnen gab. Die Kürzungen ließen sich sehr gut mit dem Vorrang der Vermittlung von Beitragszahlern in Arbeit vor weiter gefassten bildungspolitischen Zielen begründen. Der Verfasser des Nachfolgegesetzes des AFG beschreibt diese sukzessive Zielverschiebung, wie folgt: „Dabei galt für die Reform der Arbeitsförderung die gleiche Erkenntnis und Grundüberzeugung wie für die Reformen in anderen sozialen Sicherungssystemen, nämlich dass

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die aus vielerlei Gründen erhaltenswerten Sozialversicherungssysteme nur bewahrt werden können, wenn sie auf ihre Kernaufgaben konzentriert und nicht mit Aufgaben aus anderen Bereichen überfrachtet werden“ (Ammermüller 1997: 8). Die wichtigsten Etappen des Umbaus der Weiterbildungsförderung lassen sich so zusammenfassen (Steffens 2008; Weinkopf/Bosch 1992): ƒ

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Mit dem Haushaltstrukturgesetz von 1976 hatten nur noch Beitragszahler mit einer Mindestdauer von 3 Jahren vorheriger Beitragszahlung einen Weiterbildungsanspruch. Bildungsmaßnahmen im Hochschulbereich wurden nicht mehr gefördert. Das UHG wurde bei arbeitsmarktpolitisch ‚notwendigen‘ Maßnahmen auf 80 Prozent und bei ‚zweckmäßigen‘ (alle Aufstiegsfortbildungen) auf 58 Prozent abgesenkt. Durch das Arbeitsförderungskonsolidierungsgesetz (AFKG) wurde die Förderung beruflicher Weiterbildung 1982 auf Arbeitslose und von Arbeitslosigkeit Bedrohte konzentriert. Das UHG für notwendige Maßnahmen wurde von 80 Prozent auf 75 Prozent bzw. 68 Prozent (Personen mit bzw. ohne unterhaltsberechtigte Kinder) verringert und bei Aufstiegsfortbildung nur noch als zinsloses Darlehen gewährt. Die Teilnahme an Weiterbildung galt nunmehr als zumutbar, so dass eine Ablehnung mit Sperrzeiten belegt werden konnte. 1984 wurde mit dem Haushaltstrukturbegleitgesetz das UHG für notwendige Maßnahmen von 75 auf 70 Prozent bzw. von 68 auf 63 Prozent reduziert. Die ‚Neigung des Antragstellers‘ wurde als Förderungsgrund gestrichen. Das UHG-Darlehen für die Aufstiegsfortbildung wurde zur Kann-Leistung. Zur Unterstützung der Qualifizierungsinitiative der Bundesregierung und wegen der verbesserten Haushaltslage im Aufschwung wurde 1985 mit dem 7. Gesetz zur Änderung des AFG das UHG auf 73 Prozent bzw. 65 Prozent des vormaligen Nettogehalts erhöht und für Darlehen für die Aufstiegsfortbildung der Rechtsanspruch wieder eingeführt. In der 9. Novelle des AFG wurde 1989 der Anspruch auf Kostenerstattung für eine Bildungsmaßnahme in eine Kann-Leistung umgewandelt. Durch Veränderung in der FuU-Anordnung wurde es 1991 bis Ende 1992 möglich, in Ostdeutschland auch TeilnehmerInnen zu fördern, die nicht unmittelbar von Kündigung bedroht waren. Auch wurden vorrübergehend wegen des Mangels an Trägern Bildungsmaßnahmen in Hochschulen und Fachschulen gefördert. 1994 wird mit dem 1. Gesetz zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms (1.SKWPG) der Rechtsanspruch auf eine UHG bei beruflicher Weiterbildung zur Kann-Leistung. Die Möglichkeit zur Gewährung von Darlehen bei ‚zweckmäßigen‘ Maßnahmen wird endgültig abgeschafft. Das UHG wird auf 65 Prozent bzw. 60 Prozent gekürzt. 1997 wird das AFG durch das Gesetz zur Reform der Arbeitsförderung abgelöst und in das Sozialgesetzbuch III eingliedert (Ammermüller 1997). In diesem Gesetz werden nicht nur die makroökonomischen Zielsetzungen des AFG sondern auch die Bestrebungen, unterwertige Beschäftigung zu verringern, zugunsten der Vermittlung in jede Beschäftigung aufgegeben. Berufliche Bildung wird zudem zur reinen Ermessungsleistung. In diesem ‚Auswahlermessen‘ haben TeilnehmerInnen mit besseren Eingliederungschancen Vorrang vor TeilnehmerInnen mit geringeren Chancen (Ammermüller 1997: 9). Weiterhin wird der Berufsschutz bei der Vermittlung aufgehoben. Die bishe-

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Gerhard Bosch rigen fünf Qualifikationsstufen in der Zumutbarkeitsanordnung von 1982 entfallen. Als zumutbar gelten nunmehr alle der Arbeitsfähigkeit des Arbeitslosen entsprechende Tätigkeiten. Es gibt nur noch einen gestaffelten Einkommensschutz, der allerdings mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit sukzessive abnimmt. Hinzu kommt, dass mit einer Teilnahme an Weiterbildung keine neuen Arbeitslosengeldansprüche mehr aufgebaut werden können. Nach Beendigung der Maßnahme wird allerdings ein Anschluss-UHG von drei Monaten zur Verbesserung der Vermittlungschancen gewährt. Mit dem Job-AQTIV Gesetz von 2002 wurde das Fenster für die berufliche Qualifizierung Beschäftigter wieder etwas geöffnet. Unternehmer, die An- und Ungelernte qualifizieren, können durch einen Zuschuss zu den Lohnkosten gefördert werden. Kleinen und mittleren Unternehmen, die über 50-jährige qualifizieren, werden die Weiterbildungskosten erstattet. Weiterhin werden bei der Qualifizierung von Beschäftigten Zuschüsse zu den Lohnkosten gezahlt, wenn dafür ein arbeitsloser Vertreter eingestellt wird (Job-Rotation). Das Anschluss-Unterhaltsgeld entfällt und Zeiten der Teilnahme an einer Weiterbildungsmaßnahme werden zur Hälfte auf den Arbeitslosengeldanspruch angerechnet, soweit der Anspruch damit nicht auf unter einen Monat sinkt. Das UHG wird nicht mehr an die allgemeine Lohnentwicklung angepasst und somit entdynamisiert. Durch die Hartz-Gesetze (2003-2005) wird vor allem die Steuerungslogik in der Weiterbildung verändert. Weiterbildung soll nur noch bei einer zu erwartenden Wiedereingliederungsquote von 70 Prozent gefördert werden. Die Betroffenen werden nicht mehr einer von der BA in Auftrag gegebenen Maßnahme (sogenannte Auftragsmaßnahmen) zugewiesen, sondern erhalten einen Bildungsgutschein, mit dem sie sich selbst eine Maßnahme aussuchen müssen. Die Aufteilung der Arbeitsmarktpolitik auf zwei Rechtskreise lässt unterschiedliche Steuerungslogiken und Denkweisen in zuständigen Institutionen entstehen. Mit ihrem einjährigen Planungshorizont konzentrierte sich die BA zunehmend auf kurzfristige Maßnahmen. Bildungsmaßnahmen ‚rechnen‘ sich für sie nur, wenn sie innerhalb eines Jahres den Gesamtaufwand pro Arbeitslosen verringern. Die Institutionen des Rechtskreises des SGB II (ARGEn, Optionskommunen oder getrennte Aufgabenwahrnehmung) betreuen die weiterbildungsferneren Arbeitslosen. Ihr Planungshorizont ist nicht durch eine Jahresperspektive begrenzt. Allerdings konzentrieren sie sich zunehmend auf andere Maßnahmen, wie die Förderung von Arbeitsgelegenheiten (sogenannte ‚1 Euro-Jobs‘). Mit dem Gesetz zur Neuausrichtung arbeitsmarktpolitischer Instrumente wurde ab 2009 das Instrument der Job Rotation und der institutionellen Förderung in der Weiterbildung abgeschafft. Da die Zahl der Weiterbildungsmaßnahmen nach den Hartz-Gesetzen stark einbrach und vor allem gering Qualifizierte, Ältere und Personen mit Migrationshintergrund prozentual weniger als zuvor gefördert wurden, kam es zu leichten Korrekturen im Verwaltungshandeln. Die Vorgabe einer Wiedereingliederungsquote von 70 Prozent wurde gelockert und vereinzelt wurden auch wieder längerfristige Umschulungsmaßnahmen durch die BA gefördert. Auf Initiative der Gewerkschaften wurde für die betriebliche Weiterbildung An- und Ungelernter ein eigenes Programm (‚Wegebau‘) mit eigenem Budget außerhalb der Steuerungslogik der BA im Vermittlungsgeschäft aufgelegt.

Berufliche Weiterbildung in Deutschland 1969 bis 2009

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Die zahlreichen und auch für Experten kaum noch zu überblickenden Änderungen in der Weiterbildungsförderung der BA in den letzten 40 Jahren haben zunächst zu einer schleichenden Zielverschiebung geführt, die 1997 mit der Ablösung des AFG durch das Gesetz zur Reform der Arbeitsförderung auch manifest wurden. Die wichtigsten Trends der Veränderungen lassen sich so zusammenfassen: Erstens wurde der Rechtsanspruch auf eine berufliche Weiterbildung durch eine Pflicht zur Teilnahme an angeordneter Weiterbildung ersetzt. Individuelle Eigeninitiative ist auf die Einlösung von Bildungsgutscheinen von zuvor verordneten Weiterbildungsmaßnahmen beschränkt. Zweitens wurden abschlussbezogene Weiterbildungen zur Randerscheinung und der Berufsschutz in der Vermittlung abgeschafft. Damit wurde das traditionelle Band zwischen Erst- und Weiterbildung zerschnitten und die bildungspolitische Einheit von Berufsbildungsgesetz und Arbeitsmarktpolitik aufgelöst. Eine zweite Chance zum Eintritt, oder nach strukturellem Wandel zum Verbleib in beruflichen Arbeitsmärkten, ist nur noch in Ausnahmefällen vorgesehen. Drittens wurde das in den 80er Jahren formulierte Ziel der Förderung sogenannter ‚Problemgruppen‘ aufgegeben. Weiterbildungspolitik wurde durch ihre kurzfristige Kosten- und Effizienzorientierung zunehmend selektiver. Vor allem mit den Hartz-Gesetzen sind die Chancen auf eine berufliche Weiterbildung für gering Qualifizierte, Ältere oder Arbeitslose mit Migrationshintergrund in beiden Rechtskreisen drastisch gesunken. Viertens wurde als Kompensation eine kleine präventive Säule der Förderung betrieblicher Weiterbildung von Beschäftigten, vor allem gering Qualifizierter und Älterer in Klein- und Mittelbetrieben, aufgebaut. Fünftens hat sich im Zuge der Hartz-Reformen sowohl in der BA als auch in den Institutionen des SGB II eine weiterbildungsskeptische Haltung etabliert, die anderen arbeitsmarktpolitischen Instrumenten Vorrang einräumt. Möglicherweise hat sich diese Haltung durch den massiven Kompetenzverlust der BA im Bereich der Weiterbildung verfestigt, die durch die Aufgabe der Auftragsmaßnahmen den direkten Kontakt zu Bildungsträgern und der Planung von Maßnahmen verloren hat. Auch wenn sich die gesetzlichen Veränderungen im Nachhinein als sukzessive Einschränkung der Weiterbildungsförderung lesen lassen, bestand immer die Möglichkeit, den gesetzlichen Rahmen je nach Budgetvorgaben unterschiedlich weit auszuschöpfen. Die von 1977 bis 1993 anhaltende Expansion der Weiterbildungsförderung war nur durch eine expansive Auslegung des Rechtsrahmens und eine entsprechende Budgetierung möglich. So vereinbarten etwa die Bundesregierung und die Sozialpartner unter dem Eindruck des damaligen Fachkräftemangels Mitte der 80er Jahre eine ‚Qualifizierungsoffensive‘, die zu einem nochmaligen Anstieg der Eintritte in Weiterbildungsmaßnahmen in Westdeutschland führte (Abbildung 1). Dabei wurde ausdrücklich eine Politik der ‚Bildung auf Vorrat‘ verfolgt, um künftigem Fachkräftemangel vorzubeugen (Bosch 1993). Dahinter stand die Erfahrung, dass man wegen des langen Planungs- und Durchführungsvorlaufs einer Fachkräfteausbildung eine kurzfristig formulierte Nachfrage der Unternehmen nicht befriedigen konnte. Es bot sich daher an, Arbeitslose in den reformierten und zunehmend breiten Berufsbildern mit vielfältigen Einsatzmöglichkeiten auszubilden. Die Berufsbildungsreformen boten auch für die Weiterbildung die Chance einer verlässlichen Zukunftsorientierung. Bei den traditionellen, sehr eng spezialisierten Berufsbildern bzw. Weiterbildungen für konkrete Tätigkeiten, war hingegen die Gefahr sehr hoch, dass der Markt der Weiterbildung ‚da-

100

Gerhard Bosch

vonläuft‘ (Bosch 1987).1 Nach der deutschen Wiedervereinigung bestand hoher Weiterbildungsbedarf in Ostdeutschland. In den Jahren 1991 und 1992 traten jeweils fast 900.000 Ostdeutsche in Weiterbildungsmaßnahmen ein. Für eine qualitativ befriedigende Weiterbildungspolitik fehlte aber nicht nur die Infrastruktur, sondern es war in dieser Umbruchsituation auch unmöglich, die Maßnahmen zu koordinieren und wegen unzureichender Marktsignale und Erfahrungswerte sinnvoll zu planen. Von dem Imageverlust durch diese teilweise fragwürdigen Massenveranstaltungen, an denen viele Träger gut verdienten, hat sich die Weiterbildungspolitik bis heute nicht erholt. Seit Mitte der 90er Jahre ändert sich die Geschäftspolitik der BA. Es wird zunehmend nur auf Sicht gefahren, also nur für konkret absehbaren Bedarf qualifiziert. Damit wurde die Weiterbildungspolitik prozyklisch, da in Krisenzeiten die Unternehmen weniger einstellen und keinen aktuellen Bedarf äußern. In Abbildung 2 sind bei insgesamt abnehmenden Förderzahlen zyklische Zwischenhochs in den Wirtschaftsaufschwüngen 1998 - 2001 und 2005 - 2006 zu erkennen. Der Übergang zur Bedarfsorientierung traf insbesondere die längerfristigen Umschulungsmaßnahmen, die überproportional verringert wurden und heute nur noch ein Schattendasein fristen.2 Mit den neuen präventiven Qualifizierungsmaßnahmen des Job-AQTIV Gesetzes und des Wegebau-Programms wurden nur kleine Fallzahlen erreicht (IAB 2007). Die Förderbedingungen waren auch restriktiv gehalten, so dass die Betriebe kein großes Interesse entwickelten.3

1 Auch die berufliche Erstausbildung und die Hochschulausbildung bergen wegen ihrer langen Ausreifungszeiten immer die Gefahr, dass sich der Arbeitsmarkt anders als vorausgesagt entwickelt. Zur Verringerung von Fehlinvestitionen wird daher breites Grundlagenwissen mit unterschiedlichen Anwendungsmöglichkeiten vermittelt. 2 2007 gab es insgesamt 23.904 Eintritte in Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung mit Abschluss eines anerkannten Ausbildungsberufes (BiBB 2009a: 258) . 3 Erst in der Krise 2009 wurde das Wegebau-Programm für die Weiterbildung auch Qualifizierter, zum Teil in Anschluss an Kurzarbeit, geöffnet und begann stark zu expandieren.

Berufliche Weiterbildung in Deutschland 1969 bis 2009 Abbildung 2:

101

Teilnahme an beruflicher Weiterbildung, Deutschland gesamt

Die Geschichte der öffentlichen Förderung beruflicher Weiterbildung wäre unvollständig, wenn man nur die Arbeitsmarktpolitik betrachtet. Vor allem auf Druck des Handwerks, dessen Betriebsinhaber aus dem Kreis der Meister kommen, wurde 1996, also zwei Jahre nach Einstellung der Aufstiegsfortbildung durch die BA, ein Ersatzsystem geschaffen, dass an den Stipendiensystemen für Schüler, Auszubildende und Studenten anknüpft. Das ‚MeisterBAföG‘ unterstützt im Anschluss an eine abgeschlossene Berufsbildung die Teilnahme an Lehrgängen, die zu öffentlich-rechtlich geregelten Fortbildungsabschlüssen nach dem Berufsbildungsgesetz oder der Handwerksordnung bzw. gleichwertigen anerkannten Fortbildungsabschlüssen führen. Die Förderung ist bis zu 24 Monaten und bei Teilzeitmaßnahmen bis zu 48 Monaten möglich. Die in Abhängigkeit vom Einkommen und Vermögen gewährten Stipendien liegen leicht über den Sätzen für Studenten. Wegen des höheren angenommenen Privatinteresses wurde aber der Darlehensanteil auf 66 Prozent anstelle von 50 Prozent bei den Studenten angesetzt. Durch relativ großzügige Freibeträge beim Vermögen (rund 36.000€) und Nichtanrechnung des selbst genutzten Wohneigentums, sowie einem Teilerlass des Darlehens bei bestandener Prüfung (25 Prozent Erlass) und einem weiteren Erlass bei einer Existenzgründung und der Einstellung von Auszubildenden und Beschäftigten, wurde das ‚Meisterbafög‘ auch für Erwachsene, die schon Geld verdient hatten, attraktiv und zudem in die Nähe eines Existenzgründerprogramms gerückt. Die Förderangebote wurden deshalb auch gut angenommen. So stieg die Zahl der geförderten Anträge von 88.000 im Jahre 2002 auf 134.000 im Jahre 2007 (BiBB 2009a: 260 - 261).

102 3

Gerhard Bosch Evaluation der beruflichen Weiterbildung in der Arbeitsmarktpolitik

In den 70er Jahren wurden die zumeist hohen Wiedereingliederungsquoten der TeilnehmerInnen an beruflichen Weiterbildungsmaßnahmen als Beleg für die Effizienz dieser Maßnahmen gewertet (Hofbauer 1979). Danach wurden die Evaluationsmethoden verfeinert. Der Erfolgsmaßstab war nicht mehr die Höhe der Wiedereingliederungsquote, sondern ihre Höhe im Vergleich zu einer Kontrollgruppe mit gleichen Merkmalen und gleicher Ausgangssituation sowie der Verlauf der Wiedereingliederung. Bei den ersten Evaluationen mit Kontrollgruppen in den 80er Jahren, die zu positiven Ergebnissen kam, wurde die mangelnde Vergleichbarkeit mit den Kontrollgruppen sowie die unzureichende Untersuchung des Entwicklungsverlaufes beider Gruppen bemängelt (Kasperek/Koop 1991). Eine weitere Welle von verfeinerten Evaluationsstudien, die sich vor allem auf Daten des sozioökonomischen Panels stützte, kam zu sehr gemischten Ergebnissen. Überwiegend wurde kein oder sogar ein negativer und nur im Einzelnen ein positiver Wiedereingliederungseffekt festgestellt (Fitzenberger/Speckesser 2000). Als wichtigster Grund für eine neutrale bzw. negative Wirkung galt der sogenannte ‚Lock-in‘-Effekt. Damit ist die Tatsache gemeint, dass TeilnehmerInnen von Weiterbildungsmaßnahmen im Vergleich zu Personen in der Kontrollgruppe vorübergehend die Arbeitsplatzsuche einstellen und diesen Zeitverlust später nicht mehr aufholen können. Ohne Zweifel gibt es den ‚Lock-in‘-Effekt und er ist ja auch gewollt, da ansonsten die Weiterbildungsmaßnahme abgebrochen werden müsste. Vor allem bei abschlussbezogenen Maßnahmen mit längeren Ausreifungszeiten kann sich der Markt in der Zwischenzeit auch anders entwickeln, als BA und TeilnehmerInnen bei der Aufnahme der Weiterbildung erhofft haben, was den Übergang in eine neue qualifizierte Beschäftigung erschwert. Zudem kann der Markt durch eine nicht koordinierte Weiterbildungspolitik übersättigt werden. Schließlich bieten Maßnahmen mit zweifelhafter Qualität vermutlich weniger Arbeitsplatzchancen als die Aufnahme einer Tätigkeit mit der Chance zu innerbetrieblichem Lernen. Genau diese Argumente wurden zunehmend gegen Weiterbildung ins Feld geführt. Die Evaluationsstudien der 90er Jahre lieferten die politische Munition zur Einschränkung nicht nur des Niveaus der Weiterbildungsförderung, sondern auch zur überproportionalen Einschränkung der längerfristigen abschlussbezogenen Maßnahmen. Dabei wurde kaum beachtet, dass erstens die Datenbasis dieser Studien unzureichend war und wegen der geringen Fallzahlen keine ausreichende Differenzierung zwischen Maßnahmearten zuließ und zweitens der Untersuchungszeitraum oft nur sehr kurz war und Langfristeffekte nicht berücksichtigt wurden. Eine dritte Generation von Evaluationsuntersuchungen konnte auf einer erheblich verbesserten Datenbasis aufbauen (siehe im einzelnen hierzu Biewen et al. 2006: 371-374). Sie konnte wegen größerer Fallzahlen nicht nur genauer zwischen den unterschiedlichen Weiterbildungsmaßnahmen unterscheiden, sondern nahm auch Mittel- und Langfristwirkungen in den Blick. Diese Untersuchungen rehabilitierten die berufliche Weiterbildungspolitik der BA und dabei insbesondere die vielfach geschmähten abschlussbezogenen Umschulungsmaßnahmen. Während der Laufzeit der Maßnahmen wurde, was eigentlich trivial ist, ein ‚Lock-in‘-Effekt diagnostiziert. Mittel- (1-3 Jahre) und langfristig (4-6 Jahre) zeigten sich aber positive Beschäftigungs- und Einkommenseffekte gegenüber den Vergleichsgruppen. In Ostdeutschland fielen die ‚Lock-in‘-Effekte etwas stärker und die positiven Wirkungen etwas schwächer aus (Biewen et al. 2006: 380). Angesichts der Sondersituation nach dem

Berufliche Weiterbildung in Deutschland 1969 bis 2009

103

dortigen Strukturbruch, in der Arbeitsmarktpolitik auch eine Auffangrolle spielte, verwundert dies nicht weiter und kann sicherlich nicht für Weiterbildung im ‚Normalgeschäft‘ verallgemeinert werden. Fitzenberger (2008) stellt sich mit Blick auf seine Daten die Frage, ob die starke Reduktion von Förderung beruflicher Weiterbildung in Westdeutschland nicht ein Fehler gewesen sein könnte. Die letzte Evaluationswelle sollte die Erfahrungen mit den Hartz-Gesetzen auswerten. Obgleich die Evaluation der Förderung beruflicher Weiterbildung (FbW) nur einen kurzen Zeitraum (2003-2006) umfasste und somit langfristige Wirkungen ausblendet, stellt sie gerade bei den Umschulungsmaßnahmen einen besonders starken Integrationseffekt fest (Schneider et al. 2007: 13). Interessant sind auch die qualitativen Ergebnisse. Abbildung 3 zeigt, wie sehr sich die interne Geschäftspolitik der BA verändert hat. Die Orientierung am Bedarf der Arbeitslosen ist gegenüber vereinbarten Integrationszielen und Effizienzgesichtspunkten deutlich in den Hintergrund getreten. Die Steuerung der Weiterbildung hängt von der Qualität der jährlichen Bildungszielplanung ab, für die es aber nach allen Erfahrungen keine verlässliche Basis gibt. Die Kompetenz der BA bei der längerfristigen Planung von Weiterbildungsmaßnahmen in der Region schwindet, da sich regionale Netzwerke auflösen und die Kommunikation mit dem Bildungsträger ‚einseitiger‘ wird (Schneider et al. 2007: 9). Die Führungskräfte der BA sehen deshalb ihre Planung als zu ‚vage‘ an, um eine zielorientierte Steuerung des ‚Bildungsmarktes‘ zu bewirken (Deutscher Bundestag 2006: 91). Die Bildungsgutscheine überfordern die Arbeitslosen vielfach und haben nach Ansicht der Agenturen zu einer harten Kundenselektion beigetragen. Im Rechtskreis des SGB II war die „Einpassung von FbW in die neuen ARGE-Prozesse noch nicht abgeschlossen gewesen“ (Schneider et al. 2007: 10). Wegen des höheren Anteils an bildungsfernen Langzeitarbeitslosen „fällt die Ausrichtung von FbW in den ARGEn bei Integrationszielen, Effizienzgesichtspunkten und grundsätzlichen Wirkungserwartungen bislang weniger akzentuiert aus“ (Schneider et al.: 10). Diese etwas kryptische Formulierung soll andeuten, dass sich die ambitionierten Zielgrößen bei der Wiedereingliederung von Langzeitarbeitslosen nicht realisieren lassen.

104 Abbildung 3:

Gerhard Bosch Geschäftspolitische Ausrichtung der FbW-Politik, entnommen aus: Schneider et al. 2007:7

Mit der Evaluationsforschung der letzten 15 Jahre wurden durch die Schaffung neuer Datensätze „Träume eines Wissenschaftlers wahr“ (Fitzenberger 2008), genauer gesagt, Träume mikro-ökonomisch quantitativ forschender Wissenschaftler, die in einem sehr engen Zielrahmen forschen. Dies ist an überspitzten Schlussfolgerungen, wie der folgenden, abzulesen: „Selbst ein 100%iger Eingliederungserfolg in Verbindung mit einer Maßnahme ist wertlos, wenn sich ohne Maßnahme der gleiche Eingliederungserfolg einstellt“ (Schneider et al. 2007: 11). Die vielfältigen anderen möglichen Wirkungen gelten damit als belanglos. Weiterbildung kann etwa individuelles Selbstbewusstsein stabilisieren und damit die negativen psychisch-sozialen Wirkungen von Arbeitslosigkeit abwenden oder die Arbeitsbedingungen durch Abbau von Überforderungen mit positiven Folgen für die Gesundheit verbessern. Positive gesamtwirtschaftliche Wirkungen können im Abbau von Fachkräftemangel, der Erhöhung der Produktivität und der Förderung von Innovationen liegen. Es fehlt immer noch eine faire Würdigung des Beitrags der beruflichen Weiterbildung der BA zum Strukturwandel in Ostdeutschland, die immerhin einem beachtlichen Teil der dort Beschäftigten den Übergang in Tätigkeiten mit modernen Technologien und in einem völlig veränderten sozialen und rechtlichen Rahmen ermöglicht hat. Schließlich kann der gesellschaftliche Zusammenhalt durch einen Abbau von sozialer Ungleichheit gestärkt werden. Anzeichen für viele Mikro- und Makrowirkungen sind in anderen Untersuchungen

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festgestellt worden,4 ohne dass es allerdings bislang gelungen ist, sie mit gleicher Präzision wie die Wiedereingliederung zu messen.

4

Teilnahme an beruflicher Weiterbildung insgesamt

Die Förderung beruflicher Weiterbildung durch die Arbeitsmarktpolitik macht nur einen Teil der Weiterbildungsinvestitionen aus. Hinzu kommen noch Weiterbildungsinvestitionen aus anderen öffentlichen Quellen, wie das ‚MeisterBAföG‘, Eigenbeiträge der TeilnehmerInnen sowie die betrieblich finanzierte Weiterbildung. Der Anteil der Investitionen in Weiterbildung (einschließlich der Investitionen in die allgemeine Weiterbildung) am Bruttosozialprodukt ist in den letzten Jahren von 1,48 Prozent 1996 auf 1,05 Prozent 2006, also um fast 30 Prozent zurückgegangen (DIE 2008: 98). So überrascht es nicht, dass die Teilnehmerquote an beruflicher Weiterbildung in Deutschland im letzten Jahrzehnt rückläufig ist (Abbildung 4). Die größten Rückgänge entfielen auf die schon beschriebenen Einschnitte in die berufliche Bildung in der Arbeitsmarktpolitik. Aber auch die Unternehmen haben ihre Weiterbildungsinvestitionen teilweise deutlich zurückgefahren. Im europäischen Vergleich liegen die deutschen Unternehmen nur im Mittelfeld, mit hohen Rückständen gegenüber den skandinavischen Ländern, aber auch Frankreich, das mit seinem Weiterbildungsfonds beachtliche Teilnahmequoten erreicht (BIBB 2009b). In Deutschland sind die Differenzen zwischen der Weiterbildungsteilnahme nach Altersgruppen und Qualifikationsstufen deutlich ausgeprägter als etwa in Frankreich5 mit seinen Weiterbildungsfonds oder Schweden und Dänemark mit ihrer weiterbildungsorientierten Arbeitsmarktpolitik und ihren Stipendien für die allgemeine und berufliche Weiterbildung Erwachsener (Tabelle 1).

4 So geben in drei Befragungen von 1997, 2000 und 2003 jeweils deutlich mehr als drei Viertel aller Befragten an, nach einer beruflichen Bildung ihre Arbeit besser als vorher erledigen zu können (BMBF 2005: 102), ein möglicher Indikator für Stressabbau, Gesundheitsförderung und Produktivitätserhöhung. 5 In Frankreich brechen allerdings die Weiterbildungszahlen für die über 55jährigen aufgrund der immer noch üblichen Frühpensionierung stark ein. Die Beschäftigtenquote der 55-64-jährigen lag 2007 in Frankreich bei 38,3 Prozent, in Deutschland bei 51,5 Prozent und in Dänemark bei 58,6 Prozent (European Commission 2008: 232 ff) .

106

Gerhard Bosch

Abbildung 4: Schaubild 4: Teilnahme an beruflicher Weiterbildung 1979 – 2007. Basis: alle 19 – 64 Jährigen, Quelle: TNS Infratest Sozialforschung 2008: 12

Tabelle 1: Zu erwartende Teilnahmestunden an berufsbezogener Fort- und Weiterbildung im Alter zwischen 25 und 64 Jahren nach Alter und Bildungsabschluss, Quelle: OECD 2008: 445 25-34 Jahre 35-44 Jahre 45-54 Jahre 55-64 Jahre Unterhalb Sekundarstufe I

239

243

171

65

Sekundarstufe II

205

284

199

147

Tertiärer Bereich

282

379

362

207

Unterhalb Sekundarstufe I

245

118

75

12

Sekundarstufe II

324

227

123

18

Tertiärer Bereich

488

291

206

76

Unterhalb Sekundarstufe I

54

39

32

5

Deutschland Sekundarstufe II

162

120

87

22

Tertiärer Bereich

243

187

153

66

Dänemark

Frankreich

Berufliche Weiterbildung in Deutschland 1969 bis 2009

107

Das berufliche Bildungssystem bietet in Deutschland nicht nur Orientierungspunkte für individuelle Weiterbildungsinitiativen, wie wir beim ‚MeisterBAföG‘ sahen, sondern auch für die betriebliche Weiterbildung. So werden etwa in 40 Prozent der Betriebe das Ausbildungspersonal auch für Weiterbildung genutzt. In 68 Prozent der weiterbildenden Unternehmen, in denen Berufe ausgebildet werden, die Wahlqualifikationen beinhalten, werden die Inhalte der Zusatzqualifikationen auch für Weiterbildungszwecke genutzt (BIBB 2009b). Diese mehrfache Nutzung von Wahlqualifikationen zeigen Chancen der besseren Verzahnung der beruflichen Aus- und Weiterbildung, die künftig in der Neuordnung von Berufen stärkere Beachtung finden sollten.

5

Alternative Finanzierungskonzepte

Die starken Einschnitte in die öffentlich geförderte und betrieblich berufliche Weiterbildung sowie ihre zunehmende Selektivität ist aus mehreren Gründen nicht nachhaltig. Erstens ist der vorzeitige Rentenbezug erheblich erschwert und verteuert worden. Die Voraussetzungen, dass Ältere auch tatsächlich länger arbeiten können, sind allerdings noch nicht geschaffen worden. Die weiterhin geringen Beschäftigungsquoten der geringer qualifizierten Älteren zeigen, dass die Rentenreformen bildungspolitisch unterfüttert werden müssen, damit sie nicht nur die Arbeitslosigkeit Älterer erhöhen (Bosch/Schief 2009). Zweitens muss weiterhin eine große Zahl von Zuwanderern integriert werden. Viele von ihnen haben keine oder eine in Deutschland nicht anerkannte Berufsbildung. Eine berufliche Weiterbildung in Verbindung mit einem erleichterten Anerkennungsverfahren kann berufliche Arbeitsmärkte für sie öffnen und ein Abgleiten in Langzeitarbeitslosigkeit verhindern. Drittens differenzieren sich Bildungs- und Erwerbsbiographien in Deutschland aus. Nicht jeder nimmt den gradlinigen Weg durchs Bildungssystem. Zudem wurden Patchwork-Karrieren mit geringen Bildungschancen auf dem Arbeitsmarkt6 mit der Deregulierung von Beschäftigungsformen, vor allem der Leiharbeit sowie der Mini- und Midijobs, zielgerichtet gefördert. Wer mehr externe Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt in einer Wissensgesellschaft ohne ihre negativen Begleiterscheinungen, wie Fachkräftemangel und wachsende soziale Polarisierung, will, muss die Beschäftigungsfähigkeit dieser mobilen Arbeitskräfte durch zusätzliche Lernangebote stärken. Zur Finanzierung der beruflichen Weiterbildung Erwachsener bieten sich folgende Optionen an, die zum Teil in anderen Ländern schon praktiziert werden: ƒ

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Die von der Bundesregierung eingesetzte Expertenkommission „Finanzierung lebenslangen Lernens“ (2004) hat ein ‚ErwachsenenBAföG‘ vorgeschlagen. Im Anschluss an das schwedische und dänische Vorbild sollen Maßnahmekosten und Lebensunterhalt beim Nachholen schulischer und beruflicher Abschlüsse von Erwachsenen bis zum 50. Lebensjahr bei Bedarf durch Zuschüsse und Darlehen gefördert werden. In der Arbeitsmarktpolitik sollten abschlussbezogene Weiterbildungen für Personen ohne Berufsausbildung und Personen, die in ihrem Beruf nicht mehr tätig sein können,

6 Im Vergleich zu einem unbefristet Vollzeitbeschäftigten lieget die Chance einer Teilnahme an einer Weiterbildung für einen befristet Vollzeitbeschäftigten bei 0,82, einen LeiharbeitnehmerInnen bei 0,61 und bei einem gering Beschäftigten sogar nur bei 0,17 (Brehmer/Seifert 2007: 35).

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Gerhard Bosch wieder als Instrument der nachhaltigen Integration in den Arbeitsmarkt genutzt werden. Jedem Beschäftigten wird ein bestimmtes Kontingent an Weiterbildungsstunden zur Verfügung gestellt, das er oder sie flexibel im Erwerbsverlauf abrufen können. Zur Finanzierung wird die BA zu einer Arbeitsversicherung für Beschäftigte ausgebaut, die für diese Bildungskonten einen Teil der Beiträge reserviert.7 Die Unterinvestition in betriebliche Weiterbildung wird durch eine Fondsfinanzierung, wie wir sie in vielen europäischen Ländern finden (CEDEFOP 2008) verringert. Solche Fonds können flächendeckend oder für besondere Branchen oder Beschäftigungsgruppen, wie z.B. LeiharbeitnehmerInnen, eingerichtet werden. Ein Fonds konnte auch die Finanzierung der innerbetrieblichen Weiterbildungsprogramme der BA übernehmen, die eigentlich wegen des hohen betrieblichen Eigeninteresses systemfremd und immer in der Gefahr sind, betriebliche Investitionen zu ersetzen.

Diese Instrumente können auch kombiniert werden. So hat man in Frankreich 2004 für alle Beschäftigten einen individuellen Weiterbildungsanspruch von 20 Stunden pro Jahr geschaffen, der auf 120 Stunden kumuliert werden kann. Gleichzeitig wurde die Fondsumlage für betriebliche und individuell initiierte Maßnahmen von 1,5 auf 1,6 Prozent der Bruttolohnsumme erhöht. Für LeiharbeitnehmerInnen und befristet Beschäftigte müssen wegen des höheren Arbeitsplatzrisikos 2 Prozent abgeführt werden. Die neuen individuellen Rechte wurden erstaunlich schnell genutzt. 2005 wurden die Stunden von 29.000 Personen beansprucht, 2006 von 166.000 und 2007 schon von 400.000. Für 2008 wurde mit 500.000 gerechnet (La Cour des Comptes 2008: 39). Für Deutschland bietet sich eine Kombination von Maßnahmen an, die sowohl die individuelle Weiterbildungsinitiative fördern, als auch die langfristige Beschäftigungsfähigkeit Arbeitsloser und von Arbeitslosigkeit Bedrohter im Strukturwandel fördert. So ließe sich ein ErwachsenBAföG ohne große technische und juristische Probleme in die schon bestehenden Systeme des Schüler-, Lehrlings-, Studenten- und MeisterBAföGs integrieren. In der Arbeitsmarktpolitik ist ein Umsteuern sicherlich schwieriger. Man könnte zwar in der BA ein eigenes Umschulungsbudget außerhalb der jetzigen Steuerungslogik verankern. Gleichzeitig müsste man aber die Mitarbeiter, denen in den letzten Jahren ‚Neinsagekompetenzen gegenüber den Kunden‘ (Schneider et al. 2007: 8) antrainiert wurden, wieder vom Wert längerfristiger Weiterbildungsmaßnahmen zu überzeugen und ‚Jasagekompetenzen‘ entwickeln.

6

Schlußfolgerungen

Mit dem Arbeitsförderungsgesetz von 1969 wurde ein Anspruch auf berufliche Weiterbildung verankert, der seiner Zeit weit voraus war. Es wurde aber versäumt, dafür adäquate Finanzierungsstrukturen zu entwickeln. Dieser Webfehler sollte in den folgenden Jahren auf Kosten der Weiterbildung gehen. Im Zuge der mehrfachen Haushaltskonsolidierungen wurde die Förderung beruflicher Weiterbildung sukzessive auf Arbeitslose eingeschränkt und schließlich auf eine rein kurzfristige Vermittlungshilfe reduziert. Die teilweise negati7 Dieser Vorschlag wird vor allem in der SPD diskutiert, die eine Arbeitsgruppe zur ‚Arbeitsversicherung‘ eingerichtet hat.

Berufliche Weiterbildung in Deutschland 1969 bis 2009

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ven Evaluierungsergebnisse der 1990er Jahre dienten als willkommene Rechtfertigung für Budgetkürzungen. Die neueren Evaluierungen haben vor allem längerfristige Weiterbildungen wieder rehabilitiert und zeigen positive Wiedereingliederungswirkungen. Bedenklich ist die zunehmende Verengung der Evaluationskriterien, die sich auch in einer wertenden Sprache ausdrücken. Weiterbildung wird mit dem Begriff ‚Lock-in‘ unter den Generalverdacht gestellt, von der Arbeitsplatzsuche abzuhalten. Künftige Evaluationen sollten über die Untersuchung der Wiedereingliederung auch die vielfältigen sonstigen sozialen und ökonomischen Wirkungen von beruflicher Weiterbildung in den Blick nehmen. Vor allem fehlen Untersuchungen über die Programmplanung vor Ort, ohne die man die Qualität von Weiterbildungsmaßnahmen nicht verbessern kann. Obgleich der Bedarf an Weiterbildung mit der Heraufsetzung des Rentenalters, der Zuwanderung und der Prekarisierung der Beschäftigung gestiegen ist, sind die Weiterbildungsinvestitionen gesunken. Berufliche Weiterbildung lässt sich sicherlich nicht mehr, wie bei Verabschiedung des AFG, über eine Finanzierungsquelle unterstützen. Von daher ist eine neue Kombination unterschiedlicher Finanzierungsmechanismen anzustreben, die Stipendien für Erwachsene, Umschulungen über die Arbeitsmarktpolitik, Fonds für die betriebliche Weiterbildung und individuelle Ziehungsrechte einschließen kann. Schließlich sollte man wegen der sogar wachsenden Bedeutung beruflicher Arbeitsmärkte durch die Förderung von abschlussbezogenen Maßnahmen die Einheit zwischen Berufsbildung- und Arbeitsmarktpolitik wieder herstellen, was allerdings auch Reformen im Berufsbildungssystem, wie etwa die Entwicklung zusätzlicher Wahl- oder Weiterbildungsmodule, erfordert.

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Peer Rosenthal

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Arbeitslosenversicherung im Wandel

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Einleitung

Die Arbeitslosenversicherung (ALV) ist die jüngste der klassischen Sozialversicherungen. Sie wurde erst 1927 nach intensiven politischen Auseinandersetzungen verabschiedet und vereint die Lohnersatzleistungen im Falle von Arbeitslosigkeit und die Maßnahmen der Arbeitsförderung. Mit der Gründung der Bundesrepublik wurde auf die Grundpfeiler des Arbeitslosenversicherungssystems der Weimarer Republik zurückgegriffen. Nichtsdestotrotz stellt die Geschichte der ALV keine lineare Entwicklung dar. Sie ist vielmehr davon geprägt, welche Vorstellungen für eine Politik der Arbeitslosigkeit und des Arbeitsmarktes bei den Entscheidungsträgern handlungsleitend (gewesen) sind. Im vorliegenden Beitrag werden zunächst die Policy-Prinzipien der ALV beschrieben. Daran anschließend werden Ziele und Funktionen der ALV im Spannungsverhältnis zwischen normativ begründeten sozialpolitischen Zielsetzungen und ökonomischen Effizienzkriterien dargelegt. In Kapitel vier wird die Geschichte einer Versicherung im Wandel am Beispiel der originären Versicherungsleistung Arbeitslosengeld (ALG) nachgezeichnet. Der Bedeutungsverlust der ALV steht im Mittelpunkt des fünften Abschnitts: es werden Gründe für diese Entwicklung beschrieben sowie auf eine fortschreitende Dualisierung des Arbeitslosensicherungssystems in Deutschland hingewiesen. Vor diesem Hintergrund wird abschließend der Frage nachgegangen, ob das Versicherungssystem mit dem neuen arbeitsmarktpolitischen Paradigma der Aktivierung überhaupt vereinbar ist.

2

Die Policy-Prinzipien der Arbeitslosenversicherung im konservativkorporatistischen Wohlfahrtsstaatsregime1

2.1 Soziales Risiko Arbeitslosigkeit im Versicherungssystem Die den deutschen Sozialstaat kennzeichnende Dominanz des Versicherungssystems findet sich in der Absicherung des „sozialen Risikos“ von Arbeitslosigkeit durch die Institution der ALV wieder. Diese institutionalisiert den politischen Risikoausgleich zur Reduzierung von Unsicherheiten (Nullmeier/Rüb 1993: 84). Kennzeichen einer Versicherung ist es, durch die Zusammenfassung eines Personenkreises eine Sicherung durch Ersatz des Schadens sowie eine Garantie auf Erfüllung der eigentlichen Versicherungsfunktion für den Fall zukünftiger und ungewisser Ereignisse herzustellen (Sell 1998: 534). Die Versicherung des sozialen Risikos Arbeitslosigkeit ist 1 Unter Policy-Pinzipien wird darauf rekurriert, dass Entwicklungen der Sozialpolitik „in allen Situationen durch Mischungen vielfältiger und unterschiedlicher Ziele, Interessen, Normen und Wissensbestände geprägt“ (Nullmeier/Rüb 1993: 93) und damit im Kern politisch bestimmt sind.

Arbeitslosenversicherung im Wandel

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komplex, da die Ursachen von Arbeitslosigkeit immer eine Mischung aus individuellen und sozialen, angebots- und nachfrageseitigen sowie endogenen und exogenen Faktoren darstellen (Schmid 2002: 334), so dass sich Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadenshöhe kaum mathematisch berechnen und versicherungstechnisch kalkulieren lassen (Bäcker et al. 2008: 522). Die Sozialversicherung zielt darauf ab, durch die Gewährleistung sozialer Rechte, soziale Risiken zu kompensieren und diese Kompensationsleistungen staatlicherseits zu garantieren. So ist der Staat zur Finanzierung von Leistungen in Form von Darlehen bzw. Zuschüssen verpflichtet, wenn die Einnahmen und Rücklagen der Arbeitsverwaltung nicht ausreichen (Defizitdeckung). Der durch die ALV institutionalisierte Risikoausgleich hat zur Grundlage, dass bestimmte Tatbestände als risikobehaftet anerkannt, entsprechende Lebenslagen normiert und mit einem Anspruch auf Sozialleistungen verknüpft werden. Daraus ergibt sich, dass die politische Interventionsebene nicht erst bei Schadenseintritt ansetzt, sondern einen Personenkreis festlegt, für den die Möglichkeit des Eintritts von Schäden identifiziert wird (Nullmeier/Rüb 1993: 86). Dies bedingt, neben der obligatorischen Versicherung einer festgelegten Gruppe, eine Umlagefinanzierung über einkommensproportionale Beiträge (Rüb 2003: 317). So wird eine Gemeinschaft von Versicherten konstruiert und damit ein Risikoausgleich nach dem Solidarprinzip implementiert. Vor diesem Hintergrund wird der Unterschied zwischen einem politisch gewollten und sozialrechtlich verfassten Risikoausgleich in Form der Sozialversicherung im Vergleich zu einer privatrechtlich organisierten Versicherung deutlich. Im Mittelpunkt der Privatversicherung steht eine auf dem Kosten-Nutzen-Kalkül gründende individualisierte Absicherung gegen ein berechenbares und einzelwirtschaftlich kalkulierbares Risiko. Die Versicherungspflicht entfällt. Die Grundlage bildet ein privatrechtlicher Vertrag, durch den ein zweiseitiges verpflichtendes Rechtsverhältnis auf dem Versicherungsmarkt geschlossen wird. Es werden risikoabhängige Prämien festgeschrieben, die allein der Versicherte zu tragen hat, und im Schadensfall wird ein wertentsprechender Schadensersatz bereitgestellt (Nullmeier/Rüb 1993: 77 ff.).

2.2 Lohnarbeitszentrierung und Lebensstandardsicherung als Charakteristika im internationalen Vergleich Die einflussreichste Typologie vergleichender Wohlfahrtsstaatsforschung stellt das Regimemodell von Esping-Andersen (1990) unter Verwendung des Ansatzes der sozialen Staatsbürgerrechte (Marshall 1992 [1949]: 33 ff.) dar. Esping-Andersen bildet anhand von zentralen Unterscheidungskriterien ab, inwieweit erstens durch staatliche Politik der Warencharakter der Arbeitskraft eingeschränkt und die Marktabhängigkeit der BürgerInnen reduziert (De-Kommodifizierung), zweitens soziale Ungleichheit strukturiert (Stratifizierung) und drittens die Wohlfahrtsproduktion zwischen Staat, Markt und Familie organisiert wird. Darauf gründend unterscheidet er drei Typen von Wohlfahrtsstaatsregimen: das liberale, das konservativ-korporatistische und das sozialdemokratische (siehe Sesselmeier/Somaggio in diesem Band). Das deutsche Sozialmodell wird dem Typ des konservativ-korporatistischen Regimes zugeordnet. Daraus ergeben sich spezifische Charakteristika hinsichtlich der Organisation sozialer Sicherung, der sozialen Ungleichheit und der Formen gesellschaftlicher Integration

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und Ausgrenzung. Die Integration in die Sozialversicherungen ist an das Beschäftigungsverhältnis geknüpft, so dass von einem lohnarbeitszentrierten Modell gesprochen wird (Nullmeier/Vobruba 1994: 12). Folglich wird soziale Sicherung selektiv organisiert, die ALV stellt kein System der universellen Sicherung bzw. Staatsbürgerversorgung dar. Die Höhe der Leistungen folgt dem Ziel der Lebensstandardsicherung, indem sie sich am vorherigen Einkommen orientiert. Dadurch findet eine Reproduktion der auf dem Arbeitsmarkt bestehenden Lohnungleichheiten statt, bestehende Statusdifferenzen werden konserviert und der Stratifizierungrad ist dementsprechend groß.

2.3 Reziprozitätsnormen in der Arbeitslosenversicherung Grundlegendes Gerechtigkeitsprinzip des deutschen Sozialstaats und damit auch der ALV ist die Leistungsgerechtigkeit (siehe Gronbach in diesem Band). Dies bedeutet, dass sich die in das Sozialversicherungssystem eingelassenen Verteilungsstandards auf die im Arbeitsmarkt legitimierte Verteilungslogik beziehen. Grundlage für diese Leistungsvorstellung bildet ein Dreischritt, wonach Qualifikationsniveaus in entsprechende berufliche Positionierungen überführt würden, diese ein entsprechendes Einkommen nach sich ziehen würden und schließlich ein bestimmtes Niveau sozialstaatlicher Absicherung begründen (Nullmeier/Vobruba 1994: 32). Anders gesagt: Auf der Basis erreichter Marktpositionen ergeben sich Ansprüche an das Versicherungssystem. Diese Orientierung ist in der Bevölkerung stark verankert und scheint grundlegend für die gesellschaftliche Akzeptanz der ALV (siehe Nüchter/Schmid in diesem Band). Die Leistungsgerechtigkeit ist durch das Äquivalenzprinzip institutionalisiert. Dies zeigt sich in einkommensproportionalen Beiträgen, die paritätisch von ArbeitnehmerInnen und Arbeitgebern erbracht und in Bezug auf das Arbeitnehmerbrutto bis zur Beitragsbemessungsgrenze erhoben werden. Für die Höhe des Arbeitslosengeldes ist wiederum die Höhe der geleisteten Beiträge ausschlaggebend, zur Berechnung wird das vorherige Nettoeinkommen herangezogen.2 Der Anspruchszeitraum auf ALG richtet sich nach der Dauer der versicherungspflichtigen Beschäftigung und wurde später durch die Berücksichtigung des Lebensalters der Arbeitslosen ergänzt. Es besteht also ein Entsprechungsverhältnis zwischen erbrachten Beiträgen und den zu erwartenden Leistungen. Infolgedessen ist die interpersonelle Umverteilungsfunktion der ALV begrenzt. Um Ansprüche auf ALG geltend machen zu können, müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein. So muss innerhalb eines definierten Zeitraums (Rahmenfrist) für eine festgelegte Dauer (Anwartschaftszeit) einer versicherungspflichtigen Beschäftigung nachgegangen worden sein. Dementsprechend drohen bei Abweichungen vom Normalarbeitsverhältnis (Bäcker et al. 2008: 434) Sicherungsdefizite. Darüber hinaus ist die Zahlung von ALG an weitere Anspruchskriterien geknüpft, die unter den Begriff der Reziprozitätsnormen gefasst werden können. Diese Normen gründen auf innergesellschaftlichen Aushandlungsprozessen und haben eine Koppelung von Rech2 Das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit wird im Fall von Arbeitslosen mit Kindern durch das Bedarfsprinzip ergänzt, da in diesen Fällen ein höheres Arbeitslosengeld gezahlt wird (siehe Gronbach in diesem Band; Nullmeier/Vobruba 1994: 25). Kritisch zu dem Verhältnis Leistungsgerechtigkeit auf der einen und einkommensproportionale Beiträge, Beitragsbemessungsgrenze und Beitragsfreiheit anderer Einkommensarten jenseits der Erwerbsarbeit auf der anderen Seite vergleiche Nullmeier/Vobruba (1994: 27).

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ten und Pflichten zum Ergebnis. Die Pflichten können die auf sozialen Rechten basierenden Ansprüche relativieren (Lessenich/Mau 2005: 261 ff.). Reziprozität kann als Überbegriff für Normen verstanden werden, die wechselseitige Verpflichtungsbeziehungen zwischen unterstützendem Kollektiv und unterstützungsbedürftigem Individuum begründen. Grundsätzlich beinhaltet jedes Leistungssystem individuelle Pflichten zur Vermeidung, Reduzierung oder Beendigung von Leistungen. Es hängt allerdings von der konkreten Ausgestaltung ab, in welchem Umfang die Pflichten normiert, kontrolliert und durchgesetzt werden (Brettschneider 2007: 114 ff.). Institutionelle Umsetzung erfahren die Reziprozitätsnormen in der ALV durch die Definition der Arbeitslosigkeit, der Arbeitslosmeldung, der Verfügbarkeit, der Zumutbarkeit und der Sanktionsregelungen. Solche festgelegten „Reziprozitätspolitiken“ (Lessenich/Mau 2005: 271) sind demnach: ƒ ƒ ƒ

ƒ

ƒ

Arbeitslosigkeit: Per Gesetz wird der Status der Arbeitslosigkeit definiert. Dazu zählen Beschäftigungslosigkeit, Eigenbemühungen und Verfügbarkeit. Arbeitslosigkeit ist Anspruchsvoraussetzung für den Bezug von ALG. Arbeitslosmeldung: Hier wird bestimmt, wann eine Arbeitslosmeldung erfolgen oder erneuert werden muss und wie allgemeine Meldepflichten geregelt sind. Verfügbarkeit: Durch die Verfügbarkeit wird bestimmt, in welchem zeitlichen Umfang der Arbeitslose für eine versicherungspflichtige Beschäftigung zur Verfügung stehen muss, Vorschlägen der Arbeitsverwaltung zur Eingliederung Folge leisten kann oder der Aufnahme einer Beschäftigung gesundheitliche Gründe entgegenstehen. Zumutbarkeit: In diesem Zusammenhang spielen Regelungen zur Aufgabe eines bestehenden Arbeitsverhältnisses eine Rolle. Darüber hinaus legen die Zumutbarkeitskriterien fest, ob im Falle von Arbeits- oder Maßnahmeablehnung bzw. Abbruch das Verhalten der Arbeitslosen gerechtfertigt ist. Hinsichtlich der Aufnahme einer neuen Beschäftigung sind Bestimmungen bzgl. Qualifikation, Arbeitsentgelt und Mobilitätsanforderungen von besonderer Bedeutung. Sperrzeiten: Sperrzeitenregelungen legen versicherungswidriges Verhalten fest, das mit einer Sperrzeit von bestimmter Dauer zu belegen ist. Während der Sperrzeit ruht der Anspruch auf ALG. Zudem wird bestimmt, ob die Sperrzeit auf die Anspruchsdauer angerechnet wird.

Zusammenfassend und in Bezugnahme auf die Kriterien Esping-Andersens lässt sich festhalten, dass die de-kommodifizierende Wirkung der deutschen ALV sozial selektiv organisiert ist und kein gleiches Recht auf De-Kommodifizierung für alle gilt. Es muss vielmehr von einem asymmetrischen De-Kommodifizierungssystem gesprochen werden, in dem die Zugänge einer mit diesbezüglichen sozialen Rechten versehenen Gruppe immer auch den Ausschluss einer anderen Gruppe begründen (Lessenich 1998: 97). Darüber hinaus ist durch Beitragsbemessungsgrenze und Äquivalenzprinzip die interpersonelle Umverteilungswirkung der ALV begrenzt und die Stratifizierungswirkung hoch. Dagegen sichert das Versicherungsprinzip individuelle und damit nicht bedürftigkeitsgeprüfte Ansprüche, wenn aufgestellte Reziprozitätserwartungen erfüllt werden.

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Peer Rosenthal Ziele und Funktionen der Arbeitslosenversicherung

Neubauer und Bäcker (2003: 234) identifizieren sieben Ziele der ALV. Erstens zielt sie auf die finanzielle und soziale Absicherung von Versicherten ab, wodurch ein starkes Absinken des Lebensstandards vermieden werden soll, und folgt damit einer sozialpolitischen Funktionslogik. Zweitens reduziert die materielle Absicherung den Kommodifizierungsgrad, stellt Zeit für die Suche nach einem neuen Arbeitsplatz zur Verfügung und verringert damit den Druck auf die Arbeitslosen, jede Beschäftigung annehmen zu müssen. Infolgedessen ist eine höhere Passgenauigkeit (matching) zwischen Arbeitskräfteangebot und Arbeitskräftenachfrage zu erwarten und damit eine wichtige arbeitsmarktpolitische Funktion gewährleistet. Eng damit verbunden ist drittens die Sicherung des sozialen Friedens durch die Existenz eines gesellschaftlich akzeptierten Sicherungssystems im Falle von Massenarbeitslosigkeit. Weitergehend wird durch die de-kommodifizierende Wirkung der ALV der Druck auf bestehende Lohn- und Tarifstandards reduziert. Dieses Ziel lässt sich der gesellschaftlichen Funktionsebene zuordnen. Viertens ist die konjunkturpolitische Funktion zu nennen, da durch die Lohnersatzleistungen Einkommensverluste infolge von Arbeitslosigkeit teilweise kompensiert werden und die gesamtwirtschaftliche Nachfrage gestützt wird. Fünftens fördert die Existenz einer ALV die Risikobereitschaft von ArbeitnehmerInnen bei Weiterbildungs- und Berufsentscheidungen. Dies ist insbesondere in Zeiten wechselhafter wirtschaftlicher und struktureller Rahmenbedingungen von Bedeutung, so dass letztlich von einer wachstums- und insbesondere strukturpolitischen Funktion gesprochen werden kann. Sechstens sorgt eine bundesweit organisierte ALV dafür, dass die regional variierenden Arbeitslosenquoten nicht zu einer unverhältnismäßig hohen Belastung der besonders betroffenen Gebietskörperschaften führen, weil eben jene Regionen entlastet werden, die infolge des Strukturwandels überproportional hohe Arbeitslosenquoten aufweisen. Damit erfüllt die ALV eine bundesweite Ausgleichsfunktion. Siebtens führt eine entgeltbezogene ALV dazu, dass unterschiedlich verteilte Arbeitslosigkeitsrisiken von allen Versicherten getragen werden, da ein Ausgleich zwischen Beschäftigtengruppen mit hohem und niedrigem Arbeitslosigkeitsrisiko vorgenommen wird. Diese Zielsetzung ist der verteilungspolitischen Funktion zuzuordnen. Die Gewichtung und Bewertung der Ziele und Funktionen der ALV sind immer wieder Bestandteil politischer und wissenschaftlicher Diskussionen und bewegen sich dabei im Spannungsverhältnis zwischen einer (normativ) sozialpolitischen Fokussierung auf der einen und der Betonung ökonomischer Effizienzkriterien auf der anderen Seite (siehe Bothfeld/Kremer in diesem Band). So wird auf der Basis von Effizienzüberlegungen argumentiert, dass die Lohnersatzleistungen der ALV den Reservationslohn, also den Lohn, zu dem Arbeitslose bereit sind zu arbeiten, erhöhen würden. Darüber hinaus würde der Erhalt von ALG, insbesondere wenn es lange gezahlt wird, zu einer verminderten Suchintensität führen. Beides habe zur Konsequenz, dass Arbeitslose länger als notwendig arbeitslos blieben und die Arbeitslosigkeit steigen würde. Darüber hinaus wird argumentiert, dass durch die ALV „moral hazard“ dahin gehend gefördert werde, dass entweder anspruchsberechtigte Beschäftigte ihr Arbeitsverhältnis verlassen oder aber Arbeitgeber schneller zu Entlassungen neigen würden. Damit werde das Sicherungssystem als Flexibilitätspuffer ausgenutzt. Folglich wird deshalb die Höhe und Dauer von Lohnersatzleistungen der ALV kritisiert und auf eine Verschärfung der Reziprozitätsnormen (Verfügbarkeit, Zumutbarkeit, Sanktionen) abgehoben. Als

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problemadäquate Lösung wird eine weitere Flexibilisierung des Arbeitsmarktes empfohlen (Klär/Fritsche 2008: 453). Dahingegen betonen Klär und Fritsche (2008: 459 ff.), dass die empirische Evidenz derlei Forderungen gering sei und warnen davor, die soziale und ökonomische Schlechterstellung von Arbeitslosen auf der Basis von Argumenten, die sich auf ökonomische Effizienzgewinne berufen, weiter voranzutreiben. Unter Effizienzgesichtspunkten wird auch immer wieder die Umwandlung der ALV in eine an privatwirtschaftlichen Prinzipien orientierte Versicherung diskutiert. Sowohl gegen eine freiwillige als auch gegen eine obligatorische Privatversicherung spricht, dass in Phasen hoher Arbeitslosigkeit Marktversagen droht und unvollkommene Kreditmärkte zu Sicherungslücken in den Fällen führen würden, in denen das angesparte Kapital für die Dauer der Arbeitslosigkeit nicht ausreicht. Demnach erscheint die staatliche der privatwirtschaftlich organisierten Versicherung auch aus Effizienzgründen überlegen zu sein (Sesselmeier et al. 2006: 3).

4

Policy-Prinzipien und Reziprozitätsnormen beim Arbeitslosengeld im Zeitverlauf

4.1 Strukturentscheidungen und Ausweitung der Versicherungspflicht (1949-1969) Ziel der Gesetzgebung zur Absicherung gegen Arbeitslosigkeit war in den 1950er Jahren die Vereinheitlichung der nach dem Krieg bestehenden länderspezifischen Regelungen von Arbeitslosenversicherung und Arbeitslosenfürsorge. Dabei wurde auf das dreistufige System von Unterstützungsleistungen zurückgegriffen, das mit der Gründung der ALV durch das ‚Gesetz über die Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung‘ (AVAVG) 1927 gebildet wurde. Diese „Dreifaltigkeit“ (Leibfried et al. 1985: 157) bestand aus den Versicherungsleistungen ALG und der bedürftigkeitsgeprüften, aber auf das vorherige Einkommen bezogenen Arbeitslosenhilfe (ALHI) sowie dem kommunal verwalteten Fürsorgesystem. Die grundlegenden Prinzipien der ALV waren gelegt, im Bereich der Reziprozität kam es teilweise zu Verbesserungen. Der Versichertenkreis wurde um HeimarbeiterInnen, HausgehilfInnen und Lehrlinge (Schmuhl 2003: 445), ab 1966 auch um alle Angestellten erweitert (Schmid/Oschmiansky 2006: 350). Damit wurde der selektive Charakter des Versicherungssystems reduziert. Die Höhe der Leistung sollte 40 Prozent des Bruttolohns nicht unterschreiten und wurde auch mit der Einführung des AFGs kaum verändert (Schmid/Oschmiansky 2007a: 251 f.).3 Auch die Leistungsdauer blieb nahezu unverändert. In Abhängigkeit von der Vorbeschäftigungszeit wurde nun ALG für elf bis maximal 45 Wochen ausgezahlt (§ 106 AFG). Im Bereich der Reziprozitätsnormen wurde die Anwartschaftszeit für den Bezug von ALG auf 26 Wochen innerhalb der Rahmenfrist von zwei Jahren normiert (Schmid/ Oschmiansky 2007a: 253 f.). Die Möglichkeit, die Gewährung von ALG von der Teilnahme an gemeinnütziger Arbeit abhängig zu machen (sog. Pflichtarbeit), wurde abgeschafft

3

Die beitragsabhängige Lohnersatzleitung wurde durch einen Familienzuschlag ergänzt.

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(Schmid et al. 2005: 291).4 Als zumutbar galt bis zum AFG jede Form der Beschäftigung, danach nur noch jede „zumutbare“ wobei auf eine gesetzliche Konkretisierung des Zumutbarkeitsbegriffs verzichtet wurde (§ 103 AFG). Sanktionen konnten in Form von Sperrfristen zwischen sechs Tagen (Meldeversäumnisse) und vier Wochen (Auflösung eines Arbeitsverhältnisses, Ablehnung von zumutbarer Arbeit, Ablehnung oder Abbruch einer Maßnahme) verhängt werden, wobei eine wiederholte Sperrfrist von vier Wochen zum Erlöschen des Leistungsanspruchs führte (§ 111 AFG).

4.2 Zwischen Leistungsausweitungen und ersten Verschärfungen (1970-1990) Die Phase von 1970 bis zur Wiedervereinigung ist durch zahlreiche leistungsrechtliche Veränderungen im AFG geprägt, die teilweise Wellenbewegungen zwischen Ausweitung und Verschärfungen beim Schutz gegen Arbeitslosigkeit in Zeiten erstmals auftretender Massenarbeitslosigkeit glichen und daher auch als „stop-and-go-Politik“ (Schmid/ Oschmiansky 2005: 262) bezeichnet werden. In den Jahren 1974/75 wurden zunächst Leistungsverbesserungen eingeführt, indem das ALG dynamisiert und auf 68 Prozent festgesetzt wurde5 (Schmid/Oschmiansky 2008: 322), bevor 1983 Leistungskürzungen erfolgten und das ALG für Kinderlose von 68 auf 63 Prozent reduziert und die Sätze für nach der Ausbildung arbeitslos gewordene Jugendliche auf 50 statt wie vorher 75 Prozent des erzielbaren Facharbeiterlohnes reduziert wurde (Steffen 2008: 7), was eine Stärkung des Äquivalenzprinzips bedeutete. Einem permanenten Wandel unterlag in dieser Phase auch die Höchstbezugsdauer: Seit 1986 wurde hierbei auch das Lebensalter der Arbeitslosen berücksichtigt (Abkehr vom Äquivalenzprinzip). Sie wurde schließlich auf bis zu 32 Monate ausgedehnt (Steffen 2008: 7 f.; vgl. die Chronik im Anhang). Die Verfügbarkeitsbestimmungen wurden dahingehend verschärft, dass nur noch diejenigen Arbeitslosen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung standen, die das Arbeitsamt täglich aufsuchen konnten und die für das Amt täglich erreichbar waren. Mit dem Arbeitsförderungs-Konsolidierungsgesetz (AFKG) wurden 1982 die Anwartschaftsregelungen verschlechtert, indem nun zwölf Monate beitragspflichtige Beschäftigung innerhalb der Rahmenfrist von drei Jahren nachgewiesen werden musste - eine Verschärfung, die hinter die Fassung des AVAVG von 1927 zurückfiel und schließlich wieder rückgängig gemacht wurde (Schmid/Oschmiansky 2005: 263 f.). Bei den Reziprozitätsnormen wurde die gesetzliche Unbestimmtheit der Zumutbarkeit erstmals dahingehend konkretisiert, dass eine Beschäftigung auch dann als zumutbar galt, wenn sie nicht der bisherigen beruflichen Tätigkeit entsprach, vom Wohnort weiter als bislang entfernt war, ungünstigere Arbeitsbedingungen aufwies und schlechter entlohnt wurde. Dies mündete in den Runderlass 230/1978 der Bundesanstalt für Arbeit, durch den die Zumutbarkeit bzgl. Pendel- und Mobilitätsbereitschaft, veränderter Arbeitsbedingungen hinsichtlich Einkommen und Arbeitszeit und der Übernahme von Tätigkeiten geringerer 4 Darüber hinaus wurde die Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt als Leistungsvoraussetzung festgelegt. Der Anspruch auf ALG setzte voraus, dass Arbeitslosigkeit vorlag, der Antragsteller der Arbeitsvermittlung zur Verfügung stand und die Anwartschaftszeit erfüllt war (Schmid/Oschmiansky 2006: 351). 5 Dagegen wurde bei der Berechnung die Berücksichtigung von Sonderzahlungen (z. B. Weihnachts- und Urlaubsgeld) gestrichen.

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Qualifikationsstufen erheblich verschärft wurde. Auch die Sperrzeiten kamen ins Blickfeld politischer Handlungen. Neben der Anrechnung von Sperrzeiten auf die Bezugsdauer des ALG wurde zunächst die Dauer der Sperrzeit von vier auf acht und später sogar zwölf Wochen erhöht (Steffen 2008: 6). Zudem konnten ab 1988 Sperrzeiten auch dann verhängt werden, wenn Arbeitslose ihren Ausschluss aus Maßnahmen der Arbeitsförderung herbeigeführt hatten (Schmid/Oschmiansky 2005: 266).

4.3 Die Phase der Transformation und permanenten Intervention (1990-1997) Nach der Wiedervereinigung wurden im Rahmen der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion die bundesrepublikanischen Sozialleistungssysteme auf die neuen Länder übertragen. Der Kreis der Versicherten wurde dadurch insofern erweitert, dass Beschäftigungszeiten in der ehemaligen DDR mit Beitragszahlungen zur ALV gleichgestellt wurden. Allerdings geriet insbesondere die ALV nach dem kurzen Wiedervereinigungsboom durch die massiv steigende Arbeitslosenzahl unter Druck. Dies beruhte auf dem allgemeinen Verständnis, dass die sozialpolitischen Risiken der Wiedervereinigung, bedingt durch die Massenarbeitslosigkeit in Ostdeutschland, ein beträchtliches finanzielles Engagement erforderten. Vor diesem Hintergrund stand das AFG „praktisch im Dauerzustand der Kürzung und Novellierung“ (Schmid/Oschmiansky 2007b: 456). Insbesondere druch die europäischen Konvergenzkriterien für die Teilnahme an der Europäischen Währungsunion wurden die ergriffenen Maßnahmen in den Folgejahren mehr und mehr als Bremse im internationalen Standortwettbewerb bewertet (Schmuhl 2003: 576). Als Resultat wurde mit der 10. AFG-Novelle der Weg von Leistungskürzungen beschritten. Die Höhe des Arbeitslosengelds wurde 1994 auf 60 Prozent, bei Arbeitslosen mit Kindern auf 67 Prozent reduziert (Schmuhl 2003: 579). Verbessert wurde hingegen die Bemessung von ALG beim Wechsel von Voll- in Teilzeitbeschäftigung (Schmid/Oschmiansky 2007b: 456 ff.). Auch im Bereich der Reziprozitätsnormen wurden Verschärfungen durchgeführt. So minderten Sanktionen im Falle der Arbeitsaufgabe die Anspruchsdauer um 25 Prozent. Der Anspruch auf ALG ruhte fortan nicht nur bei Meldeversäumnissen, sondern auch wenn der Aufforderung zur Teilnahme an einer Maßnahme der Arbeitsberatung nicht nachgekommen wurde (Steffen 2008: 9). Die Sperrzeitendauer bei der Ablehnung zumutbarer Beschäftigung wurde von acht auf zwölf Wochen verlängert (Schmid/Oschmiansky 2007b: 458). Insgesamt kann die Entwicklung in den 1990er Jahren als schrittweise Verschärfung und Leistungskürzung bewertet werden.

4.4 Aussteuerung und Leistungssenkung durch Aktivierung (ab 1998) Mit den zwei Arbeitsförderungsgesetzen wurde die Arbeitsförderung neu konzipiert und 1998 in das SGB III überführt. Damit wurde der Wandel zum Paradigma der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik eingeleitet (siehe Mohr in diesem Band). Der Versichertenkreis wurde insoweit erweitert, dass Selbstständigen und Pflegenden fortan die Möglichkeit gegeben wurde, freiwillig Beiträge zur ALV zu leisten, sofern die

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Selbstständigkeit oder Pflege direkt an eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder den Bezug von Lohnersatzleistungen anschloss (Bothfeld et al. 2005: 8). Die Dauer des ALG-Bezugs wurde 2004 auf ein Jahr verkürzt, wobei für über 55Jährige auch 18 Monate möglich waren (Steffen 2008: 16). Nach einer anhaltenden politischen Debatte wurde 2008 die Bezugsdauer für Arbeitslose ab 58 Jahren auf zwei Jahre erhöht (§ 127 SGB III). Verfügbarkeit wurde durch das Konzept der Beschäftigungssuche ersetzt, fortan zusammen mit den Eigenbemühungen unter Beschäftigungssuche zusammengefasst und dahingehend erweitert, dass die Arbeitslosen aktiv alle Möglichkeiten nutzen mussten, um die Beschäftigungslosigkeit zu beenden (Bothfeld et al. 2005: 29). 2003 wurden die Leistungen entdynamisiert und das ALG damit nicht mehr der allgemeinen Lohnentwicklung angepasst (Steffen 2008: 25). Auch die Reziprozitätsnormen wurden zur Durchsetzung der Aktivierungsstrategie genutzt. Die Anwartschaftszeit wurde 2004 von einem halben auf ein Jahr erhöht und zugleich die Rahmenfrist von drei auf zwei Jahre abgesenkt (Steffen 2008: 26). Die Zumutbarkeit wurde verschärft und direkt im Gesetz geregelt. Der befristete Qualifikationsschutz wurde aufgehoben und durch ein gestuftes Einkommensmodell ersetzt. Danach galt nach sechs Monaten Arbeitslosigkeit jede Beschäftigung mit einem Nettoeinkommen in Höhe des Arbeitslosengelds als zumutbar (Sell 1998: 538). Die Sperrzeitendauer wurde 2003 flexibilisiert und stärker gestaffelt (drei bis zwölf Wochen), wobei von nun an bereits bei 21 Wochen der Anspruch auf Leistungen erlosch. Die Beweislast wurde für die Fälle der Arbeitsaufgabe und Arbeitsablehnung umgekehrt und auf den Arbeitslosen verschoben (Steffen 2008: 22 ff.). Damit kann die Aktivierungsphase als der Zeitraum mit den bedeutendsten Verschärfungen bei den Reziprozitätsnormen betrachtet werden. Mit der Abschaffung des Berufsschutzes ist sogar ein Rückfall hinter die Regelungen des AVAVG von 1927 zu konstatieren (Bothfeld et al. 2005: 30). Schließlich wurde mit dem Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt die „Dreifaltigkeit“ des deutschen Sicherungsregimes abgeschafft, indem die zugleich von Bedürftigkeit und früherem Erwerbsstatus geprägte ALHI in das neue Grundsicherungsregime des SGB II überführt wurde. Durch die Schaffung eines eigenständigen und von der ALV getrennten Fürsorgeregimes mit verschärften Reziprozitätsnormen wurde den vormaligen ALHI-EmpfängerInnen der Arbeitsbürgerstatus genommen und durch den Status von Hilfebedürftigen abgelöst (Knuth 2006: 166). Im Zusammenspiel verweisen diese Veränderungen auf einen paradigmatischen Wandel, durch den die alte Zielsetzung der Lebensstandardsicherung abgelöst und durch Existenzsicherung ersetzt wurde.

5

Dualisierung als Folge des Bedeutungsverlusts der Arbeitslosenversicherung

5.1 Gründe für den Bedeutungsverlust der Arbeitslosenversicherung Verfestigte Arbeitslosigkeit und Segmentierung des Arbeitsmarkts Mit zunehmender Dauer individueller Arbeitslosigkeitsphasen erhöht sich die Gefahr, ALG-Ansprüche zu verlieren. Vor diesem Hintergrund ist auf die seit den 1990er Jahren steigende Dauer der Arbeitslosigkeit hinzuweisen (Abbildung 1). Während 1991 der Anteil

Arbeitslosenversicherung im Wandel

121

der Langzeitarbeitslosen noch bei 28 Prozent lag, ist er bis zum Jahr 2007 auf 40 Prozent gewachsen. Über ein Fünftel der Betroffenen war sogar zwei Jahre und länger arbeitslos. Abbildung 1:

Bisherige Dauer der Arbeitslosigkeit in Deutschland 1991-2007

100% 90%

15%

15%

16%

80%

13%

17%

17%

70%

20%

17%

23%

17%

60% 33% 50%

36%

35%

40%

40%

33%

23%

27%

2005

2007

30% 20%

38%

32%

32%

1995

2002

10% 0% 1991

bis zu 3 Monate 12 bis 24 Monate

3 bis 12 Monate 24 Monate und länger

Quelle: Bäcker et al. 2008: 495; BA 2008: 46. Dynamische Messkonzepte von Erwerbsbeteiligung und Arbeitslosigkeit verweisen auf ausgeprägte soziale Ungleichheitsstrukturen, da zwar auf der einen Seite für die Mehrzahl der Erwerbspersonen (87 Prozent in West- und 79 Prozent in Ostdeutschland) dauerhafte Beschäftigung bzw. nur kurze und schnell zu überwindende Arbeitslosigkeitsphasen festgestellt werden (Alda/Bartelheimer 2008: 67 f.) und die ALV hier erfolgreich eine Kompensations- und Brückenfunktion übernimmt. Andererseits ist für eine zweite Gruppe von ArbeitnehmerInnen (10 Prozent im Westen und 16 Prozent im Osten Deutschlands) ein häufiger Wechsel zwischen Beschäftigungs- und Arbeitslosigkeitsphasen zu erkennen. Ihnen gelingt es nicht, dauerhaft in das sichere Arbeitsmarktsegment aufzusteigen. Die kleinste Gruppe (3 Prozent in West- und 5 Prozent in Ostdeutschland) bilden die dauerhaft vom Arbeitsmarkt Ausgeschlossenen (Alda/Bartelheimer 2008: 65 ff.).6 Damit gibt es ein festes Segment von ArbeitnehmerInnen, denen es nicht gelingt, ausreichendes soziales Eigentum im Sinne des Versicherungssystems aufzubauen und die daher immer wieder oder dauerhaft auf Grundsicherungsleistungen verwiesen werden.

6 Die Ergebnisse beziehen sich auf den Zeitraum 2000 bis 2004 und auf Erwerbspersonen im mittleren Erwerbsalter zwischen 30 und 50 Jahren, so dass Übergangsrisiken bei jungen und alten Erwerbspersonen unberücksichtigt bleiben (Alda/Bartelheimer 2008: 59).

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Peer Rosenthal

Zunahme atypischer Beschäftigung Das Ausmaß atypischer Beschäftigungsverhältnisse (Teilzeit, geringfügig entlohnte Beschäftigung, befristete Beschäftigung, Leiharbeit) ist in der jüngeren Vergangenheit stetig gewachsen. Infolgedessen hat sich der Anteil stark erhöht und umfasst aktuell über ein Drittel, bei den Frauen sogar über die Hälfte aller abhängig Beschäftigten (Keller/Seifert 2006: 236). Dies ist von daher problematisch, als dass die ALV immer noch am Normalarbeitsverhältnis ansetzt. Da dieses aber für viele Beschäftigte nicht mehr die Regel ist, entstehen Sicherungslücken im Falle von Arbeitslosigkeit (Nullmeier/Vobruba 1994: 35). Dies zeigt sich vor allem bei der geringfügig entlohnten Beschäftigung, bei der keine anspruchsbegründenden Beiträge zur ALV abgeführt werden und die aber inzwischen für über 4,8 Millionen Beschäftigte die einzige Form der Erwerbsbeteiligung darstellt. Bei der Teilzeitarbeit droht abhängig von Entlohnung und Arbeitszeit das ALG so gering auszufallen, dass keine existenzsichernden Ansprüche entstehen. Befristete Beschäftigung ist in diesem Kontext als problematisch einzuschätzen, weil oftmals kein nahtloser Übergang in ein neues Arbeitsverhältnis gelingt und Arbeitslosigkeitsphasen überbrückt werden müssen. Ansprüche entstehen aber nur, wenn die Anwartschaftszeit innerhalb der Rahmenfrist erreicht werden kann (Klammer/Leiber 2006). Auch bei der Leiharbeit kann aufgrund der häufigen Kurzfristigkeit der Beschäftigungsverhältnisse die Anwartschaftszeit ein Problem darstellen. Hinsichtlich der Höhe der Lohnersatzleistungen wirkt sich der überproportionale Einsatz von LeiharbeitnehmerInnen in ohnehin niedrig entlohnten Tätigkeitsfeldern aus. Die Löhne liegen dabei deutlich unter den Vergleichslöhnen der Stammbelegschaften von Entleihbetrieben (siehe Bothfeld/Kremer in diesem Band). Politische Regulierung und Steuerung in der Arbeitsmarktpolitik Auch politische Regulierung von und die Steuerung der Arbeitsmarktpolitik haben Einfluss auf die Integrationskraft des Versicherungssystems. So wurde durch die Gesetzgebung die Ausgestaltung der arbeitsmarktpolitischen Beschäftigungsförderung dahingehend verändert, dass die Instrumente mit Ausnahme des Kommunal-Kombis keiner Versicherungspflicht zur ALV mehr unterliegen (siehe Wagner in diesem Band; zur Diskussion um Drehtüreffekte siehe Kaps in diesem Band). Während es früher noch möglich war, über Beschäftigung im „zweiten Arbeitsmarkt“ wieder Leistungsansprüche aufzubauen, ist dieser Weg inzwischen verschlossen. Darüber hinaus wurde die Bundesagentur für Arbeit (BA) mit den Gesetzen für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt auf neue Steuerungsmodelle verpflichtet, die eine betriebswirtschaftliche Sparlogik zur Folge hatten und die sozialpolitische Funktion der BA schwächten. ALG-BezieherInnen, bei denen der BA eine Beendigung der Arbeitslosigkeit im Bezugszeitraum unwahrscheinlich erscheint (Betreuungskunden), wurden aus betriebswirtschaftlichen Kostenkalkülen nicht gefördert (Hielscher 2006: 123).

5.2 Dualisierung des Sozialstaats in der Arbeitslosensicherung Als Folge der skizzierten Entwicklungen hat die Bedeutung des Arbeitslosengelds als Lohnersatzleistung im Zeitverlauf stetig abgenommen. Dagegen haben die bedürftigkeitsgeprüften Fürsorgeleistungen (bis zum Jahr 2005 ALHI, dann Arbeitslosengeld II) an Ge-

Arbeitslosenversicherung im Wandel

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wicht gewonnen. Wie Tabelle 1 zeigt, bezogen im Jahr 1999 noch über 40 Prozent der Arbeitslosen ALG, 2004 waren es nur noch 35 Prozent. Dieser Trend verstärkte sich nach der Einführung des SGB II, infolgedessen im Jahr 2007 mit 21 Prozent der Tiefststand erreicht wurde. Es ist also ein konstanter Prozess des Bedeutungsverlusts der Versicherungsleistung erkennbar, die immer mehr zu einer „Exklusivleistung für einen privilegierten Kreis von Arbeitslosen geworden“ ist (Bäcker et al. 2008: 532). Tabelle 1: Arbeitslose ArbeitslosengeldempfängerInnen an allen Arbeitslosen 19992008* Jahr

Arbeitslose Arbeitslose Leistungsempfängerquote ArbeitslosengeldbezieherInnen Arbeitslosengeld 1999 1.648.818 4.100.499 40,2% 2000 1.518.852 3.889.695 39,0% 2001 1.527.249 3.852.564 39,6% 2002 1.668.849 4.061.345 41,1% 2003 1.754.351 4.376.795 40,1% 2003 1.685.216 4.376.795 38,5% 2004 1.534.322 4.381.281 35,0% 2005 1.427.060 4.860.880 29,4% 2006 1.123.095 4.487.233 25,0% 2007 797.002 3.776.425 21,1% 2008 781.271 3.102.085 25,2% *Rückwirkend ab 2003 erfolgte die Datenaufbereitung mit einer neuen Informationstechnologie, deshalb ergeben sich Abweichungen zu früher veröffentlichten Daten, Vergleiche mit den Jahren davor sind deshalb nur eingeschränkt möglich. Längere Zeitreihen sind nicht verfügbar.

Quelle: BA 2008: 138; eigene Berechnungen. Dieser Prozess – Bedeutungsverlust des Versicherungssystems auf der einen, stärkere Gewichtung von Fürsorgesystemen auf der anderen Seite – kann als Dualisierung des Sozialstaats beschrieben werden (Palier/Martin 2007). Zwar ist die Versicherungssystemen inhärente Selektivität unstrittig. Diese wurde in der deutschen Arbeitsmarktpolitik allerdings seit den 1990er Jahren politisch verschärft und kann nicht nur über ökonomische Parameter wie verfestigte Arbeitslosigkeit erklärt werden. Dabei können die Hartz-Reformen ab 2003 als entscheidender Wendepunkt bewertet werden. Durch das SGB II ist eine vollständig vom Versicherungssystem und dessen Prinzipien abgekoppelte „zweite Welt sozialer Sicherung“ (Palier/Martin 2007: 550) implementiert worden (siehe Knuth in diesem Band). Die Veränderungen auf der Leistungsseite und bei den Reziprozitätsnormen werden auf dem deutschen Aktivierungspfad durch eine gezielte gesetzliche Erleichterung atypischer Beschäftigung flankiert. Vor diesem Hintergrund kann der Arbeitsmarktpolitik nicht mehr zugeschrieben werden, „unterwertige Beschäftigung“ (AFG 1969) zu verhindern. Sie ist vielmehr zum Hebel für die Durchsetzung abweichender Arbeitsbedingungen und Arbeitsverhältnisse geworden. Diesem Funktionswandel ist ein Wandel in den Grundüberzeugungen und Deutungsmustern von Arbeitslosigkeit bei den verantwortlichen Akteuren vorangegangen. So wird Arbeitsmarktpolitik und damit auch die ALV auf ihre ökonomische Effizienzfunktion konzentriert, während von vormals normativ verankerten sozialen Zielzuschreibungen Abstand genommen wurde (Baethge-Kinsky et al. 2008: 4 ff.). Dies führt zu

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einer tieferen gesellschaftlichen Spaltungslinie zwischen Bevölkerungsgruppen, die vermittelt über ihre Arbeitsmarktposition entweder weiter in den alten Sicherungssystemen verbleiben oder auf Sicherungsformen jenseits bekannter Muster verwiesen werden (Palier/Martin 2007: 550) und wirft die grundlegende Frage nach der Vereinbarkeit von Versicherungsprinzip und Aktivierungsparadigma auf.

6

Die offene Zukunft: Aktivierung oder Versicherungsprinzip?

Die mit der Aktivierung verbundenen veränderten Vorstellungen über die soziale Regulierung von Arbeitslosigkeit und des Arbeitsmarkts üben in dreifacher Hinsicht Druck auf das Versicherungssystem aus. Erstens, indem im Versicherungssystem selbst aktivierende Elemente ausgebaut und soziale Rechte reduziert werden. Zweitens, indem die Zugänge zum Versicherungssystem erschwert werden, um Aktivierung im Fürsorgesystem voll entfalten zu können. Und schließlich drittens dadurch, dass im Zuge der Aktivierung explizit Arbeitsverhältnisse erleichtert werden, die keine Zugangsmöglichkeiten zur ALV eröffnen. Anders gesagt: Während das Versicherungssystem immer noch auf dem Normalarbeitsverhältnis gründet, wird genau dieses durch die Aktivierung immer stärker zurückgedrängt. Infolgedessen wächst nicht nur die Gruppe der Arbeitslosen, die die Anwartschaften nicht erfüllen. Hinzu kommen diejenigen, deren ALG unterhalb des Existenzminimums liegt, durch ALG II aufgestockt werden muss und die LeistungsbezieherInnen daher in den Rechtskreis des SGB II überführt werden. Vor diesem Hintergrund können Aktivierung und Versicherungsprinzip nicht als sich ergänzende, sondern müssen als gegenläufige Prinzipien identifiziert werden. Eine Stabilisierung bzw. Stärkung des Versicherungssystems würde daher den nächsten Paradigmenwandel erfordern. Von der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik in ihrer heutigen Form bliebe dann nicht mehr viel übrig. Ob dies aber eine zu erwartende Entwicklung ist, steht auf einem anderen Blatt.

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Eine subjektive Dimension der Arbeitsmarktpolitik

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Oliver Nüchter/Alfons Schmid

Eine subjektive Dimension der Arbeitsmarktpolitik Einstellungen zur Arbeitslosenversicherung und Grundsicherung für Arbeitsuchende in Deutschland

1

Einleitung

Arbeitsmarktsmarktpolitik basiert hinsichtlich der Datenbasis in der Regel auf Primärerhebungen und Sekundärstatistiken. Auch die Arbeitslosenversicherung und die Grundsicherung für Arbeitsuchende als zentrale Bereiche der Arbeitsmarktpolitik werden anhand diverser Datenbasen erfasst, analysiert und bewertet. Diese Basen beziehen sich auf deren Leistungen sowie auf Wechselwirkungen mit anderen Bereichen. Die Bedeutung der Höhe des Arbeitslosengeldes bzw. der Leistungen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende oder die Verwendung der Einnahmen der Arbeitslosenversicherung für aktive Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik sind zwei Beispiele (vgl. dazu z.B. diverse Jahresgutachten und Memoranden). In dieser Perspektive spiegeln sich die Ergebnisse des Handels der Individuen und Organisationen wider. Die diesen Ergebnissen vor gelagerte Stufe der Einstellungen zu den Systemen der Absicherung in Arbeitslosigkeit bleiben dabei weitgehend unberücksichtigt. Bislang existieren unseres Wissens kaum Ansätze (vgl. Nüchter/Schmid 2009: 77ff.), die diese „subjektive“ Perspektive, also die Einstellungen der Menschen gegenüber der Absicherung in Arbeitslosigkeit untersuchen. Die soziologische Einstellungsforschung bietet jedoch Anhaltspunkte für die Bewertung von sozialer Gerechtigkeit und dem Sozialstaat generell (vgl. z.B. Roller 1992; Andreß et al. 2001; Nüchter et al. 2008). Aus diesen Untersuchungen geht hervor, dass der fürsorgende Sozialstaat in der Bevölkerung eine traditionell hohe Akzeptanz genießt und zudem sowohl die Aspekte der Lebensstandardsicherung als auch der Nivellierung von sozialen Unterschieden grundlegende Bedeutung haben. Die Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende markiert einen Bruch mit diesen tradierten Funktionsweisen und Ansprüchen. Dies wirft die Frage auf, wie es um die bis dato hohe Akzeptanz der Sicherungssysteme heute bestellt ist. Wenn man zugleich annimmt, dass eine breite Akzeptanz notwendige Bedingung für die Durchsetzbarkeit von Reformen ist, so wird klar, dass die Betrachtung der Einstellungen neben wissenschaftlicher auch von gesellschaftlich-politischer Relevanz hinsichtlich der Steuerung von Veränderungen ist. An diesem Befund setzt dieser Beitrag an. Wir untersuchen die Einstellungen zur Arbeitslosenversicherung (Arbeitslosengeld) und zur Grundsicherung für Arbeitsuchende (Hartz IV). Weitere Fragestellungen richten sich darauf, ob bei der Bewertung dieser beiden Systeme Unterschiede bestehen und welche individuellen und gesellschaftlichen Einflussfaktoren für diese Einstellungen maßgeblich sind.

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Oliver Nüchter/Alfons Schmid

Den Anknüpfungspunkt bietet eine Untersuchung für das Bundesarbeitsministerium, in dem die Einstellungen der Bevölkerung gegenüber dem Sozialstaat und seinen Teilssystemen empirisch auf der Basis einer telefonischen Repräsentativbefragung von 5.000 Menschen in vier Wellen erhoben wurden (vgl. dazu Krömmelbein et al. 2007; Nüchter et al. 2008). Wir beginnen den Beitrag mit einigen konzeptionell-theoretischen Überlegungen für das Untersuchungsdesign. Anschließend werden empirische Ergebnisse über die Einstellungen zur Absicherung in Arbeitslosigkeit referiert. Der Beitrag schließt mit einigen Folgerungen für Theorie und Empirie dieser subjektiven Dimension für die beiden Sicherungssysteme.

2

Konzeptionelle Überlegungen

Einstellungen werden „als eine Bewertung von Menschen, Objekten oder Ideen“ (Aronson et al. 2004: 230) definiert. Sie drücken Haltungen zu und Beurteilungen von Sachverhalten und Gegenständen aus (vgl. Hartmann/Wakenhut 1995: 13ff.). Einstellungen sind durch individuelle Interessen sowie durch gesellschaftliche Normen und Werte geprägt (vgl. z.B. Andreß et al. 2001; Aizen/Fishbein 2005: 173ff; Jungermann et al. 2005: 201ff; Förg et al. 2007; Heinemann et al. 2008: 383ff.). Wir rekurrieren in diesem Beitrag auf ökonomische Verhaltens- und Fairnesstheorien als Basis für die empirische Untersuchung von Einstellungen zur Absicherung in Arbeitslosigkeit (vgl. u.a. Magen 2005; Nüchter/Schmid 2009: 78ff.). Diese Ansätze decken sowohl das traditionelle ökonomische Rationalmodell als auch Erweiterungen und Modifikationen durch die Behavioral Economics ab.1 ƒ Ökonomisches Rationalmodell Nach dem ökonomischen Rationalmodell werden Einstellungen von Individuen durch Maximierung des Erwartungswertes ihrer Nutzenfunktion unter Nebenbedingungen bestimmt. Danach bestehen aufgrund unterschiedlicher Präferenzen und Handlungsbedingungen Unterschiede in den Kosten-Nutzen-Relationen und damit Unterschiede in der Bewertung der Arbeitslosenversicherung und der Grundsicherung für Arbeitsuchende. ƒ Referenzpunkte Auf der individuellen Ebene spielt nach der Prospecttheorie (vgl. Kahnemann/Tversky 1979: 263ff.; Bischoff 2007: 1334ff.) die subjektive Entscheidungssituation mit subjektiven Entscheidungsgewichten eine wesentliche Rolle bei der Bewertung von Alternativen. Bewertungen erfolgen danach relativ zu einem Referenzpunkt. Einen solchen Referenzpunkt bildet der status quo. Diese Entscheidungsgewichte und Bewertungen sind danach vom status quo als Referenzpunkt abhängig. Der status quo wird seinerseits durch die jeweils vorherrschende soziostrukturelle und soziokulturelle Situation bestimmt. In Kontext dieser Thematik sind dafür u.a. Einkommen und Vermögen, psychische Situation, Geschlecht, Qualifikation und Alter einschlägig. 1

Einstellung und Verhalten sind im ökonomischen Rationalmodell nicht getrennt; wenn die Bewertung erfolgt ist, wird auch danach gehandelt. Bei den neueren ökonomischen Verhaltenstheorien besteht, wenn wir das richtig sehen, dieser eindeutige Zusammenhang nicht. Hier dominieren die Bewertungen; inwieweit daraus auch Handlungen folgen, ist u.E. nicht immer eindeutig. Teilweise wird aus dem Verhalten auf Einstellungen geschlossen, z.B. in Fairnesstheorien, teilweise steht die Einstellung im Mittelpunkt wie z.B. bei dem Referenzbezug, ohne dass daraus unmittelbar auf das daraus folgende Verhalten geschlossen werden kann (vgl. Aizen/Fishbein 2005: 173ff.)

Eine subjektive Dimension der Arbeitsmarktpolitik

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ƒ Verlustaversion Einfluss auf Einstellungen hat die Verlustaversion (vgl. z.B. Bischoff 2007: 1337). Verluste werden erheblich stärker gewichtet als Gewinne. Reformen der Arbeitslosenversicherung und der Grundsicherung, die einen Verlust zur Folge haben, werden demnach negativer bewertet als mögliche positive Auswirkungen (vgl. Förg et al. 2007). ƒ „endowment effect“ Nach dem endowment effect hängen Einstellungen davon ab, ob man etwas bereits besessen hat oder nicht. So wird Gütern ein höherer Wert beigemessen, wenn man sie bereits im Besitz hatte. Danach dürften bereits erworbene Ansprüche an die Arbeitslosenversicherung die Einstellungen mit bestimmen. ƒ Diskontierungsrate Entgegen der Annahme der traditionellen Rationaltheorie ist die Diskontierungsrate der Zukunft nicht konstant. Vielmehr gibt es empirische Belege dafür, dass je ferner der Nutzen in der Zukunft anfällt, desto geringer die gegenwärtige Bewertung dieses künftigen Nutzens ist. Die Diskontierungsrate ist demnach nicht konstant, sondern hyperbolisch (vgl. u.a. Förg et al. 2007). ƒ Soziale Präferenzen Mit der Berücksichtigung sozialer Präferenzen erfolgt eine Erweiterung des Eigennutzaxioms, indem der eigene Nutzen auch vom Nutzen anderer abhängt. Damit lassen sich gesellschaftliche Normen als Einflussfaktoren auf Einstellungen begründen. In diesem Kontext spielen Gerechtigkeitsnormen eine zentrale Rolle (vgl. Nüchter et al. 2008); vor allem egalitaristische und individualistische Gerechtigkeitsnormen sind von Bedeutung.2 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sowohl nach der ökonomischen Rationaltheorie als auch nach der behavioristischen Verhaltensökonomie unterschiedliche Einstellungen zur Arbeitslosenversicherung und zur Grundsicherung für Arbeitsuchende in der Bevölkerung bestehen dürften.

3

Empirische Befunde

Auf Basis der konzeptionellen Überlegungen wird im Folgenden versucht, auf empirischem Wege Anhaltspunkte für diese Überlegungen und Thesen zu finden. Geprüft wird dies anhand von drei Themenbereichen, die zentrale Aspekte der sozialen Sicherung berücksichtigen und zugleich Rückschlüsse für die Bedeutung des Kosten-Nutzen-Axioms sowie den aus der Behavioral Economics abgeleiteten Thesen – Wertefunktion, soziale Präferenzen, endowment effect und Diskontinuierungsrate – für die Einstellungen zur Arbeitslosenversicherung und zur Grundsicherung für Arbeitslose liefern können: ƒ Die allgemeine Bewertung der derzeitigen Leistungen der beiden Systeme, ƒ die eigene Absicherung im Fall kurzer oder länger andauernder Arbeitslosigkeit, ƒ die Akzeptanz von Funktionsprinzipien und Reformideen der beiden Sicherungssysteme. In allen drei Bereichen lässt sich begründet annehmen, dass unterschiedliche Einflussgrößen die Einstellungen dominieren und dass mehrere Erklärungshypothesen zusammenfallen 2 Zusätzlich sind noch askriptivistische und fatalistische Gerechtigkeitsnormen zu nennen (vgl. Krömmelbein u.a. 2007).

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können. Die Darstellung erfolgt dabei getrennt für das Arbeitslosengeld und die Grundsicherung für Arbeitsuchende. Aus unserer Untersuchung steht zur Prüfung der Zusammenhänge eine umfangreiche Liste von Einflussfaktoren zur Verfügung. Einbezogen werden allerdings nur jene Indikatoren, die auf Basis der Vorüberlegungen die jeweils stärksten Zusammenhänge erwarten lassen, bzw. eine klare Zuordnung zu den Thesen ermöglichen (in der Übersicht fett markiert). Tabelle 1: Übersicht von Einflussgrößen SozioökonomischeLage Haushaltseinkommeni KurzfristigeLiquidität („2000€ͲFrage“) Immobilienbesitz Erwerbsstatus BildungsͲ/QualifikatiͲ onsindex

Soziodemografische Faktoren Region Alter Geschlecht Haushaltstyp HaushaltemitKindern

NormativeWerte/ SubjektiveLebensqualität Wissen ii

Egalitarismus  Individualismus Askriptivismus Fatalismus Informiertheitsindex

iii

Zufriedenheitsindex  iv Ängstlichkeitsindex  GerechterAnteil WirtschaftlicheLageheute WirtschaftlicheLage:AufͲ stieg/Abstieg Schichtzugehörigkeit

i Das Haushaltseinkommen wird bedarfsbezogen auf die Personen im Haushalt berechnet und in Einkommensquintile unterschieden. Hierzu wurde zunächst der Äquivalenzfaktor des Hauhalts ermittelt, wobei der erste Erwachsene den Wert 1,0, alle weiteren Erwachsenen den Wert 0,7 und alle Kinder bis einschließlich 14 Jahren den Wert 0,5 zugewiesen bekamen (alte OECD-Skala). Das ursprünglich angegebene absolute Haushaltseinkommen bzw. der Mittelwert der angegebenen Einkommensklasse wurde daraufhin durch den ermittelten Faktor geteilt und so das bedarfsgewichtete Nettohaushaltseinkommen errechnet. Dieses wurde schließlich in fünf Einkommensklassen unterteilt, die jeweils 20% der Haushalte umfassen (Einkommensquintile). ii Die Gerechtigkeitsvorstellungen werden auf Basis des Instruments „Gerechtigkeitsideologien“ des International Social Justice Project (ISJP) gebildet. Nach einer faktorenanalytischen Überprüfung, mit der die bekannten Gerechtigkeitsvorstellungen Egalitarismus, Fatalismus, Individualismus und Askriptivismus reproduziert werden konnten, erfolgt die Bildung von dichotomen Indexvariablen anhand der Skalenmittelwerte, die jene Personen, die eine starke Affinität zu den entsprechenden Einstellungen haben, zusammenfasst. iii Den Einfluss der Zufriedenheit erfassen wir anhand einer dreistufigen Indexvariable (niedrig / mittel / hoch). Diese schließt verschiedene öffentliche und private Lebensbereiche ein. Ausgeschlossen bleibt die Zufriedenheit mit dem Leben überhaupt, weil diese bereits ein bilanzierendes Maß ist, in die die Zufriedenheit mit den einzelnen Lebensbereichen unterschiedlichen Eingang findet. Um der Zufriedenheit mit den einzelnen Lebensbereichen analytisch ein stärkeres Gewicht zu verleihen und diesbezügliche Unterschiede zu erfassen, wird in der analytischen Auswertung dem Zufriedenheitsindex vor der „Lebenszufriedenheit“ Priorität eingeräumt iv Ein weiteres Maß des subjektiven Wohlbefindens bildet die Stärke der individuellen Angstsymptome. Zu ihrer Bestimmung werden Fragen nach der Erschöpfung, dem Unglücklichfühlen, der Nervosität sowie der Ängste und Sorgen zusammengefasst. Sie bilden gemeinsam den Index aus verschiedenen Angstsymptomen, der als dichotome Unterscheidung (gering / hoch) vorliegt.

Eine subjektive Dimension der Arbeitsmarktpolitik

131

Für alle Fragen werden zunächst die Häufigkeitsverteilungen der Indikatoren für die verschiedenen Einflussdimensionen dargestellt. Anschließend prüfen wir die Zusammenhänge in einem multivariaten Regressionsmodell.

3.1 Arbeitslosenversicherung Die Einstellungen zur gesetzlichen Arbeitslosenversicherung und die diese bestimmenden Einflussgrößen lassen sich auf mehreren Ebenen messen. Zum einen kann allgemein nach der Angemessenheit des aktuellen Arbeitslosengelds gefragt werden. Zum anderen wird das subjektive Absicherungsgefühl im Falle einer eigenen zukünftigen Arbeitslosigkeit erhoben. Zusätzlich untersucht wird anhand von zwei Beispielen die Zustimmung zu Neuregelungen bei der Leistungsgewährung. 3.1.1 Leistungen heute Die aktuellen Leistungen des Arbeitslosengelds werden von den Bürgern gemischt bewertet, etwas über die Hälfte sehen die Leistungen als gut oder eher gut an. Tabelle 2: Leistungen des Arbeitslosengelds (in %)* Eherschlecht /Schlecht

Ehergut/

46

54

UnterstesQuintil

52

48

OberstesQuintil

38

62

 AlleBefragten Einkommenslage

Erwerbsstatus

Alter

Abhängigbeschäftigt

46

54

Selbständig

46

54

Arbeitslos(bis1Jahr)

53

47

Langzeitarbeitslos

60

40

18Ͳ34Jahre

43

57

35Ͳ59Jahre

48

52

45

55

Egalitarismus(ja/nein)

(51/30)

(49/70)

Individualismus(ja/nein)

60Jahreundälter Gerechtigkeitsvorstellungen Zufriedenheit Ängstlichkeit

Gut

(38/52)

(62/48)

Gering

63

37

Hoch

34

66

Gering

42

58

Hoch

46

55

*Sind die Leistungen des Arbeitslosengelds Ihrer Meinung nach in der heutigen Zeit gut, eher gut, eher schlecht oder schlecht?

Quelle: Die Angaben zur Arbeitslosenversicherung basieren auf der Befragungswelle 2008

132

Oliver Nüchter/Alfons Schmid

Menschen, die direkt von der Sicherungsleistung betroffen sind, urteilen kritischer. So liegt der Anteil der kurzzeitig Arbeitslosen, welche die Leistungen als gut ansehen bei 47%, bei den Langzeitarbeitslosen nur bei 40%. Noch deutlicher fallen die Differenzen bei den Gerechtigkeitstypen und vor allem zwischen Hoch- und Geringzufriedenen aus. Die Bewertung der Leistungen erfolgt, so lässt sich hieraus folgern, vor allem im Rahmen der sozialen Präferenz und der subjektiven Wahrnehmung der eigenen Lage, und etwas weniger anhand des unmittelbaren individuellen Nutzens. Die Überprüfung mittels einer linearen Regression bestätigt diese Annahme. Weder Einkommen noch Alter oder Erwerbsstatus sind signifikant. Es dominieren dagegen die individuelle Zufriedenheit sowie – in gegensätzlicher Richtung – staats- und marktorientierte Gerechtigkeitsvorstellungen. Tabelle 3: Leistungen des Arbeitslosengelds (Betawerte) Einkommen

Ͳ004

Selbstständig

Ͳ,010

Arbeitslos

Ͳ,026

Alter

Ͳ,022

Egalitarismus

Ͳ,140***

Individualismus

,133***

Zufriedenheit

,131***

Ängstlichkeit

Ͳ,068***

*:p