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German Pages 151
Haben uns die Philosophen und Philologen, die sich mit der antiken Kultur befassten, etwas verschwiegen? Oder haben sie als Gefangene eines Wissenschaftssystems, das oft auf einem naiven Rationalismus und Realitätsglauben basiert, es schlicht übersehen? Jedenfalls bringt Mead in seiner Abhandlung etwas ans Licht, an dem keiner, der sich mit Esoterik, Philosophie oder Anthropologie beschäftigt, vorbeigehen kann: die Tradition von der feinstofflichen Verkörperung der Seele, die als fester Bestandteil der antiken Philosophie und Religion gilt. Das vorliegende Buch, 1919 erstmals erschienen, verfolgt die Spuren der Lehre von einem subtilen Geistkörper von den Epen Homers über die Werke von Pythagoras, Platon, Aristoteles bis hin zu den Schriften der Gnosis und des Neuplatonismus. In klugen, detaillierten Quellenstudien weist es nach, welch hohe Bedeutung diese Lehre in der abendländischen Tradition besitzt. Ferner liefert sie Anhaltspunkte für den göttlichen Ursprung des Menschen. Die in der Orphik wurzelnden Auffassungen der Platonischen Schule und der Neuplatoniker unterscheiden zwischen zwei verschiedene Ausprägungen des Feinkörpers: dem zur Erde nieder ziehenden Geistkörper und dem Strahlenkörper, der als sternengleiches, ewiges Vehikel aus dem Himmel stammt. Der Leser spürt noch die Ergriffenheit eines Plotin, Porphyrios oder Philoponus, wenn sie die Inkarnation der unsterblichen Seele schildern, die sich mit dem wasserschwebenden Geist zu einer Wolke, dem physischen Körper, verdichtet. Im frühen Christentum findet der heftige Streit um die Natur des Auferstehungskörpers statt: Für die Materialisten um Tertullian kann nur der ungewandelte physische Leib auferstanden sein, während Gnostiker und Mystiker von einem Glanzkörper und Vehikel aller überirdischen Mächte sprechen. So ersteht vor dem Leser das plastische Bild des Feinkörpers, wie es seit den Ursprüngen der westlichen Tradition erfahren wurde. Das Buch belegt, dass der Westen nicht so arm an spiritueller Weisheit ist, wie es eine festgefahrene Wissenschaft immer noch glauben machen will. Ein Essay des Übersetzers und Sachbuchautors Ernst R. Wälti bringt die Forschungen Meads in einen Kontext zur zeitgenössischen Wissenschaft. G. R. S. Mead (1863-1933) studierte am St John's College der Cambridge University in England. Er zählte zu den größten Gelehrten der Theosophischen Gesellschaft, die er aber 1909 wegen der unerfreulichen Entwicklungen verließ. Er publizierte sechzehn Werke, darunter die seinerzeit Bahnbrechenden Studien und Übersetzungen, z.B. von und über Hermes Trismegistus, Apollonius von Tyana, Orpheus sowie Quellentexte der Gnosis.
Bibliotheca Hermetica
G. R. S. Mead Die Lehre vom
feinstofflichen Körper in der westlichen Tradition Geistkörper, Strahlenkörper und Auferstehungskörper in der Erfahrungswelt der Pythagoräer, Neuplatoniker, Gnostiker und Hermetischen Philosophen Mit einem Essay von Ernst R. Waelti
Ansata-Verlag Rosenstraße 24 CH-3800 Interlaken Schweiz 1991
Aus dem Englischen übertragen und mit einem Essay versehen von Dr. Ernst R.Waeld e-booked als ein freedom of information act von dr dream mit freundlicher Unterstützung der Korrekturleserin Cassandra
Titel der Originalausgabe: THE DOCTRINE OF THE SUBTLE BODY IN WESTERN TRADITION 1. Auflage erschienen 1919 bei John M. Watkins, London
Deutsche Ausgabe: Copyright © 1991 by Ansata-Verlag, Interlaken Alle Rechte vorbehalten Umschlagbild: Robert Wicki Satz: Jung Satzcentrum GmbH, Lahnau Druck: Kösel, Kempten ISBN3-7157-0150-1
Inhalt
Die abgeschlagenen Wurzeln Ein Essay über den Begriff der Psyche bei den alten Griechen, von Ernst R. Waelti .................................................................................. 7
Einführung .............................................................................. 45 Der Geist-Körper .................................................................... 75 Der Strahlenkörper ................................................................. 99 Der Körper der Auferstehung ............................................. 125 Epilog ..................................................................................... 147
Die abgeschlagenen Wurzeln Ein Essay über den Begriff der Psyche bei den alten Griechen
von Ernst R. Waelti
Ein eisiger Wind peitschte vom Meer her den Schnee in die Straßenschluchten. Oft hielt er für einen Augenblick inne, wie um Atem zu holen, dann wirbelten die feinen Schneeflocken um die braunrote Backsteinfassade, setzten sich auf den verrußten Mauerbrüstungen ab und schmückten die scharfen Mauerkanten mit wohltuenden weißen Kappen, aber um so heftiger setzten die giftigen Böen wieder ein. Es dämmerte rasch. Die Wolkenkratzer in der Ferne wirkten wie mit Lichtern übersäte Christbäume. Wenn ich mein Gesicht an die kalte Fensterscheibe presste, vermochte ich vom achtundzwanzigsten Stock in die Tiefe zu blicken. Im Abgrund unten wühlten und fraßen sich einige Baumaschinen kreischend in den Schlund der Erde. Und auf der anderen Seite der Straße sah ich in einen kahlen, dunklen und verlassenen Hinterhof hinein. Ein armseliges Bäumchen fristete dort zu meinem Erstaunen sein Dasein. Unwillkürlich dachte ich an Sonnenglanz, ausgebreitet über das Blätterwerk der Bäume, sehnte mich nach duftenden Wiesenhängen und dämmrigen Pfaden, die in weite Wälder führten.
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Da, von einer verdreckten Mauernische segelte eine grauweiße Taube mit ausgebreiteten Flügeln herab und setzte sich auf einen Ast des mickrigen Bäumchens. Wie eine Botschaft aus einer anderen Welt - aus dem tiefsten Grunde meines Wesens emporgestiegen - erschien mir die Taube: ein Abbild des befreiten Flügelschlags der Seele. Als ich auf die hastenden, sich durch den braunen, salzdurchmischten Schneematsch vorwärts kämpfenden Menschlein blickte, hinab geworfen in den Hades der Straßenschluchten, kamen mir wieder die Worte des Philosophen Synesios in den Sinn: Die Seele sinkt, nachdem sie schwer und feucht geworden ist, naturgemäß in die Tiefen der Erde hinab und schleicht dort, in den unterirdischen Schlund hinab geworfen, umher.1
Was aber bedeutet Seele eigentlich? Ist es für die Naturwissenschaft nicht schon längstens ein überholter Begriff, ein Irrtum, eine tote Metapher, ein Mythos, der sich unter dem immer machtvolleren, analytischen Blick der Biochemie, molekularen Biologie und Gehirnforschung in Nichts auflöst? Lassen wir die Beantwortung dieser Frage einstweilen noch beiseite und wenden wir uns der Antike zu. Es wäre verfehlt zu glauben, die Antike habe eine einheitliche Auffassung oder ein Bild der Seele entwickelt. Im christlichen Altertum gerieten sich Theologen und Philosophen wegen der Seele - um es etwas salopp auszudrücken - arg in die Wolle. Tertullian, grimmiger Feind der Gnosis, beklagte sich zu jener Zeit: «Wenn nur die Notwendigkeit, dass es Ketzer gibt, damit die Erprobten zutage treten, nicht bestünde. Da würden wir gar nicht mit den Philosophen auch über die Seele zu kämpfen brauchen, die sozusagen die Erzväter der Ketzer sind...» Gar 1
Siehe S. 115 dieser Ausgabe.
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nicht zimperlich fährt er mit seinem Urteil fort: «Denn genauso steht es auch um das Studium der Seele infolge der ‹verphilosophierten› Lehren von Leuten, die dem Weine Wasser beimischen: die einen leugnen die Unsterblichkeit der Seele, die ändern versichern, sie sei mehr als unsterblich; die einen streiten über ihre Substanz, die anderen über ihre Form, wieder andere über jede einzelne Eigenschaft; diese leiten ihr Wesen hiervon ab, jene lassen ihr Ende dorthin ausgehen, je nachdem entweder Platons Herrlichkeit, Zenons Kraft, des Aristoteles Zähigkeit, Epikurs Stumpfsinn, Heraklits Trübsinn oder des Empedokles Wahnsinn sie überzeugt hat. 2 Was die Seele ist, können wir letztlich nicht entscheiden. Aber die Erfahrungen, die auf eine Existenz der Seele hindeuten, möchte ich hier sichten und ein verschüttetes Bild freilegen, das vom üppig aufschießenden Unkraut eitler Gelehrsamkeit schon 2
Tertullian: Über die Seele, Zürich 1980, III, 1. und 2., S. 53. Die Anmerkungen der Artemis-Ausgabe zur zitierten Textstelle sollen dem Leser nicht vorenthalten werden: Aufzählung von Philosophennamen gehört zu der Tradition der Skeptiker, die gern die Meinungen von vielen «dogmatischen» Philosophen nannten, um dadurch ihre Meinungsverschiedenheit darzutun, die ihrerseits wieder rasch zum Schluß führte, dass nur ein einzelner oder auch keiner recht haben könnte. «Zenons Kraft»: der Gründer der Stoa (um 334-263). - «des Aristoteles Zähigkeit»: tenor muß sich entweder auf den Umfang seines Schrifttums oder seine Syllogismen beziehen. - «Epikurs Stumpfsinn» (stupor): Epikur (342-270 v. Chr.) stand bei den Christen im schlimmsten Ruf. So spricht Tertullian auch in nat. 2, 3, 4 von Epicuri duritia (= «Dummheit»). Außerdem betrachtete er Epikur als den «Patriarchen» von Markions Gotteslehre, wobei es sich für ihn um einen stupens deus handelt, der nicht einmal den Zorn kennt (nach Markion für «den andern Gott», d.h. den Gott des Alten Testaments, reserviert). «Heraklits Trübsinn»: seit dem Hellenismus ältester Beleg: der Peripatetiker Sotion (um 200 n.Chr. bei Stob. floril. [III] 20, 35) galt Heraklit (um 550-480) als der «weinende», Demokritos (um 468-380/70 v. Chr.) als «der lachende Philosoph». - «des Empedokles Wahnsinn»: Schon früher von der kynischstoischen Diatribe gern als ein Irrsinniger vorgestellt, wird Empedokles von den Kynikern der ersten zwei
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längstens überwuchert ist. An den Krücken einer übertriebenen begrifflichen Aufsplitterung und akrobatischer Intellektübungen versuchen viele Philosophen und Theologen den Graben mangelnder Erfahrung zu überwinden. Doch es gilt nicht den Kopfverdrehern (um einen groben Ausdruck Schopenhauers zu brauchen) mit weiteren Ausführungen neuen Auftrieb zu verleihen, sondern zu zeigen, wie Ur-Erfahrungen den Menschen dazu führten, sich als beseeltes Wesen zu erkennen. Es ist auch nicht meine Absicht, den Philosophen oder den Philologen der alten Sprachen hier am Zeug zu flicken, sondern mit kurzen, kräftigen Strichen zu skizzieren, wie für einen Naturwissenschaftler mit außerkörperlichen Erfahrungen und einer Vorliebe für das antike Schrifttum die Umrisse einer Lehre der feinstofflichen Verkörperung der Seele gerade aus den antiken Quellen auftauchen, gleichsam wie bei einem nächtlichen Gewitter, durch einen Blitz erhellt, die Konturen ferner Bäume am Horizont für einen Augenblick im gleißenden Licht sichtbar werden. Ohne Zweifel besitzt die Dimension der Seele in einer Kulturepoche für jedes Auge andere Weiten, aber besonders bei einem so strittigen Thema wie der feinstofflichen Verkörperung des Menschen werden sich beim Umgang mit Texten des Altertums stets subjektives Empfinden und Urteilen der Interpretatoren und Übersetzer einmischen. Als besonders ärgerlich erscheint mir ihr stetes Schielen auf naturwissenschaftliche Weltbilder, um einen Maßstab bei der Hand zu haben, mit dem beurteilt werden könne, ob so etwas wie ein Feinkörper möglich sei oder ob mystische Erfahrungen der nachchristlichen Jahrhunderten und den christlichen Apologeten besonders lächerlich gemacht (de pallio 4, 7 verhöhnt Tertullian ihn wegen seiner seidenen Gewänder und seiner kupfernen Sandalen). Seine Behauptung, ein Gott zu sein, wird u. a. sowohl von Horaz wie von Tertullian verspottet. Die Anmerkungen wurden leicht gekürzt.
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Antike nicht gleich pauschal in das Fachgebiet der Psychopathologie einzureihen seien. Diese naiv rationale Brille des Jahrhunderts müsste in der Tat abgelegt werden, um die «andere» Dimension zu erkennen. «Davon geschieht aber meistens das Gegenteil. Der Rationalismus verfälscht in der Regel solche Erscheinungen, um sich die Erklärung derselben leichter zu machen; statt sich derselben anzupassen, nimmt er an ihnen solche Korrekturen vor, wodurch sie ihm angepasst werden; davon hat aber die Wissenschaft nur einen scheinbaren Gewinn, der Rationalismus dehnt scheinbar sein Erkenntnisgebiet aus, er schließt mit dem Problem einen faulen Frieden»3, stellt Carl du Prel schon im letzten Jahrhundert fest. An anderer Stelle fährt er fort: «Die Aufklärungsperiode hat so gründlich dafür gesorgt, diese (mystischen) Erscheinungen für unmöglich zu erklären, dass heute keine einzige Fakultät mehr, mit Ausnahme der theologischen, sich mit diesen Dingen beschäftigt, wiewohl alle Wissenszweige - Physik, Chemie, Physiologie, Psychologie, Kulturgeschichte, Philologie, Philosophie - aus dem Studium der Mystik den allergrößten Vorteil ziehen könnten. Der Mystik gegenüber geht daher der Apriorismus bis zur Weigerung, sich diese Erscheinungen wenigstens einmal anzuschauen oder wenigstens irgendein Buch darüber zu lesen. In Bezug auf Mystik herrscht auf unseren Universitäten eine Unwissenheit, die unverzeihlich wäre, wenn sie nicht mit dem ganz ernst gemeinten Glauben gepaart wäre, 3
Carl du Prel: Die Mystik der alten Griechen; in: Die Psyche und das Ewige, Pforzheim 1971, S. 148. Im gleichen Band ist ebenfalls «Die monistische Seelenlehre» enthalten. Vor allem in der Einleitung «Ein Erbfehler der Wissenschaft» wird das angeschnittene Thema ausführlich behandelt. Lange vor Thomas S. Kühn forderte du Prel, was man heute allgemein als Paradigmawechsel in der Wissenschaft bezeichnet. Er erkannte auch, dass die Wissenschaft ein geschlossenes System bildet, in das Neues einzubringen oft recht schwer ist, weil sich der sogenannte Fortschritt in der Wissenschaft lieber in horizontaler Richtung ausbreitet als in die Tiefe.
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dass es viel wichtigere Gegenstände des Forschens, dagegen eine objektive Mystik überhaupt nicht gäbe, sondern nur den pathologischen Glauben an eine solche.»4 Leider ist auch noch heute jeder, der lauthals verkündet, Seele als eigenständige, vom Nervensystem unabhängige Identität gäbe es nicht, des Beifalls akademischer Claqueure sicher. Und je mechanistisch-materialistischer er sich dabei gebärdet, desto vorbehaltloser und bewundernder tönt die Zustimmung. Diese Haltung kommt leider auch beim Umgang mit den schriftlichen Quellen der Antike zum Tragen, sobald von einer feinstofflichen Verkörperung der Seele oder von außerkörperlichen Erfahrungen, einschließlich der luziden Träume, die Rede ist. Der Leser wird bald erkennen, dass die von Carl du Prel oben angesprochenen Akademiker eigentlich froh sein müssen, dass der Dialog Eudemos, eine publizierte Schrift des Aristoteles, die das Wesen des Geistes und die Unsterblichkeit der Seele zum Gegenstand hatte, nicht erhalten ist, denn diese überlieferten Bruchstücke stecken thematisch genau das Gebiet ab, das ich selbst abgrenzen würde, um eine feinstoffliche Verkörperung der Seele zu diskutieren, und lassen vermuten, dass Aristoteles auch auf das eingegangen ist, was wir heute als außerkörperliche Erfahrungen bezeichnen. Vermutlich würden sich die Gelehrten mit der Diskussion dieser Phänomene schwer tun. Der Dialog ist zusammen mit den übrigen publizierten Schriften des Aristoteles am Ende des Altertums verloren gegangen. Immerhin finden sich einige ausdrückliche Zitate bei verschiedenen erhaltenen Autoren nebst einer kleinen Anzahl von Auszügen, die Aristoteles selbst für seine Vorlesungen gemacht hat.
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Cf., S. 274
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Ich möchte nun die Texte vorlegen, die ich aus dem Vorwort zu Aristoteles' Von der Seele von Olof Gigon5 entnommen habe. In einem Text Ciceros findet sich folgende Stelle: Aristoteles schreibt, Eudemos von Kypros, ein Freund von ihm, sei auf einer Reise nach Makedonien zu der Stadt Pherai gekommen, die damals ein recht ansehnlicher Ort in Thessalien war, aber durch den Tyrannen Alexandros in grausame Knechtschaft gehalten wurde. In jener Stadt nun fiel Eudemos in eine so schwere Krankheit, dass alle Ärzte ihn aufgaben. Da schien es ihm im Schlafe, als würde ihm ein Jüngling mit edlem Antlitz verkünden, er werde in kürzester Zeit wieder gesund werden, in wenigen Tagen werde der Tyrann Alexandros umkommen, Eudemos selbst aber werde im fünften Jahre danach in seine Heimat zurückkehren. Aristoteles schreibt nun, dass die ersten Voraussagen sofort eingetroffen seien. Eudemos sei gesund und der Tyrann durch die Brüder seiner Gemahlin getötet worden. Als aber das fünfte Jahr zu Ende ging und er aufgrund jenes Traumes die Hoffnung hatte, aus Sizilien nach Kypros zurückkehren zu können, da fiel er bei den Kämpfen um Syrakus. So sei denn jener Traum so gedeutet worden, dass Eudemos dann in seine Heimat zurückgekehrt zu sein schien, als seine Seele den Körper verließ.
Nach Gigon liegt der philosophische Sinn der Stelle, wobei ich mich dieser Auffassung nur zum Teil anschließen kann, darin, dass eine Traumgestalt nach Ablauf einer bestimmten Frist den Tod als die Rückkehr der Seele in ihre Heimat ankündigt. Im Eudemos gehe Aristoteles von einer Seelenlehre radikalster 5
Aristoteles: Vom Himmel, von der Seele, von der Dichtkunst, München 1987, S. 195.
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pythagoreischer Art aus, in der die Körperwelt für die Seele ein Ort der Verbannung sei; erst im Jenseits sei sie zu Hause. Der Traumzustand selbst sei schon bereits eine Vorstufe zur Heimkehr, und die Seele löse sich in ihm teilweise vom Körper und ahne Dinge, die sie eigentlich erst im Jenseits zu erkennen bekäme. Viel nahe liegender wäre die Erklärung, Eudemos habe nach seinem Tod die Heimat in seinem feinstofflichen Körper besucht. Eine reichhaltige Literatur liegt über solche Begebenheiten vor.6 Aber es darf natürlich einem ernsthaften Wissenschaftler nicht zugemutet werden, solche Stellen mit Hilfe «okkulter» Schriften zu deuten. Am besten, er kennt sie gar nicht. Auch andere Stellen, die von der Wahrheit der Träume sprechen, dürften in den Eudemos gehören. Als die Lehre des Aristoteles wird berichtet, die Seele sei bei Tage mit dem Leibe verflochten und leiste diesem Knechtesdienst und vermöchte darum nicht die Wahrheit rein zu erblicken. Bei Nacht dagegen sei sie von dieser Knechtschaft gelöst. Sie sammle sich um die Region der Brust und würde seherisch, und so entstünden die Träume.7 Eine Seele, die sich in der Region der Brust sammelt und seherisch wird. Ein Vorgang, der meinen Ohren nicht fremd tönt. Warum wird sie seherisch? Weil sie, im feinstofflichen Leib verkörpert, austritt. Die Lokalisation in der Brust könnte einem Chakra entsprechen. In der griechischen Philosophie und Religion finden sich oft Spuren, deren Ursprung im Indusgebiet liegt. Lehren über Yoga und indische Philosophie haben ihren Weg in den hellenistischen Kulturraum gefunden. Griechenland als Wiege der abendländischen Kultur soll nicht in Frage gestellt 6
Siehe z. B. Emil Mattiesen: Das persönliche Überleben des Todes. Eine Darstellung der Erfahrungsbeweise. Bde 1-3; Berlin 1962; F. W. H. Myers: Human Personality and its Survival of Bodily Death, London 1903. 7
Cf.5, S.192.
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werden, aber vielleicht sollten wir den indischen Subkontinent als Befruchter der Antike nicht (mit Absicht?) stets verschweigen. Die grundsätzliche, von den Autoren der Antike gestellte Frage, ob die Seele denn sterblich sei oder nicht, und auch ihre Erörterungen über die verschiedenen Verkörperungen der Seele scheinen sich in meinen Augen von Erfahrungen herzuleiten, zu denen sicherlich außerkörperliche Erlebnisse, luzide Träume und andere feinstoffliche Erscheinungen gehörten. Mindestens dürften sie bei der Entstehung der antiken Seelenlehre einen beträchtlichen Raum eingenommen haben. Exsomatische Vorgänge waren dem Menschen in der Antike bekannt, wie die nächste Textstelle belegt: Das eine ist die Geschichte von Hermotimos, einem Manne aus Klazomenai in lonien, dessen Seele die Fähigkeit besaß, bei Tag und Nacht sich gänzlich vom Körper zu lösen und frei in den fernsten Regionen umherzuschweifen. Der Körper lag während dieser Zeit wie tot in seinem Hause, bis die Seele zurückkehrte, Hermotimos sich wieder erhob und seinen staunenden Mitbürgern von den Wundern erzählte, die er erlebt hatte. Zuerst wusste nur seine Frau von der geheimen Fähigkeit seiner Seele. Einmal aber verriet sie ihn. Seine Feinde drangen in sein Haus ein, wie seine Seele gerade in der Ferne weilte, nahmen seinen Körper und verbrannten ihn. Da konnte seine Seele nicht mehr zurückkehren. Später bauten ihm die Klazomenier zur Sühne ein Heiligtum.8
Es ist dies beileibe nicht der einzige Hinweis auf eine Außerkörperlichkeit: Da wäre noch die parallele Geschichte von dem mythischen König zu erwähnen, «dessen Seele ebenfalls 8
Cf. 5, S.199.
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den Körper nach Belieben verlassen konnte und so die Fähigkeit besaß, die Zukunft voraus zu erkennen. Der König konnte jedem genau sagen, wann er sterben werde; er sagte auch voraus, dass nach einem Jahr in der Landschaft Elis ein Erdspalt sich auftun würde und, dass in einer andern Gegend nach zwei Jahren eine Überschwemmung auftreten würde.»9 Der Sündenfall oder der Erbfehler der Fachgelehrten, wie es Carl du Prel treffend bezeichnet, liegt nun darin, dass sie solche überlieferten Erlebnisse als Wundergeschichten abtun oder als märchenhafte Anekdoten bezeichnen. Es soll den Fachgelehrten nicht der Vorwurf gemacht werden, sich bei den Erklärungen geirrt zu haben, sondern der Erbfehler betrifft die jeweils verspätete Anerkennung existierender Tatsachen. So weigern sie sich hartnäckig, außerkörperliche Erfahrungen - stammen diese nun aus antiken oder zeitgenössischen Quellen - als Forschungsproblem zu erkennen. Ja, ich gehe hier soweit und behaupte, auch wenn ich die Rolle eines Tanzmeisters der Frösche übernehmen muss10, dass dadurch in der Philosophie die Diskussionen über das Leib-Seele-Problem auf falschen Bahnen verlaufe. Doch es handelt sich dabei nicht um einen spezifischen Fehler der Philosophie, sondern er tritt auf, sobald die Wissenschaft notgedrungen zum System wird. Dieses System ist nun zwar niemals vollendet; aber wenn es einmal einen für längere Dauer berechneten Ausbildungsgrad erreicht hat, vergisst man leicht den Ursprung des Systems aus der Erfahrung und meint, künftige Erfahrungen seien nur innerhalb der Grenzen des Systems möglich. Unser Blick ist 9
Cf. 5, S. 200 Luigi Galvani, 1737-98, der wegen seiner elektrisch-physiologischen Experimente an Fröschen als Tanzmeister der Frösche verspottet wurde. 10
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dann weit mehr geschärft, Dinge zu finden, die das System bestärken, als solche, die uns zur Abänderung und Weiterentwicklung des Systems nötigen würden. Mit einer gewissen Feindseligkeit werden dann alle Tatsachen betrachtet, die das System bedrohen. Dies ist der spezifische Fehler der Wissenschaft; sie ist von jeher zu langsam gewesen, Tatsachen anzuerkennen, deren Möglichkeit im System nicht vorgesehen war, und hat sie dann unter beständigem Missbrauch des Wortes (unmöglich) verworfen.11
So reizvoll es wäre, zu zeigen, wie die Wissenschaft sich immer wieder zu apriorischen Negationen verleiten und hinreißen ließ, wie an ihren Folgerungen immer etwas Provisorisches klebt, will ich mich doch wieder dem Menschen der antiken Welt zuwenden. In der Todesstunde verließ der homerische Mensch seinen Leib als psyché (yucˇ) bzw. eidolon (e√dwlon), die seine individuellen Züge trug. Im homerischen Epos Odyssee finden sich verschiedene Stellen über die psyché als Todesschatten. Im Hades trifft Odysseus mit der psyché seiner Mutter Antikleia zusammen: ... ich aber, schwankend in dem Herzen, wollte die Seele (psyché) meiner Mutter, der dahingestorbenen, ergreifen. Und dreimal schickte ich mich an, und es befahl mir der Mut, sie zu ergreifen. Dreimal jedoch entflog mir jene aus den Armen, einem Schatten gleich oder auch einem Traume.12
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Cf.3,S.261. 12 Homer: Die Odyssee, 11,204-208. Übersetzung von Wolfgang Schadewaldt. 12
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Auf Odysseus' Versuch, sie zu umarmen, antwortet sie: ... sondern dieses ist die Weise der Sterblichen, wenn einer gestorben ist. Denn nicht mehr halten dann die Sehnen das Fleisch zusammen und die Knochen, sondern diese bezwingt die starke Kraft des brennenden Feuers, sobald einmal der Lebensmut die weißen Knochen verlassen hat, die Seele (psyché) aber fliegt umher, davongeflogen wie ein Traum.13
Auch eine Stelle in der Ilias belegt, dass die homerische psyché das Abbild des verstorbenen Menschen ist und seine unverwechselbaren Züge trägt: Jetzo kam die Seele (psyché) des jammervollen Patroklos, ähnlich an Größe und Gestalt und lieblichen Augen ihm selber, Auch an Stimm, und wie jener den Leib mit Gewanden umhüllet.14
Johann Heinrich Voss wie Wolfgang Schadewaldt übersetzen das griechische psyché in Homers Ilias und Odyssee mit Seele. Diese Übertragung wird dem griechischen Wort nicht in allen Teilen gerecht, denn für den homerischen Menschen bedeutete psyché keineswegs die Lebensseele des lebenden Menschen in einem abstrakten Sinne oder gar ein Gesamtgemüt, das die verschiedenen seelischen Funktionen zusammenfasst, so wie wir heute «Seele» im täglichen, etwas diffusen Sprachgebrauch verwenden. Eines ist sicher, im Tode verließ der Mensch zur Zeit Homers den Leib als psyché bzw. eidolon, und zurück blieb swma (soma) der Leichnam, wobei bei Homer soma nie den 13 14
Cf. 12, 11,219-222. Homer: Ilias, 23,65-67. Übersetzung von Johann Heinrich Voss.
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Leib des lebendigen Menschen bedeutet, erst später wurde soma als «der Körper» interpretiert. Die Fachwelt behilft sich für die Übertragung von psyché mit Totenschatten, Totenseele, Schemen, Totenwesen.15 «Für ‹Seele› oder ‹Geist› habe Homer kein eigentliches Wort. yucˇ (Psyché), das Wort für Seele im späteren Griechisch, habe mit der denkenden, fühlenden Seele ursprünglich nichts zu tun.16 Bei dem Wort denke man offenbar zu Homers Zeiten vor allem an die Bedeutung ‹Totenseele› », meint sie.17 Vollends zum blassen Schemen verkommt psyché, wenn ihr jede Gefühls- und Gemütsregung aberkannt wird - übrigens im krassen Widerspruch zu der geschilderten Begegnung Odysseus' mit der psyché seiner Mutter -, weil thymos qumÒj die Bewusstseinsseele oder Lebensseele sei.18 Das Ich des lebendigen Menschen wird dann durch thymos, phren (frˇn) und nous (nÒoj) umschrieben, wobei das erste Organ der Affekte, Stimmungen, Gefühle, Ahnungen und des Spontanen ist, das zweite und dritte des Denkens, Überlegens, Verstehens, der wissenden Vernunft.19 Nimmt die psyché des Verstorbenen 15
Vgl. Bruno Snell: Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Hamburg 1946. Für ihn bedeutet yucˇ vor allem ‹Totenseele›, S. 23. ‹Beim Menschen fliegt die yucˇ fort, - aber einem Tier mochte man offenbar keine yuc» zuschreiben; so wurde für sie ein qumÒj (thymos) erfunden, der sie im Tode verläßt›, S. 26. E. Bickel: Homerischer Seelenglaube. Geschichtliche Grundzüge menschlicher Seelenvorstellungen, Berlin 1926. Bei ihm steht psyché für Totenwesen. 16 Cf. 16 (Snell), S. 22. 17 Cf. 17 (Snell), S. 23. 18 Werner Jaeger: Die Theologie der frühen griechischen Denker, Stuttgart 1953, S. 98 und 100. 19 R. Schulte: Leib und Seele, Freiburg-Basel-Wien 1980. «Haltungen, Lebensäußerungen oder -Vorgänge, die wir ‹geistig›, ‹seelisch› oder ‹personal› nennen, wie Denken, Fühlen, Empfinden, Bewusstsein u. ä., werden so auf das mit thymos (ursprünglich die ‹aufwallende Lebenskraft›; Trieb) bezeichnete zurückgeführt», S. 13. Und: «Im Laufe der Zeit
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von den soeben erwähnten Eigenschaften des Gemütes und des Geistes nichts mit, ist sie wahrlich eine Totenseele, die das scheidende Leben bedeutet, und ist «nicht einmal Luft, die der homerische Mensch einatmet und dadurch lebt, sondern nur der kalte Hauch des Todes.»20 Die Fachwelt, ausgenommen einige Außenseiter wie etwa ein Carl du Prel und eigenbrötlerische Querdenker - sie sind das Salz der kulturellen Welt -, übersieht einen wesentlichen Punkt, der eine neue Perspektive eröffnen würde. Aufgrund etymologischer Überlegungen fassen nämlich verschiedene Gelehrte die Psyche als Atem, Odem (von yucè = hauchen) auf - und wären damit auf der richtigen Spur -, setzen sie aber dann dem Lebensprinzip gleich.21 Die Anhänger der Totenseele widersprechen dieser Auffassung natürlich mit Recht, denn die Erkenntnis eines Lebensprinzips setzt schon etwelches philosophisches Denken und Abstrahieren voraus, das man den Alten zur Zeit Homers noch nicht zubilligen will. Aber könnte hinter der Aussage «die Seele ist ein Hauch» nicht eine Erfahrung oder ein Wissen stehen, das oft nur an Eingeweihte weitergegeben worden war? Hatten Hellsichtige das scheidende Leben vielleicht als hauchartiges, leuchtendes Gebilde gesehen? War psyché nicht doch der feinstoffliche Körper, der verkörperte Totengeist, der sich im Schatten des übernimmt psyché auch jenen Bedeutungsinhalt, den wir für thymos erkannt haben: Bewusstsein, Seele, Geist (im individuellen Sinn). So wird psyché zum alleinigen Begriff, der dann auch bald ausdrücklich dem soma - Leib entgegen gesetzt wird. Bei den Orphikern finden wir diese Bedeutungszusammenziehung von (unpersönlicher) Lebensseele und Bewußtseinsseele, Geist, vollzogen», S. 14. 20 Von U. Wilamowitz-Moellendorff: Der Glaube der Hellenen. 2 Bde. Darmstadt, 21955, S. (I) 364. 21 Vgl. dazu: Heino Sonnemans: Seele, Unsterblichkeit - Auferstehung. Zur griechischen und christlichen Anthropologie und Eschatologie. Freiburg, Basel, Wien, 1985.
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Todes manifestierte? Dann benutzte man nicht mangels philosophischer Reflexion den Ausdruck psyché für das scheidende Leben im Sinne von «Atem, Hauch», sondern weil Seele als Hauchkörper erfahren wurde. Der Bedeutungszusammenhang von Atem mit psyché liegt somit nicht im letzten Atemzug, mit dem der Mensch sein Leben aushaucht, eher trug hier die Luftartigkeit des feinstofflichen Körpers zur Verknüpfung mit psyché bei. Erwin Rohde, für Friedrich Nietzsche der Freund seines Lebens, kommt dem vermuteten Sachverhalt schon wesentlich näher, indem er in psyché einen körperlosen Doppelgänger sieht, der schon im lebendigen Menschen wohne und im Tode frei werde: Dies und nichts anderes ist seine Psyche. Eine solche Vorstellung, nach der in dem lebendigen, voll beseelten Menschen, wie ein fremder Gast, ein schwächerer Doppelgänger, sein anderes Ich, als seine «Psyche» wohnt, will uns freilich sehr fremdartig erscheinen.22
Ohne den Verdienst Rohdes schmälern zu wollen, scheint mir ein solcher Doppelgänger gar nicht so fremdartig; doch einen Doppelgänger kann ich mir nicht körperlos denken. Noch deutlicher spricht es W. F. Otto aus, dass die Psyche den Körper des Sterbenden als feinstofflicher Körper verlasse: Nach der Meinung der Primitiven sowohl wie des Homer tritt dieses seltsame Wesen erst im Augenblick des Todes auf, beginnt erst in der Sterbestunde zu existieren; denn es ist nicht der Lebensodem, der schon vorher als ein besonderes Wesen im Menschen gewohnt, sondern ein immaterieller Doppelgänger des 22
Erwin Rohde: Psyche. Seelenkult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Reprograf. Nachdruck, Darmstadt, 1980, S. (II) 6.
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ganzen Menschen, eine Art «Astralleib», der sich auf rätselhafte Weise von dem grobsinnlichen Körper scheidet...23
Mieden die Wissenschaftler den Geruch des Okkulten nicht wie die Pest und nähmen ernsthafte Schriften der Esoterik zur Hand, würde ihnen die Ablösung der psyché nicht so rätselhaft erscheinen. Nähmen sie nur ein Quentchen der Berichte über außerkörperliche Erfahrungen an, deren Spuren sich im antiken Schrifttum verfolgen lassen, erübrigten sich die Streitereien über die Bedeutung des Begriffs psyché. In den Fachbüchern über antike Seelenlehre wird die feinstoffliche Verkörperung nicht angeschnitten, ja nicht einmal gestreift; eine Mauer des Schweigens wird darum herum gebaut, um sie vollständig vergessen zu machen. Taucht das Phänomen auf, wird es als Anekdote bezeichnet, damit entschärft und braucht nicht mehr ernst genommen zu werden. Doch kehren wir nach diesen polemischen Seufzern wieder zu unserem Thema zurück: Der
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Walter F. Otto: Die Manen oder Von den Urformen des Totenglaubens. Eine Untersuchung zur Religion der Griechen, Römer und Semiten und zum Volksglauben überhaupt, Darmstadt 1981, S. 55. Ferner S. 43: «‹Er ist weggegangen›, empfindet das naive Bewußtsein. ‹Er›, nicht ein Wesen oder eine Kraft, die in ihm wohnt. ‹Aus den Gliedern›, wie Homer so anschaulich sagt, ist etwas weggeflogen... Welcher Ausdruck wäre dafür bezeichnender gewesen als das ‹Leben›? Und so nannte man jenen immateriellen Körper, das Ebenbild des verblichenen, von dem man, aus welchem Grund immer, glaubte, dass er das Dasein der Person fortsetze, ‹das Leben›.» Ein Bewußtsein, das so empfindet, halte ich keineswegs für naiv, sondern eher für natürlich. Otto charakterisiert psyché richtig, setzt aber vorsorglich denjenigen, der eventuell an so etwas glauben sollte, herab, denn ja nur ein naives Bewußtsein glaubt an einen immateriellen Astralleib. Und in seiner Wendung ‹aus welchem Grund immer› schwingt doch die Meinung mit, dass eigentlich gar kein ernstzunehmender Grund vorhanden sei. In allen Kulturen, von der Antike bis in die Neuzeit, finden sich Belege für die Existenz eines feinstofflichen Körpers, nur will man sie nicht berücksichtigen.
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Mensch besteht anscheinend aus mehreren, sich einander durchdringenden Schichten (ich beziffere die Anzahl der Schichten bewusst nicht, denn ich möchte jede dogmatische Festlegung vermeiden). Das Wort «Schicht» deutet natürlich schon wieder auf etwas Abgegrenztes hin und trifft deshalb den wahren Sachverhalt nicht ganz. Besser wäre vielleicht das Wort «Komponenten». Nur durch das Zusammenspiel dieser Komponenten vermag der Mensch sich in der materiellen Sphäre aufzuhalten. So besehen, gibt es gar keinen materiellen Menschen. Bei seinem Tode lässt er die materielle Komponente (soma) zurück. Hüten wir uns, die Materie zu unterschätzen. Was zurück bleibt in der Todesstunde, ist noch lange nicht mineralisch tot. Der Leichnam birgt immer noch organisches Leben auf der zellulären Stufe in sich, obschon ihn die feinstoffliche psyché als Trägerin des Individuellen verlassen hat. Jeder Zellbiologe weiß, dass man dem Leichnam kurz nach dem Tode lebende Zellen entnehmen und diese noch wochenlang in Kulturen weiter züchten, ja sich vermehren lassen kann. In der Materie manifestiert sich eine Lebenskraft, die während Äonen von evolutionären Zyklen stufenweise aufgebaut worden ist. Die Strukturen, die die genetische Information (Erbmasse) festhalten, haben mit der individuellen psyché des Dahingeschiedenen nichts mehr zu tun. Der «primitive» Grieche erkannte oder erahnte diesen Sachverhalt und nannte die unpersönliche Lebenskraft thymos, eine Art vegetative Lebensseele und Potenz, auch allen Pflanzen und Tieren eigen. Den sich nicht vom Körper ablösenden thymos als Sitz des persönlichen Bewusstseins und aller Gemütsfunktionen zu interpretieren, überbeansprucht diesen Begriff meiner Meinung nach doch allzu sehr, und die Folgerung, die homerische psyché entbehre jeglicher persönlicher Eigenschaft und sei nicht mehr als ein wesensloser Hauch, steht im krassen Widerspruch zu Homers Text. Ich möchte noch einmal die Szene, in der
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Odysseus die psyché seiner Mutter trifft, in Erinnerung rufen: Sie reagiert nicht wie ein Schatten, sondern wie ein Mensch mit Gefühl und mit den Eigenschaften ihrer ganzen Persönlichkeit, aber eben im Feinstofflichen verkörpert. Das heißt, ihre konkrete Individualität blieb in der nachtodlichen Existenz erhalten. Jahrhunderte später, schon im Herbst der Antike, sprach Augustinus es klar aus: «Wenn die Seele den Körper verlässt, nimmt sie alles mit sich: das Empfindungsvermögen, die Vorstellung, die Vernunft, den Verstand, die Einsicht, die Begierde, die Leidenschaft des Zorns»24, und: «Die Seele empfindet dort, wo sie sieht, empfindet, wo sie hört; und wo sie empfindet, dort lebt sie, und wo sie lebt, dort ist sie.»25 Die erweiterte Deutung des thymos als Träger seelischer Lebensäußerungen könnte man nur gelten lassen, wenn er sich zusammen mit der psyché beim Tode ablösen würde. Im Gegensatz zur psyché, von der Homer in vielen verschiedenen Wendungen sagt, sie verlasse den Körper, spricht er sich aber über den thymos nicht aus. Dass Homer zudem psyché in einem doppeldeutigen Sinn verwandt habe, zugleich als den unpersönlichen Begriff Leben und den in individueller Gestalt vorgestellten Totengeist, vermag ich beim besten Willen nicht nachzuvollziehen. Eine Doppeldeutigkeit scheint nur dann auf, wenn man die feinstofflichen Ablösungen im Tode nicht versteht. Sobald die psyché als Hauchseele, Totengeist, Totenschatten, Rauchseele oder Geist-Körper dem Körper entschwebt, hat eben gleichzeitig auch das «Leben» den Körper verlassen. Wie ich schon erwähnt habe, kann sich das Leben im Sinne eines Homo sapiens nur durch das Zusammenspiel und 24
Augustinus: De spir. et anim. c. 15: Anima recedens a corpore, secum trahit omnia: sensum, imaginationem, rationem, intellectum, intelligentiam, concupiscibilitatem et irascibilitatem. 25 Augustinus: Cura pro mortuis. c.11: Anima ibi sentit, ubi vedet, ibi sentit, ubi audit; et ubi sentit, ibi vivit, et ubi vivit, ibi est.
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wirken der verschiedenen Komponenten, Schichten oder Sphären manifestieren. Zugegeben, in den Epen Homers suchen wir vergeblich nach irgendeiner Wirksamkeit der psyché im lebenden Menschen. Das bietet jedoch keinen hinreichenden Grund anzunehmen, die psyché entstehe erst im Tode, bevor sie in den Hades fliege.26 Natürlich weist thymos, solange er zu einer funktionstüchtigen Menschengestalt beiträgt, auch persönliche Züge auf. Übersetzen wir thymos mit ‹Trieb›, dann ist dieser Trieb, wenn wir ihn in unserem persönlichen Körper ausleben, unser persönlicher Trieb und unsere persönliche Lebenskraft, gleich wie der materielle Leib ja auch uns persönlich gehört. Der Tod belehrt uns jedoch später, dass wir uns mit einer Daseinsform eingelassen haben, die nur geliehen war. So müssen wir diese Begriffe von zwei Gesichtspunkten aus betrachten: Vor dem Tode, wenn sie Komponenten eines materiell-biologischen Menschenwesens darstellen, und nach dem Tode, wenn sie als 26
L. Moulinier: Psyche. Zum homerischen Seelenglauben, in: Universität 21, 1966, S. 1077-1092, argumentiert: «Niemals wird ausdrücklich gesagt, dass die Psyche Ursache unseres Lebens sei, dass sie es sei, die uns Leben ‹einhauche›.» Insofern sich unsere konkrete Individualität im Tode mit oder als psyché ablöst, ist nicht zu sehen, was an Leben noch zurückbleiben sollte, außer man wollte den Begriff Leben auf die zellulären Strukturen allein beschränken. Was soll denn die psyché für ein Leben einhauchen? Sie ist doch der Träger des bewussten individuellen Lebens. Das einzige, was sie «einhauchen» kann, ist die Ermöglichung einer irdischen Existenz in einem materiell-organischen Körper. Solange die Kontinuität meines Bewusstseins gewahrt bleibt, empfinde ich mich als lebendig, unbesehen davon, ob mein Bewusstsein in einem feinstofflichen oder feststofflichen Körper steckt. Der Fehler in der Argumentation liegt darin, dass man die psyché als etwas außerhalb uns Seiendes objektivieren will. Wir sind psyché, folglich können wir doch nicht die Ursache des Lebens sein. «Homer wisse von irgendwelcher Wirksamkeit der psyché im Leben der Menschen ja nichts», steht da weiter. Dazu nur soviel: Unheimlich, wie gewisse Religionsphilosophen ganz genau wissen, wie viel und was Homer nicht wußte.
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selbständige und wahrscheinlich modifizierte Komponenten auftreten. Wie weit die «primitiven» Alten (die Bezeichnung stammt nicht von mir) den Sachverhalt klar erkannten, vermag ich nicht zu beurteilen. Sicherlich besaßen sie nur rudimentäre naturwissenschaftliche Erkenntnisse, so war der Antike zum Beispiel das Nervensystem noch unbekannt, und viele ihrer physiologischen Erklärungen entlocken uns heute ein Schmunzeln, das aber bei der psyché fehl am Platz wäre. Hier steckt ein harter Kern an Erfahrung dahinter. Wo die Adern dieser Quelle des Wissens verborgen liegen und zu welchen noch viel älteren Kulturen sie führen, darüber lässt sich nur spekulieren und liegt nicht mehr im Rahmen meiner kurzen Abhandlung über die psyché. Merkwürdigerweise hat Mead, der behauptet, für die Alten sei Seele zu Beginn nur einfach Luft gewesen, die hier angeführten Punkte übersehen. Er setzt bei seinen Ausführungen über den subtilen Geist-Körper den Schwerpunkt vor allem auf neuplatonische Schriften. Die ionischen Denker und Philosophen, kurz die Vorsokratiker, die sowohl eine naturphilosophische Deutung der Seele entwickelten als auch eine philosophische Anthropologie begannen, entfernten sich durch ihre Spekulationen immer mehr von dem klaren Bild der psyché als feinstoffliche Verkörperung, wie wir es bei Homer finden. Fast möchte ich von einer zunehmenden Verdunkelung sprechen, obschon bei ihnen noch der Glanz mancher Perle des Denkens aufblitzt. Fehlt jedoch die Erfahrung, an der man seine philosophischen Schlüsse messen kann, sind unsinnigen und leeren Spekulationen Tür und Tor geöffnet. Das Fragen nach dem Urgrund (arché £rc¾) der Natur leitete das Denken der Vorsokratiker und führte sie dazu, psyché als Prinzip des Lebens und der Bewegung zu begreifen. So ist für Anaximandros und Anaximenes die Luft die Trägerin des
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Lebens, des Grenzenlosen, das allem Werden zugrunde liegt, und Seele als Luft wird zum Lebensprinzip: Anaximandros (und andere) haben behauptet, dass die Natur der Seele luftartig sei.27 So wie unsere Seele Luft sei und uns zusammenhalte (beherrsche), so umfasse auch das ganze Weltall Hauch (pneuma) und Luft. Anaximenes... erklärt als Urgrund die Luft und das Unendliche. Denn aus ihr habe alles seine Entstehung und in sie löse sich alles wieder einmal auf. Die Luft ist beinahe etwas Unkörperliches. Weil wir durch Emanation aus ihr entstehen, muß sie grenzenlos und reich sein, denn sie geht niemals unter. Anaximenes, ein Anhänger des Anaximandros, erklärt, wie dieser, die zugrunde liegende Substanz für eine einzige und (ihrem Wesen nach) als unendlich. Nach ihm ist sie aber nicht unbestimmt wie bei jenem, sondern (klar) umrissen. Er bezeichnete die Luft als Urgrund. Sie unterscheide sich innerhalb der Seinszustände aber durch Verdünnung und Verdichtung.28
Ähnlich lautet eine Stelle bei Diogenes von Apollonia:
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Die nachfolgenden Zitate der Fragmente der Vorsokratiker sind aus der Artemis-Ausgabe Die Anfänge der abendländischen Philosophie. Fragmente und Lehrberichte der Vorsokratiker, Zürich 1949, entnommen. Die erstgenannte Zahl entspricht der fortlaufenden Fragmentzählung dieser Ausgabe, die zweite Angabe nennt die antike Quelle des Fragments. Die Texte wurden von Michael Grünwald übertragen. Anaximandros: 43, Aet., 29 IV 3,2. 28 Cf. 27. Anaximenes: 51, Aet. I 3,4. 53, Aet. 13, 4. 54, Olympiodor, de arte sacra c. 25. 55, Simpl. Phys. 24, 26.
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Dazu gibt es auch folgende Beweise: Die Menschen und die übrigen Lebewesen existieren durch (Einatmen der) Luft. Das ist ihre Seele und ihre Geisteskraft... Wird ihnen dies genommen, dann sterben sie, und ihre Geisteskraft erlischt. ... Für alle Lebewesen ist die Seele dasselbe, nämlich Luft; sie (die Seelenluft) ist zwar wärmer als die Außenluft, in der wir leben, dafür aber viel kälter als die Luft in der Nähe der Sonne.29
Die zitierten Passagen, die uns heute merkwürdig anmuten dürften Mead zur Äußerung getrieben haben, für die Alten sei Seele einfach Luft gewesen. Damit hat man aber die Sache etwas zu voreilig abgetan: Für die Alten war Luft zuerst nicht ein Gasgemisch, sondern ein Lebenselement, ein Urprinzip, das allgegenwärtig war, alles durchwaltete und in allem enthalten war. Die Luft, auf diese Weise gesehen, rückt so nahe an den indischen Begriff des prana. Trotz einer solchen metaphysischen Tönung der Seele sind wir schon weit entfernt von der psyché Homers. Mit Demokritos, Schüler des Leukippos, dämmerte das Zeitalter der Atomistik herauf. Beide sind Schöpfer des Weltbildes der exakten Naturwissenschaft, Väter einer atomistisch-mechanistischen Weltsicht, die ich letzten Endes als «entseelt» bezeichnen muss. Sie hieben die Wurzeln des Lebensbaumes ab, und wann wieder neuer Saft in den Stamm steigt und neues Grün treiben wird, liegt im Dunkeln. Im Grunde genommen waren sie keine Philosophen, sondern Physiker und Naturwissenschaftler. Ihre Gedanken folgten dem Muster einer mechanischen Kausalität. Leukippos, dessen Werke bis in die neueste Zeit immer wieder umstritten und oft kritiklos Demokritos zugeschrieben worden sind, soll aus Milet stammen und Schüler Zenons 29
Cf. 27. Diogenes von Apollonia: 571 und 572, Simpl. Phys. 151,28.
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gewesen sein. In einer genialen Lösung verband er das Sein der allerkleinsten und unteilbaren Stoffteilchen (den Atomen) mit einem immateriellen, nur im Denken nachvollziehbaren «unendlich leeren Raum». Von diesen kleinsten Körperchen, den Atomen, die vollkommen kompakt, passiv gedacht sind, führt zweifelsohne eine gerade Linie zur Neuzeit über Isaac Newton bis zur ersten Kernspaltung durch Otto Hahn. Den folgenden kurzen Lehrbericht über die Seele (psyché), der auf Leukippos zurück geht, möchte ich dem Leser nicht vorenthalten: Demokritos erklärt die Seele (ihrem Wesen nach) für feurig und warm. Die allumfassende Mischung (der Atome) nennt er Ursubstanzen der gesamten Natur. Ebenso denkt auch Leukippos. Von diesen (den Atomen) bildeten die kugelförmigen die Seele, weil so gestaltete Körper am besten durch alles durchdringen und die anderen in Bewegung setzen können, da sie ja selbst in Bewegung seien. Sie nehmen nämlich an, dass es die Seele sei, die den Lebewesen die Bewegung mitteilte. Und Leukippos erklärt, die Seele bestehe aus Feuer.30
Gehen wir gleich weiter zu Leukippos Schüler, Demokritos. Thrasyllos, Hofastrologe des Kaisers Tiberius, nannte ihn einen Fünfkämpfer, da er dessen Schriften in fünf Gruppen (Ethik, Physik, Mathematik, Musik und Technik) eingeteilt hatte. Die überlieferten Fragmente zeigen ihn als glänzenden Stilisten, versiert in allen Fachgebieten. Er erreichte das hohe Alter von neunzig Jahren und war noch ein Zeitgenosse von Sokrates. Zu sagen hatten sich die beiden wahrscheinlich nicht viel. 30
Cf. 27. Leukippos: 596, Arist. de anima 12, 404 al.
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Die innere, prophetische Stimme, die Sokrates von Kindheit gegeben war, sein Dämonion31, wird Demokrit als «Rationalist» nicht ganz geheuer gewesen sein. Der Atomist dürfte eine geringe Meinung davon gehabt haben, genauso wie die heutigen Altertumswissenschaftler. Die Standpunkte Demokrits waren mit denjenigen der Pythagoräern und der platonischen Schule unvereinbar. «Demokrit wird von Plato nie, von Aristoteles nur tadelnd erwähnt. Es hieß sogar, Plato habe alle demokritischen Schriften aufkaufen und verbrennen wollen. Diese Legende ist insofern Wahrheit geworden, als der Platonismus den Demokritismus tatsächlich verschluckt hat wie eine satanische Häresie, denn die Philosophie ist um nichts duldsamer als die Kirche», meint dazu der geistvoll-ironische Wiener Essayist Egon Friedell.32 Die von Demokrit überlieferten, zitierten Textstellen beschränken sich hier auf die, welche die psyché zum Gegenstand haben: Einige meinen, dass die Seele Feuer sei, denn dieses sei ebenfalls eine äußerst fein gestaltete Substanz und unter den Elementen das am meisten unkörperliche. In erster Linie ist es 31
Vgl. dazu Platon: Die Apologie des Sokrates (32 A): «Der Grund dazu liegt in dem, was ihr mich oft und an manchem Ort habt sagen hören: dass etwas Göttliches und Dämonisches in mir vorgeht... Schon von Kindheit an habe ich das: irgendeine Stimme, die mich jedesmal, wenn sie sich hören lässt, von dem abmahnt, was ich gerade tun will, die mich aber nie zu etwas auffordert.» Platon: Die Werke des Aufstiegs, Zürich und München 21974, S. 233. «Denn mir ist etwas Seltsames widerfahren, ihr Richter - euch darf ich ja mit Recht ‹Richter› nennen. Die warnende Stimme meines Daimonions, die sich jeweils in mir regt, ließ sich in der ganzen letzten Zeit sehr häufig vernehmen und trat mir auch in ganz unbedeutenden Angelegenheiten entgegen, wenn ich irgendwie unrichtig handeln wollte.» Ebenda S. 254. 32 Egon Friedell: Kulturgeschichte Griechenlands. Leben und Legende der vorchristlichen Seele, Zürich 1979, S. 279.
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auch das Feuer, das sich bewegt und andere Körper in
Bewegung versetzt. Noch feiner hat Demokritos auseinandergesetzt, warum sich dies beides so verhält: Seele und Geist seien nämlich ein und dasselbe. Dieses (Geist, Seele) gehöre zu den Urkörpern, die unteilbar seien. Beweglich sei es wegen seiner leichten Teilbarkeit und wegen seiner Gestalt. Unter den Gestalten (von Körpern) sei der kugelförmige am beweglichsten. So verhielten sich nun der Geist und das Feuer. Einige behaupten, dass die Seele den Körper bewege, in dem sie sich befindet, genau so wie sie sich selber bewegt. Ähnlich spricht sich auch Demokritos aus: die unteilbaren Kugelkörperchen seien stets in Bewegung, weil sie ihrer Natur nach niemals verharrten und dadurch den ganzen Körper mit sich rissen und in Bewegung setzten. Demokritos und Epikuros erklären die Seele für zweiteilig; der vernunftbegabte Seelenteil befinde sich im Brustkorb, der vernunftlose Teil aber sei über das ganze Gefüge des Körpers verteilt... Hippokrates, Demokritos und Platon glauben, dass die Lenkung (der Seele) sich im Gehirn befinde. Demokrit (erklärt) die Seele für vergänglich, da sie mit dem Körper zugrunde gehe.33
Für Demokrit besteht die Seele aus Atomen, und zwar aus den feinsten und beweglichsten, kurz: aus Feueratomen. Gefühle und Begierden sind Bewegungen dieser Feueratome. «Die Seele ist das, was den aus eigener Kraft nicht bewegbaren Körpermassen die Bewegung verleiht. - Diese Seelenatome, nicht anders als alle übrigen Atome, vergehen nicht, sie wandeln ihre Art nicht», 33
Cf. 27. Demokritos: 627, Arist. de anima ~I2. 405a 5. 628, Arist. de anima I3. 406b 15.629, Aet. IV 4,6. 630, Aet. IV 7,4.
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bemerkt Rohde dazu. Und in der Tat, psyché ist immer noch eine Art von scheinbar fassbarem Feinstoff (ehrlicherweise muss ich gestehen, dass selbst in unseren Tagen nicht mehr über den «Stoff» des Astralkörpers bekannt ist). Aber was schwerer wiegt, für ein persönliches Überleben der Seele, des Menschen als Persönlichkeit und als konkrete Individualität ist in diesem mechanistischen Weltgebäude kein Raum mehr übrig. Mit dem Tode löst sich die Seele in ihre Seelenatome auf, die aber als ewig unzerstörbare Teilchen bestehen bleiben und sich in einem neu entstandenen Organismus wieder zu einer Seele zusammensetzen. Für die Atomisten unter den Vorsokratikern wird die Seele zum Träger des körperlichen Lebens; sie gilt als Prinzip der Natur. Die Frage, ob die psyché nach dem Tode noch weiter existierte, beantwortete sich von selbst: Nur die Seelenatome besaßen eine unpersönliche Unsterblichkeit. Alle Erscheinungen der Natur einschließlich der Seele beruhen auf einer Mechanik der Atome. Auf einen Nenner gebracht: Die Atomisten betrieben eine krude Physiologie. Das wahre Wissen über die psyché, wie es Homer in seinen Epen dargestellt hatte, war im perikleischen Zeitalter bei den Naturphilosophen, sofern sie die Schule der Atomisten vertraten, verloren gegangen. Ich will die Bedeutung der Modelle der Atomisten für unsere moderne Atomphysik nicht herunterspielen - sie sind mehr als eindrücklich -, doch in Hinsicht auf das Wissen über die subtile Verkörperung der Seele wurde dieser Fortschritt teuer erkauft. Gewisse Parallelen lassen sich übrigens zum hochgejubelten Zeitalter der Aufklärung ziehen, die mit dem Aberglauben radikal aufräumte. Die seelischen Bilderstürmer haben mangels eines feinen Differenzierungsvermögens viel Wertvolles zerstört. Der Preis dafür ist eine neurotisierte menschliche Gesellschaft. Das Bild der psyché als im Feinstofflichen verkörperte Seele, als Geist-Körper entsprang nicht dem philosophischen Geist,
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sondern der Erfahrung, aus der sich dann wieder die religiöse Überlieferung entwickelte. Woher sie stammt, bleibt im Dunkeln. Das Wissen darüber vermag von den Weisen aus Indien her seinen Weg nach Griechenland gefunden haben, lange bevor die Truppen Alexanders in die Gegend von Kaschmir eindrangen. Doch das Bild eines subtilen Körpers kam nicht allein; es hielt Einzug mit dem Gedanken der Unsterblichkeit der Seele. Das bis heute wirksam gebliebene Bewusstsein von Seele und Leib wurzelt wahrscheinlich in der Orphik. Die Anschauungen der Pythagoräer wie die Philosophie eines Platon und Aristoteles mit ihren Lehren von der Göttlichkeit der Seele und des Geistes wurden direkt von der orphischen Seelenlehre befruchtet. Eng verwoben ist die psyché als Totenwesen mit den Vorstellungen über das Jenseits, die sich wiederum nicht von den Mysterien von Eleusis, dem Dionysoskult und der orphischen Bewegung trennen lassen. Von daher scheint es gerechtfertigt, einen kurzen Blick auf diese Religionsströmungen zu werfen, nicht um sie erschöpfend darzustellen, sondern eher, um den möglicherweise falschen Eindruck ins rechte Licht zu rücken, dass die Atomisten unter den Vorsokratikern das Feld allein behauptet hätten. Nach ursprünglichen Vorstellungen der Griechen schwebte die psyché nach ihrer Ablösung in den Hades. Ein ungemütlicher Ort, wo sie kraftlos dahinvegetierte. Ich wage nicht zu behaupten, der Zustand im Hades entspreche keiner psychischen Realität. In seiner Unbehaglichkeit lässt sich der Hades ohne weiteres mit dem tibetanischen Bardo-Zustand vergleichen, wenngleich auch mit anderem archetypischen Getier bevölkert. Gewisse mediale Botschaften aus dem Jenseits - man mag sich dazu stellen, wie man will - sprechen von finsteren, nebligtrüben Daseinszuständen, in denen Verstorbene in einer Art Übergangsphase sich aufhalten müssen.
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Den Gegenpol zum Hades bildete bei den Griechen ihre Vorstellung von den «Inseln der Seligen», die aus der minoischen Kultur stammte, ihr Elysium, wohin die Lieblinge der Götter lebend und in voller Körperlichkeit entrückt wurden. Die Seligen in ihren Gefilden sind aber nicht die hingeschiedenen Schattenbilde (yuca∂), sondern Entrückte, wie sie uns in den biblischen Texten von Elias und Henoch begegnen: Während sie so im Gespräche immer weitergingen, da kam auf einmal ein feuriger Wagen mit feurigen Rossen und bremste die beiden. So fuhr Elia im Wetter gen Himmel (2. Könige 2:11).34
Der minoische Ursprung der «Inseln der Seligen» erstaunt nicht, wenn wir einen Blick auf die Wandfresken der Gemächer und Säle von Knossos auf Kreta werfen. Heitere Auen mit Blumen pflückenden Jünglingen, schleichende Tiere hinter Gebüschen, anmutige Frauen und Mädchen wie die Gestalten eines elysischen Gefildes bieten sich dem Auge dar. Dass dem minoischen Kreta aber schon das Bild «Psyche-Schmetterling» bekannt war, sollte in Zusammenhang mit der Spurensuche in der Vergangenheit unsere Aufmerksamkeit erregen. Eine Variante der alten symbolischen Gleichung Seele-Vogel liegt hier vor. Doch Symbolik ist letztlich immer die sinnbildliche Darstellung einer meist verborgenen Realität. In diesem Falle heißt die Realität für mich außerkörperliche Erfahrung, wobei ich mir bewusst bin, dass gerade der Flügel als Symbol des magischen Fluges eine aktuelle Bedeutung für die psyché des 34
Henoch, einer der biblischen Urväter und nach der Überlieferung der Jahvisten ein Enkel Adams. 365jährig wurde er wegen seines gottwohlgefälligen Wandels in den Himmel entrückt.
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Abgeschiedenen erhält; sei es, dass der Flug in den Hades oder in das paradiesische Elysium führt. Kreta, von Natur aus zum Kreuzungspunkt verschiedener Kulturströme bestimmt, unterhielt rege Handelsbeziehungen zu Ägypten und der syrischen Küste, so mögen mannigfaltige religiöse Ideen auf diesen Handelswegen auf die Insel gelangt sein und später auch das griechische Festland beeinflusst haben. Ohne auf die griechischen Mysterien einzugehen, können wir die psyché nicht in vollem Umfange verstehen. In ihnen traf die homerische Religion auf Riten und Glaubensvorstellungen wie Initiation und ein Fortleben der Seele. So bilden die Mysterien eine Brücke von Homer zur Orphik. In Eleusis entstand ein tiefer Mysterienkult, der die Vorstellungen über das Jenseits stark erweiterte. Welche besonderen Umstände dabei eine Rolle spielten, ist unter dem Schleier der Vergangenheit verborgen. Die eleusischen Mysterien verhießen den Eingeweihten ein besonderes Los nach dem Tode. Ein glückliches Fortleben, weit ab vom dumpfigen Dunkel des Hades, erwartet sie: Die Sonne durchwirkt die Myrtenhaine mit heiterem Licht, in denen sie zum Flötenschalle tanzten, sangen und die Götter lobpriesen. Jedenfalls so schildert es uns das Schauspiel Die Frösche von Aristophanes. Lehren verkündeten die Eingeweihten keine; die Eleusinien standen allen offen, dem Sklaven wie dem Herrn, den Frauen und den Kindern. Die Erkenntnis erlangte der Adept durch innere Schau. Keine Sündenvergebung, keine Reue brauchte es, keine besondere Lebensordnung oder Lebensführung musste beachtet werden; das glücklichere Los im Jenseits war rein eine Folge der Einweihung. Der eleusinische Kult hebt sich wohltuend von einem Christentum ab, das stetig den moralischen Warnfinger hochhebt. In Zusammenhang mit den Jenseitsvorstellungen möchte ich hier einen Punkt hervorheben, der gegen die Auffassung einer
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körperlosen psyché spricht: Das Jenseits, sei es nun Schattenwelt des Hades oder paradiesisches Eleusis, spiegelt in gewissem Sinne unsere Welt wider, ist mehr oder weniger ein Bild davon, das heißt, nur für eine verkörperte Seele - eben die psyché ergibt sich eine sinnvolle Existenz in jenseitigen Gefilden. Die Hoffnung auf jenseitiges Leben schließt zugleich die Bewahrung der Individualität ein. Und dieses «Leben» lässt sich nicht an eine vom Leibe getrennte Seele knüpfen. «Das Zusammenkommen der beiden Vorstellungen, nämlich der vom ‹Leben› nach dem Tode und derjenigen einer individuellen Gewesenheit als psyché - eidolon, welche für die erstere die Voraussetzung ist, erlaubt eine solche leibfreie Seelenvorstellung nicht. Denn die Toten-Seelen waren nicht leibfreie Seelen, sondern entseelte Körper, wobei das ent-seelt sich auf die Lebensseele, auf die Lebenskraft bezieht.»35 Ich halte den Ausdruck «ent-seelt» für eine schlechte Wahl. Die psyché ist im Bezug auf das Gemüt bei Homer eben nicht entseelt, und die Lebensseele entspricht dem thymos, der eine unpersönliche, dem organischen Leben inhärente Lebenskraft darstellt. Pythagoras, legendenumwittert, bewundert, verehrt und gehasst, Führer und Vorbild für die Sucher nach einer höheren Daseinsform, Gründer einer esoterischen Gemeinschaft, für andere ein Sektierer und für Heraklit bloß ein Vielwisser eigentlich mochte er sowieso niemanden - (Vielwisserei bildet den Geist nicht, sonst hätte sie den Hesiod belehren müssen und den Pythagoras, den Xenophanes und Hekataios), legte seine Ideen nicht schriftlich nieder. Doch von seinen Schülern mündlich überliefert, strahlten sie bis zu den Alchemisten des 17. und 18. Jahrhunderts aus und verloren nichts von ihrer Anziehung. Pythagoras' Ideen enthalten einen Tropfen ungriechischen 35
Cf. 21. S. 104.
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Geistes, dem wir uns kurz zuwenden wollen. Pythagoras erzählte man - sei einmal an einem Hund, der geschlagen wurde, vorbeigegangen. Voller Mitleid habe er die Worte gesprochen: Höre auf und schlage ihn nicht. Denn in ihm ist die Seele eines befreundeten Mannes, die ich wieder erkannte, als ich ihre Stimme vernahm.36 Es ist nicht die einzige Stelle in den vorsokratischen Fragmenten, die sich auf eine Seelenwanderung bezieht. Herodot weiß aus Ägypten zu berichten: Auch waren die Ägypter die ersten, die die Unsterblichkeit der Seele lehrten. Wenn der Leib stirbt, geht die Seele in ein anderes, gerade geborenes Lebewesen ein, und wenn sie durch alle Landtiere, Wassertiere und Vögel gewandert ist, geht sie wieder in den Leib eines neugeborenen Kindes ein. Dieser Kreislauf dauert dreitausend Jahre. Einige Hellenen haben diese Lehre übernommen, in älteren wie in jüngeren Zeiten. Ich kenne ihre Namen, nenne sie aber nicht.
Schade, Herodot gibt sich zugeknöpft und unbeteiligt: Meine Aufgabe ist weiter nichts, als alles niederzuschreiben, was man mir mitgeteilt hat.37 In seinem vita Pythagorae (das Leben des Pythagoras) schreibt Porphyrios: Es befand sich unter ihnen ein Mann von übermäßigem Wissen, ein Mann, der sich den größten Gedankenreichtum erwarb und vielerlei weiser Werke überaus mächtig war. 36
Cf. 27. Xenophanes: 79, Diog. Laert VIII36. Herodot: Historien II. 123, Stuttgart 1963. Übersetzung von A. Horneffer. Die zitierte Stelle ist auch in den Fragmenten der Vorsokratiker zu finden.
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Reckte er sich mit allen Kräften des Geistes, leicht konnte er dann von allen Dingen der Welt ein jedes beschauen, in zehn oder zwanzig Leben, die er geführt.38
Wortgewaltig, in zündenden, mitreißenden Worten kündete Empedokles fast ein Jahrhundert später als Pythagoras: Es ist der Notwendigkeit Spruch und der Götter uralter urewiger Urteilsspruch, mit gewaltigen Schwüren besiegelt: Wer seine Glieder befleckt mit dem Verbrechen des Mordes, wer als Gefolgsmann des Zwietrachtdämons sich mit Meineid besudelt aus der Schar der Geister, die ein wenig währendes Leben sich erlost, die müssen dann dreimal zehntausend Jahre von den Seligen entfernt umherirren und des irdischen Lebens mühevolle Pfade durchwandeln; und im Wechsel der Zeit werden sie wiedergeboren, in aller Geschöpfe sterbliche Form sich verwandelnd. Des Äthers Gewalt hetzt sie (hinunter) zum Meer, aber die Flut speit sie zur Erde (zurück), diese wirft sie den Strahlen der leuchtenden Sonne zu, die wiederum schleudert sie in die Wirbel der Luft. So nimmt sie das eine vom ändern, allen zusammen sind gleich sie verhasst. Dieser (Unseligen) einer bin ich nun geworden, von Göttern verbannt und in die Irre gesandt, da ich der rasenden Zwietrachtsgöttin vertraute. Ich wurde schon einmal Knabe, Mädchen, Pflanze, Vogel, aus dem Meere auftauchender, stummer Fisch.39
Die Lehre einer Seelenwanderung, die wir aus den Fragmenten der Vorsokratiker herauslesen können, rückt Pythagoras in die Nähe der orphischen Lehre von der Göttlichkeit der Seele. Obschon die Orphik auch schon Pythagoras allein zugeschrieben 38 39
Cf. 27. 105, Porphyrius vita Pythag. 30. Cf. 27. 505, Hipp. Ref. VII29.506, Diog. VIII 77.
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worden ist, gehören ihre Wurzeln doch zu einer älteren und umfassenderen Bewegung. Den Orphikern galt der Körper als das Grab der Seele. Die Seele schläft, wenn der Körper in Bewegung ist, gleich wie der Körper nach dem Tode im Grabe schläft. Wenn der Körper schläft, wird die Seele zeitweilig frei; wenn er stirbt, wird sie völlig frei und geht in die andere Welt. Folglich wird der Tod zum zweiten Leben, zum Leben der Seele.40 Man fragt sich zu Recht, ob das griechische Gedanken sind. Viele Altertumswissenschaftler vermuten deshalb einen indischen Ursprung der Orphik. Hinter der mystischen Gestalt des Orpheus verbirgt sich wahrscheinlich eine wirkliche religiöse Persönlichkeit, die sich aber nicht so ohne weiteres in die homerische Tradition oder in den Kulturraum des Mittelmeers eingliedern lässt, denn Orpheus' Botschaft bricht radikal mit der olympischen Religion. Mystische Erfahrung und Ekstase des orphisch Initiierten ließen die menschliche Bedingtheit überschreiten. Doch leihen wir dem griechischen Dichter, Pindar, dem ältesten Zeugen für die Seelenwanderung in der Orphik, unser Ohr: Den Guten leuchtet bei Tag, leuchtet in den Nächten der Sonnenschein; sie pflücken ein Leben frei von Mühsal, nicht durchwühlend der Erde Schoß mit sehnigem Arm noch die Wasser des Meeres um schmalen Erwerb. Sondern vereint mit den großen Göttern, führen sie ein Leben tränenfrei.41
40 41
M. P. Nilsson: Geschichte der griechischen Religion, München 1955, I, S. 694. Pindar. The Olympian and Pythian Ödes, Amsterdam 1965. 01, II, 109-121.
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Nach dem Hades winkt dem Menschen die Hoffnung auf die Gemeinschaft mit den Göttern, auf das Glück der Seligen: Doch welche sich überwanden, Drei Male hier wie dort ihre Seele fernzuhalten jedem Fehl, Hin zu des Kronos Feste ziehen sie auf den Pfaden des Zeus. Es umweht kühler Hauch der Seligen Eiland, den das Weltmeer schickt. Blumen flammen da wie Gold; Die Flur lässt leuchtend sie im Zweigicht erblühn und andere die Wasser. Die winden sie um ihren Arm, auch Kränze flechten sie sich, wo Rhadamanthys' heil'ger Richtstab wacht.42
Die Quintessenz der Orphik spricht Pindar mit dem Vers aus: Unsterbliches Leben hat nur die Seele. Sie allein ist göttlichen Ursprungs.
Mit der Göttlichkeit der Seele steigt der orphische Mensch aus dem Prozess von Werden und Vergehen aus. Deutlich bringen diesen Gedanken auch die so genannten «Totenpässe» (Goldplättchen), die auf Kreta und Süditalien gefunden wurden, zum Ausdruck. Sie dürften auf das 5. Jahrhundert v. Chr. zurückgehen. Als «ein uraltes gemeinsames Erbe, Ergebnis tausendjähriger Spekulationen über Ekstasen, Visionen und Versuchungen, Traumabenteuer und imaginärer Reisen» 42
Cf. 41. Ol, II, 123 ff.
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bezeichnet sie Eliade.43 Sie stellen gewissermaßen ein kondensiertes «Totenbuch» dar und können mit den gleichartigen in Tibet... verwendeten Texten zusammengestellt werden. Die Rezitation von Toten-Reisewegen am Bett des Toten bedeutete dasselbe wie das mystische Geleit des Seelen begleitenden Schamanen. Ohne den Vergleich pressen zu wollen, könnte man in der Totengeographie der orphischpythagoreischen Plättchen das Surrogat eines schamanischen Seelengeleits sehen.44 Sie zeichnen ein anderes Bild über die Postexistenz der Seele als die der homerischen Tradition. Faszinierend ist der Text des Goldplättchens von Petulia: Links von dem Bereich des Hades wirst du eine Quelle finden, an deren Seite eine weiße Zypresse wächst; nähere dich dieser Quelle nicht allzusehr. Du wirst aber eine andere finden: aus dem See des Gedächtnisses (Mnemosyne) kommt frisches Wasser, und Wächter findest du in Menge. Sage ihnen: ‹Ich bin das Kind der Erde und des Sternenhimmels, das wisst ihr; doch ich bin vor Durst ausgetrocknet und sterbe. Gebt mir schnell vom frischen Wasser, das aus dem See des Gedächtnisses fließt.) Und von sich aus werden die Wächter dir zu trinken geben von der geheiligten Quelle, und dann wirst du unter den ändern Helden herrschen.45
In Umkehr zu Lethe, dem Strom des Vergessen, trinken die Orphiker aus dem Quell des Gedächtnisses. Sie meiden das Wasser der Lethe. Wer es trinkt, reinkarniert sich und wird in 43
Mircea Eliade: Geschichte der religiösen Ideen. Bd. II. Von Gautama Buddha bis zu den Anfängen des Christentums. Freiburg, Basel, Wien, 1979, S. 168. 44 Mircea Eliade: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik, Zürich und Stuttgart, 1956, S. 373. 45 Cf. 43.
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den Kreislauf des Werdens und Vergehens geworfen. Vergessen bedeutet Rückkehr in das irdische Leben. Durch Bewusstheit entkommt die Seele dem Kreis der Mühen. Durch Vergöttlichung in der himmlischen Sphäre bewahrt sie sich vom Rad der Geburten. Bei Pindar war das eidolon aionos (eidwlon a∂înoj) die Seele, die allein von Gott stammt und für ewige Seligkeit bestimmt ist. Bei den Goldplättchen erhält nun das Wort psyché eine neue Bedeutung. Sie ist nicht nur Totengeist, sondern jetzt auch göttlichen Ursprungs und deshalb unsterblich und wird schließlich zum Gott. Ihr Weg in die himmlische Sphäre führt durch den Kreislauf der Mühen und Leiden, aber ihre Zugehörigkeit zum Kreis der Reinen, der Eingeweihten, die mit Gott verbunden sind, geht nie verloren. So fällt Homers Totenschatten, verkörpert im Feinstofflichen, mit der unsterblichen Seele zusammen und erhält einen neuen Inhalt: Psyche wird der Mensch selbst. Mit dem orphisch-pythagoreischen Kind des Sternenhimmels möchte ich meine Ausführungen über den Begriff der psyché in der Frühzeit des Griechentums abschließen. Ich habe versucht darzulegen, wie die psyché oder das eidolon Homers kein körperloses Wesen war, sondern einen subtilen Körper besaß, der als luft- oder hauchartig empfunden worden war. Eine Beschreibung, die sich weitgehend mit dem Astralleib der außerkörperlichen Erfahrung deckt. In der Vorstellung einer vergänglichen, unpersönlichen, aus Seelenatomen aufgebauten Seele, wie sie die vorsokratischen Atomisten vortrugen, sehe ich einen Rückschritt gegenüber dem einfachen, aber im Prinzip richtigen Bild bei Homer. Dafür lieferten die Atomisten die ersten Bausteine einer physiologischen Betrachtungsweise der Leib-Seele-Vorgänge. Mit den Mysterien von Eleusis und der Orphik wie den Lehren des Pythagoras entwickelten sich neue
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Jenseitsvorstellungen, verheißungsvoller als die trostlose Öde des Hades. Parallel dazu trat die Göttlichkeit und die Unsterblichkeit der Seele in den Vordergrund. Bei Platon und Aristoteles werden alle diese Ströme zusammenmünden und der philosophischen Reflexion unterworfen werden. So reizvoll es wäre, unseren Gegenstand weiterzuverfolgen, würde es den Rahmen eines Essays sprengen. Der Leser möge nun bei den Ausführungen Meads wieder einsteigen und erfahren, was ein Platon, ein Aristoteles, die Neuplatoniker, die Gnostiker und die frühen Christen zu der subtilen Verkörperung des Menschen zu sagen hatten. Die Psyche ist der Mensch, das Du und das Ich. Sie müsste aus diesem Grunde ein brennendes Thema sein, aber mit leiser Enttäuschung muss ich sagen: «Habe nun, ach! Die Diskussionen über Seele und Leib durchaus studiert mit heißem Bemühn» und nicht gefunden, dass psyché als feinstoffliche Verkörperung die gelehrten Geister der alma mater bewegt hätte. Mitnichten, die Wurzeln bleiben abgeschlagen. All die gelesenen, leeren Abstrakta erinnern mich an ein Bild von Paul Klee: Die Zwitschermaschine. Auf einer bratspießähnlichen Stange sitzen mehrere Vögel. Der Kurbelgriff an einem Ende zwingt einen gedanklich, daran zu drehen... und die Vögel werden zwitschern und pfeifen, immer dieselbe Melodie und den gleichen Kehrreim wie eine Drehorgel. Ich kappe nun die Taue, die mich an dieses unwirtliche Gestade der gelehrten Welt fesseln, und lasse mich über die Untiefen der Seele gleiten... Der Seele Grenzen kannst du nicht auffinden, auch wenn du gehst und jede Straße abwanderst, so tief ist ihr Sinn (Heraklit). Seele ist kein Abstraktum; in ihr leben wir und sonst nirgendwo. Die verschiedenen Körper sind nur die Hüllen ihrer Wechselwirkungen mit den Sphären. Vor noch nicht so langer Zeit fragte ich mich oft, wohin denn der Flug der psyché führen sollte. Welches Versprechen lag in
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meinen außerkörperlichen Erfahrungen?46 Ich wendete und drehte die Frage oft, versank in den dunklen Wassern des Zweifels. In einer Nacht sandte mir eine Traumvision eine unmissverständliche Antwort... Um die Felsklippe, auf der ich stand, waberten braun-graue Nebelschwaden, verhüllten das in dämmriger Düsternis liegende Land. Unbeweglich wartete ich auf etwas aus dem Nebel: Mit schweren langsamen Schritten näherte sich mir eine klobige große Gestalt. Ich empfand nichts, unbeteiligt sah ich zu, wie sich die erdfarbene Gestalt aufwärts auf mich zu bewegte. Als sie gerade noch etwas unter mir stand, bückte ich mich unwillkürlich, packte einen großen Stein und zertrümmerte mit ihm den Schädel der Gestalt. Der Schädel zersplitterte, als wäre er aus Ton. Noch waren die einzelnen Bruchstücke nicht zu Boden gefallen, erstrahlte das goldene Antlitz eines Jünglings aus dem Erdenkloß hervor. Mit einer anmutigen seitlichen Bewegung des Kopfes befreite er seine goldenen Haare endgültig aus der irdenen Hülle, und alles um mich her erglänzte in einem Strahlenmeer. . . Die Esel mögen Spreu lieber als Gold. Heraklit
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Ernst R. Waelti: Der dritte Kreis des Wissens, Interlaken 1983.
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Seit Jahrtausenden glauben die Menschen, dass sie sich ihren physischen Leib als die äußere Schale einer unsichtbaren, feinen Verkörperung des geistigen Lebens vorstellen können. Jede Kulturepoche stellt darüber ihre eigenen Vermutungen an, wobei diese sich innerhalb eines jeden Zeitalters noch voneinander unterscheiden. Aber die Idee, die jenem Glauben zugrunde liegt, steht unerschütterlich fest und kann unbestritten als eine der zählebigsten Überzeugungen der Menschheit aller Zeitalter und Himmelsstriche gelten. Die skeptischen Rationalisten unserer Gegenwart pflegen jedoch solche Ansichten aus der Antike summarisch in das Land unglaubwürdiger Träume eines vorwissenschaftlichen Zeitalters zu verweisen und sie unterschiedslos auf den Müllhaufen überlebten Aberglaubens zu kippen. Aber ich wage hier zu behaupten, dass man sich gerade dieses speziellen Aberglaubens nicht auf so schimpfliche Weise entledigen darf. Nicht nur die scharfsinnigen Gelehrten, die diesen Glaube in
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der Vergangenheit hochhielten, bringen uns dazu, ihre Verteidigung, dass nämlich diesem weltweiten Wortstreit eine weitreichende Wahrheit zugrunde liege, wohlwollend zu beurteilen, sondern ich bin auch davon überzeugt, dass unser Verstand um so eher bereit sein wird, diese Idee als eine fruchtbare Arbeitshypothese willkommen zu heißen, je tiefer die moderne Forschung in das Gebiet der Biologie, der Psycho-Physiologie1 und Psychologie vorstößt. Mit der Hypothese ließe sich eine beträchtliche Anzahl mentaler, vitaler und seelischer Phänomene des menschlichen Individuums zu einem sinnvollen Ganzen ordnen, wo uns sonst nur ein verwirrendes und unerklärliches Konglomerat in den Händen zurückbliebe. Die Idee einer subtilen Verkörperung scheint mir einen vorzüglich geeigneten Boden zu bieten, auf dem die beiden, sich einander ausschließenden Ansichten vereinigt und zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit gebracht werden können. Möglicherweise erweist sie sich tatsächlich in der konkreten Realität als der vermittelnde Boden, der so bitter nötig ist, um eine Basis der Versöhnung zwischen den beiden vorherrschenden, sich widerstreitenden Arten des Abstrahierens zu schaffen. Diese nämlich kennzeichnen die spirituelle und die materialistische Philosophie unserer Zeit: auf der einen Seite das zu ausschließlich subjektive Theoretisieren und auf der ändern Seite die zu ausschließlich objektive Betrachtungsweise. In der Tat scheint die Zeit reif zu sein für eine günstigere Neubeurteilung dieser alten Hypothese. Denn schon mehren sich die Anzeichen dafür, dass die aktuellen idealistischen und realistischen Gedankenströmungen sich in vielen wichtigen Punkten einander zu nähern beginnen. 1
Heute würde man das Gebiet eher als Neurobiologie oder Neurophysiologie bezeichnen (Anmerkung des Übersetzers).
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Es wird immer offensichtlicher, dass die physischen, biologischen und psychischen Aktivitäten des Menschen eine unteilbare Realität bilden und so eng miteinander verwoben sind, dass wir durch ein willkürliches Auswählen einer dieser Standpunkte allein keine befriedigende Antwort auf die Frage nach der Natur der gesamten menschlichen Persönlichkeit geben können. Der veraltete Materialismus, der in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts seinen Höhepunkt erreichte, hat allgemein an Glaubwürdigkeit verloren, wenn er auch noch nicht tot und begraben ist. Die immer feinere Erforschung der Materie enthüllt uns eine nahezu grenzenlose Sicht auf ungeahnte Möglichkeiten, die im Schoße der Natur schlummern, und auf immer subtilere und machtvollere Energieformen, die uns bald zur Verfügung stehen werden. In wissenschaftlichen Kreisen ist man heute davon überzeugt, dass sich mit einer statischen Auffassung der Materie, die einst allein das Feld der Wissenschaft beherrschte, nichts erklären lässt. Die physische Seite der Natur hat sich durchwegs als dynamisch herausgestellt, selbst wenn die Wissenschaftler mit ihren Methoden weiterhin darauf bestehen, die Materie unserer «Großen Mutter Natur» von ihrem Leben und Geist willkürlich abgesondert zu erforschen. Wenn auch den subjektiven Idealisten und Abstraktionisten vieles von dem, was wir über die Natur der subtilen Verkörperung des Menschen aus alten Werken der glanzvollsten Periode des abendländischen philosophischen Denkens beibringen müssen, zu materialistisch scheinen mag, so täten sie doch gut daran zu bedenken, dass wir uns hier weder mit der Seele an sich noch viel weniger mit dem Geist befassen, welche die hohe Philosophie beide als immaterielle Realitäten erklärt, sondern mit etwas, was sich unveränderlich als körperliche Wesenheit ausdrückt. Der feinstoffliche Körper des Menschen ist eine materielle
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Erscheinung, besitzt aber eine dynamischere Natur als die physisch wahrnehmbare Gestalt. Er gehört der üblicherweise unsichtbaren Welt an. Dennoch sind hier die neusten Erkenntnisse der Physik besonders hilfreich, um die alten, erleuchteten Ideen über dieses Thema zu erhellen. Aber wir wollen uns an dieser Stelle nicht mit den naiven Träumen der Primitiven befassen, welche den subtilen Körper bloß als einen schwachen Abklatsch des grobstofflichen Körpers betrachteten und ihn mit ihren physischen Sinnen als ein durchsichtiges Double der dichten und festen Gestalt wahrnahmen. Uns interessieren in erster Linie die Ansichten der Denker, die vermuteten, dass seine fundamentale Struktur ihrer Natur nach ein dynamisches Energiesystem darstellte - eine Vorstellung, die uns heute keineswegs fremd scheint, werden wir doch gelehrt, den Unterbau aller natürlichen Objekte vom Standpunkt immer besser gesicherter Resultate moderner physikalischer Messungen her zu betrachten. Obschon wir heute in der vorteilhaften Lage sind, die alten Hypothesen auf konkret bewiesene Fakten einer physikalischwissenschaftlichen Forschung abstützen zu können, so müssen wir doch ehrlicherweise zugeben, dass die von uns gezwungenermaßen eingeführten Konzepte, mit denen wir die Tatsachen zu erklären versuchen, gar nicht so viel wirklich Neues bieten. Wir sind auch nicht berechtigt zu sagen, dass in der Geschichte des menschlichen Denkens völlig neue, bisher ungeahnte Gedanken auftreten. Denn es ist eine geschichtliche Tatsache, dass wir in der Vergangenheit unzählige Denker finden, die von der Existenz einer subtilen Ordnung in der Materie überzeugt waren. Für jene stellte sie sozusagen das Überphysische (das Über-dem-Physischen-Liegende) dar. Es ist wahr, sie gelangten zu ihren Hypothesen auf einem einfacheren, ja, wir können sagen, auf einem naiveren Weg, als man heute in modernen Laboratorien einschlagen würde.
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Sie gelangten zu ihren Hypothesen, indem sie ohne Vorurteil die Gesamtheit ihrer lebendigen Erfahrungen analysierten und sowohl über die Phänomene in ihren Träumen und Visionen wie auch über die rein durch objektive Sinneseindrücke erkannten Tatsachen nachdachten. Aus ihren Erlebnissen zogen sie dann ihre Schlüsse, ohne davon irgend etwas willkürlich auszuschließen, nur weil sie es mit ihren Augen nicht gesehen hatten. Nur zu gern wird heute eine eingebildete und überhebliche Mehrheit bereit sein, ihre Folgerungen als eine unwissenschaftliche Manier abzutun. Trotzdem scheinen sie mir bei ihren Bemühungen gewisse Tatsachen erkannt zu haben, welche noch immer die respektvolle Aufmerksamkeit aufgeschlossener Menschen verdienen. Der Unterschied scheint darin zu liegen, dass das, was in der Vergangenheit eine nur auf biologische und psychologische Überlegung gestützte Spekulation genannt werden musste, heute bis zu einem gewissen Grade in die Reichweite exakter wissenschaftlicher Beobachtung gerückt ist. Allmählich realisieren wir, dass alle noch so ausgeklügelten Analysen jener intellektuellen Abstraktionen, mit denen wir die Wirklichkeit des Lebens in seiner Gesamtheit zu erfassen suchen und die wir als physische, biologische und psychologische Größenordnungen der Existenz klassifizieren, unzulänglich bleiben, selbst dann, wenn wir sie alle zusammenfassen, reichen sie nicht aus, uns das Wissen über uns selbst und unsere Mitmenschen zu geben, nach dem wir uns doch so ernsthaft sehnen. Das Leben und die konkrete Wirklichkeit des Lebendigen werden keiner noch so feinmaschigen, analytisch-intellektuellen Untersuchung ihr Geheimnis preisgeben. Das bloße Zusammenzählen all der Elemente, in die der geniale Geist des Menschen die Natur der Objekte zerlegt hat, spiegelt nie die Gesamtheit der Realität so wider, wie wir sie vor dem Beginn der
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Analyse angetroffen haben. Dieses Verfahren führt bei der Natur des Menschen noch viel weniger zum Erfolg. Dennoch schenkt uns jede Anstrengung, die Natur der lebendigen, subtilen Verkörperung des Geistes tiefer zu erforschen, eine Befriedigung. Sie stellt nämlich für die Verstandeskräfte unserer Selbstheit eine gesunde Übung dar. Es steht außer Frage, dass sie uns als Geschöpfe, die nach Wissen dursten, nur nützen kann. Ich brauche deshalb die drei folgenden Essays nicht zu entschuldigen, in denen ich die interessantesten Auffassungen über die Idee des feinstofflichen Körpers und seiner Entwicklungsgeschichte in der westlichen Tradition kurz zu skizzieren versuche. Man könnte sie vielleicht als Studien über die alexandrinische Psycho-Physiologie bezeichnen, denn Alexandrien war zu jener Zeit das wichtigste Zentrum der philosophischen Kultur. Wer jedoch einwenden will, alexandrinisch sei kein klar definierter Begriff, weil diese berühmteste Stadt der hellenistischen Schulen sowohl der Treffpunkt wie die Arena vieler verschiedener und einander widersprechender Traditionen und Gedankenströmungen war, der darf dafür platonisch einsetzen; denn zweifellos wurden die verkündeten Lehren jener Zeit vom Geist dieser großen Tradition bestimmt, als sie in ihrer höchsten Blüte stand. Außerdem ist der gegenwärtige Zeitpunkt günstig, ein Thema zu behandeln, das im späteren platonischen Gedankengut eine sehr wichtige Rolle spielte, denn wir scheinen in eine Periode einzutreten, in der Studien über den Platonismus eine gewaltige Renaissance erleben. Kürzlich erschienen einige wichtige und verdienstvolle Publikationen, die bereits ein reges Interesse zu wecken vermochten. Zwei dieser Werke, beide über den späteren Platonismus, seien hier angeführt, nämlich die vorzüglichen
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Arbeiten von Thomas Whittaker2 und Dekan Inge3. Whittaker, der das Werk der neuplatonischen Schule von einem rein philosophischen Standpunkt aus beurteilt, schreibt (S. 209): «Die neuplatonische Gedankenwelt ist - metaphysisch gesehen - die reifste, die Europa je gesehen hat. Freilich ist unsere Wissenschaft und auch unsere Erkenntnistheorie hinsichtlich gewisser spezieller Probleme höher entwickelt. Andererseits hat unsere moderne Zeit dieser kontinuierlichen Wahrheitssuche nach der Realität, welche sich über eine tausendjährige Periode intellektueller Freiheit erstreckte, nichts Vergleichbares entgegenzustellen. Was sie in einem kürzeren, freiheitlichen Zeitabschnitt aufzuweisen hat, besteht nur aus vereinzelten Anstrengungen, die erst noch durch die nationalen Begrenzungen ihrer philosophischen Schulen behindert wurden. Deshalb verdienen es die wesentlichen Ideen aus Plotins und Proklos' Ontologie immer noch, und nicht nur aus reinem Interesse am Altertum, geprüft zu werden.» Der Dekan von St. Paul geht noch viel weiter, wenn er sich kühn als einen Schüler Plotins bezeichnet und behauptet, dass er versucht habe, sich mit dem Neuplatonismus als lebendige und nicht als tote Philosophie zu befassen, - «um herauszufinden, welchen Wert er für uns im zwanzigsten Jahrhundert noch habe» (ii. 219). Sein Wert lässt sich aus Dr. Inges Urteil erkennen: «Wir können den Platonismus nicht ohne Christentum und das Christentum nicht ohne Platonismus bewahren. Eine Zivilisation ohne die beiden gibt es nicht» (ii. 227). 2
The Neo-platonists: A Study in the History of Hellenism, second and revised edition, with a Supplement on the Commentaries of Proclus (1918). 3 The Philosophy of Plotinus, The Gifford Lectures, 1917-1918 (2 vols., 1919).
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Aber beide Autoren haben unserem speziellen Gegenstand, den wir abhandeln wollen, nur spärliche Beachtung geschenkt. Trotzdem hoffen wir, mit den folgenden Ausführungen zu zeigen, dass er in einer gewissen Hinsicht immer noch der Beachtung wert ist. Ich möchte vorschlagen, uns zur Hauptsache auf diesen einen Gesichtspunkt allein zu beschränken, da im allgemeinen dieses Thema sonst ins Uferlose führte und einen enzyklopädischen Umfang annähme. Ohne Berücksichtigung des reichhaltigen Materials, das von primitiven Einbildungen und Phantasien handelt und von einer geschäftigen, anthropologischen Forschung bereits zur Genüge beackert wird, wäre selbst bei einer Beschränkung auf die westliche Tradition schon ein umfangreiches Werk nötig, um die Geschichte der Lehre vom feinstofflichen Körper so darzustellen, wie die Denker der Hochkulturen sie entwickelt haben. Wollten wir dagegen die parallele Entwicklung der Lehre in der östlichen Tradition oder sogar nur im indischen Gedankengut verfolgen, wo sie ihren reifsten Ausdruck fand, so führte dieses Unterfangen zu einem Wälzer von einem Buch. Es mag jedoch von Interesse sein, einen kurzen Blick auf zwei der obskureren Aspekte der Lehre im Okzident zu werfen. Ohne zu übertreiben, könnte man die Idee eines feinstofflichen Körpers als die wahre Seele der Astrologie und der Alchemie bezeichnen. Beide im Menschentum empfangen und als erstaunliches Zwillingspaar geboren, faszinierten sie den Geist ihrer Erzeuger und fesselten viele Jahrhunderte lang die Welt der Gelehrten. Die Moderne - wie wir alle wissen - verfiel ins andere Extrem und verjagte das Paar mit Schimpf und Schande als Bastarde. Es war einer Gesellschaft, die nur aus legitimen Nachkommen einer eugenisch erzeugten, wissenschaftlichen Familie bestand, unwürdig. Die astrale oder siderische Religion der Antike kreiste wie ein
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Gestirn um die zentrale Idee einer engen Übereinstimmung zwischen dem psychisch-empfindenden Apparat des Menschen oder seiner inneren Verkörperung und der subtilen Natur des Universums. Die am weitesten fortgeschrittenen Denker verstanden die relativen, momentanen Stellungen der Himmelskörper im Äther ausschließlich als Zeichen der harmonischen Wechselwirkung unsichtbarer Sphären mit entsprechenden Feldern von Lebensenergie. Die astrale Religion war grundsätzlich davon überzeugt, dass in der großen Natur ein subtiles Organum, eine innere Ordnung der Weltseele existiere. Die Natur des Menschen war sozusagen ein Exzerpt (Auszug) dieser größeren Natur. Man stellte sich den Menschen als ein Samen- oder Saatkorn vom universellen Lebensbaum vor. Der Mensch war der Mikrokosmos vom Makrokosmos. Sich weit über den Unrat einer vulgären Horoskope-Stellerei erhebend, richtete die philosophische, astrale Theorie eine Himmelsleiter auf, die von der Erde zur Welt des Lichtes führte. Indem die spekulative Theorie des siderischen Glaubens diese Stufenleiter Sprosse um Sprosse emporklomm, stieg sie zu immer sublimeren Höhen auf und führte den Geist jener Menschen, die sich den höchsten Gipfel der Kontemplation zu erkämpfen wussten, in die Gemeinschaft der ewig lebendigen Ideen und Wirklichkeiten. Diese bilden den geistigen Zustand, der auf der nächsten Stufe als die formativen Prinzipien in der werdenden Welt wirkt. Wer eine solche Gemeinschaft erreichen konnte, hatte nach der Überlieferung seinen Fuß fest auf den Grund gesetzt, den Plato als die Ebene der Wahrheit bezeichnet hatte. In dieser Weise wenigstens lehrten die besten der Denker über den Pfad des Aufstiegs, ja sie erklärten, er sei das Endziel all ihren Strebens. In einer weiteren und höheren Bedeutung hat der Ursprung und die Entwicklung der Astrologie seit einiger Zeit als vorwissen-
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schaftliche Vorläuferin der Astronomie und als Gegenstand vergleichender Religionsstudien viel Beachtung seitens der Gelehrten gefunden. Bei der Alchemie indessen liegt der Fall ganz anders. Den Grund dazu braucht man nicht weit zu suchen. Dank ihrer offenen Darstellungsweise lässt sich das Material der astrologischen Tradition im allgemeinen prüfen. Weder ihre Daten noch ihre Lehren sind verschlüsselt. Die Alchemie dagegen hat jeden Kunstgriff benutzt, den der menschliche Scharfsinn und eine abnorme Neigung überhaupt erfinden konnte, um den Gegenstand ihrer Kunst und ihre Operationen bis zur Unkenntlichkeit zu tarnen. Bei meinem ausführlichen Literaturstudium habe ich den Eindruck gewonnen, dass der echte Alchemist eher Selbstmord begehen würde, als eine offene, verständliche Aussage über seine Kunst zu machen. Die Alchemisten und die alchemistischen Philosophen waren jedoch keineswegs darauf versessen, irgend etwas geheim zu halten, denn sonst hätten sie ihre Zunge gehütet und kaum je ihre Feder in die Tinte getunkt. Im Gegenteil, sie verstanden es, sich selbst anzupreisen. Doch ihre kunstvoll errichtete Fassade war gleichzeitig immer nur ein Ersatz für die kostbaren Schätze, mit denen sie sich in Wahrheit befassten. Nirgends in der menschlichen Kulturgeschichte ist uns eine derartige Verschwörung überliefert, die so lange Zeit den stofflichen Gegenstand und die Operationen ihrer Kunst zu verschleiern vermochte. Trotz dem Vorwand, sie hätten durch ihre abwegige und kunterbunte Enthüllung der verborgenen Geheimnisse der Natur und des Menschen der Welt unschätzbare Wohltaten angedeihen lassen, können sie sich dem Vorwurf doch nicht gänzlich entziehen, dass sie nicht nur absichtlich unklar gewesen sind, sondern auch häufig ehrliche Sucher vorsätzlich in die Irre geführt haben.
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Den Vorwurf gegen ihre Handlungsweise suchten sie mit der Entschuldigung zu mildern, dass sie gezwungen gewesen wären, so zu handeln. Sie hätten die inneren Geheimnisse ihrer Kunst vor der Entweihung durch vulgäre, neugierige und unwürdige Menschen schützen müssen. Doch diese Ausrede vermag sie nicht von der Anklage zu befreien, dass sie eben dadurch den ernsthaften, ehrlichen und würdigen Suchern haufenweise Stolpersteine in den Weg legten. Zweifellos verleiht Wissen Macht, und vor allem das Wissen über das Wirken subtiler Kräfte in der Materie, im Leben und im menschlichen Geist. Der Besitz dieser Macht wird von verderbten und degenerierten Personen regelmäßig missbraucht. Aber das Gegenmittel zu diesem Machtmissbrauch liegt in einem noch tieferen Wissen um die Wiedergeburt. Das jedoch, was die größten Alchemisten als ihr eigenes zentrales Geheimnis bezeichnen, ist so voller Widersprüche, dass es nicht besonders vor Missbrauch geschützt werden muss. Anscheinend gab es vier Phasen der Transmutation: eine physische, eine psychische, eine vitale und eine im höchsten Sinne des Wortes geistige. Es besteht kein Zweifel, dass stümperhafte Experimente am eigenen Leib, Leben und Geist mit großen Gefahren verbunden sind. Wer aber nach Erkenntnis trachtet, muss Risiken eingehen, wenn er irgendwelche Fortschritte erzielen will. Was nun aber bei der Anklage gegen die Alchemisten am schwersten wiegt, ist, dass ihre ausgetüftelte Tarnung die Gefahren erhöhte und die große Mehrheit der Unerfahrenen in größere Schwierigkeiten führte, als sie normalerweise angetroffen hätten, wenn jemand ihnen den Weg durch klare und aufrichtige Anweisungen erläutert hätte. Ich habe nicht die Absicht, hier zu überprüfen, ob auf der untersten Stufe dieser Kunst es irgendeinem ihrer Praktikanten wirklich gelang, Gold herzustellen oder ein stoffliches Lebens-
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elixier zu entdecken, obwohl die letztere Idee in der Tat einen offenkundigen Widerspruch in sich selbst darstellt. Die Chemie hat bekanntlich die einst hoch stehende Alchemie entthront und aus dem Tempel der Wissenschaft verbannt, genauso wie die Astronomie die Astrologie verdrängt und sie aus einer wissenschaftlichen in eine schimpfliche Stellung getrieben hat. Es gab aber eine tiefere und lebendigere Seite der Astrologie, die als subtile Entwicklungsstufe eng mit den höchsten Themen der siderischen Religion verknüpft war. Auf gleiche Weise existierte eine über dem Physischen stehende lebendige und psychische Dimension der Alchemie, eine Stufenleiter nämlich, die den Menschen schließlich in einer geistigen Wirklichkeit zur Vollendung führte. In der Tat, die größten Adepten werden nicht müde zu versichern, dass in Bezug auf die eigentliche Arbeit in ihrer Kunst alle Elemente und Metalle, Apparate und Operationen ausnahmslos «philosophisch» seien. Ihre Erde zum Beispiel ist eine «philosophische» Erde, die noch kein Mensch je erblickt hat. Ihr Gold und Quecksilber, ihr schwarzer Rabe, roter Löwe und gelber Drache sind «philosophisch».4 Sie alle müssen wir als subtile Dinge auffassen: Agens und Patiens, Zustände und Prozesse sind für das sterbliche Auge unsichtbar. Die Farben symbolisieren Zustände des unsichtbaren Lebens des Körpers und versinnbildlichen seine inneren natürlichen Transformationen, die aber unter der aufmerksamen Leitung der Kunst verstärkt, beschleunigt und belebt werden. Das gleiche gilt für ihre Öfen und Destillierkolben, Bäder und 4
Heute würde man sie als archetypisch bezeichnen. Siehe dazu: C.G. Jung: Psychologie und Alchemie und Mysterium Coniunctionis (Anmerkung des Übersetzers).
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Retorten, ebenfalls für ihre Fermentationen, Putrefaktionen, Decoctiones und Concoctiones. Die größten Autoritäten der Alchemie streiten energisch ab, dass sie sich im gewöhnlichen Sinne mit vulgären Metallen, Pflanzen und Kräutern, Vögeln, Raubtieren und Fischen, mit bloßem Kochen, Backen und Kalzinieren und dem dazugehörigen Rest befassen. Ihr Interesse, erklären sie, gelte immer den «Geistern» der äußeren Erscheinungen, welche die festen Körper der Dinge formen. Sie würden die subtilen und vital gestaltenden Prinzipien der objektiven Natur zu ergründen und zu kontrollieren versuchen. Sie verkünden, dass sie die wahren Erforscher der Seele der Natur seien. Hier erkennen wir, dass bei ihnen die Idee einer subtilen Verkörperung des Lebens des menschlichen Geistes ein fundamentales Dogma darstellt. Das wichtigste Geheimnis der alchemistischen Transmutation war ein inneres Mysterium, nämlich die Reinigung (purgatio) und die Vervollkommnung dieser subtilen Verkörperung. Der grobstoffliche Destillierkolben, in dem sich das innere Werk der Transmutation vollzog, stellte den physischen Körper des Menschen dar. Der glühende Eifer des Adepten lieferte das nötige Feuer, das wachsam unterhalten und behutsam abgestuft werden musste, um im geheimnisvollen philosophischen Ei das geistige Menschenküken auszubrüten, das die subtile Natur des Alchemisten verkörperte. Die größten der Alchemisten schwelgten in Symbolen und ergötzten sich an Mythen und Allegorien, um einen inneren natürlichen und lebendigen Prozess ihrer Seele in Gang zu halten. Sie glaubten, dass sich alle diese verwirrenden Sinnbilder bei richtiger Deutung in ein Ganzes einordnen ließen, welches die Entwicklungsgeschichte der inneren Natur des Menschen
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verraten würde: wie die Entwicklung verstärkt und beschleunigt werden könnte, wenn man das Wissen der größten aller Künste wohlüberlegt anwenden würde, nämlich wie der psychische Apparat des Menschen gereinigt und neu gestaltet werde und sich das Leben seiner geistigen Selbstheit vervollkommnen lasse. Ich glaube, diese Behauptung enthält viel Wahres. Aber die Alchemisten verschweigen, warum sie keine Mühe scheuten, gerade das Beste an ihrem Wirken so dicht zu verschleiern, zu maskieren und unter einem solch provozierenden Wirrwarr von Tarnung zu verbergen, wo doch das gleiche andernorts schon längst in einfacheren Worten und mit lobenswerter Offenheit dargelegt worden war. Ihr großes Geheimnis lag nämlich in der Seelen befreienden Lehre der Wiedergeburt, die als eine beweisbare historische Tatsache nicht nur für die höheren Mysteriengebräuche, sondern auch für viele offenen Philosophieschulen und Heilskulte der späteren Antike unverhohlen das Endziel darstellte. Es ist wahr, das Wissen über das hohe Ziel dieses menschlichen Strebens durfte der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht werden. Seine Verbreitung war lange Zeit mit dem strengsten Tabu belegt. Eifersüchtig pflegte man alles, was dieses Geheimnis betraf, zu hüten, und die Gnosis dieser Art war strikt den Auserwählten vorbehalten, deren Mut und Charakter erst nach langer Prüfung vollen Anklang gefunden hatte. Aber die weit verbreitete, spirituelle Gärung anfangs unseres Zeitalters zeigt - wenn ich mich nicht durch meine Deutung der Geschichte zu einer falschen Interpretation habe verleiten lassen dass die Macht dieses bisher nie in Frage gestellten Tabus abzubröckeln begonnen hatte. Nach meiner Überzeugung geschah das nicht etwa, weil die Notwendigkeit zur intellektuellen Ehrlichkeit dieses einfach außer Kraft gesetzt
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hatte, sondern weil eine höhere als menschliche Autorität es aufgehoben hatte. Diese innere Autorität eines erleuchteten Gewissens war immanent im Ausgießen des göttlichen Geistes, der die menschlichen Herzen bis ins Innerste rührte und die Gemüter vieler Menschen verwandelte. Sie bedeutete die Geburt einer neuen religiösen Ordnung und leitete eine drastische Abkehr von vielen alten Wegen ein. Kühn formuliert lässt sich sagen, dass die Dinge, über die man einst nur im Verborgenen flüsterte, nun von den Hausdächern herab verkündet wurden. Dies musste zu einer inneren Umwertung der Werte und zu einer äußeren Veränderung im religiösen System führen. So war der Grundton dieser neuen geistigen Ordnung für die, die Ohren hatten zu hören. Die Oberherrschaft des Geistes war aber die Bürde der frohen Botschaft: Das Reich der ewigen Werte warf seine dunklen Schatten voraus, und das Reich des nahenden Untergangs wurde zum wahren Ziel des Menschen, ungeachtet seiner Stellung im Leben, erklärt. Wenn nun diese von oben gesandte neue Ordnung wirklich eine authentische Verkündigung von rechter Einsicht war, wenn es mit anderen Worten weise und wohlüberlegt war, ein altes Tabu zu beseitigen, und wenn es gerecht war, jenes künstlich aufrechterhaltene Geheimnis zu verdammen, das der aufstrebende Geist des Menschen mehr als ein Hindernis als für eine Hilfe für den menschlichen Fortschritt erkannte, dann konnte eine lebensfähige und moralische Basis für die zukünftige Umformung der Gesellschaft nur gesichert werden, indem alle Klassen der Allgemeinheit die neue Freiheit loyal gelten ließen. Umsonst habt ihr's empfangen, umsonst sollt ihr's geben, lautete das Losungswort. Und es ist tatsächlich nicht daran zu zweifeln, dass, wie im Falle der modernen Wissenschaft, enorme Resultate erzielt wurden, weil man offen und ehrlich einen Weg beschritt, der
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äußerste Ehrlichkeit und Freimütigkeit abverlangte. Meiner Meinung nach haben die Alchemisten, im Lichte dieser neuen, vor neunzehnhundert Jahren proklamierten Freiheit besehen, eine reaktionäre Politik während ihrer ganzen Laufbahn verfolgt. Es spielt keine Rolle, wie viele von ihnen behaupteten, fromm veranlagt zu sein, und wenn einige es zweifellos waren, so können sie trotzdem der Anklage nicht entgehen, dass sie gegen das Licht gekämpft haben, indem sie es verbargen. Denn was taten sie anderes, als das Gesicht des Himmels mit ihren geheimnistuerischen und täuschenden Manövern zu verdecken und das Sonnenlicht durch die Wolken ihres verwirrenden Symbolismus zu verdunkeln? Sie verbargen ihre Unternehmungen hinter einem so undurchdringlichen Rauchvorhang, dass sie es sich selbst zuzuschreiben haben, wenn ihre Kunst immer noch in einen dichten Nebel von Missverständnissen eingehüllt ist. Die Historiker sind entschuldigt, wenn sie es vermeiden, ein so obskures und unfassbares Thema anzugehen. So überrascht es auch nicht weiter, dass bis heute keine kompetente Geschichte der Alchemie geschrieben worden ist. Eine Chronik der Alchemie aufzuzeichnen ist in der Tat ein schwieriges Unterfangen, selbst wenn man sie nur in ihren äußerlichen Aspekten festhalten wollte. Allein die bekannte Literatur der westlichen Tradition ist äußerst umfangreich. Was die Ursprünge der Alchemie anbelangt, so glaube ich, dass eine ihrer wichtigsten Quellen noch gar nicht entdeckt worden ist. Deshalb möchte ich hier eine kurze Bemerkung einschieben, um zu zeigen, wie die Alchemie in ihrer charakteristisch vulgären Form mit Traditionen von weit größerem Wert und Würde verbunden war.
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Ungefähr im elften Jahrhundert tauchte die Alchemie als eine voll entwickelte Kunst im Westen auf, in einem römischkatholischen Europa, dessen direkte Verbindung zur Tradition der griechischen Kultur schon lange abgebrochen war. Sie kam, wie vieles andere auch, durch lateinische Übersetzungen aus dem Arabischen nach Europa, vornehmlich durch die Schulen des maurischen Spaniens, die eine sehr wichtige Rolle für die intellektuelle Entwicklung Europas spielten, als das dunkle Zeitalter zu Ende ging. Die Kultur der islamischen Philosophen und Denker leitet sich in erster und direkter Linie aus den Schulen Hellas her. Auf gleiche Weise empfingen sie die Alchemie von der byzantinischen Tradition dieser Kunst. Als die mohammedanische Kultur zum ersten Mal mit der Alchemie in Berührung kam, beanspruchte diese Kunst bereits, die Überlieferung der hermetischen Kunst par excellence zu sein. Ägypten hielt man für das Herkunftsland und die Quelle, den ägyptischen Hermes für ihren Entdecker und Vater. Aber ist dieser Anspruch wirklich berechtigt? Soweit sich heute solche Aussagen historisch überprüfen lassen, scheint mir in diesem speziellen Falle die Behauptung der Alchemisten zum größten Teil fehl am Platze zu sein. Es ist mir nämlich nicht bekannt, dass im hieroglyphischen, demotischen oder koptischen Schrifttum irgendein alchemistischer Traktat oder auch nur ein Hinweis darauf zu finden wäre. Was die echten, im griechischen Corpus enthaltenen Traktate aus der Tradition des Hermes Trismegistos5 und die mit dem Ehrentitel des dreimal Größten Hermes verknüpften Auszüge und 5
Siehe G. R. S. Mead: Thrice-Greatest Hermes - Studies in Hellenistic Theosophy and Gnosis, 3 Bände, London 1906, Nachdruck 1964.
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Fragmente anbelangt, so sind diese an der Art und Weise, wie die byzantinischen Texte die alchemische Kunst präsentieren, schuldlos. In den Texten des Trismegistos wird weder die Goldmacherei noch das Lebenselixier oder der philosophische Stein erwähnt. Es sei daran erinnert, dass diese byzantinisch-griechischen Texte, die erst kürzlich von Berthelot und Ruelle6 gesammelt, übersetzt und herausgegeben worden sind, den Alchemisten im Mittelalter praktisch unbekannt waren. Jene verweisen in ihren Abhandlungen nie auf griechische Texte. Was finden wir nun, wenn wir uns der authentischsten Gruppe dieser Dokumente zuwenden, nämlich den Schriften, die Zosimos zugeschrieben werden, der im 3. Jahrhundert nach Christi Geburt lebte? Sie ist offenbar die einzige Sammlung, die nicht praktisch nur pseudonyme Traktate enthält. Wir finden einen bewundernswerten Wirrwarr von wertlosem Tand und kostbaren Dingen. Wir stoßen auf die Goldherstellerei, Rezepte für Gold vortäuschende Legierungen, auf kuriose Vorschriften aus der Werkstatt der Alchemisten, und dies alles ist mit den höchsten Lehren einer spirituellen Philosophie vermischt. In der Tat, der echte Zosimos ermahnte seine Schülerin, Theosepeia, eindringlich, sie sollte, sobald sie die Wahrheit erkennen würde, ihre Zuflucht zu Poimandres, dem geistigen Hirten der Menschen, nehmen und sich selbst mit dem Leben des göttlichen Geistes taufen. Mit Poimandres kommunizierten alle Menschen, die sich direkt über Gott unterrichten ließen und die unter der allgemeinen Bezeichnung des dreimal Größten Hermes bekannt wurden. Zosimos zitiert ausführlich authentische und einige andere 6
Collection des anciens Alchemistes grecs, 3 Bände, Paris 1988.
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unbekannte Werke des Trismegistos. Damit erhebt er sich hoch über die armseligen Elemente der Goldmacher und Schwindler. Warum nur, müssten wir uns mit Erstaunen fragen, sollte ein richtiger mystischer Philosoph, der eindeutig ein Mitglied einer Poimandrischen Gemeinschaft war, sich auf ein so dürftiges Unterfangen wie die Goldmacherei einlassen? Daher scheint es vernünftig, die Traktate über die Goldmacherei, welche unserem gnostischen Hermetiker zugeschrieben werden, als pseudonym abzulehnen. Das gleiche gilt auch für die Fälle, bei denen zum Beispiel so hervorragende Namen wie Demokrit und Aristoteles einfach missbraucht wurden, um für eine erbärmliche Nachkommenschaft von weitaus niedrigerem Geiste zu zeugen, die nicht selten Rezepte zusammenbraute, deren Inhalt in erster Linie mit demjenigen eines magischen Medizinbeutels verwandt schien. Obwohl wahrscheinlich die wenigen, uns durch ihren lebendigen Symbolismus faszinierenden und fesselnden Visionen, die wir innerhalb dieser Gruppe von Dokumenten finden, Zosimos selbst zugeschrieben werden sollten, bleibt es für einen Studierenden der echten hermetischen Traktate so gut wie unmöglich, zu glauben, dass solch ein Kenner der einfachen und offenen Philosophie und der hohen Mystik der trismegistischen Schule sich bewusst mit den verschlungenen Sinnbildern und Betrügereien der vulgärsten Seite der Alchemie eingelassen haben könnte. Jedenfalls ist sonnenklar, dass letztere wirklich nichts mit dem dreimal Größten Hermes zu tun hat. Aber stammt die Alchemie in einem gewissen Sinne doch aus dem Ägyptischen? Es kann sehr wohl sein, dass sich ihr niederer Aspekt teilweise, ja vielleicht sogar in einem größeren Ausmaß von den Werkstätten der ägyptischen Handwerker herleiten lässt.
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Der höhere Aspekt kann, insofern dieser in Verbindung zu allen großen Traditionen der Wiedergeburtslehren stand, zum Teil auf die weithin berühmte Weisheit des alten Ägyptens zurückgeführt werden, obschon klar erkennbare Spuren der Alchemie hier nicht leicht zu finden sind. Ihr zweifellos charakteristischer psychischer Ursprung hingegen lässt sich anhand einiger gut markierter Wege mühelos zu einer anderen Quelle zurückverfolgen. Für die Griechen existierten damals zwei große Weisheitstraditionen, nämlich diejenige von Babylon und die von Ägypten. Wir wollen deshalb unsere Aufmerksamkeit nun all den Dingen zuwenden, für die Babylon in jenen hellenistischen Tagen so unbestimmt stand. Wir werden sehen, dass unsere Suche nach dem psychischen Ursprung der Alchemie uns nach Syrien und Vorderasien und später zu babylonischen und chaldäischen Quellen führen wird, die sich mit persischmagischen Traditionen vermischt haben. Wenn der griechische schöpferische Geist in der hellenistischen Epoche über die alte Weisheit Ägyptens philosophierte, so philosophierte er gleichermaßen über diesen iranisch-babylonischen mystischen Synkretismus. Tatsächlich zeigten alle Philosophen der spätplatonischen Schule, wenn wir einmal von Plotin absehen, der zumindest in seinen «Enneaden» kaum auf dieses Thema hinweist, ein außerordentliches reges Interesse an der Mysterienlehre, die in den Chaldäischen Orakeln7 bewahrt worden war. Im Jahre 1894 bewies Kroll auf meisterhafte Weise, dass alle in den neuplatonischen Schriften verstreuten und als echt geltenden Fragmente von Zitaten auf eine gemeinsame Quelle hindeuten, aus der sie stammen. Es handelt sich dabei um ein 7
Siehe meine Chaldean Oracles, 2 Bände, London 1908, in der Serie « Echoes from the Gnosis».
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hellenistisches Gedicht, das von einer Anzahl hervorragender Mitglieder der Schule umfangreich kommentiert worden ist. Leider sind die Kommentare selbst verloren gegangen. Wenn wir feststellen, dass Männer, die ein so hohes philosophisches Rüstzeug und kritische Fähigkeiten wie etwa ein Porphyrios oder ein Proklos besaßen, den Inhalt dieses Gedichts so hoch schätzten und anerkannten, dass in ihm die echten Weisheitslehren der alten und wertvollen Traditionen von Chaldäa bewahrt waren, so scheint das Thema unsere Aufmerksamkeit sicher zu verdienen. Unter anderem legt dieses berühmte Gedicht eine hohe mystische Lehre dar, die sich mit der Natur des feinstofflichen Körpers, der Seele und des menschlichen Geistes befasst. Es soll auch das Geheimnis des göttlichen väterlichen Feuers und das geheime Leben der Großen Mutter enthüllen. Es stellt vorwiegend eine Lehre des lebendigen Feuers mit all seinen Werken, seinen Transmutationen und Transformationen dar, und ebenso dient es als Anleitung zur theurgischen Lehre und Schulung. Man könnte es als einen Traktat der Alchemie im höheren Sinne des Wortes bezeichnen. Hier haben wir also einen deutlich gekennzeichneten Kanal, der uns zu einer der Hauptströmungen führt, aus der später die Kunst der Alchemie hervorging. Einige der christlichen gnostischen Schulen geben uns außerdem auf gleiche Weise Anhaltspunkte über die psychische Herkunft der höheren Alchemie. Indem sie einen Symbolismus, der identisch mit demjenigen der späteren Kunst ist, brauchen, sind die Hinweise nicht allzu verborgen, sondern manchmal sehr klar erkennbar. Bei einer Form der so genannten ophitischen Tradition zum Beispiel finden wir, dass die Metalle mit den Sphären der Planeten verwandt sind. Und in einem anderen Fall lesen wir etwas über einen geheimnisvollen Stein, dessen mystische Beziehungen durch den freien Gebrauch von Zitaten aus dem
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Alten wie Neuen Testament offenkundig werden. Aber der sicherste Hinweis auf die Herkunft der höheren Alchemie findet sich im Grenzgebiet, im Bindeglied zwischen dem vorchristlichen syrischen Gnostizismus und der endgültigen christianisierten Gnosis. Die höhere Alchemie durchdrang die Lehren eines Mannes, auf den die späteren Kirchenväter als den Begründer aller gnostischen Häresien zurückblickten, die sie maßlos verdammten. Sie leuchtet in der Tradition auf, die mit dem Namen Simon Magus8, dem Magier, verknüpft ist, einem Beinamen, der den chaldäisch-persischen Hintergrund seiner Lehren unmittelbar kenntlich macht. Das wichtigste Dokument der simonianischen Schule lässt sich anhand der Zitate des häresiekundigen Hippolytus rekonstruieren. Es handelt sich dabei wahrscheinlich um eine spätere Bearbeitung der Gnosis des Magischen Lehrers, die dem bedeutenden sprachlichen Können und den philosophischen, mystischen Einsichten des Valentinus zugeschrieben werden muss. Die Große Verkündigung, wie der Titel dieser Schrift lautet, stellt eine hoch entwickelte Lehre über das göttliche Feuer und den Lebensbaum dar. Ihre psychisch-physiologischen Spekulationen stehen der von der psychischen Alchemie aufgestellten Theorie über den feinstofflichen Körper in keiner Weise nach. Es ist deshalb meiner Meinung nach nicht nur wahrscheinlich, sondern durchaus beweisbar, dass die mit dem Namen Simon Magus verknüpfte synkretistische Gnosis auf eine der Hauptströmungen, die für den psychischen Ursprung der frühen Alchemie eine Rolle spielte, hindeutet. Dieses simonianische Dokument sagt nun aus, dass «für alle Dinge, die existieren, sowohl für die verborgenen wie für die 8
Siehe mein Simon Magus, London 1892.
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manifesten, womit intelligible (geistig erfassbare) und greifbare [oder geistige und physische] gemeint sind, das übergeordnete himmlische Feuer die Schatzkammer sei, gleichsam wie der große Baum, den Nabuchodonosor in seiner Vision wahrgenommen hat und von dem sich alles Fleisch ernähre.» Wir haben hier eine Tradition mit einer grandiosen Symbolik vor uns, die eindeutig mit der babylonischen Mysterienkunde und dem spirituellen Aspekt des persisch-magischen Feuerkults in Verbindung steht. In diesem Zusammenhang sei vor allem auf eine der eindrucksvollsten Visionen des jüdischen, apokalyptischen Danielbuches aufmerksam gemacht. Für die wissenschaftliche Bibelforschung steht nun außer Frage, dass dieses packende Dokument des Alten Testaments, welches seit vielen Jahrhunderten die Gemüter unkritischer und an Prophezeiungen glaubender Leute immer wieder aufs Neue zu faszinieren und die fieberhaften Erwartungen unzähliger Sekten der «letzten Tage» zu wecken vermochte, ein spätes, um das Jahr 165 v. Chr. verfasstes, pseudonymes Dokument darstellt, wie schon im 3. Jahrhundert der Platoniker Porphyrios als erster klarmachte. Im Jahre 170 und 168 v. Chr. nahm Antiochus Epiphanes, der hellenistische Herrscher über Syrien, Jerusalem ein, entweihte und schändete den Tempel und versuchte mit aller Härte, die jüdische Religion auszurotten. Dies führte unter der Führung von Mattathias und seinen heldenhaften Söhnen, den Makkabäern, zur Revolte der Juden in Palästina. Seitdem stand der Name des Antiochus stellvertretend für alles, was in der Geschichte der Hebräer verflucht wurde. Das Buch Daniel ist zweifellos ein inspiriertes Werk von einmaligem Rang. Als eine polemische, religiös-politische Schrift schildert sie in anschaulichen und kunstvollen Bildern die triumphierende Überlegenheit des heiligen Israel und seiner frommen Seher, die der Tradition der alten Schule von Jahwes
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Propheten nachfolgten. Dieser spirituelle Triumph ging scheinbar auf Kosten der chaldäischen Wahrsager und magischen Adepten im babylonischen Exil, in Wahrheit aber zielte die Polemik auf die hellenisierten, orientalischen Einflüsse des syrischen Königreiches von Antiochus. Mit dem Buch Daniel besitzen wir nun eines der frühesten Zeugnisse jüdischer, mystisch getarnter, politischer Polemik, die unentwirrbar mit nationalen, theokratischen Ansprüchen vermischt war. Und all das wurde in einer pseudohistorischen Szenerie verkleidet vorgebracht. Es ist ein typisches Beispiel dieser Art von literarischer Tarnung, die später so alltäglich wurde bei der jüdischen Revolte gegen Rom. Diese Methode der Tarnung fand in der reichen apokalyptischen Literatur, in der pseudoprophetischen Aufmachung der sibyllinischen Orakel und in keinem geringen Ausmaß im Sammelwerk des Talmud ihre charakteristische Ausprägung. Im Glauben dieser Verfasser waren alle politischen Gegner ohne Ausnahme Feinde Gottes, und wer ihre Religion lästerte, war ein abscheulicher Diener des Antichrist. Antiochus stellte den Erzfeind ihres Glaubens dar; das gleiche galt auch für Nebukadnezar, der vor ihm schon das Heilige Land verwüstet und das auserwählte Volk Gottes versklavt hatte. Die jüdischen Verfasser der apokalyptischen Schriften und die religiös-politischen Schriftgelehrten besaßen darin große Erfahrung, aktuelle Ereignisse mit denen der historischen Vergangenheit zu verkleiden und die Zukunft vorauszusagen, um die Hoffnungen und den Ehrgeiz eines Volkes zu befriedigen, das sich selbst durch Gott zur Weltherrschaft berufen glaubte. Ihre bevorzugte und voreingenommene Beschäftigung bestand darin, ihre Rasse als das Hauptelement in der Weltgeschichte und als Protagonist im Weltdrama herauszustellen, und indem sie
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alles, was geschehen war oder gerade geschah, so auslegten, als ob es der Ausdruck prophetischer Offenbarung wäre, zeigten sie, dass alles nur um ihretwillen so vorausbestimmt worden war. Man könnte fast sagen, dass sich in der hebräischen Sprache eine prophetische Atmosphäre verdichtet habe. Als der Prophet Hesekiel in Babylon, in diesem Lande der symbolischen Ikonographie, weissagte, wurde er natürlich von seiner imaginativen Umgebung seelisch beeindruckt, weshalb seine Visionen von der Bilder- und Ideenwelt der babylonischen Religion genauso durchtränkt sind, wie die Geschichte und das mystische Geschehen im Buche Daniel von einem ähnlichen Symbolismus durchdrungen sind. Wie wir schon erwähnt haben, finden wir in ihm einen Bezug auf das symbolische Bild des Weltbaumes. Die zwei anderen hervorstechendsten Bilder in der Erzählung sind: die symbolische Schreckensstatue, die der König, der für sich selbst einen göttlichen Rang beanspruchte, hatte aufrichten lassen, ein Abbild des Weltherrn, den alle Menschen auf seinen Befehl anbeten mussten; dann der glühende Ofen, in den die drei reinen, frommen Diener des wahren Gottes geworfen wurden. Das Gold und Silber, das Kupfer und Eisen, aus denen das symbolische Bildnis des Gottes des Äons bestand, lässt sich eher zu den wichtigen Metallen in der Alchemie in Beziehung setzen als zu den vier astrologischen Zeitaltern der siderischen Religion. Könnte nicht mit dem glühenden Ofen, der die Kriegsleute zu Asche verbrannte, obwohl sie draußen standen, während die drei Heiligen in der feurigen Glut unversehrt blieben, ja sich sogar ein Vierter zu ihnen gesellte, der in seinem Strahlenglanz einem Sohn der Götter glich, eine der sublimen Stufen der Transformation, mit denen sich der höhere Aspekt der Alchemie befasste, eindrucksvoll dargestellt worden sein? Sobald wir nämlich unsere
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Aufmerksamkeit darauf lenken, erkennen wir das Ganze als das. Soviel ich weiß, wurde eine solche Deutung bis jetzt noch nie in Erwägung gezogen. Aber diese Verknüpfung der Ideen ist so auffallend, dass ich mir ohne weiteres vorstellen kann, dass das Buch Daniel Zeugnis für eine Stufe in der psychischen Abstammung der Alchemie ablegt, die sich später in ein buntes Narrenkleid hüllte, an dem sie sich dann so sehr ergötzte. Aber dies sind nicht die ältesten Fußspuren, die uns zur Höhle, wo die Ursprünge der Alchemie liegen, zurückführen. Zosimos bekräftigt, dass das wichtigste Geheimnis der alchemistischen Kunst mit dem bestgehüteten Mysterium des Mithras identisch sei. Dieser Hinweis richtet unser Augenmerk wieder einmal mehr in die Richtung der ursprünglichen Strömung, deren Kanäle wir zu ergründen suchen. Trotz der großartigen Anstrengungen Cumonts glaube ich, dass das letzte Wort über den Mithraskult oder über die Mysterientradition, die mit dem Namen dieses weithin berühmten Erlöser-Gottes verbunden ist, noch nicht gesprochen worden ist. Nirgends in seiner weit ausholenden Forschungsarbeit verbindet Cumont irgendeinen Aspekt des Mithraskultes mit der Alchemie. Er hat die präzise und andeutende Äußerung des Zosimos gänzlich übersehen. Wie schon erwähnt, wissen wir, dass die Neuplatoniker nicht nur großes Interesse an den so genannten Chaldäischen Orakeln zeigten, sondern dass viele auch in die Mysterien des Mithras eingeweiht waren. Diese standen in enger Verbindung mit den Mysterienriten der Magna Mater (Großen Mutter). Die Männer wurden in die ersteren, die Frauen in die letzteren eingeweiht. Beide Traditionen gehen auf Vorderasien und den Nahen Osten zurück. Kleinasien und Syrien waren die Treibbeete, auf denen
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solche synkretistischen Erlösungskulte gediehen. Im Vergleich zum vorhandenen Reichtum an Monumenten und Inschriften wissen wir fast nichts über die Lehren der Mithraischen Religion. Vom Hauptmythos, der die Geburt, das Leben und die Heldentaten des Gottes, dann seinen Sieg über den Stier und seinen endgültigen Triumph erzählt, ist uns praktisch nichts bekannt. Die bilderreichen Monumente des Mythos und die Reihen von Tableaux, welche die Taten des Gottes schildern, sind bis heute ohne eine einleuchtende Erklärung geblieben.9 Es findet sich nämlich ein liturgisches Dokument, das angeblich die tiefsten und geheimen theurgischen Riten darlegen soll. In gewisser Weise erinnert es an die berühmten indischen Yogapraktiken mit ihrer Vielfalt von Einweihungsbräuchen.10 Dieses liturgische Schriftstück ist jedenfalls einmalig und stellt das einzige vollständige Ritual der Mysterien dar, das uns erhalten geblieben ist. Dieterich, der als erster den reichlich überschriebenen Text aus dem Durcheinander griechischer, magischer Papyri rettete, zweifelte nicht daran, dass es sich dabei um ein echtes Dokument des Mithraskultes handelte und es somit äußerst wichtige Kenntnisse über seine geheimen Riten vermitteln konnte. Cumont hingegen bestreitet die Richtigkeit von Dumonts Behauptung. Nach meiner Kenntnis sind die Gelehrten ohne Ausnahme dieser Auffassung gefolgt. Dieses Urteil muss jedoch, wenn ich damit nicht gerade ganz falsch liege, ernsthaft überprüft, ja vielleicht aufgehoben werden. Jedenfalls gibt uns das Ritual einen Hinweis auf ein altes, mit 9
Siehe meine Mysteries of Mithra, London 1907, in der Serie «Echoes from the Gnosis». 10 Siehe mein A Mithriac Ritual, London 1907, in derselben Serie.
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dem Synkretismus des späteren Mithraskultes verschmolzenes Element, das sich als von weitreichender Bedeutung erweisen könnte. Die symbolischen Szenen des Ritus sind für die psychischen Zustände, die den Aufstieg der Seele des Eingeweihten bei seiner Reise zur Lichtwelt begleiten, kennzeichnend. In der Begegnung mit Mithra selbst, dem Herrn des Lichts und dem König des göttlichen Feuers, erreicht die Seelenreise ihren Höhepunkt. Besonders eine dieser Szenen hat meine Aufmerksamkeit erregt. Wir sollten uns daran erinnern, dass der ganze Ritus unverhohlen der theurgische, zur Wiedergeburt führende Prozess sein will oder, anders gesagt, dem vollendeten, feinstofflichen Körper zur Geburt verhelfen soll. Nach der Überlieferung trifft der Eingeweihte auf einer bestimmten Stufe der vorsichgehenden, inneren Transmutation und Erhöhung seines Bewusstseins mit zwei himmlischen Mächten zusammen, die symbolisch als sieben Jünglinge und sieben Jungfrauen dargestellt werden. Die Jünglinge werden dabei stierköpfig wiedergegeben. Nun erzählt uns die bekannte Sage vom Theseus, wie dem scheußlichen Minotauros, dem legendären halb Mensch, halb Stier seienden Wesen, das über das geheimnisvolle, auf der prähistorischen Insel Kreta gelegene Labyrinth herrschte, jährlich sieben adelige Jünglinge und Mädchen aus Athen geopfert werden mussten. Es kann sich doch hier keineswegs um eine zufällige Übereinstimmung handeln. Wir wissen nämlich heute, dass in der alten minoischen Religion der Stiersymbolismus dominierte und grundsätzlich auch ein Kult der Großen Mutter war. Ich möchte deshalb andeuten, dass uns die spätere Mithraserzählung zum Teil an die alte minoische Mythologie und an den legendären Sagenschatz einer Religion erinnert, von der
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die griechische Geschichte jede Spur verloren hat. Das Thema, glaube ich, verdient eine ausführliche Behandlung und lässt erwarten, dass es den geduldigen Forscher weit wegführen wird. Es leuchtet jedenfalls ein, dass die oben gemachten Andeutungen, so unfertig sie in ihrer Kürze sein mögen, der Forschung eine Anzahl wichtiger Tore öffnen. Mit Leichtigkeit könnte ein dicker Band zur Unterstützung der von mir aufgestellten Thesen geschrieben werden. Für den Augenblick muss ich mich aber damit begnügen, die Sache einfach als einen Hinweis auf ein spannendes Thema stehen zu lassen. Die ernsthaften Untersuchungen eines mutigen Pioniers, der beabsichtigt, über die seelischen Ursprünge der Alchemie zu schreiben, würden sich lohnen. Selbst wenn wir uns ganz kurz fassen würden, ließe sich noch viel mehr über andere Forschungswege schreiben, die erlaubten, dem Werdegang der westlichen Lehre über den feinstofflichen Körper nachzuspüren. Aber es ist nun schon genug gesagt worden, um dem bescheidenen Zweck dieser Einführung gerecht zu werden. Ihre Aufgabe war, die Ideen der im klassischen Altertum anerkanntesten Verfechter dieser Lehre kurz vorzustellen. In gewisser Hinsicht verdienen es ihre Ansichten, von Psychologen, die mit solchen Phänomenen aus der Seelenforschung vertraut sind, berücksichtigt zu werden. Sie sind aber auch für den allgemein interessierten Leser von Bedeutung.
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In dieser kurz gefassten Studie möchte ich nur auf den geringeren Aspekt der Theorie über den feinstofflichen Körper der Seele oder der psychischen Verkörperung des Menschen eingehen, so wie sie von den Philosophen der späteren platonischen Schule in der allgemein gültigen und engeren Bedeutung des Namens und deren unmittelbaren Vorläufern und Nachfolgern gelehrt wurde. Viele werden zweifellos finden, in unserem Zeitalter der wissenschaftlichen Erleuchtung sollte man solchen Auffassungen keine Beachtung mehr schenken und sie besser der wohlverdienten Vergessenheit überlassen. Obschon die physikalischen Wissenschaften jener weit zurückliegenden Zeiten heute natürlich längst überholt sind, glaube ich trotzdem, dass einige Anschauungen der Denker der Antike, soweit sie sich auf die Idee eines feinstofflichen Vehikels der Seele beziehen, doch von einigem Interesse für diejenigen sein könnten, die sich vor allem entweder mit der Erforschung
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der Psyche beschäftigen oder im allgemeinen mit psychischen und psycho-physischen Phänomenen vertraut sind. Denn mehrere moderne Theorien, die gerade zur Erklärung solcher Phänomene entwickelt wurden, bevorzugen tatsächlich sehr ähnliche Hypothesen. Aber geben wir zuerst dem Kaiser, was des Kaisers ist, und opfern frohgemut den kleinen Göttern der Anthropologie und der Kultur der Naturvölker, indem wir zugeben, dass man anscheinend ursprünglich glaubte, die Seele wäre Luft, und die Luft wäre Atem, und der Atem Geist, und Geist und Seele wären eines - eben einfach Luft. Doch gehen wir zu denen über, die ganz anders darüber dachten. Sie legten als ein fundamentales Dogma nieder, dass die menschliche Seele eine vernunftbegabte Realität oder Aktivität, ein intelligentes Leben, eine immaterielle Essenz darstelle und weder ein Körper oder eine Verkörperung noch ein Element irgendwelcher Art sei. Den höheren Aspekt unseres Gegenstandes werden wir später zur Sprache bringen, wenn wir versuchen, etwas über das subtile Vehikel, die Hülle, oder besser gesagt über die Verkörperung der Seele in ihrer reinsten Form, nämlich über den himmlischen oder lichten Körper, das Organ des Lichtes, auszusagen, welches die Philosophen der Antike augoeidés oder astroeidés nannten. An dieser Stelle jedoch wollen wir uns nur mit der dunkleren Seite und dem unreineren Zustand dieses Vehikels befassen: Das heißt, dass wir uns einerseits seiner Beziehung zur animalischen Seele, anderseits derjenigen zum fleischlichen Körper zuwenden. Doch in erster Linie sei vor den Begriffen gewarnt: Wir sollten versuchen, zwischen lebendigen Ideen und toten Vokabeln zu unterscheiden, sonst wird es uns wie einem ergehen, der sich unversehens zwischen Gräbern befindet, deren unleserliche Inschriften ihn zum Narren halten.
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Für das subtile Seelen-Vehikel in seinem niederen Aspekt verwendeten die Philosophen jener Zeit am häufigsten den Begriff Geist im Sinne von pneuma oder geistiger Körper sôma pneumatikón). Da aber Paulus und seine Zeitgenossen diese Begriffe in einem viel erhabeneren Sinne gebrauchten, mag es den Leser vielleicht weniger verwirren, wenn wir in diesem Zusammenhang vom geistigen Hauchkörper (spirituösen Körper)1 oder Geist-Körper sprechen. Der viel versprechende und wesentliche Gesichtspunkt dabei scheint wenigstens meiner Meinung nach der gewesen zu sein, dass das subtile Vehikel, ungeachtet welchen Wandlungen auch immer es unterworfen war, im Grunde eines war. Aber für den Augenblick wollen wir diese Seite der Frage nicht weiter erörtern. Bereits in den frühchristlichen gnostischen Kreisen, insofern sie mit hellenistischem Gedankengut in Berührung standen, herrschte eine deutlich spürbare Verwirrung in Bezug auf einen höheren und niederen Geist oder auf einen höheren und niederen Aspekt des Geistes. In der Pistis Sophia zum Beispiel wird streng zwischen dem reinen Geist und dem nachgeahmten (gefälschten) Geist2 unterschieden, wobei der letztere offenbar identisch mit 1
Das englische «spirituous» entspricht dem deutschen «spirituös». Aber in beiden Sprachen wird der Ausdruck heute kaum noch im Sinne von «geistig» verwendet, sondern bedeutet «Weingeist, Alkohol enthaltend». Er ist jedoch im Zusammenhang mit dem feinstofflichen Körper zutreffend: Genauso wie der Weingeist aus dem Wein dampfförmig destilliert werden kann, wird der subtile Körper wie eine Essenz aus dem physischen Körper herausgelöst. Um noch etwas von diesem Bild einzufangen, habe ich deshalb «spirituous body» mit «geistigem Hauchkörper» übersetzt. Wo es das Verständnis des Textes unbedingt erfordert, habe ich trotz aller Vorbehalte das Wort «spirituös» verwendet (Anmerkung des Übersetzers). 2 Mead übersetzt ¢nt∂mimon pneàma (antimimon pneûma) mit «counterfeit spirit». In der deutschen Ausgabe der Pistis Sophia von Carl Schmidt (Akademie-Verlag, Berlin 1962) wird dagegen antimimon pneûma nicht übersetzt: «Ich bin geworden wie ein besonderer Dämon, der wohnt in Materie, und nicht ist Licht in ihm, und
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dem von Basilides und seinem Sohn Isidoros verwendeten A Ausdruck der «parasitären» oder «daran gewachsenen»3 Seele ist. Das gleiche gilt auch für astroeides, den sternenhaften oder siderischen Leib, der nicht mit dem gegenwärtigen Begriff des Astralkörpers identifiziert werden sollte, denn dieser entspricht eben eher dem geistigen Hauchkörper als dem augoeides der Platoniker. Zudem wurde der Geist-Körper oder die spirituöse Verkörperung oft als luftartiger oder ätherischer Körper bezeichnet. Aber so wie man zwischen niederer Luft (aér) und höherer Luft (aithér) zu unterscheiden pflegte, sollte man «ätherisch» vielleicht für den himmlischen Zustand dieses psychischen Vehikels reservieren. Gelegentlich sprach man vom Geist-Körper als von der «Natur» des physischen Körpers. Und nach dem Tode nannte man ihn das Bild (eidólon, imago, simulacrum) oder Schatten (skia, umbra). Zuweilen bezog man sich auf ihn als das subtile oder leichte Vehikel der Seele, um ihn vom groben, dichten, festen oder irdischen Körper unterscheiden zu können, der oft als Schale, als schalenähnlicher Körper oder als Hülle bezeichnet wurde, in Erinnerung an Platos berühmten Satz aus dem Dialog Phaidros: «... in reinem Glänze selbst rein seiend und unbelastet von dem, was wir heute als Leib bezeichnen und mit uns herumtragen, wie in eine Art Muschel eingeschlossen.»4 Aber wer hier nicht Acht gibt, gerät mit den Begriffen leicht in ich bin geworden wie ein ¢nt∂mimon pneuma, das sich befindet in einem materiellen Leib, und nicht ist Lichtkraft in ihm (Seite 39, 30) (Anmerkung des Übersetzers). 3 Diese Übersetzung habe ich von G.G. Jung übernommen. Siehe Mysterium Coniunctionis, Band II, Seite23-24 (Anmerkung des Übersetzers). 4 Nach der Übertragung von Rudolf Rufener in Platon, Meisterdialoge, Artemis Verlag, Zürich 1958.
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Verwirrung, denn das «Bild» (also der Geist-Körper nach dem Tode) ist in letzter Zeit manchmal auch als «Schale» bezeichnet worden. Wir müssen jedoch ganz klar verstehen, dass für die betreffenden Philosophen jener Zeit Geist in diesem Sinne den subtilen Körper bedeutet, die Verkörperung einer feineren Ordnung der Materie, als wir durch unsere physischen Sinne wahrzunehmen vermögen, und nicht die eigentliche Seele. Überdies ist mit dem Begriff Körper nicht eine ausgebildete und organisierte Form, sondern eher eine «Essenz» oder ein «Plasma» gemeint, das in verschiedenen Abstufungen auftreten kann oder gewissermaßen in vielerlei Strukturen hinein verwoben ist. Diese Essenz besitzt in sich selbst keine Form; sie ist aber fähig, den Abdruck oder das Muster jeder organisierten Form anzunehmen. Im Gegensatz dazu stellt man sich die eigentliche Seele als völlig körperlos vor. Das seelische Leben wird gemäß seinen Manifestationen im Körper klassifiziert, ist aber selbst nie Körper. Die allgemeinste Klassifizierung ist eine dreifache: 1) vegetativ, wie wir es in Pflanzen und in den physischen Körpern der Tiere und Menschen beobachten; 2) irrational, wie in den geistigen Hauchkörpern der Tiere und Menschen; und 3) rational, nur beim Menschen. Wenn sich der Mensch verkörpert, besitzt er nun nicht drei Seelen, sondern drei Grade der Seele oder des Lebens, eben einen vegetativen, einen irrationalen und einen rationalen. Wenden wir uns jetzt wieder unseren Dokumenten zu und sehen wir vor allen Dingen die Literatur durch, die uns unter der Ägide des dreimal Größten Hermes überliefert worden ist. Obschon die Traktate des Trismegistos von platonischem
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Gedankengut durchtränkt sind, können sie streng genommen und nach allgemein gültiger Ansicht kaum als spätplatonisch bezeichnet werden, denn der größte Teil davon muss zeitlich sicher früher als Ammonios Sakkas5 und Plotin angesetzt werden, die beide lange als die eigentlichen Begründer der neuplatonischen Bewegung galten. Die trismegistische Tradition darf jedoch bestimmt als ein unmittelbarer Vorgänger der neuplatonischen «Kette» angesehen werden; unzweifelhaft fügt sie sich als ein integraler Bestandteil in die platonische Bewegung ein. In dieser Literatur findet sich bereits eine hoch entwickelte Lehre über den Geist vor, und zwar sowohl über seinen spirituellen wie spirituösen Aspekt. Wir befassen uns jedoch hier nur mit dem letzteren. Von einem der frühesten Traktate Die Predigt der Isis für Horus (15; iii. 200)6 lernen wir, dass Geist sozusagen seiner Natur nach eine Quintessenz oder ein einheitliches Element im Gegensatz zu den materiellen Elementen des physischen Körpers darstellt. Die «Mischung» des festen Körpers «ist eine Vereinigung und eine Verschmelzung der vier Elemente; und bei diesem Verschmelzen und Vereinigen entsteht ein gewisser , der von der Seele umhüllt wird, aber frei im Körper zirkuliert»7. Er ist das verbindende Medium zwischen der Seele und dem materiellen Körper, und so lässt sich von ihm sagen, dass er an der Natur von beiden teilhat. Die Erklärung wird, vielleicht 5
Ammonios Sakkas war der Lehrer Plotins, der ihn zu Alexandria als Schüler aufnahm. Plotin verließ ihn bis zu dessen Tod (ca. 242 n. Chr.) nicht mehr (Anmerkung des Übersetzers). 6 Die zweite Ziffer bezieht sich auf meinen Thrice-greatest Hermes, 3 vols. London 1906. 7 Vgl. z.B. xv.2 (iii. 66): «Und durch die Vereinigung [wörtlich: durch das Zusammenatmen] dieser vier wird der Geist geboren.»
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unvermeidlich, in räumlichen Begriffen und in materiellen Bildern vorgebracht. Es sei darauf hingewiesen, dass beide, Geist und Körper, in der Seele sind und nicht die Seele im Körper. Anderorts jedoch, nämlich in Der Schlüssel8, lesen wir, die Seele werde im Geist oder auf dem Geist bewegt. Aber da auch gesagt wird, dass sie den Geist nicht als ihre Hülle brauche, sondern nur als ob er ihre Hülle wäre, liegt deshalb kein richtiger Widerspruch vor. Im gleichen Abschnitt erfahren wir, dass «Geist, vermittels der Venen, Arterien und des Blutes den Körper durchziehend, der lebenden Kreatur Bewegung verleihe». Der Autor beteuert aber, dass Blut nicht Seele oder Leben sei, «wie einige denken». Blut sei das Vehikel des Geistes9, und es sei der Geist, der die «Lebendigkeit der Kreatur» bedinge. So finden wir in Die vollkommene Predigt, vi. 3 (ii. 318) die Aussage, dass «Geist sie alle [die tierischen Körper] erfülle und, innig mit dem Rest [vermutlich mit den vier Elementen] vermischt, sie lebendig mache». Diesen Ansichten liegt ein allgemeines Prinzip zugrunde, das in der gleichen Abhandlung, xvi. 3 (ii. 336), niedergelegt ist, nämlich dass alle Dinge im Kosmos durch Geist «beweglich 8
C.H.x. (xi.) 13, 17 (ii. l49, 152). Vgl. Vita Homeri (S. 341): «Denn Homer wußte, dass Blut die Speise und Nahrung des Geistes war.» Diogenes Laertius scheint deshalb die Begriffe durcheinanderzubringen, wenn er Pythagoras die Meinung zuschreibt (viii. 31, S. 518), dass «die Seele durch Blut ernährt werde». Es ist wahr, dass Porphyrios auch sagt (De Ant. Nymph., S. 257, ed. Nauck), dass «sich die werdenden Seelen an Blut und feuchtem Samen erfreuen», und er fährt fort, dass «mittels des Blutes und der bluthaltigen Säfte das Fleisch erzeugt werde»; aber sich erfreuen heißt nicht Ernährung. Auch Goethe meint: «Blut ist ein ganz besonderer Saft», und in diesem Zusammenhang sollte auch erwähnt werden, dass das Band der Blutsverwandtschaft sowohl im primitiven Ahnenkult wie in den meisten der modernen Geisterbeschwörungen eine sehr wichtige Rolle spielt. 9
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gemacht» werden. Dieser Einheitsgeist, diese Quintessenz oder das «eine Ding» sei gewissermaßen eine «Maschine» oder ein «Motor», das heißt, ein Organon, dem Willen Gottes unterworfen und deshalb im Menschen dem menschlichen Willen Untertan. Überdies wird derselbe Geist dem allgemeinen Sinnesapparat gleichgesetzt. So steht in Ex, xix. 3 (ii. 81 f.): «Das bewusst Empfindende - der Geist - nimmt die Erscheinungen wahr. Es verteilt sich auf die verschiedenen Sinnesorgane.» Ein Teil davon wird zu «spirituöser Sehkraft» oder zu «Geist, mittels dessen wir sehen». Das gleiche gilt auch für die anderen Sinne. Wenn dieser Geist, wie es beim Menschen der Fall ist, «durch das Verständnis aufwärts geführt wird», dann erkennt er das Wahrnehmbare, also anscheinend das, was wir als objektive Realitäten bezeichnen: «Aber wenn das nicht geschieht, erschafft er nur Bilder aus sich selbst» - das heißt er übergibt sich der Phantasie oder der Imagination (phantasía oder tò phantastikón). Vom Mythos lernen wir jedoch, dass die Seelen zur Strafe in fleischlichen Körpern gefangen seien. Nach ihrer Verkörperung verlieren sie ihre unmittelbare Sehkraft, derer sie sich früher erfreuten, und ihre Sinne trüben sich. Sie können den Himmel und ihre strahlenden Brüder in ihrer wahren Gestalt nicht länger wahrnehmen. Sie beklagen sich, ihre Körper seien jetzt «mit Wasser gefüllte Kugeln» und ihre Sehorgane «Fenster und nicht Augen» (K. K. 21; iii.109). All das mag aufgefasst werden, als würde es die platonisch beeinflussten Dogmen einer synkretistischen, mystischen und alexandrinischen Psychologie oder Psycho-Physiologie; von ägyptischen und vielleicht persischen, d.h. chaldäisch-magischen Ideen durchdrungen, widerspiegeln. Die eigentliche spätere platonische Schule rühmte sich, die Tradition des Orpheus, Pythagoras und Platon direkt
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weiterzuführen.10 Aber was wir als wieder belebten oder pythagoräischen Orphismus bezeichnen mögen, bedeutet für die jüngste Gelehrtenwelt ein deutliches «Orientalisch», womit wahrscheinlich der babylonisch-persische Einfluss gemeint ist. Und dieser Orphismus mit seinen Mythen beeinflusste auch Platon stark. Den frühen Orphismus beiseite lassend, fragen wir uns jedoch, ob irgend etwas aus seiner späteren Periode uns bei unserer Untersuchung weiterhelfen könne. Wenn man von der anschaulichen Vision vom Zustande nach dem Tode, einem interessanten Bericht über das diesseitige Jenseits, der Ende des ersten Jahrhunderts von Plutarch in seiner Abhandlung Späte Vergeltung durch die Gottheit11 überliefert oder von ihm selbst verfaßt wurde und von der einige glauben, sie habe als ideelle Vorlage für Dantes Inferno und vielleicht auch für sein Purgatorio gedient, annehmen kann, dass sie auf den Lehren einer neupythagoräischen orphischen Mystagogenlehre beruhe, dann haben wir etwas zur Sache Gehörendes gefunden. Jedenfalls hat man den eklektischen Plutarch, obwohl er sich nur schwer irgendwo einordnen lässt, zu den Platonikern oder sogar zu den Neuplatonikern gerechnet. Es scheint mir deshalb gerechtfertigt, ihn in unsere Untersuchung einzubeziehen. Obschon wir das Wort «Geist» nirgends erwähnt finden, ist die Idee doch anwesend; denn von den Abgeschiedenen wird gesagt, sie seien von einer «flammenartigen Blase» umhüllt. Diese Hüllen werden gemäß ihrer Reinheit oder Unreinheit wie folgt beschrieben: 10
Siehe meinen Orpheus, London. De Sera Numinis Vindicata; deutsche Übersetzung in Plutarch: Über Gott und Vorsehung, Dämonen und Weissagung, Artemis-Verlag, Zürich und Stuttgart 1952, Seite 170-213, dazu Erläuterungen Seite 312-323.
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«Einige glichen dem reinsten Licht des Vollmondes, weil sie eine sanfte, gleichmäßige und ruhige Farbe ausstrahlten. Andere wiederum waren ganz gefleckt - ein außerordentlicher Anblick oder bläulich-grau wie Nattern gesprenkelt; dann gab es auch solche mit feinen Kratzern» (xxii. p. 564D). Die Flecken und die dafür verantwortlichen Leidenschaften werden beschrieben; die Erklärung dazu lautet: «Während des Erdenlebens bringt die Verderbtheit der Seele diese Flecken hervor (indem die Leidenschaften die Seele beeinflussen und auf den [Geist?]-Körper zurückwirken); die Reinigungen und Strafen haben hier (nämlich im Zustande nach dem Tode) zum Ziel, diesen Makel zu entfernen, so dass die Seele [eher der Geist] vollkommen strahlend (augoeides) und von einheitlicher Farbe werden kann» (p. 565c). Wir wollen uns nun den Ansichten der eigentlichen späteren Platoniker zuwenden, vor allem den Auffassungen Plotins und seines Schülers, Herausgebers und fleißigen Kommentators, Porphyrios, die man beide im großen und ganzen für die sachlichsten Philosophen dieser Schule hält, obschon man neuerdings das philosophische Rüstzeug ihrer Nachfolger auch als hervorragend anerkennt. Und doch wirkt es befremdend, dass keiner von ihnen ein Grieche war. Plotin war sehr wahrscheinlich ein Ägypter, und Pophyrios stammte fraglos aus Syrien. Obwohl mit Damascios (ebenfalls ein Syrer), dem letzten Inhaber der platonischen «Kathedra» (Lehrstuhl), der sich an den Hof des Perserkönigs Chosroes zurückzog, als der christliche Kaiser Justinian im Jahre 529 die heidnischen Schulen der Philosophie schloss, die platonische Schule genau genommen endet, so überlebte ihr Einfluss doch; denn Johannes Philoponus, der letzte der Philosophen zu Alexandria, war voll von ihren Ideen. Philoponus stand in der ersten Hälfte des siebten Jahrhunderts auf der Höhe seines Wirkens und war für seine Gelehrsamkeit
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und seine ausführlichen Kommentare zu den Werken Platons und Aristoteles berühmt. In der heute allgemein als unglaubhaft geltenden Geschichte über die von Amru, dem General Omars, in Brand gesteckte Bibliothek zu Alexandria wird berichtet, dass es Johannes der Arbeitsame war, dem die bekannte Frage nach dem Koran und dem Inhalt der weltberühmten Bibliothek gestellt wurde.12 Plotin glaubt, alle Seelen müssen von den Körpern abtrennbar sein mit der einzigen Ausnahme der Weltseele, die sich nicht vom Weltkörper abtrennen lasse; denn alle Körper seien dem Wandel unterworfen und somit vergänglich, ausgenommen der eine Allkörper in seiner Gesamtheit, der ewig sei. Was denn, so fragt er, bedeutet in Bezug auf die Seelen die populäre Redewendung «in den Hades gehen» oder «im Hades sein»? Nehmen wir an, der Hades bedeute das Unsichtbare. Es ist nicht die Seele, die irgendwohin geht, denn sie selbst wird nicht bewegt, sondern sie ist eher die Ursache oder das Prinzip der Bewegung. Aber genauso wie wir sagen, die Seele sei hier, an 12
Dean Cudworth, ein Platoniker aus Cambridge, lenkte als erster in seinem Werk True Intellectual System of the Universe (1st ed. 1678) die Aufmerksamkeit auf die Theorie über spirituöse und himmlische Körper jener erwähnten Philosophen. Für seine Abhandlung erhielt er von den Gelehrten Zustimmung und Lob. Im Jahre 1733 jedoch kritisierte J. L. Mosheim Cudworths Abhandlung heftig (vgl. dazu J. Harrisons Übersetzung von Mosheims lateinischen Bemerkungen in der Ausgabe von 1845, London, zu Cudworths berühmtem Werk, iii. 299ff.). Mosheim wird nicht müde, über das herzuziehen, was er als «krankhafte Einbildungen» der «jüngeren Platoniker» bezeichnet, die er als «abergläubisch, läppisch, leichtgläubig und schwärmerisch» (p. 307) brandmarkt, vor allem weil sie Ideen, die wir heute zur Kultur der Primitiven zählen, in ihr allumfassendes Werk miteinbezogen. Aber darf eine richtige Philosophie über menschliche Erfahrungen etwas so Elementares und Fundamentales auslassen? Mosheims praktizierte Unsitte hat sich leider bis auf den heutigen Tag in akademischen Kreisen behauptet.
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dieser Stelle, wo sich der Körper befinde, genauso gut kann gesagt werden, sie gehe dorthin oder sei dort, sobald sie vom physischen Körper abgetrennt wird, aber noch immer das subtile Bild (des Körpers) an ihr haftet, nämlich an jenem Ort, den Plotin als den «niederen» bezeichnet, wo der unreine Geist wohnt. Selbst wenn sich eine Seele durch Weisheit von einem abgetrennten Körper oder von einer Verkörperung irgendwelcher Art befreit hat und somit in Reinheit in einem intelligiblen Zustande oder in der eigentlichen geistigen Welt im höchsten Sinne des Wortes verbleibt, so verharrt dennoch das Bild für eine gewisse Zeit im Hades. Das sei eine alte Vorstellung, die auf die Heroen oder auf die dämonischen Seelen zutreffe, glaubt Plotin (i. 1.12); denn Homer «scheint diese Lehre im Falle von Herakles anzuerkennen, weil er von dessen Bild sagt, dass es im Hades hause, während er selbst unter den Göttern weilt»13. Das Bild oder eidólon ist innig mit der irrationalen Seele verknüpft. Von ihr wird in einem poetischen Bilde gesagt, sie sei der Schatten, der durch das Strahlen der rationalen Seele auf den Körper falle (i. 1.2). Von der irrationalen Seele heißt es auch, sie sei das Bild der rationalen, wenn diese in die Finsternis des Sinnenlebens hinabtauche (iv. 3.27). An einer anderen Stelle (ii. 2.2) spricht Plotin von einem gewissen kugelähnlichen oder kugelförmigen psychischen Element und erbringt den Beweis, dass die eigentliche Bewegung des Lebens in Kreisen verläuft, wie wir es klar bei den Himmelskörpern beobachten können, während die Bewegung unserer physischen Körper geradlinig erfolgt. Aber auch in uns 13
Die Stelle lautet nach der deutschen Übersetzung von W. Schadewaldt: «Nach diesem gewahrte ich die Gewalt des Herakles, nur seinen Schatten, er selbst aber ergötzt sich unter den unsterblichen Göttern an Festlichkeiten ...» (Anmerkung des Übersetzers).
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existiert ein kreis- oder kugelförmiger Körper. Er ist jedoch irdisch oder dunkel geworden und besteht nicht länger aus Licht wie die himmlischen Körper. Wahrscheinlich bewegt sich der Geist auf diese Art und Weise. Er ist das Element, welches sich in uns kreisförmig bewegt. Ursprünglich ist er gewissermaßen ein luftiger oder feuriger Körper, eine innere Kleidung oder Anhängsel der Seele, bevor sie in den irdischen Leib absteigt (iv. 3.9, 15). Diese Ansicht über die Bedeutung des Begriffs «in den Hades gehen» oder «im Hades sein» vertritt auch Porphyrios in seiner Zusammenfassung der Lehren Plotins.14 So sagt er, dass für die Seele «auf der Erde sein» nicht gleichbedeutend mit «sich auf der Erde herumbewegen» sei, wie es die physischen Körper tun, sondern es bedeute, dass die Seele Kontrolle über einen sich auf der Erde befindenden Körper ausübe. Analog dazu heißt es für die Seele «im Hades sein», wenn sie mit der Führung eines Bildes oder Geistes verhaftet ist, der im Raum existiert oder sich naturgemäß an einem Ort befindet. Falls dieses Bild unrein ist, ist es dunkel oder wolkig. Verstehen wir dementsprechend unter Hades die Unterwelt, die im Vergleich zu den himmlischen Sphären einen schattenhaften Zustand der Existenz beschreibt, so lässt sich nun von der Seele sagen, sie verweile so lange dort, wie ein dunkles Bild an ihr hafte. «Im Hades sein» bedeutet folglich, dass sich die Seele im Zustand ihrer unsichtbaren und dunklen «Natur» (physis) befindet. Weil sich die Seele mit ihrer partiellen Vernunft zu diesem oder jenem Körper besonders hingezogen fühlt und sie an ihren 14
Sent. ad Intelligibilia ducentes, xxix.; Seite 13f. (Ausgabe Mommert, Leipzig 1907); Porphyrios kommentiert En. iv. 3.9.
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Gewohnheiten hängt oder an ihre gewohnten Beziehungen zu einem bestimmten Körper auf der Erde gebunden ist, wird dem Geist nach dem Tode eine gewisse Form oder Art der Phantasie oder von Vorstellungsbildern aufgeprägt; der Geist selbst besitzt keine spezielle Form.15 Aber was bedeutet dann «unter die Erde gehen», in das Unterirdische oder in die Unterwelt?16 Porphyrios nimmt an, dass der unreine Geist so schwer oder voller Wasser sei, dass man von ihm glaubt, er sinke in die Unterwelt. Er wiederholt dann aber, dass dies nicht heißen wolle, die Essenz, das Leben oder das Bewusstsein der Seele wandere umher oder sei an einen bestimmten Ort gebunden, sondern es bedeute nur, dass diese die Gewohnheit der Körper annehme, in deren Natur es liege, umherzuwandern und einen Platz im Raum einzunehmen. Denn die Seele erhält genau einen solchen nach Rang und Eigenschaften geformten Körper, wie es ihrer Veranlagung entspricht. So wie sich die Seele nur dank einer irdischen Hülle auf der Erde aufzuhalten vermag, genauso kann 15
Vgl. Porphyrios' Comm. in Odyss. S.130, 31 (Ausgabe Schrader): «Nach dem Dichter [Homer] erscheinen nämlich den Seelen die Bilder ihrer oben [auf der Erde?] gemachten Erfahrungen ebenso unten weiterhin als Geister»; De Abstin. S. 168, 7 (Ausgabe Nauck): «Die Gestalten, die für einen solchen Geist charakterisch sind, werden in vielerlei Formen modelliert»; Ad Gaur. v.1: «Dämonen wirken auf den luftigen Geist ein, sei es nun ihr eigener oder der von jemand anderen, und bringen so die Formen der Geister hervor.» Wohlgemerkt, Dämonen, oder nennen wir sie lieber in spiritistischem Sinne «Geister», können sowohl gut wie böse sein; es besteht keine Notwendigkeit, sie als bösartig anzusehen, wie es die Christen tun. 16 Es sei daran erinnert, dass nach orphischen Auffassungen, die sich von den primitiven babylonischen, semitischen und ägyptischen Ansichten von Scheol und Amenti losgesagt hatten, das Unterirdische eigentlich für den unteren Zustand des Tartarus gehalten wurde. Von den höheren Regionen des Hades glaubte man, dass sie sich von der Oberfläche der Erde bis zum Mond erstreckten. Diese Verfeinerung war auf den Einfluß der Lehren der astralen und siderischen Religion zurückzuführen.
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sie nur durch ihre Verbindung mit dem Bilde oder dem feuchten Geist im Hades bleiben. Nach den Lehren der alten Physik sind die abwärts gerichteten Elemente Erde und Wasser (wobei man vom feuchten Element ursprünglich glaubte, es erstrecke sich bis unter die Erde) und die aufwärts gerichteten Elemente Luft und Feuer. An der Seele bleibt nun das feuchte oder nasse Element so lange haften, wie sie sich mit den Dingen der Zeugung einlassen will oder ihre Aufmerksamkeit darauf gerichtet ist. Die Idee, das feuchte Element bedinge im Prinzip die Genesis, die ganze Schöpfung, Geburt und Tod und bilde sozusagen den Ozean allen tierischen und pflanzlichen Lebens, den Zustand des ewigen Werdens und Vergehens, war ein allgemein gültiges Dogma der Schule. Und überhaupt scheint es eine weit verbreitete Auffassung der alten mystischen Wissensüberlieferung gewesen zu sein. So erklärt uns Porphyrios an einer anderen Stelle17, dass wir uns im ägyptischen Symbolismus die Boote und die Barken der «Dämonen» nicht als solide Körper vorstellen sollten, sondern als Fahrzeuge, in denen jene «auf dem Feuchten segeln ». Dies galt für alle Stufen, von der Seele des Sonnengottes bis zu den Seelen, die alle für die Genesis herabsteigen. Im Zusammenhang damit zitiert Porphyrios den lógoi des Heraklit: «Für die Seelen bedeutet feucht zu werden Entzücken oder Tod.» Die Wonne besteht darin, in der Zeugung zu versinken. Eine 17
De Antro Nympharum X.: In diesem Werk zitiert er als Autorität zu diesem Thema den alexandrinischen, pythagoräisch-platonischen Philosophen Numenius, den wir heute als Gelehrten für vergleichende Religionswissenschaften bezeichnen würden. Er erlebte seine Blüte in der Mitte des zweiten Jahrhunderts.
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andere Stelle lautet: «Wir leben ihren [der Seelen] Tod, und sie leben unseren Tod.»18 In der gleichen Abhandlung19 erfahren wir von Porphyrios, dass nach den Lehren der Stoiker die nach einem Körper verlangenden Seelen einen feuchten Geist anziehen und ihn um sich wie eine Wolke kondensieren (kondensiert sich das Feuchte in der Luft, bildet sich eine Wolke). Sobald sich der Geist wegen einer Übersättigung an feuchtem Element in den Seelen verdichtet, werden sie sichtbar. Auf diese Weise sollen auch die Bilder der Verstorbenen, denen wir gelegentlich begegnen, entstehen; überdies färbt und formt sich der Geist durch die Phantasie, d. h. durch die Vorstellungskraft. Die anderen neuplatonischen Philosophen hatten im allgemeinen mehr oder weniger die gleichen Ansichten über die Natur des Geistkörpers in seinem unreinen Zustand. Ihre Meinungen gingen jedoch sehr stark darüber auseinander, ob sich die Seele von diesem Körper vollständig abtrennen ließe. Einige glaubten, dies wäre möglich; andere dagegen behaupteten, dass bloß seine Unreinheiten abgestoßen werden könnten. Wir werden bei der Besprechung des Lichtkörpers oder des strahlenden Körpers näher auf diesen Punkt eingehen. Dass da im allgemeinen unter den philosophischen Schulen viele verschiedene Ansichten nicht nur über die mehr transzendenten Beziehungen der Seele, sondern auch über die niedrigeren Verflechtungen zwischen ihr und dem Körper herrschten, können wir den Schriften von Philoponus (9, 35f.; 10, 4f.20) entnehmen, dessen lehrreicher Kommentar zu Aristoteles' 18
Vgl. Diels (2. Auflage, Berlin 1906), fr. 77; vgl. fr. 36: «Für die Seelen bedeutet Wasser zu werden Tod», und fr. 62: «Unsterbliche Sterbliche, sterbliche Unsterbliche, die einen leben den Tod und sterben das Leben der ändern.» 19 De Ant. Nymph. xi, S. 64, Edition Nauck. 20 Die Referenzen beziehen sich auf Philoponi in Aristotelis de Anima, Edition
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berühmter Abhandlung Von der Seele wir nun besprechen wollen. Philoponus Ausgangslage war hervorragend geeignet, das ganze Gebiet zu überblicken und zu behandeln, ja er versuchte zudem Plato und Aristoteles zu vereinen und in Einklang miteinander zu bringen. Er behauptet, folgendes sei die wahre Lehre dieser beiden bedeutenden Philosophen (10, 4f.; 12, 15): Jede Seele sei unkörperlich; während sich allein die vernunftbegabte Seele von jedem Körper ablösen lasse und deshalb nicht dem Tode unterworfen sei, könne die vernunftlose (irrationale) nur vom physischen Körper abgetrennt werden; die letztere lasse sich aber nicht vom Geist, d.h. vom Geist-Körper, ablösen, der nach seiner Trennung vom irdischen Leib noch eine Weile fortdauere. Was die vegetative Seele betreffe, so sei ihre Existenz allein durch den physischen Körper begründet und gehe mit ihm zusammen zugrunde. In den Pflanzen gebe es keinen Geist-Körper (17, 8f.). Dieser letzten Aussage widerspricht die uralte Tradition der Alchemie freilich vehement. Sie gesteht nicht nur den Pflanzen, sondern auch den Metallen «Geister» zu. Später lässt Philoponus eine Spur von vegetativem Leben auch im tierischen GeistKörper gelten. Die vernunftlose (irrationale) Seele existiert nach dem Tode weiter und benützt als ihr Vehikel oder Substrat den spirituösen Körper, der sich aus den vier Elementen zusammensetzt, wobei in ihm das Element «Luft» überwiegt, genauso wie beim irdischen Leib das Element «Erde» ein Übergewicht besitzt (17, 20).21 Der Geist-Körper ist der Träger für die Existenz im Hades und M. Hayduck, Berlin 1897, und Comm. in. Arist. Graec. Acad. Litt. Reg. Ber. Vol. xv. Leider gibt es von diesen Texten weder eine deutsche noch englische Übersetzung. 21 Diese Auffassung unterscheidet sich etwas von derjenigen der trismegistischen Schule.
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liefert zudem die Grundlage für die Phantomerscheinungen der Verstorbenen. Was die Strafen im Hades anbelangt, so vermögen diese die Seele nicht wirklich zu reinigen, denn die Seele bewegt sich selbst und muss sich daher aus freiem Willen selbst reinigen. Sie ist deshalb gezwungen, zu diesem Zwecke zur Erde zurückzukehren. Die Strafen sollen ganz einfach die Seele zu sich selbst führen, sie zur Reue bringen oder sie von der Neigung zu den Dingen der Zeugung entwöhnen (17,25-18,25). Was die niedrigeren Mittel der Reinigung und den Sinn der Geister der Verstorbenen betrifft, finden wir bei Philoponus folgendes: «Nun sagen sie, der Geistkörper besitze auch ein bisschen vegetatives Leben, denn er werde auch ernährt, wenn auch nicht auf die gleiche Art wie dieser [grobstoffliche Körper], sondern mit Hilfe von Dämpfen, aber nicht durch Körperteile [d. h. durch verschiedene Organe], sondern als ganzer durch das Ganze [als ein Organismus] sozusagen wie ein Schwamm. Und diejenigen, die es ernst nehmen, bevorzugen eher leichte und trockene Nahrung, um zu verhindern, dass er dicht wird. Außerdem erwähnen sie noch andere sichere Mittel zur Reinigung. So wie wir diesen [grobstofflichen Leib] mit Wasser reinigen, lässt sich jener [spirituöse Körper] mit Dämpfen reinigen; denn mit gewissen Dämpfen wird er genährt und mit anderen gereinigt.22 Sie sagen, er sei nicht mit Organen versehen; aber der ganze Geist-Körper wirke durch sein Ganzes wie ein aktives 22
Aus dem gleichen Grunde empfiehlt Plutarch den berühmten ägyptischen Weihrauch kuphi, De 1. et O., lxxix. 2, der «das Feuer des mit dem Körper verwachsenen Geistes anfache». Siehe Plutarch: Über Isis und Osiris, 2. Teil (Darmstadt 1967), Kap. 79, 2 (Seite 50f.).
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Sinnesorgan und erfasse die durch die Sinne wahrnehmbaren Objekte. Weswegen auch Aristoteles in seiner Metaphysik [p. 455a, 20) sagt, dass genau genommen ein einziger Sinn und ein einziges wahres Sinnesorgan existiere. Sinnesorgan bedeute den Geist, in dem die Sinneskraft als ein Ganzes und durch das ganze [Sinnesorgan] die Vielfalt der Sinnesobjekte erfasse.» Aber wenn er keine Organe besitzt, wie können wir dann von ihm sagen, er sei für die Geistererscheinungen verantwortlich, die anscheinend Organe aufweisen und manchmal in der Gestalt von Menschen und zuweilen in der von Tieren auftreten? Als erste Erklärung ließe sich anführen, dass er leicht «die äußere Form des ihn umgebenden Körpers annehme», wenn er durch schwere Nahrung dicht geworden sei. Wir sollten uns das folgendermaßen vorstellen: «Wenn Wasser in einem Gefäß gefriert, so formt das gebildete Eis jenes ab.» Aber das erklärt nicht, wie er verschiedene Formen annehmen kann. Dazu meinen sie, «es sei wahrscheinlich, dass die Seele, wenn sie sich zu manifestieren wünsche, sich selbst [d.h. den GeistKörper] forme, indem sie ihre Vorstellungskraft in Bewegung setze. Oder sie arbeite sogar sehr wahrscheinlich mit dämonischen Kräften zusammen, um zu erscheinen und wieder unsichtbar zu werden, um sich zu kondensieren und sich wieder aufzulösen». Wir haben hier eine Theorie vor uns, die für moderne Spiritisten und für solche, die mit dem Phänomen der «Materialisation-Seancen» vertraut sind, nicht ganz uninteressant ist; denn die «Zusammenarbeit mit Dämonen» könnte leicht als «Hilfe von Geistern» interpretiert werden. Überdies gilt als allgemeines Dogma, dass die Wahrnehmungskraft nicht im physischen Körper, sondern im Geist wohne (161, 4). So sei zum Beispiel weder das Ohr noch
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das Trommelfell das hörende Sinnesorgan23, sondern der Geist (353,32). Kurz gesagt, der Geist-Körper allein ist das allgemeine Sinnesorgan (433, 34). Dies, sagt Philoponus, sei sowohl die Lehre von Aristoteles wie auch von Platon. Dann legt er Aristoteles weiter aus (438, 25): «Das erste Sinnesorgan, in dem die Fähigkeit der Wahrnehmung auftritt, ist der Geist, das Substrat der irrationalen (vernunftlosen) Seele, denn in diesem beruht die Existenz des Sinnes zu allererst. Augen, Ohren und Nase sind nur Sinnesorgane. Sie stehen nicht an erster Stelle, weil in ihnen die fühlende Seele zu finden ist. Sie sind bloß die Hilfsmittel, durch welche die Sinneserfahrung auf den Geist übertragen wird.» Er fährt dann im Sinne des Aristoteles fort (239,3): «Die Fähigkeiten der Sinneswahrnehmung sind im Geist begründet, denn er sieht und hört als Ganzes durch das Ganze und ist in allen übrigen Sinnen aktiv. Folglich sind alle Sinne in ihm zu finden, gerade so wie die vegetativen Kräfte in den Pflanzen am Werk sind24... Der Geist selbst ist nicht gestaltet.» Die Platoniker erklären auch, so sagt er uns (597, 23), dass das Erfassen der Sinnesgegenstände keineswegs in den [physischen Sinnesorganen] stattfinde, insofern nämlich [beim Menschen] der Verstand, welcher einem einzelnen Geist innewohnt, die Gegenstände der fünf Sinne wahrnimmt, und [beim Tier] die 23
Cp. 364, 15; für den «visuellen Geist» siehe: 161, 25; 336, 17, 20, 33, 37; 337, 6, 14 ff. Wir sollten hier nicht vergessen, dass der Physiologie der Antike das Nervensystem offensichtlich vollständig unbekannt war. Wir stehen heute jedoch ganz genau vor dem gleichen Problem, nur eine Stufe höher. 24 Cp. 201, 31: «Die psychischen Fähigkeiten sind im Geist wie die vegetativen in den Bäumen verteilt. Sie alle zusammen erstrecken sich über den ganzen Geist.»
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irrationale (vernunftlose) Seele mittels eines einzelnen Geistes alles Wahrnehmbare erkennt.» Und auf diese Weise fasst Philoponus die gesamte Lehre zusammen (481,19ff.): «Der Verstand, der selbst unkörperlich ist, ist im Körper tätig. Dieser ist sein Betätigungsfeld. Dieses Betätigungsfeld ist der spirituöse Körper. So treten die verschiedenen Arten von Sinnesphänomenen, obschon sie sich voneinander unterscheiden, im spirituösen Körper auf, bald in diesem, bald in jenem Teil desselben. Anschließend unterscheidet die Fähigkeit [d. h. der Verstand] selbst die sinnlichen Erfahrungen im Geist. Auf diese Weise halten wir den Verstand frei [vom Sinn] und sagen nicht, dass verschiedene Formen in dem auftrete, was keine Teile besitzt [nämlich die rationale (vernunftbegabte) Seele], sondern dass sie im größten [Körper] auftreten, d. h. im spirituösen, in seinen verschiedenen Teilen.» So wurde der Geist-Körper als das wahre Sinnesorgan betrachtet, und zudem sah man in ihm auch das Medium für die heute als Gedankenübertragung und Telepathie bezeichneten Phänomene und hielt ihn für den Mittler sowohl guter wie böser «innerer Stimmen». In diesem Sinne äußert sich auch Psellus in seiner berühmten Abhandlung über die Dämonen, wobei er sowohl nicht-menschliche wie menschliche entkörperlichte Wesenheiten einschließt, wenn er andeutet (p. 94 [p. 72]), dass die niederen Ordnungen dieser unsichtbaren Wesenheiten ihre Versuchungen dadurch heimlich in die Seelen des Menschen einfließen lassen, indem sie unmittelbar den Geist der Phantasie anregen oder die Essenz der Imagination beeinflussen: «Will ein Mensch einen anderen aus einer gewissen Entfernung ansprechen, muss er laut sprechen, aber wenn er ganz nahe bei ihm steht, genügt es, ihm ins Ohr zu flüstern. Sollte es ihm zudem noch gelingen, in einen sehr engen Kontakt zu dessen Seele zu kommen, so bedürfte es gar nicht
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mehr des gesprochenen Wortes, weil alles, was er uns mitteilen möchte, den Zuhörenden auf einem lautlosen Weg erreichen würde. Sie sagen, dies geschehe auch bei den Seelen, die den Körper soeben verlassen haben, denn diese kommunizieren ohne hörbare Worte miteinander.» Es braucht hier wohl kaum weiter darauf hingewiesen zu werden, dass seit der Zeit Swedenborgs bis zum heutigen Tag diese unmittelbare Verständigung von Geist zu Geist eine allgemein akzeptierte Überzeugung im modernen Gerede über ein diesseitiges Jenseits darstellt. Philoponus teilt uns mit, dass vermutlich nicht nur Delirium, sondern auch häufig Geistesgestörtheit und Abstumpfung des Verstandes bei Menschen, die nicht im Besitz ihrer normalen Sinnesfunktionen sind, dann auf Veränderungen im Geist zurückzuführen seien, wenn nach Aristoteles (418b, 24) «der spirituöse Körper entweder einen gewissen Zusammenbruch erleidet oder dieser den Verstand stört und behindert, weil er aus seinem Ebenmaß gefallen ist.» Auch was das Erinnerungsvermögen betrifft, erklärt Philoponus (158, 7): «Obschon man sagen kann, die Bewegung des Erinnerungsvermögens beginne in der Seele, so meinen wir damit nicht, dass sich die Seele aus sich selbst durch sich selbst erinnere, sondern wir wollen andeuten, dass genauso wie wir bei den Sinnen sagen, die Bewegung nehme ihren Anfang bei den Sinnesgegenständen und erreiche dann dasjenige, in dem die unterscheidende Wahrnehmungskraft innewohne, nämlich den Geist, wir beim Erinnerungsvermögen ebenso sagen, der Geist vermittle der Seele, dass sich das Erinnerungsvermögen zu bewegen beginne.» Bisher scheint es ausgeschlossen, dass sich die akademische Psychologie je ernsthaft herablassen wird, die Hypothese eines Geist-Körpers in irgendeiner Form oder Gestalt in Erwägung zu
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ziehen. Aber trotzdem wird die Forschung der Psyche jeden Tag mehr und mehr in diese Richtung getrieben. Natürlich werden die immer größer werdenden Kenntnisse, die wir heute in der Physiologie und Biologie besitzen, die antike Lehre gezwungenermaßen in mancher Beziehung beträchtlich verändern. Aber immerhin ließ sich die Hauptidee in ihrer einfachsten Form während so vieler Zeitalter unverfälscht in die Erfahrung der Menschheit einfügen, dass sie m gewisser Beziehung immer noch den prüfenden Blick einer vorurteilsfreien Forschung verdient.
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Obschon der Begriff «Augoeides» durch den Romancier BulwerLytton in vieler Leute Mund gewesen ist, weiß doch der größte Teil seiner Leser nicht mehr über die betreffende mystische Lehre, als sie von dem etwas verwirrenden «Selbstgespräch des Zanoni» erfahren haben: «Meine Seele, du Licht, du Augoeides, warum steigst du aus deiner Sphäre herab, warum fährst du aus dem ewigen, sternengleichen, leidenschaftlichen Heiteren zurück in die Nebel des dunklen Sarkophags? Wie lange hast du zufrieden in deiner majestätischen Einsamkeit gelebt, da bittere Erfahrung dich lehrte, dass Gemeinschaft mit den Sterblichen bei aller ihrer Lieblichkeit nur Kummer bringt!»1 Zu diesem Abschnitt fügte der Autor in der Ausgabe von 1853 1
Siehe Edward Bulwer-Lytton: Zanoni, Das Hohelied des Opfers, S. 90, Ansata Verlag, Schwarzenburg, Schweiz 1980. Zanoni entstand aus einer unreifen, blumenreich romantischen Skizze, Zicci genannt, die in Fortsetzungen im The Monthly Chronicle 1838 erschien. Das Selbstgespräch des Zanoni findet sich im
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eine Bemerkung hinzu, die einen griechischen Absatz enthielt, dessen Referenz und Übersetzung jedoch falsch sind. Die Textstelle stammt nämlich von Marc Aurel (xi.12) und lautet wie folgt: «Die Kugel der Seele ist lichtförmig (augoeidés)2, wenn sie weder zu etwas aufschwillt, noch nach innen zusammenschrumpft, noch sich erhebt3, noch sich senkt, sondern mit dem Licht leuchtet, mit dem sie die Wahrheit sieht, die aller Dinge und die in ihr selbst.» Doch schauen wir nun einmal, ob es uns nicht mit einem Körnchen Fleiß gelingt, etwas mehr Licht in diesen Sachverhalt zu bringen. Im klassischen Griechisch bedeutet das Eigenschaftswort augoeidés «im Besitze einer Art von augé», d.h. im Besitze einer Art von Glanz, Schein, Leuchten, Strahlung. Somit kann das Eigenschaftswort mit leuchtend, strahlend, scheinend, strahlenförmig, glorreich usw. wiedergegeben werden. Entwurf nicht. Bulwer-Lyttons Romane werden heute mit Ausnahme von Zanoni oder Die letzten Tage von Pompeji kaum mehr verlegt. In den letzten Jahren wurde er aber wieder mehr als früher beachtet. So erschien in der Suhrkamp-Reihe «Phantastische Bibliothek» der Roman «Das kommende Geschlecht«, st609. (Ergänzung des Übersetzers.) 2 Diese Lesart kann in Frage gestellt werden. Sie erscheint aber wahrscheinlich, wenn man die Zeile in ihrem Kontext berücksichtigt. Spätere Texte bringen autoeidés, was soviel wie ‹sich selbst gleich, selbst gebildet, einheitlich) bedeutet. (Siehe D. Imp. M. Ant. Com. Libri XXII., rec. I. Stich, Leipzig, 1903, S. 147.) Die deutsche Übersetzung von W. Theiler der Artemis-Ausgabe liest hier auch augoeidés (Anmerkung des Übersetzers). 3 Ich lese hier speiratai für speirhtai; dadurch entsteht der Eindruck eines Knäuels, einer Spirale oder von etwas Zusammengerolltem oder eines eiförmigen Körpers im Gegensatz zu der perfekten Kugel. (Nach Meads Lesart müßte die Stelle nun lauten: noch sich windet... Die von mir hier angeführte deutsche Übersetzung von Willi Theiler in Marc Aurel: Wege zu sich selbst, Artemis Verlag, Zürich 1958, weist jedenfalls nicht in diese Richtung. Ob Meads Lesart richtig ist, sei dahingestellt. Der Übersetzer.)
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Soviel sagt uns das Wörterbuch. Wie steht es nun aber mit augoeidés im Sinne von strahlendem Körper, leuchtendem Vehikel oder Seelenkleid? Im Zusammenhang mit der Natur des spirituösen Vehikels, des Geist-Körpers oder des Geistes (tò pneûma oder tò sôma pneûmatikón) haben wir schon bis zu einem gewissen Grade die Ideen der späteren Platoniker mit ihren Vor- und Nachläufern diskutiert, deshalb können wir ohne weitere Einführung fortfahren, die Hauptessenz oder Substanz aller Körper und jeder Verkörperung zu erörtern, denen diese Philosophen allgemein den Namen augoeidés gegeben haben. Die Grundidee wurde sehr wahrscheinlich von der Orphik übernommen und in die griechische Philosophie eingeführt, d. h. vermutlich beeinflussten die alten östlichen mystischen Lehren Klein- und Vorderasiens das hellenistische Gedankengut. Die Abstammungslinie ihrer «Theologie» bis zu Pythagoras und Platon leiteten nun die Platoniker selbst von Orpheus her. Wir wollen uns deshalb zuerst der frühesten und der spätesten Schule der Akademie zuwenden, nämlich zu Platon selbst und zu Damaskios, um zu erfahren, was diese über das wahrnehmbare Vehikel der Reinheit und der Wahrheit zu sagen haben. In jenem großartigen Abschnitt (250c) seines Dialogs Phaidros spricht Platon über die Vision der himmlischen Schönheit und behandelt ausführlich die philosophische Erinnerung oder das Andenken an jenen Zustand, als sich die Seelen des Menschen noch nicht in die Zeugung verstrickt hatten. Es heißt da: «Die Schönheit aber war damals herrlich anzusehen, als wir, zu einem glücklichen Chor vereint, im Gefolge des Zeus und andere mit einem anderen Gotte, den seligen und göttlichen Anblick
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schauten und mit jener Weihe geweiht wurden, die man als die glückseligste bezeichnen darf und an der wir uns in mystischem Verzücken erfreuten.4 Denn wir waren damals noch im Zustand der Ganzheit, unberührt von den Übeln, die unserer in späterer Zeit warteten. Wir, in der Ganzheit, aber doch einmalige Wesen, bar aller Bewegung, aber doch voller Glückseligkeit, waren uns nicht nur auf mystische Weise der [göttlichen] Formen5 bewusst6, sondern wir erblickten7 sie offenen Auges in ihrem Glanze (augés) der Reinheit. Denn zu jener Zeit waren wir [selbst] noch rein und noch nicht in jenes Grab (séma) versunken, das wir heute mit uns herumtragen und als Leib (sóma) bezeichnen, in dem wir wie eine Muschel [in ihrer Schale] eingeschlossen sind.» Wir wollen nun von der großartigen Intuition des Gründers der Schule zum letzten Inhaber der kathedra der Akademie, nämlich zu Damaskios, übergehen, der im Jahre 529 durch Justinian abgesetzt wurde. In seinem Kommentar über Platons Parmenides (§ 414) schreibt Damaskios über das strahlende Vehikel folgendes: «Im Himmel ist unser leuchtender (augoeidés) [Teil] in der Tat 4
Der zitierte Abschnitt wurde von Rudolf Rufener (Platon: Phaidros, Artemis Verlag AG, Zürich 1958) übertragen, mit Ausnahme des letzten Relativsatzes «an der wir uns in mystischem Verzücken erfreuten», den er mit dem blassen «feiern» wiedergibt. Wenn Mead bemerkt, dass die englische Übersetzung sachlich fast jeden wichtigen Punkt verfehle, so gilt das leider zum Teil auch für die deutsche Übersetzung. Vielen Altphilologen muß eine beschämende Ignoranz alter esoterischer Lehren attestiert werden. Aufschlußreiche Stellen werden einfach mit einem poetisch tönenden Kleister überdeckt. Für den weiteren Text folge ich der englischen Übersetzung von Mead (Anmerkung des Übersetzers). 5 Phásmata, d. h. die Ideen. 6 muoÚmenoi bezeichnet den tieferen Grad von myêsis, also mit geschlossenen oder verhüllten Augen. 7 ⁄popteÚontej bedeutet den höheren Grad von epopteía, mit geöffneten oder unverhüllten Augen.
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ganz mit himmlischem Glanz (augé) gefüllt - eine Glorie durchströmt seine Tiefen und verleiht ihm eine göttliche Stärke. Aber in niederen Zuständen verliert er seinen [Glanz], beschmutzt sich sozusagen, verdunkelt sich immer mehr und wird materieller. Unachtsam wächst er und sinkt zur Erde hinab; aber seinem innersten Wesen nach ist er immer noch eins, d. h. eine Einheit. Dies gilt auch für unsere eigene Seele. Wenn sie zu Geist und Gott hinaufstrebt, ist ihr innerstes Wesen (ihre Substanz) [nämlich ihr augoeidés] von göttlichem, gnostischem Licht erfüllt, das sie früher [während der Inkarnation] nicht besaß, sonst wäre sie ja schon göttlich gewesen.»8 Nach einer anderen Textstelle von Damaskios9 hatte Isidorus, Freund des Proclus und des Marinus, Gatte der Hypatia und für kurze Zeit Inhaber der kathedra der Schule, folgendes behauptet, wobei er sich auf die Arbeit eines anderen Philosophen stützte, den wir aber wegen teilweisen Verlusts des Textes nicht mehr identifizieren können: «Die Seele besitzt ein gewisses, strahlendes Vehikel (augoeidés óchéma)10, sternengleich (astroeidés) und ewig. Dieses [Vehikel] ist nun in unserem [grobstofflichen] Leib sicher eingeschlossen. Einige meinen, es sei im Kopf, und andere, es befinde sich innerhalb der rechten Schulter - übrigens eine 8
Ruelle (C.A.), Damascii Successoris Dubitationes et Solutiones de Primis Prinäpiis in Platonis Parmenidem (Paris 1889), ii.270. Davon gibt es eine französische Übersetzung von A.E. Chaignet (Paris 1908, 3 vols.); cp. iii. 147. 9 In seinem Werk «Das Leben des Isidorus», welches verlorengegangen ist. Wir finden das Zitat im Lexikon des Suidas, Ausgabe Bernhardy (Halle 1853), 1, 850f.; Ausgabe Bekker (Berlin 1854), S. 194. 10 So wird es zum Beispiel in den chaldäischen Orakeln genannt: das feinstoffliche Vehikel der Seele (leptòn óchéma), zitiert von Hierokles in seinem Kommentar zu den Goldenen Versen des Pythagoras, xxvi, 67-69.
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Aussage, die man sonst bei niemand anderem findet.» Es lässt sich hier nicht sicher bestimmen, ob die letzte Bemerkung Damaskios oder Suidas zuzuschreiben ist. Jedenfalls bezieht sie sich allein auf die merkwürdige Äußerung über die «rechte Schulter». Es erübrigt sich, hier noch weiter auf eine gewisse ‹Silberschnur›11 oder psychische Verbindung hinzuweisen, die unter verschiedenen Umständen schon «gesehen» und erwähnt worden ist. Einige vermuten, sie beginne zwischen den Schulterblättern; andere stellen sich vor, dass sie sich sozusagen von einem Punkt oder Zentrum aus entrolle und sich dann wieder selbst auf diesen Punkt zurückziehe, wenn bei gewissen mystischen Erfahrungen das subtile Vehikel den Körper verlasse und wieder zurückkehre. Das Phänomen wird recht vielfältig beschrieben. Nach der Meinung von anderen jedoch besitzt die Silberschnur zahlreiche Verbindungspunkte zum Körper. Wie wir sehen, hatte jedoch das augoeidés nach den damaligen Ansichten seinen Mittelpunkt - sozusagen wie ein Lichtfunke im Kopf. Man stellte sich also vor, der einzige Kontaktpunkt zum physischen Körper liege im Kopf. Beim spirituösen Körper dagegen haben wir im letzten Kapitel die Vorstellung angetroffen, dass jener den gesamten grobstofflichen Leib durchziehe und umfasse.
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Der Hinweis auf die Silberschnur wird den Leser unweigerlich an die Stelle im Alten Testament erinnern: Prediger 12,6: ... ehe denn die silberne Schnur zerreißt und die goldene Ampel zerspringt ehe das Rad bricht und in den Brunnen stürzt und der Eimer an der Quelle zerschellt. Aber hier den ganzen Abschnitt abzuhandeln, würde den Rahmen dieses Büchleins sprengen.
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Wir wollen uns nun zwei Textstellen zuwenden, die diesen Fragen ausführlich nachgehen. Wir entnehmen sie den Werken von Porphyrios (350 n. Chr.) und von Proklos (485 n. Chr.). In seinem Werk Sentetitiae, das praktisch eine Zusammenfassung der Plotinschen Lehren darstellt, sagt uns Porphyrios über die Seele: «Wenn sie in ihrem reineren Zustande ist, so ist sie mit einem Körper verbunden, der dem immateriellen [Zustand] am nächsten liegt, nämlich mit dem ätherischen (aithérion) Körper. Wenn sie aber vom Verstand (lógos) zur Projektion der Vorstellungskraft (phantasía) übergeht, ist sie mit dem sonnenähnlichen (hélioidés) [Körper] verbunden. Wird sie weiblich und verlangt leidenschaftlich nach Form, gleicht ihr Körper dem Mond (selénoeidés). Und [schließlich], wenn sie in die aus feuchten Dämpfen bestehenden Körper hinabtaucht - [dies geschieht] immer dann, sobald sie in einen amorphen Zustand gerät -, befällt sie tiefe Unwissenheit über die Wirklichkeit, sie verdunkelt sich und wird kindlich ... Wenn sie sich jedoch aus [dieser] Natur zu lösen vermag, erscheint sie in einem trockenen, schatten- und wolkenlosen Glänze (augé). Denn Feuchtigkeit bildet in der Luft Wolken12, während Trockenheit den Dampf in einen trockenen Glanz (augé) verwandelt.»13 Diese Aussagen können wir nun mit der folgenden Textstelle aus dem Kommentar von Proklos über Platons Timaios vergleichen: 12
Vgl. Porph. De Ant. Nymph. S. 64, 16 (Nauck): «Wird die Feuchtigkeit in der Luft verdichtet, bilden sich Wolken.» 13 Porphyrii, Sententiae ad Intelligibilia Ducentes, xxix., S. 14f., Ausgabe Mommert, Leipzig 1907.
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«Der Mensch ist eine kleine Welt, ein Mikrokosmos (mikrós kósmos). Denn er besitzt genau gleich wie das Universum (tò pân) Geist und Verstand (noûs und lógos), einen göttlichen und einen sterblichen Körper. Er ist wie das Universum aufgebaut. Aus diesem Grund, weißt du, pflegen einige zu sagen, dass sein gnostisches [Prinzip] (tò noeròn) in Einklang mit der Natur der Sterne stehe. Sein Verstand stimmt in seinem kontemplativen Aspekt mit Saturn und in seinem gesellschaftlichen Aspekt mit Jupiter überein. Was den irrationalen [Teil] des Menschen betrifft, seine emotionale [Seite nämlich], so [entspricht] sie dem Mars, die Sprachfähigkeit dem Merkur, die Triebe der Venus, die Gefühle der Sonne (Sol) und die vegetative Seite dem Mond (Luna). Zudem entsprechen dem strahlenden Vehikel (augoeidés óchéma) der Himmel, und diese sterbliche [Hülle] dem sublunaren [Bereich].»14 Mit diesen beiden Textstellen haben wir zwei verschiedene Schemata vor uns, um die psychische Verkörperung und die Aktivitäten des Menschen einzuordnen, die geringere Welt steht in Beziehung zu den astralen Teilen der größeren Welt. Porphyrios folgt der Einteilung der alten babylonischen Tradition, nach der Sonne und Mond rangmäßig dem reinen Ätherraum folgen, aber vor den Planeten stehen. Proklos dagegen bedient sich der Sprache der späteren neobabylonischen Astrologen, und das auch noch in einer hellenisierten und philosophischen Form. Der allgemeine Tenor der jüngsten Forschung berechtigt uns, die Einführung der Idee des augoeidés in die griechische 14
Procli, Commentarius in (Vratislaviae 1847), S. 848.
Platonis Timaeum, S. 384A, B, ed. Schneider
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Religionsphilosophie den alten orphischen, mystagogischen Lehren zuzuschreiben, die von pythagoräischem Gedankengut durchsetzt waren. Es ist wohlbekannt, und wir haben schon früher darauf hingewiesen, dass die Platoniker in der Tat selbst stets behauptet hatten, die Quellen ihrer «Theologie» gingen über Plato und Pythagoras auf Orpheus selbst zurück. Für uns ist es deshalb interessant zu sehen, was uns Hierokles, neuplatonischer Philosoph in der Stadt Alexandria, der seine Blütezeit Mitte des fünften Jahrhunderts erlebte, über den Strahlenkörper in seinem Kommentar zu den Goldenen Versen mitzuteilen hat. Jene Verse enthalten die so genannten «Symbole» der pythagoräischen Lehre. Diese «Symbole» stellen rätselhafte Sprüche oder Richtlinien in allegorischer Form dar, die sich mit moralischen Wahrheiten befassen. Genau genommen sind sie als akoúsmata oder «gehörte Dinge» bekannt. Nach der neusten, von Professor Burnet vertretenen Auffassung seien die meisten davon als «Tabus von durchwegs primitiver Art zu betrachten».15 Hierokles teilt uns eigentlich nichts anderes mit, als dass das Ziel all dieser Läuterungsstufen in jener berühmten Lehrmethode darin lag, die höchste Vollkommenheit dieser Verkörperung wiederherzustellen und sie in den ursprünglichen Zustand zurückzuführen. «Das Ziel der Methode war, dass den Pythagoräern Flügel wüchsen, um sich zu jener Höhe aufzuschwingen, in der sie der göttlichen Segnungen teilhaftig würden, damit dann, wenn die Stunde des Todes nahte, die Athleten im Spiel der Philosophie [d. h. im Spiel der Liebe zur Weisheit] die Himmelsreise unbeschwert antreten könnten, weil sie den sterblichen Leib auf 15
Siehe dazu den Artikel ‹Pythagoras and Pythagoreanisim› im letzten publizierten Band von Hastings Encyclopaedia of Religion and Ethics.
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Erden zurückgelassen und auch dessen Natur [nämlich den spirituösen Körper] abgestreift hätten»16 Ebenso sagt er in seinem Kommentar zu den Versen 67-69, § xxvi.: «Wer auch immer auf die Pythagoräischen Ratschläge achtet, sollte aus diesen Versen lernen, mit der Tugendlehre (askésis) und der Wiedergewinnung der Wahrheit zusammen auch seinen Strahlenkörper (augoeidés) sorgfältig zu reinigen, der in den [chaldäischen] Orakeln das subtile Vehikel der Seele genannt wird.»17 Etwas später wiederholt er folgendes: «So wie es notwendig ist, die Seele mit Wissen (epistémé) und Tugend zu schmücken, damit sie sich zu denen gesellen kann, die ewig weise und tugendhaft sind, genau so müssen wir unseren Strahlen[körper] (augoeidés) läutern und von [grober] Materie befreien, damit er die Vereinigung mit den ätherischen Körpern aufrechterhalten kann.»18 Die oben zitierten Textstellen erlauben uns, Reinheit, Tugend und Wahrheit als die hauptsächlichsten Stufen dieser geistigen Disziplin zu bezeichnen. Wir können den vorliegenden Teil des Essays nun mit einigen anders lautenden Zitaten von Philoponus abschließen. Er lebte, wie schon früher erwähnt, in der ersten Hälfte des siebten Jahrhunderts in Alexandrien und war somit in einer günstigen Ausgangslage, die Lehren der Platonischen Schule zusammenzufassen. Der wichtigste Abschnitt über augoeidés lautet folgendermaßen: «Außer diesem [spirituösen Körper] existiert zudem noch eine andere Art von Körper, der für immer an [der Seele] haftet, er ist 16
Ed. Needham (Cambridge 1709), p. 227. Needham, S. 214, Mullach (Paris 1860), S. 478b. 18 Nämlich mit den Sternen und mit den Körpern der Götter; Needham, S. 222, Mullach, S. 481b. 17
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himmlischer Natur und aus diesem Grunde unvergänglich; sie nennen ihn strahlend (augoeidés) oder sternengleich (astroeidés). Da [die Seele] ein Wesen kosmischen Ranges darstellt, ist es unabdingbar, dass sie eine Stätte oder einen Teil des Kosmos haben sollte, um in ihm zu wohnen. Und wenn die Seele sich in einem Zustande ewiger Bewegung befindet und es notwendig ist, dass sie für immer aktiv sein solle, dann muss sie irgendwelchen Körper haben, der für immer mit ihr verbunden ist und den sie ewig am Leben erhält. Deshalb sagen sie, dass die Seele ihren Strahlenkörper (augoeidés), der unvergänglicher Natur sei, ewig behalte. »19 Philoponus teilt uns mit, wenn er vom makrokosmischen Standpunkt aus auf diesen himmlischen «Körper» zu sprechen kommt, dass nach den Platonikern «die Materie der himmlischen [Körper]» nicht aus den vier Elementen bestehe, sondern dass «noch eine andere Art von Körper, Element oder Quintessenz das fünfte» existiere, dessen Form (eídos) kugelförmig sei.20 Danach schreibt er, das Ganze von einem mikrokosmischen Standpunkt aus betrachtend: «Weiter muss gezeigt werden, dass die vernunftbegabte (rationale) Seele die Essenz [oder Substanz, ousía] eines jeden Körpers hat, der mit ihr verhaftet ist, während die anderen Seelen ihre Existenz in einer [gewissen Art] von Körper fuhren, das heißt, die vernunftlose (irrationale) [Seele] im Geist [oder im spirituösen Körper] und die vegetative im [grobstofflichen Körper]» (15,19). 19
Philoponi in Aristotelis de Anima, Ausgabe Hayduck (Berlin 1897) 18, 26 ff. Ib. 56,3; cp. 88,12; 138,6; 21,22 ebenso 450,29, wo dieser Körper der «ätherische» genannt wird und die vier anderen als «Einzelkörper» bezeichnet werden.
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In seinem Kommentar zu De Anima ii.7 teilt uns Philoponus schließlich die Ansicht des Aristoteles darüber mit: «Der ewige, sublime (ánó) Körper hat etwas Transparentes an sich. Er bezeichnet ihn als den Ausfluss (chúma) der Himmelskörper, denn sie alle sind transparent» (324,5).21 Dieser Körper gehört zum «Kristallinen». Obschon die Platonische Schule allgemein an das Dogma der Untrennbarkeit der Seele von ihrer essentiellen Substanz oder Vehikel (dem augoeidés) glaubte, denn nach ihrer Meinung22 konnte die Seele ohne dies letztere weder tätig sein noch am Geschehen teilnehmen, so war zu jener Zeit doch auch eine absolutistische Doktrin über eine vollständige Trennbarkeit feststellbar, welche Aristoteles dem Meister selbst zur Last zu legen versuchte, indem er sie auf eine Äußerung im Timaios zurückführte. Zu diesem Punkt führt Philoponus wie folgt aus: «Nach Platons Ansicht ist es für die Seele besser, ohne Körper [irgendwelcher Art] zu sein. Denn das körperliche Leben ist voller Mühsal. Er glaubte zudem, dass sich der Kosmos nie auflösen werde. Deshalb werde die Seele des Universums sich in einer weniger glücklichen Lage als unsere Seelen befinden, insofern diese, ungleich jener, irgend einmal von ihrem Körper befreit würden. Die [Welt-]Seele hingegen muss für immer mit dem [Welt-]Körper verwoben bleiben. Wenn die Essenz der [Welt-]Seele mit dem [Welt-]Körper verwoben ist, wie anscheinend im Dialog Timaios zu lesen ist, muss der scharfsinnige Aristoteles jedenfalls zu diesem Schluss kommen. 21
Wir erkennen hier die Idee des «Astral»lichtkörpers. Einige nehmen an, dass sich der Name «Al-chymy» von chyma herleite, wobei das al im Arabischen natürlich der bestimmte Artikel ist. Alchemie tauchte im Westen durch lateinische Übersetzungen arabischer Übertragungen aus der griechischen Originalliteratur wieder auf. 22 Siehe dazu das erste Zitat von Philoponus (18, 26f.).
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So wie die [menschliche] Seele, sobald sie über den [physischen] Körper Herrschaft erlangt, einen ihr folgenden Körper besitzt und sie selbst den Bewegungen des Körpers gar nicht folgt, so ist ja dann die [Welt-]Seele, wenn der Himmelskörper [des Universums] frei von allen sterblichen Störungen ist und nur durch den Willen der Weltseele bewegt wird, in noch größerem Maße ungestört. Und dies gilt auch für unsere eigene Seele mit ihrem Strahlen[Körper] (augoeidés)» (137, 27ff). Abschließend wenden wir unsere Aufmerksamkeit den Schriften des Synesius zu, um zu erfahren, was er uns über den augoeidés zu sagen hat. Synesius (365 - 430 n.Chr.) war Neuplatoniker und stand viele Jahre lang in Briefwechsel mit Hypatia. Er legte sogar seine Abhandlung Über die Visionen, aus der wir die folgenden Zitate entnommen haben, der Philosophin zur Begutachtung vor. Diese Abhandlung schrieb Synesius um das Jahr 404, bevor er Christ wurde. Ungefähr 23 Jahre später hatte er für etwa drei Jahre bis zu seinem Tod das Amt eines Bischofs inne. Was uns Synesius zu sagen hat, ist meines Erachtens die detaillierteste Aussage über den hier untersuchten Gegenstand. Ich erlaube mir, hier eine sorgfältige und vollständige Übersetzung folgen zu lassen, die um so willkommener sein wird, da keine Übertragung in das Englische existiert.23 23
Die einzige Version, die mir bekannt war, als ich 1910 mit der vorliegenden Übersetzung begann, war die vollständig wertlose Übertragung oder besser gesagt Interpretation von H. Druon (Paris 1878), die beständig jeden charakteristischen Punkt verfehlt. Ich hatte damals den Eindruck, dass nichts Brauchbares existierte, aber in der Folge fand ich W. S. Crawfords gekürzte Zusammenfassung, S. 473ff., in seinem lehrreichen Band Synesius the Hellene (London 1901). Es handelt sich hierbei keineswegs um eine Übersetzung und gibt als Zusammenfassung nur
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«7 (135D). Gott mit eigenen Augen in der Natur draußen wahrzunehmen, mag eine glückliche Erfahrung sein, ihn aber mit seinem Vorstellungsvermögen (phantasía) zu begreifen, gehört zu einem höheren Grad unmittelbarer Erkenntnis. Diese [Macht des Vorstellungsvermögens] ist nämlich der eine Sinn [aller differenzierten] Sinne, da der Geist (pneûma), durch den das Vorstellungsvermögen ins Spiel gebracht wird, das allgemeinste Sinnesorgan und der erste Körper der Seele ist. Sein Sitz liegt an innerster Stelle und beherrscht von dort aus die lebendige Kreatur (136A) wie von einer Burg herab. Denn rundherum hat die Natur die ganze Ordnung des Kopfes aufgebaut. Nun sind Hören und Sehen keine Sinne, sondern Sinnesorgane, Diener des gemeinsamen [Sinnes], sozusagen Türhüter, die ihre Meisterin über die Sinnesobjekte draußen benachrichtigen, welche an die Tore der nach außen gekehrten Sinnesorgane geklopft haben. Sie24 ist in all ihren Teilen einfach Sinn. Denn sie hört und sieht mit dem ganzen Geist [nämlich mit dem gemeinsamen Sinnesorgan], und so macht sie es auch für die übrigen Sinne. Sie ist es, welche die Fähigkeiten [des Sinnes] den verschiedenen [Sinnes-]Organen verleiht. Jedes von ihnen entspringt dem Tierischen, d. h. dem Geist; sie sind sozusagen so etwas wie Radien, die alle von einem Zentrum ausgehen und dort verankert sind. In Bezug auf ihre gemeinsame Wurzel sind sie alle eins, werden aber, wenn sie hervorgehen, zu vielen. einen unvollkommenen Führer ab. Der von mir benutzte Text ist I. G. Krabingers Ausgabe der Homilia und Fragmente (Landshut 1850), S. 323 ff. 24 Mit «sie» ist das Vorstellungsvermögen, die Imagination, das griechische phantasía gemeint. Damit das Bild der Meisterin erhalten bleibt, bin ich bei der weiblichen Form geblieben (Anmerkung des Übersetzers).
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Folglich ist der Sinn, wenn er die hervorgebrachten Organe durchläuft, ausgesprochen tierähnlicher Natur. In der Tat ist er überhaupt nicht Sinn, solange er nicht seinen Ursprung erreicht. Der unmittelbare Sinn ist göttlicher und liegt näher bei der Seele. Deshalb erwarte von keinem, dessen imaginativer Geist (phantastikòn pneûma) erkrankt ist, eine klare und unverworrene Sicht. Von welcher Krankheit der Geist befallen ist, wodurch er schwachsichtig und dicht wird und wodurch man ihn reinigt, läutert und in seinen natürlichen Zustand zurückführt, musst du von der mystischen Philosophie25 lernen. Durch sie wird er Gotterfüllt werden, nachdem er durch die heilenden Riten (teletôn) gereinigt worden ist. Bevor jedoch der [Körper] des Vorstellungsvermögens Gott empfangen kann, muss die Flut [der Sinnessignale] aus ihm weichen. Aber wer ihn rein hält, indem er ein naturgemäßes Leben führt, dem steht damit immer, [sogar] in diesem Leben, das bestausgerüstete Sinnesorgan zur Verfügung. Ist der Geist auf diese Weise gereinigt, wird er sich der Neigungen der Seele bewusst und ist ihnen gegenüber nicht unempfänglich, wie es bei der muschelähnlichen Schale [beim grobstofflichen Leib nämlich] der Fall ist. (13A) Der letztere arbeitet tatsächlich immer den Neigungen der Seele zu Höherem entgegen; ihr ursprüngliches und ewiges Vehikel hingegen verfeinert sich und wird ätherischer, wenn [die Seele] tugendhaft wird. Verfällt sie aber dem Laster, so verdichtet sich ihr Vehikel und wird irdisch. Dieser Geist bildet nun wirklich ein Grenzland zwischen Vernunft und Vernunftlosigkeit, zwischen Körper und Körperlosigkeit. Er ist die gemeinsame Grenze, an der sich die göttlichen mit den niederen Dingen verknüpfen. 25
Nämlich die chaldäischen Orakel.
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Deshalb ist es schwer, seine Natur von der Philosophie her [allein] zu begreifen.26 8 (137B). Denn was ihm zusteht, zieht er von jedem der beiden Extreme, wie von Nachbarn, zur Mitarbeit heran und entwirft dann von so weit auseinander liegenden Dingen ein Bild einheitlicher Natur. Was die Verbreitung dieser imaginativen Substanz oder Essenz betrifft, so hat sie die Natur in viele Klassen von Lebewesen einfließen lassen. Tatsächlich findet sie sich sogar bei den niederen vernunftlosen Kreaturen, um sich selbst als das Bessere auszudehnen. Und alle Geschlechter der Dämonen verdanken ihr Dasein einem derartigen Leben. Denn jene sind während ihrer Existenz tatsächlich an und für sich Bilder und sichtbar gewordene Ereignisse.27 Dem Menschen sind zwar durch diese [Essenz] viele Dinge bewusst, sogar durch sie allein, aber noch viel mehr, wenn mit ihr ein anderer [ein Dämon oder Geist?] ist. Denn [die Klassen der Dämonen] lassen den Gedanken immer etwas Imagination (phantasía) beigemischt sein; es sei denn, ein Mensch stelle zufällig und blitzartig einen immateriellen Kontakt mit einer Idee her. Aber so beglückend das Überschreiten des Vorstellungsvermögens ist, genauso schwer ist es. Denn Geist und Klugheit, sagt [Platon, Phileb. 59D] sind willkommen, zu wem sie auch immer selbst im hohen Alter kommen; damit ist die das Vorstellungsvermögen übersteigende Macht gemeint. Denn das Leben, das in Bilder umgesetzt wird, stammt sicher 26
Die Philosophie wird hier von der «mystischen Philosophie» unterschieden. Dies ist eine bemerkenswerte und höchst anregende Bemerkung, die von denen, die auf dem Gebiet der Psyche forschen, als eine Arbeitshypothese gebraucht werden könnte. 27
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aus dem Vorstellungsvermögen (phantasía) oder aus einem Geist, der auf das Vorstellungsvermögen zurückgreift. 9 (137D). Jedenfalls wird dieser psychische Geist (pneûma), den die Eingeweihten28 ‹spirituöse Seele› (pneûmatikon psyche) nennen, entweder ein Gott oder ein Dämon, der fähig ist, mancherlei Gestalt anzunehmen, oder ein Bild [Schatten], in dem die Seele letztlich ihr Heil ausarbeiten muss. Nicht nur die Orakel stimmen nämlich darin überein, dass man die Lebensweise der Seele im Zustand nach dem Tode [bei der Bestrafung] mit dem bildhaften Geschehen im Traum vergleichen kann, sondern auch die Philosophie kommt zum Schluss, dass die ersten Leben [auf der Erde] zur Vorbereitung auf die folgenden [nach dem Tode] dienen. Es ist zudem die höhere Veranlagung des Gemüts in den Seelen, die [den Geist] erleuchtet und die Flecken der niederen [Veranlagung] austilgt. (138A). Und so steigt sie aus natürlichem Drange infolge ihrer Hitze und Trockenheit zur Höhe auf, wobei dies zweifelsohne Platons ‹befiederter Seele›29 entspricht und wir zudem finden, dass Herakleitos' ‹weise Seele, trockener Glanz (augé)›30 genau auf den gleichen Sachverhalt hinweist, oder sie sinkt, nachdem sie schwer und feucht geworden ist, naturgemäß in die Tiefen der Erde hinab und schleicht dort, in den unterirdischen Schlund hinab geworfen, umher.31 Denn diese Region passt sehr gut zu den feuchten Geistern. 28
«Eingeweiht» bezieht sich hier auf die Tradition, die im hellenistischen Gedicht, das als chaldäisches Orakel bekannt ist, bewahrt wurde. Das scholium des Nicephorus (N. Gregoriae Byzantinae Historiae Libri XXXVII., Migne, Pat. Gr., tom. cxlix., col. 569) deutet die Stelle irrtümlicherweise als «die heiligen Schreiber unter den Ägyptern». 29 Phaidros 246D. 30 Michael Grünwald übersetzt «Glänzend trockene Glut - weiseste und beste Seele!» in Die Anfange der abendländischen Philosophie, Fragmente und Lehrberichte der Vorsokratiker, Artemis Verlag, Zürich 1943. 31 Vgl. Platons Phaidon 81c.
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Das Leben in diesem Zustand ist eine Strafe und ein Elend. Aber selbst [für einen solchen Geist] ist es noch möglich, wenn er durch Zeit und Mühsal und andere Lebensläufe gereinigt worden ist, aufzusteigen. Indem er etwas von einem Doppelleben geworden ist, führt er nämlich zwei Lebensläufe: Er verkehrt teils mit den niederen, teils mit den höheren [Regionen]. Diesen [Geist] hat sich die Seele beim ersten Abstieg von den Sphären ausgeliehen und, nachdem sie ihn gerade wie einen Nachen bestiegen hat, gelangt sie in Kontakt mit der körperlichen Welt. Darauf folgt ein Ringen, entweder um ihn [den Geist] mit sich emporzuziehen, oder sogar, um nicht mehr länger mit ihm zusammen zu bleiben. Das letztere geschieht allerdings selten. Dennoch kann sie gezwungen sein, ihn fahren zu lassen, wenn er nicht folgen will. Denn es entspricht nicht dem Gesetz, untreu zu sein, sobald die Einweihungsriten erst einmal kennen gelernt worden sind. Es würde für die Seele wirklich eine traurige Schmach bedeuten, [zum Hohen] zurückzukehren, ohne das zurückzuerstatten, was ihr nicht gehört - nämlich das, was sie auf ihrem Weg nach unten geliehen hat, in der Umgebung der Erde [anstatt in den höheren Sphären] hinter sich zurückzulassen. Doch das kann in ein oder zwei Fällen durch die Gunst einer vollkommenen Einweihung, ja sogar durch die Gnade Gottes geschehen. Aber sobald die Seele einmal [dem Geist] eingepflanzt ist, schleppen sie naturgemäß entweder einander mit, oder der eine zieht oder wird vom andern mitgezogen. Doch in jedem Fall bleiben sie miteinander verbunden, bis die Seele zu jenem Zustand zurückkehrt, aus dem sie gekommen ist. Wenn nun [der Geist] durch das Laster hinabgedrückt wird, so
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zieht er jene Seele mit sich hinab, die es zulässt, auf diese Weise niedergedrückt zu werden. Und das Orakel spricht für den gnostischen Samen in uns die Warnung aus: (Siehe zu, dass du nicht in die Welt der dunklen Strahlen hinab sinkst; unter ihr öffnet sich der formlose Abgrund, wohin kein Licht dringt, eingehüllt in düstere Schwärze, bar jeglichen Verstehens besudelt er das, was sich an Bildern (eídóla) erfreut.)32 Denn wie sollte ein verblendetes Leben bar jeden Verständnisses für das menschliche Gemüt eine gute Sache sein? Für das Bild hingegen ist diese niedere Region passend, weil die Zusammensetzung seines Geistes dann ähnlicher Natur ist. Denn (Gleiches liebt Gleiches).33 10 (138D). Sollten die beiden jedoch durch ihre Verbindung Eines werden, dann würde das Gemüt genauso freudig in das Vergnügen hineintauchen. Das wäre nun wirklich das schlimmste aller Übel: Sich der Gegenwart des Bösen nicht bewusst zu sein. Genau in dieser Lage befinden sich nämlich diejenigen, welche nicht einmal mehr versuchen, sich zu erheben. (139A) Sie gleicht einem verhärteten Tumor, der weder schmerzt noch einen daran erinnert, Heilung zu suchen. Deshalb ist Reue (metánoia)34 ein veredelndes Heilmittel. Wer nämlich gegen seine Lebensumstände Abneigung empfindet, ersinnt Mittel zur Flucht. Eine Schlüsselrolle bei der Reinigung spielt hier der Wille. Denn dann bieten beide, sowohl Taten wie Worte, eine helfende Hand dar. Aber falls der Wille fehlt, ist die reinigende Disziplin 32
Der Textstelle liegt Krolls Ausgabe zugrunde, S. 61; vgl. meine Ausgabe Chaldaean Oracles (London 1908), ii. 86. 33 Ein platonisches Sprichwort; vgl. Symp. 195B, Lys. 214B, Georg. 510B. 34 Damit meinten die Philosophen, wie wir im folgenden noch sehen werden, eine Wandlung des Willens, des ganzen Menschen.
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der Einweihung seelenlos und ihres Hauptcharakteristikums beraubt. Und unter diesen Umständen leistet sowohl in diesem wie im jenseitigen Leben der Weg über das Leiden für alle Daseinsstufen den größten und besten Dienst. Er bereitet Schmerzen und reinigt die Seele von betörender Freude. Und was wir fälschlicherweise für Unglücksfälle halten, trägt in hohem Maße dazu bei, unsere zur Gewohnheit gewordene Vorliebe für diese Dinge hier unten aufzubrechen. Ja, die göttliche Vorsehung wird den Menschen, die vom Geist ergriffen sind, gerade durch diese [Missgeschicke] offenbart, welche die nicht ergriffenen dazu bringen, eben nicht an sie zu glauben; denn es ist für die Seele nicht möglich, sich jemals von der Materie abzuwenden, wenn sie nicht mit den bösen Dingen hier unten zusammenstößt. Deshalb sollten wir die Erfolge, über die die Leute so viel schwatzen, als eine Falle für die Seelen betrachten, die von den Hütern der Dinge hier unten ersonnen worden ist. Und so überlasse den Anspruch den anderen, dass es [für die Seelen] bei ihrer Ablösung [vom physischen Körper] einen Trank des Vergessens geben könne. Es ist doch eher so, dass der Seele bei ihrem Eintritt in dieses Leben hier ein Trank des Vergessens gereicht wird - der süße und einschläfernde Trunk hier unten. Denn nachdem sie zum ersten Male als freier Arbeiter in dieses Leben herabgestiegen ist, dient sie freiwillig als Sklave, anstatt für einen Lohn zu arbeiten. Aber jene muss indessen nach den vom Schicksal (Adrásteia) auferlegten Gesetzen der Natur der Welt einen gewissen Dienst erweisen. Bezaubert von den Gaben der Materie, gleicht ihre Lage der von freien Männern, die eingewilligt haben, sich für eine Weile zu verdingen, die, von der Schönheit einer [Sklaven-] Dirne fasziniert, freiwillig etwas aufgeben und zustimmen, dem Meister des geliebten Objekts zu dienen.
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Aber wir gleichen ihnen, wann immer wir uns aus der Tiefe unseres Herzens am Körperlichen und an den äußerlichen, so scheinenden Gütern erfreuen, und wir scheinen mit der Natur der Materie einig zu gehen, dass es richtig sei. Aber sie [nämlich die Natur, Herrscherin über die Materie] hält unsere Zustimmung für ein geheimes Dokument, und selbst wenn wir beschließen, uns als freie Menschen davon zu machen, behauptet sie, wir seien Ausreißer, und versucht uns wieder zurückzubringen, und hat sie uns ergriffen, beruft sie sich gegen uns auf dieses Dokument. Dann allerdings hat die Seele ihre ganze Kraft, ja sogar Gott nötig, um ihr zu helfen (140A). Denn es ist nicht einfach, die eigene Zustimmung ungültig erklären zu lassen, aber noch viel schwerer, es gewaltsam zu erreichen. Dann werden in der Tat durch das Schicksal die Rachemächte gegen die in Bewegung gesetzt, die sich gegen die Gesetze auflehnen. Und das sind in Wahrheit die so genannten Schicksalsprüfungen, denen sich nach den heiligen Geschichten (hieroì 1ógoi) Herakles unterzog und auch jeder andere Held, der mutig nach Freiheit strebt, bis es ihnen gelingt, ihren Geist auf die Höhe zu erheben, wohin die Hand der Natur nicht mehr reicht. Aber wenn der Sprung innerhalb ihrer Grenzen gemacht wird, zieht es den Geist hinab, und noch mehr schwere Kämpfe sind nötig. Denn sie schont keinen, da diese Eigenschaft bereits zu etwas anderem als uns selbst gehören würde. Und wenn die Seele den Aufstieg verzweifelt aufgibt, fordert sie für dieses Beginnen Bestrafung. 11 (140B). Und alle Leben befinden sich in jeder Beziehung im Irrtum, wenn [die Seele] nicht längs des ersten Pfades zurückkehrt. Und siehe, welch weiter mittlerer Zustand dem Geist zur Verfügung steht, worin er Bürger sein kann.
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Wenn [die Seele] nun abwärts sinkt,35 sagen uns die [heiligen] Worte (lógos)36 dass [der Geist] niedergedrückt wird und sinkt, bis er auf das ‹schwarz bestrahlte, in Düsternis gehüllte› Land stößt. Aber wenn [die Seele] aufwärts strebt, so folgt ihr auch der [Geist], soweit wie es überhaupt in seiner Macht steht, das zu tun. Das kann er tun, bis er die äußerste Grenze der Region erreicht, die [nämlich dem Abgrund] gegenüberliegt. Höre, was das Orakel dazu sagt: ‹Du sollst keinen materiellen Unrat in der Höhe zurücklassen. ‹Das Bild jedoch hat auch Anteil am lichtbestrahlten Land.›37 Die ‹lichtumhüllte› stellt die Antithese zu der ‹in Düsternis gehüllten› Region dar. Mit scharfen Augen können wir zudem noch etwas mehr in diesen Worten erkennen. Denn es ziemt sich [für die Seele] nicht, die Natur allein [nämlich den Geist] wieder in die Sphären zurück zu führen, von wo er abstieg. Aber was auch immer an Reinstem von Feuer und Luft sie bei ihrem Abstieg in die Bilder-Natur mit hinein zog, bevor sie sich in die irdische Schale einschloss, bringt sie, sagt das Orakel, mit ihm wieder zum besseren ‹Teil› zurück. Und überdies ist es vernünftig, dass Dinge, die eine gemeinsame Natur innehaben und als Eines betrachtet werden, nicht ohne Beziehung zueinander sein sollten, vor allem Dinge, die aneinander grenzen, gleich dem Feuer, das als nächstes auf den kreisförmigen Körper [nämlich die Äthersphäre] folgt, und 35
Vgl. Platons Phaidros 247B. Nämlich das oben zitierte Orakel. 37 Kroll, S. 61; siehe dazu auch Chaldaean Oracles des Autors, ii. 81 und 38. 36
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nicht wie zum Beispiel die Erde, die als letzte der Dinge existiert. Und wenn die höheren [Elemente], indem sie sich den niederen überlassen, aus dem Umgang einigen Genuss erfahren und als ein Körper aus unverdorbenem Schlamm38 hervorgehen, als ob sie durch das, was in der Konjunktion vorherrschen durfte, assimiliert worden wären, so können die niederen [Elemente], wenn sie nicht mehr länger gegen die Tätigkeit der Seele ankämpfen, sondern deren Zügeln gehorchen und sich unterwerfen, indem sie mit ihr Schritt halten und der mittleren Natur erlauben, ihrer Führung, ohne in jede Richtung zu zerren, zu folgen, vergeistigt und zusammen mit ihr [zum Hohen] zurückgebracht werden. Auch wenn sie nicht die ganze [Höhe] erreichen, so vermögen sie jedenfalls doch den höchsten Punkt der [vier niederen] Elemente zu überschreiten und das ‹lichtumhüllte› Land zu erleben. Denn das Orakel sagt, ‹es hat einen Anteil an ihm›, das heißt, an irgendeiner Ordnung des kreisenden [Äthers]. Was den Teil betrifft, der von den Elementen stammt, so ist darüber schon genug gesagt worden, und wir können es je nach Wahl glauben oder nicht. Was aber die körperliche Wesenheit (Essenz) anbelangt, die von dort [nämlich von den ätherischen Sphären] herkommt, so ist es in der Natur ganz unmöglich, dass sich diese [Essenz] beim Wiederaufstieg der Seele nicht aus dem Leichnam erheben und [mit der Seele] zusammen aufsteigend in Einklang mit den Sphären gebracht, das heißt, gleichsam der eigenen Natur zurückerstattet werden sollte. 12 (141C). Diese beiden Anteile, der ‹lichtumhüllte› und der ‹in-Finsternis-gehüllte›, liegen an den äußersten Rändern und schließen sowohl die Höhen der Glückseligkeit wie die Tiefen 38
Schlamm = Wasser und Erde, oben als Gegensatz zu Luft und Feuer gebraucht.
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des Elendes ein. Und wie viele Regionen wohl, teils licht, teils dunkel, liegen im Weltkörper dazwischen, in denen allein die Seele mit diesem Geist zusammen leben kann und dabei die Gestalt, die Gewohnheiten und die Leben ändern mag? Und wenn die Seele zu ihrem angeborenen Adel zurückkehrt, ist sie eine Schatzkammer der Wahrheit. Dann nämlich ist sie rein, durchsichtig und makellos, Gott und Prophet, so sie will. Aber wenn sie abstürzt, wird sie dunkel, wächst unbestimmt und ist lügnerisch. Denn der nebelhafte [Teil] des Geistes vermag nicht, die Tätigkeiten aller Seinsordnungen zu enthalten. Aber indem er dazwischen liegt [zwischen den beiden Extremen], verfehlt er die eine und trifft die andere. Auf diese Weise könntest du dir ein Urteil über die dämonische Natur auf irgendeiner Stufe bilden. Denn die reine Wahrheit und nur die Wahrheit zu sprechen, ist für das Göttliche und nur für das Göttliche charakteristisch. Aber gerade Betrug in den Prophezeiungen findet sich stets bei denen, die gegen die Materie kriechen - [Betrug, Irreführung] ist ein Ding der Leidenschaft und der Prahlerei. Denn immer durch diese [die dämonische Natur] nehmen die Seelen entweder das Wesen eines Gottes oder eines mächtigen Dämons an oder nehmen mit einem Sprung die Stätte in Besitz, die für die höhere Natur bereitet ist.» Welches die Natur des Strahlenkörpers im Glauben der spätplatonischen Schulen war, habe ich hoffentlich mit den oben zitierten Stellen genügend klar dargelegt. Es mögen sicher andere einschlägige Textpassagen vorhanden sein, die ich gegenwärtig nicht kenne, denn die entsprechende Literatur ist weitläufig. Aber ich glaube doch, genügend Material vorgelegt zu haben, um den Hauptgedanken deutlich hervortreten zu lassen.
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Wir gehen nun vom philosophischen Gedankengut zu dem über, was die Christen über den Gegenstand lehrten. Auch unter ihnen fanden sich Philosophen, deren Lampen immer noch das zu erhellen vermögen, was sonst in der Dunkelheit des Wunders und des Dogmas verbleiben müsste.
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«Ich glaube an... die Auferstehung im Fleische.» So lautet das allgemeine Glaubensbekenntnis der Christenheit. Im östlichen Glaubensbekenntnis steht dafür: «Ich erwarte die Auferstehung der Toten.» Das westliche Quicumque1 bestätigt: «Alle Menschen werden in ihren Körpern auferstehen ... Dies ist der katholische Glaube.»2 Das Ziel der ersten und dritten Erklärung, die entsprechend das Apostolische oder das Athanasianische Glaubensbekenntnis genannt werden, liegt klar auf der Hand: Der Auferstehungskörper muss der 1
Quicumque steht für ‹Quicumque vult salvus esse› (jeder, der gerettet werden will). Es wird fälschlicherweise Athanasios zugeschrieben (daher Symbolum Athanasianum) (Anmerkung des Übersetzers) 2 Sowohl die alte lateinische Formulierung (4. Jahrhundert) wie die gültige des Apostolischen Glaubensbekenntnisses (8 .Jahrhundert) bringen den Ausdruck «Fleisch» (carnis, sarkós); die Formulierung von Aquileja (Rufinus, 390 n. Chr.) und diejenige von St.Niketas (450 n. Chr.) haben «dieses Fleisches» (huius
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wiedererstandene, physisch Leib sein. Das Bekenntnis von Nicäa spricht es weniger deutlich aus; es gibt sich ohne weitere Definition mit der Hoffnung auf Auferstehung zufrieden. Über die Natur dieser erhofften Auferstehung, die einen grundlegenden Platz im Glauben des Christentums einnimmt, gehen die Meinungen seit frühesten Zeiten sehr stark auseinander. Lassen wir für den Augenblick alle Hinweise auf die Ansichten der ersten zwei Jahrhunderte weg, so stoßen wir auf den wohl bekanntesten Verfechter der absolut physischen Identitätstheorie, nämlich den Kirchenvater lateinischer Zunge Tertullian. Die schriftstellerische Tätigkeit dieses größten Streiters, Juristen und Formalisten kann auf den Beginn des dritten Jahrhunderts festgelegt werden. Seine Abhandlung «Über die Auferstehung des Fleisches» schließt er triumphierend mit der möglichst überzeugenden Erklärung ab, dass das Fleisch, das heißt der physische Leib, eines jeden Menschen auferstehen werde, und zwar das gleiche Fleisch in absoluter Identität und Unversehrtheit.3 Diese freimütig materialistische Vorstellung ließe sich kaum in einem bestimmteren Tone vorbringen. In den folgenden Auseinandersetzungen ist die geistigere Auffassung hauptsächlich mit dem Namen Origenes verknüpft. Sie wird deshalb oft auch die «Alexandrinische» Vorstellung carnis). Das Glaubensbekenntnis Nicaeno-Constantinopolitanum bringt in der gültigen Form der Ostkirche, die aus dem Jahre 381 n. Chr. datiert, «Auferstehung der Toten» (anástasin nekrôn), aber die originalen Acta des Konzils von Nicäa lassen die ganze Wendung weg. Das Symbolum Quicumque lautet: «zusammen mit ihren Leibern» (cum corporibus suis). 3 Resurget igitur caro, et quidem omnis, et quidem ipsa, et quidem integra. De Carn. Res. 59, ed. Kroyman, 1909, Corp. Scriptt. Latt. (Acad. Vind.), vol. 47.
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genannt. Richtigerweise aber darf sie kaum durch eine solche Bezeichnung eingeschränkt werden; denn Origenes stützt seine Lehren direkt auf Paulus und indirekt auf viele Mystiker ab, die nicht aus Alexandrien stammten. Leider ist die Schrift dieses großen Denkers über die Auferstehung verloren gegangen. Aber mittels eines Briefes von Hieronymus an Pammachius4 können wir eine höchst lehrreiche Stelle aus dem vierten Buch rekonstruieren.5 Origenes, teilt uns Hieronymus mit, habe die Anhänger der materialistischen Vorstellung als simplices, philosarcas (Fleischliebhaber), innocentes und rusticos6 bezeichnet - aber natürlich auf griechisch. Dies scheint darauf hinzuweisen, dass sie in der christlichen Welt keine sehr wichtige Gruppe gewesen sein konnten. Origenes jedoch bezog ebenso Stellung gegen eine andere extreme Ansicht, die nach seiner Behauptung beinhaltete, dass der Auferstehungskörper rein illusorischer Natur wäre - eine Theorie des extremen Doketismus. Nach seinen Erklärungen vertrat diese Auffassung eine Anzahl gnostischer Schulen. Wir zweifeln indessen, ob man eine solche Aussage so ganz unbesehen vorbringen darf. In gewisser Hinsicht scheinen die Gnostiker nämlich Vorstellungen über diesen Sachverhalt vertreten zu haben, die denjenigen des Origenes sehr glichen. 4
Ep. s. Hieron. 38 ad Pammach. In seiner Schrift Des Origenes Lehre von der Auferstehung des Fleisches (Trier 1851) wird es C. Ramers schwer, diese Textstelle mit seiner Interpretation, die auf isolierten, im Werk des Origenes anderswo gefundenen Aussagen fußt, in Einklang zu bringen. Eine Skizze der Geschichte der folgenden Auseinandersetzung findet sich unter dem Titel ‹The Resurrection-Body: A Study in the History of Doctrine in The Church Quarterly Review (April 1909), lxviii. 138-163. 6 Auf deutsch könnte man diese lateinischen Beschimpfungen als Dummköpfe, Naivlinge und Ungebildete wiedergeben. (Anmerkung des Übersetzers) 5
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Wozu sollten bei der Auferstehung, so beginnt Origenes zu fragen, ein fleischlicher Körper, Blut, Muskeln, Knochen, Glieder und Organe für die Tätigkeiten des Fleisches wie Essen und Trinken, Ausscheidung und Zeugung, von Nutzen sein? Müssen wir denn mit all diesen Dingen bis in Ewigkeit fortfahren? Die Verheißung lautet ganz anders. Weder die Materie noch die Form werden die gleiche sein. Es existiert jedoch ein wirkliches continuum der Individualität, eine stoffliche Grundlage der persönlichen Identität. Verborgen im Samen des Baumes liegt das Prinzip (ratio, lógos) des Baumes. Dies ist die Gestalt bildende Kraft (virtus, dynamis) im Samen, das Prinzip des Samens, welches im Griechischen symbolisch als spinthérismos bezeichnet wird. Was dieser letzte Begriff genau bedeutet, ist schwer zu sagen, weil sich die Lexika darüber ausschweigen. Wörtlich bedeutet er: «Aussendung von Funken», «das Funkeln». «Lichtfunke» oder «Lichtemanation» wird bekanntlich von einer Anzahl gnostischer Schulen als symbolischer Ausdruck für den «Keim» des geistigen Menschen gebraucht. Origenes jedoch verwendet ihn im allgemeinen für das unsichtbare Prinzip des Samens, also für dasjenige, das die Natur des sichtbaren Samens bestimmt. Es scheint, dass man sich dieses Prinzip als etwas Stoffliches vorzustellen hat; denn ihm wohnen, so wird von ihm gesagt, die uralten Prinzipien der Auferstehung inne. Es wird mit dem innersten Teil oder dem Mark der Pflanzen verglichen, und Origenes bezeichnet es beim Menschen als «Pflanzstätte» oder «Samenbeet» (seminarium) der Toten; damit ist der Urgrund gemeint, aus dem sie auferstehen werden. Es ist für den Menschen die Substanz vieler körperlicher Formen oder die Essenz der menschlichen Verkörperung und nicht nur diejenige für den fleischlichen Leib.
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Der Auferstehungskörper muss nach Origenes überirdisch geistiger Natur sein. Und wirklich nennt er ihn an einer anderen Stelle «göttlich». Ein anderer Leib, ein geistiger und ätherischer, wird uns verheißen. Einer, der weder physisch berührt noch durch die Augen wahrgenommen werden kann und durch kein Gewicht belastet wird. Er wird sich umgestalten je nach den verschiedenen Regionen, in denen er sich befinden wird ... «In jenem geistigen Körper werden wir als Ganzes sehen und als Ganzes hören, das Ganze wird als Hände und als Füße dienen.» Es wird ein radikaler Wechsel des schéma oder des Planes sein, sagt Origenes, Paulus zitierend. Wenn man sich hier gegen die Erzählungen über Jesu auferstandenen Leib, der berührt werden konnte und Speise zu sich nahm, wendet, so erwidert Origenes doch, dass der Meister es so erscheinen ließ, um den Glauben der zweifelnden Jünger zu stärken. Von diesem Zeitpunkt an wurde die Auseinandersetzung um diese Frage immer erbitterter. Sehr vereinfacht und eingedenk einiger Ausnahmen auf beiden Seiten lässt sich sagen, dass die materialistische Interpretation die westliche oder lateinische Kirche und die geistige Deutung die östliche oder griechische Kirche beherrschte. Nach einigem Zögern schloss sich im Westen Augustinus vollumfänglich der physischen Vorstellung an. Zur Zeit Gregors des Großen, Ende des sechsten Jahrhunderts, war diese Anschauung so fest gegründet, dass die philosophische Deutung des Ostens ohne Gefahr als vollständig häretisch verdammt werden konnte. So geschah es auch weiterhin während des ganzen Mittelalters. Obschon die Reformatoren das Dogma der Transsubstantion beim Eucharistischen Sakrament trotz der spitzfindigen
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Feinheiten der Scholastiker als zu materialistisch verwarfen, übernahmen sie dessen ungeachtet - merkwürdigerweise ohne weitere Fragen - praktisch die naive, physische Auffassung über die Natur des Auferstehungskörpers. So lautet Artikel IV der Anglikanischen Kirche in voller Übereinstimmung mit Tertullian: «Christus ist wirklich auferstanden, er nahm seinen Körper wieder in Besitz, mit Fleisch und Knochen und all den Dingen, die zur Vollendung der menschlichen Natur gehören.» In den letzten Jahren indessen ist das Pendel mit der Anwendung einer verbesserten Methode für das biblische Studium und einer besseren Kenntnis der Entwicklungsgeschichte des Dogmas stark in die Richtung einer geistigeren und philosophischeren Ansicht geschwungen.7 Tatsächlich übertreiben wir nicht, wenn wir sagen, dass es für einige von uns schwierig sein dürfte, gegenwärtig auf irgend jemand Gebildeten zu stoßen, der an eine plumpe physische Auferstehung glaubt. Allerdings ist die rein rationalistische Behandlung der Wunder, die auf den Vorurteilen einer ausschließlich materialistischen Sicht der Wissenschaft beruht, auch nicht mehr länger in Mode - eine Wissenschaft übrigens, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine führende Rolle in der «liberalen Theologie» gespielt hat. In letzter Zeit ist in religiösen Kreisen der Wunsch unverkennbar gewesen, die ganze Frage im Lichte einer fortgeschrittenen Psychologie, die sich bemühen soll, alle Tatsachen der menschlichen Erfahrung ohne Vorurteil zu berücksichtigen, neu zu überprüfen. 7
Siehe dazu die interessante und lehrreiche Arbeit von Firmin Nicolardot «La Résurrection de Jesus et la Critique depuis Reimarus» in Revue de l'Histoire des Religions, tom. lix., no. 3 (Mai-juin, 1909), pp. 318-332. Reimarus starb im Jahre 1768. Seine Notizen zu diesem Thema wurden zum ersten Mal unter anderen Fragmenten seines Werkes von Lessing, Wolfenbüttel, im Jahre 1777 publiziert.
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Eine wissenschaftliche Psychologie der religiösen Erfahrung ist eben erst im Entstehen begriffen. Die Daten über psychophysische und psychische Phänomene sowohl von gegenwärtigen Erfahrungen wie von Berichten über ähnliche Erfahrungen in der Vergangenheit werden fleißig gesammelt und dann einer gründlichen Analyse unterzogen. Es leuchtet allen, die solche Forschungen ohne Vorurteil verfolgt haben, ein, dass das Studium ähnlicher Arten von physischen religiösen Erfahrungen eine notwendige Vorbereitung darstellt, um irgendeine Theorie über die Natur des Auferstehungskörpers angemessen zu prüfen. Zudem zeigt uns die Analyse neutestamentlicher Dokumente, die sich auf die Natur des auferstandenen Leibes Jesu beziehen, dass bereits zu Beginn eine starke Meinungsverschiedenheit herrschte. Trotz aller Bemühungen, die Dinge in Einklang zu bringen, besteht kein Zweifel, dass sich das allgemeine Ziel der Synoptiker und die allgemeine Vorstellung, die sich in den Schriften des Paulus findet, widersprechen. Die Absicht der synoptischen Evangelisten liegt offensichtlich darin, die physische Realität des auferstandenen Körpers zu betonen. Das Festhalten an den Berichten über das leere Grab, über die Einnahme von Speisen usw. weist alles auf das Bestreben hin zu verdeutlichen, dass der auferstandene Leib mit dem identisch war, der den Tod erlitten hatte. Im Evangelium des Johannes jedoch weisen die Berichte über die Schwierigkeit, den Auferstandenen zu erkennen, oder über das vollständige Nichterkennen und im Markusevangelium über seine veränderte Gestalt unmissverständlich auf eine ziemlich andere Auffassung hin. Der Glaube an die Auferstehung des wirklichen, physischen Körpers war zu jener Zeit mitnichten der Glaube einer Mehrheit des jüdischen Volkes.
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Trotzdem waren die orthodoxen Rabbiner vermutlich gezwungen, die Meinung zu vertreten, ein lebender, physischer Körper könnte auffahren oder in den Himmel aufgenommen werden; denn die Schriften bestätigten ja, dass die Leiber von Enoch, Moses und Elias aufgenommen worden waren. Sie glaubten ferner noch, dass das Wunder der Wiedererweckung, der Wiederherstellung des Lebens der Toten durch Elias, Elisa und Hesekiel vollbracht worden war. Und aus dem Talmud erfahren wir wirklich, dass sich der Glaube an solche Wundertaten nicht nur auf vergangene Ereignisse erstreckte, sondern dass sie auch in der Gegenwart für möglich gehalten wurden. Sie waren einer der Hauptpunkte im pharisäischen Glauben. Von den sieben Klassen von Pharisäern waren diejenigen die heiligsten, die Pharisäer aus reiner Liebe zu Gott wurden.8 Für diese Chassidim war ein allmähliches hin wachsen zur Heiligkeit in zehn Stufen vorgesehen, wobei die zehnte die Gabe der Weissagung beinhaltete. Aber abgesehen davon war das Ziel, die geistigen Kräfte zur Heilung der Kranken und Auferweckung der Toten zu erlangen.9 Die jüdischen Frühchristen jeder Prägung sollten sich dann eigentlich, so ist zu vermuten, der Ähnlichkeit zwischen den Werken der Auferweckung und den Wundern der Himmelfahrt, die den alten Propheten zugeschrieben werden, und denen, die auf Jesus zurückgehen, bewusst gewesen sein. Anscheinend glaubten sie jedoch, dass die Auferstehung des Leibes Christi absolut einzigartig war. Wenn wir fragen, worin denn dieser große Unterschied 8
Jer. Berachoth, ix. 5; cp. Sotah, V. 5. Bab. Abada Sara, 20 a. Es existieren nicht weniger als fünf Rezensionen von diesem boraitha, zwei in dem Jer. und zwei in dem bab. Talmud und eine im Midrash Rabba. Dies mag beweisen, dass die Tradition alt ist. Jellinek, eine hohe Autorität für den Talmud, zögert nicht zu erklären, dass sie eine Beschreibung des Essenismus darstellt. 9
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bestand, lautet die Erwiderung der konservativen, traditionellen Gelehrtenschaft im allgemeinen, dass alle Aussagen der Evangelien als gleichermaßen authentisch und maßgebend aufzufassen seien. Im Falle der Auferweckungswunder behaupten sie, dass die Toten, die wieder ins Leben zurückgerufen würden, mit dem identischen, allen seinen früheren Bedingungen unterworfenen Körper ausgestattet wären. Aber was die Auferstehung Jesu betrifft, war der Leib der gleiche und doch nicht der gleiche. Allgemein gesprochen, war er identisch; aber auf eine gewisse Weise war er frei von den materiellen Bedingungen, denn er konnte zum Beispiel geschlossene Türen durchdringen. Es ließe sich hier einwenden, dass Elias Körper ebenso der gleiche und doch nicht der gleiche gewesen war. Tatsächlich stellt sich hier die Frage nach der Identität überhaupt nicht, denn Elia war nicht gestorben. Man sollte aber verstehen, dass sein Körper jedoch auf gewisse Weise von den materiellen Fesseln befreit war; denn es wird von ihm berichtet, er sei in einem feurigen Wagen gen Himmel gefahren. Wenn wir andererseits eine vorurteilsfreiere Beurteilung zu Hilfe nehmen, finden wir, dass die unverhohlen materialistischen Elemente der Auferstehungsgeschichten als unhistorisch zurückgewiesen werden. Wer nun aber an die absolute Historizität der ganzen Erzählungen glaubt, mag einwenden, dies sei ein Urteil a priori. Das ist allerdings wahr, was für eine Ansicht auch immer wir vertreten. Aber es ist wirklich schwer einzusehen, wie wir eben gerade von dieser Unzulänglichkeit die Verfasser des Neuen Testaments, vielleicht Paulus ausgenommen, der seine Erfahrung aus erster Hand berichtet, ausschließen sollen. Deshalb ist es nötig, uns über die Ansichten zu informieren,
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welche die Zeitgenossen der frühesten jüdischen Christen und der Evangelisten über die Auferstehung hatten. Wie wir schon erwähnt haben, war der Glaube des einfachen Volkes vermutlich stark materialistisch ausgerichtet. Allgemein bedeutete die Auferstehung eine Rückkehr ins Leben unter physischen Bedingungen, um am messianischen Königreich auf Erden teilzuhaben. Aber die gröbste Form dieser Erwartung wurde nur von den sehr Ungebildeten gehegt und kann ehrlicherweise kaum der breiten Volksmasse untergeschoben werden, denn geistigere Vorstellungen hatten sich schon weit herum verbreitet. Sowohl die Chassidim und die Essener wie die gebildeten Pharisäer hatten solche absolut materialistischen Ansichten schon lange aufgegeben (das wird vor allem bei den Schreibern von Apokalypsen, die stark von persischen Ideen beeinflusst waren, deutlich). Deshalb ist es dann mehr als wahrscheinlich, dass sich im letzten Jahrhundert v. Chr. auch populäre Ansichten beträchtlich gewandelt hatten. Über die allgemeine Entwicklung eschatologischer Ideen während dieser Epoche, was gleichbedeutend mit dem Glauben an die (letzten Dinge~, nämlich das Ende der Welt und des Menschen, ist, schreibt Professor Charles, eine große Autorität in diesen Fragen: «Die Hoffnung auf ein ewiges, messianisches Königreich auf dieser heutigen Erde ist fast global aufgegeben worden. Die Erde scheint in ihrer gegenwärtigen Verfassung für eine Offenbarung eines solchen Königreiches vollkommen ungeeignet.» Die Vorstellungen über die Auferstehung im letzten Jahrhundert v. Chr. machten im Vergleich zu denjenigen des vorhergehenden Jahrhunderts eine große Entwicklung durch. Einige fassten die Auferstehung völlig geistig auf, für andere wiederum bedeutete sie Auferstehung des Körpers der Gerechten,
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und nur dieser Körper sollte ein Lichtgewand sein. Wer es besaß, war gleich den Engeln. Im ersten Jahrhundert n. Chr. überwog im allgemeinen «die transzendente Vorstellung über die auferstandenen Gerechten. Der ‹Geist› allein war an der Auferstehung beteiligt. Die Gerechten würden mit Gottes Ruhm bekleidet auferstehen oder mit ihrem früheren Leib, der unverzüglich verwandelt und gleich dem der Engel werden sollte.» Die alexandrinischen Schriftsteller und die Essener fassten nicht nur die Auferstehung geistiger auf, sondern glaubten auch, dem gerechten Geist stünde der Zugang zu einer gesegneten Unsterblichkeit unmittelbar nach dem Tode offen, anstatt die Auferstehung im Hades erwarten zu müssen. Hier sehen wir nun die Vielfalt der Ansichten, die vom groben Materialismus des Volkes bis zur hohen Spiritualität der Mystiker und der Religionsphilosophen reichen. Die Auffassung, welche die synoptischen Schreiber am meisten bevorzugten, steht im Einklang mit dem am wenigsten durchdachten Glauben des Volkes. Die Lehre vom Glorienleib geht auf Paulus zurück. Zweifellos stellte seine eigene persönliche Vision des Meisters für ihn eine Bestätigung dafür dar. Wir wissen, wie heftig sich Paulus gegen die Lehre «nach dem Fleische» wandte. Er versuchte jedenfalls nicht, mit ihr überein zu stimmen. Professor Charles fasst Paulus' Lehre über den Auferstehungskörper wie folgt zusammen: «Der gegenwärtige Leib ist psychisch als ein Organ der Psyche oder ‹Seele› aufzufassen, geradeso wie der auferstandene oder geistige Leib ein Organ des ‹Geistes› ist. Der psychische Leib ist vergänglich, mit Erniedrigung bekleidet und Schwäche geschlagen, doch der geistige Leib erfreut sich der Unzerstörbarkeit, der Ehre und der Macht. Zwischen diesen beiden Körpern besteht folglich keine genaue
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Kontinuität. Die Existenz des einen bedingt den Tod des anderen. Trotzdem existiert in gewissem Grade zwischen ihnen eine wesentliche Ähnlichkeit. Sie entspringt der Tatsache, dass sie aufeinander folgende Ausdrücke der gleichen Persönlichkeit obwohl in verschiedenen Sphären - darstellen. Beide organisiert das gleiche individuelle Vitalitätsprinzip.» Wenn sich nun unter den kultivierten und mystischen Hebräern hohe Auffassungen über den Auferstehungsleib finden, so lassen sich gleichermaßen ähnliche Ideen bei den gut informierten Frühchristen nachweisen. Nicht nur Paulus, sondern auch viele Mystiker des frühen Christentums und vor allem die Gnostiker vertraten Ansichten, die ohne Zweifel auf Erfahrung beruhten, was das Problem erhellt. An dieser Stelle soll darauf hingewiesen werden, dass Tertullian (De resurrectio carne 19) vor allem über die (pars diversa) verärgert ist, nach deren Aussage die Auferstehung geistig aufgefasst werden müsse. Jene brandmarkt er als Allegoriker und behauptet, dass sie aus ihr eine rein symbolische Sache machen würden. Ihren Worten zufolge, erklärt er, «bedeute der ‹Tod› in Wirklichkeit nicht die Trennung von Körper und Seele, sondern die Unkenntnis über Gott, wobei der Mensch, der unempfänglich für Gott sei, im Irrtum wie in einem Grabe liege». Doch nicht nur das sagen sie, sondern auch, dass «die einzige Auferstehung, die verdient berücksichtigt zu werden, darin liege, dass der von Gott wieder beseelte und auferweckte Mensch beim Erscheinen der Wahrheit den Tod der Unwissenheit von sich werfe und das Grab des ‹alten Menschen) zerbreche, denn der Herr selbst vergleiche die Schriftgelehrten und die Pharisäer mit (geweißten Gräbern). Deshalb folgt daraus: wer die Auferstehung des Glaubens erreicht hat, ist mit Gott, wenn er Ihn bei der Taufe empfangen hat.»
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Tertullian, der später selbst als Anhänger des Montanismus der Häresie angeklagt wurde, charakterisiert solche Überzeugungen als «Geheimnisse der Häretiker» (arcana haeretica). Es scheint sich jedoch dabei ihrem allgemeinen Umfange nach nicht um geheime, sondern um weit herum verkündigte Lehren gehandelt zu haben, denn er fährt fort: «Obwohl die Mehrheit (plerique) behauptet, es gebe eine Auferstehung der Seele nach dem Verlassen ihres Körpers, deutet sie in der Tat das Heraussteigen aus dem Grabe als ein Entfliehen aus der ‹Welt›, insofern die ‹Welt› der Aufenthaltsort der ‹Toten›, das heißt, derjenigen, die Gott nicht erkennen, darstellt, oder sogar als ein Entfliehen aus dem Körper selbst, weil dieser die Seele im Tode des weltlichen Lebens wie in einem Grabe gefangen hält.» Aber für den spirituell erfahrenen Menschen entsprach das einem sehr wirklichen Erlebnis und stellte nicht eine eigenmächtige Interpretation dar, wie Tertullian es wahrhaben möchte. In einigen Schulen war es tatsächlich mit der ersten wahren Initiation in die arcana des geistigen Lebens verknüpft. Wenn wir zum Beispiel die kurze Passage von Irenaeus (1. xxiii, 5) deuten, der die gnostischen Lehren Menanders zusammenfasst, im Lichte der neuesten religionshistorischen Forschung und mit Hilfe dessen, was wir im allgemeinen über die wichtigsten Züge in der Psychologie der gnostischen Schulen wissen, so wird die Vorstellung der großen Menge (plerique) klarer werden. Menander, der stark vom chaldäischen Wissensschatz und von den Ideen des Simon Magus beeinflusst war und im Grenzgebiet zwischen jenen Vorstellungen und den christlichen Lehren stand, lehrte, dass das Hauptziel der Gnosis in der Überwindung der «Welt» und ihrer «Herrscher» lag. Das konnte aber nur mit Hilfe der «Auferstehung» erreicht werden, indem nämlich ein Mensch
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durch einen, bei dem dieser Geist bereits wirksam war, unmittelbar mit der großen Kraft in Berührung kam, was gleichbedeutend mit einer Taufe geistiger Natur war. Denn man glaubte, dass es dem Empfänger einen Vorgeschmack von Unsterblichkeit und ewiger Jugend verleihe - eine Annahme, die sich kaum auf den physischen Leib beziehen konnte. Die klarste Fassung der Lehre, auf die Tertullian Bezug nimmt, finden wir indessen in dem von Hippolyt zitierten Dokument der Naassener (V. 7 ff).10 Der pagane, sicherlich vorchristliche Kommentar des griechischen Mysterien-Hymnus, der den Text der gesamten Ausführung bildet, teilt uns über den ersten Geistigen Menschen mit, dass dieser unsterbliche Mensch im sterblichen Menschen verborgen sei. Außerdem erfahren wir, dass «die Phryger ihn wie in ihren Mysterienlehren auch tot nennen, wenn er im Leib wie in einem Grab oder in einer Gruft ruht». Diese Aussage ergänzt der christliche, gnostische Schreiber, der Jahre später seine paganen und jüdischen Vorläufer und Kommentatoren kommentierte, mit zwei Zitaten, die entweder aus irgendeinem verloren gegangenen Evangelium oder vielleicht sogar aus einer nicht wieder auffindbaren Sammlung von Jesu Reden stammen. Sie lauten: «Dies wird gesagt: ‹Ihr seid geweißte Gräber, angefüllt mit den Knochen Toter),11 denn der lebendige Mensch ist nicht in euch. Und weiter spricht er: 10
Zur Analyse dieses Dokuments siehe mein Thrice-greatest Hermes, i. 142 ff. Matthäus 23,27: Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler, dass ihr geweißten Gräbern gleich seid, die auswendig schön scheinen, inwendig aber voll von Totengebeinen und allem Unrat sind. Lukas 11,44: Wehe euch, dass ihr wie die unkenntlichen Grabstätten seid, über die die Leute hingehen, ohne es zu wissen.
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‹Die Toten werden aus ihren Gräbern steigen›12 - das heißt, aus ihren irdischen Leibern, wieder hergestellt, geistig, nicht fleischlich. Das ist die Auferstehung, die beim Durchschreiten der Himmelstore vor sich geht, wer diese nicht durchschreitet, bleibt tot.» Wir sehen daraus, dass die Auferstehung mit einer Wiedergeburt oder einer Geburt von oben, mit einer geistigen Geburt aus der reinen Ursubstanz in ein Bewusstsein der Unsterblichkeit gleichgesetzt wird. Der pagane Kommentator fährt fort: «Die gleichen Phryger wiederum nennen eben diesen Menschen nach der Verwandlung Gott [oder einen Gott].» Dazu bemerkt der christliche Schreiber: «Denn er wird Gott, sobald er nach Auferstehung von den Toten durch ein solches Tor in den Himmel schreiten wird.» Das Geheimnis der «Vergöttlichung» (apotheósis) oder der «Transzendierung des Todes» (athanasía) sollte nicht auf eine Nachtod-Existenz verschoben werden, obschon vor ihm ein mystischer Tod vorauszugehen hatte. Es war ein Mysterium, das im lebendigen Leib des Menschen ausgearbeitet wurde. Den meisten christlichen gnostischen Schulen scheinen solche spirituellen Riten und Praktiken vertraut gewesen zu sein. Viele von ihnen aber strebten danach, in den Fall Jesu ein einmaliges Element einzubringen. Darüber aber debattierte man natürlich ernsthaft. So wird uns berichtet, dass sogar in ein und derselben Schule die Auffassung über das Mysterium der geistigen Auferstehung Apostelgeschichte 23,3: Da sagte Paulus zu ihm: Dich wird Gott schlagen, du geweißte Wand. 12 Matthäus 27,52:... und die Grüfte öffnen sich, und viele Leiber der entschlafenen Heiligen wurden auferweckt (53) und sie kamen nach seiner Auferweckung aus den Grüften hervor...
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Jesu geteilt war. Aus diesem Grunde spaltete sich die weit verbreitete Bewegung der Valentinianer. Nach der westlichen Tradition (Hipp. vi. 35) sollte Jesus wie alle Menschen einen psychischen Körper, das heißt ein «fleischliches», sterbliches Vehikel der Seele gehabt haben. Die «Auferstehung von den Toten» wurde durch die geistige Taufe bewirkt. Die volkstümliche Geschichte über das Herabsinken der Taube bedeutet das Ausgießen des Geistes, den sie in diesem Zusammenhang als den Logos oder die überirdische Weisheit betrachteten. Das Herabsteigen des Geistes war die Auferstehung oder das Zum-Leben-und-Bewusstsein-Erwachen des Geistigen Menschen im sterblichen Menschen. Die Tradition des Ostens trieb anderseits die Einmaligkeit Jesu auf die Spitze. Sie behaupteten, der Leib Jesu wäre schon seit seiner Geburt der geistige Körper. Obwohl dieser «Körper» nach ihrem Standpunkt nun das wirklichste aller substanzieller Dinge war, so war er doch, von einem physischen Standpunkt aus gesehen, eine «Erscheinung»; deshalb hielt man die östlichen Valentinianer für extreme Doketisten. Kurz gesagt, alle gnostischen Schulen anerkannten die Lehre von der fleischlichen Auferstehung nicht und richteten ihr Interesse auf eine näher liegende und geistigere Interpretation des Mysteriums. Wenn wir hier «geistig» sagen, soll das natürlich keineswegs bedeuten, dass wir damit einen Zustand der Dinge meinen, der für diese jede Möglichkeit einer Manifestation absolut ausschließt; geistig in einem absoluten Sinne würde nämlich heißen, gänzlich von allem, was anders als es selbst ist, abgeschieden sein, wenn so etwas überhaupt möglich ist. Für Paulus beinhaltet der «geistige» Körper nicht einen Körper aus reinem Geist, der - philosophisch gesehen - einen vollständigen Widerspruch in sich selbst darstellen würde,
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sondern einen, der mittels seiner Reinheit fähig wäre, die unmittelbare Macht des Geistes zu manifestieren. Das zu vollbringen, war seiner Meinung nach der «fleischliche», psychische Körper nicht fähig. Der geistige Körper war ein Leib der Verherrlichung, ein Körper der Macht. Im gnostischen Evangelium, bekannt als Pistis Sophia, das über die Zeit nach der Auferstehung berichtet, finden wir eine großartige Beschreibung des vollkommenen Glanz-Körpers des Meisters, des Lichtkleides, welches das Vehikel so gut wie aller überirdischen Mächte des Kosmos darstellt. Im syrischen gnostischen Hymnus der Seele oder Hymnus der Perle ist das Gewand des Glanzes mit den Namen oder Mächten der göttlichen Hierarchie vom König der Könige an abwärts versiegelt. Zweifellos sind viele dieser sublimen Beschreibungen stark durch das Gefühl bedingt, der physische Leib sei etwas Unehrenhaftes oder jedenfalls etwas Erniedrigendes. Aber dies ist nun wirklich nicht der Fall, wenn wir es von einem Standpunkt eines größeren Lebens aus betrachten. Und so scheint, obwohl der Glaube an eine Auferstehung des gegenwärtigen physischen Körpers unreif wirkt, im Hintergrund die Ahnung einer bestimmten großen Wahrheit heraufzudämmern, nämlich dass der ganze Mensch sowohl das Körperliche wie das Psychische, Mentale und Geistige umfassen muss. Glaubten denn die Mystiker, dass eine endgültige Trennung in jedem Sinne zwischen dem physischen oder materiellen Vehikel und dem «geistigen» Körper der Auferstehung herrschte? Ganz offensichtlich taten sie es nicht. Tertullians Behauptung, dass die von ihm bekämpfte Interpretation nicht mehr sei als das, was man als Vergegenständlichung einer Metapher oder bestenfalls als eine imma-
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terielle, moralische Regeneration bezeichnen könne - übrigens auch nach heutiger Ansicht -, entspricht anscheinend nicht dem, was man zu jener Zeit glaubte. Die meisten Gnostiker waren jedenfalls der Ansicht, dass bei der geistigen Wiedergeburt sich in jedem Sinne etwas überaus Reales, irgendeine substanzielle wie moralische Wandlung in ihnen vollzog. Wenn wir sie richtig lesen, dann glaubten sie, dass in ihnen wirklich der eigentliche Körper oder die Grundlage der Auferstehung geboren werde, wenn sie aufrichtig «Reue» empfänden oder die ganze Natur zu Gott zurückwendeten, was eine tatsächliche, moralische Erneuerung bedeutete. War dieser Körper dann irgendein feinstofflicher Körper von identischer oder sogar von etwas veränderter Form mit der Fähigkeit, weitreichendere Kräfte als das «Fleisch» zu manifestieren? Ja und nein. Er stellte keinen Körper dar, der zu irgendeiner Ordnung der Feinkörper gehörte, die mit dem physischen Körper unmittelbar in einer Reihenfolge verknüpft sind, wovon die mental Begabten aller Zeiten so viel berichtet haben. Er stellte eher eine Quelle aller möglichen Verkörperungen, also ein Saatbeet oder seminarium dar, aus dem alle solche Körper entstehen konnten. Damals haben einige versucht, das Dogma über die Auferstehung des physischen Körpers in Übereinstimmung mit dem Glauben an die Reinkarnation auszulegen; der Auferstehungskörper würde so ein «Wiederauferstehen des Fleisches» in Form eines neuen physischen Körpers in einem neuen irdischen Leben mit sich bringen. Es stimmt, sowohl viele christliche wie heidnische gnostische Schulen glaubten an Seelenwanderung oder an Transkorporation.13 Nach ihrer Ansicht jedoch war der Auferstehungs13
Um gewisse populäre, im Augenblick sehr verbreitete, aber irrige Meinungen
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körper ein Körper, von dem man frei und unabhängig war. Die mit der Auferstehung ausgearbeitete, große Wandlung war grundlegend. Sie befreite den Menschen aus den Fängen des «Schicksals», von der Herrschaft der «Herrscher». Glücklicherweise besitzen wir ein Mysterien-Ritual oder, besser gesagt, das Ritual eines mystischen Ritus aus einer individuellen Religion, das uns klare Hinweise gibt, wohin wir zu blicken haben, um die Natur dieses Auferstehungskörpers näher ins Auge fassen zu können. Es handelt sich dabei angeblich um den geheimen Ritus des Mithras, auf den wir schon in der Einleitung zu sprechen gekommen sind. Aus ihm lernen wir, dass der «vollkommene Körper» grundsätzlich Quintessenz war. Er entwickelte sich in erster Linie aus einfachen, feinen Elementen; während der physische Körper durch die groben, gemischten Elemente bedingt war. Durch diesen «vollkommenen Körper» wird die Wiedergeburt in die Unsterblichkeit vollendet. Das ist aus dem invozierenden Beginn des Ritus ersichtlich, der wie folgt lautet: «O erster Ursprung meines Ursprungs; Du erster Urgrund meines Urgrundes; erster Geist des Geistes, des Hauches, der in mir ist; Erstes Feuer, das Gott in der Mischung der Mischungen in mir gegeben hat; Erstes Feuer des Feuers, das in mir ist; Erstes Wasser des Wassers in mir; Erster Erdstoff des Erdstoffs in mir; Du mein vollkommener Körper! ... zu korrigieren, mag der Hinweis von Interesse sein, dass die Kirchenväter in keinem Falle die Reinkarnation lehrten. Einige wenige wie Origenes vertraten die Lehre von der Präexistenz der Seele. Aber Origenes verdammte ausdrücklich und energisch die Lehre der Seelenwanderung und der Transkorporation, welche das charakteristische Dogma der Reinkarnationisten ausmachen.
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Wenn es Euch gut scheint, macht, dass ich, der ich (noch) von meiner niederen Natur zurückgehalten bin, zur unsterblichen Geburt erhoben werde. Auf dass ich nach dem drängenden Bedürfen, das mich fürchterlich drückt, schauen möge den unsterblichen Urgrund durch die Kraft des unsterblichen Hauchs, durch die Kraft des unsterblichen Wassers, durch die Kraft der Erde und der Luft. Auf dass ich zum Geiste wiedergeboren werde, auf dass ich mir einen Anfang gebe und in mir atme der heilige Hauch. Auf dass ich schaue das heilige Feuer, auf dass ich betrachte die Tiefe der neuen Morgendämmerung, das schaurige Wasser und mich höre der lebenzeugende und ringsumwallende Äther.»14 Mit den obigen Ausführungen habe ich das Thema, das von äußerstem Interesse und ungeheurer Wichtigkeit ist, nicht mehr als nur angeritzt. Sie ließen sich noch durch umfangreiches Material ergänzen und zu beträchtlicher Länge weiter entwickeln. Ich möchte hier jedoch noch einen Abschnitt aus Kohlers Artikel über die «Auferstehung» in der Jüdischen Enzyklopädie anfügen, der für diejenigen interessant sein mag, die mit der gegenwärtigen Lage der Dinge im Reformjudentum unvertraut sind. «In der modernen Zeit wurde der Glaube an die Auferstehung durch die Naturphilosophie arg erschüttert, und die Reformrabbiner und die rabbinischen Konferenzen stellten sich 14
Vergleiche dazu Dieterich: Eine Mithrasliturgie (Leipzig 1903) und mein A Mithriac Ritual (London 1907). Empfohlen sei hier auch Das Mithras-Ritual aus dem «Großen Pariser Zauberpapyrus» in: Julius Evola/Gruppe von Ur: Magie als Wissenschaft vom Ich (Ansata-Verlag, Interlaken 1985). Meine Übersetzung aus dem Englischen lehnt sich sehr stark an diese Vorlage an (Anmerkung des Übersetzers).
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die Frage, ob der alte liturgische Wortlaut, der den Glauben an die Auferstehung ausdrückt, nicht so weit verändert werden sollte, dass er statt dessen unmissverständlich die Hoffnung auf die Unsterblichkeit der Seele zum Ausdruck bringt. Das war bei allen amerikanischen Reformgebetbüchern geschehen. An der in Philadelphia abgehaltenen, rabbinischen Konferenz wurde ausdrücklich erklärt, dass der Glaube an eine körperliche Auferstehung im Judentum keine Grundlage habe und der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele in die Liturgie Eingang finden sollte.» Selbst wenn die christliche Geistlichkeit bei der gänzlichen Ablehnung jeglicher Vorstellung von einem Auferstehungskörper nicht so weit geht wie die Reformrabbiner, so hoffen wir doch, dass sie nicht weniger Mut zeigt, wenn sie ihr Haus in Ordnung bringt.
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Wer mir bis hierher gefolgt ist, hat nun drei Skizzen vor sich, die das Hauptziel unserer These illustrieren. Das Ziel lag darin, die charakteristischsten Züge in der Lehre des Feinkörpers zu umreißen, und zwar so, wie ihn die alten, das philosophische und mystische Wissen überliefernden Meister, die in der klassischen Antike des Westens höchstes Ansehen genossen und deren Ansichten wir noch heute mit Respekt betrachten, dargestellt hatten. Die detaillierte Behandlung hebt sich von dem in groben Strichen hingemalten Hintergrund der Einführung ab, mit der nur angedeutet werden sollte, wie weit sich das allgemeine Thema erstrecke und bis zu welchen im Halbdunkel liegenden Entfernungen es reiche. Die vorliegende Schrift ist ein Büchlein und kein umfangreiches Werk, ein Essay und keine Abhandlung. Bei der Behandlung des Themas habe ich mich in jeder Beziehung der strengsten Sparsamkeit befleißigt und stets darauf geachtet zu
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verhindern, dass mich die Feder beim Schreiben zu einer verlockenden Abhandlung verführe. Und es ist wirklich nicht immer einfach zu entscheiden, was nebensächlich und was wesentlich ist, wenn man die verwickelten Fragen und die Schwierigkeiten bei einem solchen Gegenstand diskutiert und enträtselt, wie es die feinstoffliche Verkörperung des geistigen Lebens darstellt, die in unseren Tagen so wenig überblickt wird und deren Wert bisher so oberflächlich eingeschätzt worden ist. Ich befürchte, ich besitze nur eine dürftige Fertigkeit und Begabung, etwas populär darzustellen und anschaulich zu beschreiben; aber ich habe fortwährend versucht, mich daran zu erinnern, dass das Thema zutiefst menschlich ist und deshalb als solches sowohl für den allgemeinen Leser wie für den Philosophen, Wissenschaftler und Studenten der vergleichenden Religionsgeschichte von keinem geringen Interesse ist. Für den Gelehrten, so hoffe ich, sind genügend Anregungen gegeben worden, um den Gegenstand selbst weiter zu verfolgen, falls er das möchte. Viele von ihnen sind fachlich für die mühevolle Kleinarbeit viel besser als ich selbst gerüstet, so dass sie, wenn sie es täten, sehr wertvolle Beiträge zu speziellen Punkten leisten und manch ein nebensächliches Problem mit einer Klarheit bestimmen könnten, die es teilweise lösen würde. Der allgemeine Leser ist jedoch kein Spezialist und wenig geneigt, die Mühen der fachlichen Forschung zu schätzen. Die Spezialisten präsentieren nun aber ihre Arbeiten fast ausnahmslos in einer ungefälligen Form, die den Leser schon beim ersten Blick verscheucht, und als etwas, das für seine unmittelbaren Bedürfnisse ohne Belang ist und mit seinem Alltag nichts zu tun hat. Ich hoffe, keinen durch das bisschen Referenzen und Anmerkungen, mit denen das Büchlein ausgestattet ist und die sich so leicht überschlagen lassen, vertrieben zu haben.
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Vor allem habe ich an die ständig wachsende Anzahl von Menschen gedacht, die auf verschiedenen und populären Wegen ihre Aufmerksamkeit gewissen Klassen von Phänomenen psychischer Natur zugewendet haben, die heute in mannigfaltiger Vielzahl auftreten. Im allgemeinen sind sie so alt wie die Welt; dem Unwissenden erscheinen die meisten jedoch als überraschende Neuheit. Von allen Seiten hören wir über Telepathie, Telergie, Hellsehen, Hellhören, Psychometrie, Mesmerismus, Hypnotismus, Suggestion, Autosuggestion, automatisches Schreiben, Phänomene der Trance, mediale Begabung jeder Art, multiple Persönlichkeiten, Exteriorisation des Empfindungsvermögens, psychische Materialisation, Verbindung mit Verstorbenen, Visionen und Poltergeister, Traumpsychologie, Psychologie des Abnormalen in all seiner Kompliziertheit und in einer fast so gut wie unerschöpflichen Datenmenge, Psychoanalyse, Erforschung der Psyche, Psychotherapien, mentales und geistiges Heilen jeder Spielart und so weiter und so fort. Die Atmosphäre ist geschwängert mit Gerüchten über Medialität, Spiritismus, Theosophie, Okkultismus, Christliche Wissenschaft, New Thought, Magie, Geheimlehren und Mystizismus jeder Stufe. Die Toten sind aus ihren Gräbern gestiegen, und der Vorhang des Tempels ist in diesen Tagen der katastrophalen Umwälzung wieder einmal zerrissen. Was man jetzt in wissenschaftlichen Kreisen als neue Psychologie bezeichnet, ist nun auch gezwungen, von den paranormalen Phänomenen, die all dieser psychologischen Gärung zugrunde liegen, Notiz zu nehmen. Selbst auf den Geist, wie ihn das 19. Jahrhundert hervorgebracht hat und der in den offiziellen Kreisen immer noch so einflussreich ist, macht es langsam Eindruck. Nach meiner Meinung spielte während vieler Jahrhunderte
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gerade die Idee eines Feinkörpers die beherrschende Rolle in der Tradition der östlichen wie der westlichen Psychologie. Sie verdient es, wieder aufgenommen, überprüft und revidiert zu werden, um bei der Erklärung und Koordinierung einer großen Anzahl dieser verwirrenden, psychischen Phänomene als Arbeitshypothese zu dienen. Zahlreiche qualifizierte Forscher als Außenseiter einer Gesellschaft, die sich anmaßt, die einzig echte Repräsentantin der offiziellen Wissenschaft zu sein, haben diese Idee schon offen auf diese Weise angewendet. Sie wurde auch von einer Schar von Leuten aufgegriffen, die keinen Anspruch auf irgendein fachkundiges, wissenschaftliches Können erhebt, die dafür aber Erfahrungen aus erster Hand über einige dieser Phänomene gesammelt hat. Von den letzteren stehen viele, wenn nicht fast alle, unter dem Eindruck, sich mit einer neuen Idee oder einer neuen Entdeckung zu befassen. Ich hoffe jedoch, dass einige wenige, die zufällig diesen Essay lesen, davon überzeugt werden mögen, dass - so weit entfernt der Fall auch liegt - ihnen heute durch die persönliche Erfahrung einfach die Rechtmäßigkeit einer der ältesten Überzeugungen der Menschheit einfach zu Bewusstsein gebracht wird. Es ist wahr, die Wissenschaft muss in kleinen Schritten vorwärts schreiten, und dieser Vormarsch hat auf gemeinsame Art zu erfolgen. Sie muß jeden gemachten Schritt streng durch das sorgfältigste, zur Verfügung stehende Verfahren prüfen, bevor sie sicher sein kann, den Fuß auf sicheren Grund gesetzt zu haben. Ich für meinen Teil vermag aber nicht einzusehen, warum dieser spezielle Schritt selbst für so unversöhnliche Gegner von allem, was sie nicht auf dem normalen Weg der Sinne physisch testen können, so riskant sein soll. Wer jedoch so eine sture Haltung einnimmt, für den wird sich
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die Theorie des feinstofflichen Körpers immer als eine machtvolle Gegenwart herausstellen, die auf der Schwelle gerade jenes Materialismus herumspukt, dessen Verfechter überzeugt sind, allen Aberglauben, wie sie meinen, für immer aus ihm verbannt zu haben. Denn unweigerlich kommt diese Hypothese bei den physischen Phänomenen der Medien, die für die Erforschung der Psyche das objektivste Material liefern, zur Geltung. Aber diese niedrigste Stufe oder äußerste Grad ihrer Manifestation stellt nur die unterste Sprosse einer Leiter dar, von der, wie wir gesehen haben, einige der größten Denker und Heiligen der Vergangenheit unter ausführlicher Darlegung der Gründe glaubten, sie führe zu den Höhen großer Erhabenheit empor. Der Pfad dieses inneren Aufstiegs ist ein ständig reinerer Lebenswandel, der die Seele schließlich auf jene Wahrheitsebene führt, wo Wissenschaft, Philosophie und Religion sich nicht nur die Hand reichen, sondern zu einer einzigen, einheitlichen Gnosis verschmelzen, die den Menschen befähigt, sich selbst in der vollkommenen Fülle der Gegenwart seines Gottes zu erkennen.