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German Pages 330 [353] Year 2004
Gottes Sprache in der philologischen Werkstatt
Studies in European Judaism Editor GIUSEPPE VELTRI University of Halle-Wittenberg Leopold Zunz Centre for the Study of European Judaism
Advisory Board Bruno Chiesa (University of Turin) Rachel Elior (Hebrew University of Jerusalem) Alessandro Guetta (INALCO, Paris) Eleazar Gutwirth (Tel Aviv University) Moshe Idel (Hebrew University of Jerusalem) Hanna Liss (Hochschule für Jüdische Studien, Heidelberg) Paul Mendes-Flohr (Hebrew University of Jerusalem) Reinier Munk (Universiteit Leiden) David Ruderman (Pennsylvania University) Peter Schäfer (Princeton University and Free University of Berlin) Stefan Schreiner (University of Tübingen) Jonathan Webber (University of Birmingham) Israel Yuval (Hebrew University of Jerusalem) Moshe Zuckermann (Tel Aviv University)
VOLUME 11
Gottes Sprache in der philologischen Werkstatt Hebraistik vom 15. bis zum 19. Jahrhundert
Herausgegeben von
Giuseppe Veltri and Gerold Necker
BRILL LEIDEN BOSTON 2004 •
This book is printed on acid-free paper.
Library of Congress Cataloging-in-Publication Data LC Control Number: 2004058569
ISSN ISBN
1568–5004 90 04 14312 2
© Copyright 2004 by Koninklijke Brill NV, Leiden, The Netherlands Koninklijke Brill NV incorporates the imprints Brill Academic Publishers, Martinus Nijhoff Publishers and VSP. All rights reserved. No part of this publication may be reproduced, translated, stored in a retrieval system, or transmitted in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, recording or otherwise, without prior written permission from the publisher. Authorization to photocopy items for internal or personal use is granted by Brill provided that the appropriate fees are paid directly to The Copyright Clearance Center, 222 Rosewood Drive, Suite 910 Danvers, MA 01923, USA. Fees are subject to change. printed in the netherlands
AUTOREN UND HERAUSGEBER Wout J. van Bekkum: Professor für Hebräische Literatur und Geschichte, Department of Languages and Cultures of the Middle East, Universität Groningen. Veröffentlichungen: The Qedushta’ot of Yehudah according to Genizah manuscripts (1988); A Hebrew Alexander romance according to MS London, Jews’ College no. 145 (1992); Hebrew Poetry from Late Antiquity: Liturgical Poems of Jehudah (1998). Saverio Campanini: Promotion (1999); Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Judaistik der Freien Universität Berlin. Veröffentlichungen: L’arte cabbalistica: (de arte cabalistica), Johannes Reuchlin, hrsg. von G. Busi und S. Campanini (1995); Francesco Zorzi: Qabbalah cristiana e armonia del mondo (1998). Ursula Goldenbaum: Promotion (1983), Habilitation (2002); Dozentin am Institut für Philosophie, Wissenschaftstheorie, Wissenschaftsund Technikgeschichte der TU Berlin, z. Zt. Emory University Atlanta, Department for Philosophy. Veröffentlichungen: Gottfried Wilhelm Leibniz: Philosophische Schriften und Briefe 1683–1687, hrsg. von U. Goldenbaum (1992); Jean-Jacques Rousseau: Von der Ungleichheit unter den Menschen, übers. von Moses Mendelssohn, hrsg. von U. Goldenbaum (2000); Appell an das Publikum. Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1687–1796 (2004). Görge Hasselhoff: Promotion (2003); Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Veröffentlichungen: „Dicit Rabbi Moyses“. Studien zum Bild von Moses Maimonides im lateinischen Westen vom 13. bis 15. Jahrhundert (2004); Moses Maimonides (1138–1204): His Religious, Scientific, and Philosophical Wirkungsgeschichte in Different Cultural Contexts, hrsg. von G. Hasselhoff und O. Fraisse (2004). Klaus Herrmann: Promotion (1990); Akademischer Rat am Institut für Judaistik der Freien Universität Berlin. Veröffentlichungen: Massekhet Hekhalot. Traktat von den himmlischen Palästen. Edition, Übersetzung und Kommentar (1994); Übersetzung der Hekhalot-Literatur I, hrsg.
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autoren und herausgeber
von P. Schäfer und K. Herrmann (1995); Studies in Jewish Manuscripts, hrsg. von J. Dan und K. Herrmann (1998); Jewish Studies Between the Disciplines – Judaistik zwischen den Disziplinen. Papers in Honor of Peter Schäfer on the Occasion of His 60th Birthday, hrsg. von K. Herrmann, M. Schlüter und G. Veltri (2003). Wolf Peter Klein: Promotion (1991), Habilitation (1998); Akademischer Rat am Germanistischen Institut der Ruhr-Universität Bochum. Veröffentlichungen: Am Anfang war das Wort. Theorie- und wissenschaftsgeschichtliche Elemente frühneuzeitlichen Sprachbewußtseins (1992); Die Geschichte der meteorologischen Kommunikation in Deutschland. Eine historische Fallstudie zur Entwicklung von Wissenschaftssprachen (1999). Jens Kotjatko: Lektor für Hebräisch an der theologischen Fakultät und am Seminar für Jüdische Studien der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Gianfranco Miletto: Promotion (1991), Habilitation (2003); Dozent am Institut für Jüdische Studien der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Veröffentlichungen: L’Antico Testamento Ebraico nella tradizione babilonese: i frammenti della Genizah (1992); Die Heldenschilde des Abraham ben David Portaleone (2003); Glauben und Wissen im Zeitalter der Reformation: Der salomonische Tempel bei Abraham ben David Portaleone (1542–1612) (2004). Gerold Necker: Promotion (1999); Dozent am Seminar für Jüdische Studien der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Veröffentlichungen: Das Buch des Lebens (2002); S. J. Agnon, Das Buch der Taten (1995), Liebe und Trennung (1996), Das Buch des Lebens: Edition, Übersetzung und Studien (2002). Bernd Roling: Promotion (2002); Wissenschaftlicher Mitarbeiter am mittellateinischen Seminar der Universität Münster. Veröffentlichungen: The Complete Nature of Christ: Sources and Structure of a Christological Theurgy in the Works of Johannes Reuchlin, in: The Metamorphosis of Magic from Late Antiquity to the Early Modern Period, hrsg. von J. Veenstra und J. Bremer (2002); Mediatores fungi munere: Synkretismus im Werk des Paolo Ricci, in: Reuchlin und die christliche Kabbala, hrsg. von W. Schmidt-Biggemann (2003). Giuseppe Veltri: Professor für Jüdische Studien an der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg; Direktor des Leopold-Zunz-Zentrums
autoren und herausgeber
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zur Erforschung des europäischen Judentums. Veröffentlichungen: Eine Tora für den König Talmai (1994); Magie und Halakha (1997); Gegenwart der Tradition. Studien zur jüdischen Literatur und Kulturgeschichte (2002); An der Schwelle zur Moderne: Juden in der Renaissance, hrsg. von G. Veltri und A. Winkelmann (2003); Cultural Intermediaries. Jewish Intellectual in Early Modern Italy, hrsg. von D. Ruderman und G. Veltri (2004). Christian Wiese: Promotion (1997); Wissenschaftlicher Assistent am Seminar für Judaistik der Universität Erfurt. Veröffentlichungen: Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland: ein Schrei ins Leere? (1999); Hans Jonas, Erinnerungen, hrsg. von Ch. Wiese (2003); Hans Jonas – “Zusammen Philosoph und Jude”: Essay (2003). Thomas Willi: Professor für Altes Testament an der Theologischen Fakultät der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. Veröffentlichungen: Herders Beitrag zum Verstehen des Alten Testaments (1971); Die Chronik als Auslegung: Untersuchungen zur literarischen Gestalt der historischen Überlieferung Israels (1972); Juda – Jehud – Israel: Studien zum Selbstverständnis des Judentums in persischer Zeit (1995).
INHALT Autoren und Herausgeber
. . . . . . . . . . . . . . .
V
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII
I
II
HEBRAISTISCHE WISSENSCHAFT Was wurde aus den Wörtern der hebräischen Ursprache? Zur Entstehung der komparativen Linguistik aus dem Geist etymologischer Spekulation Wolf Peter Klein . . . . . . . . . . . . . . . .
3
Christliche Hebraistik aus jüdischen Quellen. Beobachtungen zu den Anfängen einer christlichen Hebraistik Thomas Willi . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25
Die Hebraistik in den nördlichen Niederlanden: Jacobus Alting (1618–1679) in Groningen Wout van Bekkum . . . . . . . . . . . . . . . .
49
Die Hebraistik in Wittenberg (1502–1813): Von der „lingua sacra“ zur Semitistik Gianfranco Miletto und Giuseppe Veltri . . . . . .
75
Die Bibel zwischen Tradition und Innovation Gianfranco Miletto . . . . . . . . . . . . . . .
97
KABBALISTISCHE URSPRÜNGE Kabbala als Kulturgut: Abraham Cohen de Herreras „spanische“ Mystik und ihre christliche Rezeption Gerold Necker . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
X
inhalt Die Geburt der Judaistik aus dem Geist der christlichen Kabbala Saverio Campanini . . . . . . . . . . . . . . . 135
III PHILOSOPHIE UND PHILOLOGIE Maimonides im Streit der Konfessionen: Die „Statera prudentum“ des Paulus Ritius und die christliche Neulektüre des Maimonides im 16. Jahrhundert Bernd Roling . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Die Drucke einzelner lateinischer Übersetzungen von Werken des Maimonides im 16. Jahrhundert als Beitrag zur Entstehung der modernen Hebraistik: Agostino Giustiniani und Sebastian Münster Görge K. Hasselhoff . . . . . . . . . . . . . . . 169 Spinozas Papageienargument und Leibniz’ Antwort. Die Bedeutung von Spinozas hebraistischen Argumenten für die Anfänge christlicher Bibelwissenschaft Ursula Goldenbaum . . . . . . . . . . . . . . . 189 Geschichte der Hebräischen Grammatik vom 10. bis zum 16. Jahrhundert Jens Kotjatko . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
IV KRITIK UND APOLOGIE Athen und Jerusalem: Der Kontrast zwischen Hermeneutik und kritischer Philologie im Werk von Friedrich August Wolf Giuseppe Veltri . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Ludwig Geiger oder „Der Tod der hebräischen Philologie durch den Ungeist der christlich-protestantischen Hebraistik“ Klaus Herrmann . . . . . . . . . . . . . . . . 253
inhalt
XI
Ein „aufrichtiger Freund des Judentums“? „Judenmission“, christliche Judaistik, und Wissenschaft des Judentums im Deutschen Kaiserreich am Beispiel Hermann L. Stracks Christian Wiese . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Autorenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Namenregister Sachregister
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
EINLEITUNG Das vorliegende Buch entstand aus den Beiträgen eines Symposiums, das auf Initiative des Leopold-Zunz-Zentrums vom 6. bis 8. Oktober 2002 an der Stiftung Leucorea in Wittenberg stattfand. Unter dem Motto „Die Geburt der Philologie aus dem Geist der Hebraistik“ wurden Antworten auf die Frage gesucht: Welchen Einfluß hatte die Hebraistik auf die Entstehung der Fächer Bibelwissenschaft, Altertumswissenschaft, Linguistik/Literaturwissenschaft, Orientalistik, historische Philosophie, christliche Kabbalaforschung, Semitistik und nicht zuletzt Wissenschaft vom Judentum und Judaistik? Der Veranstaltungsort war gleichzeitig der historische Boden, auf den sich das Symposium bezog. Die 1502 gegründete Universität Wittenberg, Kulminationspunkt der lutherischen Reformation, war neben Paris, Tübingen, Pforzheim, Basel, Straßburg und Leiden eines der Zentren der europäischen Hebraistik, wobei Martin Luthers Übersetzungsarbeit eine wichtige Rolle zukam. Durch das neue und expandierende Medium des gedruckten Buches konnte die Kenntnis des Hebräischen rasch weiter verbreitet werden, wovon die große Anzahl hebräischer Grammatiken Zeugnis ablegt: Die Beschäftigung mit Hebräisch war „en vogue“. Der hebräische Buchdruck begann um das Jahr 1470 in Italien und breitete sich in Deutschland wegen des Zunftwesens zunächst nur unter christlichen Druckern aus. Wittenbergs Einfluß als Lehrstätte für die hebräische Sprache im 16. und 17. Jahrhundert war groß, wie die lange Liste der in Wittenberg gedruckten und wiederaufgelegten Hebraica zeigt. Die Liste verrät auch, daß viele Absolventen der Wittenberger Universität später Professuren für Hebräisch in Deutschland und Skandinavien bekleideten. Mitte des 18. Jahrhunderts ließ die Beschäftigung christlicher Gelehrter mit dem Hebräischen nach, das philologisch-historische Interesse wich einem judenfeindlichen Ton. Ein Blick auf die entsprechenden Bibliographien zeigt, daß die Edition hebräischer Grammatiken im 18. Jahrhundert in Halle fortgeführt wurde. Im 19. Jahrhundert kam es zu einer neuen Blüte der Hebraistik und Bibelwissenschaft, aber da war die Wittenberger Universität bereits geschlossen.
XIV
einleitung
Die Rolle der Hebraistik bei der Entstehung der (philologischen) Wissensfächer wird zwar hier und da erwähnt, hat aber bis heute keine gebührende Aufmerksamkeit erhalten.1 Der methodische Zusammenhang zwischen der Altertumswissenschaft, aus der sich die moderne Philologie entfaltete, und der Hebraistik (critica sacra) war dem an der Universität Halle wirkenden Gründer der Altertumswissenschaft Friedrich August Wolf – Nietzsche zufolge der „erste Philologus“ – sehr bewußt. Sowohl in seinen Prolegomena ad Homerum, als auch in seinen Vorlesungen wies der hallische Professor darauf hin, daß er die critica sacra als maßgeblich für die Philologie betrachtete. Er unterstrich ausdrücklich die Ähnlichkeit der masoretischen mit den griechischen philologischen Prinzipien: „Will Jemand tiefer eindringen, so muß er sich mit der Geschichte der Masoreten-Manuscripte beschäftigen, die aber viel später aufkamen, als die griechische Kritik“.2 Auf dem Hintergrund der arabischen Sprachwissenschaft, die durch jüdische Vermittlung in den Okzident gelangte, entstand eine „neue Grammatik“ im lateinischen Mittelalter. Die Renaissance verband schließlich die grammatikalischen und lexikalischen Studien mit der kabbalistischen Vorliebe für die hebräischen Buchstaben. Die Suche nach dem ursprünglichen Text inspirierte die neue critica sacra, die auch vor den Traditionen der Bibel nicht Halt machte: Die Quellentheorie wurde geboren. Was Jean Morin (1591–1659) oder Richard Simon in seiner „Histoire critique“ (1678) auf das Alte Testament angewandt hatten, wurde von Wolf entsprechend den „Vorlesungen“ von J. G. Eichhorn (gest. 1827) auf die homerische Kritik übertragen. 1 Die Beschäftigung mit der Hebraistik/den einzelnen Hebraisten entsteht in der Regel innerhalb der christlichen Auseinandersetzung mit dem Judentum und der jüdischen Tradition. Es ist nicht unsere Absicht, eine bio- bibliographische flächendeckende Darstellung der Entstehung und Entwicklung der Hebraistik und der einzelnen Hebraisten hier anzubieten. Trotz weiterführenden Arbeiten in diesem Gebiet fehlt es an einführender Literatur. Hier einige Hinweise zur neueren Forschungsliteratur: J. Friedman, The Most Ancient Testimony. 16th-century Christian-Hebraica in the Age of Renaissance Nostalgia, Athens (Ohio) 1983; W. MacKane, Selected Christian Hebraists, Cambridge [u. a.] 1989; I. Zinguer (Hrsg.), L’He´breu au temps de la Renaissance, Leiden 1992; S. G. Burnett, From Christian Hebraism to Jewish Studies Johannes Buxtorf (1564–1629) and Hebrew Learning in the Seventeenth Century, Leiden 1996. Einen Blick in die Geschichte der biblischen Philologie überhaupt bietet B. Chiesa, Filologia storica della Bibbia ebraica, Bd. 1: Da Origene al Medioevo; Bd. 2: Dall’e`ta` moderna ai giorni nostri, Brescia 2000, 2002. Parallel zu diesem Buch erscheint A. P. Coudert u. J. S. Shoulson (Hrsg.), Hebraica Veritas? Christian Hebraists and the Study of Judaism in Early Modern Europe, Philadelphia 2004. 2 Fr. Aug. Wolfs Vorlesung über die Encyclopädie der Alterthumswissenschaft, hrsg. von J. D. Gürtler, Leipzig 1831, S. 311.
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XV
Aus vier verschiedenen Perspektiven werden Entstehung und Verbreitung der Hebraistik an den europäischen Universitäten im vorliegenden Band beleuchtet: die Anfänge der Hebraistik im Rahmen der christlichen Theologie, ihre Beziehung zur Kabbala, ihre Weiterentwicklung zur philologisch-literarischen Wissenschaft sowie Kritik und Apologie im 19. Jahrhundert. Natürlich können diese Themenbereiche nicht streng voneinander getrennt werden und die historische Entwicklung von heute skurril anmutenden etymologischen Spekulationen bis hin zur Instrumentalisierung der Hebraistik für die protestantische Judenmission verlief weder geographisch einheitlich noch linear. Um so interessanter sind die verschiedenen Persönlichkeiten, die in den folgenden Beiträgen vorgestellt werden und die einen Einblick in den Facettenreichtum einer Wissenschaftsgeschichte geben, in der Kabbala, Hebraistik und Philologie ihre eigenen Akzente setzten. Einen guten Einstieg in die Zusammenhänge zwischen moderner Sprachwissenschaft und christlicher Wissenstradition bietet Wolf Peter Kleins Untersuchung der frühneuzeitlichen Ansätze einer komparativen Linguistik. Er zeigt anhand ausgewählter Beispiele aus dem lexikographischen Hauptwerk des Marburger Theologen und Sprachgelehrten Georg Cruciger, welche Blüten eine vergleichende Sprachwissenschaft auf hebraistischer Grundlage treiben konnte. Sehr instruktiv ist Kleins Darstellung der grundlegenden Bedeutung der hebräischen Sprache für die frühneuzeitlichen Diskussionshorizonte: Alle anderen Sprachen stehen mit der historisch ersten Sprache in einer harmonia linguarum. Das Wurzelprinzip der hebräischen Grammatik wurde als sprachhistorische Richtschnur herangezogen und führte zu einer Fülle sprachvergleichender Werke im 16. und 17. Jahrhundert. Die nachhaltige Thematisierung der hebräischen Sprache in den religiösen Kontexten der frühen Neuzeit initiierte eine komparative Wissenschaft, deren ursprüngliche methodologische Prinzipien freilich im weiteren Verlauf der empirischen Erforschung von Grammatik und Wortschatz der verschiedenen Sprachen im Sande verliefen. Die Fundamente der Basler Hebraistik, die die weitere Entwicklung entscheidend beeinflussen sollte, werden von Thomas Willi offengelegt. Ausgehend von Johannes Reuchlin und seinen jüdischen Lehrern in Italien hebt er vor allem dessen Transferleistung hervor: die hebräischen Grammatiken der jüdischen Tradition finden in einer dem transalpinen Schulbetrieb verständlichen Systematik zu einer neuen Form. Dennoch führte für Willi dieser „Start der christlichen Hebraistik in den Rudimenta Hebraica . . . in eine Sackgasse“. Gegenüber Reuchlin
XVI
einleitung
erweist sich die Leistung des Franziskaners Conrad Pellican, die Willi in den Mittelpunkt seines Beitrags stellt, als richtungsweisend für die Basler grammatische Tradition. Die entscheidende Verbindung zu Johannes Buxtorf und seinem Sohn ergab sich jedoch erst durch Sebastian Münsters Rezeption von Elia Levitas grammatischen und masoretischen Werken, die in Basel schulbildend wirkte. Wout van Bekkum beleuchtet die europäische Dimension der protestantischen Hebraistik am Beispiel von Jacobus Alting in Groningen. Humanismus und Reformation hatten in den Niederlanden, wie der Beitrag zeigt, ihre eigene faszinierende Geschichte. In einer Zeit politischer Umbrüche und angesichts der Herausforderung der kartesianischen Philosophie brachte der Hochschulbetrieb in den Hebraica bzw. Orientalia ein neues Fach hervor, das sich neben der Theologie etablieren konnte, weil es, wie im Fall von Alting, in Personalunion vom theologischen Lehrstuhlinhaber und akademischen Prediger vertreten wurde. Altings umfangreiche Korrespondenz gibt einen guten Einblick in seinen Wissenshorizont. Wout van Bekkum übersetzt zum ersten Mal Altings hebräische Briefe an einen jüdischen Gelehrten, die sich ausführlich mit den Punktationsvorschriften der masoretischen Gelehrten beschäftigen. Der reformatorischen Geburtsstätte Wittenberg und ihrer zentralen Bedeutung für die hebraistische Wissenschaft widmen sich Gianfranco Miletto und Giuseppe Veltri. Die Artistenfakultät der Universität Leucorea war der humanistischen Tradition von Anfang an in besonderer Weise verpflichtet. Eine Hinwendung zur hebräischen Sprache und ersten Unterricht gab es bereits vor der Einrichtung eines Lehrstuhls. Unter dem Kurfürsten Friedrich dem Weisen wurde 1518 Hebräisch offiziell zusammen mit Griechisch neben Latein in das philosophische curriculum aufgenommen. Durch die Gründung eines dreisprachigen Pädagogiums sollte dem humanistischen Ideal des homo trilinguis zum Durchbruch verholfen werden. Die reformatorische Bewegung unterstützte vor allem in Gestalt von Philipp Melanchthon die Umwandlung eines rein literarischen in einen biblischen Humanismus. Eine christliche Hebraistik entwickelte sich als exegetische Hilfswissenschaft der Theologie und verband damit seit Martin Luther eine ablehnende, feindliche Haltung gegenüber rabbinischer Literatur und jüdischer Tradition. Nach langen Rivalitäten zwischen der philosophischen und der theologischen Fakultät brachte erst die endgültige Unterbringung des hebräischen Lehrstuhls innerhalb der philosophischen Fakultät die notwendige Autonomie für eine Ausweitung des Lehrstoffs auf Rabbinica und andere orientalische Sprachen.
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XVII
Einen ganz anderen Zugang zu jüdischen Texten fanden nach Gianfranco Miletto Hebraisten wie Arias Montano, Cipriano de la Huerga oder Luis de Leo´n. Für sie gehörte das rabbinische Schrifttum zu einer Traditionskette, die das jüdische Volk als Träger der hebräischen Offenbarung bewahrt hatte. In einer Zeit religiöser Veränderungen und neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse diente die hebräische Bibel auch einigen christlichen Gelehrten als Prisma, mit dem die ganze Umwelt wahrgenommen und innerhalb der eigenen religiösen Grenzen interpretiert werden konnte. Die Autorität der Bibel führte bei diesen Gelehrten zu einer positiven Einstellung gegenüber dem Judentum und war der Auftakt zu dem späteren „antiquarischen“ Interesse an der rabbinischen Literatur. Der zweite Teil des Buches geht der Frage nach den kabbalistischen Ursprüngen der Hebraistik und deren Folgen nach. Gerold Necker untersucht die Bedeutung eines für das frühneuzeitliche Amsterdam typischen jüdischen Gelehrten, der gleichwohl in der Geschichte der jüdischen Mystik ein Außenseiter geblieben ist. Abraham Cohen de Herrera stammte aus einer Familie von Conversos und schrieb seine beiden kabbalistischen Werke auf spanisch. Er stand in der Tradition der italienischen Renaissance und nahm gleichzeitig eine Schlüsselrolle bei der Verbreitung lurianischen Gedankenguts in Europa ein. Die Rezeption seiner Schriften durch Hebraisten und Theologen (maßgeblich über Christian Knorr von Rosenroths Kabbala denudata) bestimmte die weitere christliche Wahrnehmung der esoterischen Tradition im Judentum. In einem Anhang werden die wichtigsten Thesen, die in systematischer Weise die lurianische Kabbala in der Bearbeitung von Herrera zusammenfassen, aus Jacob Bruckers ab 1731 in Ulm erschienenen populären deutschen Philosophiegeschichte präsentiert. In seinem sehr engagierten und herausfordernden Essay versucht Saverio Campanini die christliche Kabbala als wichtigstes Movens der judaistischen Wissenschaft zu enthüllen. Für ihn war die christliche Kabbala die unerwartete Geburtshelferin einer Wissenschaft, der sich ihr Gegenstand ständig entzieht und deren grundsätzlicher Erkenntnisgewinn nur in der Selbstreflexion des Betrachters und seiner Einstellung zum Judentum liegen kann. Campaninis Beitrag wurde während des Symposiums heftig diskutiert, und vielleicht wird die suggestive Kraft seiner Diktion und manchmal ans Polemische reichenden Rhetorik wieder entsprechende Reaktionen hervorrufen. Aber zweifellos hat er kenntnisreich und mutig die „letzten Fragen nach dem Sinn und der Aufgabe der Judaistik“ gestellt.
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Der dritte Teil, Philosophie und Philologie, beginnt mit der christlichen Maimonides-Rezeption im 16. Jahrhundert. Die problematische Rolle jüdischer Konvertiten untersucht Bernd Roling am Beispiel von Paulus Ritius (Paolo Ricci). In seiner 1532 erschienenen Schrift Statera prudentum versuchte Ricci, jüdisches Wissen für das katholische Christentum apologetisch zu verwerten. Im Sinne der Argumentation von Moshe ben Maimons More nevukhim unterscheidet Ricci zwischen den intelligiblen, ewigen Wahrheiten und den Zeremonialgesetzen der Religion, die letztlich nur historisch bedingte Zugeständnisse an die Gläubigen darstellen. Konsequenterweise deutet er das katholische und protestantische Bekenntnis als unterschiedliche Episoden der Entwicklungsgeschichte des auf dem Sinai proklamierten Gesetzes. Im Zeitalter der Radikalisierung theologischer Standpunkte konnte Riccis interkonfessioneller, harmonisierender Ansatz nicht lange bestehen. Den führenden Vertretern der Gegenreformation war diese Argumentation nicht nur zu undogmatisch und liberal, die Zensoren Johannes Eck und Johannes Fabri unterstellten dem Werk des jüdischen Konvertiten vor allem auch judaisierende Tendenzen. Das in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts neu erwachte Interesse an Maimonides zeigt sich nach Görge Hasselhoff auch an den von Agosto Giustiniani und Sebastian Münster herausgegebenen Übersetzungen. Beide wandten sich den Texten des mittelalterlichen Philosophen aus humanistischen Gründen zu und versuchten einen Kanon zu etablieren, der dem frühneuzeitlichen Bildungsideal entsprach und der neben den biblischen Texten auch grammatische und philosophische Schriften enthalten sollte. Die oft diskutierte Wirkungsgeschichte von Baruch Spinoza wird von Ursula Goldenbaum im Rahmen der Anfänge christlicher Bibelwissenschaft reflektiert. Wie sehr Spinozas Argumente aufgrund ihrer theoretischen Dignität als Bedrohung der christlichen Offenbarungswahrheiten verstanden wurden, zeigt nach Goldenbaum insbesondere die von Gottfried Wilhelm von Leibniz begonnene Auseinandersetzung mit dem Tractatus theologico-politicus. Der Herausforderung des sogenannten Papageienarguments, daß man wegen der bekannten Probleme mit der hebräischen Sprache über unverständliche Bibelstellen besser schweigen solle, stellte sich Leibniz zunächst mit einer eigenen Erwiderung. Gemeinsam mit seinem Mentor Christian von Boineburg initiierte er dann eine rege Korrespondenz, um kompetente Hebraisten zur Widerlegung Spinozas und derjenigen Argumente, die sich explizit auf die hebräische Grammatik beziehen, zu gewinnen.
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XIX
Mit einer kurzen Geschichte der hebräischen Grammatik bis zum Aufkommen der christlichen Hebraistik im 16. Jahrhundert schließt Jens Kotjatko den dritten Teil des Bandes ab. Er gibt einen kompakten Überblick von den verschiedenen Aussprachetraditionen und Methoden der Vokalisierung des heiligen Textes im 8. Jahrhundert bis zu David Kimchis autoritativem Lehrbuch, das bis Reuchlin die wichtigste autoritative linguistische Quelle für Grammatiker und Lexikographen blieb. Dieser Rückblick auf die Vorgeschichte der hebräischen Grammatik vervollständigt das Bild einer Wissenschaftstradition, die im 19. Jahrhundert eine grundsätzliche Neuorientierung finden sollte. Der letzte Teil, Kritik und Apologie, zeigt eine Hebraistik, die dem Spannungsfeld der verschiedenen Positionen im 19. Jahrhundert nur noch auf getrennten Wegen entkommen konnte. Giuseppe Veltri untersucht die kulturgeschichtliche Bedeutung von Tertullians Frage quid athenis et hierosolymis? In der Antwort des hallischen Professors Friedrich August Wolf (1759–1824) sieht Veltri nicht den Versuch der Trennung der Altertumswissenschaften von der Theologie und den orientalischen Sprachen, sondern eine Neuorientierung der Philologie, die sich von den Grundsätzen der klassischen Hermeneutik verabschiedet. Die Philologie dürfe keine Hilfswissenschaft sein, sondern müsse enzyklopädischen Charakter haben. Hebräische Quellen sollten neben griechischer und lateinischer Literatur gleichberechtigter Gegenstand dieser Wissenschaft sein. Nach Klaus Herrmann formulierte kaum ein Gelehrter an der Wende zum 20. Jahrhundert scharfsinniger die tragischen Folgen der unheiligen Allianz zwischen hebraistischer Philologie und protestantischer Theologie als Ludwig Geiger, der Sohn des berühmten Reformrabbiners Abraham Geiger. Der Geist der Offenheit und Toleranz, der laut Geiger in Reuchlins „welthistorischer Begegnung“ mit seinem jüdischen Hebräischlehrer Loans in Italien wehte, endete in Wittenberg mit dem Tod in der Hebräischprofessur, die gänzlich dem Diktat von Melanchthon und Luther unterworfen war. Bezeichnend für die Entwicklung der in Wittenberg eingerichteten Professur war nach Geiger das Scheitern von Matthäus Adrianus und Johannes Böschenstein, denen nicht nur eine undogmatische Haltung, sondern auch eine allzu große Nähe zum Judentum bzw. eine jüdische Herkunft vorgeworfen wurde. Die überfällige Würdigung von Ludwig Geiger und derjenigen Wittenberger Hebraisten, die sich zwar keine theologischen aber wissenschaftlichen Verdienste durch ihre philologischen Forschungen erworben hatten, steht nach Herrmann noch aus.
XX
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Im Dreieck Judenmission, christliche Judaistik und Wissenschaft des Judentums verortet Christian Wiese Leben und Werk des protestantischen Alttestamentlers und Direktors des Institutum Judaicum Berolinense Hermann L. Strack. Sein Engagement gegen antisemitische Agitation und seine Solidarität mit dem Judentum gründeten – anders etwa als bei Franz Delitzsch – auf einem Ethos der wissenschaftlichen Objektivität bei der Beurteilung jüdischer Geschichte, Tradition und Literatur. Gleichwohl sah er sich im Glauben an die heilsgeschichtliche Kontinuität zwischen Judentum und Christentum, die in der religiösen Überwindung des Judentums durch die Bekehrung zu Jesus Christus gipfeln würde, auch der aktiven Mission unter der jüdischen Minderheit verpflichtet. Sein wichtigstes Werk, die 1887 erschienene Einleitung in den Talmud, legte den Grundstein für die deutschsprachige christliche Talmudforschung. Im Gegensatz zu anderen ambitionierten Bestrebungen, wie etwa die Anfänge der Gießener Mischna-Edition, erfuhr Stracks wissenschaftliche Arbeit uneingeschränkte Anerkennung bei jüdischen Fachleuten rabbinischer Texte. Eine akademische Gleichberechtigung der Wissenschaft des Judentums lehnte er jedoch ab, da jüdische Gelehrte auch auf dem Gebiet der Judentumskunde niemals den „berechtigten Ansprüchen“ von Christen gerecht werden könnten. Die ambivalente „Liebe zu Israel“ der christlichen Judaistik, die trotz ihres Kampfes gegen antisemitische Hetze nur an einem missionarischen Dialog interessiert war, verriet letztendlich ihre eigene wissenschaftliche Objektivität. Seit Beginn der Hebraistik in der frühen Neuzeit unterlag die Erforschung der hebräischen Sprache und Literatur verschiedenen und teilweise gegensätzlichen Einflüssen, die ebenso oft auf unterschiedlichen wissenschaftlichen Haltungen wie auf persönlichen Auseinandersetzungen mit jüdischer Tradition oder jüdischen Gelehrten beruhten, die als Lehrer, Konvertiten oder Gegner in die Geschichte der christlichen Hebraistik eingegangen sind. Die hier gesammelten Beiträge sollen vor allem einen Eindruck von der Bandbreite dieser heute immer noch unterschätzten Wissenschaftsgeschichte und ihrer Vertreter vermitteln. Die besondere Bedeutung des Tagungsortes Wittenberg und damit der protestantischen Orthodoxie als wichtigem Katalysator der christlichen Hebraistik ist in den vier Teilen des Buches immer gegenwärtig; doch eine eigenständige und unabhängige Entwicklung in dem weiteren universitären Fächerkanon nahm die Hebraistik erst nach ihrem Auszug aus der Theologie und damit aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit.
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XXI
Wir danken den Autoren herzlich für die schriftliche Ausarbeitung bzw. Erweiterung ihrer Vorträge. Die Schreibweise von Eigennamen bzw. hebräischen Namen und Begriffen wurden wie von den Autoren gewünscht wiedergegeben, die Transkription des Hebräischen erfolgte ansonsten nach den Regeln in den Frankfurter Judaistischen Beiträgen 2 (1974), S. 64–73. Der Stiftung Leucorea schulden wir Dank für die finanzielle Unterstützung und Annette Winkelmann für die umsichtige Organisation der Tagung. Den Bibliotheken der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, der Staatsbibliothek Berlin sowie der Universitäts- und Forschungsbibliothek Erfurt/Gotha danken wir für die Erlaubnis zur Veröffentlichung der Abbildungen. Brill Academic Publishers sind wir wie immer zu Dank verpflichtet für ihre ausgezeichnete Betreuung und die Aufnahme dieses Bandes in die Reihe Studies in European Judaism. Giuseppe Veltri Gerold Necker
Teil I Hebraistische Wissenschaft
WAS WURDE AUS DEN WÖRTERN DER HEBRÄISCHEN URSPRACHE? ZUR ENTSTEHUNG DER KOMPARATIVEN LINGUISTIK AUS DEM GEIST ETYMOLOGISCHER SPEKULATION Wolf Peter Klein Im folgenden möchte ich darlegen, in welchem Sinne die frühneuzeitlichen Betrachtungen des Hebräischen dazu beigetragen haben, daß sich im 16. und 17. Jahrhundert allmählich eine spezifische Form der vergleichenden Sprachforschung entwickelte. Der Akzent liegt dabei auf der vergleichenden Komponente. Prägnant formuliert: Es soll gezeigt werden, daß und wie die frühneuzeitliche Konjunktur hebraistisch-theologischer Studien die Sprachbetrachtung maßgeblich inspiriert und konturiert hat, insofern darin ein spezifisches komparatives Fundament der Sprachforschung bereit gestellt wurde. Damit war zudem eine wichtige Verschiebung des linguistischen Interesses verbunden. Denn statt theoretisch-philosophischen Perspektiven gewannen im Zuge der Reflexionen zum Hebräischen empirisch-registrierende Ansätze im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit zunehmend an Bedeutung. Möglicherweise kann man sogar die zugespitzte These vertreten, daß die diversen sprachvergleichenden Arbeiten des 16. und 17. Jahrhunderts überhaupt nicht entstanden wären, wenn in religiösen Zusammenhängen keine nachhaltige Thematisierung der hebräischen Sprache stattgefunden hätte. Ich werde mich bei der Diskussion meiner These ausschließlich auf den europäischen main stream der Zeit beziehen. Das bedeutet, daß ich auf die lateinischsprachige Diskussion eingehen werde und native Linguistiktraditionen, etwa im hebräischen, arabischen, indischen oder gar chinesischen Sprachraum nicht berücksichtige. Bevor ich in die Einzelheiten gehe, muß vorweg geklärt werden, was hier eigentlich unter „komparativer Linguistik“1 verstanden werden 1 Ich benutze die Formeln „vergleichende Sprachwissenschaft“ und „komparative Linguistik“ als Synonyme.
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wolf peter klein
soll. Ich möchte diese Definitionsproblematik mit einigen skizzenhaften historiographischen Ausblicken in die Geschichte der Sprachbetrachtung vor der frühen Neuzeit verbinden. Selbstverständlich wußte man in der Antike um die Differenz von griechischer und lateinischer Sprache. Außerdem war klar, daß in Ägypten und Germanien, in Klein-Asien oder am südlichen Rand des römischen Imperiums fremde Sprachen gesprochen wurden, die sich – in Laut und Schrift – stark von den gängigen Verkehrssprachen unterschieden. Es gab allerdings – und dies ist für mein Thema von zentraler Bedeutung – keine systematische Aufarbeitung dieser Sprachenvielfalt. Weder finden sich ausgedehntere monographische Werke zur Sprachenmannigfaltigkeit noch sind (im engeren Sinn) empirische Unternehmen bekannt, die sich der Dokumentation und der Analyse der antiken Sprachenvielfalt in Gänze oder auch nur in repräsentativen Teilen gewidmet hätten. Insbesondere fehlen Arbeiten in Form ausgebauter Vergleichsgrammatiken oder zweisprachiger bzw. polyglotter Wörterbücher, die die empirische Basis für einen materiell fundierten Sprachvergleich hätten abgeben können. Sofern Sprache zum Gegenstand systematischer Reflexion gemacht wurde, handelte es sich in der Regel um grammatisch-philologische Arbeiten zum Griechischen oder Lateinischen. Die griechische Philologie bildete dazu schon in früher Zeit ein Muster aus, an das später in verschiedenen Formen immer wieder angeknüpft wurde.2 Lediglich im Kontrast und Kontakt von Griechisch und Latein kam es gelegentlich zu komparativen Betrachtungen.3 Deshalb läßt sich feststellen, daß in der Antike keine komparative Linguistik existierte, die die – im Prinzip schon damals wahrnehmbare – Sprachenvielfalt systematisch empirisch-lexikologisch in den Blick genommen hätte.
2 Vgl. R. Pfeiffer, Geschichte der Klassischen Philologie. Von den Anfängen bis zum Ende des Hellenismus, München 19782. 3 Seneca machte sich beispielsweise in seinen Schriften ausgehend von fachsprachlichen Übersetzungsproblemen hin und wieder Gedanken über den Unterschied zwischen griechischer und lateinischer Sprache. Dabei bedauerte er die fehlende Wortfülle des Lateinischen, das im Blick auf griechische Vorgaben oft keine Übersetzungsmöglichkeit zur Verfügung stellte; dadurch rückte die Frage in den Mittelpunkt, ob lexikalische Lükken durch die Übernahme griechischer Wörter oder durch andere Strategien ausgefüllt werden sollten, vgl. etwa am Beispiel der Tradierung meteorologischen Fachwissens W. P. Klein, Die Geschichte der meteorologischen Kommunikation in Deutschland. Eine historische Fallstudie zur Entwicklung von Wissenschaftssprachen, Hildesheim, Zürich, New York 1999, S. 53–56; E. Bickel „Die Fremdwörter bei dem Philosophen Seneca“, in: Archiv für Lateinische Lexikographie und Grammatik XIV (1906), S. 189–209.
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Ein ganz ähnlicher Befund ergibt sich für das Mittelalter, allerdings mit einigen neuen Akzenten. Angesichts der bekannten Vorherrschaft logisch-philosophischer Zugänge zum Problem der Sprache finden sich auch hier keine ausführlicheren linguistischen Betrachtungen der Sprachenvielfalt. Das scholastische Hauptinteresse lag schließlich im universalgrammatischen Sinne in der Wahrnehmung der logisch-semantischen Einheit der Sprachen, nicht in der Thematisierung ihrer materiellen Vielheit.4 Indes gab es im Zuge der christlichen Selbstvergewisserung seit dem Frühmittelalter gelegentlich Punkte, an denen die Sprachenvielfalt zumindest ansatzweise näher thematisiert wurde. Dies geschah zum einen in der ausgedehnten patristischen Kommentarliteratur zur Sprachen- und Völkergenealogie der Genesis, zum anderen im Zusammenhang mit den praktischen theologischen Übersetzungstätigkeiten, die sich zwischen den drei sogenannten Heiligen Sprachen Hebräisch, Griechisch und Latein abspielten. Hieronymus beispielsweise streifte in seinen Überlegungen zum Übersetzen („De optimo genere interpretandi“) gelegentlich den Sprachvergleich.5 In diesem Spannungsfeld wurden auch die Etymologien des Isidor von Sevilla abgefaßt. Dort nahm der spanische Bischof in einem Kapitel (IX, 1) ausdrücklich die damals bekannte Sprachenvielfalt in den Blick. Diese vergleichenden Betrachtungen waren allerdings noch recht grob und wenig präzise formuliert: Beispielsweise wollte Isidor beobachtet haben, daß sich hinsichtlich der Artikulation der verschiedenen Sprachkreise drei Gruppen ergeben: die orientalischen (z. B. Hebräisch, Syrisch), in denen die Stimmgebung überwiegend im Kehlkopf erfolge, die mittelmeerischen (z. B. Griechisch), wo der Gaumen eine hervorragende Rolle spiele, und die okzidentalen (z. B. Italienisch, Spanisch), die von der großen artikulatorischen Bedeutung der Zähne geprägt seien.6 Auch wenn diese Reflexion nicht völlig haltlos ist – schließlich zeichnen sich semi4 Vgl. z. B. immer noch grundlegend J. Pinborg, Die Entwicklung der Sprachtheorie im Mittelalter, Münster 19852. 5 Vgl. F. Winkelmann, „Einige Bemerkungen zu den Aussagen des Rufinus von Aquileia und des Hieronymus über ihre Übersetzungstheorie und -methode“, in: Kyriakon II. Festschrift für Johannes Quasten, hrsg. von P. Granfield u. J. A. Jungmann, Münster 1970, S. 532–547. 6 „Omnes autem Orientis gentes in gutture linguam et verba conlidunt, sicut Hebraei et Syri. Omnes mediterraneae gentes in palato sermones feriunt, sicut Graeci et Asiani. Omnes Occidentis gentes verba in dentibus frangunt, sicut Itali et Hispani.“ (Isidor von Sevilla, Etymologiarum sive originum libri IX, 1, hrsg. von W. M. Lindsay, Oxford 1911).
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tische Sprachen wie Hebräisch und Syrisch gegenüber den anderen erwähnten Idiomen tatsächlich durch ihre große Menge an Gutturallauten aus –, so kann man in diesen Formulierungen wohl kaum den regelrechten Beginn der komparativen Linguistik erblicken, vielleicht aber doch deren erste phonetisch definierten Keime. Im Laufe des Mittelalters wurde zudem die Sprachenvielfalt für breitere Kreise in ganz anderen Zusammenhängen deutlich vor Augen geführt: In Reiseschilderungen fanden sich nämlich gelegentlich fremde Alphabete, was sozusagen als orthographische Repräsentation der Sprachenvielfalt gelten kann.7 Zu nennen ist hier etwa der Reisebericht von Jean de Mandeville aus dem 14. Jahrhundert sowie besonders der Text von Bernard von Breydenbach, der auch schon recht früh in mehreren Volkssprachen vorlag. Darin finden sich an einigen Stellen exotische Alphabete wie das – in Breydenbachs Worten – hebräische, sarrazenische, chaldäische, syrische, koptische, äthiopische, indische und armenische Buchstabeninventar. Linguistische Betrachtungen im engeren Sinne gab es zu dieser Sprachenvielfalt freilich auch hier noch nicht. In den meisten Fällen waren die Schriftensammler noch nicht einmal in der Lage, die Beispiele aus den verschiedenen Schrifttypen vorzulesen, geschweige denn einer etwas genaueren linguistischen Analyse zu unterziehen. Sie hatten einfach nur abgezeichnet, was sie auf ihren Reisen in fremden Büchern und Papieren gesehen hatten. Generell läßt sich also im Blick auf die Frühgeschichte der vergleichenden Sprachbetrachtung festhalten: Am Beginn der Neuzeit existierte keine komparative Linguistik im engeren Sinn, auch wenn die Sprachenvielfalt im Rahmen der damals bekannten Idiome durchaus gelegentlich in den Blick kam. Insbesondere fehlten ausführlichere Betrachtungen im Sinne einer komparativen Syntax oder Lexik. Dies änderte sich dann im Laufe des 16. Jahrhunderts in verschiedenen Dimensionen. Bevor ich auf einige Werke und Personen näher hinweisen möchte, soll vorweg die allgemeine Lage so erläutert werden, wie sie sich im Rahmen der damaligen Sprachtheorie für alle Philologen mehr oder weniger einheitlich darstellte. Demnach galt: Die biblische Sicht auf die Sprachen, wie sie im Babylon-Mythos und der daran anschließenden Völker- und Sprachengenealogie formuliert ist, wird von allen Sprachinteressierten in der Regel als obligatorisch wahr 7 Vgl. näheres bei E. Seebold, „Mandevilles Alphabete und die mittelalterlichen Alphabetsammlungen“, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 120/3 (1998), S. 435–449.
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vorausgesetzt ist. Was die Auslegung dieser Kapitel angeht, so stimmten die meisten darin überein, daß Hebräisch die vorbabylonische Ursprache ist, aus der mit der Zeit alle anderen Sprachen hervorgegangen sind.8 Dies alles gibt den Hintergrund ab für die humanistischphilologische Beschäftigung mit den Sprachen, und zwar – und das ist neu – nicht nur mit den klassischen Sprachen, sondern auch mit bisher völlig unbekannten Sprachen, sowie den Volkssprachen, sofern sie alle allmählich in den linguistischen Blick gerieten. Das Kraftzentrum der Sprachenthematisierung lag dabei zunächst noch eindeutig im theologischen Raum. Konkret gesagt: Man lernte, analysierte und verglich in ersten Ansätzen Sprachen, um die bekannten kanonischen Texte (AT, NT) oder um eventuell neue heilige Texte in ihrer ursprünglichen Sprache besser verstehen zu können. Paradebeispiele für neue heilige Texte, die das Sprachenstudium nicht unwesentlich inspirierten, stellten die verschiedenen kabbalistischen Texte dar, die bekanntlich spätestens seit den wegweisenden Arbeiten von Pico della Mirandola und Johann Reuchlin das christliche Abendland faszinierten.9 Aber auch der frühneuzeitlichen Wahrnehmung des Korans kommt eine vergleichbare, wenn auch nicht so weitreichende Bedeutung zu.10 Insofern läßt sich mit Recht die Formel von der philologia sacra benutzen, um die Verbindung zwischen linguistischer Sprachkenntnis, Textorientiertheit und theologischer Einbettung schlagwortartig auf den Begriff zu bringen.11 In direktem Zusammenhang mit diesen Arbeits- und Reflexionszusammenhängen kam es dann zunehmend zu regelrechten linguistischen Traktaten, in denen das ursprüngliche theologische Fundament mehr und mehr in den Hintergrund trat und sich tatsächlich eine vergleichende Sprachwissenschaft herausbildete. Diese Entwicklung ruhte noch lange Zeit auf der Prämisse, daß
8 Vgl. erschöpfend A. Borst, Der Turmbau von Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker, Stuttgart 1957–1963, zur frühen Neuzeit Bd. III/I. 9 Dazu insbesondere W. P. Klein, „Christliche Kabbala und Linguistik orientalischer Sprachen im 16. Jahrhundert. Das Beispiel von Guillaume Postel (1510–1581)“, in: Beiträge zur Geschichte der Sprachwissenschaft 11/1 (2001), S. 6 f. 10 Unverzichtbar für die Erkenntnis dieser Zusammenhänge ist H. Bobzin, Der Koran im Zeitalter der Reformation. Studien zur Frühgeschichte der Arabistik und Islamkunde in Europa, Beirut, Stuttgart 1995. 11 Zum Terminus der „philologia sacra“ vgl. H. Bobzin, „Hebraistik im Zeitalter der Philologia Sacra am Beispiel der Universität Altdorf“, in: Syntax und Text. Beiträge zur 22. Internationalen Ökumenischen Hebräisch-Dozenten-Konferenz 1993 in Bamberg, hrsg. von H. Irsigler, St. Ottilien 1993, S. 151–169.
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aus dem Hebräischen letztlich alle anderen Sprachen abzuleiten sind und sich von daher eine harmonia linguarum ergibt. Ja, der allergrößte Teil der frühneuzeitlichen Sprachwissenschaft kann geradezu als Projekt verstanden werden, ein für allemal sämtliche empirischen Konsequenzen aus der These von der Ursprünglichkeit des Hebräischen zu ziehen.12 Im einzelnen sind vor dieser Folie folgende Fakten einzuordnen. Die Ursprünge der vergleichenden Sprachforschung finden sich zunächst unmittelbar am Rande hebraistisch-grammatischer Werke, die spätestens seit den Pionierarbeiten Reuchlins in der frühen Neuzeit verfügbar waren.13 Es handelt sich sozusagen um versteckte komparative Keime, die in der Nähe der Sprachtheologie des Hebräischen allmählich zu sprießen begannen. In Sebastian Münsters Dictionarium hebraicum (1523) etwa stand eine kleine Wörterliste, in der in etymologisch-vergleichender Hinsicht deutschen Ausdrücken ihre mutmaßlich hebräischen Wurzeln gegenübergestellt sind.14 Die große Bedeutung Münsters für die Entstehung einer komparativen Linguistik liegt allerdings weniger im ersten rudimentären deutsch-hebräischen Sprachvergleich, sondern in einem anderen Punkt. Im Jahre 1527 publizierte er nämlich zwei linguistische Werke, in denen zum ersten Mal die aramäische Sprache grammatisch und lexikologisch für die europäische Sprachwissenschaft aufgearbeitet wurde.15 In seiner Chaldaica grammatica kam es in diesem Zusammenhang immer wieder zu relativ umfangreichen Passagen, in denen Münster das Aramäische – in seiner Terminologie chaldaica lingua – mit den anderen bekannten Sprachen verglich. Durch Listen, in denen Wörter verschiedener Sprachen gegenübergestellt wurden,16 sollte die Eigenart des Aramäischen in komparativer Form in Buchstaben und – mittelbar – Lauten vor Augen geführt werden.
12 Zur konstitutiven Bedeutung der Ursprünglichkeit des Hebräischen für die Sprachtheorie der frühen Neuzeit vgl. auch W. P. Klein „Die ursprüngliche Einheit der Sprachen in der philologisch-grammatischen Sicht der frühen Neuzeit“, in: The Language of Adam. Die Sprache Adams, hrsg. von A. Coudert, Wiesbaden 1999, S. 25–56. 13 Vgl. immer noch lesenswert O. Kluge, „Die hebräische Sprachwissenschaft in Deutschland im Zeitalter des Humanismus“, in: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland 3 (1931), S. 81–97, 180–193 [= Teil 1], 4 (1932), S. 100–129 [= Teil 2]. 14 S. Münster, Dictionarium hebraicum, Basel 1523, fol. Bb6v f. 15 S. Münster, Chaldaica grammatica, Basel 1527; ders., Dictionarium Chaldaicum, Basel 1527. 16 Vgl. z. B. Münster, Chaldaica grammatica, S. 7 f., 17, im direkten Vergleich mit dem Hebräischen S. 35.
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Aber auch grammatiktheoretisch mußte das Buch jeden linguistisch nur einigermaßen interessierten Leser vor neue Horizonte stellen. Denn Münster stellte eingangs lapidar fest, daß es im Aramäischen lediglich sechs Wortarten (partes orationis) gebe.17 Das stimmte in etwa mit ähnlichen Befunden zum Hebräischen überein,18 stand aber in Spannung zur Schultradition, die vor allem mit dem Namen Donatus verbunden war und seit jeher mit acht Wortarten arbeitete.19 Auch wenn Münster diese Unterschiede noch nicht ausdrücklich thematisierte, so barg sein Werk doch verschiedene Anlässe, die Unterschiede zwischen den Sprachen lexikalisch und grammatisch etwas genauer in den Blick zu nehmen. Daß Sprachvergleich zum Fortschritt in der Sprachwissenschaft führen könnte, ergab sich aus diesen Erwägungen sozusagen implizit. Damit wurde bereits in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts der Horizont der hebraistischen Studien um eine wesentliche Komponente bereichert. Schon einige Jahre zuvor hatte Johann Potken aus Köln ein anderes exotisches Idiom in das linguistische Gesichtsfeld gebracht.20 Er publizierte nämlich 1513 den Psalter in der äthiopischen Fassung und beschrieb bei dieser Gelegenheit bereits auf wenigen Seiten die sprachlichen und orthographischen Charakteristika dieser bisher unbekannten Sprache.21 Das Werk stand überdies in Verbindung mit einer ganz ähn17 „Possunt in Chaldaismo sex assignari possunt orationis partes: videlicet nomen, pronomen, verbum, adverbium, praepositio & coniunctio.“ (Münster, Chaldaica grammatica, S. 36). 18 „Lingua sancta [i. e. hebraica (WPK)] dividitur in tres partes, in operationes seu verba, nomina, et dictiones appensiles. Complectitur autem tertia pars, pronomen, adverbium, praepositionem et coniunctionem: quae alio nomine consignificativa vocantur.“ (S. Münster, Institutiones grammaticae in Hebraeam linguam, Basel 1524, fol. f2v). 19 Die ebenso inspirierende wie blockierende Bedeutung dieser Tradition insbesondere für den empirisch unterfütterten Fortschritt der Sprachwissenschaftgeschichte kann wohl kaum überschätzt werden, vgl. zur Schultradition besonders E. Ising, Die Herausbildung der Grammatik der Volkssprachen in Mittel- und Osteuropa. Studien über den Einfluß der lateinischen Elementargrammatik des Aelius Donatus De octo partibus orationis ars minor. Berlin 1970; im europäischen Kontext G. A. Padley, Grammatical theory in Western Europe 1500–1700. The Latin Tradition, Cambridge u. a. 1976; im Blick auf die Horizonterweiterung durch das Bekanntwerden nicht-indogermanischer Sprachen W. P. Klein, „Die linguistische Erfassung des Hebräischen, Chinesischen und Finnischen am Beginn der Neuzeit. Eine vergleichende Studie zur frühen Rezeption nicht-indogermanischer Sprachen in der traditionellen Grammatik“, in: Historiographia linguistica 28 1/2 (2001), S. 39–64. 20 Vgl. dazu und zum folgenden H. Bobzin, „Miszellen zur Geschichte der Äthiopistik“, in: Festschrift Ewald Wagner zum 65. Geburtstag. Bd. 1: Semitische Studien unter besonderer Berücksichtigung der Südsemitistik, hrsg. von W. Heinrichs u. G. Schoeler, Beirut, Stuttgart 1994, S. 82–101.
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lichen, allerdings polyglotten Psalter-Ausgabe. Agostino Giustiniani hatte 1516 eine entsprechende Edition in hebräischer, griechischer, arabischer und äthiopischer Sprache publiziert.22 In den 30er Jahren des 16. Jahrhunderts wurden in der philologia sacra neben dem Aramäischen und dem Äthiopischen noch weitere Sprachen entdeckt, die mehr oder weniger gut in das vorgegebene Raster der über das Hebräische definierten Sprachtheologie paßten. Der Italiener Teseo Ambrogio führte in einer Fibel unter anderem in die syrische und die armenische Sprache ein.23 Die Publikation syrischer Studien wurde dann wenig später von Johann Albrecht von Widmannstetter fortgesetzt. Er gab das Neue Testament in einer syrischen Fassung heraus und formulierte überdies eine grammatische Einführung in diese Sprache.24 Der Franzose Guillaume Postel kümmerte sich zur selben Zeit in einem vergleichbaren Zusammenhang darum, die arabische Sprache der europäischen Gelehrtenwelt näher zu bringen.25 Ihn motivierte allerdings nicht die zukünftige Lektüre heiliger arabischer Texte, sondern Mission. Er wollte die Araber in ihrer Sprache zum Christentum bekehren, um damit den Lauf der Geschichte zum Abschluß zu bringen. Aber die zeitgenössische Wahrnehmung der Sprachenvielfalt bezog sich, wie bereits angedeutet, nicht nur auf exotische Sprachen wie das Äthiopische, Syrische, Armenische und Arabische. Auch das Deutsche und die slavischen Sprachen gerieten nun zunehmend in den sprachvergleichenden Blick der Gelehrten. Stellvertretend für diese Tendenz sei hier nur das sogenannte „symphonische“ Lexikon des Baseler Lektors Sigismund Gelenius genannt.26 Darin versuchte der Philologe 21 J. Potken, Psalmi et alia cantica Biblica Veteris et Novi Testam. Chaldaice [= Aethiopice] ex editione Joannis Potken cum ejusdem Praefatione Latina. Rom 1513. Es trug nicht gerade zur Übersichtlichkeit in der frühneuzeitlichen Sprachwissenschaft bei, daß Potken – anders als Münster – mit „chaldaica lingua“ nicht die aramäische, sondern die äthiopische Sprache bezeichnete. Das Chaos wurde dadurch komplettiert, daß Bibliander wenig später für die äthiopische Sprache den Ausdruck „aethiopica lingua“ bevorzugte, Postel dagegen von der „indica lingua“ sprach. 22 A. Giustiniano, Psalterium, Hebraeum, graecum, arabicum et chaldaeum: cum tribus latinis interpretationibus et glossis, Genua 1516. 23 T. Ambrogio, Introductio in chaldaicam linguam, syriacam atque armenicam et decem alias linguas characterum differentium alphabeta, Pavia 1539. 24 J. A von Widmannstetter, Liber sacrosancti Evangelii de Jesu Christo Domino et Deo nostro etc. characteribus et lingua syra. Wien 1555; ders., Syriacae linguae (. . .) prima elementa, Wien 1555 (Neuausgabe Antwerpen 1572). 25 G. Postel, Grammatica arabica, Paris o. J. [ca. 1539/1540]. 26 S. Gelenius, Lexicum symphonicum quo quatuor linguarum Europae familiarum, Graecae scilicet, Latinae, Germanicae ac Sclavionicae concordia consonantiaque indi-
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tschechischer Herkunft den Wert der Volkssprachen dadurch zu erhöhen, daß er deren (angebliche oder tatsächliche) Bezüge zum Griechischen und Lateinischen herausstellte. Das wollte er mit acht alphabetischen Listen erreichen, in denen er die lexikalisch-etymologischen Bezüge zwischen dem Griechischen, Lateinischen, Deutschen und Slavischen identifizierte. So gelangte er beispielsweise zu der richtigen Einsicht, daß ausgehend von klangähnlichen Wortreihen wie frater-bruder-bratr oder nox-nacht-nocz konkrete etymologische Verbindungen zwischen den genannten Sprachen gezogen werden konnten. Für seine Zeit ungewöhnlich war freilich, daß Gelenius bei diesem Projekt keinerlei Verbindungen zum Hebräischen andeutete. Vermutlich wird das aber ganz einfach der Tatsache geschuldet sein, daß er diese Sprache nicht (genug) beherrschte und daher wenig hebraistisches Spekulationspotential vorhanden war. Angesichts dieser erheblich gesteigerten Sprachwahrnehmung verwundert es nicht, daß in der Mitte des 16. Jahrhunderts einige Werke entstanden, in denen die Sprachenvielfalt einerseits in zunehmender Abgrenzung von theologischen Fragestellungen behandelt wurde, andererseits aber auch in religiöser Zuspitzung. Die Einführung in die schillernden, vielsprachlichen Formen der Schriftlichkeit von Postel (1538)27 stand zwar noch sehr im Bann der Theologie, ebenso die allgemeinsprachwissenschaftlich formulierte Arbeit zur gemeinsamen ratio aller Sprachen des Züricher Gelehrten Theodor Bibliander (1548).28 Darin zeigte sich allerdings schon das Bedürfnis nach einer umfassenden Überschau zur Sprachenvielfalt, bei der die hergebrachte theologische Einbettung der Sprachforschung eigentlich keine große Rolle mehr spielte. Die Sprachen wurden mehr und mehr zu einem eigenständigen Gegenstand, den man – zumindest vordergründig – ohne theologische Scheuklappen betrachtete. In den Übersichtswerken Postels und Biblianders wurden auch noch weitere entlegene Sprachen zum akademisch einschlägigen Sprachenkanon hinzugefügt. Postel listete beispielsweise in seiner Sammlung
catur, Basel 1537 (auch Basel 1544). Das folgende basiert vor allem auf P. O. Müller, Deutsche Lexikographie des 16. Jahrhunderts. Konzeptionen und Funktionen frühneuzeitlicher Wörterbücher, Tübingen 2001, S. 143–148. 27 G. Postel, Linguarum duodecim differentium alphabetum, introductio, ac legendi modus longe facilimus, Paris 1538. 28 Th. Bibliander, De ratione communi omnium linguarum et literarum commentarius, Zürich 1548.
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der Reihe nach grammatische und soziolinguistische Fakten zu folgenden Sprachen auf: Aramäisch, Punisch, Arabisch, Äthiopisch („Indica“), Georgisch, Griechisch, Illyrisch und Latein. Diese Sprachen sollten in unterschiedlicher Nähe zum Hebräischen stehen. Bibliander handelte zu Beginn seines Werkes folgende Sprachen im einzelnen ab: Hebräisch, Aramäisch, Arabisch, Äthiopisch, Griechisch, Armenisch, Türkisch, Persisch, Ungarisch, Nestorianisch, Georgisch, Samaritanisch, Ukrainisch („rutenicus“), Litauisch, Altpreussisch, „slavica“ (= Tschechisch?), Dalamatinisch, Deutsch (inkl. Gotisch), Etruskisch und Kanaanäisch.29 Insgesamt wimmelte es in diesen beiden Übersichtswerken von etymologischen Dis- und Exkursen, die die verschiedenen Beziehungen zwischen den Sprachen nachweisen sollten. Sie verwiesen letztlich stets auf die Ursprache Hebräisch zurück. Aber nicht nur historisch, sondern auch strukturell-typologisch wurden die bekannten Sprachen nun zunehmend in Beziehung gesetzt. Bibliander beispielsweise formulierte erste Ansätze einer vergleichenden Betrachtung der Wortarten, die nicht mehr rein theoretisch-philosophisch wie in der Antike, sondern mit empirischen Ausblicken auf die gegebene Sprachenvielfalt abgesichert war.30 Am weitesten von der theologischen Basis der Sprachwissenschaft dieser Jahre setzte sich allerdings ein Kollege Biblianders und Bekannter Postels ab, nämlich der hauptsächlich als Naturhistoriker bekannte Konrad Gesner. Er handelte in seinem Mithridates nach einem kürzeren allgemeinsprachwissenschaftlichen Teil der alphabetischen Reihe nach alle damals bekannten Sprachen ab. Freilich wußte er zu vielen Sprachen kaum mehr als die Bezeichnung anzugeben und mußte sich insofern oft mit raren Andeutungen aus antiken Schriften begnügen. Ein regelrechter, umfassender Sprachvergleich war auf dieser unsicheren Basis natürlich noch nicht möglich und Gesner ließ sich auch mangels Material nicht dazu verleiten. Dabei hatte er zu Beginn programmatisch verkündet, daß die theologisch definierte Geschichte der Sprachen und die Ursprünglichkeit des Hebräischen31 genügend bekannt seien und er sich daher in seinem Werk lediglich der derzeit existierenden Sprachenfülle, inklusive etwaiger Regionaldialekte,32 widmen wollte. Auch 29
Bibliander, De ratione communi, S. 4 f. Vgl. Bibliander, De ratione communi, S. 40 f. 31 Vgl. zur Primordialität des Hebräischen für die gesamte Sprachvielfalt C. Gesner, Mithridates. De differentiis linguarum tum veterum tum quae hodie apud diversas nationes in toto orbe terrarum in usu sunt, Zürich 1555, fol. A4v, 47r f. 32 Zu Gesners Begründung einer Dialektologie vgl. Gesner, Mithridates, fol. A3v. 30
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wenn seine Darstellung also nur ganz selten in die grammatische oder lexikologische Tiefe ging, so hatte er doch eine Übersicht formuliert, die für einige Jahrzehnte als erstes Referenzwerk immer wieder herangezogen wurde. Das theologisch-hebraistische Fundament der zeitgenössischen Sprachforschung ging noch für viele Jahrzehnte nie wirklich verloren. Im Laufe des zunehmend durch eschatologische Erwartungen geprägten Zeitgeistes wurden manche sprachtheologisch-philologischen Bemühungen sogar unmittelbar mit Heilserwartungen befrachtet. Ein gutes Beispiel für diese Tendenz ist, neben den Arbeiten Postels und Biblianders, die Publikationstätigkeit von Elias Hutter, der sowohl sprachpädagogisch-kultivierende Arbeiten als auch polyglotte Bibelausgaben erarbeitete. In diesem Zusammenhang entwarf er auch seinen berühmten cubus alphabeticus, eine lexikologisch-kombinatorische Methode, mit der man letztendlich den Wortschatz aller Sprachen auf das Hebräische zurückführen können sollte.33 In anderen Werken allerdings trat, wie bereits angeschnitten, der linguistische Aspekt des Sprachvergleichs immer mehr in den Vordergrund. Hier wurde im Detail versucht, aus dem theologisch als abgesichert geltenden Ursprach-Status des Hebräischen linguistischen Gewinn zu ziehen. Konkret bedeutete dies, daß die hebräische Einheit in der Sprachvielfalt nicht mehr nur einfach konstatiert wurde, sondern umfangreiche etymologisch-vergleichende Darstellungen zwischen einzelnen Sprachen erarbeitet wurden. Darin sollte im lexikalischen Detail gezeigt werden, wie denn nun tatsächlich die hebräischen Wurzeln die Grundbausteine für den Wortschatz aller Sprachen abgeben. In diesem Sinne könnte hier nun ein buntes Potpourri spekulativer Etymologien präsentiert werden. Denn bei der Verfolgung des Ziels, im Wortschatz aller Sprachen hebräische Wurzeln zu identifizieren, hat es die frühneuzeitliche Sprachwissenschaft sehr weit gebracht. Am erfolgreichsten war dabei vermutlich der Marburger Universitätsgelehrte Georg Cruciger. Er gab in seiner Harmonia linguarum (1616) mit der Hilfe ausführlicher ramistischer Diagramme für insgesamt 2 100 hebräische Wurzeln an, wie aus ihnen der griechische, lateinische und
33 Vgl. die näheren Einzelheiten dazu in W. P. Klein, Am Anfang war das Wort. Theorie- und wissenschaftsgeschichtliche Elemente frühneuzeitlichen Sprachbewußtseins, Berlin 1992, S. 281 ff. sowie in den lexikographischen Details jetzt auch Müller, Deutsche Lexikographie des 16. Jahrhunderts, S. 267–277; zum Umfeld allgemein A. Gardt, Geschichte der Sprachwissenschaft in Deutschland, Berlin, New York 1999, Kap. 2. 2.
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deutsche Wortschatz hervorgegangen ist. Daß dieses Werk nicht nur im Sinne materieller Etymologien für die Sprachtheorie der frühen Neuzeit wichtig war, sondern auch methodologisch, soll weiter unten kurz beschrieben werden. Statt dem Mechanismus der spekulativen Etymologien34 nachzugehen, möchte ich hier jedoch auf einen anderen Aspekt hinweisen, der – soweit ich sehe – bisher noch kaum eingehender beschrieben wurde, der aber ebenso gut dazu geeignet ist, das Profil der frühneuzeitlichen Sprachwissenschaft und ihre hebraistische Fundierung zu illustrieren. Denn die damalige Sprachbetrachtung bezog nicht nur ihre sprachgeschichtliche Prämisse aus der theologisch definierten Hebraistik. Selbst in methodologischer Hinsicht nahmen die Grammatiker und Lexikographen an, daß letztlich die Hebraistik das Fundament jeder Sprachbetrachtung abgeben sollte. Die hebräische Sprache stellte nicht nur ein quasi-materielles Wortinventar dar, auf das die Lexik aller Sprachen letztlich zurückgeführt werden sollten. Vielmehr wurzelten, so die Überzeugung vieler Linguisten der frühen Neuzeit, auch die konstitutiven sprachlichen Entwicklungs- und Aufbaumechanismen aller Sprachen in den Vorgaben der hebräischen Grammatik. Mit anderen Worten, die Zukunft der Sprachbeschreibung sollte darin liegen, alle Sprachen genau so darzustellen, wie man es aus der hebraistischen Sprachbetrachtung kannte. Diese Überzeugung und ihre Hintergründe sollen nun im folgenden etwas genauer expliziert werden. Es ist beispielsweise seit langem bekannt, daß eine wesentliche terminologische Innovation der frühneuzeitlichen Sprachwissenschaft in der Aufnahme des hebraistischen Wurzelbegriffs (radix) liegt. Damit stand auch die Scheidung in – meistens dreibuchstabige – Wurzelbuchstaben (literae radicales, auch: literae essentiales, literae substantiales) und „Hilfs“buchstaben (literae serviles; auch: literae accidentales) in Zusammenhang. Am Rande sei hier nur erwähnt, daß die Dreibuchstabigkeit der Wurzeln von den christlichen Hebraisten auch als geheimer Hinweis auf die Wahrheit der christlichen Trinitätslehre begriffen wurde. Jedenfalls lag es auf der Hand, daß derlei graphematische Begrifflichkeiten insbesondere bei der Beschreibung der anderen semitischen Sprachen gute Dienste leisten mußten. Denn schließlich gibt es zwischen diesen Sprachen nicht nur genealogische, sondern auch strukturell-typologische Beziehungen. 34 Zur durchaus nachvollziehbaren, keineswegs nur esoterischen Argumentationsweise bei derartigen Etymologien vgl. Klein, „Die ursprüngliche Einheit der Sprachen“, S. 43 f.
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So wissen wir etwa, daß Conrad Pellikan 1513 nach dem Erhalt von Potkens Psalterium die äthiopische Sprache sofort für sich – wie er in seinem Chronicon schrieb – „ad hebraicam modum“ ordnete und versuchte die literae radicales dieser Sprache von ihren literae serviles zu unterscheiden.35 Der bereits erwähnte Elias Hutter formulierte einige Jahrzehnte später in verschiedenen methodologischen Punkten, daß seine Arbeiten zur Sprachenvielfalt als Anwendung hebraistischer Prinzipien verstanden werden sollten.36 Da mutmaßlich alle Sprachen vom Hebräischen abstammten, sollten letztlich auch alle Sprachen und auch alle Bewegungen zwischen den Sprachen so beschrieben werden, wie man es aus der Deskription des Hebräischen anhand des Wurzelprinzips kannte. Deshalb markierte Hutter in seinen polyglotten Bibeleditionen die mutmaßlichen Wurzel- und Hilfsbuchstaben nicht nur im hebräischen Text durch unterschiedliche Farben, sondern auch im lateinischen und im deutschen. Ersetzt man die farbliche Differenz durch die Differenz von Fett- und Normalschrift, so sieht das Ergebnis einer solchen Disposition wie folgt aus:37 Exaruit herba flos Dei nostri manet in aeternum / Verdorret das Grasz die Blume unsers Gottes bleibet in Ewigkeit. Daß in den ursprünglichen Wurzeln der Sprachen alle wesentlichen Bedeutungen verborgen sein sollten, geriet hier also zu einer Art typographischen Lesehilfe. Modern ausgedrückt, die lexikalischen Morpheme wurden aus dem Text hervorgehoben, indem man sie orthographisch von den gebundenen Morphemen absetzte. Dadurch sollte nicht zuletzt der sprachliche Inhalt schneller und einfacher rezipiert werden können, so jedenfalls die praktisch gewendete Hoffnung, die aus der theologisch legitimierten Würde des Hebräischen zu folgen schien. Die Erfindung Hutters war freilich nur eine recht oberflächliche Übertragung der Prinzipien der hebräischen Grammatik, genauer: der Graphematik, auf andere Sprachen. Mit einiger spekulativer Energie waren hier durchaus noch andere Bewegungen denkbar. Um das näher
35 Nachdem er das Buch Potkens erhalten hatte, verfuhr er laut Eintrag in seinem Chronicon folgendermaßen: „composui ergo statim domi ejus linguae [i. e. Chaldaicae (hier: = äthiopisch) (WPK)] dictionarium, et partem grammatices, satis alludente ea literatura ad hebraicam modum, in literis servilibus et radicalibus.“ (K. Pellikanus, Das Chronikon des Konrad Pellikan, hrsg. von B. Riggenbach, Basel 1877, S. 45, zit. nach Bobzin, „Miszellen zur Geschichte der Äthiopistik“, S. 83). 36 Vgl. Klein, Am Anfang war das Wort, S. 291 f. 37 Das Beispiel entnehme ich M. H. Jellinek, Geschichte der neuhochdeutschen Grammatik von den Anfängen bis auf Adelung. Zweiter Halbband, Heidelberg 1914, S. 134.
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in den Blick nehmen zu können, ist aber vorweg eine kurze Identifikation der hebräischen Vorgaben nötig. Ohne an dieser Stelle auf alle Details eingehen zu können, läßt sich die methodologische Fixierung auf die Prinzipien der hebräischen Grammatik folgendermaßen ausformulieren: Das Wurzelprinzip der hebräischen Grammatik besagt, daß bestimmte Konsonantencluster mit einer festen Grundbedeutung vor allem durch Vokalhinzufügungen, aber auch durch gewisse Konsonantenbewegungen abgewandelt werden können. Durch diese Veränderungen, die mehr oder weniger regelhaft beschreibbar und in einschlägigen Paradigmen lernbar sind, entsteht aus einem Kern von Radikalen der gesamte Wort- und Wortformenschatz des Hebräischen. In dieser Sicht, die auch eine Stütze in der spezifischen Struktur der hebräischen Konsonantenschrift fand, ist das Hebräische sozusagen aufgebaut aus einer endlichen Zahl sprachlicher Atome, aus der mit der Hilfe eines definierten Regelsystems (alle!?) komplexere(n) Formen generiert werden können. Alle sprachliche Kraft ruht sozusagen auf ursprünglicher Einfachheit, den Radikalen. Sprachtheoretisch zugespitzt: Im Kern der Heiligen Sprache regiert ein Mechanismus, durch den sich aus einfachen bedeutungstragenden Elementen alles überhaupt irgendwie Sagbare ergeben können soll oder, in umgekehrter Richtung, mit dem jedwede semantische Verworrenheit am Ende durch Auflösung in die einfachen Elemente geklärt werden könnte. Dieses Wurzelprinzip, dessen Tragweite im Bewußtsein der Zeit kaum überschätzt werden kann, wurde sowohl auf theologischer Basis38 als auch vor philosophisch-kombinatorischen39 wie eben grammatisch-kommunikativen40 Horizonten zu einem Faszinosum, das
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In besonders prägnanter Form verdichtete sich dieses konstitutiv sprachtheoretisch-kosmologische Denken in schöpfungstheologischen Reflexionen, die im Anschluß an das kabbalistische Buch Jezirah formuliert wurden. Bezeichnenderweise war es der Sprachgelehrte Guillaume Postel, der die erste lateinische Druckfassung dieses einschlägigen spätantiken Texts besorgte und so für die christliche frühe Neuzeit verfügbar machte, vgl. G. Postel, Liber jezirah sive formationis mundi, Paris 1552 [Nachdruck mit Kommentar und Einleitung, hrsg. von W. P. Klein, Stuttgart–Bad Cannstatt 1994]. 39 Das Zeittypische des kombinatorischen Denkens kann an den Werken von Persönlichkeiten wie Athanasius Kircher und G. W. Leibniz sicher am besten abgelesen werden; darüber hinaus ist auch auf die frühneuzeitliche Lullismus-Konjunktur hinzuweisen, vgl. zu Kircher v. a. Th. Leinkauf, Mundus combinatus. Studien zur Struktur der barocken Universalwissenschaft am Beispiel Athanasius Kirchers SJ (1602–1680), Berlin 1993, sowie insgesamt W. Schmidt-Biggemann, Topica universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft, Hamburg 1984. 40 Die Wirkungen dieses Denkens gehen im 17. Jahrhundert bis in die Dichtung hinein, vgl. R. Zeller, Spiel und Konversation im Barock. Untersuchungen zu Harsdörf-
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die Reflexion über das Hebräische und seine Bedeutung für die Sprachenvielfalt bis zum 18. Jahrhundert maßgeblich orientieren sollte. Dies war im übrigen auch der sachliche Hintergrund dafür, daß das Hebräische in der Sprachbewertung der Zeit nicht nur mit dem Gütesiegel des hohen Alters (antiquitas) und der großen theologisch definierten Würde (dignitas), sondern auch der facilitas, also der besonderen morphologisch-semantischen Einfachheit, versehen wurde. Die diversen Lobredner des Hebräischen (z. B. Georg Wicelius, Nicolaus Winmann, Heinrich Moller, Elias Schadaeus, Johannes Olearius, Henrich Temmius, Robert Wakefield) und die Lexikographen (z. B. Johann Förster) hoben diese Prädikate der mutmaßlichen Ursprache jedenfalls immer wieder hervor.41 Das Wurzel-Prinzip kann nun laut damaliger Theorie in derselben Art und Weise nicht nur auf das Hebräische angewandt werden, sondern auch auf die Bewegungen, die vom ursprünglichen Hebräischen zum Wortschatz anderer Sprachen führen. Genauso wie in der hebräischen Grammatik der gesamte Wortschatz auf Radikale zurückgeführt werden kann, so sollten sich idealerweise alle Sprachbewegungen seit der babylonischen Sprachenverwirrung durch ein derartiges WurzelPrinzip beschreiben lassen. Der Wittenberger Hebraist Johannes Avenarius führte beispielsweise in seinem hebräischen Wörterbuch von 1568 vierzehn Ableitungsregeln an, wie aus hebräischen Wurzeln griechische, lateinische und deutsche Vokabeln abgeleitet werden können.42 Darunter war beispielsweise der Grundsatz, daß bei der Ableitung fremder Wörter aus dem Hebräischen die Vokale nicht näher beachtet werden müßten, weil sie im Hebräischen den semantischen Kern nicht berühren. Schon diese Regel mußte natürlich die fatale Konsequenz haben, daß bei den verschiedenen etymologischen Ableitungsbemühungen Vokale je nach Gusto und Bedarf eingefügt, weggestrichen oder verändert werden konnten. Andere Regeln von Avenarius öffneten in ähnlicher Art und Weise der geistreich-abseitigen etymologischen Spekulation Tür und Tor. Auf solch einer Basis war es natürlich mehr oder weniger leicht möglich, sehr viele Wörter aller bekannten Sprachen irgendwie auf hebräische Wurzeln zurückzuführen. fers „Gesprächsspielen“, Berlin, New York 1974, Kap. C; zu den Nachwirkungen J. Neubauer, Symbolismus und symbolische Logik. Die Idee der Ars combinatoria in der Entwicklung der modernen Dichtung, München 1978. 41 Zur Bedeutung der Lobreden auf die hebräische Sprache Klein, „Die ursprüngliche Einheit der Sprachen“, S. 37 f. 42 Zu den Regularien vgl. im einzelnen Klein, „Die ursprüngliche Einheit der Sprachen“, S. 45 f.
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Das Funktionsprinzip des Hebräischen lieferte also auch das methodologische Modell für eine Beschreibung der Sprachgeschichte. Man mußte lediglich den Ableitungsraum der hebräischen Radikale nicht nur auf das Hebräische beschränken, sondern auch auf den Wortschatz anderer Sprachen ausdehnen. Daraus ergaben sich im zeitgenössischen Sprachdenken sogar noch weitere Verschärfungen: Wenn das hebräische Wurzelprinzip sowohl im Kern der ersten Sprache verankert ist, als auch die fundamentale Richtschnur für die gesamte Sprachgeschichte abgibt, so sind auch die Beziehungen zwischen allen Sprachen auf dieser Basis in den Blick zu nehmen. Beispielhaft gesagt: Die etymologischen Beziehungen zwischen dem Griechischen und dem Lateinischen oder zwischen dem Deutschen und dem Englischen sind, prinzipiell gesehen, genauso darzustellen, wie die internen Ableitungsvorgänge im Hebräischen. Ja selbst die Derivationsprozesse innerhalb der einzelnen Sprachen müßten im Prinzip dem Wurzelprinzip unterwerfbar sein. Es gibt sozusagen nicht nur phantastische Etymologie zwischen den Sprachen, sondern auch phantastische Ableitungsprozesse innerhalb einer einzigen Sprache. Aus heutiger Sicht liegt der Makel dieses Verfahrens natürlich zunächst ganz einfach darin, daß es das semitische Wurzelprinzip ungerechtfertigterweise auf die teilweise anders strukturierten indogermanischen Sprachen sowie auf Prozesse des Sprachkontakts und der Entlehnung ausdehnte. Um Sinn und Unsinn des letzten Punkts zu illustrieren, möchte ich abschließend einige Beispiele aus dem Umkreis der frühen deutschen Lexikographie und Grammatik anführen.43 Einer der ersten Grammatiker des Deutschen, Laurentius Albertus, hantierte in seiner schon relativ ausgebauten Sprachbeschreibung [Teutsch-Grammatik oder Sprach-Kunst (1573)] mit dem ursprünglich hebraistischen Terminus radix, ohne daraus freilich wirklich irgendein nennenswertes Kapital herausschlagen zu können, anders dagegen der größte deutsche Sprachwissenschaftler des 17. Jahrhunderts, Justus Georg Schottelius. Er prägte in seiner Ausführlichen Arbeit von der Teutschen HaubtSprache (1663) ausdrücklich Termini wie „Stamm=Letteren“ bzw. „Stamm=Buchstaben“ und ordnete sie dem Kern seiner lexikologischen Terminologie zu, nämlich dem Ausdruck „Stamm=Wort“. Damit hatte er die hebraistische Rede von der Wurzel auf die deutsche Sprachbe-
43 Dazu und zum folgenden vgl. Jellinek, Geschichte der neuhochdeutschen Grammatik, S. 135 f.
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schreibung übertragen. Überdies sprach er von „Hauptendungen“ und „zufälligen Endungen“. Die deutschen Stammwörter mußten nun freilich einige klar definierte positive Eigenschaften besitzen, um ein wesentliches Ziel von Schottelius, nämlich die Hebung des Ansehens der deutschen Sprache, zu verwirklichen. Entsprechend verfügte Schottelius, daß im Deutschen alle Stammwörter einsilbig sind. Damit suggerierte er eine mutmaßliche Nähe des Deutschen zum hebräischen Sprachursprung, in dem ja morphologische und semantische Einfachheit mit religiöser, ursprungsmythologischer Bedeutsamkeit zusammenfallen sollten. Freilich hatte er nun mit den Folgelasten dieser hebraistisch inspirierten Form der Sprachaufwertung zu kämpfen, denn Einsilbigkeit läßt sich im Deutschen längst nicht überall als fundamentales Sprachprinzip ausmachen. Selbst hochfrequente Wörter, die zentrale Bedeutungskonzepte versprachlichen, sind nicht immer einsilbig. Deshalb bestimmte Schottelius, daß Wörter wie Adler, Vater, Mutter, Himmel sprachgeschichtlich korrumpierte Formen seien, die ursprünglich einsilbig waren (Arndt, Vaer, Moer, Himl). Bei den Verben sah er infolgedessen den Imperativ als die Grundform an und setzte damit eine linguistische Diskussion in Gang, die noch einige Jahrzehnte dauern sollte. Vermutlich überhaupt nicht bedacht hatte Schottelius eine Folgelast seiner Theorie, die ihn in den religiösen Kämpfen der Zeit in ein gewisses Zwielicht stellte. Da nämlich im Zuge der allmählich voranschreitenden Ausbildung einer deutschen Gemeinsprache apo- und synkopierte Formen den süddeutschen Dialekten und damit dem Katholizismus zugeschlagen wurden, war aus seiner Theorie abzuleiten, daß die reduzierten Formen oberdeutscher Dialekte dem Ursprung mutmaßlich enger verbunden sind als die vollen Formen des Nordens bzw. Ostmitteldeutschen. Auch wenn diese religiös unterfütterte Wertung der deutschen Dialekte in ganzer Schärfe erst im 18. Jahrhundert diskutiert wurde (Stichwort: „lutherisches e“)44, so hat man in diesem Sinne schon vorher besorgte Fragen an den Protestanten Schottelius gerichtet: Sollten laut seiner Theorie die süddeutsch-katholischen Dialekte wegen ihrer reduzierten, tendenziell eher einsilbigen Formen von größerer Güte sein als die Sprachformen, hinter denen die Autorität des Reformators stand? Ludwig von Anhalt und Philipp von Zesen stritten jeden-
44 Vgl. M. Habermann, „Das sogenannte ,Lutherische e‘. Zum Streit um einen armen Buchstaben“, in: Sprachwissenschaft 22/4 (1997), S. 435–477.
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falls in diesem Sinne schon zu Schottelius’ Lebzeichen gegen die Einsilbigkeit der Stammwörter. Auch auf lexikographischem Feld gab es Einflüsse der hebräischen Grammatik, in denen die oben genannten Aspekte wiedergefunden werden können. In der einführenden Methodologie des bereits genannten „harmonischen“ Lexikons von Georg Cruciger hatte sich der Autor der Reihe nach die einzelnen hebräischen Buchstaben vorgenommen. Er wollte dort zeigen, in welche anderen Buchstaben diese Urbausteine jeweils im Hebräischen selbst, im Griechischen, Lateinischen und Deutschen verwandelt werden können. Ziel dieser graphematischen Betrachtung war es, eingangs die prinzipiell möglichen Bewegungen zwischen den Buchstaben der vier Sprachen zu identifizieren, um dadurch die Entwicklung hebräischer Wurzeln besser verfolgen zu können. Auch innerhalb einer Sprache sind aber derart Ableitungsrelationen formulierbar. Demnach sind etwa folgende deutsche Wortreihen im Sinne derivatorischer Beziehungen zu verstehen:45 (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8)
Adel, edel müde, matt Fleiß, Volk, viel Name, nennen klingen, klang, Glocke singen, sang, Sänger, gesungen fahren, fuhr, Fuhrmann, Pferd, fort, fern schießen, Schoß, Schuß, Schütze, Geschütze
Man sieht, denke ich, wie dieses durch die Hebraistik inspirierte Ableitungsdenken auf der einen Seite durchaus richtige interne Strukturen des Deutschen zum Vorschein bringt [z. B. (1), (4), (6), (8)]. Ablautreihen etwa kommen nun im Rahmen des hebräischen Wurzelprinzips zumindest aus der Ferne in den grammatischen Blick (z. B. singen, sang, Sänger, gesungen). Gewisse regelhafte Bewegungen der deutschen Wortbildung konnten so zum ersten Mal einigermaßen bestimmt wahrgenommen werden. Dies war in der grammatischen Tradition, die sich vor allem in der Sicht auf morphosyntaktische Gegebenheiten und Kategorien erschöpfte, so nicht möglich gewesen. Auf der anderen Seite werden aber durch das weitherzige methodologische Verfahren
45 G. Cruciger, Harmonia linguarum quatuor cardinalium, Hebraicae, Graecae, Latinae et Germanicae, Frankfurt a. M. 1616, [S. 21 f].
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auch dort sprachliche Zusammenhänge gestiftet, wo – zumindest nach heutigem Stand der Dinge – keine sind [z. B. Fleiß, Volk, viel, vgl. (2), (5), (7)]. Anders gesagt, die sprachtheoretische Obsession der Zeit, nämlich der Wille, den Wortschatz aller Sprachen auf das Hebräische zurückzuführen, aktualisierte sich im Rahmen der Beschreibung einer einzigen Sprache in dem Bemühen, möglichst viele Wörter auf einigermaßen stabile Konsonantengerüste zurückzuführen. Diese konsonantischen Atome leisteten im Rahmen der Wortbildung einer Sprache genau das, was die hebräischen Wurzeln etymologisch für die Lexika aller Weltsprachen abgeben sollten. In ähnlicher Art und Weise wurden von Cruciger auf der Basis der hebräischen Wurzeln nun die etymologischen Beziehungen zwischen Hebräisch, Griechisch, Latein und Deutsch begriffen. Dazu sei aus seinem umfangreichen Werk nur eine einzige Beispielreihe genannt:46 (9)
→ τραχυς, δρακων → draco, trux, turca / turcicus → Türcke, Trotz / trotzig, drucken / zertrucken / durchtrucken, Drach, dreiste
dqr
Die obigen deutschen Ableitungsreihen [(1)–(8)] und die Bezüge von der hebräischen Wurzel über das Griechische, Lateinische bis hin zum Deutschen (9) waren nach Cruciger, prinzipiell gesehen, ähnlich strukturiert. Formseitig zog sich in ihnen jeweils mit gewissen Modifikationen eine identische Konsonantenkonstellation durch [z. B. in (1) dl, in (5) klg/k, in (6) sng, in (7) fr, in (9) ausgehend vom Hebräischen dkr]. Inhaltsseitig waren die Reihen zumindest durch vage Ähnlichkeiten, im günstigsten Fall durch regelrechte Synonymien, gekennzeichnet. Laut- bzw. Buchstabenstruktur und Semantik sollten sozusagen übereinzelsprachlich-abstrakt in allen Fällen aufeinander bezogen sein und insofern eine geheime Einheit bilden. Was dem ersten Blick möglicherweise entgeht, nämlich die letztendliche Identität von Form- und Inhaltsseite, sollte durch gelehrte linguistisch-philologische Spekulation dem Dunkel der Sprachgeschichte entrissen und darüber wieder ein Eindruck von der vorbabylonisch-paradiesischen Spracheinheit verschafft werden. Aus heutiger Sicht sind dabei vor allem zwei Dinge höchstproblematisch: Zum einen die Tatsache, daß die Silbenstruktur als Ganzes und die Vokale im Detail so gut wie keine Rolle spielten; jederzeit konnte auf diesem Feld praktisch alles nach Bedarf modifiziert werden. Dem entspricht bei der Betrachtung der Konsonanten, daß
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Cruciger, Harmonia linguarum, Etymologie Nr. 363.
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dort immer wieder mit dem Begriff der Metathesis gearbeitet wurde, d. h. der vollständigen Umstellung aller (!) Konsonanten innerhalb der verschiedenen Ableitungen. Im Kern lag dem Verfahren also die in sprachvergleichende Methodologie verwandelte Hoffnung zugrunde, jenseits der irritierenden sprachlichen Vielfalt eine wie auch immer geartete Einheit zu ermitteln. Diese große Idee erfüllte sich natürlich insbesondere im Nachweis vieler etymologischer Beziehungen zwischen dem Griechischen, Lateinischen und Deutschen; schließlich sind diese Sprachen wirklich miteinander verwandt und entsprechende Wortschatzbeziehungen spiegeln den Gang der realen Sprachgeschichte. Im Kern des Projekts allerdings, im Nachweis der tatsächlichen Ursprünglichkeit der hebräischen Wurzeln für alle Sprachen, blieb das Unternehmen größtenteils reine phantastische Spekulation, über die man bereits im 18. Jahrhundert langsam zu lächeln begann. Es sollte allerdings noch etwas dauern, bis sich die Sprachwissenschaft endgültig von einer Idee verabschiedete, die über fast dreihundert Jahre ihre Geschichte maßgeblich geprägt hatte, im Guten wie im Schlechten: „Ich leite nicht alle Sprachen von Einer her; Noah’s Arche ist mir eine verschlossene Burg, und Babylons Schutt bleibt vor mir völlig in seiner Ruhe.“47 Mit diesen Worten führte Johann Christoph Adelung eine Schrift zur Vielfalt der Sprachen ein, die auf der Schwelle zwischen der alten, theologisch basierten und der neuen, strengeren Nachweisen verpflichteten Sprachwissenschaft stand. Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte sich also die Erkenntnis klar und deutlich durchgesetzt, daß die Vielfalt der Sprachen und ihre Verwandtschaften nur in ihnen selbst, nicht aus einem alten Buch erkannt werden können: „Aus der Vergleichung der Sprachen läßt sich ihre Geschichte erschließen, nicht aus dem biblischen Mythos darüber.“48 Aber auch ohne diese Voraussetzung konnten sich im Sprachvergleich interessante Erkenntnisse ergeben. Genau in der Zeit jedenfalls, in der der biblische Kredit in der Sprachwissenschaft endgültig seine Gültigkeit verlor, verbreitete sich die Tatsache, daß das Deutsche, wie andere europäische Idiome auch, mit der alten Sprache der Inder, also dem Sanskrit, verwandt ist. Die Linguistik hatte ein neues faszinierendes Modell entdeckt, das über einige Zeit ihr disziplinäres Profil mit ursprungsmythologischen Konnotationen beherrschen sollte. 47 J. C. Adelung, Mithridates, oder allgemeine Sprachkunde, Berlin 1806, Bd. 1, S. XI, zit. nach Borst, Turmbau von Babel, Bd. III/2, S. 1533. 48 Borst, Turmbau von Babel, Bd. III/2, S. 1534.
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Als kleines Fazit sei hier festgehalten: Im Zuge der Spekulationen über die hebräische Ursprache kam es seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts zunehmend zu einer Wahrnehmung der sprachlichen Vielfalt. Sie geriet mit der Zeit immer empirischer und detailierter, wurde in einigen Punkten bereits in konkreten grammatischen und lexikologischen Details ausformuliert. Von dieser Thematisierung wurden auf der einen Seite schon früh relativ exotische Sprachen erfaßt (z. B. Aramäisch, Äthiopisch, Syrisch, Arabisch, Georgisch), auf der anderen Seite aber auch die vordem gering geschätzten Volkssprachen (z. B. Deutsch). Die Ergebnisse dieser immer noch theologisch basierten Beschäftigung mit der Sprachenvielfalt waren zwiespältig. Man wird sicher sagen können, daß die hebraistische Grundorientierung der frühneuzeitlichen Sprachwissenschaft sehr viel etymologischen Unsinn produziert hat. Dabei sollte man jedoch nicht vergessen, daß in der Hinwendung zu den (vermeintlichen) sprachlichen Fakten auch sehr viel empirisches Material aufgehäuft wurde, das den Grundstock für weitere Entwicklungen gelegt hat. In der Arbeit an den konkreten sprachlichen Details, die nun nicht mehr allein logisch-semantisch anhand der klassischen Sprachen Griechisch und Latein, sondern beispielsweise im Rahmen des hebraistischen Wurzelprinzips erhoben wurden, kann man jedenfalls einen durchaus bedeutenden Beitrag der frühen Neuzeit zur Fortschrittsgeschichte der Sprachwissenschaft sehen. Er verkörpert sich insbesondere in der Einsicht, daß der theoretisch reflektierte Sprachvergleich eine der wesentlichen Voraussetzungen für eine linguistische Horizonterweiterung darstellt. Es kommen nun, allerdings noch unscharf und ohne rechte begriffliche Analyse, sprachliche Eigenheiten in neuen Sprachen in den Blick, die in den Termini der traditionellen griechisch-lateinischen Grammatik nicht formulierbar waren. Bei dieser Blickerweiterung hat die Hebraistik, zumindest untergründig, eine bedeutende Rolle gespielt.
CHRISTLICHE HEBRAISTIK AUS JÜDISCHEN QUELLEN. BEOBACHTUNGEN ZU DEN ANFÄNGEN EINER CHRISTLICHEN HEBRAISTIK Thomas Willi
1. Reuchlin – ein Fehlstart? Mit Jerome Friedman und seinem provozierendes Buch “The Most Ancient Testimony. Sixteenth Century Christian-Hebraica in the Age of Renaissance Nostalgia”1 muß man sich darüber wundern, wie sehr in der Sekundärliteratur ein “neglect of the Jews”2 vorherrscht. So gilt etwa der Kampf um das jüdische Schrifttum, den Reuchlin seit seinem Gutachten, das er am 6. Oktober 1510 zuhanden des Kaisers, Maximilians I. (1493–1519), abgeliefert hatte, bis zu seinem Tod mit den Kölner Dominikanern auszufechten hatte, als rein akademische Kontroverse, als Manifest für die Freiheit des Geistes und der Meinungsäußerung. Wie weit war es Reuchlin selber bewußt, daß es hier um lebendige jüdische Menschen ging und um das, was ihnen heilig und unentbehrlich war, daß damit die jüdische Berufung, die jüdische Sendung, das jüdische Zeugnis auf dem Spiel stand? Oder anders gefragt: Welches waren die Motive und die Bedingungen, die ihn zum Wegbereiter der christlichen Hebraistik Deutschlands auf der Schwelle zum 16. Jahrhundert werden ließen?3 Bereits 1478 notiert der eben 23jährige Reuchlin in seinem Vocabularius breviloquus, das Alte Testament sei nichts anderes als die Hebräische Bibel: Nota quod ubicumque in libris veteris testamenti mendositas reperitur, currendum est ad volumina hebraeorum, quod vetus testamentum primo in lingua hebraea scriptum est.4 1 J. Friedman, The Most Ancient Testimony. Sixteenth Century Christian-Hebraica in the Age of Renaissance Nostalgia, Athens (Ohio) 1983. 2 Friedman, The Most Ancient Testimony, S. 2. 3 Zum Urteil des Erasmus, Reuchlin habe als „Erster (die Hebräischstudien) . . . in Deutschland eingeführt“, siehe unten S. 35 mit Anm. 40. 4 J. Reuchlin, Vocabularius breviloquus, Basileae 1486, s. v. „Asteriscus“.
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Das Frühwerk De Verbo mirifico von 1494 verdient es, einmal nicht nur von hinten, aus seinen Voraussetzungen als humanistische Auseinandersetzung mit scholastischen Positionen interpretiert zu werden, sondern von vorne, von seiner Wirkung und Bedeutung auf Reuchlins weiteres Lebenswerk her, gelesen zu werden. Nach neueren Untersuchungen5 sucht das Werk diffusen und abwegigen mittelalterlichen Ausprägungen des Aberglaubens durch eine Art christlicher „Sprachmystik oder -magie“ zu begegnen. Dabei kristallisieren sich folgende Beobachtungen heraus: a) Reuchlin hat in De verbo mirifico den sprachphilosophisch-theologischen Grund für seine beiden großen Untersuchungen zur Grammatik und zur Aussprachetradition des Hebräischen in De Rudimentis hebraicis (1506) und in De accentibus et orthographia linguae hebraicae (1518) gelegt. b) Reuchlin hat hier den allerersten Schritt auf einem Weg getan, der zwei Jahrzehnte später zu dem großartigen Überblick über die jüdische Literatur nach ihren Gattungen und zu der großen Einleitung in die Schrift- und Gedankenwelt der Kabbala führte. Den ersteren hat er für Maximilian I. in seinem Ratschlag ob man den Juden alle ire bücher nemmen, abthun unnd verbrennen soll vom 6. Oktober 1510 und für eine breite Öffentlichkeit im Augenspigel 6 von 1511 in Abschnitt II, ergänzt durch die Abschnitte III–V, geliefert; die letztere in De arte cabbalistica 1518 wesentlich aufgrund des Codex Halberstam 444 entworfen. Der Überblick ist nichts Geringeres als eine jüdische Literaturgeschichte in nuce. Reuchlins Hebräischlehrer Bei wem hat Reuchlin Hebräisch gelernt? Abgesehen von Wessel Gansfort, der Reuchlins erste Schritte leitete, waren es mindestens drei Juden, die seine Lehrer im Hebräischen und in der jüdischen Tradition waren. Er selbst erwähnt allerdings nur zwei von ihnen.
5 C. Zika, “Reuchlin’s De Verbo Mirifico and the Magic Debate of the Late Fifteenth Century”, in: Journal ot the Warburg and Courtauld Institutes 39 (1976) S. 104– 138. Deshalb wird man K. E. Grözinger, „Reuchlin und die Kabbala“, in: Reuchlin und die Juden (Pforzheimer Reuchlinschriften Bd. 3), hrsg. von A. Herzig, J. H. Schoeps u. S. Rohde, (1993), S. 179 nicht vorbehaltlos zustimmen, wenn er „bei Reuchlin“ ein „fast völliges Fehlen“ von „Theologie“ feststellt. 6 Der seltsame Titel stellt nichts anderes dar als die alte Bezeichnung für „Brille“ – ein Instrument zu schärferem Hinsehen.
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Seinen ersten Lehrer hat Reuchlin niemals genannt. Trotzdem ist sein Name durch eine Notiz bekannt, die sich in einer Münchener Handschrift des Lexikons von Menahem ben Saruq, dem Mahberet ˙ Menahem7, findet: Calman Judæus, Elementarius præceptor – Joannis Reuchlin phorcensis In alphabetho hebraico hæc vocabula scripsit eidem suo discipulo mercede conductus. Anno 1486.
Signifikanterweise übergeht Reuchlin die gewiß bescheidenen Verdienste Kalmans mit Schweigen. In seinem Exemplar der Hebräischgrammatik des Mose Qimchi, des Mahalakh Shevile ha-Da’at, die in zweiter (dritter) Auflage in Hagenau 1519 gedruckt worden war (als erste Ausgabe außerhalb Italiens)8, notierte Reuchlin eigenhändig: Primus fuit Jacobus Jehiel Loans Mantuanus seu Ferraricus An.1492 VII Kalend. Octob. [= 25. September 1492]. Alter Abdias Cæsinatensis Italus filius Jacobi Sphurno prid. Idus Junias Anno Domini 1498 [= 12. Juni 1498]. Primus in Lynz in curia imperatoris, Secundus Romæ in curia Papæ Alexandri VI.9
Dabei ist der dritte, Obadja b. Jacob Sforno, dem Reuchlin anläßlich seiner dritten und letzten Italienreise begegnete, ohne Zweifel der Wichtigste für den künftigen Verfasser der De rudimentis hebraicis libri III von 1506. Die Begegnung mit Obadja b. Jakob Sforno aus Cesena fällt in die Zeit der dritten römischen Reise. Von Mal zu Mal hatte sich das Interesse Reuchlins am Hebräischen verstärkt. War in dieser Hinsicht beim ersten Aufenthalt die Audienz bei Sixtus IV., beim zweiten die Begegnung mit Giovanni Pico della Mirandola von Bedeutung, so nun der Unterricht bei dem klassisch gebildeten Arzt und Philosophen, vermittelt durch Kardinal Domenico Grimani. Reuchlin erwähnt Sforno später kaum mehr, außer im Zusammenhang mit den Opfern, besonders auch finanzieller Art, die er dem Hebräischen gebracht habe. Doch anders als bei Kalman und Loans können wir uns ein selbständiges Bild von der Persönlichkeit und der Haltung Sfornos machen. 7
Cod. hebr. Monacensis 425 p. 136a–167b. Reuchlin benutzte exakt diese Grammatik als er gegen Ende seines Lebens in Ingolstadt Hebräisch unterrichtete. 9 Vgl. J. Reuchlin, De rudimentis hebraicis libri III, Pforzheim 1506, S. 3 und Reuchlins Brief an Loans, Stuttgart, 1. Nov. 1500, in: Johannes Reuchlin. Briefwechsel, Bd. 1: 1477–1505, hrsg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften in Zusammenarbeit mit der Stadt Pforzheim, bearb. von M. Dall’Asta, G. Dörner u. S. Rhein, Stuttgart–Bad Cannstadt 1999, Nr. 105, S. 338 f. 8
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In Sforno mußte Reuchlin seinen Baruchias verwirklicht sehen. Eine solche Gestalt war um die Jahrhundertwende nur in Italien denkbar. Obadja Sforno ist um 1470 in Cesena geboren. In Rom genoß er seine umfassende Ausbildung. Er widmete sich der Philosophie, Mathematik, Philologie; seine medizinischen Fähigkeiten verschafften ihm den Ehrentitel einer „Kapazität der Ärzte“ (’abbir ha-rofe’im). Er war Mitglied der von der römischen Gemeinde delegierten Kommission zur Untersuchung der messianischen Mission von David Reubeni. Hier in Rom genoß Reuchlin 1498–99 seinen Unterricht. Die letzte Station im Leben Sfornos war Bologna, wo bereits sein Bruder Hananel niedergelassen war. Hier gründete er ein Lehrhaus und leitete es bis zu seinem Tode 1550; er beteiligte sich an der neueingerichteten Druckerei und wurde über die Grenzen hinaus in messianischen Tönen gepriesen als „der große Mann, der Erleuchtete, die glanzvolle Leuchte“. Es mag wohl mit seiner großen Vorsicht, aus der Tora weder weltliche Ehre noch materielle Vorteile zu ziehen, zusammenhängen, daß Sforno kein offizielles Rabbinat bekleidete. Dennoch weisen ihn seine Deraschot und Responsen als Prediger und Richter von Gewicht aus. Besonders angenehm berührt die Ausgewogenheit seiner praktischen und theoretischen Tätigkeit. Im Bereich der weltlichen Wissenschaft blieb er mit Ausnahme der Medizin freilich zwangsläufig auf das Literarische beschränkt. 1520–25 übersetzte er das klassische mathematische Werk des Alexandriners Euklid, die „8 Elemente“, aus dem Arabischen ins Hebräische. Das 1537 hebräisch geschriebene, von Sforno selbst ins Lateinische übersetzte philosophische Werk „Licht der Völker“ ist eine vornehme Polemik gegen Aristoteles. Schon sein musivisch an Jesaja 51,4 angelehnter Titel zeigt, daß auch die profanen Studien, mochten sie noch so weitgestreut sein, offen oder verborgen von dem einen Mittelpunkt dieses Denkens lebten. Es ging Sforno immer um Israel und seine Stellung in dieser Welt. Er hat der Bibel mehrere auslegede Schriften gewidmet, so den großen Pentateuchkommentar, Erläuterungen zu Jona, Habakuk, Sacharja, Hiob, dem Hohenlied, den Psalmen, Prediger. Das Hebräische, das er folgerichtig „über die Sprache irgendeines Volkes“ stellte, behandelt er, vom Fürsten Tossignano dazu aufgefordert, in einer eigenen grammatischen Darstellung. Das Werk, in dem Sforno seine Gedanken und sein Bekenntnis zum Judentum am klarsten zum Ausdruck brachte, ist sein Kommentar zum Mischnatraktat „Sprüche der Väter“. Er ist noch in Rom verfaßt, gedruckt aber erst in Bologna 154010 im Anhang zu dem berühmten,
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von Jochanan Treves unter der programmatischen Bezeichnung Awischuna, „Röstährenspitzen“, kommentierten zweibändigen Machsor des römischen Ritus.11 Bei all diesen Vorläufen und Voraussetzungen waren die von der gelehrten Welt mit Spannung erwarteten De rudimentis hebraicis libri III, als sie am 7. März 1506 bei Thomas Anshelm in Pforzheim12 erschienen, in doppelter Hinsicht eine Enttäuschung. Zwar handelt es sich bei den beiden, von 1–620 durchpaginierten Bänden schon typographisch um eine Kostbarkeit. Ein näherer Blick in das Werk lehrt freilich bald, daß es sich dabei im Grunde um ein in einen knappen grammatischen Abriß eingebettetes Wörterbuch handelt: De elementis De literis De vocibus Epilogus de elementis
5 f. 6–9 9 f. 10 f.
De syllabis De proferendo vel non proferendo
11–14 15–18
[De dictione] De doctrina emperica Ïtk Dictionarium: ba – w al – yw Ït
19–31 32–259 260–545
De oratione et eius partibus De nomine et eius generibus De verbo De consignificativo
552–584 552–584 585–615 615–620
10 Nachdruck mit Einleitung von J. Walk unter dem Titel Massekhet Avot: Capita Patrum, with Commentaries of Rabbi Moshe ben Maimon and Rabbi Ovadja Sforno reprinted from Mahsor Bologna 1540 Folio, Jerusalem 1972. 11 In der Judaica-Sammlung des Gustaf-Dalman-Instituts der Theologischen Fakultät der Universität Greifswald existiert eins der wenigen noch vorhandenen Exemplare, das Fol. I.2a die volle Überschrift über das Widmungsgedicht „Dies ist der Name des Verfassers etc.“ enthält: „Dies ist der Name des Verfassers des Machzor-Kommentars . . . R. Jochanan . . . b. Josef, des Mannes von Treves, z. l. . . .“. Ein weiteres befindet sich laut dem in der vorigen Anmerkung erwähnten Nachdruck in der Schocken Library in Jerusalem. Daher ist die Bemerkung in der Encyclopedia Judaica s. v. „Treves, Johanan ben Josef“ Sp. 1378, der Machzor sei „published anonymously“, höchstens für einen Teil der Auflage zutreffend. 12 Zur 2. Auflage, die Sebastian Münster bei Henric Petri in Basel 1537 besorgte, s. u. S. 30.
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Dabei entsprechen der Aufbau und seine einzelnen Teile bis hin zu den (in der obigen Aufstellung unterstrichenen) Bezeichnungen dem im Mittelalter und noch zu Reuchlins Zeiten wichtigsten Handbuch der lateinischen Sprache, den Institutiones grammaticae des im 6. Jahrhundert n. Chr. in Konstantinopel tätigen antiken Grammatikers Priscianus.13 Der Inhalt dagegen stammt in den grammatischen Partien Ï Ólhm sporadisch aus überwiegend aus Mose Qimchis tyrh ilibw David Qimchis lulkm, während das lexikalische Corpus ganz auf Ïruw Ïh rps beruht, das Reuchlin in der Ausgabe David Qimchis Õiw Neapel 1490 besaß. Diese Einschätzung von De rudimentis hebraicis libri III wird übrigens von interessierten und kundigen Zeitgenossen geteilt. In seinem Chronikon bezeichnet Pellican Reuchlins entstehendes Werk schlicht als „dictionarium“, dem noch eine Grammatik beigegeben werden solle: 1501 „expectabam autem eam grammaticam, quam Capnion [sc. Reuchlin] dictionario promiserat addendam, quod autem tardius est factum, nempe 1506“.14 Und auch Pellicans Schüler und Mitarbeiter Sebastian Münster unterstreicht den Lexikonteil der Rudimenta hebraica15 – wie er drei Jahrzehnte nach der ersten Auflage, 1537 in Basel mit Henric Petri eine zweite Ausgabe herausgab, nannte er sie in der lateinischen Titelei Lexicon Hebraicum, & in Hebraeorum Grammaticen commentarij! Es sollte auch die einzige weitere Auflage bleiben. Die Leistung des Reuchlinschen „Elementarwerkes“ – so etwa wäre der Titelbegriff Rudimenta wiederzugeben – besteht wesentlich im Transfer der genannten jüdischen Grammatiken, des lulkm rps von David Qimchi Ólhm von Davids älte(1160–1235), sowie vor allem des tydh ilibw Ï rem Bruder Mose Qimchi (gest. 1190). Reuchlin selber hat seine Hauptquelle, den Ólhm, in einer hebräisch-deutschen Handschrift verwertet.16 Den hebraistischen Wissensstand, wie er ihm im italienischen Humanismus, vorab bei Obadja Sforno, begegnet war, erschloß er der transalpinen Gelehrtenwelt dadurch, daß er die hebräische Grammatik
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Vgl. H. Greive, „Die hebräische Grammatik Johannes Reuchlins De rudimentis hebraicis“, in: Zeitschrift für Alttestamentliche Wissenschaft 90 (1978), S. 395–409, hier S. 398. 14 K. Pellican, Chronikon, hrsg. von B. Riggenbach, Basel 1877, S. 23. 15 „Non solum grammaticas praeceptiones . . ., sed significantias dictionum . . . explicat“, wie Münster im Vorwort zur ersten Ausgabe seines eigenen Dictionarium hebraicum, Basel 1523, betont, vgl. J. u. B. Prijs, Die Basler hebräischen Drucke, Olten, Freiburg i. B. 1964, S. 489. 16 Vgl. Greive, „Die hebräische Grammatik Johannes Reuchlins“, S. 404.
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in die vom Schulbetrieb favorisierte Systematik des lateinischen spätantiken Grammatikers Priscian umgoß.17 An der Stelle der Behandlung der dictio fügte er das umfangreiche – 513 von insgesamt 621 Seiten! – hebräische Dictionarium ein, zu dem Pellican einiges beigetragen hatte. Über Ziel und Aufbau der Rudimenta Hebraica hat schon Ludwig Geiger angemerkt, sie würden sich „für junge Leute . . . nicht als Nachschlagebuch“ eignen.18 Reuchlin selbst, als er am Ende seines Lebens sowohl in Ingolstadt – seit November 1519 bis 1521 – wie dann ganz kurz noch in Tübingen – 1521 –, mit großem Zulauf Hebräisch unterrichtete, legte den Kursen nicht sein eigenes Werk, das er eben als Rudimenta, d. h. als elementare Einführung verstanden wissen wollte, 19 Ï Ólhm zugrunde! sondern Mose Qimchis tydh ilibw So verwundert es denn nicht, daß die Rudimenta kein Verkaufsschlager wurden und sozusagen „keine Wirkungsgeschichte“ gehabt haben.20
2. Basel als Zentrum des Hebräischdrucks und der Hebraistik – und der Mann dahinter Der Start der christlichen Hebraistik in den Rudimenta Hebraica erweist sich also als Sackgasse. Die Linie ging anderswo weiter. Am 1. Mai 2003 war es exakt ein halbes Jahrtausend, seit der aus dem elsässischen Rufach stammende Franziskaner Conrad Pellican (Konrad Kürschner, 1478–1556) den zu seinem eigenen Gebrauch verfertigten Abriß De modo legendi et intelligendi Hebræum aus dem Basler Barfüßerkloster an Jacob Gallus in Straßburg schickte, wo er am 25. Februar 1504 in dem bei Johann Grüninger erschienenen Nach17 Greive, „Die hebräische Grammatik Johannes Reuchlins“, S. 397. Zur Geltung von (Donat und) Priscian vgl. den interessanten Vergleich, den Sebastian Münster im Vorwort zu seiner Ausgabe des Levita’schen ruxbh rps in seiner Grammatica Hebraica absolutissima, Basel 1525, fol. a2 zieht: auf dem Feld der hebräischen Grammatik nähmen David und Mose Qimchi den Platz ein, den im Latein Donat und Priscian innehätten. 18 L. Geiger, Johann Reuchlin: Sein Leben und seine Werke, Leipzig 1871 (Repr. Nieuwkoop 1964), S. 126. 19 Vgl. Geiger, Reuchlin, S. 111 ff. und Greive, „Die hebräische Grammatik Johannes Reuchlins“, S. 406. 20 Auch nicht in der zweiten, von Sebastian Münster 1537 in Basel besorgten Auflage, vgl. Greive, „Die hebräische Grammatik Johannes Reuchlins“, S. 409. Zum enttäuschenden Absatz der Rudimenta hebraica vgl. H. Widmann, „Zu Reuchlins Rudimenta Hebraica“, in: Festschrift für Josef Benzing, hrsg. von E. Geck u. G. Pressler, Wiesbaden 1964, S. 492–498.
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druck der enzyklopädischen Margarita philosophica des Gregor Reisch an die Öffentlichkeit gelangte – sehr gegen den Willen des Verfassers. Pellican hatte, wie eben angedeutet, bereits beim Zustandekommen der Rudimenta Hebraica mitgewirkt, und zwar in einem Ausmaß, das seit der verdienten Reuchlinbiographie von Ludwig Geiger 21 massiv unterschätzt worden ist. Geiger selber hat sein Urteil später korrigiert;22 die herrschende Meinung ist bei dem einmal gefaßten Vorurteil geblieben. Das hängt mit der echt franziskanischen Demut Pellicans zusammen, der Zeit seines Lebens seine eigenen Ergebnisse selbstlos anderen zugute kommen, ja sogar durch sie publizieren ließ – am augenfälligsten im Falle seines nicht nur gelehrten, sondern ebenso umtriebigen und geschäftstüchtigen Schülers Sebastian Münster. Dieser Zug der Selbstbescheidung, „since´rite´ contre honneur“ (Pascal), tritt schon früh zutage. Am Anfang des Studiums der hebräischen Sprache und der Beschäftigung mit den Dokumenten der jüdischen Tradition, denen sich Pellican bis zum Ende seines langen Lebens mit unerhörtem Fleiß, ja zuweilen Verbissenheit, hingab, steht ein bezeichnender Vorfall. In der für seinen Sohn Samuel und seine Neffen verfaßten Chronik seines Lebens schreibt Pellican anläßlich der Begegnung mit seinem judenchristlichen Ordensbruder Paul Pfedersheimer: Eidem confabulatus per iter, significabam habuisse me a puero et a triviali schola affectum et desiderium sciendi Hebræorum linguam. Cum enim puer, circiter undecim annorum vel minus, inter pueros audissem, quendam Doctorem theologum disputantem cum Judæo de christiana fide, confusum fuisse respondendo, non solum a Judæo, sed etiam a Judæa. Id ego audiens, puer, vehementer obstupui et indolui, non sine quodam conscientiæ scandalo, quod fides nostra christiana non solidioribus argumentis fulciretur, quam quae possent a Iudæis contra doctos Theologos convelli.23
Mit einem verletzten Gewissen hatte es angefangen. Der Weg Pellicans paßt völlig ins Bild der Reformation als der Befreiung des Gewissens.24 21
Geiger, Reuchlin, (wie Anm. 18). L. Geiger, „Zur Geschichte des Studiums der hebräischen Sprache in Deutschland“, in: Jahrbücher für deutsche Theologie 21 (1876), S. 203–212. 23 Pellican, Chronikon, S. 14 f. Ein etwas ausführlicherer Parallelbericht findet sich bei Johannes Fabritius, Historica oratio, qua et vita reverendi in Christo patris Conradi Pellicani et brevis temporis illius res continentur, Marburg 1608, zit. bei Riggenbach (Ausgabe von Pellican, Chronikon), S. 15, Anm. 2. 24 Daß diese Seite der Reformation von Pellican stark empfunden wurde, beweist das Chronikon (S. 43), wo im Zusammenhang mit dem nächtlichen Gespräch mit Capito 22
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Der Anstoß dazu kam bei Pellican freilich von Seiten der Juden und ihrer Überlieferung, an der sich in Einzelnen wie Reuchlin oder Pellican die Erneuerung und Vertiefung der kirchlichen Tradition anbahnte.25 „Diese ganze Mittheilung ist merkwürdig genug . . . Mir ist sonst kein Beispiel bekannt, daß ein Christ dem jüdischen Gegner den Sieg zuschrieb“ bemerkt Ludwig Geiger 26 zu dieser Episode aus Pellicans Schulzeit. Sie wirft in mancher Hinsicht ein Schlaglicht auf den von Pellican betretenen Weg. Er sollte sich als unvergleichlich viel fruchtbarer und wirkkräftiger erweisen als die von Reuchlin gelegten Anfänge. Die Hebräische Sprache ist und bleibt „Hebræorum lingua“; sie läßt sich vom gegenwärtigen und lebendigen jüdischen Volk nicht ablösen und zum Gegenstand einer abstrakten und verobjektivierten Sprachwissenschaft machen – insofern liegt die Wiederentdeckung der hebräischen Sprache auf einer anderen Ebene als die Wiederentdekkung des klassischen Lateins, läßt sich aber mit der Situation im Falle des Griechischen vergleichen. Die Weise, in der sich Pellican das Hebräische aneignete,27 wirft bereits ein Licht auf die Bedeutung, die es für die werdende Reformation erlangen sollte. Pellican hatte Paul Pfedersheimer, mit dem er 1499 zwischen Bad Dürkheim (Pfalz) und Worms ein Stück gemeinsamen Weges machte, sein Erlebnis als Schulknabe und den daraus erwachten Wunsch, Hebräisch zu lernen, geschildert. Daraufhin stellte ihm Pfedersheimer einen Codex der prophetae posteriores aus der Bibliothek seines Vaters in Aussicht, den er ihm – eine nicht geringe körperliche Leistung – von Mainz nach Pforzheim auf der Schulter trug und überbrachte. Aus dem Vergleich mit den in Petrus Nigris „Stella Messiae“ enthaltenen transkribierten Partien aus Jesaja erschloß sich Pellican das Hebräische, als ob es sich um eine tote und verschollene Sprache handelte.28 Erst Mitte Juli des folgenden Jahres konnte er
über die Messe von „conscientia, quam Papa tenebat captam“ die Rede ist, sowie in dem im Chronikon wiedergegebenen, Pellicans reformatorische Haltung erklärenden Brief an den Mainzer Guardian Alexander (Aegidius) Müller: „qua fiducia integrae famae et syncerae conscientiae vixerim“ (S. 83). 25 Wie sehr Pellican diesen Anspruch empfunden hat, zeigt seine bei C. S. Zürcher, Konrad Pellikans Wirken in Zürich 1526–1556, Zürich 1975, S. 204 f., angeführte Äußerung im ersten Antwortbrief auf die Expostulatio des Erasmus im Oktober 1525: „Wie überzeugt (jemand, der die herkömmliche Abendmahlsauffassung verteidigt,) . . . die zu taufenden jüdischen Katechumenen . . ., dass sie solches glauben?“ 26 Geiger, „Geschichte des Studiums der hebräischen Sprache“, S. 203, Anm. 1. 27 Geiger, „Geschichte des Studiums der hebräischen Sprache“, S. 203–212, nach Pellican, Chronikon, S. 14–23.
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Reuchlin bei dessen Besuch in Tübingen seine Probleme mit den hebräischen Verbformen unterbreiten. Reuchlin belehrte ihn lächelnd, die Nennform des Verbs sei die 3. m. sg., nicht die 1. comm. sg. „Hoc unum contigit, me hominis oraculo didicisse, caetera omnia muto magistro et collatione interpretum perpetuoque labore sum assecutus.“29 Im August desselben Jahres 1500 kamen ihm bei dem gelehrten Priester Johannes Böhm (Beheim) in Ulm zwei grammatische Fragmente zu Gesicht,30 die sich dieser noch vor der im Vorjahr erfolgten Vertreibung der Juden aus Ulm von einem armen Juden hatte abschreiben und von einem ungebildeten Juden ins Deutsche hatte übersetzen lassen. Pellican durfte sich diese Fragmente abschreiben. Noch im gleichen Jahr brachte ein Tübinger Buchhändler31 „nutu et providentia Dei gratiosa“, wie Pellican schreibt,32 eine „in Pesaro“ – gemeint ist wohl die 1494 in Brescia erschienene Bibel33 – gedruckte ganze hebräische Bibel nach Hause, die Pellican zur Verfügung gestellt wurde. „Statim ab exordio Biblia tota legi, et dictionarium mihi paravi hebraicum.“34 Von diesen Arbeiten ließ er auch Reuchlin für seine geplante Grammatik profitieren. Im Blick auf die im Entstehen begriffenen Rudimenta schrieb Pellican für den Lexikonteil die Buchstaben A–H ins reine. Wieweit Reuchlin auch für den grammatischen Abriß von Pellicans Vorarbeiten profitierte, läßt der jeden Selbstruhms völlig bare Text des Chronikons nicht erkennen. Reuchlin hatte Pellican eine deutsche Übersetzung der Grammatik des Mose Qimchi zur Verfügung gestellt, die aus der Hand desselben Übersetzers stammte, der auch Böhm seine Fragmente übertragen hatte.35 Darauf notiert Pellican: „grammaticam R. Mosse rescripsi et ad festum Thomae apostoli accepta reportavi“.36 Das alles 28 In Analogie zu seinem eigenen Werdegang faßte Pellican die Geschichte der hebräischen Sprache auf, vgl. sein Vorwort zu Proverbia Salomonis, Basel 1520, fol. a6 und unten S. 148 f. 29 Pellican, Chronikon, S. 19. 30 Das erste beginnend mit „wduqh ñuwl“, das zweite mit „gtmh ryw“. 31 Geiger, „Geschichte des Studiums der hebräischen Sprache“, S. 209, Anm. 9: „Wahrscheinlich Fr. Peypus.“ 32 Pellican, Chronikon, S. 20. 33 Prijs, Die Basler hebräischen Drucke, S. 10. 34 Ebd. 35 Nur als Vermutung sei hier geäußert, daß es derselbe Jude Kalman sein könnte, der als Lehrer Reuchlins bezeugt ist durch den Eintrag in das Münchener Exemplar (Chm 425) des Lexikons von Menachem von Saruq, fol. 135a, zit. bei B. Walde, Christliche Hebraisten Deutschlands am Ausgang des Mittelalters, Münster 1916, S. 36: „Calman Judeus, Elementarius preceptor – Ioannis Reuchlin phorcensis In alphabetho hebraico hec Vocabula scripsit eidem suo discipulo mercede conductus. Anno 1486.“ 36 Pellican, Chronikon, S. 22 zum Jahr 1501.
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bezieht sich ohne Zweifel auf das von Reuchlin als grammatische Hauptquelle benutzte Werk tydh ilibw Ólhm von Mose Qimchi (gest. 1190). Auf diesen unermüdlichen Vorarbeiten beruht die erste gedruckte Grammatik eines Christen nichtjüdischer Abstammung, Pellicans De modo legendi et intelligendi Hebræum.37 Daß die Palme Pellican und nicht Reuchlin zusteht,38 haben die Zeitgenossen besser gewußt als die Nachgeborenen. Sebastian Münster bezeichnet seinen Lehrer in der Vorrede zur eigenen ersten Publikation im Bereich der hebräischen Grammatik, der Epitome Hebraicae Grammaticae, unumwunden als „Primus, quod sciam, in Germania legendi modum et intelligendi [Hebraeum] monstravit“.39 Dem widerspricht auch nicht das oft kolportierte Urteil des Erasmus, im Gegenteil! Wörtlich lautet es: „Constat Capnionem principem fuisse literaturae Hebraicae apud Germanos instaurare“ – das ist sehr klug und sehr treffend ausgedrückt, wie es der Anlaß verlangt. Denn Erasmus kontert hier den Vorwurf einer Geringschätzung Reuchlins, die Ulrich von Hutten aus einer beiläufigen brieflichen Bemerkung des Erasmus, „Capitonem in literis Hebraicis doctiorem Reuchlino“, glaubte deduzieren zu müssen.40 Tatsächlich
37 K. Pellican, „De modo legendi et intelligendi Hebraeum“, in: Gregor Reisch, Margarita philosophica, Strassburg 1504, neu hrsg. von E. Nestle, Tübingen 1877. 38 Ganz anders liegt der Fall bei dem von Nicolaus Marschalk um das Jahr 1502 in seiner Erfurter Privatdruckerei besorgten Nachdruck der ca. 1501 (so Prijs, Die Basler hebräischen Drucke, S. 16, nicht 1497, wie noch G. Bauch, „Die Einführung des Hebräischen in Wittenberg“, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 48 [1904], S. 332 vermutete) erstmalig bei Aldus Manutius in Venedig erschienen Introductio perbreuis [spätere Drucke utilissima] ad hebraicam linguam. Marschalk, der später, wohl schon seit 1516, in Rostock privat, dann vielleicht ab 1522 auch öffentlich an der Universität Hebräisch liest und 1516 dort die aus einem Compendium, Rudimenta und Lese-und Übungsstücken bestehenden hebräischen Fibeln druckt, ist sicher nicht der Verfasser. J. u. B. Prijs, Die Basler hebräischen Drucke, S. 118 vermuten „einen anonymen christlichen Hebraisten des 15. Jahrhunderts“, den Bauch in „Die Einführung des Hebräischen in Wittenberg“, S. 332, etwas zuversichtlicher als den aus jüdischer Familie stammenden spanischen Eques Matthaeus Adrianus identifiziert, der als Wanderlehrer ganz Europa bereiste und mit sehr unterschiedlichem Erfolg Hebräisch dozierte. 39 S. Münster, Epitome Hebraicae Grammaticae, Basel 1520, D 4–6. 40 Der ganze Zusammenhang aus „Spongia“, einer gegen Huttens Vorwürfe gerichteten Verteidigungsschrift, die Johann Froben in dem für Basel und seinen Entwicklung so entscheidenden Jahr 1523 im September erstmals veröffentlichte, lautet: „Ecce autem aliud crimen atrocius: In epistola quaedam scribo Capitonem in literis Hebraicis doctiorem Reuchlino. Deum immortalem, quantas hic excitat tragoedias Huttenus, perinde quasi hominem veneno necassem. Constat Capnionem principem fuisse literaturae Hebraicae apud Germanos instaurandae. An illi dedecorosum fuerit, si quis succedat eo doctior? . . . Utinam sex milia succedant . . . Quis nescit me Capnioni candidissime simul
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erwies sich gerade auf dem eigentlich grammatischen Gebiet die von Pellican begründete Basler Tradition, der sich auch Wolfgang Fabritius Capito einschrieb, schon sehr schnell als die eigentlich weiterführende und fruchtbringende. Ihren Ausgang nahm sie, wie erwähnt, mit dem Werk De modo legendi et intelligendi Hebræum. Pellican hatte es 1501 in Tübingen verfaßt, als Gregor Reisch, der Enzyklopädist aus der Freiburger Kartause, seinen Helfer Martin Obermüller zu Pellican sandte, um von ihm in Erfahrung zu bringen, was er über das Hebräische wisse. „Eodem . . . anno 1501 confeci grammaticam hebraicam, quoad ea, quae in tribus fragmentis, quae perscripsi, continebantur.41 “ Pellican wünschte ausdrücklich keine Veröffentlichung, weil er die Grammatik Reuchlins abwarten wollte.42 Nur unter diesem Vorbehalt schickte er seinen Aufriß zwei Jahre später, am 1. Mai 1503, aus dem Barfüßerkloster in Basel, wohin er 1502 als ordinierter lector theologiae für die Mönche berufen worden war, an Jakob Gallus in Straßburg.43 Und doch kam dieses kleine Werk, gegen den erklärten Willen Pellicans, an die Öffentlichkeit, und zwar in dem Nachdruck, den Johannes Grüninger am 25. Februar 1504 von der bei Johann Schott erschienenen „Margarita philosophica“ des Gregor Reisch veranstaltete. Um das mündliche Übereinkommen mit Schott, die „Margarita“ trotz fehlenden Privilegs nicht zu drucken, nicht geradewegs zu brechen, fügte Grüninger seiner Ausgabe die Schrift Pellicans bei.44 Als Titelblatt für diesen hinzugefügten Abriß findet sich unter der Aufschrift „Sequitur grammatica hebraea“ ein Holzschnitt, in je drei Gruppen den Begründer der lateinischen, griechischen und hebräischen
et constantissime fuisse?“ Opera omnia Desiderii Erasmi Roterodami Bd. X, Leiden 1706 (Repr. Hildesheim 1962), Spongia Sp. 1631–1672; das Zitat Sp. 1641; sowie Opera omnia Desiderii Erasmi Roterodami Bd. IX,1, Amsterdam, Oxford 1982: Spongia, hrsg. von C. Augustijn, hier S. 91–210; das Zitat S. 142. 41 Pellican, Chronikon, S. 22. 42 Zur allgemeinen Charakterisierung der Grammatik Pellicans siehe Walde, Christliche Hebraisten, S. 151: „Pellikans de modo legendi . . . bildet die Mittelstufe zwischen unserer [sc. Spätmittelalterlichen (TW)] Periode und der mit Reuchlins Rudimenta 1506 beginnenden folgenden. Pellikan hängt noch zum Teil von Petrus Nigri ab, hat sich aber auf Grund schriftlicher jüdischer Quellen schon zu einer wissenschaftlicheren und erschöpfenderen Darstellung durchgerungen.“ 43 Vgl. das in Pellikan, „De modo legendi“ (Anm. 37), fol. 18a enthaltene Begleitschreiben. 44 F. Ritter, Histoire de l’imprimerie alsacienne aux XVe et XVIe sie`cles, Strasbourg u. a. 1955, S. 104; G. E´. Weil, E´lie Le´vita. Humaniste et Massore`te 1469–1549 (Studia Post-Biblica 7), Leiden 1963, S. 252, Anm. 3.
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Schrift mit Begleitern darstellend. Dabei nimmt Mose, der aus der Hand Gottes die Tafeln der zehn Gebote, mit sechs hebräischen Buchstaben angedeutet, empfängt, insofern eine Sonderstellung ein, als er auf dem Berg nicht bloß der lateinischen und griechischen, sondern auch der jüdischen Gruppe entrückt ist.45 Dieser Darstellung entsprechend wird im Abriß der Grammatik die Frage, wer der Erfinder der hebräischen Buchstaben sei, so beantwortet: Primum invenisse Mosen tradunt: legemque veteris testamenti divinitus revelatam talibus scripsisse voluminibus (ea a volvendo denominasse) proprie non libris (fol. 8b).
Nach der Klage „ut vix inhabitantem terras nostras Iudeum (quamvis doctum) invenias“,46 der nicht selber ob der vieldeutigen Punktation beim Lesen unsicher wäre, stellt der Schüler die Frage: Sed quid tanta rogo lectionis exacta diligentia christicolis (quibus non est cordi pronuntiare Iudeorum legem) opus est?
Die Antwort des Lehrers lautet: Nulli quidem opus esse crediderim, sed cuicumque christiano ut competenti lectionis nacta peritia: intelligendique adepto provinciam profundius rimaturus sanctissimarum doctrinarum sylvam studeat intrare.47
Dementsprechend schreitet der Entwurf vom modus legendi, von der Lautung, (Kap. 1–4)48 zu den Lauten als Bedeutungsträgern (Kap. 5– 6).49 Diese werden in alphabetischer Reihenfolge abgehandelt und auf ihre sprachliche Funktion untersucht, wobei in principio verbi . . . positum primam personam notat, . . . in principio tum nominis: tum verbi positum prepositionem in: vel adverbium cum significat a b
45 Im Hauptteil der Margarita philosophica (s. o. S. 32) äußert sich Reisch selbst folgendermaßen zur Frage der Entstehung des hebräischen Alphabets, fol. a4a: „Hebraicas nanque litteras ab Adam prothoplasto nostro parente posteris relictas facile accipimus: cum et omnibus creatis nomine indiderit.“ 46 Fol. F 9a. 47 Fol. F 9a. Vgl. drei Jahrhunderte später Wilhelm Gesenius in der Vorrede zu seinem Hebräischen Lesebuch von 1814, dem 2. Teil des Hebräischen Elementarbuchs (Halle 1813 f.): Der Lehrer möge dafür sorgen, „daß der Lehrling mit Fertigkeit und ohne Anstoß, Stottern und Stammeln lese, was sich bei einigen leicht und wie von selbst findet, bei anderen schwerer hält und dann lange anhängt. Das beste Mittel ist hier öfteres Laut-Lesen, besonders solcher Stücke, die man schon versteht.“ 48 Fol. F 9b–F14a. 49 Fol. F 14a–F17b.
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Es fällt schwer, darin nicht den Keim zu einer der reichsten, modernsten Früchte der Basler Hebraistik zu sehen! Genau wie dann bei in capite dictionis positum pro adverbio sumitur similitudinis: vt: sicut: iuxta: instar: secundum: & his similibus,
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in capite dictionis locatum articulare interdum est dativi . . . 50
51 Nach der Nominallehre „Õiw Ïia viri tuw Ïia (sic!) mulieres“ folgt das 52 Verb anhand des Paradigmas dqp „commendare“. Das letzte Ziel des Hebräischstudiums besteht im vertieften Eindringen in die allerheiligsten Lehren der Kirche, nicht in der Verlesung des Gesetzes der Juden. In erstaunlich selbstverständlicher Weise bezeichnet Pellican hier die Bibel in der hebräischen Grundform als Teil der heiligsten christlichen Überlieferung. Die erste christliche Grammatik des Hebräischen stellt die Bewahrung der hebräischen Überlieferung und die Kenntnis ihrer Sprache als eine Aufgabe dar, die jeden Christen angeht, der sich näher mit Theologie befaßt. Nach einem weiteren, Jesaja darstellenden, Holzschnitt (fol. F19a– F21a)53 werden als Leseproben Exzerpte aus dem Buch Jesaja gegeben, die traditionellerweise als prophetische Grundlage des Evangeliums empfunden werden: Jes. 1,1–14; 7,10–17; 8,23–9, 6; 11,1–2; 42,1–9; 45,1–5; 52,13–53,12; außerdem Ps. 110,1–7; 113,1–9. Als Abschluß folgt ein hebräisch-lateinisch-griechisches Wörterbuch in Auswahl (fol. F19a–F28a). Dieser grammatische Entwurf Pellicans geriet im Schatten von Reuchlins „Rudimenta hebraica“, die 1506 endlich erschienen, bald in Vergessenheit. Dennoch hat er die lange Kette christlicher Bemühungen um die hebräische Sprache eröffnet. 1505 schrieb Pellican für seine Basler Mitbrüder zu Unterrichtszwecken eine sechssprachige Ausgabe der 7 Bußpsalmen, nachdem er sich schon in Rufach 1501 eine dreisprachige angefertigt hatte.54 1508 verfaßte er, der Basel inzwischen
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Fol. F 14a f. Fol. F 15b. 52 Das Paradigma war durch Mose Qimchi eingeführt worden, vgl. dazu Weil, E´lie Le´vita, S. 96; daß es bei Pellican ebenfalls auftaucht, beweist, daß Pellican der erste christliche Hebraist ist, der nach schriftlichen jüdischen Quellen arbeitet. Vgl. Walde, Christliche Hebraisten, S. 200. 53 Fälschlich 20 foliiert. 54 Pellican, Chronikon, S. 35. 51
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nur kurz als Reisebegleitung des päpstlichen Legaten Kardinal Raimund von Petrandi, Bischof von Gurk, verlassen hatte, für einen Ordensbruder einen weiteren kurzen grammatikalischen Abriß, mit der Auflage, ut nemini unquam communicet, nisi vel in sacris literis alioquin probe erudito et studioso, vel erga eum seu ordinem nostrum optime merito. Adiuratus mi deo et fide. Anno 1508 Basileae.55
Mit den folgenden Jahren kam eine Zeit der Ruhe. Nur seinen Schüler Sebastian Münster ließ Pellican in Pforzheim eine Konjugationstabelle mit hebräischem Vokabular anfertigen.56 1514 veröffentlichte Johannes Böschenstein aus Esslingen57 sein „Elementale introductorium in hebraeas literas“ in Augsburg. Pellican selbst hatte noch im Oktober 1512 in Bruchsal ein nächtliches Gespräch über den Zeichencharakter der Messe, in dem er sich vollständig mit seinem künftigen Weggenossen Wolfgang Fabritius Capito (Koepfel) aus Hagenau traf.58 Capito ließ sich eben von dem spanischen judenchristlichen Arzt Matthäus Adrianus in die Anfangsgründe des Hebräischen einführen, freilich ohne großen Erfolg.59 Wesentliche Fortschritte sollte er erst in Basel machen, wohin er Anfang März 1513 als Münsterprädikant berufen wurde. Eine gemeinsame Wirksamkeit mit Pellican war freilich da noch nicht möglich, da dieser 1514 und 1515 seinen Ordensprovinzial auf zwei ausgedehnten Visitationsreisen begleiten mußte, die ihm allerdings mehrere seinen hebräischen Studien förderliche Besuche und Funde ermöglichten.60
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Manuskript in der UB Basel, Sig. G I 63, Conrad Pellicanus, hrsg. von E. Silberstein, Berlin 1900, S. 52–55. 56 Das auf den 11.11.1511 datierte Manuskript wird in der UB Genf aufbewahrt. 57 Seine Familie stammte ursprünglich aus Stein am Rhein. 58 Pellican, Chronikon, S. 42 f.; vgl. den ausführlicheren Bericht von J. Fabritius, Historica oratio, qua et vita reverendi in Christo patris Conradi Pellicani et brevis temporis illius res continentur, Marburg 1608, zit. bei Riggenbach (Ausg. von Pellican, Chronikon) S. 185–187. 59 Wolfgang Fabritius Capito beklagt sich in seinen Hebraicarum institutionum libri duo, Basel 1518, zu wiederholten Malen über den teuren und nutzlosen Unterricht (A6r, Dr). Adrianus, den er durch seine Gastfreundschaft und Pflege aus einer fast zum Tode führenden Krankheit gerettet hat (Dv), beschreibt er in seiner Vita Oecolampadii. Briefe und Akten zum Leben Oekolampads, Bd. 2, hrsg. von E. Staehelin, Leipzig 1934, S. 745, als „praeceptor (sowohl seiner wie Oekolampads) etsi infelix et invidens nobis cognitionem sanctae linguae“. 60 Pellican, Chronikon, S. 48–52.
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Eine neue Phase im Bemühen um das Hebräische begann erst im Juni 1516. Pellican war einst 1502 Johannes Amerbach bei der Drucklegung der Werke Augustins behilflich gewesen. Seit damals datierte die Freundschaft mit Johann Froben. Dieser bat nun den Provinzial um Pellicans Freistellung, damit er den 8. Band – die übrigen 7 waren schon erschienen – der Ausgabe der Werke des Hieronymus betreue. Dieser sollte im Appendix einen vierfachen Psalter enthalten, nämlich griechisch nach der Septuaginta mit beigegebener lateinischer Übersetzung, und hebräisch mit der Übersetzung des Hieronymus iuxta Hebraeos.61 Im selben Jahr 1516 veröffentlichte Pellican eine separate Ausgabe der hebräischen Psalmen, das Sefer Tehillim im Taschenformat 16° „in pauperum favorem“62 oder „in usum itineris“.63 Daß es diesbezüglich seinen Zweck voll erreicht hat, lehrt die berühmte Episode im „Schwarzen Bären“ zu Jena. Denn es war genau ein Exemplar dieses Drucks, das Martin Luther auf der Wartburg 1521–1522 benutzte und das er sogar auf seiner Rückreise stets bei sich trug, sodaß er es vor sich liegen hatte, als die beiden St. Galler Studenten von dem seltsam gelehrten Gast ins Gespräch gezogen und regaliert wurden. Das Sefer Tehillim stellt „das erste vollständige Basler hebräische Druckwerk“64 dar und versteht sich selbst als Pioniertat der hebräischen Typographie nördlich der Alpen: „Tam arduum opus et in Germania non tentatum.“ – ein so schwieriges Werk sei in Deutschland noch nie unternommen worden.65 Die Psalmen als Israels Gebetbuch und als Gebetssammlung der Christenheit wiesen den Weg zurück zu den jüdischen Wurzeln des Christentums.
61 Weitere Basler Ausgaben dieses polyglotten Psalters als Teile der Opera des Hieronymus erschienen 1525, 1537, 1553, 1565. 62 K. Pellican u. S. Münster, Proverbia Salomonis, Basel 1520, Vorwort fol. a2 f.: „in pauperum favorem“, zitiert bei Prijs, Die Basler hebräischen Drucke, S. 485. 63 W. Fabritius Capito, Institutiuncula in Hebraeam linguam, Anhang zum Sefer Tehillim (Vorwort), Basiliae 1516; vgl. Prijs, Die Basler hebräischen Drucke, S. 13. Es ist nicht ohne Interesse, daß es exakt ein Exemplar dieser Psalmenedition war, das Martin Luther 1521–1522 auf der Wartburg und sogar auf seinem Rückweg nach Wittenberg benutzte, ganz bestimmt jedenfalls im Gasthaus zum „Schwarzen Baeren“ in Jena am 4. März 1522, vgl. Johannes Kesslers Sabbata mit Kleineren Schriften und Briefen, hrsg. von E. Egli u. R. Schoch, St. Gallen 1902, S. 76–79 und die Weimarer Ausgabe von Luthers Werken Bd. 10, 11. Aufl., S. 296–300. 64 Prijs, Die Basler hebräischen Drucke, S. 9–11. 65 Pellican, Chronikon, S. 55: „Tam arduum opus et in Germania non tentatum“.
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Doch das Bemerkenswerteste an dieser Handausgabe ist das von Pellican verfaßte kurze hebräische Vorwort. Die ersten von ihm selbst zur Veröffentlichung bestimmten Zeilen – sie sind nicht zufällig hebräisch – tragen eine vom jüdischen Gebetbuch inspirierte prophetische und eschatologische Note. Sie fassen in einfachsten Worten das zusammen, was sich später als ein tragender Grundzug der Reformation, gerade in Basel, erweisen sollte. Unter die „hebräischen Leser“, denen das Grußwort gilt, mögen dem Sinn nach durchaus auch jüdische Menschen als Adressaten einbezogen sein. Die Formulierungen erinnern jedenfalls stark an das am Ende jedes jüdischen Gottesdienstes stehende Alenu-Gebet, so gewiß sie von Pellican selbst stammen. Es lohnt sich, das Vorwort hier ganz wiederzugeben: Conradus Pelicanus Rubeaquensis, or. mi. Hebraeis lectoribus. Gesegnet bist du, o Herr, Gott der Heerscharen, der in seiner Barmherzigkeit den Kreis der Erde und ihre Fülle mit der Erkenntnis seiner Göttlichkeit erfüllt und allen Völkern kundgetan hat, daß der Herr Einer ist und sein Name Einer, und über die Völkerstämme ausgegossen eine reine Sprache, damit sie alle den Namen des Herrn anrufen, ihm mit einer Schulter dienen, und alle Sippen der Nationen ihn in der heiligen Sprache preisen, denn groß und rühmlich ist sein Name auf ewig.66
In diesen Worten mag viel Persönliches mitschwingen, etwa der Besuch der Synagoge in Worms 1512, die Begegnung mit zwei Rabbinern und Gliedern der jüdischen Gemeinde in Frankfurt, die noch von der Konfiskation ihrer Bücher aufgrund des Betreibens von Johannes Pfefferkorn erschüttert gewesen sein mögen, das Gedenken, das Pellican auf derselben ersten Visitationsreise in Neustadt an der Eisch dem dorther stammenden Elia Levita widmete, von dem er im Chronikon schrieb, daß er in Italien „Hebreorum Grammaticam didicit primum; deinde ibidem quoque expulsus, Romae eandem docuit Christianos, donec ibidemque expulsus est, non modico urbis et suo damno.“67 “ Außer dem hebräischen Psalmentext enthält das Büchlein eine kleine Einführung in die hebräische Sprache aus der Hand Capitos „quove nancisci valeas linguam sanctam absque praeceptore“, wie er in seiner zwei Jahre später erscheinenden großen Grammatik schreibt.68 Im selben Jahr 1516 begann Pellican mit dem Studium des Talmud, von dem er sich Teile mühsam von den trägen Regensburgern Domi66 67 68
W. Fabritius Capito, Hebraicum Psalterium, Basel 1516, fol. lav. Pellican, Chronikon, S. 49. Vgl. Capito, Hebraicarum institutionum libri duo, fol. Dv.
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nikanern verschafft hatte.69 Dieses Studium sollte in Zürich seine Früchte tragen, die in den zahllosen Übersetzungen rabbinischer Texte aus der Hand Pellicans vorliegen.70 Auch für die große Grammatik des Wolfgang Fabritius Capito, die Hebraicarum Institutionum Libri Duo (Mitte Januar 1518) ist Pellican als Mitverfasser anzusehen.71 Ebenso wie bei Capitos „Institutiones“ hat Pellican auch bei der Ausgabe der Sprüche Salomos mitgewirkt, der die erste selbständige Publikation Sebastian Münsters, eine „Epitome Hebraicae Grammaticae“, beigefügt ist.72 Im Vorwort zu diesem Werk beschreibt Pellican seine Stellung folgendermaßen: „Satis egisse me credo pro ingenii mediocritate et stili penuria, quod hebraeas Basileam literas invexi, quarum nunc in orbem terrae splendor pervaserit.73 “ Die Fastenzeit 1523 wurde zur kritischen Wende. Caspar Schatzgeyer, der Ordensprovinzial, der Pellican, nunmehr Guardian in Basel, sehr schätzte, glaubte bei seiner Visitation in Basel den Klagen aus Kreisen der Universität Gehör schenken zu müssen. Doch der energische Einsatz des Rates der Stadt, die nicht zuletzt Nutznießerin des unter Pellicans Leitung im Jahr zuvor fast ganz neu erstellten Spitals war, führte dazu, daß Schatzgeyer unverrichteter Dinge abzog, die Scholastiker Mauricius Fininger OESA und Johannes Gebwiler sowie zwei weitere Professoren von Rats wegen abgesetzt und an ihrer Stelle Johannes Oekolampad und Konrad Pellican zu ordentlichen Professoren ernannt wurden.74 Dies geschah in der Woche nach Ostern 1523. Nach der Neuordnung des akademischen Lebens nahm Pellican seine Vorlesungstätigkeit auf. Er war inzwischen über die Grammatik hinaus zur Auslegung der Schrift fortgeschritten und arbeitete an einer Konkordanz, die bereits bis zu 50 000 Einträgen gediehen war.75
69 Vgl. den bei Riggenbach (A. 1), S. XV, zitierten Brief an Wolfgang Musculus vom 5.2.1551, in dem Pellican sagt: „Iam a 35 annis commentaria Rabbinorum majori cum labore intelligere didici.“ 70 Vgl. dazu die Studie von C. S. Zürcher, Konrad Pellikans Wirken in Zürich 1526– 1556, (wie Anm. 25). 71 Prijs, Die Basler hebräischen Drucke, S. 16. 72 Prijs, Die Basler hebräischen Drucke, Nr. 11b, S. 19–21. 73 Münster, Epitome Hebraicae Grammaticae, fol. 12*. 74 Sehr instruktiv ist das bei B. Riggenbach (Ausg. von Pellican, Chronikon ) XX ff. abgedruckte Ratsprotokoll. 75 Brief an Thomas Blarer, Basel 12.12.1523, in der Vadiana St. Gallen, Autograph Bd. 2, Nr. 160, abgedruckt bei Geiger, „Geschichte des Studiums der hebräischen Sprache“, S. 216 f.
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Seiner ersten Vorlesung (1523–1524) legte Pellican die Genesis zugrunde. Ihr ließ er eine über die Sprüche Salomos (1524) und eine weitere über den Prediger Salomos (1525 bis Ende Februar 1526) folgen. Am Stephanstag 1525 bekam er das Schreiben Zwinglis, in dem er als Nachfolger des eben verstorbenen Jakob Ceporinus (Wiesendanger) nach Zürich berufen wurde. Er folgte dem Ruf, nicht ohne in seiner Antwort seine Zweifel zu äußern, ob er der Stellung werde genügen können: „Sum enim homo impeditionis tam linguae quam ingenii, ut nihil magni ausim de me unquam polliceri.“76 Am 1. März 1526 hielt er in Zürich seine erste Vorlesung; es traf sich, daß er bei Ex. 15 weiterfahren sollte, und so lautete sein erster Satz: „Gratia Deo meo, qui me ereptum ex Egypto et ab egyptiaca et papistica captivitate fecit transire mare rubrum, ut nunc mihi cum sanctis liceat canere canticum illud Sororis Moysi, et dicere cum gaudio: Cantemus Domino, gloriose enim honorificatus est et cetera.77 “
3. Levita und Münster – Beispiel eines erfolgreichen Wissenschaftstransfers Der Kontakt mit Italien, der für Reuchlin so ausschlaggebend war, sollte erst recht die zweite Generation der christlichen und hier besonders der Basler Hebraistik stimulieren. Er läßt sich auf einen Namen und eine knappe Formel bringen. Es geht um Elia Levita und seine christliche Rezeption. Neben den zum Teil höchstrangigen Schülern Levitas in Rom78 sind dabei Sebastian Münster in Basel und Paulus Fagius (Büchlein) in Isny/Konstanz/Straßburg/Cambridge zu nennen. Der Beitrag Sebastian Münsters (1489–1552) zum Fortschritt der Hebraistik ist gewichtig, aber nicht eigenständig. Der „erste bedeutende Förderer hebr. und sogen. rabbinischer Sprache u. Literatur in deutschen Kreisen“79 hat sich hauptsächlich verdient gemacht um die Präsentation und die Anwendung der für das Selbststudium bestimmten grammatischen Abhandlungen Levitas. Levita hatte bei seinen grammatischen Untersuchungen immer auch christliche Adressaten im Auge 76 Pellican an Zwingli, 28.12.1525; die betreffende Stelle abgedruckt bei Riggenbach (Ausg. von Pellican, Chronikon ), S. 106 Anm. 3. 77 Pellican, Chronikon, S. 110. 78 Kardinal Aegidius von Viterbo, Dr. Johannes Eck, D. Oswald Schreckenfuchs u. a. 79 M. Steinschneider, „Christliche Hebraisten“, in: Zeitschrift für Hebräische Bibliographie 3 (1898), S. 155 [Repr. 1973, S. 51].
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behalten. Dem lebendigen Austausch mit den Humanisten seiner Zeit verdankt er auch sein erstaunlich geschärftes historisches Bewußtsein, nicht zuletzt in sprachlichen Belangen. Münsters Hebraistik gliedert sich klar in eine Periode vor der Bekanntschaft mit Levitas Werk und in jene nach 1525. Da erschien bei Johannes Froben unter dem Titel qudqdh rps die Grammatica Hebraica absolutissima, Eliae Levitae Germani: nuper per Sebastianum Munsterum iuxta Hebraicum Latinitate donata.80 Damit hatte Münster einen nicht zu überschätzenden Beitrag zur Verbreitung von Levitas grammatischem Basiswerk ruxbh rps81 und zur Förderung der Basler und der übrigen transalpinen Hebraistik geleistet. An sich hatte er die Grammatiken von David und Mose Qimchi herausgeben wollen, dann aber auch die eben 1523 in Venedig bei Bomberg sowohl lateinisch wie hebräisch, und zwar vokalisiert, erschienene Grammatik des knapp zuvor verstorbenen, in Padua lebenden Arztes Abraham ben Meir de Balmis ins Auge gefaßt. Ihr polemischer Ton habe sie aber als didaktisch ungeeignet erscheinen lassen. Da habe ihm aber Simon Groninger (Grynæus) Levitas „Buch des Jünglings“ verschafft. In der auf Veranlassung von Kardinal Aegidius von Viterbo 1518 in Rom erschienenen Grammatik erkannte Münster sogleich sein Ideal, „post quam, lector, aliam non facile desiderabis“, wie er im Titel der Basler Ausgabe verspricht. Ja, er gesteht unumwunden zu: „Ego sane fateor ingenue (nec dicere pudet) me priusquam Eliam istum legerem, in grammaticis parum scisse“.82 Verschiedene Umstände trugen dazu bei, daß Elia Levita, nicht zuletzt über Basel, in ganz anderem Stil und Maß zum Normgrammatiker der christlichen Hebraistik geworden ist als Reuchlin. Levita war der Lehrer und Mentor zahlreicher Christen. Wie alle jüdischen Gewährsleute, die zum Christentum übergetretenen nicht minder als die dem Judentum treu gebliebenen, befand er sich damit
80 Der Hauptteil hat ein Zwischentitelblatt (dr), das mit einer eigenen, aus der Vorlage Rom 1518 entnommenen Betitelung versehen ist: hybra qudqdb lluk ruxbh rps Õirqy hrw Ïy w Ïlw Ï dxa lklu Õirmam, lateinisch wiedergegeben als Liber electus complectens in Grammatica quatuor orationes, quarum cuique tredecim sunt elementa seu fundamenta. 81 Zur Bedeutung Levitas vgl. neben Weil, E´lie Le´vita noch immer W. Bacher, „Elija Levita’s wissenschaftliche Leistungen“, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 43 (1989), S. 206–272. 82 Vorrede zur Grammatica Hebraica absolutissima, datiert 1. Mai 1525; vgl. Prijs, Die Basler hebräischen Drucke, S. 33.
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in einer höchst delikaten Lage. War man sicher, daß die Hand, die man den Christen darbot, nicht in unlautere Geschäfte hineingezogen wurde? Das zwischen Lehrern und Schülern bestehende Gefälle war allen Einsichtigen bewußt, nicht aber, welche Gefahren es in sich barg. Von christlicher wie von jüdischer Seite ist immer wieder bChag 13a ins Feld geführt worden.83 Levita bemüht sich um den Nachweis, daß der berühmte Abschnitt der Mischna Chagiga II,1, auch in der Diskussion der Gemara, nicht verbiete, Nichtjuden Hebräisch zu lehren. Er untersage nur die eigentliche Toratradierung, betreffe primär die Weitergabe esoterischer Stoffe innerhalb des Judentums: ñirsum ñia iugl hrut irbdw Ï qrz ñirsua Õnia Õimkx ik84
Im Gegensatz zu Reuchlin mit seinem sprachphilosophisch-theologischen Ansatz favorisierte Basel, angeleitet durch Levita, zunehmend eine hebraistische Philologie im eigentlichen Sinne. Die Aufnahme, die Levita bei Münster und in Basel überhaupt erfuhr, wäre eine eigene Untersuchung wert.85 In zwei, beziehungsweise drei, Schüben hat Münster für die Verbreitung Levitas gesorgt, einerseits durch Neueditionen, andererseits durch die Vokalisierung und die lateinische Wiedergabe von Levitas Standardwerken. Das entscheidende Jahr ist 1525, in dem Münster sowohl das rps ruxbh wie das hbkrhh rps zum Druck brachte. Die 1517 auf Veranlassung des Kardinals Aegidius von Viterbo von Levita verfaßte hebräische Grammatik behandelt in zwei Õirmam das Verb, in den zwei darauffolgenden Abhandlungen das Nomen.86 83 J. Reuchlin, Rudimenta hebraica, Bd. 3, Pforzheim 1506, S. 621; E. Levita, Massoret ha-Massoret, Zweite (versifizierte) Einleitung, Ausgabe Basel 1539, fol. b 8r f., hrsg. von C. D. Ginsburg, London 1867 (Repr. New York 1968), S. 98 f. 84 E. Levita, Dritte (historische) Einleitung zu Massoret ha-Massoret, hrsg. von C. D. Ginsburg, London 1867 (Repr. New York 1968), S. 98 f.: „Denn die Weisen machen nur verbindlich, daß man Toraangelegenheiten einem Nichtjuden nicht anvertrauen solle; keineswegs haben sie gesagt, daß man nicht unterrichten dürfe. Ihre prinzipiellen Aussagen gelten für Angelegenheiten, bei denen die (vertrauliche) Überlieferung dazugehören, wie z. B. das Schöpfungswerk, die Sache mit dem (göttlichen) Thronwagen sowie das Buch Jezira, deren Inhalt man nur an Demütige, weise und mit der Materie vertraute Männer aus den Reihen der Söhne Israels weitergeben darf. Und so (verhält es sich mit Sprüche 26,8) ,wie ein Schnürbeutel mit Edelsteinen im Steinhaufen‘, welches sie auf einen unwürdigen Schüler beziehen . . . – all das aber haben sie nur in Bezug auf einen Israeliten gesagt, nicht auf einen Christen oder Moslem.“ 85 Sie ist leider bei K.-H. Burmeister, Sebastian Münster: Versuch eines biographischen Gesamtbildes (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft, 91), Basel 1963, nur beiläufig behandelt. 86 Prijs, Die Basler hebräischen Drucke, S. 34.
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1527 erschienen zudem die uhila iqrp, ein opus . . . incomparabile, & sine quo feliciter Hebraicari non possis. Die uhila iqrp, als Ergänzung zum ruxbh rps gedacht, waren 1520 in Pesaro erstmals erschienen. Dementsprechend umfassen sie vier Teile und behandeln darin die Lehre von den Vokalen und Konsonanten, das Genus, den Numerus der Nomina und schließlich die Servilbuchstaben. Somit hatte Münster die drei grammatischen Grundlagenwerke Levitas ediert und ins Lateinische übersetzt.87 Höchst instruktiv ist dann der – hebräische, für Levitas Leben und Werk so aufschlußreiche – Brief, den dieser seinerseits am 5. März 1531 an Münster richtet. Vorgängig hatte Münster sich erkunÏna, den Masodigt a) nach dem Õimyjh rps, b) nach den Õiiribj iw reten also, von denen Levita in seinem Kommentar zu Mose Qimchis tydh ilibw Ï Ólhm spreche, c) nach den hebräischen Schreibschriften und ihren Bezeichnungen. Levita antwortet kurz. Bezüglich der Masoreten beruft er sich auf ˘ anna¯h und Abraham Ibn Ezra. Diesen Autoren zufolge seien Jona Ibn G ˙ Õimyjhu duqnhu aus Tiberias gekommen, irbdk al die trusmh ilyb Õnqt rpush arzy ik Õirmuaw Ï l`zr – aber „ich halte begründete Antworten für sie (die Rabbanim) bereit, und ihre Ansichten sind nicht meine Ansichten“. Im übrigen bezeichnet er es zwar als eine frohe Nachricht, daß Münster ihm die Übersetzung von Mose Qimchis Ólhm tydh ilibw Ï mit seinem, Levitas, vor 27 Jahren abgefaßten Kommentar dazu anzeige. Doch würde er gerne die Übersetzung vor der Veröffentlichung noch sehen, „denn es gibt niemanden, der keine Fehler macht“. Auch erwähnt er das von ihm abgefaßte Wörterbuch, das erst 10 Jahre später unter dem Titel ñmgrtm in Isny88 erscheinen sollte, und fragt schließlich, ob in Basel Interesse bestehe, weitere Werke von ihm zu drucken.89 Der zweite Schub setzt mit 1539 ein. In diesem Jahr gibt Münster, nun bei Henric Petri, das trusmh trusm rps und das Õyj buj rps heraus. Eine Art summa der Basler Levita-Rezeption liefert Münster Ïh qudqdh tkalm.90 Das Opus grammati1542 in seinem eigenen Õlw 87
Prijs, Die Basler hebräischen Drucke, S. 42. Unter Mitwirkung von Paulus Fagius und auf Rechnung von Peter Buffler; vgl. dazu Th. Willi, „Christliche Hebraisten der Renaissance und Reformation“, in: Judaica 30 (1974), S. 121. 89 Prijs, Die Basler hebräischen Drucke S. 497, Nr. 16a. 90 Mit seinem Titel scheint sich Sebastian Münster an dem Kitab al-Kamil bzw. Ïh rps des Rabbi Jakob b. Eleasar (Toledo um dessen hebräische Wiedergabe Õlw 1150–Anfang 13. Jahrhundert) zu orientieren, das ihm aus David Qimchis Õiw Ïrw Ïh rps bekannt gewesen sein dürfte. 88
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cum consummatum ex variis Elianis libris concinnatum stellt eine Synthese dar, wie sie Levita selbst nicht verfaßt hat. Basel kommt also der Verdienst zu, Levita zu der Ausstrahlung und Wirkung verholfen zu haben, die seinen grammatischen und masoretischen Studien gebührte. Es verwundert daher nicht, wenn hier auch der „erste Versuch einer grammatikalischen Bibliographie“91 unternommen wird, und zwar durch Münster selber in der Nomenclatura Hebræorum quorundam Librorum, die er der vierten, vorletzten Auflage seiner Ausgabe des ruxbh rps im qudqdh rps von 1543 beigibt.92 Die Liste der Instauratores linguæ sacræ sieht bei ihm so aus: „D. Hieronymus Stridonensis. / Io. Capnio. Phorcensis. / Con. Pellicanus Rubeaquensis. /Seb. Munsterus Ingelheimensis. / San. Pagninus Lucensis. finis“ Den Ruhm des ersten eigentlichen Aramaisten hatte Münster bereits Ïild qudqd für sich selbst in Anspruch 1526 im hadskh ua imra ñw genommen: Anders als zwanzig Jahre vorher Reuchlin beim Hebräischen sei er hier völlig auf sich selber gestellt gewesen. Den Eingang dieser ersten Grammatik des biblischen und nachbiblischen Aramäisch bildet eine lexikalische Synopse auf der Basis des Wortschatzes der südund nordwestsemitischen Sprachen: Neben die aramäischen Wörter vorab aus den Evangelien stellt Münster hebräische, arabische („saraceni“) und äthiopische („indiani“) Begriffe, im entsprechenden Alphabet notiert. Die christliche Rezeption des Alten Testaments als der hebräischen Bibel war seit ihren Anfängen in Renaissance und Reformation eine spannungsreiche Angelegenheit. Schon in der zweiten Generation der christlichen Hebraistik drifteten die Haltungen auseinander. Dank seiner Levita-Rezeption hat Basel nicht nur eindeutig für solide Grammatik und gegen Sprachmystik optiert, sondern – bei aller christlichen Apologetik – auch eine ganz andere theologische und ethische Einstellung zur Hebraistik eingenommen als das gleichzeitig im Bereich der
91 So M. Steinschneider, Bibliographisches Handbuch über die theoretische und praktische Literatur für hebräische Sprachkunde, Leipzig 1859, S. 1375. Eine Erfassung der hebräischen Literatur schwebte freilich schon Reuchlin in seinem Gutachten vor, das er am 6. Oktober 1510 zuhanden des Kaisers an Erzbischof Uriel von Gemmingen ablieferte. In diesem „Ratschlag ob man den Juden alle ire bücher nemmen, abthun vnnd verbrennen soll“ stellt Reuchlin mit seinen sechs Kategorien das Gerüst für eine Systematik der hebräischen Literatur auf. Unter der vierten Kategorie behandelt er die Kommentar- und grammatische Literatur, vgl. „Ratschlag“ in: Doctor Johannsen Reuchlins . . . Augenspiegel, Tübingen September 1511, fol. XIIIab–XIIIIa. 92 Fol. t4r–[t7r], vgl. Prijs, Die Basler hebräischen Drucke, S. 104.
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Wittenberger Reformation geschah. In diesem Zusammenhang hat man geradezu plakativ von “The Basel–Wittenberg Conflict” geprochen.93 Tatsächlich ist die Differenz zwischen dem Basler Sebastian Münster mit seinem Dictionarium ex Rabbinorum commentarijs collectum94 und dem Wittenberger Johann Forster mit seinem Dictionarium hebraicum novum, non ex Rabinorum commentis . . . depromptum95 symptomatisch für die verschiedenen Positionen. Auch als Münster 1552, also nur drei Jahre nach Levita, starb, war die Geschichte der Rezeption Levitas in Basel noch nicht zu Ende. Sie bildet vielmehr die Kontinuität von der Basler Hebraistik des 16. zu der des 17. Jahrhunderts. Auf die Fundamente, die Pellican und Münster gelegt hatten, konnten die Buxtorfe nun ihr für Jahrhunderte solides Haus bauen. Dieser Bau orientierte sich an Levita,96 sowohl im Positiven wie an den Punkten der Abgrenzung.
93 Friedman, The Most Ancient Testimony, S. 165–176 (Überschrift zu Kap. 9 des Buches). 94 Titel der 2. Aufl. Basel 1525; 1. Aufl. Basel 1523 noch einfacher; 3. Aufl. Basel 1535 dagegen noch stärker spezifiziert: „ex Rabinis, praesertim ex radicibus Dauid Kimhi“. 95 Gedruckt – ebenfalls in Basel – 1557, vgl. Prijs, Die Basler hebräischen Drucke, S. 141 Nr. 98. 96 Der mit seinem jidd.-hebr.-lat.-dt. Wörterbuch Õirbd tumw Ï, Nomenclatura Hebraica (Isny, 1542) neben Azaria de’Rossi (1513–1577) und J. Sommo (1527–1592) auch zu den Pionieren der Wiederbelebung einer neuhebräischen Sprachtradition im 16. Jahrhundert gehört, vgl. C. Rabin, Artikel “Hebrew”, in: Linguistics in South West Asia and North Africa: Current Trends in Linguistics, Bd. 6, hrsg. von T. A. Sebeok, Paris 1970, S. 304– 346, bes. S. 326 f.
DIE HEBRAISTIK IN DEN NÖRDLICHEN NIEDERLANDEN: JACOBUS ALTING (1618–1679) IN GRONINGEN Wout van Bekkum Seit dem Anfang des 16. Jahrhunderts wurden an den niederländischen Hochschulen Theologie, Geschichte, Jurisprudenz, Physik, Philosophie und Medizin als wissenschaftliche Disziplinen betrachtet.1 Im Rahmen der protestantischen Theologie wurde die hebräische Sprache zugleich als biblische Ursprache und als Sprache der Offenbarung verstanden und unter dem historischen Einfluss der italienisch-schweizerischen humanistischen Tradition in das Sprachstudium aufgenommen und so zu einem dauernden Bestandteil von Forschung und Lehre gemacht. Schon Wessel Gansvoort versuchte im fünfzehnten Jahrhundert in Groningen die hebräische Sprache zu lernen, und Rudolph Agricola wurde direkt von Johannes Reuchlin aufgefordert, sich mit dem Hebräischen vertraut zu machen.2 In diesen Kontext gehört auch Jacobus Alting, der am 27. September 1618 in Dordrecht geboren worden war, dem Zentrum der Reformierten Kirche und der Residenzstadt der sogenannten „Dordrechter Synode“, wo der Heidelberger Katechismus leidenschaftlich verteidigt wurde. Altings Vater Henricus (1583–1644) war Professor in Heidelberg und mit Suzanna Belier verheiratet. Im Geburtsjahr seines Sohns Jacobus hatte die Diskussion über den reinen Calvinismus ihren Höhepunkt
1 Ich danke Professor Dr. Stefan Radt für seine Hilfe bei der Korrektur. Klaas van Berkel, „De Groningse universiteit in de tijd van de Republiek, een kwestie van bloei en verval?“, in: Om niet aan onwetendheid en barbarij te bezwijken, Groningse geleerden 1614–1989, Hilversum 1989, pp. 51–63; Malcolm de Mowbray, „Libertas philosophandi: Wijsbegeerte in Groningen rond 1650“, in: Zeer kundige professoren, Beoefening van de Filosofie in Groningen van 1614 tot 1996, hrsg. von H. A. Krop, J. A. van Ruler, A. J. Vanderjagt, Hilversum 1997, S. 33–46. 2 A. Vanderjagt, „Ad fontes! – The early humanist concern for the Hebraica veritas“, in: Hebrew Bible/Old Testament. A History of Its Interpretation, hrsg. von M. Saebø, Göttingen 2004 (im Druck). A. Vanderjagt, “Wessel Gansfort (1419–1489) and Rudolph Agricola (1443–1485): Piety and Hebrew”, in: Frömmigkeit und Theologie, hrsg. von R. Liebenberg, H. Munzert, G. Litz, Erlangen 2005 (in Vorbereitung).
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erreicht.3 Altings Lehrmeister wurde Franciscus Gomarus (1563–1641), der ursprünglich aus Brügge stammte, und als streng calvinistischer Scholastiker galt. Er hat sehr viel von Gomarus gelernt, doch ihn später in dessen theologischem Streit gegen die Nachfolger des Leidener Kollegen Jacobus Arminius (1560–1609) nicht unterstützt.4 Im Jahre 1638 begann Alting sein Studium des Hebräischen in Emden, wo er ein Jahr lang einen unbekannten jüdischen Lehrmeister hatte: Gumprecht ben Abraham.5 1639–1642 studierte Alting Lateinisch, Griechisch und Hebräisch in Utrecht, Leiden und Franeker. Die Hochschule von Franeker in Friesland hatte schon eine eigene Tradition des Studiums der orientalischen Sprachen. Auch bemühten Johannes Drusius (1550– 1616) und Sixtinus Amama (1593–1629) sich erfolgreich darum, das Studium der biblischen Grundsprachen als Voraussetzung für die Zulassung zum Predigeramt durchzusetzen.6 Und so wundert es nicht, dass Alting, der im Jahr 1643 als Professor an die Universität Groningen berufen wurde, neben seinen Lehrveranstaltungen zur Theologie auch Vorlesungen über orientalische Sprachen abhielt. Im Jahr 1648 heiratete er Baudewina Walrich und hatte mit ihr drei Söhne: Johannes Christianus, Gerhardus und Henricus. Als Gomarus starb, wurden Alting dessen Lehrstuhl für Orientalische Sprachen und eine zweite Professur für Theologie angeboten. Dies lässt sich vielleicht als Kompromiss betrachten: die beiden Studien sind in einer Person vereinigt, und dadurch schwand zugleich die Drohung, Hebraica oder sogar Orientalia und Theologie als unterschiedliche Fächer zu definieren; andererseits war ebenso deutlich, dass Hebraica einen sprachlich-exegetischen Sonderbereich repräsentierte und einer differenzierten Beurteilung bedurfte. Alting hat in den Jahren 1643–1667 diese Doppelposition in 3 Jacobi Alting, dum vixit S. S. Theologiae & Linguarum Orientalium Professoris, Verbique Divini Ministri in Academia Groning-Omlandicaˆ, In Tomos quinque tributa, Opera Omnia, Theologica, Analyitica, Exegetica, Practica, Problematica & Philologica I, Amsterdam: Gerardus Borstius 1687: Jacobi Altingii Vita (9 Seiten). 4 G. P. van Itterzon, Franciscus Gomarus, Groningen 1979, S. 217–277. 5 Peter T. van Rooden erwähnt in seinem Buch Theology, biblical scholarship and rabbinical studies in the seventeenth century: Constantijn l’Empereur (1591–1648) professor of Hebrew and theology at Leiden, Leiden 1989, auf Seite 197 Rabbi Gumprecht ben Abraham aus Hamburg. Vgl. Jacobi Altingii Vita, S. 2: Linguis autem orientalibus prae caeteris intentus anno 1638. 22. Martii, Embdam concessit; ibidemque operaˆ Rabbi Gumprecht Ben-Abraham in Talmudicis feliciter usus est. Andrew Pettegree, Emden and the Dutch Revolt, Exile and the Development of Reformed Protestantism, Oxford 1992. 6 J. E. Platt, “Sixtinus Amama (1593–1629): Franeker professor and citizen of the Republic of Letters”, in: Universiteit te Franeker 1585–1811, Leeuwarden 1985, S. 236– 248.
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Groningen bekleidet und daneben das Amt des „akademischen Predigers“ ausgefüllt.7 Sein Buch Grondregelen (Grundregeln) hat er dem Baseler Johannes Buxtorf gewidmet, mit dem Alting ebenso intensiven Kontakt unterhielt wie mit Johann Heinrich Hottinger in Zürich. Seine hebraistische und semitistische Arbeit ist unverkennbar beeinflusst durch die Leidener Professoren für das Hebräische, Constantius l’Empereur und Ludovicus de Dieu.8 Altings Forschung und Studium des Alten Testamentes führte schließlich 1667 zu einem Zusammenstoß mit dem Gelehrten Samuel Maresius (geb. 1599), der bis in sein Todesjahr 1673 währen sollte.9 Maresius hat zwischenzeitlich sogar versucht, Alting seinen Lehrstuhl zu nehmen, aber diese Aktion ist misslungen. Beide Gelehrten vertraten extrem unterschiedliche Standpunkte in bezug auf bestimmte Einzelheiten im hebräischen Bibeltext, und ihre Disputatio grenzte an das, was bei dem jüngeren Zeitgenossen Spinoza (1632–1677) zu einer der großen Thesen über die Bibel und ihre Auslegungstradition heranwuchs.10 Nach Spinozas Ansicht ist die Bibel ganz und gar in dieser Welt erschaffen, und ausschließlich mit Hilfe von historischen Studien mit sinnvollem Kommentar zu versehen. Die Bibelauslegung ist nur als philosophische oder philologische Wissenschaft aufzufassen und streng rationalistisch zu verstehen. Alting ist noch weit entfernt von Spinozas Radikalität und erweist sich auf den ersten Blick als konservativ-konfessionell und anti-philosophisch, aber ganz durchgängig ist diese Haltung nicht. Er opponierte gegen den konservativen Theologen aus Utrecht Gijsbertus Voetius (1589–1676) und seinen scholastischen Aristotelismus, aber das bedeutete keinesfalls, dass er Sympathie für die neuen, philosophischen Ideen von Voetius’ Gegner, Rene´ Descartes (1596–1650), gehegt hätte. Alting verteidigte im Grunde genommen eine rein biblische Theologie und wurde für einen moderaten Dogmatiker gehalten. Er blieb dem reformierten Standpunkt im Katechismus-Studium eng verbunden und war in dieser Hinsicht gewiss kein Freidenker. Ein Teil seiner theologischen
7 Jacob Alting, Hebraeorum Respublica Scholastica sive Historia Academiarum et Promotionum Academicarum in populo Hebraeorum, Amsterdam: Apud Ioannem Janssonium 1652. Seine zweite oratio handelt von den Rabbinern und ihrer Autorität. 8 Peter T. van Rooden, Theology, biblical scholarship and rabbinical studies, S. 197–198. 9 Doede Nauta, Samuel Maresius, Amsterdam 1935, S. 195–228, 245, 369–385. 10 R. H. Popkin, „Spinoza and Bible Scholarship“, in: The Books of Nature and Scripture, hrsg. von J. E. Force und R. H. Popkin, Dordrecht 1994, S. 1–20.
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Auffassungen ist damit zu verbinden, dass er der biblischen Tradition die höchste Macht zuerkannte, eine Position, die deutlich auf seine Vertrautheit mit der hebräischen Sprache zurückzuführen ist. Ein diesbezüglich spezielles Werk von seiner Hand ist Altings Abhandlung über den Sabbath.11 Darin vertritt er die These, dass der Sabbath als ein Sakrament verstanden werden muss, womit er sich gegen den liberalen Theologen und Orientalisten Johannes Cocceius (1603–1669) aus Leiden wendet. Die Dordrechter Synode war über die Sabbathfrage informiert und sehr daran interessiert, für das Verständnis des eigenen Sonntags einzutreten. Alting argumentierte ausschließlich auf Basis des hebräischen Textes. Als einer der bedeutendsten Hebraisten und zugleich von seinem Kollegen Samuel Maresius für einen Cocceianer gehalten, geriet Maresius mit Alting auch in Streit, weil er seinem Kontrahenden judaisierende Irrlehren vorwarf. Alting verteidigte die Meinung, dass die Bekehrung der Juden nicht im Widerspruch zur Rückkehr der Juden nach Palästina stehe: „Wer die Rückkehr der Juden nach Palästina leugnet, macht Gott zum Lügner.“ Diese Äusserung hat Maresius dazu veranlasst, Alting einen semiiudaeus und einen Verführer der akademischen Jugend zu schimpfen. Die Betitelung als semiiudaeus bringt uns zu einem Ausdruck, den man auch bei Desiderius Erasmus findet. Erasmus ist zwar während seines Lebens- und Entwicklungsweges offenbar nie persönlich nicht-konvertierten Juden begegnet oder hat irgendeine Verbindung zu ihnen gehabt, und von seinen Aufenthaltsorten wie z. B. Basel wissen wir, dass Juden zur Zeit des Erasmus dort nicht wohnen durften. Doch natürlich hatte er Kenntniss von der Vertreibung der Juden aus Spanien, und er wusste, dass es dort noch viele Neuchristen, „geheime Juden“ oder Marranos gab, die er zu Anfang als Christen betrachtete. Er besaß jedoch auch Informationen darüber, dass diese Juden stark an der alten Religion und an
11 Die Darstellung von Itterzon in Franciscus Gomarus ist aufschlussreich, S. 301–302: „De grove buitensporigheden, waardoor in de dagen voor de Hervorming de Zondag ontheiligd werd, verdwenen niet met de Reformatie op slag. Integendeel: verschillende menschen uit dien tijd klaagden over de verregaande schending van den sabbat. Men vermaakte zich met klootschieten, kaatsen, kolven, drinken en klinken, dansen, huppelen en spelen, en ging spelevaren met speelschuiten, karossen en cheesen. Men vischte met werpnet en hengel, liep om een roomtje en wafel, ging vogelen en vinken, liet zich scheren en barbieren en ontzag zich niet om binnenshuis te schrobben, schaven, kleederen te lappen, te naaien en ander huiswerk te verrichten. Tegen dit alles rees, onder Engelsch-Puriteinschen invloed verzet, het allereerst in Zeeland, waar men het evenwel met elkander niet eens was over de vraag, hoe ver de rust van den sabbat moest uitgestrekt worden“.
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ihren überlieferten Gebräuchen festhielten, und deshalb bezeichnete er sie als semiiudaei.12 Natürlich hat Maresius diesen Ausdruck als Beleidigung gegenüber Alting gebraucht. Dennoch, Altings eigener Wissenshorizont war wissenschaftlich gut fundiert und breit angelegt. Dies zeigen seine Kontakte mit Johannes Buxtorf (dem Jüngeren) und Johann Rudolph Wetstein in Basel, oder mit Johann Heinrich Heidegger und Johann Jakob Hottinger in Zürich.13 In England pflegte er seit seinem Aufenthalt in Oxford Kontakte mit Edward Pococke, John Reynolds und John Lightfoot. Alting ist ein gutes Beispiel für einen Wissenschaftler, der sein profundes Wissen durch das Unterhalten umfangreicher Korrespondenzverbindungen vertiefte, wobei leider nur wenige jüdische Gelehrte zu seinen Briefpartnern zählten. Nur in seinem berühmten Buch Fundamenta Punctationis Linguae Sanctae, das im Jahr 1654 erschien und 1664 ins Holländische übersetzt und veröffentlicht worden ist, findet man einiges zu diesem Thema. Diese Abhandlung befasst sich ausführlich mit den Vorschriften der tiberischen Masoreten als derjenigen Gelehrten, die die hebräische Aussprache des Bibeltextes normiert und in gewissem Grade auch rekonstruiert haben. Alle Zeichen für Vokale und Akzente und ihre Funktion im masoretischen Vokalisationssystem werden von Alting in ihren Einzelheiten beschrieben. Am Ende des Buches befinden sich einige Briefe in hebräischer Sprache, die sich an einen jüdischen Korrespondenten richten. Alting bittet ihn, einige Bücher zu liefern und lässt dabei nicht nach, seinen Adressaten aufzufordern, den christlichen Glauben anzunehmen. Diese interessanten Dokumente sind schon einmal von George Alexander Kohut veröffentlicht worden in der Festschrift für Aron Freimann zum 60. Geburtstage, herausgegeben von Alexander Marx und Hermann Meyer in Berlin bei der Soncino
12 Guido Kisch, Erasmus’ Stellung zu Juden und Judentum, S. 6, 10: In einem verhältnismäßig frühen Brief preist Erasmus Frankreich: „weil es allein von Häretikern und böhmischen Schismatikern, von Juden und halbjüdischen Marranen (semiiudei Marani) frei sei und nicht an die Türkei grenze“; Werner L. Gundersheimer, „Erasmus, Humanism, and the Christian Cabala“, Journal of the Warburg and Courtauld Institutes XXVI, 1963, S. 38–52. 13 Jacobi Altingii Vita, S. 6, listet eine Reihe von Kollegen auf, mit denen Alting ständige Kontakte unterhielt. Johannes Buxtorf der Ältere (gestorben 1629) und der Jüngere (gestorben 1664) hatten persönlichen Umgang mit jüdischen Gelehrten und waren sehr wichtig für die Entwicklung der christlichen Hebraistik. Bibliographie: Stephen G. Burnett, From Christian Hebraism to Jewish Studies, Johannes Buxtorf (1564–1629) and Hebrew Learning in the Seventeenth Century, Leiden 1996.
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Gesellschaft der Freunde des Jüdischen Buches im Jahre 1935 (S. 70– 76).14 Die Texte sind von Kohut nicht ganz dem Original entsprechend und ohne Übersetzung oder Annotierung wiedergegeben; deshalb werden die Briefe hier noch einmal vollständig ediert.
14 J. van den Berg, Joden en christenen in Nederland gedurende de zeventiende eeuw, Kampen 1969, S. 12; Jan Wim Wesselius, “The early Enlightenment and Judaism: The ‘civil dispute’ between Philippus van Limborch and Isaac Orobio de Castro (1687)”, Studia Rosenthaliana 21, 1987, S. 140, Anmerkung 3; Peter van Rooden und Jan Wim Wesselius, „Eleazar Soesman en de Amsterdamse polemieken“, Studia Rosenthaliana 27, 1993, S. 15, Anmerkung 7.
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EPISTOLAE15 Studiosis ΦΙΛΕΒΡΑΙΟΙΣ
Discipulis meis S. En vobis Epistolas Hebraeas quatuor, ad exercitum lectionis sine punctis: quarum unam accepi, reliquas scripsi, hujusmodi occasione. Duobus Studiosis Hungaris, Amstelodanum euntibus, in mandatis dederam, ut mihi emerent aliquot Exemplaria Catechismi Judaici, quibus in Collegio Rabbinico uterer. Illi adierunt istic Judaeum quendam, effeceruntque ut ad me libellos istos mitteret, additis literis Belgicis, quibus poposcit pretium. Huic, utpote Judaeo, Hebraice` respondi, finiens voto conversionis Judaeorum. Rescripsit ipse sermone eodem, & sub extremum adscripsit vaticinium aliquod Propheticum, unde rebatur Christianos sese difficulter expedituros. Provocatum igitur me credidi, ut & istud & alia dicta Veteris Instrumenti adhiberem, adventum Messiae pridem praeteriisse sic demonstraturus. Quum vero` conticesceret ad meam redargutionem, submisi aliam Epistolam, argumenti ejusdem, quaˆ concertatio ista fuit terminata. Hinc autem si quisquam Vestruˆm commodum aliquod fuerit consecutus, aut ad similia exercitia excitatus, erit quod illi gratuler, mihi gaudeam. Valete. BRIEFE Den philhebräischen Studenten, meinen Schülern, Heil Hier habt ihr vier hebräische Briefe um das Lesen ohne Punkte (= Vokale) zu üben: einen davon habe ich erhalten, die übrigen habe ich geschrieben, und zwar aus folgendem Anlass. Zwei ungarische Studenten, die nach Amsterdam gingen, hatte ich beauftragt mir einige Exemplare des jüdischen Katechismus zu kaufen um sie in meinem rabbinischem Kolleg zu gebrauchen.16 Sie hatten sich an einen Juden gewandt und verabredet, dass er mir diese Bücher schicken und einen 15
Addendum zu Jacobus Altings Fundamenta Punctationis Linguae Sanctae, Groningen 1654; Peter van Rooden und Jan Wim Wesselius, “Two Early Cases of Publication by Subscription in Holland and Germany: Jacob Abendana’s Mikhlal Yophi (1661) and David Cohen de Lara’s Keter Kehunna (1668)”, Quaerendo 16, 1986, S. 110–130, speziell S. 111 ff. für zwei überlieferte Diskussionen zwischen einem Juden und einem Christen in der holländischen Republik des 17. Jahrhunderts. 16 Über Studenten aus Ungarn in Franeker und Groningen: Ferenc Postma, „Op zoek naar Franeker Academisch Drukwerk, Impressies van een drietal studiereizen naar Roemenie¨“, Jaarboek van het Nederlands Genootschap van Bibliofielen 1993, Amsterdam
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niederländischen Brief mit dem verlangten Preis beilegen würde. Diesem Mann habe ich, da er ja ein Jude war, auf hebräisch geantwortet, wobei ich am Schluss den Wunsch der Bekehrung der Juden aussprach. Er schrieb in derselben Sprache zurück und fügte am Ende eine Prophezeiung hinzu, mit der die Christen es, wie er meinte, schwer haben würden. Ich glaubte mich daher herausgefordert, nicht nur diese, sondern auch andere Aussprüche des Alten Testaments heranzuziehen, um so zu beweisen, dass die Ankunft des Messias schon längst vorbei ist. Als er aber auf meine Widerlegung schwieg, habe ich einen weiteren Brief desselben Inhalts geschickt, mit dem dieser Streit beendet wurde. Sollte aber einer von euch hieraus irgendeinen Nutzen ziehen oder zu ähnlichen Überlegungen angeregt werden, wird das für mich ein Grund zu einem Glückwunsch für ihn und zur Freude für mich sein. Lebt wohl. Kommentar: In dieser lateinischen Vorrede an die Studenten stellt Alting die nachfolgenden hebräischen Briefe als Sprachübung dar. Die Briefe sollten jedoch nicht nur als Leseprobe für das Hebräische ohne Vokalisierung benützt werden, sondern auch als Belehrung, wie man immer aufs Neue versuchen sollte, die Juden mit der christlichen Wahrheit bekannt zu machen. Alting hielt es für wichtig den klassischen Anspruch auf einschlägige Aussagen des Alten Testaments für die Messianität Jesu aufrechtzuhalten. Zwar könnte man Altings Veröffentlichung des jüdischen Responsums als ein wohlwollendes Zeichen verstehen, dennoch ist sein Bekehrungseifer dominant. Epistola I. lw halh tuaxsnh 'ih ly itxmw xumwu ila yigh Óituybca btkm dam agwi Ómulw inw Ótib ñtpm la uab itucmb ik * br llw acumk idil ñaibh rwa b`uj x`ql rps htuuia rwa ta ub tunql Õtxtmab úskh rurc ittn Õnma aira`gnua Ñramw x`t ixilw ñka * inmm lawt hnwm úsk ik ituarb dam damb ithmt ñk lyu * iwpn uklh rwa Órdb ñusa Õarq Õlua ituxilwb urqwi al hlah Õidimlth uih Õinuma hbngn ua dim ñbiwhl Õdi lal ñiau Õhilkm ituym udban ua hdicl ukirchu hb utbqn rwak Õirpsh rixm hnh htyu * itkalmb Õhidi uxlw al hmhu itduqp Õau * hmh tumkh jymu Õhirixmb tibrh ik Óily hp ñuxtp il wiw ip`ya Ótrgab wum`w ilbm Õizuz `g ua txa axsn dyb Õizuz `d Õa ik lawt alu unmm yrgtu jiymt 1994, pp. 27–47; Jaarboek 1994, Amsterdam 1995, pp. 125–147; im Album der Groninger Universität (Groningen 1995) werden im Zeitraum 1660–1670 mehrere ungarische Namen erwähnt.
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* ñhb Ñpx innia al Õau * turxa tuaxsn `k duy ila xlwtw hwqbb auba Õi`lht Ótbuj wqblu Ónucr tuwyl ikna Õgu itulawm talm rwa ly ñxu hdut inmm xqt hzbu idmy utyuwib uligtu uxiwm ta uydtu Õkiarub ta urkztw i`i la Ódyb llpthlu * gnitla bqyi larwi tluagu Ómulw wrud Óbhua y`k * ñma
Brief I. Möge es Euch sehr gut gehen! Der Brief Eurer Finger ist bei mir angekommen und ich habe mich gewiss gefreut über diese17 zehn Exemplare des Buches Leqach Tov18, die mich erreicht haben, so wie jemand, der eine große Beute findet.19 Denn auf meine Bitte sind auf der Schwelle Eures Hauses zwei Studenten aus Ungarn erschienen. Ich hatte wahrhaftig einen Beutel Geld in ihre Säcke gesteckt 20, um damit zu kaufen, was ich gerne haben wollte. Daher bin ich aufs höchste erstaunt, dass Ihr noch ein zweites Mal Geld von mir verlangt. Diese Studenten sind zuverlässige Abgesandte, die in Sachen ihrer Abgesandtschaft keinen Betrug begehen würden, aber es ist ihnen unterwegs etwas geschehen, wodurch sie Wegzehrung brauchten, oder sie haben mein Geld aus ihren Säcken verloren und hatten noch nicht die Möglichkeit, es mir zurück zu geben, oder mein (schriftlicher) Auftrag war entwendet worden, und sie konnten den von mir gegebenen Auftrag nicht erfüllen. Nun aber der Preis der Bücher, wie Ihr ihn in Eurem Brief festgesetzt habt: erlaubt mir darüber meinen Mund aufzutun21, denn Ihr habt ihre Preise erhöht, während die Menge (der Bücher) gering ist. Falls Ihr ihn etwas herabsetzt und verringert und nicht mehr als 4 Gulden für ein Exemplar oder 3 Gulden ohne Shimush Tehilim22 verlangt, so komme ich mit der Bitte, dass Ihr noch einmal zwanzig weitere Exemplare schicken möget. Falls nicht, brauche ich sie nicht zu haben. Trotzdem nehmt von mir meinen Dank und meine Gunst an, weil Ihr meine Bitten erfüllt habt, sowie auch ich wohlwollend für Euch um das Gute bitte und um Euretwillen zu Gott bete, dass Ihr Euren Schöpfer in Erinnerung bringen und seinen Messias kennen lernen werdet, so dass 17
Fehler im Original: halh statt hlah. Midrasch Leqach Tov („Gute Ermahnung“ – Spr 4,2) ist ein Bibelkommentar von dem aus Mainz stammenden Tobia ben Elieser, einem Gelehrten des 11. Jahrhunderts. 19 Ps 119,162. 20 Gen 43,23. 21 Ez 16,63. 22 Shimush Tehilim ist ein Buch über den magischen Gebrauch der Psalmen. 18
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Ihr Euch mit mir seiner Rettung freuen werdet, Amen. Ganz23 der Eure, strebend nach Eurem Wohl und der Erlösung Israels. Jacob Alting. Responsum. lah trzyb Óitunmrab hulw Ólixb Õulw ihi duam dy hludg hdrx itdrx hnhu tnnuk rwa Óituybca hwym Óidi btk itiar har rbdl ubl ualm rwa auh hz iau hz auh imu hpia im rmuau adh hywb Õmutwau biwhl ibbl Õy rwak butk rps tlgmb aba hnh itrmau rmua itrmg hlah Õirbdk ik tbtk Óirbd tlxtb ** ñurxa ñurxa lyu ñuwar ñuwar ly rbd ubtkm ixluw la hlilx il hlilx ** Ómm itlaw hnwm úsk ik Ótuarb duam duamb thmt ñk ly lkbu itxpwmb ik ydt yudi ik lyilb ñb inpl Ódby ta ñtt lau hzh rbdk tuwym iclx rbgk itrzal Õuyl iba tibm riych inau Õluym lusp Ñmw acmn al iba tib hnyj uz Õgu hlab itisn alu Õb hqbdlu uikrdb tkll ixk icmam lkbu zuy lkb alu hluy uwyi al larwi tiraw ik dgiu diyi aibnhu ikna larwi inbm ina ik hbujl Õimtbu tmab ily tazk tbwx hml ñk Õau timrt ñuwl Õhipb acmi alu bzk urbdi taclu yduhlu ymwhl upus hzh rbdh ik trxa duyu taz larwib hlbn rbd hwyi al itiih za Óirbd unmaiu ila txlw rwa Õixulwh ñudigi ñudiyi Õau hmulyt rual Óilua hna inau ip irmab dkln itiihu hkrb alu hllq ily itabhu ytytmk Óiniyb Ól wiw duy trma ** ila ba Ópsk Óidi btk tlbq rxa hty Õnma Óa itprx ta ta ñibt ñib alh ** hmh tumkh jymu Õirpsh rixmb itibrh ik ly ily hp ñuxtp br tumkh jym Õirpsh ik úau ub wiw hmb ala ñqnqb lktst lau Óinpl rwa ñh ** ulqwmb ttn upsk ñk lyu auh ñk umwku Ól itxlw b`uj x`ql ik hmh tukiah ua Õizuz hwulw lawa Õil`ht w`umw itlb rpsu rps lk dyb Õa ik duy ila tbtk alu Õizuz hww auh upsk ik itrma rbk ** Õirps Õirwy duy Ól xqt umy hybra itrqx itwrd ñk ly ik Õil`ht w`umw ilb hzu lyn Óurw dyu juxm rbd ukrym yrgi Óiniym bjii Õau Óila itxlw rwa dblb hrwyh Õa ik itacm alu bijh itlawu úsk itacuh Óbtk dyb ñyi Óribx trga Óutb Ótrga aibt Ól rbud ina rwa rbdh hp dy jym ñib br ñib Õhb xuir il ñia ik ul hnwa alu txa Õyp hybra Õizuz isikm Õimi Órua ik udblm duy ñia idla `h inp ta-tulxl Õa ik rbdl duy úisua alu aba hwixi rhmiu Ótymwm la rsu Õluy dbyl Ól hiha inau Ól úisui Õulwu Õiix tunwu lkm Õiwna hrwy uqizxi rwa hmhh Õimib tuabc `h rma hk uaibn hirkz irbd * Õkmy Õihla unymw ik Õkmy hkln rmal iduhi wia únkb uqizxhu Õiugh tunuwl `hl uuxtwhu Õircm Ñrab Õixdnhu ruwa Ñrab Õidbuah uabu urmuab hiywi irbdu bzkiu la wia al ik rxai al abi ab ik uqdc xiwm taib Õy Õilwurib wdqh rhb 23
Abkürzung y`k = ty lk.
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hzb il idu qlb twrpb tumuah aibn Õylb hnman tudy diyh rwak Õxntiu Õda ñbu * dxa umwu dxa `h hihi zau imd Õidy hamk ñid lyb taduh ik uilskb dxab Õdrijwma * linuruq ruainw Õhrba * Ótma ñb Ódby irbd hnh dy * Õluyh tairbl Õirwyu dxau tuam `d Õipla `h hnw
Antwort Mit Gottes Hilfe! Friede herrsche in Euren Mauern und Glück in Euren Palästen.24 Ich habe gewiss Eure Handschrift gesehen, das Werk Eurer Finger, das Ihr bereitet habt, und siehe, ich war voller Furcht und Erstaunen in diesem Augenblick und habe gesagt: woher hat er das, wer ist er, und was für ein Mann ist das25, dessen Herz so erfüllt ist, dass er diese Dinge sagt? Aber ich will aufhören, so zu sprechen, und ich sage dies: siehe, ich komme dazu, in einem Brief zu schreiben, was mir auf dem Herzen liegt, als Antwort an den, der mir den Brief geschickt hat, um über das Erste zuerst und über das Letzte zuletzt zu sprechen.26 Am Anfang Eurer Worte schreibt Ihr, dass Ihr sehr erstaunt wart zu sehen, dass ich zum zweiten Mal Geld verlangte. Es liegt mir wirklich ferne, das so zu machen, und haltet Euren Diener nicht für einen Nichtswürdigen, denn Ihr wisst sicher recht wohl, dass in meiner Sippe und meinem ganzen Haus nichts Unwürdiges zu finden ist. Ich, der Jüngste aus dem Haus meines Vaters, habe stets wie ein Mann meine Lenden gegürtet 27, um mit aller Kraft und meiner ganzen Anstrengung in allen seinen Wegen zu wandeln und ihm anzuhangen.28 So habe ich nichts ausprobiert, und auch dies ist eine Behauptung zum Guten, denn ich bin eines der Kinder Israel, und der Prophet ist mein Zeuge, wenn er sagt, dass der Überrest Israels keinen Fehltritt begehen wird und keine Lüge spricht und in ihrem Mund keine Sprache des Betrugs zu finden ist.29 Wenn das so ist, warum habt Ihr das dann von mir gedacht? Auf Ehre und Gewissen: etwas so Schlimmes wird in Israel nicht getan. Und noch etwas: so etwas wird schließlich (überall) gehört, und so bekommt man Kunde davon, und so kommt das Verborgene ans Licht.30 24
Ps 122,7. Est 7,5. 26 Das heisst, alles Punkt für Punkt zu besprechen; Mischna, Traktat Pirqei Avoth 5,7: ñurxa ñurxa lyu ñuwar ñuwar ly rmuau. 27 Ijob 40,7; Fehler im Original: itrzal Õuyl statt itrza Õluyl. 28 Das heisst, Gottes Wegen und Gott anzuhangen; Dtn 11,22. 29 Zef 3:13. 30 Ijob 28,11. 25
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Wenn die von Euch geschickten Abgesandten dies bezeugen und das sagen und ihre Worte geglaubt werden, dann war ich in Euren Augen wie ein Täuscher und habe über mich selber einen Fluch und nicht einen Segen gebracht.31 Ich bin dann in meinen eigenen Worten gefangen32, und was mich betrifft: wo soll ich mit meiner Schande hin?33 Aber nun denn wirklich: nachdem ich Eure Handschrift empfangen hatte, ist Euer Geld bei mir angelangt.34 [. . .]35 Ihr habt auch noch gesagt, Ihr wolltet Euren Mund über mich auftun, weil ich den Preis der Bücher erhöht hätte, obwohl es sich um eine kleine Menge handelt [. . .]. Begreift Ihr nicht, was da vor Euch liegt? Schaut nicht auf den Krug, sondern auf das, was darin ist.36 So ist es auch mit den Büchern: die Menge ist klein, die Qualität ist groß, denn ich habe Euch Leqach Tov geschickt: so wie der Name ist, so ist auch (das Buch).37 Darum habt Ihr das Geld dafür in seinem Gewicht gegeben [. . .]. Seht, Ihr habt mir auch noch geschrieben, wenn ich für jedes Buch ohne Shimush Tehilim 3 oder 4 Gulden inklusive verlange, wolltet Ihr noch zwanzig Bücher extra abnehmen. Ich habe schon gesagt, dass das Geld dafür 6 Gulden ist und von dem Wert davon nichts abgezogen werden kann, weder ein Faden noch ein Schuhriemen38, und zwar ohne Shimush Tehilim, weil ich darüber sehr gut unterrichtet bin und nachgefragt habe und nur die zehn (Exemplare) gefunden habe, die ich Euch geschickt habe. Wenn Euch meine Aussage gefällt, dann bringt den Brief (zusammen) mit dem Brief Eures Kollegen weg, weil ich für Euren Brief aus meiner Tasche Geld bezahlt habe, einmal 4 Gulden, und das mache ich nicht ein zweites Mal, weil ich bisher mehr oder weniger keinen Gewinn mache. Ich komme nicht dazu, noch mehr zu sagen, als nur meinen Gott und Herrn, außer ihm gibt es keinen,39 flehentlich zu bitten, Euch langes Leben und gute Jahre und Frieden zu schenken.40 Ich bleibe Euch stets zu Diensten und gehe in Eurem Gehorsam.41 31
Gen 27,12. Spr 6,2. 33 2 Sam 13,13. 34 Gen 43,23; Fehler im Original: ba statt ab. 35 Die zwei Sternchen im hebräischen Original deuten auf eine Lücke in der Druckwiedergabe des Briefes. 36 mAv 4,20. 37 Ein Titel mit der Bedeutung „Gute Ermahnung“; s. Anmerkung 17. 38 Gen 14,23. 39 idla im Hebräischen statt ihla als Zeichen des Respekts für den Gottesnamen. 40 Spr 3,2. 41 1 Sam 22,14. 32
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Mögen bald die Worte seines Propheten Zacharia erfüllt werden: „So spricht der Herr Zebaoth: Zu der Zeit werden zehn Männer aus allerlei Sprachen der Heiden einen jüdischen Mann bei dem Zipfel ergreifen und sagen: Wir wollen mit euch gehen; denn wir hören, dass Gott mit euch ist“42, und die Worte Jesajas, wenn er sagt: „So werden kommen die Verlorenen im Lande Assur und die Verstoßenen im Lande Ägypten und werden den Herrn anbeten auf dem heiligen Berg zu Jerusalem“43 bei der Ankunft seines gerechten Messias, denn er wird sicherlich kommen und nicht säumen. Wahrlich, Gott ist nicht ein Mensch, dass er lüge, noch ein Menschenkind, dass ihn etwas gereue44, wie Bileam, der Prophet der Heiden, als wahres Zeugnis erwiesen hat in dem Bibelabschnitt Balak.45 So ist es mir genug, denn die Zusicherung eines Anklägers ist (mehr wert als) hundert Zeugen46, und dann wird der Herr nur einer sein und sein Name wird nur einer sein.47 Soweit die Worte Eures Dieners und Knechts48 Abraham Schneur49 Coronel, Amsterdam, den 1. Kislew im Jahre 5421 der Weltschöpfung.50 Epistola II. u`ci lin`uruq rua`inw Õh`rba rr`hmk tunukn Óluh * tunman rbud * tunumah wial il rm * ñmau ñma hb`qh ñma ihla tam hbr hxlchu Õulw umy inb lklu utib lklu ñyi utimyb ipud ñtunw likr Óluh wiak rqw dyk intdwx ik duam il rm inda duam alu iirbd Õinuknu Õink Óa * auh hnwm úsk Óila ab rwa ipskw itbtk rwa iixulww hnuwarh itrga hrma rwa tazu Ól alu il auh hnwm úsk itutpw hnbuzkt rgt wia ik itymw Óilyu * itrsux itrsux rwak inau Õhm dban ua Órdl ul ukrcuh aibnh ywuh rwa Õinumdqh tdm Õibytm uncrabu unrudb tazh tkalmh iwnau hta qyct hmu Ómm hqxr Õiywr tcyu bha quwyl hmrm inzam udib ñynk hb rbdm h`y inau il Õtlawh lawh hnhu Ótibl ibtkm ta libumh rkw Õizuzh hybra ly ila Óiqizmb itiihw ua intrwyh ik rmat alw hlah tuymh ta Ól xq htyu Õbiwa bwh ik tma irbdb Óiniy riahlu ibblb Óbijhl ik buwxi ñk al ibblu hmra ñk al inau * * hila Õtuuqb Õicupnh larwi inb wpn htlk rwa hluagl uwigtw Ómy rqib itcpx
42 43 44 45 46 47 48 49 50
Sach 8,23. Jes 27,13. Num 23,19. Perikope aus dem Pentateuch – Vorlesung am Sabbath Balak: Num 22,1–25,9. bGit 40b. Sach 14,9. Ps 116,16. Hebräische Wiedergabe seines spanischen Namens Senior. 1. Kislew 5421 = November 1660.
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hirkz dib ubtkn rwa uirbd tmaiu diyh auh Õxntiu Õda ñbu bzkiu la wia al hnma iduhi wia únkb uqizxhu `ugu uqizxi rwa hmhh Õimib tuabc `h rma hm h`y aibnh rbdu ñuicm hruth tack inw tib ñbrux inpl hnw Õiybrak taz htihn Õinpl ik `ugu hduhi `r irbdk ñdbkl Õhb rhzhl Õkitubal hihu Ñrah imy inb dib Õilwurim `h tunuwl lkm Õiugh hnhu hlah Õiyurh la yumw itlbl Õhinp uzyh hmhu aritb ñb rpsb rpusmk Õhb uihi rwa Õirbd Õhipm dumll Õb uqizxhu Õhila upsan Ñrah itwrdn h`y hiywi abin taz lyu * g`iu `iu `b qrp unl rwa ax`ilwd sis`krpd ly úisuhu * imwb aruq al iug la innh innh itrma inuwqb all itacmn ulaw aull rxa buj al Órdh Õikluhh rruz Õy la Õuih lk idi itwrip rmal larwi iugb Õy alb Õainqa ina `bti `h irbd ualmtn hty dyu auhh Õuih ñmu * Õhitubwxm lba umwb aruq al Õy `h tariu tyd ilb Õdqm unituba uih lbn iug ñka Õsiyka lbn Õkiba Õhrba tkrb ta trwl utnikw ipnk txt unsinkh unily utmaku udsxk hb`qh ribdh rwa Õimyh ñm unxna htyu * Ñrah iiug lk Óyrzb ukrbthu rmal unxijbh rwa ly Õinywn unxna rwa `bti unxiwm ixulw Õinmanh unidmlm ik larwi ilgr txt `h Õiqbatmh Õidimlt umk Õidimlt unituba Õg unxna Õg bwnu hmh Õilarwi Õhirbd Õluk Óa * rxw unl ñia larwil undumlt sxithl lkun ilul ik Õhirum ilgr rpyb jbwm ik) Õdur ñminb riyc auh sul`uap Õiugl xulw uninib arqnhu Õh larwi ruqmm Órb hlah tulhqmbu Õiughm hbrh tulhq lihqh rwa (uwuripk umw riycu hih ñminb urmau Õhrba ihla Õy la upsan utruwbl Õiymwnh Õimy ibidnu inda Õihla Órb Õijybmh Õiduhih Õnma * hqdcl Õtnuma Õhl bwxtu unxna `hl Õdib ubtkiu Õnuwlb tunuta ñb riy lyu rumx ly bkuru iny Õhl ab ik dud ñb Õlwum ta Õilyugu Õridab aibnh himri rbdk Õhl ihiu ulxii Õiia hila rwa utrutl Õnza ujh alu uhubwxi alu Õiywr war ly rrugtm rys haci hmx `h trys hnh urmam hzu hzh Õuih dy h`y hb unnubth Õimih tirxab ubl tumzm umiqh dyu utuwy dy `h úa ñurx buwi al luxt ñiau Õkaubt taz lkw hz aibnh duyiil tubuwq Óinza hniihtu haru Óiniy an xqp * Õcyiu hmdrt xur `h Õkily Ósn ik * Õimih tirxab Õa ik ñibm ñiau bl ly Õw wia huqt wi ñk ip`ya * rttst Õkinubn tnibu Õkimkx tmkx hdbau Õkiniy ta tirxa * `h ruab hklnu ukl bqyi tib Õkila rmalu Õkainqhl unilyu Õktirxal tibd antk hludg tukira tazh tirxal la * xiwmh tumi Õh lkh irbdk Õimih alu irknl uhutbwxu xiwmh hlgnu ab Õtiwarb * xiwmh tumu Õipla inw uhila hntau inmm law Óitdli Õuih ina hta inb uila rma `hu * Õkily Óulmhw Õtcpx `anw umk Õinimamh Ñrah iiug ly uhkilmh urbdku Ñra ispa Ótzuxau Ótlxn Õiug jpwm hwyu likwhu Ólm Ólmu qidc xmc dudl itumiqhu `h Õan Õiab Õimi hnh dud ñb xiwmh tuklm hnh xjbl ñkwi larwiu hduhi ywuit uimib * Ñrab hqdcu Õipla inw tulk Õrjb xiwmh lw uimib Õnma ywun unnia larwi tibu Ñrab hxilcm ly hnib hb unnubtt xiwmh Ólmh tumim Õimih tirxab * larwil aubt hyuwth ulw `h Õuan aihh tyb hnw r`ta umk Õuih wi Õktmua ly hlxu `h tmx Õkb haci hm bqyi yrzm Õiwna rwa bqyu * Õyl il uihi hmhu larwi tuxpwm lkl Õihlal hiha lumgn Õiugh unxnaw iuarh ñm tinxur tawhb tuybgh ñm awinh `h rh la unukiluh urmau qxrmm Õiiab udighu Õiug `h rbd uymw unila `h tucmk larwil hbuj hlumg
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Brief II. An einen Mann des Glaubens, der die Wahrheit spricht und in Wahrhaftigkeit wandelt, unseren sehr geehrten Lehrer 51, Herrn Abraham Schneur Coronel, möge sein Fels ihn schützen und leben lassen52, und mit seinem ganzen Haus und allen Kindern seines Volkes sei Frieden von Gotteswegen, Amen, des Heiligen, gesegnet sei er, Amen, Amen. Es ist mir sehr bitter, mein Herr, es ist mir sehr bitter 53, weil Ihr mich verdächtigt habt, ein lügnerischer Zeuge zu sein54, der verleumdet55 und seinen Bruder beschimpft56, weil ich schrieb, dass mein Geld, das Euch erreicht hat, die zweite Bezahlung ist. Aber ehrlich und aufrichtig sind meine Worte und meine Lippen sprechen keine Lüge: es ist für mich die zweite Bezahlung und nicht für Euch, und dies ist, was ich in meinem ersten Brief dargelegt habe, nämlich dass meine Abgesandten es unterwegs gebraucht haben oder ein Teil davon verloren gegangen ist. Was mich betrifft: mir fehlt, was mir fehlt. Über Euch habe ich gehört, dass Ihr ein Händler seid, und dieser Berufsstand unserer Generation und unseres Landes verabscheut die Eigenschaft der Früheren, 51 52 53 54 55 56
Hebr. rr`hmk: ibr brh unrum dubk. Hebr. u`ci: uhixiu uruc uhrmwi. Rut 1,20. Ex 20,13. Spr 11,13. Ps 50,20.
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über die der Prophet Hosea, Friede sei mit ihm, sagt: „Kanaan hat eine falsche Waage in seiner Hand und betrügt gern“57, aber der Gottlosen Sinn ist ferne von Euch.58 Was schreit Ihr nun um 4 Gulden, den Lohn dessen, der meinen Brief zu Eurem Hause gebracht hat, und siehe, Ihr habt mich (so ausdrücklich) um diese (Gulden) gebeten, dass ich sie gewiss zurückschicken werde. Nehmt also diese Münzen an, damit Ihr nicht sagen werdet, Ihr hättet mich bereichert oder ich gehörte zu denen, die Euch Schaden zugefügt haben. Was mich betrifft: ich werde keinen Betrug verüben, und mein Herz hat keine andere Absicht, als Euch wohl zu wollen und Eure Augen für die Worte der Wahrheit zu erleuchten, denn ich habe Wohlgefallen an der Ehre Eures Volkes, dass sie zu der Erlösung kommen werden, nach der die verstreuten Kinder Israels sich sehnen59 in ihrer Hoffnung. Wahrlich, Gott ist nicht ein Mensch, dass er lüge, noch ein Menschenkind, dass ihn etwas gereue.60 Davon hat er Zeugnis gegeben, und seine Worte werden bewahrheitet die von der Hand des Propheten Zacharias, Friede sei mit ihm, geschrieben sind: „So spricht der Herr Zebaoth: zu der Zeit werden zehn Männer aus allerlei Sprachen der Heiden einen jüdischen Mann bei dem Zipfel ergreifen“ usw.61 Das war früher, etwa vierzig Jahre vor der Zerstörung des Zweiten Tempels62, als die Tora von Zion und das Wort Gottes von Jerusalem ausging63 in die Hände der Unwissenden, und Eure Vorfahren waren nach Rabbi Jehuda ben Batira64 gehalten, sie zu ehren. Ihr habt euch anmaßend verhalten und nicht auf diese Hirten gehört, und siehe, die Völker aller Sprachen der Erde haben sich zu ihnen gestellt und sich ihnen angeschlossen, um aus ihrem Munde Worte zu lernen, deren Inhalt so ist wie in dem Buch der Apostelgeschichte65 in den Kapiteln 2, 10 und 13 erzählt wird.66 Darüber hat Jesaja, Friede sei mit ihm, prophezeit: „Ich werde gesucht von 57
Hos 12,8. Ijob 21,16. 59 Ps 84,3. 60 Num 23,19. 61 Sach 8,23. 62 Zu der Zeit, als Jesus lebte und starb. 63 Jes 2,3. 64 Rabbi Jehuda ben Batira gehörte zur zweiten Generation der sogenannten tannaitischen Rabbinen (in den Jahren 90–130). Alting hat vielleicht die Aussage in Mek Pischa Bo 5 gemeint: „Rabbi Jehuda ben Batira sagte: sie haben Moses in ihrer Engherzigkeit nicht gehorcht“. 65 Alting kombiniert im Titel des neutestamentlichen Bibelbuches Griechisch und Aramäisch: Sepher de-Praxeis di-Schelicha, aber auch im Rabbinisch-Hebräischen: ñiskrp. 66 Wahrscheinlich von Alting wegen der Konversionsgeschichten gewählt. 58
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denen, die nicht nach mir fragten, ich werde gefunden von denen, die mich nicht suchten; und zu den Heiden, die meinen Namen nicht anriefen, sage ich: hier bin ich, hier bin ich“.67 (Der Prophet) hat über Israel dem noch hinzugefügt: „Ich recke meine Hände aus den ganzen Tag zu einem ungehorsamen68 Volk, das seinen Gedanken nachwandelt auf einem Wege, der nicht gut ist“.69 Von jenem Tag an bis heute haben sich diese Worte Gottes, gesegnet ist er, erfüllt: „Ich will sie wieder reizen an dem, das nicht ein Volk ist; an einem törichten Volk will ich sie erzürnen“.70 Ein wahrlich törichtes Volk waren unsere Vorfahren seit langem, ohne Gott zu kennen und zu fürchten, ein Volk das seinen Namen nicht anruft; aber der Heilige, gesegnet ist er, hat uns entsprechend seiner Gunst und seiner Wahrheit unter den Fittichen seiner Allgegenwart in den Dienst des Segens Eures Vaters Abraham gebracht, weil er uns dies versprochen hat: „Und durch deinen Samen sollen alle Völker der Erde gesegnet werden“.71 Wohl denn, wir gehören zu den Völkern die Gott unter Israels Füße gezwungen hat,72 denn unsere wirklichen Lehrer, die Abgesandten unseres Messias, gesegnet sei er, auf dessen Worte wir uns stützen, sind Israeliten, und sowohl wir als unsere Väter sitzen wie Schüler, die sich mit dem Staub der Füße ihrer Lehrer bedecken73, denn wenn wir unsere Lehre nicht auf Israel bezögen, würden wir die Morgenröte nicht haben.74 Sie sind aber alle vom Brunnen Israels75, und derjenige, der bei uns der Apostel der Heiden genannt wird, Paulus, ist ein Jüngling aus Benjamin, der über sie herrscht76 (weil er aus dem Stamm Benjamins war, und als Jüngling war sein Name wie seine Erklärung) und viele Gemeinden aus den Heiden versammelt hat und in diesen Gemeinden Gott den Herrn sehr gesegnet hat. Die Edlen im Volk77, die seine Botschaft gehört hatten, wurden zu dem Volk des Gottes Abrahams gebracht und sagten in ihrer Sprache und schrieben mit ihrer Hand „zu Gott gehören wir“ und ihr Glaube ward ihnen zur Gerechtigkeit gerechnet.78 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78
Jes 65,1. In Altings Brief: rruz; im hebräischen Text: rrus. Jes 65,2. Dtn 32,21. Gen 22,18. Ps 47,4. mAv 1,4. Jes 8,20. Ps 68,27. Ps 68,28. Num 21,18. Ps 106,31.
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Aber die Juden verwarfen ihren Mächtigen und wandten sich ab vom ihrem Herrscher, dem Sohn Davids, denn er kam zu ihnen in Armut, auf einem Esel reitend, auf dem Eselhengst, einem Eselfüllen79; sie erwiesen ihm keine Ehre und wollten seine Lehre, auf die die Inseln warten80, nicht hören. Es ging mit ihnen wie das Wort des Propheten Jeremias, gesegnet ist er, bis auf diesen Tag – dies ist was er sagt: „Siehe, es wird ein Wetter des Herrn mit Grimm kommen und ein schreckliches Ungewitter den Gottlosen auf den Kopf fallen. Und des Herrn Zorn wird nicht nachlassen bis er tue und ausrichte, was er im Sinn hat; zur letzten Zeit werdet ihr’s wohl erfahren“.81 Öffnet doch eure Augen und seht82, so dass eure Ohren aufmerksam werden auf die Absicht des Propheten; dies alles ist euer Gewinn83, aber keiner achtet darauf und keiner begreift es bis zum Ende der Tage, denn Gott hat euch einen Geist des harten Schlafs eingeschenkt und eure Augen zugetan84 und die Weisheit eurer Weisen ist verloren gegangen und die Erkenntnis eurer Gelehrten ist verborgen. Dennoch gibt es Hoffnung für eure Zukunft85 und müssen wir bei euch Eifersucht erregen und euch sagen: „Kommet nun, ihr vom Hause Jakob, lasst uns wandeln im Licht des Herrn!“86 Das Ende der Tage werden nach dem, was alle sagen, die Tage des Messias sein; bis zu diesem Ende ist es noch eine sehr lange Zeit, nach Tanna de-Beit Eliahu87 dauern die Tage des Messias zweitausend Jahr.88 An ihrem Anfang kommt der Messias und wird verbannt, und ihr haltet ihn für einen Fremden und wollt nicht, dass er König über euch ist. Gott hat aber zu ihm gesagt: „Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeu79
Sach 9,9. Jes 42,4. 81 Jer 23,19–20. 82 2 Kön 6,17; Dan 9,18. 83 Statt Õkaubt ist vielleicht zu korrigieren: Õktaubt. 84 Jes 29,10. 85 Jer 31,17. 86 Jes 2,5. 87 Tanna de-Beit Eliahu (Die Lehre der Eliahu Schule) wird auch Tanna de-be Eliahu oder Seder Eliahu genannt. Die Datierung dieser Schrift ist umstritten: Frühdatierung in die zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts; Spätdatierung sogar ins 10. Jahrhundert. Die Textteile weisen sowohl palästinische als babylonische Quellen auf. Kapitel 1: 80
inw Óutb dubyw unily snkn ubrw uninuyb xiwm Õipla inw hrut Õipla inw uhut Õipla inw xiwmh tumi lw Õipla – „Zweitausend Jahre ist die Welt ein Chaos; zweitausend Jahre
gibt es Tora; zweitausend Jahre Messias. Wegen unserer zahlreichen Sünden tritt über uns Unterwerfung ein in den zweitausend Jahren der Messiaszeit“. 88 Statt xiwmh tumu („Und dann stirbt der Messias“) ist dem Zitat entsprechend eher zu korrigieren: xiwmh tumi – „Die Zeit des Messias.“
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get89; heische von mir, so will ich dir die Heiden zum Erbe geben und der Welt Enden zum Eigentum“.90 Nach seinem Wort wird er ihn zum König über die gläubigen Völker der Erde machen, wie gesagt worden ist: „Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, dass ich dem David ein gerecht Gewächs erwecken will; und soll ein König sein, der wohl regieren wird, und Recht und Gerechtigkeit auf Erden anrichten. Zu derselbigen Zeit soll Juda geholfen werden, und Israel sicher wohnen“.91 Siehe, das Königreich des Messias, Davids Sohn, ist erfolgreich im Lande, aber das Haus Israels wurde nicht gerettet; in den Tagen des Messias jedoch, noch bevor seine zweitausend Jahre vorüber sind, wird Rettung für Israel kommen. Am Ende der Tage seit den Tagen des Messias werdet ihr einsehen weshalb Gottes Zorn gegen euch ausgegangen ist und euer Volk auch heute trifft, schon eintausendsechshundert Jahre. „Zur selbigen Zeit, spricht der Herr, will ich aller Geschlechter Israels Gott sein und sie sollen mein Volk sein“.92 Weil es Menschen aus der Nachkommenschaft Jakobs sind, haben sie uns zu dem Berg des Herrn geführt, der erhaben ist über alle Hügel in einer mehr als gewöhnlichen geistigen Erhebung, so dass wir, die Völker, Israel gute Gunst erweisen werden nach dem an uns ergangenen Gebot des Herrn: „Höret, ihr Heiden, des Herrn Wort, und verkündigt’s ferne in die Inseln und sprecht: Der Israel zerstreuet hat, der wird’s auch wieder sammeln, und wird ihrer hüten wie ein Hirte seiner Herde. Denn der Herr wird Jakob erlösen und von der Hand des Mächtigen erretten“.93 Möge doch die bestimmte Zeit kommen, von der gesagt wird, dass eines Tages Christen auf dem Berg Ephraims rufen: „Wohlauf, und lasst uns hinaufgehen gen Zion zu dem Herrn, unserem Gott“.94 Möge es mir vergönnt sein, einer dieser Christen zu sein, der den Überrest Israels aufruft, sich zu bekehren und nicht zu zögern95, Gott, unserem Gott, und unserem König David nachzustreben und Gott in seiner Güte zu fürchten.96 Denn an dem Tage wird viel Ruhe und grosser Frieden sich ausbreiten97, wenn der Nacheifer aus dem Lande weichen wird und Völker versammelt werden98 um Schilo anzugehö89 90 91 92 93 94 95 96 97 98
Ps 2,7. Ps 2,8. Jer 23,5–6. Jer 31,1. Jer 31,10. Jer 31,6. Jer 31,22. Mi 7,17. Die Kombination hulw–Õulw ist bekannt von Ps 122,7. Statt thqiu ist zu korrigieren: lhqiu, wie in Ex 32,1 oder Jer 26,9.
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ren99 und dem Nazarener, der aus Isaı¨s Wurzeln100 hervorgegangen ist. Die Erde wird voller Erkenntniss des Herrn sein, wie Wasser das Meer bedeckt.101 So wisst Ihr sicher dass ich mich wahrhaftig und aufrichtig um Euer Wohl kümmere und das Gute für Euer Volk erstrebe. Auch wenn Ihr deshalb mich geringschätzen würdet und Eure Familie mich ablehnen würde: ich werde nicht schweigen, Gott zu erwähnen, und ich werde mein Blut ihm nicht geben bis er bereit sein wird und sein Wort bringt, auf das er mich hoffen lässt.102 Dann wird der Herr Zebaoth (der der König Messias ist laut Targum Jonathan ben Uzziel103, eures zuverlässigen Zeugen, der die Geheimnisse des Heiligen, gesegnet ist er, den Menschen enthüllt hat) den Übriggebliebenen seines Volkes eine liebliche Krone und herrlicher Kranz sein.104 Wenn meine Worte Euren Gaumen versüßen, werde ich noch weiter in dieser Weise reden, so dass ich auf Euch wirke wie kühles Wasser auf die ermattete Seele105, wenn ich eine gute Botschaft zu Euren Ohren bringe. Möge Gott Eurer gedenken in dem Wohlgefallen seines Volkes und Euch mit seinem Heil besuchen um das Gute seiner Erwählten zu sehen, sich zu erfreuen an der Freude seiner Völker, gepriesen zu werden in seinem Erbe. Ganz Euer Freund106, Euch zu dienen bereit, Jacob Alting aus der Stadt Groningen, Mittwoch den 4. Kislew im Jahre 421 der kleinen Zeitrechnung.107 Epistola III. `iw linuruq ruainiw Õhrba r`mk buwxh * Õmuzu bwux * Õmuwm bwui * Õmudmh wial il ukra hnhu * itxkut ly buwt hmu rbdt hm tuarl hpcau itdmy itrmwm ly * Óila abw ip`ya * Óluq ymwn ilb Õirbd ñiau rmua ñiau Õiwdx hmk ily urbyu Õimi urma rwa Õa ik buwxa hmu taz ly rma hm * ibbl txiw Óiniyl hyighu ibtkm hdutu `bti `hl dubk ñtt al hml Ómy tmah hz Õau * aimd haduhk hqitwh lwmb rwa ñibhl blu yumwl Õinzau tuarl Õiniy Ól ñnx rwa ly `yti umw llhtu urbd ly Óbbl dbktu Óiniy Õcyt hmlu * hzh Óurah tulgh imi lk Óimkxlu Óitubal hih al 99
Jer 7,14. Jes 11,10. 101 Jes 11,9. 102 Ps 119,49. 103 Es ist unklar, welche Stelle Alting genau meint. Targum Jonathan ben Uzziel ist eine der aramäischen Bibelübersetzungen, heute als Pseudo-Jonathan bezeichnet. 104 Jes 28,5. 105 Spr 25,25. 106 Abkürzung `xk: Órbx lk. 107 Die Zahl 421 „kleiner Rechnung“ ist 5421 = November 1660. 100
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tbbuwh tmah truwbm Õibzkh qbxtu wmwh hgunm hlil tlpa ruahm Ówuxh bhatu rwa hlah Õimyhm dxa Óiba tiblu Ól an hiha * `h tyuwil hamcu hpiyh wpn Õhilgr udmy Õymw irxau ñuicm tacuih utrut dumllu yumwl `h rh la ulyu uklh Õtau * `h ruab hklnu ukl bqyi tib Õkl Õirmua Õkila Õtbix burmu uituxruab la Õkkilunw Õkdi untu Õkklm unxiwm truwb Õyun la Õkbbl ubixrhu Õkinza ubiwqh Ñrah tuxpwm lk ly Õta Õg unxna Õg uhkilmnu Õkl dluiw dlih lau Õkl ñtinh ñbh la `h úa ñurx ly duy tupsl Õiatx Õiwna tubrt Õkituba txt umuqt an la * zb im ik ursuhu Õiduhih ulikwh * Õktudby luy dibkhlu Õktulg Óirahl larwi `h ik uaru unib ñuwarh tib dgn ñiak auhw ñurxah tibh dubk utuarb tunjq Õuil ñudah ulkih la aubb ñuwarh ñm rtui dam ludg dubk ñurxah tibh ta alm `bti rdh alu ul raut al hic Ñram wruwk hly ik Óa * larwil yiwumu Õiugh lk tdmx Õiwia ldxu Õy iuzb ihiu * uhudmx al ñk ly ul harm alu urud iwna Õkituba uhuariu uwpn ta hixh auhu * uilgru uidi ñidk uhurqd uiwna idibu ñumghl uhursmu ub uwxku ñuwarh Õda ta aiwmh wxnh bkur war ta ubqyb úw rwa irxa rpy ly ñurxa Õqu dubk Õihla uhrjyiu * Õurml hlyu xqliu luaw dim hdpn ñjwh xcnm hzu * utwau uhjm xlwiu uzuy `h huc * uilgrl Õudh uibiua utwui ik dy unimil `h uhbiwuiu rdhu tubdn Õyl ul tuihlu ñukwl Õirrus úau Õdab tuntm xql * uibiua brqb hdriw ñuicm xiwmh Õw la uuqnu Õiugb lix htwy `h ñimi hmmur `h ñimi * wduq irdhb ulix Õuib uila aubl Õinurxa uiht hmlu Õta urwbu umcy uixa Õtau * utrutb uklhu ub unimahu iny Õkitubal ab auh * Õkklm dud tau Õkihla `h ta uwqbu Õibbuw Õinb ubuw * rubg Õkl ab htyu utulpwbu utuinyb Õwpn hlhbu tunuta ñb riy lyu rumx ly bkuru ik utruwbl uymwu Õinza an ujh qdc hunyu tma rbd ly bkur xluc urdhu uduh rugx zau Õhily ubikrhl bidn umy tubkrm Õkituwpn hniiht * ul uuxtwhu Õkinda auh arql hrurb hbw hliwl ul Õthqi rwa Õimyh la `h Óphw Õkiniyu uniniy hnizxt Õidi tbxr wpnu itxkut la tymuw ñzua `h ñnuxi * dxa Õkw udbyl `h Õwb Õlk Ómiwiu qzx ñuxjbbu hmlw hnumab xiwmh trut lbqlu Óiym Óutb hla irbd biwuhl utyidiu tinxur hxlchb unmy uxilctw dud ñb Ólmh la Õbiwhl Óiba tibl war tnw rbmibun wdxl g`i `ui ñgninurg hp * gnijla bqyi Õuan ñucr hihi ñku ñma trwamh q`pl r`tsa al Óinpm za
Brief III. An den zum Schweigen gebrachten Mann, der bestürzt darniedersitzt108, denkend und überlegend, unseren geehrten Lehrer, Herrn109 Abraham Schiniur110 Coronel, er möge leben.111 108 109 110 111
Esra 9,4. Hebr. r`mk: ibr unrum dubk. Zweite Variante für die spanischen Name Senior. Hebr. hixiw.
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Ich bin auf meine Feste getreten112 und ich warte ab um zu sehen was Ihr sagen und antworten werdet auf meine Ermahnung. Siehe, es hat mir viele Tage gedauert, und es sind einige Monate vorbeigegangen, und es ist keine Sprache noch Rede, da man nicht ihre Stimme hört113, obwohl mein Brief Euch erreicht hat und was mir am Herzen lag unter Eure Augen gekommen ist. Was soll ich hierüber sagen und hierzu denken als bloss, was man in dem Sprichwort gesagt hat: „Schweigsamkeit ist als Zustimmung zu betrachten“.114 Wenn dies Wahrheit bei Euch ist, warum bezeigt Ihr Gott, gesegnet ist er, keine Ehre und keinen Dank für sein Wort und preiset Ihr nicht seinen erhabenen Namen, weil er Euch begünstigt hat mit Augen zum Sehen und Ohren zum Hören und einem Herzen um zu verstehen, was es alle Tage eines langen Exils nicht gab bei Euren Vorfahren und Euren Weisen? Warum schliesst Ihr Eure Augen und beschwert Ihr Euer Herz115, und habt Ihr die Finsternis lieber als das Licht, das nächtliche Dunkel lieber als den Glanz der Sonne, und umarmt Ihr Lügen mehr als die wahre Botschaft, die die ermattete und nach Gott dürstende Seele erquickt.116 Lasset mich doch einen aus den Völkern sein für Euch und für das Haus Eures Vaters, die gegangen und aufgestiegen sind zum Berge des Herrn117, um seine Lehre zu hören und zu lernen, die von Zion ausgeht118, und nach dem Anhören ihre Füße auf seine Wege gesetzt haben und aus großer Neigung zu Euch sagen: „Kommet nun, ihr vom Hause Jakob, lasst uns wandeln im Licht des Herrn!“119 Und Ihr, merkt auf mich120, höret mich und öffnet Euer Herz weit121 für die angenehme Botschaft unseres Messias, Eures Königs, und reicht Eure Hand, damit wir Euch führen zu dem Sohn der Euch gegeben und zu dem Kind das Euch geboren ist122: wir sowohl als Ihr werden ihn zum König über alle Sippen der Erde machen. Tretet doch nicht in die Spuren Eurer Vorfahren, einer Schar von Sündern123, um wiederum wegen Gottes heftigem Zorn gegen
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Hab 2,1. Ps 19,4. 114 bJeb 87b. 115 Ex 9,7. 116 Ps 42,3. 117 Mi 4,2. 118 Mi 4,2. 119 Jes 2,5. 120 wie Jes 51,4. 121 Ps 119,32. Das Wort Õyug bedeutet etwa „Ihr Sterben“ und ist in diesem Kontext vielleicht metaphorisch zu verstehen „bis zum Tode bereit zu akzeptieren“. 122 Jes 9,5. 113
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Israel umzukommen in der Verlängerung Eures Exils, in der Erschwerung des Joches Eurer Sklaverei.124 Kommt zur Besinnung, Juden, und lasst euch züchtigen, denn wer verachtet die geringen Tage125, wenn er die Glorie des letzten Tempels sieht, der im Vergleich zum ersten Tempel gar nichts war? Begreift und seht, dass Gott, gesegnet ist er, den letzten Tempel mit großer Herrlichkeit erfüllt hat, die viel mehr war als die erste, (was er auch tun wird) wenn der Herr zu seinem Palast kommt, Kostbarkeit der Völker und Retter Israels.126 Aber als er wie ein Reis emporschoss aus der dürren Erde, hatte er keine Gestalt und keine Pracht; eure Väter, die Menschen aus seiner Generation, sahen ihn ohne Ansehen und deshalb wollten sie ihn nicht.127 Er war ein vom Volk Verachteter128, von den Menschen Gemiedener129, und sie haben ihn verraten130 und dem Statthalter131 ausgeliefert und durch die Hände seiner Leute haben sie nach dem (geltenden) Recht seine Hände und Füße durchstochen. Er hat seine Seele bei dem Leben erhalten132 und trat schliesslich auf den Staub133, nachdem er mit seiner Ferse den Kopf des Schlangenreiters zermalmt134, der den ersten Menschen und seine Frau verführt hatte. Und dieser, der den Satan besiegt hat, wurde aus dem Tode erlöst, wurde genommen und stieg auf zum Himmel. Gott hat ihn mit Ehre und Schmuck gekrönt135 und zu seiner Rechten gesetzt, so dass seine Feinde zum Schemel seiner Füsse gemacht wurden.136 Gott hat ihm seine Macht geboten137 und sein Zepter aus Zion geschickt138, um ihn über seine Feinde herrschen
123 Eine spätere Hand hat den Buchstaben t gestrichen und darüber den Buchstaben j geschrieben. Die Korrektur ist richtig und entspricht Num 32,14. 124
1 Kön 12,14. Sach 4,10. 126 Hag 2,10. 127 Jes 53,2. 128 Ps 22,7. 129 Jes 53,3. 130 Jer 5,12. 131 Hebräisch: hegmon, hegemon, ein griechisches Wort das in der rabbinischen Literatur zu finden ist. 132 Gen 19,19. 133 Ijob 19,25. 134 Gen 3,15. 135 Ps 8,6. 136 Ps 110,1; Apg 2,35. 137 Ps 68,29. 138 Vielleicht eine falsche Verbindung zwischen Verb xlw und Nomen hjm. Viel häufiger hjm + Ólw, wie in Ex 7,10: „seinen Stab (nieder)werfen“ = „seine Macht ausbreiten.“ 125
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zu lassen. Er nahm Gaben in Empfang unter den Menschen, ja auch von Widerspenstigen um dort zu wohnen139, damit (sie) ihm freiwillig zu einem Volk würden am Tage seiner Macht in heiliger Pracht.140 Gottes Rechte ist erhoben, seine Rechte tut Mächtiges141 unter den Völkern, und sie werden versammelt unter dem Namen des Messias; sie glauben an ihn und folgen seiner Lehre. Und ihr, seine Brüder, seid stark und lasst in eurer Mitte die Botschaft erklingen; warum solltet ihr die letzten sein, um zu ihm zu kommen? Bekehrt euch, abtrünnige Söhne142, und sucht den Herrn, euren Gott143, und David, euren König. Er kam zu euren Vätern in Armut und reitend auf einem Esel, einem Eselhengst, einem Eselfüllen144, und sie waren sehr verstört145 über seine Armut und seine Bescheidenheit, aber jetzt kommt er zu euch als Held, umgürtet mit Herrlichkeit und Pracht146, dahinziehend für eine wahre, bescheidene und gerechte Sache.147 Neigt darum eure Ohren und hört auf seine Botschaft, denn er ist euer Herr und ihr werdet euch vor ihm verbeugen.148 Eure Seelen sollen die fürstlichen Wagen sein auf denen er fährt149, dann werden eure Augen und unsere Augen sehen150, dass Gott deutliche Rede151 gesprochen hat zu den Völkern, die er für sich versammelt hat152, um zu Schilo zu gehören153, damit sie alle seinen Namen anrufen und Schulter an Schulter stehen, um ihm zu dienen.154 Möge Gott dem Ohr, das meine Ermahnung hört155, gnädig sein sowie der geräumigen Seele156, um diese Worte in Euer Inneres zu setzen und die Lehre des Messias in vollkommenem Glauben und kräftigem Vertrauen anzunehmen. Möge
139 140 141 142 143 144 145 146 147 148 149 150 151 152 153 154 155 156
Ps 68,19. Ps 110,3. Ps 118,16. Jer 3,14. Hos 3,5. Sacha 9,9. Ps 6,4. Ps 104,1. Ps 45,5. Ps 45,12. Hld 6,12. Ps 17,2. Statt hbw ist zu korrigieren: hpw. Statt thqiu ist zu korrigieren: lhqiu, wie in Ex 32,1 oder Jer 26,9. Jer 7,14. Zef 3,9. Spr 15,31. In der Bibel nur gesagt von Stadt oder Land, wie Neh 7,4.
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(Gott) Euch zum Haupt des Hauses Eures Vaters machen, um sie zu dem König, dem Sohn Davids, zu führen, so dass Ihr mit uns gutes Gelingen haben möget in geistigem Erfolg und in seiner glückbringenden Erkenntnis, Amen. Möge das so sein, so lautet das Wort von Jacob Alting, hier zu Groningen, am 13. des Monats November in dem Jahr „So will ich mich vor dir nicht verbergen“ nach der kleinen Zeitrechnung.157 Die von Alting verwendete hebräische Briefsprache entspricht dem epistolarischen Gelehrtenstil der zeitgenössischen Dokumente und ist mit zahlreichen Anspielungen an Bibelverse, Talmud und Midrasch versehen. Offenbar wurden die Briefe auch von Alting selber als literarische Kunststücke geschätzt, in seinem Korrespondenzarchiv aufbewahrt und als Appendix in das Lehrbuch der hebräischen Lautlehre aufgenommen. Die Briefe bieten einen oberflächlichen Blick in das Berufsleben Altings, wie er sich bemüht hat, rabbinisch-hebräische Bücher aus Amsterdam zu bekommen. Leider wissen wir nahezu nichts von dem jüdischen Buchverkäufer Abraham Senior Coronel, zweifellos einem Angehörigen der sephardischen Gemeinde. Aus seinem einzig erhaltenen Responsum ist klar, dass Coronel Altings Beschuldigungen zurückwies und seine Religion verteidigte gegen dessen Bekehrungsideen, die auf traditionell-christlichen Schriftinterpretationen beruhten. Er schämte sich nicht für sein jüdisches Selbstbewusstsein, stark im Einklang mit der libertinischen Atmosphäre in Amsterdam im Zeitalter der Republik der Vereinigten Niederlande. Jacob Alting hat in jeder Hinsicht viel für die Groninger Akademie bedeutet und war drei Mal Rektor dieser Universität. Seine wissenschaftliche, hebraistische Arbeit hat auf die Entwicklung der hebräischen Sprachkenntnisse anregend gewirkt und wurde in Groningen nur noch von dem Orientalisten Albert Schultens übertroffen.158 Er starb 1679, und ihm wurde ein von Johannes Mensinga verfasstes Epitaphium gewidmet: „En jacet hic aevi laus prima, et gloria gentis, Ingenii notae per monumenta sui.
157
Ijob 13,20. Das Wort r`tsa hat als Zahlwert 661. Es ist unklar welche Buchstaben im Vers gezählt werden sollen um wieder die Zahl 421 zu erreichen (= 1660). 158 Jan Nat, De studie van de Oostersche talen in Nederland in de 18e en 19e eeuw, Purmerend 1929.
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wout van bekkum Ille decus Patriae, Templi decus, ille Lycaei, Et metus et scopulus hic jacet Invidiae. Quod fugit a nostris ceu turbine raptus Athenis, Hoc reor est aevi culpa, pudorque sui.“ „Hier159 liegt das höchste Lob dieser Zeit und der Ruhm seines Volkes, bekannt durch die Denkmäler seines Genies, Er, die Zierde des Vaterlands, die Zierde der Kirche sowie des Lyzeums, ein Schrecken und ein Fels in der Brandung gegen die Missgunst, liegt hier, Dass er aus unserem Athen entflieht wie mitgerissen von einem Wirbelwind, das ist, meine ich, die Schuld seiner Zeit und zugleich deren Schande.“160
159 Mit großem Dank an Jos M. M. Hermans, Rijksuniversiteit Groningen: Die &-Ligatur wurde im holländischen Sprachgebiet in den späten Mittelalter und der Frühmodernen Zeit ohne Unterschied für et und en verwendet, d. h., beide mit der Bedeutung und. 160 Jacobi Altingii Vita, S. 8: Altingianis manibus: Epitaphium; ebd., S. 7: Joh. Rodolfus Wetstenius, Benedictae Memoriae D. Jacobi Altingii. Mit großem Dank an Adri van der Laan, Rijksuniversiteit Groningen. Die Veröffentlichung der Opera Omnia von Jacob Alting wurde von dem berühmten, nicht-jüdischen Mischna- und Talmudgelehrten Jan Surenhuis (1687) besorgt. Bibliographie: Aaron L. Katchen, Christian Hebraists and Dutch Rabbis: Seventeenth Century Apologetics and the Study of Maimonides’ Mishneh Torah, [Harvard Judaic Studies 3] Cambridge, Mass 1984.
DIE HEBRAISTIK IN WITTENBERG (1502–1813): VON DER „LINGUA SACRA“ ZUR SEMITISTIK Gianfranco Miletto und Giuseppe Veltri Die Anfänge des Studiums der hebräischen Sprache in Wittenberg gehen auf die Gründung der Universität zurück und sind bei einigen Gelehrten zu suchen, die die humanistischen Studien gepflegt haben. In der Stiftungsurkunde des Königs (und späteren Kaisers) Maximilians I. (6. Juli 1502) wird das Studium der „edlen Künste“ („bonae artes“) in der artistischen bzw. philosophischen Fakultät besonders hervorgehoben. Die neue Universität sollte laut Maximilian I. dafür sorgen, „daß die Wissenschaften, edlen Künste und freien Studien im glücklichen Fortgang zunehmen, damit unsere Untertanen aus der Quelle göttlicher Weisheit schöpfen und zur Verwaltung des Staatswesens und zur Besorgung der übrigen menschlichen Geschäfte geschickter werden.“1 Die humanistischen Disziplinen finden auch im kurfürstlichen Einladungsschreiben Friedrichs des Weisen und seines mitregierenden Bruders Johann (24. August 1502) zur Eröffnung der Universität am 18. Oktober eine besondere Erwähnung. Das Lehrangebot der artistischen Fakultät sollte nicht nur die traditionellen freien Künste, sondern auch „Poeterei und andere Künste“ beinhalten.2 Damit wehte auch in Wittenberg der neue Wind des Humanismus, der, aus Italien kommend, schon in anderen Universitäten im deutschsprachigen Raum wie Wien, Ingolstadt, Heidelberg und Tübingen, eingedrungen war. Allerdings war die Pflege humanistischer Disziplinen in der ersten Phase der Gründung und des Aufbaus der Wittenberger Universität (1502–1518) hauptsächlich von der Initiative einzelner Dozenten abhängig, die nach 1 W. Friedensburg, Urkundenbuch der Universität Wittenberg, 2 Bde., Magdeburg 1926–27: Bd. 1, S. 1–3. Deutsche Übersetzung von A. Blaschka, „Der Stiftsbrief Maximilians I. und das Patent Friedrichs des Weisen zur Gründung der Wittenberger Universität“, in: 450 Jahre Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 3 Bde., Halle (Saale) 1952, Bd. 1, S. 69–101, insbesondere S. 78–80. 2 Friedensburg, Urkundenbuch der Universität Wittenberg, Bd. 1, S. 4. Nach damaligem Verständnis umfaßte Poetik auch das Studium der Werke der griechischen und lateinischen Autoren.
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Wittenberg zogen und um sich herum einen Kreis humanistisch gleichgesinnter Gelehrten bildeten. Friedrich der Weise selbst bemühte sich, für seine neu gegründete Universität Lehrpersonal zu gewinnen, das von der humanistischen Bildung geprägt war. Insbesondere trugen Christoph Scheurl und der aus Friaul stammende Richardus Sbrulius dazu bei, in Wittenberg den italienischen Humanismus einzuführen. Scheurl, 1481 in Nürnberg geboren, hatte seit 1498 Jura in Bologna studiert und war durch seinen langjährigen Italienaufenthalt mit dem italienischen Humanismus wohl vertraut. Anfang 1507 berief ihn Friedrich der Weise als Dozent der Rechte und der „artes“ an seine Universität. Scheurl kam am 8. April nach Wittenberg und wurde zum Rektor der Universität gewählt. Zusammen mit Scheurl wirkte der Italiener Sbrulius, den König Maximilian I. auf dem Konstanzer Reichstag (1507) Friedrich dem Weisen empfohlen hatte. Der Kurfürst stellte Sbrulius als Lehrer für Poetik und Rhetorik an der Universität Wittenberg an, wo er bis 1513 blieb.3 Noch vor Scheurl und Sbrulius hatte sich um Nikolaus Marschalk, Balthasar Vach („Phacchus“)4 und Hermann Trebellius eine Gruppe Wittenberger Humanisten, die sogenannten „grammatici“, gebildet, die bei der Einführung der griechischen Sprache an der Wittenberger Universität Pionierarbeit geleistet haben.5 Marschalk ist auch einer der ersten Wittenberger Humanisten, der sich mit dem Hebräischen beschäftigt hat. Nikolaus Marschalk6 wurde um 1470 in dem thüringischen Städtchen Roßla geboren, woher er den humanistischen Namen „Marescalcus Nicolaus Thurius“ ableitete. Im Wintersemester 1491 ließ er sich an 3 H. Kathe, Die Wittenberger philosophische Fakultät 1502–1817 (Mitteldeutsche Forschungen 117), Köln, Weimar, Wien 2002, S. 15, 23. Über die Einführung des Humanismus in Wittenberg siehe M. Steinmetz, „Die Universität Wittenberg und der Humanismus (1502–1521)“, in: 450 Jahre Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Bd. 1, S. 103–139; M. Grossmann, Humanism in Wittenberg 1484–1517, Nieuwkoop 1975; Kathe, Die Wittenberger philosophische Fakultät, S. 1–46. 4 Über Vach siehe M. Treu, „Balthasar Fabritius Phacchus. Wittenberger Humanist und Freund Ulrichs von Hutten“, in: Archiv für Reformationsgeschichte 80 (1989), S. 68– 87. 5 Kathe, Die Wittenberger philosophische Fakultät, S. 22. 6 Über ihn siehe G. Bauch, „Die Einführung des Hebräischen in Wittenberg. Mit Berücksichtigung der Vorgeschichte des Studiums der Sprache in Deutschland“, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 48 (1904), S. 22–32, 77–86, 145–60, 214–23, 283–99, 328–40, 461–90; hier S. 145–146 und die Einleitung zu Marschalks Oratio habita albiori academia in Alemania iam nuperrima ad promotionem primorum baccalauriorum numero quattuor et viginti anno Domini 1503, hrsg. von E. L. Reinke u. G. Krodel, Valparaiso University 1967, S. 3–26.
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der Universität Erfurt als „Nicolaus Marescalcus de Gronenberg“ immatrikulieren, wo er 1496 die akademischen Grade als Magister der freien Künste und Bakkalaureus beider Rechte erwarb. In Erfurt begann Marschalk seine Tätigkeit als Drucker, zunächst zusammen mit Wolfgang Schenk, der 1499 in Erfurt eine Druckerei eröffnet hatte. In diesem Jahr veröffentlichte Marschalk bei Schenk ein lateinisches Lexikon (12 Folioblätter in Quarto) zur Giorgio Vallas lateinischen Übersetzung von Michael Psellos De victus ratione. Es folgten weitere Schriften humanistischen Inhaltes: Eine kommentierte Ausgabe von Martianus Capellas De arte grammatica (1500, 32 Folioblätter in Quarto) und die Orthographia (1501, 56 Folioblätter in Quarto) und eine komparative Studie der griechischen und der lateinischen Sprache, die für Studenten gedacht war. Noch in demselben Jahr veröffentlichte Marschalk bei Drucker Paul von Hachenborg seine Grammatica exegetica, die er Peter Eberbach, einem seiner Schüler, widmete. In der Einleitung erklärt Marschalk seine Vorstellung humanistischer Bildung als Vermittlung moralischer Tugenden ganz im Sinne von Ciceros vir bonus dicendi peritus. Im Oktober 1501 errichtete Marschalk eine private Druckerei und gab die Laus musarum (18 Blätter in Quarto), eine Auswahl von Gedichten lateinischer und griechischer Autoren, heraus. Er fügte auch einige seiner lateinischen Gedichte hinzu, die in Musik gesetzt werden sollten, versehen mit Noten. Die Laus musarum war nur die Vorarbeit für eine anspruchsvollere Unternehmung. Denn ein Jahr später erschien das Enchiridion poetarum clarissimorum (462 Blätter in Quarto), eine Sammlung lateinischer Gedichte von den alten Autoren bis zu den Zeitgenossen. Zu seinen humanistischen Interessen zählte auch das Hebräische. Vor seiner Übersiedlung nach Wittenberg druckte Marschalk in Erfurt eine Introductio ad litteras hebraicas utilissima (1501) und etwa 1502 die erste selbständige Ausgabe der Introductio perbrevis ad hebraicam linguam, die zuvor der venezianische Drucker Aldo Manuzio der griechischen Grammatik De octo partibus orationis des byzantinischen Constantinus Lascaris beigefügt hatte. Es scheint, daß Marschalk wegen seines offenen Antischolastizismus an der Erfurter Universität keine Anstellung bekam. Dennoch konnte Marschalk seine humanistischen Kenntnisse privat weiter vermitteln. Er bildete um sich einen Schülerkreis, zu dem die Brüder Peter und Heinrich Eberbach, Hermann Trebelius von Eisenach, Georg Spalatin, Christian Beyer und Johann Lang zählten. Spalatin, Trebelius und Beyer folgten ihrem Meister nach Wittenberg und sollten später eine wichtige Rolle bei der Geschichte der neu gegründeten Universität spielen.
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Im Winter des Jahres 1502 nahm Marschalk die Einladung des sächsischen Kurfürsten Friedrich des Weisen (1486–1525) an und zog nach Wittenberg. Im Rotulus von 1502 ist Marschalk als „Nicolaus Marscalcus Thurius artium magister et utriusque iuris baccalaureus Erfordiensis“ aufgelistet. Neben einer Lehrtätigkeit in der artistischen Fakultät setzte er sein Jurastudium fort und promovierte am 23. April 1504. Die Ernennung von Martin Pollich aus Mellrichstadt zum ersten Rektor der Wittenberger Universität brachte unter den Humanisten, den sogenannten „grammatici“, Unruhe hervor. Pollich war Leibarzt Friedrichs des Weisen gewesen und galt als streng scholastischer Theologe, der keinen besonderen Sinn für das Anliegen der Humanisten zu haben schien. Marschalk reichte dem Kurfürsten eine Beschwerde ein. Der Kurfürst griff ein und versuchte den Streit beizulegen. Dennoch kehrten viele Humanisten Wittenberg den Rücken, unter ihnen auch Hermann von der Busche, der sich 1503 nach Leipzig wandte. Marschalk verließ Wittenberg Anfang 1505. In demselben Jahr lehnte er das Angebot des Kurfürsten Joachim I. von Brandenburg um eine Anstellung an der zu errichtenden Universität von Frankfurt an der Oder ab und ging zum mecklenburgischen Herzog Heinrich V. dem Friedfertigen, im dessen Dienste er bis 1510 als „orator“, d. h. als Rat und Botschafter, stand. Ende 1510 kehrte Marschalk in die akademische Welt zurück. Er unterrichtete an der Universität von Rostock Jurisprudenz und hielt nebenbei auch humanistische Vorlesungen. Seine Kenntnisse des Hebräischen hatten sich auch verbessert, denn er bot dem Herzog Heinrich an, die heilige Schrift „in twen tunghen, alsse greckesch und jodesch“ an der Universität zu lesen. Der Herzog nahm den Vorschlag Marschalks an und ordnete der Universität an, ihm für seine Vorlesungen zusätzlich 50 Gulden zu bezahlen. Marschalk setzte auch seine Druckertätigkeit fort: 1514 erlangte er die lateinischen und griechischen Typen wieder, die er seinem Schüler Trebellius anvertraut hatte und in deren Besitz der Wittenberger Drucker Johannes Gronenberg schließlich gelangt war. Aus der Rostocker Druckerei sind mehrere Geschichtswerke und Lehrbücher herausgegeben worden, die als Ergänzung und Unterstützung Marschalks Lehrtätigkeit gedacht waren. Darunter erschienen auch die Rudimenta prima linguae Hebraicae (Rhostochii, 1516). Während der aufkommenden Reformation stellte sich Marschalk gegen Luther und gegen eine Verbindung von Humanismus und Reformation. Er starb am 12. Juli 1525 in Rostock und wurde in Doberan (Althof) begraben. Trotz seines kurzen Aufenthaltes hat Marschalk zur Entwicklung des Humanismus in Wittenberg wesentlich beigetragen. Durch seine Druk-
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kerei und Lehrtätigkeit hatte er den Boden bereitet, auf dem entgegen seinen Erwartungen durch das Zusammentreffen humanistischer Bildung und theologischer Erneuerungen die Pflanze der Reformation wachsen sollte. Wir haben zwar kein Zeugnis dafür, daß Marschalk in Wittenberg Hebräisch unterrichtete, aber aufgrund seiner Erfurter Einleitung in die hebräische Grammatik und seiner hebräischen Vorlesungen an der Universität Rostock ist jedoch anzunehmen, daß er auch in Wittenberg privatim wenigstens die ersten Elemente des Hebräischen gelehrt hat. Zu den Theologen, die sich dem humanistischen Kreis von Christoph Scheurl anschlossen und theologische mit humanistischer Bildung verknüpften, gehörte auch Andreas Bodenstein, genannt nach seinem Geburtsort „Karlstadt“ (ca. 1480–1541).7 Karlstadt ist der erste, der in Wittenberg einem Druckwerk ein hebräisches Zitat beigefügt hat. Seinen 1508 durch den Drucker Johannes Rhau-Grunenberg (bzw. Gronenberg) in Wittenberg erschienenen Distinctiones Thomistarum hängte Bodenstein den hier abgebildeten Spruch (siehe Bild Nr. 1) auf Hebräisch mit lateinischer Übersetzung an: Jesu, Sohn Gottes, Sohn des David und Sohn Mariae, König der Welt. A[ndreas] B[odenstein] K[arlstadt] YHWH Sadday (sic!)
Die Wiedergabe des Namens „Jesus“ auf Hebräisch als „YeHaShWaH“ ist nicht nur als Beispiel Karlstadts humanistischer Gelehrsamkeit zu betrachten. Darin soll man eher ein Zeichen seiner kabbalistischen Interessen unter dem Einfluß von Reuchlin sehen. „YHWH Sadday“ ist fehlerhaft geschrieben. Richtig ist „YHWH Shadday“, das dem lateinischen „Deus omnipotens“, d. h. „Gott der Allmächtige“ entspricht. Die Verwechslung des Buchstaben „shin“ durch das „samek“ ist wahrscheinlich auf Karlstadts zu dieser Zeit noch mangelhaften Kenntnissen der hebräischen Sprache und auf die Abhängigkeit von seiner Vorlage zurückzuführen. Reuchlin hatte schon in seinem De Verbo mirifico (um 1494) den Namen von Jesu als eine Erweiterung des göttlichen Tetragramms „YHWH“ gedeutet und „Shadday“, einen der Gottesnamen, als SDI mit lateinischen Buchstaben erwähnt, was zur fehlerhaften hebräischen Wiedergabe in dem Zitat von Karlstadt führte.8 Als begeisterter 7 Über die Wirkung Karlstadts bei der Einführung des Hebräischen in die Wittenberger Universität siehe H. P. Rüger, „Karlstadt als Hebraist an der Universität Wittenberg“, in: Archiv für Reformationsgeschichte 75 (1984), S. 297–308. 8 „Tribus characteribus in tempore naturae, et quatuor characteribus in tempore legis, et quinque characteribus in tempore gratiae, invocata est divina omnipotentia.
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Anhänger Reuchlins vertiefte Karlstadt im Laufe der Zeit, auch mit Hilfe jüdischer Gelehrter, seine Hebräischkenntnisse, um seinem Interesse für die biblische Philologie und die christliche Kabbalah nachgehen zu können.9 In der Tat war er im Sommersemester 1516 in der Lage, Reuchlins De arte cabbalistica zu lesen. Zusammen mit Spalatin und Luther hatte Karlstadt bei der Errichtung einer hebräischen Professur eine zentrale Rolle gespielt. Der erste, der vor der offiziellen Errichtung eines Lehrstuhls fürs Hebräische nachweislich in Wittenberg Hebräisch, wenn auch nur privatim, gelehrt hat, ist der Humanist Tileman aus der Familie Conradi aus Göttingen.10 Er wurde vermutlich als Sohn eines gleichnamigen katholischen Pfarrers der Göttinger Gemeinde von St. Albani um 1485 geboren. Seine (unverheiratete) Mutter war aus Braunschweig. Daher bezeichnete Conradi manchmal Braunschweig und manchmal Göttingen, die Stadt seines Vaters, als seine Heimat. Ab 1509 legte sich Conradi den humanistischen Namen „Syasticanus“ zu, den er sich durch eine griechische Deutung von Göttingen als „sia“ (= lakonische Form für den klassischen „thea“, Deutsch „Göttin“ und „asty“, d. h. „Stadt“) ausgedacht hatte. Im Wintersemester 1502/03 ließ er sich als „Tiloninus Conradus de gottingen“ in die Universität Erfurt einschreiben, wo er im September 1504 das Bakkalaureat erwarb. In Erfurt schloß er sich dem dortigen Humanistenkreis an und gab seine erste, nicht ganz gelungene Probe lateinischer Dichtkunst. 1509 kam Conradi
Locutus est enim dominus ad Moysen dicens: ,Ego sum Tetragrammus, qui apparui Abraham, Ishac et Iacob in deo Sadai, et nomen meum Adonai non indicavi eis.‘ [Exodus 6,2–3] Et sequitur: ,Et assumam vos mihi in populum et ero vester deus, et scietis, quia sum Adonai.‘ [Exodus 6,7] Audivistis Moysen, audite Evangelistam et Apostolum dei. ,Hoc est‘, inquit, ,mandatum dei, ut credamus in nomine filii eius Ihsuh Christi.‘ [1 Johannes 3,23] Iungite universa haec, et cognoscetis facile omnium potentissimam usquequaque apparuisse virtutem et operationem semper efficacissimam, per nomen avorum Trigrammaton, et patrum Tetragrammaton, et filiorum Pentagrammaton, id est, in natura SDI, in lege ADNI, in charitate IHSUH.“ (De verbo mirifico III, 15–39), zitiert nach Johannes Reuchlin Sämtliche Werke, hrsg. von Wi.-W. Ehlers, H.-G. Roloff u. P. Schäfer, Stuttgart–Bad Cannstatt 1996, Bd. 1/1, S. 402. Dazu siehe F. Secret, «Les kabbalistes chre´tiens de la Renaissance», Mailand 1985, S. 41–50. Über Reuchlin als Vorlage für Karlstadts Zitat siehe Rüger, „Karlstadt als Hebraist an der Universität Wittenberg“, S. 299–302. 9 Siehe Brief von Karlstadt an Spalatin (Juli 1516) erwähnt von Bauch, „Die Einführung des Hebräischen in Wittenberg“, S. 147. 10 H. Volz, „Der Humanist Tilemann Conradi aus Göttingen. Ein Beitrag zum Thema: Humanismus und Reformation“, in: Jahrbuch Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 65 (1967), S. 76–116.
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nach Wittenberg, dorthin gelockt vielleicht auch von den humanistischen Fächern der „poterei“ und der „humanae literae“, die in der artistischen Fakultät der neu gegründeten Universität einen bedeutenden Platz hatten. Im Sommer desselben Jahres erwarb er den Magistergrad und begann sein juristisches Studium. Im Frühjahr 1511 wurde Conradi in den Senat der artistischen Fakultät aufgenommen. Seine humanistische Bildung, die er durch eine italienische Reise vertieft hatte, umfaßte außer Latein und Griechisch auch einige Elementarkenntnisse des Hebräischen, die er ab etwa 1515 in seiner Privatschule („Schola philymnea“) unterrichtete. Die „Schola philymnea“ kann als Vorläuferin des einige Jahre später errichteten „Pädagogiums“ angesehen werden. Conradi bekam jedoch keine feste Anstellung an der Universität, weshalb er 1520 Wittenberg verließ und eine Juristenlaufbahn einschlug. Die letzten Notizen, die wir von ihm haben, betreffen seine Tätigkeit als Jurist in Worms in den Jahren 1521/1522. Sein Interesse für die hebräische Sprache wurde wahrscheinlich durch Luther angeregt, unter dessen Einfluß Conradi sich der Theologie zuwandte, wie er im Triumphus Christi (Wittenberg 1516) berichtet. Auch nach seiner Abreise pflegte Conradi einen Briefwechsel mit dem Kreis der Wittenberger Reformatoren (Melanchthon, Karlstadt und Spalatin). Die ersten schriftlichen Proben des Hebräischen sind in seiner gegen die scholastischen Geistlichen gerichteten Comoedia Teratologia (Wittenberg 1509) enthalten, worin er nach einem Gruß auf Griechisch und Latein die hebräischen Worte „Amen, Qadosch, Qadosch, Qadosch“ (= „Amen, Heilig, Heilig, Heilig“) hinzufügte. Auch wenn seine Hebräischkenntnisse nicht über die einfachsten Grundlagen hinausgingen, so hatte er den Grundstein für das Erlernen der hebräischen Sprache in Wittenberg gelegt. In ihm vollzog sich die Umwandlung von einem rein literarischen Humanismus hin zu einem biblischen Humanismus, die die zukünftige Entwicklung der humanistischen Studien an der Wittenberger Universität charakterisieren sollte. Um die humanistischen Studien voranzutreiben, ließ Kurfürst Friedrich der Weise im Frühjahr 1518 eine Lehrstätte errichten, wo die jungen angehenden Studenten als Vorbereitung zu den Universitätskursen die Grundkenntnisse von Latein, Griechisch und Hebräisch erlernen sollten. Gerade ein Jahr zuvor war an der Universität Löwen auf Anregung Busleydens, eines Freundes von Erasmus, das Collegium trilingue eröffnet worden, das zu einem europäischen Zentrum für das Studium der lateinischen, der griechischen und der hebräischen Sprache werden sollte. Durch die Gründung des dreisprachigen Pädagogiums setzte sich
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das humanistische Ideal des „homo trilinguis“,11 nämlich des Gelehrten, der in allen drei Sprachen, Latein, Griechisch und Hebräisch, bewandert ist, auch in Wittenberg als Grundlage der akademischen Bildung durch. Zwei Magister, Jodocus Morlyn (oder Jobst Mörlin) aus Feldkirch und Johann Reuber (lateinisiert in „Raptor“) aus Bockenheim waren die ersten Leiter des Institutes. Morlyn hatte sich am 13. September 1508 in die Universität Freiburg eingeschrieben, studierte seit dem Sommersemester 1509 in Leipzig und ab 1510 in Wittenberg, wo er am 10. Februar 1512 den Magistergrad erwarb. 1516 wurde er Dekan der artistischen Fakultät. Noch 1520 war er als Lektor der Metaphysik in der Universität tätig. Bereits 1521 verließ er Wittenberg aus Geldnot und übernahm eine Pfarrstelle in Westhausen bei Coburg. Auch Reuber, der bereits als Magister 1511 nach Wittenberg kam, wechselte 1520 vom Pädagogium zum Lehrstuhl für die große Logik und später in die juristische Fakultät. Ab 1523 wurde im Pädagogium nur noch ein Magister angestellt. Schließlich wurde es am 24. August 1588 geschlossen, weil die angehenden Studenten durch Privatpräzeptoren besser an der Universität betreut werden konnten. Das erhöhte das Ansehen der philosophischen Fakultät.12 Im Aufbau dieses dreisprachigen Studiums, entsprechend dem Ideal einer vollkommenen humanistischen Gelehrsamkeit, lag die Chance für Wittenberg, sich gegenüber anderen älteren Universitäten, und vor allem gegenüber der benachbarten Universität Leipzig,13 zu behaupten.
11 Als „trilinguis“ hatte sich schon Hieronymus bezeichnet, um seine Kenntnisse in der lateinischen, griechischen und hebräischen Sprache hervorzuheben, so zum Beispiel in Contra Rufinum II,22,25 „Ergo et apostoli, et apostolici viri, qui linguis loquebantur, in crimine sunt, et me trilinguem bilinguis ipse ridebis?“ und weiter III, 6,25. „Ego philosophus, rhetor, grammaticus, dialecticus, hebraeus, graecus, latinus, trilinguis.“ Im Humanismus wurde „homo trilinguis“ zur humanistischen Auszeichnung der dreisprachigen Gelehrsamkeit. Erasmus zum Beispiel erwähnt einen Humanisten und Hebraisten wie Reuchlin mit folgenden lobenden Worten: „Egregius ille trilinguis eruditionis phoenix“ (Colloquia familiaria, XVII Apotheosis Capnionis). Über die Bedeutung der hebräischen Sprache in der humanistischen Bildung siehe I. Zinguer (Hrsg.), L’he´breu au temps de la Renaissance, Leiden, New York, Köln 1992. Über die Wertung der drei Sprachen in ersten synoptischen Bibelausgaben siehe G. Veltri, „Le traduzioni bibliche come problema testuale e storiografico nel Rinascimento delle ,poliglotte‘ e d’Azaria de’Rossi“ in: Laurentianum 35 (1994), S. 3–32. 12 Kathe, Die Wittenberger philosophische Fakultät, S. 148. 13 Erst 1517, in seinem Inauguralvorlesung verwies der Gräzist (dann auch Rektor der Universität) Petrus Mosellanus in Leipzig auf die Bedeutung des Hebräischen auch für die Medizinstudenten, siehe seine „Oratio de variarum linguarum cognitione paranda“ (veröffentlicht 1518) und A. Krümmel, „Mosellanus, Petrus (Peter Schade)“, in: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon 6 (1993), Sp. 169–171.
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Durch die Einführung des Hebräischen in die Lehrtätigkeit neben Latein und Griechisch sollte sich die neu gegründete Universität Wittenberg als Musterbeispiel für alle anderen Universitäten in Deutschland auszeichnen. Die Zukunft der hebräischen Sprache an der Universität konnte aber nur durch die Einführung einer Professur in die artistische Fakultät gesichert werden. Eine entscheidende Rolle spielte dabei die aufkommende Reformation. An das humanistische Ideal der dreisprachigen Gelehrsamkeit knüpften die reformatorischen Bestrebungen von Luther und Karlstadt an, die eine gute Bildung in der hebräischen und griechischen Sprache als unentbehrliche Voraussetzung betrachteten, um auf den Urtext des Alten und Neuen Testamentes zurückgehen zu können. Im Wettlauf mit Leipzig und mit Unterstützung von Spalatin, der selbst in Wittenberg studiert hatte und als Geheimrat am Hofe von Friedrich dem Weisen tätig war, konnte das Vorhaben Luthers und Karlstadts, die Einrichtung einer griechischen und hebräischen Professur für Wittenberg zu gewinnen, zustande kommen. So kamen 1518 Philipp Melanchthon und Johannes Böschenstein als Professoren für die griechische bzw. die hebräische Sprache nach Wittenberg. Vor allem die Ernennung Melanchthons hatte große Folgen für die Gestaltung des Studiums des Griechischen und Hebräischen an der Universität Wittenberg. Durch seinen Einfluß wurden beide Sprachen in den Dienst der reformatorischen Bewegung gestellt und in erster Linie als Forschungsmittel des heiligen Textes angesetzt. Sein Ruf „ad fontes“ zieht die Aufforderung einer Erneuerung des Bildungssystems nach sich14, wonach sich die humanistischen Studien auf die Bedürfnisse der Theologie einstellen sollen. Die in Wittenberg aus humanistischen Interessen entstandene christliche Hebraistik wurde somit im Laufe des 16. Jahrhunderts zu einer Hilfswissenschaft der Theologie. Das Studium des Hebräischen fand seine Legitimation nur als „lingua sacra“, als philologisches Mittel für die Bibelexegese. Den Reformatoren war der Gedanke absolut fremd, sich des Hebräischen zu bedienen, um die rabbinische Literatur und die jüdische Tradition besser kennenzulernen. Dem standen sie mit einer mißtrauischen, ja sogar feindlichen Haltung gegenüber.15 Die Rabbinen sind für Luther „die verruchtesten Leute
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Siehe dazu auch M. Lemmer, „Deutsche Sprache und Literatur an den Universitäten Wittenberg und Halle (1502–1945)“, in: Beiträge zur Geschichte der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1502–2002), hrsg. von H. J. Rupieper, Halle 2002, S. 147–153.
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und werden vom Teufel gefangen gehalten und besessen“.16 Sie sind „verblendt und verstocktt, und wen sie schon das buch haben, wie Esajas sagt, so sindt sie blindt druber.“17 Ihre Kommentare haben durch ihre Einbildungen und Träumereien die Heilige Schrift gefälscht und gedreht. Sie bieten keine Hilfe, um den tiefen Sinn des Wortlauts und stilistische Redewendungen des biblischen Hebräisch zu verstehen. Dafür sei die Erleuchtung Christi nötig, die nur die Christen haben: „So müssen wir’s thun, die Christen sind, als die den Verstand Christi haben, ohne welchen auch die Kunst der Sprache nichts ist.“18 Der gute Hebraist sollte Luther zufolge diese theologische Perspektive nie aus den Augen verlieren, um nicht in die selben Fehler der Rabbinen zu verfallen: „Denn viel Ebreisten sind, die mehr Rabinisch denn Christlich sind, und doch die wahrheit ist: Wer nicht Christum sucht oder sihet ynn der Bibel und Ebreischer Sprache, der sihet nichts und redet wie der blinde von der farbe.“19 15 Über die Beziehungen zwischen Luther und Juden siehe z. B. W. Bienert, Martin Luther und die Juden: ein Quellenbuch mit zeitgenössischen Illustrationen, mit Einführungen und Erläuterungen, Frankfurt a. M. 1982; H. Kremers (Hrsg.), Die Juden und Martin Luther – Martin Luther und die Juden: Geschichte, Wirkungsgeschichte, Herausforderung, Neukirchen-Vluyn 1985; E. L. Ehrlich, „Luther und die Juden“, in: Antisemitismus. Von der Judenfeindschaft zum Holocaust, hrsg. von H. Strauss, Frankfurt a. M., New York 1985, S. 47–65; W. Dietrich, Lutherisches Trauma: Luther und die Juden – Juden und Luther, Marburg, 1997; A. Späth, Luther und die Juden, Bonn 2001; P. von der Osten-Sacken, Martin Luther und die Juden: neu untersucht anhand von Anton Margarithas „der gantz Jüdisch glaub“ (1530/31), Stuttgart 2002; siehe auch die monographische Nummer von Jewish Studies Quarterly 7/4 (2000), hrsg. von G. Veltri und vor allem die Einleitung S. 289–295. 16 Martin Luthers sowol in deutscher als lateinischer Sprache verfertigte und aus der letztern in die erstere übersetzte sämtliche Schriften, hrsg. von J. G. Walch, Bd. 2, Sp. 1458 (= Weimarer Ausgabe Luthers Werke, Bd. 44, S. 217: „Ego vero toto pectore detestor Iudaeos et commentarios Rabinorum, quia hic mos est, imo manifestus furor eorum, ut undecunque possunt, colligant suorum laudes et gentium ignominiam. Sunt meledictissimi et tenentur captivi et obsessi a Sathana“). Siehe dazu auch L. Geiger, Das Studium der hebräischen Sprache in Deutschland vom Ende des XV. bis zur Mitte des XVI. Jahrhunderts, Breslau 1870, S. 6 Anm. 2. 17 D. Martin Luthers Werke: Tischreden, Weimar 1919, Bd. 5, Nr. 5324 S. 59. 18 Ebd., Bd. 14, Sp. 19. Siehe dazu auch Geiger, Das Studium der hebräischen Sprache in Deutschland, S.6. Oft beschuldigt Luther die Rabbiner, in ihren Kommentaren die Heilige Schrift verändert zu haben. Siehe z. B. in der Weimarer Ausgabe Luthers Werke Bd. 3, S. 20; Bd. 40/3, S. 731; Bd. 47, S. 687, 870. Luther schreibt sogar den Rabbinern nur begrenzte Kenntnisse des biblischen Hebräisch zu: „Iudaeis (. . .) nihil est fidendum, qui linguam hebraeam integram iam non habent apud se“ (Praelectiones in Prophetas Minores 1524–26, Weimarer Ausgabe Bd. 13, S. 97). 19 Luthers Brief an den Kurfürsten Johann Friedrich (3. Dezember 1543) in: D. Martin Luthers Werke, Weimar 1947, Bd. 10, S. 461. Über die Hebraisten, die für Luther sehr „judentzen“, siehe auch D. Martin Luthers Werke: Tischreden, Bd. 5, Nr. 5521, S. 212.
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Die rabbinischen Schriften werden auch von einem Humanisten wie Melanchthon verschmäht, der die Meinung seines berühmten Großonkels, Johann Reuchlin, darüber nicht teilt. Reuchlin hatte sich für die Erhaltung und Erforschung der rabbinischen Kommentare, in denen er ein durchaus hilfreiches Mittel für die Exegese der Heiligen Schrift sah, angesetzt und angefangen, sich selbst damit zu beschäftigen.20 Über die ihm entgangene Erbschaft der Bibliothek Reuchlins schreibt Melanchthon in einem Brief an Georg Spalatin (3. Oktober 1523), Reuchlin habe die hebräischen Bücher hochgeschätzt und viel Geld dafür ausgegeben. Von den hebräischen Büchern der Bibliothek seines Onkels halte er aber nicht viel, abgesehen von der Bibel, die ohnehin aus allen Büchern herausrage.21 Dem Studium der hebräischen Sprache wurden somit von Anfang an feste theologische Grenzen gesetzt. Dies führte oft zu gespannten Verhältnissen zwischen Theologen und Philologen. Schon die ersten zwei Inhaber des hebräischen Lehrstuhls, Böschenstein (1518–1519) und Matthaeus Adrianus (1520–21) erwiesen sich als eine bittere Enttäuschung für die Reformatoren. Böschenstein war Philologe, der die hebräische Sprache um ihrer selbst willen betrieb. Er wollte nicht nur die grammatikalische und lexikalische Grundlage des Hebräischen unterrichten, sondern auch ihre Literatur vermitteln und die Studenten bis zum Hebräischsprechen bringen. Adrianus, der von Luther selbst empfohlen worden war, überstieg seine Kompetenzen, mischte sich in theologische Fragen zu sehr ein und ging so weit, Luther zu kritisieren. Erst in Matthäus Aurogallus (Goldhahn) fanden die Reformatoren den für ihre Zwecke geeigneten Hebraisten, der „der reinen Lehre treu und fleißig diene, Christus suche und in der Bibel und der hebräischen Sprache sehe“, wie ihn Luther in einem Brief an Kurfürst Johann Fried-
20 In dem Augenspiegel (Fol. XIIIb) sagt Reuchlin bezüglich der Frage, ob die rabbinischen Kommentare zu verbrennen sind: „Ich sag auch und hab des meinen anseger, daß sich unsere doctores und lerer der hailigen schrift zu verstentnus des texts inn der bibel saer und fast sollicher commenten, glossen, und usslegungen müssent gebrauchen, wöllent sie vor anfechtung fremds glaubens wol beston (. . .) sollich commentarien kan und mag die christenlich kirch nit von handen lassen, dan sie behaltten die hebraische sprach in der aigenschaft übung, dero die hailig schrift nit kan mangeln, besunder in alten testament.“ Erwähnt bei Geiger, Das Studium der hebräischen Sprache in Deutschland, S. 6–7, Anm. 2. 21 Melanchthons Briefwechsel. Kritische und kommentierte Gesamtausgabe, hrsg. von H. Scheible, Bd. 1, Stuttgart–Bad Cannstatt 1991, S. 294: „Hebraicos ipse [d. h. Reuchlin] plurimi faciebat et magno emerat, in quibus nihil est quod probem praeter Biblia. At ea alioqui extant.“
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rich vom 3. Dezember 1543 schilderte.22 Von 1521 bis zu seinem Tod am 10. November 1543 hatte Aurogallus den hebräischen Lehrstuhl inne und führte seine Lehrtätigkeit entsprechend den Erwartungen der Reformatoren aus. Er erwies sich nicht nur als geschickter und fachkundiger Lehrer, sondern in ihm fand Luther auch einen wertvollen Mitarbeiter bei seiner Übersetzung des Alten Testaments. Aurogallus verstand das Studium des Hebräischen, ganz im Sinne Luthers, als rein philologisches Mittel, um den wahren Sinn der Heiligen Schrift erforschen zu können, wie er in der Widmung an Petrus Weller des Compendium Hebreae Chaldeaeque grammatices (Wittenberg 1525) deutlich formulierte. Allerdings sind schon bei Aurogallus einige Ansätze zu erkennen, die von der strikten Befolgung der reformatorischen Vorstellungen des Studiums des Hebräischen abweichen und auf die künftige Entwicklung der Hebraistik in Wittenberg hindeuten. Dem Compendium Hebreae grammatices (Wittenberg 1523, dem zwei Jahre später eine weitere Grammatik mit Hinzufügung des Aramäischen folgt) fügte Aurogallus eine Liste der geläufigsten Abkürzungen bei, die in den rabbinischen Kommentaren vorkommen.23 Auf die rabbinischen Kommentare stützt er sich auch bei der etymologischen Erörterung der biblischen Orts- und Personennamen in seinem De Hebraeis, Urbium, Regionum, populorum, fluminum, montium, & alioru[m] locorum, nominibus (Wittenberg 1526, zwei weitere Auflagen Basel 1539 und 1543).24 Raschi und die Targumim sind neben den Kirchenvätern, den klassischen und den mittelalterlichen Autoren (darunter auch Giovanni Boccaccio) seine Hauptquellen. Eine Neuerung von Aurogallus ist auch die Berücksichtigung des Aramäischen. Die Lehre des Hebräischen wird von Aurogallus um das Aramäische erweitert und als Universitätsdisziplin in die reformatorische Bewegung integriert. Darin erkennt man wohl die Beeinflussung der biblia rabbinica des Felix Pratensis, die schon 1517 von Daniel Bomberg abgedruckt wurde und
22 Über Aurogallus siehe Bauch „Die Einführung des Hebräischen in Wittenberg“, S. 467–77; M. Becht, s. v. „Aurogallus“, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 1, 1993, Sp. 1258. 23 Siehe dazu O. Eissfeldt, „Des Matthäus Aurigallus Hebräische Grammatik von 1523“, in: Kleine Schriften, hrsg. von R. Sellheim u. F. Maass, 3 Bde., Tübingen 1966, Bd. 3, S. 200–204. 24 Siehe dazu O. Eissfeldt, „Ein Lexikon der altpalästinischen und altorientalischen Geographie aus den Anfängen der Universität Wittenberg“, in: 450 Jahre Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg., Bd. 1, S. 239–253, nachgedruckt in: Kleine Schriften, Bd. 1, S. 184–199.
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hebräische und aramäische Kommentare enthielt („addimus veteras interpretationes hebraicas et chaldaicas“), weil sie uralte Mysterien überlieferten („arcana et recondita mysteria“).25 Sein Tod löste die Frage um einen geeigneten Nachfolger aus. Vorübergehend wurde die freigewordene Stelle von Lukas Edenberger und Theodor Fabricius doppelt besetzt, bis der aus Istrien stammende Matthias Flacius berufen wurde. Die Doppelbesetzung des hebräischen Lehrstuhls und die Möglichkeit, einheimische Lehrkräfte einzusetzen, sind ein Zeichen, daß sich das Studium des Hebräischen in kurzer Zeit stark entwickelt hatte. Das Problem des Verhältnisses zur theologischen Fakultät bestand aber weiter. Der hebräische Lehrstuhl gehörte zur philosophischen Fakultät, aber wegen seiner Bedeutung für die Bibelexegese erstreckte sich seine Kompetenz zwangsläufig auch auf den theologischen Bereich. Es mußte eine dauerhafte Lösung gefunden werden, die die Interessen der Theologen bewahren konnte. Das bot sich an in Folge der Niederlage Johann Friedrichs in der Schlacht bei Mühlberg (24. April 1547), als Wittenberg mit seiner Universität an die Albertiner überging. Die einzelnen Fakultäten wurden durch die Änderung der kurfürstlichen Oberaufsicht umorganisiert und die hebräische Professur wurde der theologischen Fakultät übertragen.26 Mit dem Theologen Johannes Forster (1496–1556)27 ergriff die theologische Fakultät Besitz von der hebräischen Professur, die sie bis 1588 behalten sollte. Die Bedeutung Forsters als hebräischer Gelehrter liegt im wesentlichen in seinem Dictionarium hebraicum novum, non ex Rabbinorum Commentis nec ex nostratium doctorum stulta imitatione descriptum sed ex ipsis thesauris S. Biblicorum et eorundem accurata collatione depromptum cum phrasis Veteris et Novi Testamenti diligenter annotatis (Basel 1557, neue Auflage 1564), einem umfangreichen hebräisch-lateinischen Lexikon halb Bibelkonkordanz, halb Wurzel25 Siehe dazu Veltri, „Le traduzioni bibliche“, S. 3–32; B. Chiesa, Filologia storica della Bibbia ebraica, Bd. 2, Brescia 2002, S. 329–335. 26 W. Friedensburg, Geschichte der Universität Wittenberg, S. 252–259; H.-J. Zobel, „Die Hebraisten an der Universität zu Wittenberg (1502–1817)“, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe), 7 (1957/58), S. 1173–1185, hier S. 1176. 27 G. Th. Strobel, Nachricht von dem Leben D. Johann Forsters, ehemaligen berühmten Lehrers der Theologie und der hebräischen Sprache zu Wittenberg, Nürnberg 1775; F. W. Bautz, s. v. „Forster“, in: Biographisch–bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 2 (1990), Sp. 72; H. Scheible, s. v. „Forster, Johann“, in: Religion in Geschichte und Gegenwart 4 (2000), Bd. 3, Sp. 197.
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wörterbuch, welches das Endergebnis seiner langjährigen hebräischen Studien darstellt. Getreu dem Grundsatz Luthers der „sola Scriptura“ ist Forster überzeugt, daß nur eine komparative Sprachuntersuchung den wahren Sinn der Heiligen Schriften erschließen kann. Sein Wörterbuch fußt auf einer rein lexikalischen Untersuchung der Heiligen Schrift, ohne die jüdischen Kommentare und Grammatiken heranzuziehen oder sich auf kabbalistische Interpretationen einzulassen.28 Die philosophische Fakultät gab jedoch ihre Ansprüche nicht auf. Während der vier Jahrzehnte, in denen die theologische Fakultät den hebräischen Lehrstuhl innehatte, fanden weiter Hebräischkurse an der philosophischen Fakultät statt. Die andauernden Spannungen zwischen den beiden Fakultäten mündeten somit in einem offenen Streit, der erst 1588 von dem Kurfürsten mit einem Kompromiß geschlichtet wurde: Die Professur für Hebräisch der philosophischen Fakultät zurückgegeben, der theologischen Fakultät jedoch das Aufsichtsrecht über diesen Lehrstuhl anerkannt, um gefährliche theologisch übergreifende Ausdehnungen des Sprachunterrichts zu verhindern. Obwohl der hebräische Lehrstuhl unter der Aufsicht der Theologen blieb, konnte er eine gewisse Autonomie für sich gewinnen, die sich in einer neuen Studienrichtung niederschlug. Obwohl das Hebräische als „lingua sacra“ Pflichtfach für die Theologiestudenten blieb, was eine enge Verknüpfung philologischer und theologischer Lehre voraussetzte, wurde der Lehrstoff auf die Rabbinica und andere orientalische Sprachen allmählich ausgeweitet. Im August 1588 wurde in Folge der neuen Ordnung der Universität unter Kurfürst Christian I. der hebräische Lehrstuhl der theologischen Fakultät entzogen und ganz der philosophischen Fakultät zurückgegeben. Hier lehrte seit 1571 Valentin Schindler (gestorben 1604)29, der durch den neuen kurfürstlichen Beschluß von jetzt an als einziger ordentlicher Professor des Hebräischen an der Universität blieb. Sein Lebenswerk ist das nach seinem Tod erschienene Lexikon Pentaglotton (Frankfurt, 1612. Neue Auflagen 1635, 1637, 1646, 1653, 1695), von dem er schon 1578 durch das Epitome bibliorum eine Probe lieferte. Für eine bessere philologische Auslegung des Alten Testamen-
28 Obwohl Forster Schüler von Reuchlin gewesen war, teilte er nicht die kabbalistischen Untersuchungen seines Lehrers. Die Kabbala ist für Foster nicht nur „nutzlos“, sondern auch „gottlos“ und „irreführend“ (Dictionarium S. 714 ff.). 29 Über ihn siehe Zobel, „Die Hebraisten an der Universität zu Wittenberg (1502– 1817)“, S. 1177.
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tes wurden neben Hebräisch, Chaldäisch, d. h. Aramäisch, RabbinischHebräisch, auch Syrisch und Arabisch herangezogen, wobei Arabisch in hebräischen Buchstaben gedruckt ist. Mit seiner Arbeit öffnete Schindler den Weg zur Erforschung der rabbinischen Sprache und Literatur sowie der orientalischen Sprachen. Der Weg, den Schindler eingeschlagen hatte, wurde von seinem direkten Nachfolger nicht weiter beschritten. Laurentius Fabricius (1554 in Danzig geboren, gestorben am 28. April 1629 in Wittenberg) beschränkte sich von 1593 bis zum Mai 1628 hauptsächlich auf die Vermittlung der hebräischen Grammatik mit Textübungen aus den biblischen Büchern, wie er in seinem Lehrprogramm Ad pietatis et sanctae Hebreae linguae Studiosos (Wittenberg 1602) formuliert hat. Man kann dennoch annehmen, daß er auch der syrischen und arabischen Sprache kundig gewesen war und diese in seine Lehraktivität einbezogen hatte. Das läßt sich aus einem „Probuleuma“ (d. g. Gutachten) vom 29. April 1636 schließen, in dem ihm und seinem Schüler und Nachfolger, Martin Trost, das Verdienst zugeschrieben wird, die hebräische Professur um das Syrische, Chaldäische und Arabische erweitert zu haben. Schindlers Erbe wurde vielmehr von Martin Trost aufgenommen.30 Geboren zu Höxter im Jahre 1588 studierte Trost in Wittenberg bei Fabricius. Infolge der Wirren des Dreißigjährigen Krieges war er in Köthen (1623), Helmstedt (1625), Söro (Dänemark, 1626) und Rostock (1628) als Hebraist tätig. Am 23. Mai 1628 wurde er nach Wittenberg zurückgerufen und zuerst als „Extraordinarius Linguarum Orientalium“ – diese Bezeichnung wurde zum ersten Mal bei Trosts Extraordinariat eingeführt – an die Seite des schwer erkrankten Laurentius Fabricius gestellt, dessen Lehrstuhl Trost nach seinem Tod übernahm. Trost starb am 8. April 1636 an der Pest in Wittenberg. Gemäß den damaligen Zeiten hatte Trost eine außergewöhnliche gute Kenntnis von orientalischen Sprachen, mit denen er sich seit seiner Jugend beschäftigt hatte. Der Schwerpunkt seiner Forschungen lag allerdings in der syrischen Sprache. Das syrische Lexikon ist sein Hauptwerk.31 Es ist auf der Grundlage der syrischen Version des Neuen
30 Über ihn siehe A. Buchner, Dissertationum Academicarum sive programmatum publico nomine editorum volumen II, Wittenberg 1651, S. 569–578. 31 Lexicon Syriacum: Ex Inductione omnium exemplorum Novi Testamenti Syriaci adornatum; Adjecta singulorum vocabulorum significatione latina & germanica, cum Indice triplici. Autore Martino Trostio, Cothenis Anhaltinorum 1623.
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Testamentes erarbeitet. Die besondere Leistung von Trost besteht darin, daß er über eine bloße Auflistung von Vokabeln hinausgeht und Phrasen und Idiotismen der Sprache berücksichtigt. Beigefügt werden die lateinische und deutsche Übersetzung. Im großen Ansehen stand auch für lange Zeit seine hebräische Grammatik (Grammatica Ebraea generalis, Wittenberg, 1632), die seine Schüler und Nachfolger, Jakob Weller und Andreas Sennert, verbesserten und neu auflegten. Für die Nachfolge von Trost standen zwei seiner Schüler als Kandidaten zur Auswahl: Johann Ehrenreich Ostermann und Jakob Weller. Weller (1602–1664)32 erhielt den Zuschlag nicht ohne Widerstände der philosophischen Fakultät, weil Weller, der 1635 zum Doktor der Theologie promoviert hatte, als Extraordinarius zur theologischen Fakultät gehörte. Man befürchtete, daß seine Berufung eine neue Einmischung der Theologen in die inneren Angelegenheiten der philosophischen Fakultät hätte nach sich ziehen können. Außer Frage stand aber die Kompetenz Wellers in den orientalischen Sprachen. Er unterrichtete Hebräisch anhand der Grammatik seines Lehrers, die er in einer bearbeiteten Auflage wieder drucken ließ, und er pflegte weiter die syrische Sprache. Weller verließ 1639 Wittenberg und gab seinen Lehrstuhl auf, um sich der geistlichen Tätigkeit zu widmen. Die Erweiterung des Kompetenzbereichs des Lehrstuhls für das Hebräische um weitere semitische Sprachen, die schon Valentin Schindler und Martin Trost eingeleitet hatten, wurde von Andreas Sennert (1606–1689) fortgesetzt. Als Sohn des Arztes und Wittenberger Universitätsprofessors Daniel Sennert wurde er 1606 in Wittenberg geboren. Er studierte in Leipzig (1626, Magister im Jahre 1627), Jena (1628), Straßburg (1634) und Wittenberg. Sennert widmete sich sehr früh den orientalischen Sprachen, die er bereits als zehnjähriges Kind bei Martin Trost lernte. Um seine orientalische Ausbildung weiter zu vertiefen, unternahm Sennert eine Reise nach Holland. 1636 kehrte er nach Wittenberg zurück und wurde auf Empfehlung der Universität vom Kurfürsten Johann Georg I. zum außerordentlichen Professor der orientalischen Sprachen an der philosophischen Fakultät ernannt, bis er
32 Über ihn siehe A. J. Gleich, Annales Ecclesiastici oder gründliche Nachrichten der Reformationshistorie Kur-Sächs. Albertinischer Linie, 2. Teil, Dresden, Leipzig 1730, S. 207–312; W. Sommer, „Jakob Weller als Oberhofprediger in Dresden“, in: Vestigia pietatis, Studien zur Geschichte der Frömmigkeit in Thüringen und Sachsen (Herbergen der Christenheit, 5), hrsg. von G. Graf, H.-P. Hasse, M. Hein, M. Richter, T. A. Seidel, D. Wiegand, Leipzig 2000; Kathe, Die Wittenberger philosophische Fakultät, S. 193–194.
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1640 als Ordinarius den Lehrstuhl von Weller übernahm. Er hielt den Lehrstuhl für Hebräisch fast 50 Jahre lang bis 1689 und gestaltete den weiteren Verlauf der hebräischen und orientalischen Studien an der Universität Wittenberg maßgebend mit. Unter seiner Amtszeit erfolgte endgültig die Erweiterung des Hebräischen um die Orientalistik. Insbesondere pflegte er die arabische Sprache. In seiner Antrittsrede beteuerte Sennert die Notwendigkeit der Kenntnis des Arabischen nicht nur als zusätzliches philologisches Hilfsmittel für die Auslegung des Alten Testamentes, sondern auch wegen seiner Bedeutung als noch lebendige Sprache und als Mittel, um einen direkten Zugang zu den wissenschaftlichen Schriften der Araber zu haben. Zahlreiche seiner Abhandlungen befassen sich mit dem rabbinischen Hebräisch und mit einer synoptischen Behandlung verschiedener semitischer Sprachen (z. B. Hypotyposis harmonica linguarum orientalium chaldaeae, syrae, arabicaeque cum matre ebraea, Wittebergae 1653; Centuria canonum philologicorum de idiotismis linguarum orientalium hebraeae, chaldaeae, syrae, arabicae, Wittebergae 1653; Bibliotheca orientalis, sive idea pleni systematis linguarum orientalium maxime Ebraeae matris, Chaldaeae, Syrae Arabicaeque . . . nec non Rabbinismi, Wittebergae, 1656). Große Verdienste erwarb sich Sennert in der Verwaltung der Universität als Rektor (1688) und Bibliothekar, wobei er als erster Verzeichnisse ihrer Bücherbestände aufgestellt und veröffentlicht hat. Er hat auch eine Fülle an Material über das Leben der Universität gesammelt und herausgegeben, das eine wertvolle Quelle für die Geschichte der Leucorea darstellt. Gegen die Theologen, die versuchten, die Kompetenz des hebräischen Lehrstuhls auf die Behandlung von rein grammatikalischen Fragen ohne Anwendung auf theologische Auslegungen einzuschränken, verteidigte Sennert gegenüber den kurfürstlichen Visitatoren, die am 12. Juli 1665 die Universität besuchten, seinen berechtigten Anspruch, wie seine Kollegen vom Griechischen und Latein nicht nur die Grammatik zu behandeln, sondern auch die Texte auszulegen. Schließlich schlug er vor, nach dem Beispiel anderer Universitäten die Hebraistik von den übrigen orientalischen Sprachen zu trennen.33 Ein klares Zeichen, wie sich die philosophische Fakultät von der Vormundschaft der Theologie lösen wollte. Das Studium des Hebräischen und der weiteren semitischen Sprachen wurde immer mehr als eine selbstständige Wis-
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Siehe Kathe, Die Wittenberger philosophische Fakultät, S. 245.
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senschaft angesehen, ohne theologische Rechtfertigung. Sennert gilt als moderater Neuerer gegen den theologischen Dogmatismus und so wurde er von den Wittenberger Aufklärern gefeiert. Fast im galileianischen Sinne erklärte er bezüglich des vieldebattierten Themas des überhimmlischen Wassers, daß die Natur das erste Buch für den Naturforscher sei und die Heilige Schrift das Nachstehende, ohne daß die göttliche Autorität dadurch verletzt werde (De aquis supracoelestibus, et quidem pro negativa earundem, petita maxime ex fontibus originariis et sacris, quaestio et responsio, Wittenberg, 1670). Sennert, der bis ins hohe Alter als Lehrer und Forscher tätig war, starb im Jahre 1689 in Wittenberg. Nach Sennerts Tode (1689) hatte der Hamburger Theodor Dassow34 für fast ein Jahrzehnt den Lehrstuhl für orientalische Sprachen inne. Dassow wurde am 27. März 1648 in Hamburg geboren. Er entstammte einer Theologenfamilie, bekam seine erste Bildung am Johanneum in Hamburg und besuchte die Kurse von Esdras Edzard35 über die rabbinische Literatur. Er setzte seine Studien an der Universität Gießen (1669) fort, wo er 1672 den Magistergrad erwarb. Er zog dann nach Wittenberg und ließ sich am 7. Oktober 1673 in die Matrikel der philosophischen Fakultät eintragen. Vor seiner Ernennung zum Ordinarius der orientalischen Sprachen war er zuerst Adjunkt (1676) und später (1678) ordentlicher Professor der Dichtkunst sowie Extraordinarius der orientalischen Sprachen an Sennerts Seite. Durch Forschungsreisen nach Holland und England (1676–1678) vertiefte Dassow seine rabbinische Bildung und besorgte sich kostbare Werke auf diesem Gebiet. Wie Dassow in seiner Schrift Rabbinismus philologiae sacrae ancillans (Wittenberg 1674) erörterte, betrachtete er die rabbinische Literatur durchaus als nützlich und hilfreich bei der Auslegung der Heiligen
34 S. R. Lange, Theodor Dassow. Nachlaß und Bibliothek, Postgraduales Universitätsstudium Bibliothekswissenschaft. Humboldt-Universität zu Berlin. Institut für Bibliothekswissenschaft und wissenschaftliche Information (21. Juni 1993) unveröffentlicht. 35 Esdras Edzard Orientalist und Vorkämpfer der Judenmission (Hamburg 1629–1708). Edzard studierte Theologie (seit 1647) in Leipzig und Wittenberg und die rabbinische Literatur (seit 1650) in Basel bei Johann Buxtorf dem Jüngeren. Nachdem er 1656 in Rostock zum Lizentiat der Theologie promoviert wurde, kehrte er nach Hamburg zurück und widmete sich dank seinen Vermögensverhältnissen als Privatgelehrter ganz seinen Studien und der Judenmission. Zu seinen Lebzeiten galt Edzard als großer Orientalist und lehrte ab 1659 privat und kostenlos hebräische Sprache und rabbinische Literatur. Zu seinen Schülern zählte u. a. August Hermann Francke. Siehe dazu M. Friedrich, Zwischen Abwehr und Bekehrung, (Beiträge zur Historischen Theologie hrsg. von J. Wallmann, 72), Tübingen 1988, S. 107–123.
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Schrift. Der Ansatz von Reuchlin findet erst jetzt seine Umsetzung. Seine Vorliebe galt insbesondere den jüdischen Altertümern, mit denen sich sein postum erschienenes Hauptwerk, Antiquitates hebraicae, quamplurima utriusque foederis loca difficiliora illustrantes (Kopenhagen und Leipzig 1742) befaßt. Am 13. April 1699 habilitierte sich Dassow zum Lizentiaten der Theologie mit einer Arbeit über das Abendmahl (Disputatio theologica inauguralis de sublimitate variae unionis in mysterio s. coenae). Noch im selben Jahr ging Dassow nach Kiel als Universitätsprofessor der Theologie und Pastor der Nicolaikirche. Von Kiel zog Dassow 1709 als Superintendent und Propst nach Rendsburg. In Rendsburg blieb er bis zu seinem Tod (6. Januar 1721). Er hinterließ seine Bibliothek der Wittenberger Universität und noch heute ist der handschriftliche Nachlaß von Dassow (etwa 6000 Blatt) in der Bibliothek des Predigerseminars in Wittenberg aufbewahrt. Eine Aufarbeitung des Archivs sowie der Geschichte der Hebraistik in Wittenberg und in den von der Leucorea beeinflußten Universitäten ist in Vorbereitung. Wegen seiner außerordentlichen Bildung in den orientalischen Sprachen und Erfahrung in der Auslegung der Heiligen Schrift war Johann Christoph Wichmannshausen der ideale Nachfolger von Dassow.36 Geboren am 3. Oktober 1663 in Ilsenburg studierte Wichmannshausen klassische und, unter Anleitung Johann Benedikt Carpzov d. J., orientalische Philologie in Leipzig (1683) und wurde am 22. Mai 1685 zum Magister ernannt. Von dem konvertierten Juden Federicus Albertus Christianus wurde er in die rabbinische Literatur eingeführt. Er vertiefte seine rabbinischen Kenntnisse in Helmstedt, Leiden, Oxford und Cambridge (1688). 1691–1692 nahm er an einer Bildungsreise nach Italien mit dem Historiker Konrad Samuel Schurzfleisch teil. In Rom lernte Wichmannshausen bei einem Maroniten Syrisch und Arabisch. 1692 kam er als Extraordinarius für Griechisch nach Wittenberg zurück und ein Jahr später (24. März 1693) wurde er Ordinarius für Dichtkunst. Seit 1699 bis 1727 lehrte Wichmannshausen neben Hebräisch auch Syrisch, Arabisch und Rabbinica. Er starb am 17. Januar 1727. 36 Über Wichmannshausen siehe Francisci Wokenii, S. Theolog. Doctoris, (. . .) Bibliotheca Theologico-Philologico-Philosophico-Historica, qua varia difficillima dubia, ad theologiam, vel directe, vel indirecte spectantia, ex principiis genuinis solvuntur, et varia variorum cogitata ex nuper editis Disput. et programmatibus breviter adducuntur, nonnullaque ex Mss. afferuntur, Wittenbergae in officina Henningiana 1732, Bd. 1, S. 148–163: „De professorum orientalium linguarum in Academia Wittenbergensi meritis in linguas orientales“; Kathe, Die Wittenberger philosophische Fakultät, S. 304–307.
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Durch Sennert und Dassow faßte das Studium der Rabbinica und der jüdischen Altertümer auch in Wittenberg Fuß und wurde bis zum 18. Jahrhundert hinein zu einem festen Bestandteil des Lehrprogramms an der philosophischen Fakultät.37 Die rabbinische Tradition weckte zu dieser Zeit auch in Wittenberg ein reges Interesse wie an anderen europäischen Hochschulen vor allem in England und in den Niederlanden. Mit diesen Zentren standen die Wittenberger Dozenten in engem Kontakt wie ihre Forschungsreisen und die zahlreichen Zitate aus der zeitgenössischen Literatur in ihren Werken belegen. Leider sind diese Beziehungen der Wittenberger Hebraisten zu den anderen europäischen Universitäten bis heute unerforscht. Nach dem aktuellen Stand unserer Kenntnisse kann man jedoch feststellen, daß die Talmudforschung in Wittenberg in Verbindung mit der Theologie erfolgte und als juristische und historische Quelle für die Bibelexegese betrachtet wurde.38 Wohl aufgrund der Wittenberger und Baseler Hebraistik aber auch der pietistischen missionarischen Forschung entfacht das Interesse für das rabbinischen und allgemein für das jüdische Schrifttum. Oft ist zu beobachten, daß jüdisch-humanistische, exegetische, philosophische und sogar gegenwärtige jiddische Literatur zum Gegenstand von Doktorarbeiten oder Übersetzungstätigkeiten gemacht wurde und so viele interessante Aspekte jüdischer Literatur und Philosophie auch in theologischen sowie philosophischen Fakultäten bekannt wurden.39
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Von 1700 bis 1702 wurde sogar ein Extraordinariat für die rabbinische Sprache eingerichtet, dessen Inhaber Christian Lebrecht Felsius aber schon am 24. Juni 1701 den Lehrstuhl räumen mußte, weil er nicht imstande war, auf Latein zu dozieren. Noch im Jahre 1742 wurde der getaufte Jude Johann Christian Neumann aus Leipzig als „lector talmudicus“ angestellt. Die Lage änderte sich Ende des 18. Jahrhunderts. Die Bitte um eine Anstellung als Lektor der rabbinisch-talmudischen Sprache von dem konvertierten Juden Gotthilf Ringerecht Frommann wurde von der Universität abgewiesen, weil die philosophische Fakultät dafür keinen Bedarf sah. Siehe dazu Kathe, Die Wittenberger philosophische Fakultät, S. 303, 343, 469. 38 Siehe dazu C. Wilke, „Augiasstall oder Bildungsgut? Zum protestantischen Studium des Talmud in der Barockzeit“, in: Kalonymos 4 (2001), S.14–20, hier S. 18. 39 Siehe z. B. C. F. Bischoff, J. H. Majus (1688–1732), Dissertatio Historico-Philologica de Origine, vita atque scriptis don Isaaci Abrabanielis. Quam. . . praeside M. Ioanne Henrico Maio, Fil. auctor responsurus Christianus Friedericus Bischoff. publico eruditorum examini Kalend. Mart. subjiciet, Altdorf[i] 1708; und Ioh. C. Lufft, De Rebecca Polona Eruditarum in Gente Judaica Foeminarum Rariori Exemplo. Preside Gustavo Georgio Zeltner, Altdorfii: Iod. Guil. Kohlemsii, Universit. Typogr. 1719. Siehe auch Diss. de miraculosa statione solis, tempore Josuae Abravaneˆl Yishaq, Basilea 1662; Diss. de librorum biblicorum divisione in legem, prophetas et hagiographa Abravaneˆl Yishaq, Basilea 1662; Diss. de idololatriae variis speciebus Abravaneˆl Yishaq, Basilea 1662; Diss. de excidii poena, cuius frequens in lege mentio Abravaneˆl Yishaq, Basilea
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Im 18. Jahrhundert stand der Zusammenhang des Hebräischen mit der Theologie nicht mehr im Vordergrund. Natürlich wurde die Lehre dieser Sprache weiterhin als unerläßlich für die Theologieausbildung betrachtet. Man erwartete aber von den Bewerbern um den Wittenberger Lehrstuhl für das Hebräische eine umfangreiche Kenntnis weiterer orientalischen Sprachen. Als sich 1727 die Frage nach dem Nachfolger des verstorbenen Wichmannshausen stellte, betonte die philosophische Fakultät, daß der Bewerber außer Hebräisch auch seine Kompetenz über weitere orientalische Sprachen vorweisen sollte, „weil heut zu Tage bei ganz veränderten Weltläuften fast nötig sein will, um der orientalischen und weiter hinaus entfernten Völker Sprachen und Historien mehrere und genauere Kundschaft als vor deme sich zu bemühen“.40 Im 18. Jahrhundert wurden in Wittenberg neben Hebräisch, Aramäisch und Syrisch auch Arabisch, Türkisch, Persisch, Koptisch, teils aus gelehrtem Interesse, teils aus praktischen Gründen zum Gebrauch im Handel und in der Diplomatie gelehrt. Diese Erweiterung des Lehrgegenstandes des hebräischen Lehrstuhls blieb bis zur Auflösung der Universität (6. März 1816) erhalten. Die Vereinigung der Universität Wittenberg mit Halle (1817) rettete das große Erbe Wittenbergs, das als Geburtsstätte der hebräischen Studien in Deutschland anderen Universitäten Muster und Vorbild gewesen war. In Halle verbanden sich hebraistische und semitistische Studien mit den Errungenschaften der Altertumswissenschaften des Friedrich August Wolf41 und es entstand langsam ein neues Fach, das deutlich von der Theologie Abstand nahm. Das führte dazu, daß zwischen 1821 und 1895 127 jüdische Orientalisten an der Universität Halle den Doktorgrad erwarben, in Berlin hingegen promovierten etwa im gleichen Zeitraum nur fünf und in Bonn ein jüdischer Orientalist.42 Voraussetzungen und Hintergründe, die die Entstehung der Orientalistik begleitet haben und der akademische Nährboden, den die Universität Halle im 19. Jahrhundert vorweisen konnte, sind aber ein anderes Thema. 1662; Diss. de peccato Davidis numerantis populum Abravaneˆl Yishaq, Basilea 1683; Commentarius in Pentateuchum Perusch Thora Abravaneˆl Yishaq, Hannovia 1710. 40 Universitätsarchiv von Halle-Wittenberg, Rep. 1, Nr. 1624, Bl. 2 (Probuleuma der philosophischen Fakultät vom 18. Februar 1727), zitiert nach Kathe, Die Wittenberger philosophische Fakultät, S. 305. 41 Siehe den Beitrag von G. Veltri in diesem Band. 42 C. Wilke, „Rabbinerpromotionen an der Philosophischen Fakultät in Halle, 1845–1895“, in: Jüdische Kultur und Bildung in Mitteldeutschland, hrsg. von G. Veltri u. C. Wiese, (Im Druck).
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Abbildung 1
DIE BIBEL ZWISCHEN TRADITION UND INNOVATION Gianfranco Miletto Als Anfang des 16. Jahrhunderts die Befürworter der Verbrennung des Talmud erneut die alte Anschuldigung vorbrachten, er enthielte lästerliche und feindliche Behauptungen gegen das Christentum, war Johannes Reuchlin einer der wenigen christlichen Gelehrten, die sich dem widersetzten. Er war der Auffassung, solche Anschuldigungen müßten bewiesen werden. Aber welcher christliche Gelehrte seiner Zeit konnte behaupten, die rabbinische Literatur zu kennen? Reuchlin selbst mußte seine Unwissenheit auf diesem Gebiet eingestehen.1 Johannes Reuchlin war der größte christliche Hebraist seiner Zeit, der für die damaligen Verhältnisse über außerordentliche Kenntnisse der hebräischen Sprache und der Kabbalah verfügte. Und dennoch mußte er zugeben, daß ein wichtiger Teil der jüdischen Kultur den christlichen Hebraisten, ihn eingeschlossen, unbekannt war. Wenn man bedenkt, daß Reuchlin nicht einmal 100 Jahre von Johannes Buxtorf (1564–1629) trennen, der eine Pionierarbeit über die rabbinische Sprache und Literatur geleistet hat, so muß man sich die Frage stellen, was zu diesem Umdenken in den judaistischen Studien geführt hat. Die Humanisten hatten das erste Fundament gelegt. Einerseits förderte im 15.–16. Jahrhundert die philologische Erforschung des biblischen Textes das humanistische Interesse an der hebräischen Sprache, deren Kenntnis die ideale Bildung des „homo trilinguis“2 darstellte; 1 Siehe S. Campanini in seiner italienischen Übersetzung der De arte cabalistica (Johannes Reuchlin, L’arte cabbalistica), hrsg. von G. Busi u. S. Campanini, Firenze 1995, S. XXXVII. 2 Als „trilinguis“ hatte sich schon Hieronymus bezeichnet, um seine Kenntnisse in der lateinischen, griechischen und hebräischen Sprache hervorzuheben, so zum Beispiel in Contra Rufinum II, 22, 25 „Ergo et apostoli, et apostolici viri, qui linguis loquebantur, in crimine sunt, et me trilinguem bilinguis ipse ridebis?“ und weiter III,6,25. „Ego philosophus, rhetor, grammaticus, dialecticus, hebraeus, graecus, latinus, trilinguis.“ Diese Bezeichnung wurde dann vom Humanismus übernommen. Erasmus zum Beispiel erwähnt einen Humanisten und Hebraisten wie Reuchlin mit folgenden lobenden Worten: „Egregius ille trilinguis eruditionis phoenix“ (Colloquia familiaria, XVII Apotheosis Cap-
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andererseits betrachtete die hermetisch-neuplatonische Vorstellung einer Prisca theologia, die von Ficino, Pico della Mirandola und anderen Mitgliedern der florentinischen „Accademia platonica“3 vertreten wurde, die jüdische Kabbalah als eine geheimnisvolle Lehre, die schon die christliche Wahrheit andeutete und bestätigte. Das Interesse der Humanisten blieb auf die Sprache und auf die kabbalistische Tradition beschränkt. Dies bildete dennoch die Grundlage für die Erweiterung der Kenntnisse der christlichen Hebraisten auf die rabbinische Literatur. Das wurde sicher auch von den theologischen Disputen gefördert, die die christlichen Theologen und Apologeten dazu zwangen, sich mit der rabbinischen Tradition auseinanderzusetzen, wenn auch nur mit der negativen Absicht, diese zu bekämpfen. Für diese Zwecke wurden aber meistens zum Christentum konvertierte Juden eingesetzt, wodurch die mangelhaften Kenntnisse der christlichen Theologen über die rabbinische Tradition bezeugt wird. Doch im Laufe des 16. Jahrhunderts gab es unter den christlichen Gelehrten ein wachsendes Interesse für das Judentum, einschließlich der rabbinischen Literatur, das nicht unbedingt polemisch motiviert war. Dies zeigt sich in den verlegerischen Unternehmungen des Christen Daniel Bomberg, der zwischen 1515 und 1517 die erste Ausgabe der rabbinischen Bibel (Miqraot Gedolot, nachgedruckt 1524–1525), versehen mit den wichtigsten rabbinischen Kommentaren, sowie die erste Ausgabe des Talmud (1520–1522) finanzierte. Die positive Einstellung einiger christlichen Gelehrten gegenüber dem Judentum läßt sich meiner Ansicht nach durch die politisch-religiöse Krise der Zeit und durch den Umbruch der vertrauten theologi-
nionis). Über die Bedeutung der hebräischen Sprache in der humanistischen Bildung siehe L’he´breu au temps de la Renaissance, hrsg. von I. Zinguer, Leiden, New York, Köln 1992. 3 Der Begriff Prisca theologia stammt wahrscheinlich aus Gemisto Pletone. Nach der Vorstellung der Prisca theologia existierte eine außerbiblische uralte Tradition von Weisheit, die die christliche Wahrheit andeutet. Der Ägypter Hermes (oder Mercurius) Trismegistos und der Perser Zoroaster waren die ersten prisci theologi, die ersten Vertreter einer ununterbrochenen Traditionskette, die bis auf Pythagoras und Plato zurückgeht. Ficino drückt in dem Argumentum, das er seiner lateinischen Übersetzung des Poimandres vorangesetzt hat (in Opera, Basel 1576, S. 1836), seine Vorstellung dieser uralten Weisheit so aus: „Es gibt also eine Theologie der Antiken (prisca theologia) . . . die in Merkur ihren Ursprung und in dem göttlichen Plato ihren Höhepunkt hat.“ In Theologia platonica 17, 1 setzt Ficino Zoroaster an den Anfang dieser Traditionskette. Dazu siehe F. Yates, Giordano Bruno and the Hermetic Tradition, Chicago, London 1964, S. 14–15; M. Muccillo, Platonismo Ermetismo e „prisca theologia“. Ricerche di storiografia filosofica rinascimentale, Firenze 1996.
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schen Weltanschauung erklären, die von neuen Kenntnissen und geographischen Entdeckungen in Frage gestellt wurde. Christliche und jüdische Intellektuelle zeigen eine teilweise ähnliche Reaktion, die sich durch die Interpretation des biblischen Textes und einiger biblischer, symbolreicher Motive verfolgen läßt. Hierzu möchte ich hier nur zwei Beispiele anführen: Den Juristen Jean Bodin und den Theologen und Philologen Arias Montano.
Jean Bodin (1529/30–1596) Jean Bodin lebte und wirkte als Jurist in dem vom Bürgerkrieg erschütterten Frankreich des 17. Jahrhunderts. Angesichts der drohenden Anarchie theoretisierte Bodin in den Six livres de la Re´publique (1576) einen Begriff des Staates und der Autorität des Souveräns, der die Stärkung der Zentralgewalt des Königs über den konfessionellen Fronten garantieren sollte. Bodin betrachtet den Staat als Teil der göttlichen Weltordnung. Wie Gott dafür sorgt, daß sich die Gegensätze der Natur in ein harmonisches Ganzes zusammenfügen, so hält der Souverän die verschiedenen Gruppierungen der Gesellschaft zusammen und bewahrt dadurch die Einheit des Staates. Der Souverän ist also Abbild der göttlichen Autorität.4 Er verfügt über eine „summa in cives ac subditos legibusque soluta potestas“,5 d. h. „über eine höchste und von den Gesetzen entbundene Gewalt“. Die Absolutheit der Macht des Souveräns ist jedoch nicht mit Willkürlichkeit gleichzusetzen. Sie hat ihre Norm im Gesetz Gottes und der Natur: Der größte Unterschied zwischen einem König und einem Tyrannen besteht darin, daß sich der König den Gesetzen der Natur fügt, während sie der Tyrann übertritt. Der eine pflegt die Barmherzigkeit, die Gerechtigkeit, hält sein Wort, während der andere weder Gott noch Treue oder Gesetz kennt.6
Was Bodin unter „Gesetz Gottes und der Natur“ („ius divinum“ und „ius naturale“) versteht, wird in dem Colloquium heptaplomeres dargelegt.7 Im Form von erdachten Gesprächen zwischen sieben gelehrten 4 P. C. Mayer Tasch, Jean Bodin. Eine Einführung in sein Leben, sein Werk und seine Wirkung, Düsseldorf, Bonn 2000, S. 32. 5 J. Bodin, De Republica Libri Sex, Paris 1580, S. 123. 6 J. Bodin, Les six livres de la Re´publique, Paris 1576, II, 4, S. 246. 7 Die Autorschaft des Colloquium wird heute allgemein Bodin zugeschrieben. Anderer Meinung ist K. F. Faltenbacher, „Das Colloquium Heptaplomeres und das neue
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Freunden, die im Hause des einen von ihnen, des venezianischen Paulo Coroni (Paulus Coronaeus), eine akademische Gesellschaft bilden, werden wissenschaftliche, religiöse und philosophische Themen erörtert. Die sieben Gelehrten sind Vertreter verschiedener Konfessionen und Religionsauffassungen. Im Hause des Katholiken Paulus Coronaeus wohnen und studieren der Lutheraner Fridericus Podamicus, der französische Calvinist Antonius Curtius, der Jude Salomo Barcassius, der Italiener Octavius Fagnola, der vom Christentum zum Islam übergetreten ist, der Spanier Diego Toralba, Befürworter der natürlichen Religion, und Hieronymus Senamus, Vertreter eines rationalistischen, religiösen Universalismus. Im vierten Buch kommt die Gelehrtengesellschaft auf die Harmonie zu sprechen. Wie in der Musik besteht auch in der Natur die Harmonie aus dem Zusammenfügen von Gegensätzen. Das gleiche Prinzip bestimmt die Sozialordnung, die als Kompromiß und Gleichgewicht unter den verschiedenen Gruppierungen aufgefaßt wird.8 Wie soll man sich aber gegenüber der Religion verhalten? Ist es besser, eine tolerante Haltung einzunehmen und verschiedene Religionen im Staat zuzulassen, wie Toralba, Curtius, Octavius und Senamus befürworten, oder ist es wünschenswert, daß sich alle nur zu einer Religion bekennen, wie Friedericus und Salomo behaupten? Das wäre wünschenswert – greift Coroni in die Debatte ein – vorausgesetzt, daß diese Religion die wahre Religion ist. Wie kann man sie aber von allen anderen unterscheiden? Die Gesprächsteilnehmer sind sich einig, daß ein bedeutsames Kriterium für die Wahrheit einer Lehre oder einer Religion das Alter sei. Nach diesem Kriterium ist die wahre Religion diejenige, die von Adam, dem ersten Menschen, bekannt wurde. Wenn wir die Güte einer Religion nach ihrem Alter einschätzen, müssen wir bei dem Urvater der gesamten Menschheit ihren Ursprung suchen. Er soll mit den besten Sitten, mit der besten Moral, mit vollkommenem Wissen und mit allerbesten Tugenden von Gott ausgestattet gewesen sein, denn er hat von Gott selbst die allerheiligste Sprache erlernt.
Weltbild Galileis. Zur Datierung, Autorschaft und Thematik des Siebenergesprächs“, in: Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse 2 (1993), S. 5–43. Laut Faltenbacher wäre das Colloquium in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in venezianischen Kreisen entstanden. 8 J. Bodin, Colloquium heptaplomeres de rerum sublimium arcanis abditis, hrsg. von L. Noack, Schwerin, Paris, London 1857 (Repr. Hildesheim, New York 1970), S. 117.
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Er hätte wohl nicht allein sprechen oder die Natur aller Lebewesen erkennen können – denen er, der Erzählung nach, einem jedem entsprechend seinen Eigenschaften seinen Namen gab – wenn er vom Schöpfer und Meister nicht belehrt worden wäre. Es ist allgemein angenommen, daß er seinen geliebten Söhnen diese vielen und trefflichen Tugenden beigebracht hat und zuallererst die wahre Religion . . . 9
Diese ursprüngliche, reine Religionslehre, die von Gott selber stammt und den Gesetzen der Natur entspricht, wurde von Adams Sohn Abel weiter tradiert. Von ihm kam sie an Seth, Enoch, Methusalem bis Noah. Zur Zeit Abrahams begann aber die Menschheit, der Abgötterei zu verfallen. Die Chaldäer, unter denen Abraham lebte, verließen den Glauben an den einzigen wahren Gott und beteten die Sonne und die Gestirne an. Deshalb mußte Abraham die Stadt Ur der Chaldäer verlassen. Seine Nachkommen pflegten die Religion der Urväter weiter, bis auch sie von der Abgötterei der Ägypter verführt wurden. Sie beteten nicht nur die Gestirne an, sondern auch die Tiere, die Naturelemente und böse Geister und wandten sich von ihrem Schöpfer ab. Gott aber blieb dem Versprechen treu, das er Abraham gab, und 400 Jahre später sandte er Mose, um die wahre naturgemäße Religion wieder herzustellen.10 Das Gesetz Gottes ist der heiligste Teil der Bibel. Im Dekalog sind die Normen kodifiziert, die die Beziehung zwischen Gott und dem Menschen und zwischen den Menschen selbst reglementieren und die Sozialordnung bestimmen. Die philosophische Lehre der Ethik und der Politik ist im Grunde genommen nur eine Auslegung dessen, was schon in dem Dekalog enthalten ist.11 Im Einklang mit der astrologischen Interpretation des Abraham Ibn Esra werden die zehn Gebote mit der Ordnung der Planeten in Zusammenhang gebracht und als Beleg angeführt, um die Richtigkeit der astronomischen Lehre der Antike gegenüber den neuen Theorien des Kopernicus zu untermauern.12 Die universale Bedeutung des Dekalogs wird von Salomo folgendermaßen zusammengefaßt:
9 10 11 12
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. S. S. S.
140. 141–142. 143. 146.
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gianfranco miletto Ihr könnt also erkennen, daß alle, auch die heimlichsten Geheimnisse und Schätze der Natur in den göttlichen Gesetzen enthalten sind, d. h. in den Büchern und in den Schriften unserer Ahnen, wenn man sie tiefgehend und sorgfältig studiert. Und Abraham Ibn Esra zeigt, daß der Dekalog ein Abriß des Naturgesetzes ist. Dieses war schon fast in Vergessenheit geraten und von den Menschen durch allerlei Verbrechen übertreten, als es Gott in seiner Gnade und Barmherzigkeit (. . .) vor der großen Versammlung seines Volkes erneuert hat etc.13
Die Gleichstellung des Dekalogs mit dem Naturgesetz wird von Toralba, dem Anhänger der Naturreligion, bekräftigt: Was ist dieses zehnteilige Gesetz, das auf zwei Tafeln eingraviert stand, außer daß es ein und dasselbe wie das Naturgesetz ist? Denn wir haben dieses Gesetz von der Natur genommen, gesaugt, ausgepreßt. Wir werden nach diesem Gesetz nicht erzogen, sondern geschaffen. Es wird uns nicht beigebracht, sondern in uns inspiriert etc.14
Salomo und Toralba sind als Sprecher von Bodin anzusehen. Beide zusammen, die Bodin in Mystagogus des späteren Theatrum naturae (1591) in einer Figur zusammengefaßt hat, ergänzen sich und tragen mit ihren Äußerungen das System der Weltanschauung Bodins vor, das auch in seinen anderen Werken erkennbar ist.15 Atheismus und religiöse Gleichgültigkeit sind ihm absolut fremd. In den religiösen Auseinandersetzungen seiner Zeit, die das soziale und politische Staatsgefüge zu zerstören drohten, ist Bodin bemüht, einen überkonfessionellen Begriff der Religion zu erarbeiten, die die gesamte Wirklichkeit in ihren physischen und metaphysischen Aspekten erklären konnte. In seinem humanistischen Streben nach der Suche des Altersbeweises als zuverlässiges Kriterium der wahren Religion erscheint ihm die jüdische unter allen denen, die historisch belegt sind, als diejenige, die der ursprünglichen, vollkommenen Religionsform von Adam am nächsten steht. Die Torah kommt wie die Adamsreligion von Gott selbst und ist ihr im wesentlichen gleich. Nur ihre Ausübung ist den historischen Umständen angepaßt. So sollen Riten und Opferungen der jüdischen Liturgie als ein historisch bedingtes Akzidens betrachtet werden. Denn Riten und Opferungen sind von Gott eingeführt worden, damit die Israeliten, die von den Ägyptern und ihren Nachbarn gelernt hatten, den 13
Ebd., S. 147. Ebd., S. 147. 15 G. Roellenbleck, Offenbarung, Natur und jüdische Überlieferung bei Jean Bodin. Eine Interpretation des Heptaplomeres, Gütersloh 1964, S. 23. 14
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Göttern und Dämonen zu opfern, davon Abstand nahmen. Man hätte dies von ihnen wegen der eingefleischten Gewohnheit, den Dämonen zu opfern, nicht erreichen können, es sei denn die gleichen Opferungen und Riten nur für Gott bestimmt worden wären.16
Die Substanz, das Wesen des jüdischen Glaubens liegt nicht in ihrem Ritual, sondern in den Geboten des Dekalogs. Die Rettung ist von ihrer Befolgung abhängig, nicht von den Opferungen.17 Nur im Jerusalemer Tempel waren die Opferungen erlaubt. Die Synagogen sind nur dazu bestimmt, um die Torah zu verkünden und Gott zu preisen. Insofern kann man die Zerstörung des Tempels durch Vespasian als ein von der Vorsehung bestimmtes Ereignis ansehen, das das jüdische Volk dazu gezwungen hat, sich auf das Wesentliche zu besinnen, nämlich die Torah, ihre Auslegung und die Erfüllung ihrer Gebote.18 Der höchste Grad der Weisheit, mit der Gott Adam ausstattete, ist für Bodin in der Torah, und im weitesten Sinn im Alten Testament, das oft mit der Bezeichnung „lex divina“ zitiert wird, enthalten. Das Alte Testament, nicht das Neue, ist Bodins letzte Autorität in allen theologischen, politischen und naturwissenschaftlichen Fragen.19 Die einzigen, echten Träger und Bewahrer dieser Weisheit sind die Juden, deren einzigartige Geschichte als Zeichen ihrer Erwählung und Überlegenheit über alle anderen Völker, Griechen und Ägypter eingeschlossen, interpretiert wird.20 Sie sind das Urvolk, aus dem alle anderen Völker stammen,21 ihre Religion und ihr Gesetz betrachtet Bodin als Vorbild für alle anderen Religionen und Gesetze.22 An zahlreichen Stellen vertritt Bodin die These, daß der Ursprung der Weisheit und Wissenschaft aller Völker in den Hebräern zu suchen sei.23 Er glaubt, daß das Hebräische die Natursprache ist, die jeder anderen zugrunde 16 Bodin, Colloquium, S. 143. Bodin vertritt offenbar die gleiche These von Maimonides (Die Führung der Verwirrten III,32), ohne ihn jedoch zu erwähnen. 17 Ebd., S. 144: „Est igitur in decalogi executione salus, non in sacrificiis statuenda.“ 18 Ebd., S. 144. 19 Roellenbleck, Offenbarung, S. 23. 20 Ebd., S. 50. 21 J. Bodin, Methodus ad facilem historiarum cognitionem, Paris 1566, IX, S. 242v zitiert nach Roellenbleck, Offenbarung, S. 50. 22 Bodin, Methodus, IX, S. 253r zitiert nach Roellenbleck, Offenbarung, S. 51. 23 Bodin, De Republica, IV 2 (in der Pariser Ausgabe von 1586, S. 405): „At tametsi veteres Hebraeorum philosophi non modo rerum divinarum ac caelestium scientiam, sed etiam abditas naturae causas divino munere et concessu habuerint, et ab iis ad omnes mortales rerum pulcherrimarum cognitio profecta sit, ut Porphirius omnium suae aetatis philosophorum maximus confitetur etc.“. Roellenbleck, Offenbarung, S. 50–51 verweist noch auf Methodus, IV 138B und Colloquium, II, 50.
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liegt,24 und folglich bemüht er sich darum, hebräische Wortstämme in Orts- und Personennamen anderer Völker aufzuweisen.25 Entsprechend seiner Auffassung, die Juden hätten unverändert bis in seine Zeit ihre Religion und das Gesetz Gottes bewahrt, betrachtet Bodin die rabbinischen Schriften als unverzichtbaren Teil dieser Tradition und führt diese neben dem Alten Testament in seinen Werken als Beleg seiner Argumentation an.26 Bodins außergewöhnliche Kenntnis der jüdischen Literatur hat schon früh die Legende aufkommen lassen, er habe eine jüdische Mutter gehabt und sei von ihr heimlich ins Judentum eingeführt worden.27 Die moderne Forschung hat nachgewiesen, daß diese Legende jeder Wahrheit entbehrt.28 Es stellt sich also die Frage, wie und wo Bodin seine Kenntnisse über die jüdische Literatur erworben hat. Leider können wir hierüber nur Vermutungen aufstellen. Wahrscheinlich hatte er Hebräisch in Paris an der „Colle`ge des quatre langues“ schon während seines Aufenthaltes im Karmeliterkloster gelernt, als er noch Mitglied des Ordens war. Hier unterrichtete zwischen 1530– 1549 Paul Paradis, den Bodin im Colloquium (V, 205) erwähnt. Bodin hätte an seinen Vorlesungen teilnehmen können, bis er 1549 den Karmeliterorden und Paris verließ, um sich in Toulouse für Jura zu immatrikulieren. Mit Cinqarbres und Mercier, zwei weiteren Dozenten für Hebräisch an der Colle`ge, stand Bodin in Verbindung zur Zeit der Abfassung der Methodus, um unter ihrer Anleitung den Talmud zu studieren.29 24 J. Bodin, Universae naturae theatrum, Paris 1591, Bd. 2, S. 146, Bd. 3, S. 422, zitiert nach Roellenbleck, Offenbarung, S. 50. 25 Bodin, Methodus, IX, S. 242v. 26 Für eine erste nicht vollständige Aufstellung der jüdischen nichtalttestamentlichen Quellen in den Werken von Bodin siehe J. Guttmann, „Jean Bodin in seinen Beziehungen zum Judentum“, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 49 (1905), S. 477–489. Über die jüdischen Quellen Bodins in den Les six livres de la Re´publique siehe R. Chauvire´, Jean Bodin auteur de la Republique, Paris 1914, S. 171 ff. 27 So z. B. Jean Chapelain in den Briefen an Wagenseil im Jahre 1673. Siehe dazu das Vorwort (S. XXX) von F. Berriot in der französichen Ausgabe des Heptaplomeres (Colloque entre sept scavans qui sont de differens sentimens des secrets cachez des choses relevees. Traduction anonyme du Colloquium heptaplomeres de Jean Bodin, Gene`ve 1984) und Roellenbleck, Offenbarung, S. 9. 28 E. Pasquier, «La famille de Jean Bodin», in: Revue d’histoire de l’e´glise de France 19 (1933), S. 457–462. 29 Roellenbleck, Offenbarung, S. 28. Siehe dazu auch M. Cline Horowitz, “Bodin and Judaism”, in: Jean Bodin a 400 anni dalla morte. Bilancio storiografico e prospettive di ricerca, a cura di A. E. Baldini (Il pensiero politico XXX/2), Firenze 1997, S. 205–216: 209.
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Bodins Abkehr vom Christentum hin zum Judentum ist auf jeden Fall eine persönliche Entscheidung gewesen, die im Verlauf seiner Überlegungen über die Staatslehre zustande gekommen ist und sich im Spätwerk Universae naturae theatrum in der Darstellung seiner von Judentum geprägten Weltanschauung vollzieht.
Arias Benedito „Montano“ (1527–1598) Das Interesse von Arias „Montano“ für das Judentum ist eng verbunden mit seinen historischen und philologischen Bibelforschungen. Geboren 1527 als Sohn eines Notars zu Frejenal de la Sierra in Estremadura (Sierra = Gebirge, woraus der humanistische Namen „Montanus“ abgeleitet wurde), studierte Arias Montano in Sevilla und in Alcala´ de Henares besonders die orientalischen Sprachen. Er trat in den Orden des St. Jago ein und nahm als Theologe des Bischofs von Segovia am Konzil von Trient teil. Von besonderer Bedeutung war seine Ernennung im Jahre 1566 zum Hofkaplan von Philipp II. Das war der Anfang einer intensiven Mitarbeit von Montano an den kulturellen Unternehmungen des Königs, insbesondere am Entwurf des Escorial und an der Herausgabe einer neuen Polyglotte bekannt als „Biblia regia“ oder „Biblia Plantiniana“, die in Antwerpen durch Christoph Plantin 1568–72 gedruckt wurde. Montano war vor allem um die Klärung des historischen Schriftsinns und um eine philologisch getreue Wiedergabe des hebräischen Textes der Bibel bemüht. Er war überzeugt, daß das Wort Gottes nicht in den alten Übersetzungen, sondern in dem hebräischen Text, dank den Masoreten und der göttlichen Unterstützung, unverändert tradiert wurde. Er betrachtete die Juden als das von Gott auserwählte Volk, um sein Wort zu bewahren und weiter zu tradieren. Die rabbinischen Schriften sind für Montano ein Hilfsmittel für ein besseres grammatikalisches und historisches Verständnis des hebräischen Originaltextes. Deshalb nahm Montano in die Polyglotte die Targume und griff auf rabbinische Auslegungsmethoden zurück. Ein Beispiel bieten seine geographischen Interpretationen im achten Band der Polyglotte. Ausgangspunkt seiner geographischen Auslegungen ist die Überzeugung, daß „in den heiligen Schriften alle Schätze von jeder Wissenschaft und Kunst enthalten sind. Denn der Gründer und Erbauer der Welt, Gott, in diesen Büchern bezeugt, wie er diese Welt für die Menschen erschaffen hat.“30
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Die Bibel legt auch „alle Schätze jeder Wissenschaft und Weisheit offen, die der Mensch begreifen kann, sowohl das, was die Naturwissenschaft anbelangt, als auch das, was die Untersuchung der Künste, die für die Menschheit notwendig sind, betrifft.“31 Alles, was die Philosophen und Gelehrten über die Wissenschaft und die verschiedenen Künste erörtert haben, ist in den heiligen Büchern noch ausführlicher und deutlicher überliefert, weil derjenige, der sie diktiert hat, Gott selber ist, der sehr viel höhere Autorität als jeder anderer hat. Montano ist überzeugt, in sieben bis acht Jahren nur anhand der biblischen Quellen dieselben wissenschaftlichen Traktate der Griechen und der Römer abfassen zu können, die mindestens genau so wertvoll sind, wenn nicht sogar überlegen.32 Auch über die Geographie beteuert Montano mehr von der Bibel gelernt zu haben als von jedem anderen klassischen Autor. Die geographischen Kenntnisse der alten Autoren hält Montano auf keinen Fall für vergleichbar mit den Kenntnissen, die man aus der Bibel gewinnen kann. Das gilt auch für die „angeblich“ neuen geographischen Entdekkungen: (. . .) von jenem weiten und breiten Teil der Erde, der an Gold, Silber, Edelsteinen und allem, was die Menschen für wertvoll halten und für den Lebenserhalt notwendig ist, im Überfluß hat und der, wie man glaubt, neulich von spanischen Seeleuten entdeckt wurde und „Neue Welt“ genannt wird, kann man durch die Beschreibung, die in den heiligen Büchern überliefert ist, ihn deutlich kennen lernen. Der heiligen Schrift entnehmen wir, daß dieses Land den Israeliten sehr wohl bekannt war. Es steht fest, daß sie oft dahin per Schiff gereist sind.33
Montano bringt für seine Behauptung folgenden Beweis bei. Die Bibel erzählt, daß die Flotte von König Salomo nach Osten fuhr und ihm jede Menge Gold „Parwajim“ brachte. Für diejenigen – setzt Montano fort – die auch nur ein wenig Hebräisch lesen können, ist klar, daß dieses Wort auf zwei Länder hindeutet: das 30
Communes et familiares hebraicae linguae idiotismi, omnibus Bibliorum interpretationibus, ac praecipue latinae Santis Pagnini versioni accomodati, atque ex variis doctorum virorum laboribus et observationibus selecti et explicati; Benedicti Ariae Montani Hispalensis Opera. Ad Sacrorum Bibliorum Apparatum. Antwerpiae excudebat Christopherus Plantinus Prototypographus Regius. Anno 1572, Praefatio (ohne Seitenzahl) zum Traktat Phaleg sive de gentium sedibus primis, orbisque terrae situ, liber. 31 Ebd. 32 Ebd. 33 Ebd.
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eine ist das Land, das noch heute mit dem gleichen Wort Peru34 heißt, das andere ist das Land, das von den Seeleuten „Neues Spanien“ genannt wird. Es ist bekannt, daß das Gold dieses Landes absolut pur und sehr geschätzt war. (. . .) Denn der hebräische Text lautet: „we-ha-zahav zehav parwajim“, d. h. und jenes Gold, Gold Peru (et aurum illud, aurum Peru) und Peru ist eben PRW in seiner Dualform.35
Die gleiche These wird von Azaria de’Rossi in den Meor Enayim vertreten. Bei seiner Schilderung der geographischen Kenntnisse der Rabbinen kommt Azaria auf die Entdeckung der „Neuen Welt“ zu sprechen. Neu ist diese Welt nur für diejenigen, die sie davor nicht kannten. Das gilt z. B. für den Griechen Ptolomäus, der in seiner Weltkarte diese Welt nicht vermerkt hat. Denn in den vorigen Jahrhunderten war ihre Existenz vom menschlichen Gedächtnis verschwunden. Doch, wie der weiseste Mann sagt, „Gibt es überhaupt etwas, von dem es heißt: Sieh dir das an, das ist etwas Neues?“ (Kohelet 1,10) Es gilt also als sicher, daß zur Zeit des Königs Salomon dieser bewohnte Weltteil wohl bekannt war und Reisende zum Handeln und für andere Bedürfnisse regelmäßig hin und zurück fuhren. Aus dem Land von Ofir und Parwajim, wie es im Buch der Könige (I,10,22) und der Chronik (II,9,21) geschrieben steht, brachte eine Flotte alle drei Jahre Gold, Silber, Spezereien, Elfenbein und andere Dinge. Alle diese Waren wurden auch vom Schiff „Vittoria“36 binnen so viel Zeit, wenn man die unvermeidlichen Verspätungen berücksichtigt, gebracht. Es besteht also kein Zweifel, daß Ofir und Parwajim das Land Peru ist, das in der Neuen Welt entdeckt wurde.37
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Montano vokalisiert das hebräische Wort PRW als „Peru“. Ebd. Ein anderer Theologe und Hebraist, der Augustinermönch Luis de Leo´n, interpretiert in seinem Kommentar zu Hiob die Verse 28, 4–7 als eine prophetische Andeutung der Entdeckung der Neuen Welt. Siehe dazu M. Venard, «La Bible et les Nouveaux Mondes», in: Les temps des Re´formes et la Bible, hrsg. von G. Bedouelle u. B. Roussel, Paris 1989, S. 489–515; C. Sa´nchez Rodrı´guez, Perfil de un humanista Benito Arias Montano (1527–1598), Huelva 1996, S. 84–87; N. Ferna´ndez Marcos, El nuevo mundo en la exe´gesis espan˜ola del siglo XVI, in: Biblia y Humanismo. Textos, talantes y contoversias del sigloXVI espan˜ol, hrsg. von N. Ferna´ndez Marcos u. E. Ferna´ndez Tejero, Madrid 1997, S. 35–43. 36 Azaria hat davor die Erdumschiffung von Sebastian del Cano erwähnt, der nach dem Tod von Magellan den Durchgang nach Osten um Südamerika herum fand. Er kehrte nach Sevilla zurück im September 1522. 37 Azaria de’Rossi, Meor Enayim, Mantua 1573, Imre Bina Kap. 11 (Repr. Vilna 1864–1866, S. 161–162). Siehe auch die englische Übersetzung von J. Weinberg, The Light of the Eyes, New Haven, London 2001, S. 211 f. 35
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Im Einklang mit der jüdischen Tradition ist auch die Auslegungsmethode von Montano. Wie Bodin hat Montano eine holistische Auffassung der Bibel. Sie ist ein allumfassendes Buch, das alles, auch die profanen Wissenschaften, enthält. Von dieser Überzeugung ist seine Auslegungsmethode geleitet. Das ist aber eine typisch jüdische Denkweise, die eine alte gut belegte Tradition hat und von Messer Leon in dem Nophet ha-tzuphim (Mantua 1474/76) treffend so formuliert wird: Am Fuße des Sinai krönte uns Gott mit der Torah in ihrer ganzen Vollkommenheit. Sie umfaßte alle Wissenschaften, nämlich die Naturwissenschaften, die Logik, die Theologie, die Rechts- und Politikwissenschaft, mit denen die ganze Welt ihren Durst löschte . . . Wir lernten alle Wissenschaften und Entdeckungen des Menschen durch seine heilige Torah kennen, denn alles ist entweder offensichtlich oder verborgen in ihr enthalten . . . Nur später, aufgrund unserer Sünde, wurde uns die Gegenwart Gottes entzogen: Die Prophetie hörte auf und es verschwand das Wissen unserer Weisen und wir konnten nicht mehr die Torah in ihrer ganzen Vollkommenheit begreifen. Es ist unsere Schuld, wenn der Lernprozeß jetzt umgekehrt ist: nur nachdem wir alle Wissenschaften bzw. Teile von ihnen gelernt haben, öffnen sich unsere Augen und wir nehmen wahr, daß alles bereits in der Torah ist. Wir wundern uns dann. Wie konnte es sein, daß wir es nicht von vornherein wahrgenommen haben? Das ist schon oft passiert! Das ist auch im Fall der Rhetorik geschehen!38
Im 15. Jahrhundert suchte Messer Leon in der Bibel die Quelle der rhetorischen Regel. Im 16. und 17. Jahrhundert suchte man in der Bibel die Quelle jeder geographischen und technischen Entdeckung. Abraham ben David Portaleone (1542–1612) bemüht sich in seinen Shilte ha-gibborim nachzuweisen, daß die alten Israeliten über alle wissenschaftlichen und technischen Kenntnisse, sogar Schießwaffen und Kanonen, verfügten. Azaria Figo und Abraham Jagel beanspruchen die Entdeckung des Fernglases und des Teleskops als eine jüdische Entdeckung, die auf die Rabbinen zurückgeht.39
38 I. Rabinowitz, The Book of the Honeycomb’s Flow. Sepher Nophet Suphim, Ithaca 1983, S. 143–147. Siehe auch R. Bonfil, „Il libro di Judah Messer Leon: la dimensione retorica dell’ Umanesimo ebraico in Italia nel XV secolo“, in: ders., Tra due mondi. Cultura ebraica e cultura cristiana nel Medioevo, Neapel 1996, S. 273–287: 283. 39 Siehe dazu D. B. Ruderman, Kabbalah, Magic and Science: The Cultural Universe of a Sixteenth–Century Jewish Physician, Cambridge, Mass., London 1988, S. 98; ders., Jewish Thought and Scientific Discovery in Early Modern Europe, New Haven, London, 1995, S. 204.
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Diese Parallelen zwischen dem Judentum und den Interpretationen von Arias Montano wurden schon von seinen Gegnern bemerkt. Wie Bodin konnte auch Arias nur knapp der Inquisition entgehen. Leo´n de Castro, Professor in Salamanca, klagte Arias Montano der Ketzerei, der Neigung zum Judentum und der Fälschung der Bibeltexte als verdächtig vor der Inquisition an und beteuerte, daß die „Biblia Regia“ eine „bandera de la Sinagoga“40 zu sein erschien. Arias mußte mehrfach nach Rom reisen und nur mit Mühe gelang es ihm, sich zu rechtfertigen, so daß er freigesprochen wurde.41
Schlußbemerkung Im 16. und 17. Jahrhundert vollziehen sich politische, wissenschaftliche und religiöse Veränderungen, die die vertraute Weltanschauung grundlegend modifizieren. Es ist eine Zeit des Umbruchs und der Krise, die verschiedene Reaktionen ausgelöst hat. Einen Versuch, sie zu bewältigen, stellt die Berufung auf das Alte Testament als letzte Autorität in allen Gebieten und zu allen Fragen dar, die sowohl von jüdischen als auch von einigen christlichen Intellektuellen unternommen wurde. Das Alte Testament wird als zweifelsfreie Quelle der Erkenntnis und der Deutung angeführt. Es ist ein fester, beständiger Ausgangspunkt in der sich verändernden Umwelt, um das Neue in die alten Denkschemata einzuordnen, was üblich war im Judentum. Neu von christlicher Seite ist bei dieser Anwendung der Bibel als Prisma, mit dem die ganze Umwelt wahrgenommen und interpretiert wird, die positive Einstellung gegenüber dem Judentum. Entsprechend der humanistischen Schätzung des Alters als zuverlässiges Kriterium der Wahrheit, betrachtet man das jüdische Volk als das Urvolk, das die Sprache der Schöpfung bewahrt und die Offenbarung Gottes durch die Rabbinen in einer ununterbrochenen Traditionskette bis heute tradiert hat.
40 Siehe Rodrı´guez, Perfil de un humanista, S. 96 und E. Ferna´ndez Tejero, Benedicti Ariae Montani . . . De Mazzoreth ratione atque usu, in: Biblia y Humanismo (wie Anm. 35), S. 155–160; hier S. 158. 41 Die Polemik über die Biblia Regia dauert noch nach dem Tod von Arias Montano an. Siehe dazu E. Ferna´ndez Tejero u. N. Ferna´ndez Marcos, „La Pole´mica en torno a la Biblia Regia de Arias Montano“, in: Sefarad 54/2 (1994), S. 259–270.
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Der Schriftsinn in seiner ursprünglichen Reinheit ist nicht in den alten Übersetzungen, Vulgata eingeschlossen, sondern im originalen hebräischen Text enthalten. Um alle Nuancen des Hebräischen zu erkennen und zu begreifen, sind für Arias Montano und andere Hebraisten seiner Zeit wie Cipriano de la Huerga und Luis de Leo´n die rabbinischen Schriften unverzichtbar. Diese Sympathie und Zuneigung für das Judentum kann wie bei Bodin etherodoxe Züge annehmen oder wie bei Arias Montano in den Grenzen der Orthodoxie bleiben. Beide Haltungen sind dennoch für die Zeitgenossen gleich verdächtig. Beide haben den gemeinsamen Ursprung und tragen gleichermaßen zum späteren antiquarischen Interesse für die rabbinische Literatur bei.
Teil II Kabbalistische Ursprünge
KABBALA ALS KULTURGUT: ABRAHAM COHEN DE HERRERAS „SPANISCHE“ MYSTIK UND IHRE CHRISTLICHE REZEPTION Gerold Necker (. . .) nihil magis in votis habui, quam ut dissipatis omnibus obstantium impedimentorum nubilis Sole ipso atque Luce ejusdem clariore, frui mihi liceret.1
I Bei der Auseinandersetzung christlicher Hebraisten mit kabbalistischen Texten kam es im Verlauf des 16. und 17. Jahrhunderts zu einer folgenschweren Veränderung. Vor dem Zeitalter der Konfessionalisierung und der darauf folgenden Frühaufklärung war sowohl das Mißtrauen als auch die Euphorie gegenüber der Kabbala katholisch. Während Pico della Mirandola jüdische Esoterik in die christliche Dogmenwelt einführte, war sie für Johann Albrecht Widmanstadt, der bei einem der jüdischen Lehrer Picos lernte, ein „trojanisches Pferd“, aus dem „unendlich ungeheuerliche Meinungen (. . .) einen Angriff auf die Kirche Christi unternehmen“.2 1 „(. . .) ich hatte keinen größeren Wunsch, als die Sonne selbst und ihr helles Licht nach Auflösung aller störenden, hinderlichen Nebel sehen zu können“ (Chr. Knorr von Rosenroth, Kabbala denudata Bd. I, 2, Sulzbach 1678, S. 76). 2 J. Perles, Beiträge zur Geschichte der hebräischen und aramäischen Studien, München 1884, S. 185 f., zitiert die Stelle aus der 1543 ohne Ortsangabe gedruckten Schrift Mahometis Abdallae filii Theologia dialogo explicata Hermanno Nellinganense interprete des katholischen Orientalisten Widmanstadt: „. . . ex hac Juedeorum Caballa infinita opinionum portenta, veluti ex equo Trojano educta, impetum in Christi ecclesiam fecisse“, vgl. G. Scholem, „Zur Geschichte der Anfänge der christlichen Kabbala“, in: Essays presented to Leo Baeck on the Occasion of his Eightieth Birthday, hrsg. von N. Bentwitch, London 1954, S. 161.
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Gleichzeitig grassierte auch eine „Apostatenkabbala“3, wie Gershom Scholem die zu Missionszwecken erdachten Pseudepigraphen nannte, die etwa der Konvertit Paulus de Heredia in Umlauf brachte. Das Phänomen, daß die Verteidigung der katholischen Wahrheit mit oder gegen die Kabbala jüdischer Lehrer oder Neophyten bedurfte, verschwand im Zuge der Gegenreformation. Und die protestantischen Humanisten suchten in ihrer Mehrzahl die Wahrheit in den Texten selbst. Apologie und Mission waren zwar immer noch die treibenden Kräfte bei der Beschäftigung mit den hebräischen Quellen, aber spätestens in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts beflügelten kabbalistische Gedankengänge auch zunehmend den philosophischen Diskurs. Moshe Idel nannte diese Entwicklung in seinen Schlußbemerkungen von Kabbalah New Perspectives den Weg „from Jewish Esotericism to European Philosophy“ und beschrieb das „intellectuall Profile of Kabbalah as a Cultural Factor“.4 Im folgenden sollen die Hintergründe dieser Rationalisierung der Kabbala einerseits und ihre Wahrnehmung als jüdische Theologia mystica andererseits anhand von Abraham Cohen de Herreras Lebens- und Wirkungsgeschichte dargestellt werden. Den Hebraisten des 17. Jahrhunderts waren zwei berühmte Schüler Herreras zweifellos besser bekannt als dieser selbst. Sowohl Menasse ben Israel als auch Isaak Aboab da Fonseca, die sich beide auf ihren Lehrer als einen „herausragenden Kabbalisten“ beriefen, fanden mit ihren christlichen Gesprächspartnern zwar viele gemeinsame Themen, kabbalistische Inhalte gehörten jedoch nicht dazu. Menasse ben Israel benutzte kabbalistische Terminologie aus dem Sohar im wesentlichen nur, um seine magisch-neuplatonische Weltanschauung als eine Art jüdische Prisca Theologia auszugeben.5 Isaak Aboab war dagegen überzeugt, daß die kabbalistischen Geheimnisse einem eingeweihten Kreis vorbehalten sind und als mündliche Tora allein zur jüdischen Tradition gehören. Im Prinzip waren beide Haltungen mit der Position von Abraham Herrera vereinbar, der sich einerseits bemühte, die Kohärenz der neuplatonischen Philosophie mit der Kabbala durch Einbindung griechischer, spanischer und italienischer Autoren aufzuzeigen,
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Scholem, ebd., S. 179. M. Idel, Kabbalah: New Perspectives, New Haven, London 1988, S. 250 ff. 5 Vgl. J. Dan, „Menasseh ben Israel: Attitude Towards the Zohar and Lurianic Kabbalah“, in: Menasseh ben Israel and his World, hrsg. von Y. Kaplan u. a., Leiden 1989, S. 199–206. 4
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und andererseits betonte, daß er die kabbalistische Lehre in mündlicher Tradition von Israel Saruq, einem Schüler Isaak Lurias6, empfangen habe. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang der kuriose Umstand, daß Herrera seine beiden umfangreichen mystischen Schriften Puerta del cielo7 und Casa de la divinidad8 auf spanisch verfaßte, kurz vor seinem Tod am 4. Februar 1635 aber Isaak Aboab mit einer hebräischen Übersetzung beauftragte,9 die dann von Christian Knorr von Rosenroth in dessen berühmtem Kompendium Kabbala denudata10 ins Lateinische übertragen und in dieser Form von Johann Franz Budde in der 1702 in Halle erschienen Introductio ad Historiam Philosophiae Ebreorum besprochen wurde.11
II Schon Heinrich Graetz hatte in der ihm eigenen Aversion gegen kabbalistische Prosa behauptet, daß Abraham Herrera, den der Dichter Levi de Barrios als Nachfahren des spanischen Gran Capitan Gonsalvo de Co´rdoba rühmte, sich „in die Untiefen der Kabbala“ eingeschifft hätte, weil er erst im reifen Alter zum Judentum kam und dement6 Die Frage, ob Saruq zum direkten Schülerkreis von Luria gehörte, ist nicht mit Sicherheit zu entscheiden; nach Scholem wurde er mit dessen Lehren erst „in den 1580er Jahren, wohl bei einem Aufenthalt in Safed oder Jerusalem“ vertraut, siehe Scholem in seiner Einleitung zu Das Buch wyr hwmiiÕ oder Pforte des Himmels, aus dem Lateinischen übersetzt von F. Häußermann, Frankfurt 1974, S. 16 mit Anm. 14; für eine Zugehörigkeit zu Lurias Schülerkreis plädiert R. Meroz, „Contrasting Opinions Among the Founders of R. Israel Saruq’s School“, in: Expe´rience et e´criture mystiques dans les religions du livre, hrsg. von P. B. Fenton u. R. Goetschel, Leiden u. a. 2000, S. 192, Anm. 3. 7 MS Den Haag, königl. Bibliothek 131 C 10; MSS Amsterdam, Ets Hayyim Bibliothek 48 A 16 und HS 48 B 19; MS New York, Columbia University Library X 86–H 42 Q; vgl. die Teiledition von K. Krabbenhoft, Abraham Cohen de Herrera: Puerta del cielo, Madrid 1987 sowie die Übersetzung von ders., Abraham Cohen de Herrera: Gate of Heaven (Studies in European Judaism 5), Leiden 2002. 8 MS Jerusalem, Varia 106; MS Amsterdam, Ets Hayyim Bibliothek 48 A 20. 9 So I. Aboab in der Einleitung zu seiner hebräischen Übersetzung, vgl. N. Yosha, Myth and Metaphor: Abraham Cohen Herrera’s Philosophic Interpretation of Lurianic Kabbalah (hebr.), Jerusalem 1994, S. 45 f. 10 Zu Aufbau und Inhalt dieses Kompendiums vgl. A. B. Kilcher, „Synopse zu Knorr von Rosenroths Kabbala denudata“, in: Morgen-Glantz 10 (2000), S. 201–220; die Übersetzungen von Herreras Werken stehen in Tomus primus, pars tertia (S. 1–192: „Liber Scha’ar ha-Schamaiim seu Porta Coelorum“) sowie Tomus secundus, pars tertia (S. 188–242: „Tractatus, excerptus & translatus e` scripto Beth Elohim“), ebd. S. 213 und 218. 11 S. 280 ff.
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sprechend wenig von jüdischer Tradition und hebräischer Sprache verstanden hätte.12 Tatsächlich besteht in bezug auf Herreras Herkunft immer noch Klärungsbedarf. Das erste Dokument, das über ihn Auskunft gibt, ist sein Brief an Lord Robert Devereux von Essex, der am 3. Juni 1596 mit achtzig Schiffen die spanische Hafenstadt Ca´diz überfiel und vierzig Gefangene, darunter Herrera, nach England brachte, um von den Spaniern Lösegeld zu fordern. In dem Brief gab Herrera an, daß er nicht in Spanien geboren wurde und wie sein jetzt in Venedig lebender Vater David Cohen Untertan des Großherzogs der Toskana sei. Wie sein Onkel Juan de Marchena stünde er im Dienst des marokkanischen Sultans und sei in dessen Auftrag aus Florenz gekommen. Dem Brief legte er eine Kopie des Schreibens von Sultan Achmed al Mansur aus Marokko an Königin Elisabeth bei und unterzeichnete den Brief mit seinem nichtjüdischen Namen Alonso Nun˜ez de Herrera.13 Ungeachtet seines naheliegenden Interesses, nicht als Untertan der spanischen Krone zu gelten, kann man davon ausgehen, daß Herrera aus einer Familie spanisch-portugiesischer Conversos stammt. Nur indem er sich glaubwürdig als Katholik ausgab, konnte er im Spanien Philips II. vor Verfolgung sicher sein und geschäftlich tätig werden.14 Eine weitere, allerdings unklare Nachricht stammt aus dem Bericht des Renegaten Hektor Mendez Bravo vom 11. Dezember 1617 an die portugiesische Inquisition. Er stellte die Namen aller zum Judentum zurückgekehrten Neuchristen zusammen, die er in Venedig, Amsterdam und während eines zweimonatigen Aufenthaltes in Hamburg kennengelernt hatte. In der Hamburger Liste heißt es: „Rodrigo de Merchena [sic], aus dieser Stadt (gemeint ist Lissabon, in der sich Mendez Bravo während seines Bekenntnisses befindet), der dort (d. h. Hamburg) jetzt Abraham Cohen de Herrera genannt wird und eine Stellung als Rabbi hat. Alonso Nun˜es de Herrera, der Cousin des genannten Rodrigo de Merchena, und seine Frau“.15 Abgesehen von der offensichtlichen Ver12 H. Graetz, Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart, Leipzig 1894–1908, Bd. 9, S. 461 und Bd. 10, S. 118. 13 Vgl. Yosha, Myth and Metaphor, S. 25 sowie Krabbenhoft, Abraham Cohen de Herrera: Gate of Heaven, S. XV f. 14 Darauf verweist auch Y. Kaplan in seiner Rezension „Ein lurianischer Philosoph aus dem Zeitalter des Barock“ (hebr.), in: Pe’amim 70 (1997), S. 131, gegen Yosha, Myth and Metaphor, der davon ausgeht, daß Herrera in Italien geboren wurde und folglich nicht als Christ aufgewachsen sei. 15 „Rodrigo de Merchena desta cidade que agora se chama la Habram Coem de Herrera, que serve de sacerdote. Alonso Nunes Herrera, primo de dito Rodrigo de Merchena e sua molher“, zitiert bei F. Niewöhner, „Abraham Cohen de Herrera in Hamburg“, in: Zeitschrift für Religion und Geistesgeschichte 35 (1983), S. 163 mit Anm. 5.
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wechslung von Rodrigo mit seinem Vetter Alonso, der bereits 1620 in Amsterdam als Abraham Cohen de Herrera in den Steuerlisten vermerkt ist, hielt es Gershom Scholem für unwahrscheinlich, daß Abraham Herrera in Hamburg als Rabbiner fungiert hätte. In Amsterdam, wo Herrera geachtetes Mitglied der Gemeinde Neve Shalom war, läßt sich seine religiöse Autorität immerhin daran ermessen, daß er die spanische Erstausgabe von Menasse ben Israels Conciliador mit einer Empfehlung und Einleitung versah und eine wichtige Rolle bei der Approbation von Josef Delmedigos Sefer Elim spielte.16 Die Frage nach seinem Familienstand schließlich, ob er (oder sein Vetter Rodrigo) schon in Hamburg verheiratet war, kann durch einen Fund von Nissim Yosha17 im Amsterdamer Stadtverzeichnis eindeutig beantwortet werden: Abraham und Sara ließen am 6. August 1622 beim Notariat bezeugen, seit „ungefähr 22 Jahren verheiratet“ zu sein.18 In diesem Jahr wurde der Eintrag ins städtische Verzeichnis nach holländischem Recht auch für Juden verpflichtend und die Zulassung oder Bestätigung von Heiraten unter Verwandten ersten Grades in Zukunft untersagt. Abraham Herrera nahm also kurz nach seiner vier- bis fünfjährigen Gefangenschaft in England wahrscheinlich die Tochter seines Onkels und Geschäftspartners Juan de Marchena zur Frau. Er starb kinderlos am 4. Februar 1635, neun Jahre vor seiner Frau Sara; ihr gemeinsames Grab befindet sich auf dem jüdischen Friedhof in Ouderkerk.19
III Die Episode, die in der abwechslungsreichen Lebensgeschichte von Abraham Herrera für sein Werk ebenso wichtig war wie seine im spanischen und italienischen Bildungssystem gewonnene Kenntnis der klassischen und zeitgenössischen Literatur, war sein kabbalistischer Unterricht. Er fand in Israel Saruq einen Lehrer, der ihn in die lurianische Mystik einweihte. Auf dem Weg nach Saloniki hielt sich Saruq nach 1600 in Ragusa, dem heutigen Dubrovnik, auf.20 Dort las Herrera
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Vgl. Yosha, Myth and Metapher, S. 35–39. Ebd. S. 26 f. 18 „Abraham Cohen de Herrera alias Alonso de Herrera en Sara de Herrera verklaren ontrent 22 jaeren getrouwt te sijn“, zitiert bei Yosha, Myth and Metaphor, S. 27, Anm. 22. 19 Vgl. Yosha, Myth and Metapher, S. 23 f. 20 Ebd. S. 40–42. 17
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nach eigenen Angaben unter seiner Ägide die Schriften von Chajim Vital Calabrese.21 Israel Saruq war die maßgebliche Persönlichkeit bei der Verbreitung der lurianischen Kabbala und beeinflußte neben Abraham Herrera auch Menachem Asariah da Fano und Josef Delmedigo. Alle vier Gelehrten versuchten, die jüdische Mystik lurianischer Prägung mit neuplatonischen Ideen zu verbinden. Die Argumentation von Gershom Scholem, daß die Bewegung von Shabbtai Zwi unter anderem deshalb so erfolgreich war, weil ihr die Popularisierung der lurianischen Kabbala voraus ging, bedarf insofern einer Modifizierung, als die Rezeption dieser neuen Kabbala auch eine ganz unmessianische Seite hatte. Gerade in Italien wurde sie mit der platonischen Tradition verbunden, die dort seit der Renaissance wieder einen prominenten Platz im Bildungskanon hatte. Ähnlich wie Pico della Mirandola und Marsilio Ficino die christliche Wahrheit durch die Übereinstimmung mit platonischer und kabbalistischer Weisheit bestätigt sahen, wollte Abraham Herrera jüdische Tradition mit jenen metaphysischen Gedanken verbinden, die nach seinen Worten „wie Pforten und Stufen sind, um einzutreten und hinaufzusteigen zur Erkenntnis der höchsten Wahrheiten unserer kabbalistischen Theologie, und die unsere Philosophen für die platonische Lehre begeistert.“22 Diese sei bei allen Menschen diejenige, die der hebräischen am nächsten komme. Sie könne, schreibt Herrera, „mit geringen Abänderungen in unsere Wahrheit verwandelt werden“.23 Immerhin hat Herrera hier einen anderen Standpunkt als sein Lehrer Israel Saruq, der gesagt haben soll, „es gibt keinen Unterschied zwischen Kabbala und Philosophie“.24 Tatsächlich modifizierte Herrera jedoch nicht nur die philosophischen Lehren, um sie in die hebräische Wahrheit zu verwandeln, sondern interpretierte auch die lurianische Kabbala in origineller Weise, um sie in Übereinstimmung mit seiner neuplatonischen Weltanschauung zu bringen. Am faszinierendsten ist dabei seine Konzeption von Adam Qadmon, die dem neu-
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Ebd. S. 40. Casa dela divinidad VII, 10: „. . . son como puertas y escalones para entrar y subir a la noticia de las soberanas verdades de nuestra cabalistica theologia, y afficionar a nuestros philosophos a la platonica doctrina“, zitiert bei N. Yosha, „Abraham Cohen de Herrera: An Outstanding Exponent of Prisca Theologia in Early Seventeenth-Century Amsterdam“, in: Dutch Jewish History, Bd. 3, hrsg. von J. Michman, Jerusalem 1993, S. 121 mit Anm. 35. 23 Ebd.: „. . . con poca mudanc¸a se puede convertir (. . .) en nuestra verdad“. 24 Vgl. G. Scholem, „Israel Sarug – ein Schüler des ARI?“ (hebr.), in: Zion 5 (1940), S. 220 f. 22
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platonischen Grundsatz folgt, daß aus dem vollkommenen und einfachen Einen nur eine ebenso vollkommene Einheit hervorgehen kann. Herrera übersetzt in diesem Zusammenhang einen Ausschnitt aus Pico della Mirandolas Kommentar zur Canzona d’amore von Girolamo Benivieni25: Nach der Ansicht von Plotin, Porphyrios und allgemein von den herausragendsten Platonikern, bestätigt von Aristoteles und allen Arabern, besonders Avicenna, hat der höchste Gott ein Geschöpf unkörperlicher und geistiger Natur hervorgebracht, so vollkommen, wie eine erschaffene Sache nur sein kann. Aus diesem Grund brachte er unmittelbar nichts anderes hervor, da aus einer äußerst vollkommenen Ursache nichts hervorgehen kann als eine äußerst vollkommene Wirkung. Und jenes, welches äußerst vollkommen ist, kann nicht mehr als eines sein; denn wenn es zwei oder mehrere wären, wäre es notwendig, daß eine von ihnen entweder mehr oder weniger vollkommen wäre als die andere. Andernfalls wäre die eine dieselbe wie die andere, und somit wären sie nicht zwei oder mehrere, sondern eine. Jene also, die weniger vollkommen sein wird als die andere, wird nicht äußerst vollkommen sein. Ebenso wenn Gott unmittelbar mehr als dieses äußerst vollkommene Geschöpf hervorgebracht hätte, dann wäre es nicht äußerst vollkommen gewesen, weil es weniger vollkommen gewesen wäre als jenes. (. . .) Diese äußerst vollkommene Ursache, die in direkter Weise von dem höchsten Gott hervorgeht, nennen Plato und die alten Theologen Zoroaster, Hermes Trismegistos, Pythagoras und die anderen Geist, Weisheit, ideale und intelligible Welt, Sohn Gottes, (göttliche) Vernunft und göttliches Wort.
Während Pico della Mirandola aber den Leser noch davor warnt, diesen platonischen Sohn Gottes mit dem christlichen gleichzusetzen, der ja schließlich selbst Schöpfer und kein Geschöpf sei,26 hat Herrera die 25
Puerta del cielo IV, 2, Edition Krabbenhoft, S. 162 f.: „siguiendo la opinio´n de Plotino, Porfirio y comunmente de los a´rabes, en especial de Avicena, el sumo Dios produxo una criatura de naturaleza intelectual e incorpo´rea tan perfecta como es posible que sea cosa criada y por esta razo´n dema´s della no produxo inmediatamente ninguna cosa porque de una cauza perfectı´sima no puede ser sino uno porque si fueran dos o ma´s serı´a fuerc¸a que el uno dellos fuese ma´s o menos perfecto que el otro porque de otra manera serı´a el uno lo mismo que el otro y ası´ no serı´an dos o ma´s sino uno, mas siendo el uno menos perfecto que el otro es cierto que no es perfectı´simo con que si Dios huviese produzido inmediatamente ma´s que esta perfectı´sima criatura no serı´a perfectı´sima pues serı´a menos perfecta que ella (. . .) este perfectı´simo efecto que inmediatamente procede del sumo Dios es llamado de Plato´n y de los antiguos teo´logos Zoroastro, Mercuruio Trismegsisto, Pita´goras y los dema´s mente, sabidurı´a, mundo ideal e inteligible, hijo de Dios, razo´n y verbo divino.“ (fol. 37 verso). 26 „Und jeder sei eindringlich ermahnt, nicht zu denken, dass dieses [sc. die göttliche Vernunft bzw. das Wort (GN)] dasjenige sei, welches von unseren Theologen Sohn Gottes genannt wird, da wir unter dem Sohn ein dem Vater selbiges und ihm in jeder
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genannten Autoritäten gerade dazu aufgeboten, die Übereinstimmung zwischen der religiösen und philosophischen Wahrheit nachzuweisen: Adam Qadmon ist für Herrera identisch mit dem neuplatonischen Intellekt, der aus dem Einen hervorgeht. Von der Unbefangenheit, mit der Herrera nicht nur die italienischen Renaissance-Philosophen zitiert, sondern sich auch auf die hermetische Tradition und die mittelalterliche arabische Philosophie beruft, ist in Isaak Aboabs hebräischer Übersetzung Sha’ar ha-Shamayyim nicht mehr viel zu spüren. Aboab zensierte hauptsächlich durch Auslassungen bzw. Verschweigen der im spanischen Original von Herrera durchaus angegeben Quellen. Die zitierte Stelle beispielsweise wird von Herrera mit aller Hochschätzung von Mirandola eingeleitet, den er den Phönix seiner Zeit nennt,27 danach schließt das aus dem Italienischen übersetzte Zitat mit der Liste der Philosophen an, zu denen er noch Porphyrios hinzufügt. Aboabs Übersetzung bekommt dann in der noch weiteren Entfremdung und Kürzung in Knorr von Rosenroths lateinischer Übertragung auch noch einen falschen Satzanschluß. Von Rosenroth beginnt mit dem Zitat einen neuen Abschnitt und hängt den unkenntlich gewordenen Quellenverweis an den vorigen an: „wie [Pico von] Mirandola sagt, der der Meinung Plotins folgt, mit der auch Aristoteles, Avicenna und andere Philosophen übereinstimmen“.28 Die sehr synkretistisch anmutende Stelle über den Sohn Gottes, die Vernunft und den göttlichen Logos mit der Aufzählung der so genannten „Theologen“ Zoroaster, Hermes Trismegistos und Pythagoras lautet nur noch: „Man muß aber wissen, daß dieses vollkommene Seiende, das unmittelbar von der Ersten Ursache abhängt, nach Plato und den antiken Philosophen Intellekt oder formale und intelligible Welt genannt wird.“29 Auf die von Herrera daran angeschlossenen Erklärungen aus der „Metafisica“ des Kardinals Gasparo Contarini verzichtete Isaak Aboab für seine jüdischen Leser, und damit fehlen sie auch bei Knorr von Rosenroth, der sicher nichts gegen diesen Theologen gehabt hätte, der zwar katholisch war, aber sich als päpstlicher Legat auf dem Regensburger Reichstag von 1541 um die Überwindung der KonfesSache gleiches Wesen verstehen, das schließlich Schöpfer ist und kein Geschöpf“, G. Pico della Mirandola, Kommentar zu einem Lied der Liebe (Philosophische Bibliothek, 533), hrsg. von Th. Bürklin, Hamburg 2001, S. 33. 27 Edition Krabbenhoft, S. 162: „lo que dize el fe´niz de sus tiempos, Ioan Pico de la Mirandola en el Comento que escrivio´ sobra la cancio´n de amor de Gero´nimo Benivieni“. 28 Das Buch wyr hwmiiÕ oder Pforte des Himmels, S. 111. 29 Ebd. S. 112.
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sionsgegensätze bemühte und dabei den Reformatoren soweit entgegen kam, daß er selbst in den Verdacht der Häresie geriet. Die fehlende Genauigkeit bei den philosophischen und theologischen Zitaten – Scholastiker wie Thomas von Aquin werden einfach nur Gojim genannt – kompensierte Isaak Aboab mit wörtlichen Zitaten aus der kabbalistischen Literatur, die von Herrera auf spanisch nur paraphrasiert wurden, dadurch aber besser in den neuplatonischen Kontext paßten. Hier wird die Unterschiedlichkeit zwischen der Intention des Verfasser und der Motivation des Übersetzers besonders greifbar: Herrera schrieb für ehemalige Conversos, die noch fest in der zeitgenössischen Bildung und Kultur des spanischen Siglo de Oro verankert waren, aber, wie er sich ausdrückte, „keine – oder nur oberflächliche und nebulöse – Vorstellungen von der wahren Theologie und hebräischen mystischen Tradition“ hatten, weshalb er es für angebracht halte, etwas von den kabbalistischen Geheimnissen auf philosophische Weise rational und wissenschaftlich zu erklären:30 Porque muchos varones de nuestra nacion . . . no tienen noticia (o muy superficial y sombrosa) de la verdadera theologia y mistica tradition Hebrea, mi parecio conviniente an˜adir ala exposicion cabalistica . . . otra philosophica que manifieste en modo racional y scientifico alguna parte de sus soberanos misterios.
Die Frage, warum Herrera seine beiden mystischen Werke auf Spanisch nicht drucken ließ, ist nicht eindeutig zu beantworten. Daß er angesichts der offenbar großen Nachfrage etwa Bedenken hatte, daß er die kabbalistischen Geheimnisse damit auch Nichtjuden zugänglich machte, halte ich für unwahrscheinlich. Es ist zwar richtig, daß in Italien im 16. Jahrhundert wegen der Drucklegung des Buches Sohar unter den jüdischen Gelehrten ein erbitterter Streit entbrannt war und noch im 17. Jahrhundert die Veröffentlichung von Naftali Bacharachs Emeq ha-Melech, das ebenfalls einen starken Einfluß von Israel Saruqs Interpretation der lurianischen Kabbala aufweist, eine ähnliche Erbitterung hervorrief.31 Aber Herrera sah der Publikation seiner beiden Werke optimistisch entgegen, wie er selbst schreibt: „he compuesto dos tratados . . . La Puerta del Cielo y el otro la Casa de la divinidad que 30 Casa de la divinidad, Bd. 6, S. 216, zitiert bei Yosha, Myth and Metaphor, S. 43, Anm. 83. 31 Zur Kontroverse über die Veröffentlichung des Sohar vgl. I. Tishby, „Die Polemik gegen das Buch Sohar im 16. Jahrhundert in Italien“ (hebr.), in: Perakim 1 (1967/68), S. 131–182.
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presto saldran en luz“32. Die hebräische Sprache allein war schließlich schon lange kein Schutz mehr vor christlicher Neugier und man kann es als Ironie der Geschichte bezeichnen, daß gerade die hebräische Rückübersetzung Isaak Aboabs als Vorlage für die lateinische Übertragung Knorr von Rosenroths diente und Herreras neuplatonische Interpretation der lurianischen Kabbala in der christlichen Welt als jüdische Philosophie bekannt machte. Der Widerspruch, der etwa gegen das 1648 veröffentlichte Emeq ha-Melech erhoben wurde, zeigt deutlich, daß solche Streitigkeiten innerhalb unterschiedlicher kabbalistischer Richtungen ausgetragen wurden:33 Jetzt aber sind anmaßende Männer aufgetreten, die die Krone der himmlischen Weisheit mißbrauchen und sie in ein Werkzeug verwandeln, mit dem sie sich selber nähren. Sie schreiben Bücher über kabbalistische Themen, erhalten die Druckerlaubnis, und dann bieten sie sie feil, um sie zu verteilen . . . Vor groß und klein enthüllen sie verborgene, geheime Dinge und vermischen sogar Erfindungen ihres Herzens mit (authentischen) kabbalistischen Lehren, bis es unmöglich wird, zwischen den Worten der kabbalistischen Meister und ihren eigenen Zutaten zu entscheiden.
Im Gegensatz zu dieser innerjüdischen Polemik eines Kabbalisten hatte Abraham Herrera ein apologetisches Interesse: Er war davon überzeugt, daß die scholastischen Theologen durchaus über jene Wahrheiten geschrieben hätten, „que divinamente nos fueron reveladas“.34 Und die Übereinstimmung zwischen der göttlichen Offenbarung und lateinischer Theologie ließ sich nach Herrera seinen Landsleuten, „a´ los de mi nacion Espan˜ola“,35 eben am besten auf spanisch erklären. Von einem Universalismus dieser Art wollte jedoch sein Schüler Isaak Aboab nichts wissen. Dessen Tendenz, nichtjüdische Gelehrte nicht zu nennen oder ihre Zitate wegzulassen hinterließ auch noch in der lateinischen Übersetzung den Eindruck, daß die „Himmelspforte“ größtenteils aus der jüdischen Tradition schöpfe, wenn es etwa bei von Rosenroth nach der für Aboab typischen Verkürzung heißt:36 32 A. Cohen Herrera, Epitome y compendio de la logica o dialectica (Instrumenta Rationis IX), hrsg. von G. Saccaro del Buffa, Bologna 2002, S. 12 der Faksimile-Edition. Herreras Traktat über die Logik erschien in einem Band – zusammen mit seinem Libro de diffiniciones – ohne Orts- und Jahresangabe während seiner Zeit in Amsterdam, also zwischen 1620 und 1635. 33 Einleitung zu Sera’ Berach, Teil II, Amsterdam 1662, zitiert nach G. Scholem, Sabbatai Zwi. Der mystische Messias, Frankfurt a. M. 1992, S. 103 f. 34 Herrera, Epitome y compendio de la logica o dialectica, S. 12. 35 Ebd. 36 Das Buch wyr hwmiiÕ oder Pforte des Himmels, S. 108. Im spanischen Original gehen folgende Namen den jüdischen Gelehrten voraus: „Zoroastro, Mercurio Trinsme-
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Dies wollen wir nun bekräftigen durch die Autorität der Philosophen, der sehr scharfsinnigen Weisen, deren Namen ich aber nicht über meine Lippen bringen will, erwähnen will ich nur Philosophen der Unsrigen, wie R. Moses Maimon, den Weisen R. Joseph Albo und R. Jehuda Abravanel.
Es mag sein, daß sich die Abgrenzung gerade kabbalistischer Kreise gegenüber der christlichen Welt nach Herreras Tod noch verstärkte. Das Argument, daß die göttliche Wahrheit nur Bestandteil der jüdischen Tradition sei, die mündlich von Lehrer auf Schüler folge, wird von Isaak Aboab auch in seinem Streit mit Shaul Mortera über die Frage nach der Ewigkeit der Höllenstrafe angewandt: Seine Auffassung, bei der er sich auf die Seelenwanderungslehre berief, habe er von seinem Lehrer, ha-mequbal ha-elohi Abraham Herrera empfangen, der sie von seinem Lehrer und dieser wiederum von dessen Lehrer Isaak Luria empfangen habe.37 Ein anderes Argument formuliert Menasse ben Israel, der zweite berühmte Schüler von Herrera. Er gibt in seinem Conciliador am Ende einer langen Erklärungen zu Exodus 3,14 seiner Sorge Ausdruck, daß es jemand tadelnswert finden könne, wenn er noch mehr und noch größere Geheimnisse über die göttlichen Namen auf spanisch niederschreiben würde, was außerdem schon sein Lehrer Herrera – den er in einer durchaus beabsichtigten Steigerung Philosoph, Theologe und Kabbalist nennt – in seinem sehr gelehrtem Buch Puerta del Cielo getan hätte.38
IV Die innerjüdische Wirkungsgeschichte von Isaak Aboabs hebräischer Übersetzung war vergleichsweise gering.39 Sie kann sich jedenfalls kaum mit dem Aufsehen messen, das die lateinische Übertragung Porta Coelorum in Christian Knorr von Rosenroths Kabbala denudata in der christlichen Welt erregte. Die Rezeption von Herrera durch christliche Kabbalistenkreise sollte eine zeitlang auch die Auseinandersetzung mit
gisto [sic], Orfeo, Aglaofemo, Pita´goras, Archita, Plato´n, Speusipo, Numenio, Amonio, Plotino, Amelio, Porfirio, Ya´mblico y Pleto´n . . . Avicena, Algazel, el autor del libro de las cauzas“ (Edition Krabbenhoft S. 160). 37 Vgl. Yosha, Myth and Metaphor, S. 39. 38 Ebd. S. 38 f. 39 Einer der wenigen Kabbalisten, die sich auch mit Herreras philosophischem Zugang auseinandersetzten, war Moshe Hayyim Luzatto, vgl. Yosha Myth and Metaphor, S. 357 f.
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dem Judentum bestimmen, die als sogenannter Pantheismusstreit in die Philosophiegeschichte einging. Als im Jahre 1706 der Elucidarius cabbalisticus des schwäbischen Theologen und Sprachwissenschaftlers Johann Georg Wachter in Halle erschien, war der Pantheismusstreit über die Philosophie Spinozas bereits in vollem Gange.40 Provoziert hatte ihn freilich Wachter selbst mit seinem 1699 in Amsterdam veröffentlichten Buch Der Spinozismus im Jüdenthumb, oder die von dem heutigen Jüdenthumb und dessen Geheimen Kabbala Vergötterte Welt, an Mose Germano sonsten Johann Peter Speeth, von Augspurg gebürtig, befunden und wiederleget. In dieser Streitschrift unternahm Wachter bekanntlich eine Gleichsetzung der Philosophie Spinozas mit der Kabbala und deutete beide als Pantheismus, der letztlich auf einer atheistischen Weltanschauung beruhe. Seine Kenntnisse über die Kabbala bezog Wachter hauptsächlich aus Knorr von Rosenroths Kabbala denudata und seine pantheistische Gleichsetzung betraf Herreras Interpretation der lurianischen Kabbala. Es ist viel darüber gerätselt worden, ob Wachters Vorwurf einen wahren Kern und Spinoza Herreras „Himmelspforte“ gekannt hätte. Gershom Scholem äußerte sich nur vorsichtig zu dieser Möglichkeit und führte die Hinweise auf das, „was einige Hebräer gleichsam durch einen Nebel gesehen haben“, wie Spinoza im zweiten Buch der Ethik schreibt, auf andere Quellen zurück.41 Johann Georg Wachter hielt an seinem kabbalistischen Verständnis von Spinozas Philosophie jedenfalls auch in seiner bereits 1702 entstandenen Apologie Spinozas fest, die er erst einige Jahre später, nachdem er endlich einen Verleger gefunden hatte, in dem sehr kritisch aufgenommenen Elucidarius Cabbalisticus publizierte. Auf die Rehabilitierung Spinozas hatte sich Wachter erst nach Einwänden gegen seine Gleichsetzung von Kabbala mit Pantheismus, wie sie beispielsweise von Johann Franz Budde formuliert wurden,42 eingelassen, worunter dann natürlich seine Glaubwürdigkeit zu leiden hatte. Die neue apologetische
40 Die Drucklegung des Elucidarius cabbalisticus bereitete offenbar Schwierigkeiten. Das Buch enthält nur die fiktive Druckangabe „Romae“. E. Weller, Die falschen und fingierten Druckorte, Bd. 1, Leipzig 1864, S. 288 vermutet Halle. Anders W. Schröder, der Berlin für wahrscheinlicher hält, vgl. J. G. Wachter, De primordiis Christianae religionis. Elucidarius cabbalisticus. Origines juris naturalis. Dokumente (Freidenker der europäischen Aufklärung, Abteilung I, Texte, Bd. 2), hrsg. von W. Schröder, Stuttgart–Bad Cannstatt 1995, S. 42. 41 Das Buch wyr hwmiiÕ oder Pforte des Himmels, S. 43. 42 J. F. Budde, Observationes Selectae ad Rem Literariam Spectantes, Bd. 1, Halle 1725, S. 198–202.
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Zielsetzung von Wachter unterstellte Spinozas Metaphysik eine kabbalistische Christologie, in der Adam Qadmon mit Christus, dem göttlichen Logos, gleichgesetzt wird, der durch eine emanatio a Deo entstanden und eine zwischen Gott und den Kreaturen vermittelnde Instanz sei, die als „erstgeborener Sohn“, primogenitus Dei, von dem filius unigenitus, dem Gott gleichwesentlichen Sohn unterschieden werden müsse.43 Diese Annahme eines doppelten Logos hätte Spinoza, so Wachter, in seiner Lehre von den zwei Intellekten übernommen. Das Denken als Attribut der Substanz entspräche dem inneren Logos, der unendliche Verstand als Modus dem äußeren.44 Wachter ist nach Winfried Schröders Auffassung aber noch einen Schritt weiter gegangen. Wenn Wachter tatsächlich der Redaktor des in der Berliner Staatsbibliothek liegenden Manuskripts einer erweiterten Fassung des anonymen Symbolum sapientiae ist, das eines der frühen Zeugnisse radikaler Religionskritik darstellt,45 dann wäre Wachter über den Umweg von Herreras Kabbala schließlich selbst dort angekommen, wo er Spinoza ursprünglich vermutet hatte: bei einem philosophisch ausformulierten Atheismus. Mit Sicherheit wäre der „entlaufene Theologe“, wie ihn Schröder nennt,46 nicht auf diese Abwege gekommen, wenn er ein wenig von Scholems Vorsicht in bezug auf Spinozas Hinweise auf die „nebulöse Schau einiger Hebräer“ hätte walten lassen, oder bei der Lektüre von Herreras Schriften das beherzigt hätte, was Scholem seinem Freund Ernst Simon als Widmungsvers in dessen Sohar-Exemplar schrieb: „Und ob auch viel Nebel in ihm ist / so vielleicht doch auch ,Nebel der Reinheit‘“.47
Anhang Johann Jakob Brucker, Schüler von Johann Franz Budde, verfaßte die erste deutsche philosophiegeschichtliche Darstellung der lurianischen Kabbala nach Knorr von Rosenroths Übersetzungen Porta coelorum und Domus dei.48 Im Vorwort des vierten Bandes seines Kompendiums 43
Vgl. Schröder, De primordiis, S. 21 f. Vgl. W. Schröder, Spinoza in der deutschen Frühaufklärung, Königshausen 1997, S. 97 f. 45 Vgl. Schröder, De primordiis, S. 10–12. 46 Ebd. S. 12. 47 E. Simon, Entscheidung zum Judentum, Frankfurt a. M. 1980, S. 167. 48 Zu Bruckers lateinischem Werk vgl. G. Saccaro Battisti, „Metafisica e Cabbala di Abraham Cohen Herrera nella Historia critica philosophiae die Jacob Brucker“, Atti del 44
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Kurtze Fragen aus der Philosophischen Historie, von der Geburt Christi bis auf unsere Zeiten, mit ausführlichen Anmerkungen erläutert49 schreibt er: Dann ausser der Introductione in Historiam Philosophiae Ebraeorum, welche der seel. Herr D. Joan. Franciscus Buddeus zu Halle 1702 herausgegeben, und 1720 mit einigen Anmerckungen, Verbesserungen und Zusätzen wieder auflegen lassen, haben wir nichts ausführliches, oder doch eigentlich hierher gehöriges, das der Historie der Philosophie unter den Jueden ein helles Licht anzünden könnte.50
Brucker war nach eigener Aussage durchaus bemüht, die kabbalistische Literatur vorurteilsfrei zu bewerten: Indessen da die cabbalistische Lehren der Juden in der That mehr eine Pneumatica oder Metaphysica Philosophica als eine Theologia sind, so habe ich auch Ursache gefunden, mich dabey weitläufftiger aufzuhalten, alles aus dem Grund zu untersuchen, die Cabbalistische Grund- und Lehrsätze in eine Systematische Verfassung, so gut es sich thun lassen, zu setzen, und, worauf es am meisten zu derselbigen Entdeckung zukommt, ihren Ursprung und Verwandschafft mit dem Systemate PythagoricoPlatonico recentiori offenbar zu machen, weil dieses der einige Weg war, von den vielen Vorurtheilen, womit die meiste von der Jüdischen Cabbala eingenommen sind, sich loszuwickeln; welches auch, so viel es sich in dieser ungemein schweren und räthselhafften Materie thun lassen, mit aller möglichen Deutlichkeit geschehen ist.51
Brucker hatte aber ganz offensichtlich keinen Zugang zu den hebräischen Quellen; ähnlich wie Herrera versuchte er kabbalistische Lehren in ein einheitliches System zu bringen, was ihm um so weniger Schwierigkeiten bereitete, als er seine Darstellung allein auf von Rosenroths Kabbala denudata als „Haupt-Monumentum“52 stützte. Nachdem er die „unauflößliche Dunckelheit“ und die „Unordnung“ im kabbalistischen Schrifttum beklagt hat,53 kommt er auf seine Hauptquelle zu sprechen:
convegno dell’Associazone Italiana per lo studio del Giudaismo, Idice, 4–5 november 1981. Testi e Studi, Carruci, Rom 1983, S. 131–158. 49 Sieben Bände, Ulm 1731 bis 1736. 50 Ebd., Vorwort (ohne Paginierung) zu Bd. 4 (Ulm 1733), S. 2. 51 Ebd., S. 9 f. 52 Ebd. S. 638. 53 Ebd. S. 774; ähnliches Unverständnis bringt Brucker der öfter beklagten „Grillenhaftigkeit“ und den „Träumereien“ entgegen, mit denen Juden ältere Traditionen ausgeschmückt und unkenntlich gemacht hätten.
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Indessen da doch einige neuere Cabbalisten, und sonderlich der R. ISAAC LORIA, und der R. Abraham Cohen Irira, einen etwas deutlichern und besser an einander hangenden Entwurff uns hinterlassen, den man mit gutem Grund nicht als fremde und den Cabbalisten unterschoben halten kan, selbiger auch mit den Quellen, aus welchen oben erwiesener massen die Cabbalistische Metaphysica geflossen ist, gar wohl harmoniret, so wollen wir, so gut es sich thun läßt, dieses Systema nach deren Anleitung entwerffen, welches sodann durch die besondere daraus fliessende Lehren ein grösseres Licht und Erläuterung bekommen wird.54
Der „Nutzen“ der Kabbala lag für Brucker einzig in einer möglichst vollständigen Beschreibung der Philosophiegeschichte, wobei es für ihn keinen Zweifel bei der Einordnung gab: „Die Philosophia Pythagorico-Platonica in Egypten (ist) die Mutter und folglich auch der Schlüssel zu der Cabbala“.55 Bruckers ausführliche Beschreibung kabbalistischer Zusammenhänge56, ihre Einbettung in die erste deutsche Philosophiegeschichte sowie ihre Rezeption sind bisher kaum untersucht worden. Im folgenden werden Bruckers Zusammenstellung „kabbalistischer Lehrsätze“ über En-Soph, Adam Qadmon und die Sephirot sowie drei Abbildungen zu diesen Themen wiedergegeben. Bd. 4, I. Buch, Kapitel 3, Vierter Abschnitt, V (S. 775–778) I. II. III. IV. V. VI. VII.
54
Aus nichts wird nichts, oder nicht etwas. Daher kan keine Substanz aus nichts erschaffen seyn. Folglich ist auch die Materie nicht aus nichts, sondern sie muss aus etwas anders seyn. Weil aber die Materie wegen ihrer geringen Natur den Ursprung nicht von sich selbst haben kan, so folget, Daß gar keine Materie in der ganzen Natur ist. Demnach ist alles, was da ist, ein Geist. Dieser Geist ist unerschaffen, ewig, verständig, empfindlich, lebendig, selbstbewegend, seiner Weite nach unendlich, und hat den Ursprung von sich selbst.
Ebd. S. 774 f. Ebd. S. 741. 56 Ebd. Buch I, Kapitel 3 (zweyte Abtheilung), Vierter Abschnitt: Von der Cabbalistischen Philosophie der Juden (S. 622–955). 55
128 VIII. IX. X.
XI.
XII.
XIII. XIV.
XV.
XVI.
XVII.
XVIII.
gerold necker Dieser Geist ist der unendliche GOtt. Demnach muß alles aus diesem unendlichen Geiste kommen und fließen. Hieraus folget ferner, daß alles, was da ist, in diesem unendlichen geistlichen Wesen bestehet, und aus Ihm sein Wesen, Ausgang und Ausfluß hat. Es ist also die Welt ein Effectus immanens Dei, in welcher das unendliche Göttliche Wesen seine Eigenschafften auf mancherley Weise modificiret hat. Je näher ein Ausfluß dieser unendlichen Gottheit bey der ersten Urquelle alles Wesens ist, je grösser und Göttlicher ist auch sein Wesen. Und hingegen Je weiter ein Ausfluß von der ersten Urquelle entfernet ist, je mehr nimmt er an der Göttlichen Krafft ab. Diese Ausflüsse nun aus der unermesslichen Quelle des unendlichen Lichtes, und die Modificationes der Göttlichen Eigenschafften und Kräfften in den Stand zu stellen, hat diese unendliche Quelle eine erste Urquelle aus sich hervor fliessen lassen, durch welche sodann die Ausflüsse geschehen. Und das ist Adam Kadmon, der erste oder erstgebohrne Mensch. Dieser erstgebohrne GOttes hat sich in seinen Ausflüssen auf zehnerley Art geäussert, und so viele Licht-Quellen aus sich hervor gebracht, und diese heissen Sephiroth. Durch diese Sephiroth oder Geister- und Licht-Quellen sind von dem ersten Menschen die himmlische, geistliche, lufftige und irdische Dinge heraus gebracht worden, und daher entstehen vier Welten, der Mundus Aziluth, Briah, Jezirah und Asiah, oder Emanationis, Creationis, Formationis und Fabricationis. Hieraus folgt abermals, daß alles, was da ist, weder aus sich selbst noch aus nichts entstanden, sondern aus GOtt, vermittelst der ersten Urquelle, aus dem unendlichen Meer der Gottheit, dem Erstgebohrnen, das ist, dem Sohn GOttes, dem ersten Menschen, geflossen. Es ist also auch die Welt zwar von GOtt, als der Effect von seiner Ursache, in so weit unterschieden, ist aber doch, ihres Ausflusses wegen aus GOtt, der geoffenbarte GOtt, oder die Auswicklung des verborgenen unendlichen GOttes, der darinnen als in seinem Reich sich sichtbar und offenbar macht.
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Abbildung 1
Bd. 4, I. Buch, Kapitel 3, Vierter Abschnitt, VII (S. 801–804) I. II.
III. IV.
V.
VI.
Im Anfang war ein unendliches Licht, welches alles in allem erfüllete. Daher war kein Raum und nichts leeres, sondern weil dieses Licht unendlich weit sich erstreckte, so war es sich überall auf eine vollkommene Art gleich. Und dieses Licht heißt bey den Cabbalisten Or Häensoph, Lux Infiniti. Wegen des grossen Schimmers dieses alles erfüllenden Lichtes konnte keine Welt entstehen. Als nun dieses Licht die Welten schaffen, und durch einen Ausfluß hervorbringen wolte, um die Vollkommenheit seiner thätigen Kräffte, seiner Nahmen und Beynahmen zu offenbaren, so mußte das Infinitum, das ist, das unendliche Licht die Strahlen seiner Gegenwart in etwas an sich ziehen, und in seiner Mitte einen leeren und finstern Raum machen, daß darinnen die Welten entstehen könnten. Dieses Raummachen geschahe demnach also, daß sich die Strahlen des unendlichen Lichtes von dem Mittel-Punct nach den Seiten zurücke zogen. Es war also das Göttliche Licht über dem Raum, und umgab denselbigen, der sich in der Mitte desselbigen befand, doch mit Zurückhaltung seiner Strahlen.
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VII.
Weil aber nur die Licht-Strahlen zurückgezogen waren, so war doch noch Göttliches Wesen in dem finstern Raum.
VIII.
Und so war nun für etwas gesorget, in welchem die Welten existiren konnten. Dieses etwas war ein Lichtloses Göttliches Wesen, das also eine geistliche Substanz und Expansion war. In diesen finstern Raum hat das unendliche Licht, als es zurücke gewichen, Fußstaffen von ihm eingedrücket, welche die Gefässe der Kreyse der zukünfftigen Welten seyn solten. Diese Gefässe waren dazu geordnet, daß das Licht und die Krafft des Unendlichen von oben aus dem Concavo darein fallen solte. Weil aber, wann das unendliche Licht von allen Seiten des Concavi in diese Gefässe gefallen wäre, alles wiederum auf einmahl mit dem unendlichen Licht erfüllet, und dadurch aller Unterschied zwischen dem endlichen und unendlichen aufgehoben, auch alles wiederum das unendliche Licht oder Ensoph worden wäre, so hat dieses unendliche Licht sich einer Linie als eines Canals gebraucht, um diese Gefässe mit einem gewissen Maaß des Lichtes zu erfüllen. Diese Linie vertrat also die Stelle eines Canals, durch welche die Ströme des obersten und unendlichen Lichtes in die hervorzubringende Welten innerhalb dieses Raums abfliessen möchten.
IX. X.
XI.
XII.
XIII.
XIV. Aus diesem Canal sind die zehen Sephiroth oder Licht- und Geister-Quellen zur Seite ausgeflossen. XV.
Diese Ausflüsse aus diesem Canal sind lauter Kreyse, welche von einerley Mittel-Punct ausgehen, und einer den andern fasset, wie die Zwiebel-Häutlein.
XVI. Diese vorgedachte Linie aber erstrecket sich von dem höchsten Gipffel des allerobersten Lichtes abwerts, und gehet gerade durch alle Kreyse von dem Mund oder Oeffnung de Concavi bis zu dem untersten. XVII. Dieser Strahl des unendlichen abfallenden oder sich ausgiessenden Lichtes, oder diese Licht-Linie und Urquelle, wird vorgestellt unter der Figur eines aufgerichteten Menschen in seiner gehörigen Statur, mit aufgehobenem und gen Himmel gewen-
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detem Angesicht, an welchem man zwey hundert und acht und vierzig Glieder zur Rechten, Lincken, und in der Mitte zählen kan. XVIII. In dieser Figur sind alle Sephiroth oder Licht-Quellen begriffen. XIX. Diese Figur heißt Adam Kadmon, der erste Mensch, welchen GOtt vor allen andern zu seinem Bilde aus sich gemacht, und ist demnach der Erstgeborne vor allen Creaturen. Man ersiehet aus dieser Genealogie dieses ersten Menschen, daß dieser Adam Kadmon das erste und einige principiatum oder aus GOtt geflossene Wesen seye, welches, als ein Strahl des Göttlichen Wesens, die Lichter, Geister-Quellen und Personen (in Cabbalistischem Verstand) der unendlichen, ausfliessenden, geschaffenen, gebildeten und gemachten Welt aus sich hervor gequollen hat.
Abbildung 2
Bd. 4, I. Buch, Kapitel 3, Vierter Abschnitt, VIII (S. 820–824) I.
Die Sephiroth sind solche mitlere Wesen, welche die erste Ursache, den in sich selbst verborgenen GOtt, vorstellen, weil sie von Ihm ausgeflossen sind, und Krafft dieses Ausflusses alles hervor bringen und regieren.
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II.
Diese Sephiroth sind demnach nicht von sich selbst, sondern von dem allerersten, einfachesten Wesen hervor gebracht, um dessen unendliche Gütigkeit zu offenbaren.
III.
Sie sind also von dem unendlichen GOtt unterschieden; dann sie sind endlich, Er aber unendlich.
IV.
Dessen aber ungeachtet sind sie keine Creaturen, sondern Bilder und Strahlen des Unendlichen, welche durch mancherley Stuffen von der obersten Urquelle also abstammen, daß sie doch von ihr nicht abgesondert werden, sondern sich dieselbige in ihnen und durch sie zur Schöpfung und Regierung erstrecket.
V.
Diese Göttliche Licht-Quellen oder Strahlen liegen in dem ersten Ausfluß aus GOtt, dem ersten Menschen, der sie belebet, beweget, erleuchtet, und durch sie in das untere würcket.
VI.
Es würcken also die Sephiroth in der Krafft ihrer ersten Ursache, und sind die von derselbigen aus sich hervor gebrachte Werckzeuge, nicht nur ihrem Wesen und Vermögen, sondern auch ihrer Würckung nach.
VII.
Aus diesem fliesset ferner, daß man die Sephiras in gewissem Verstand zu der ersten Ursache rechnen, und auch davon unterscheiden könne; jenes, weil ihr Ausfluß so beschaffen ist, daß sie nicht von derselbigen abgesondert sind; dieses, weil sie für sich bestehen, und auf alles untere und von ihnen abgesonderte sich erstrecken, welche daher sind, was sie sind, (perfecta & formalia).
VIII.
Es sind demnach alle diese Sephiroth die determinirte (das ist, modificirte) Gottheit, und verhalten sich gegen die übrige Entia, wie der Mittelpunkt zu seiner Circumferenz.
IX.
Alle diese Licht-Quellen sind in dem ersten Menschen enthalten, nicht nur in so ferne sie zu den zwey Göttlichen Welten, sondern auch in so ferne sie zu den drey untern Welten gehören.
X.
Nach dem die Art der Welt ist, in welche die Sephiroth fliessen, nach dem ist auch die Art ihres Ausflusses.
XI.
Wann der Erste Mensch seine Strahlen in eine jede Welt ausläßt, so machen sie zehen solche Licht-Quellen.
XII.
Dieselbige aber sind mehr oder weniger licht, nach dem ihre Analogie beschaffen.
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XIII. Diese Lichtquellen sind einander subordiniert. XIV. Die Ursache, warum GOtt diese Licht-Quellen ausfliessen lassen, ist, damit Er die Gütigkeit seiner Eigenschafften zeigen möchte. XV. Es sind also diese Sephirae Spiegel der Göttlichen Wahrheit, ein Bild und Gleichförmigkeit seines allerhöchsten Wesens, eine Vorstellung seiner Weißheit und Willens, ein Aufenthalt seiner Allmacht, ein Werckzeug seiner Würckung, eine Schatzkammer seiner Glückseligkeit, Austheilerinnen seiner Gnade, Richter seines Reichs, u. s. w. XVI. In Ansehung der Dinge sind sie die Causae secundae, die Ide´en, Strahlen, Gestalten, Seelen, Vermögen, Leben und Bewegung der Dinge, welche hervor gebracht werden, der uncörperliche Ort, die Ordnung der Zeit, himmlische Einheiten, in welchem das Viele begriffen ist, und aus welchen die Vollkommenheiten von dem alle Vollkommenheit im höchsten Grad in sich begreiffenden Wesen hergeleitet werden. XVII. So viele Ausstrahlungen der erste Mensch von sich gibt, so vielerley zehen Sephiroth entstehen davon, welche sechserley Unterschied haben, zur rechten, lincken, vornen, hinten, oben und unten. XVIII. Alle Sephirae haben ein doppeltes Licht, ein inwendiges umgebenes, und ein auswendiges umgebendes. XIX. So hat auch jede Licht-Quelle ihre Gefässe, in welche ihre Strahlen fallen oder aufgefangen werden können, welche Gefässe aus der Zurückziehung der Strahlen des Lichts entstehen. XX. Es geschiehet also diese Ausfliessung theils durch Linien, theils durch Circul. XXI. Nachdem diese Ausstrahlung aus einem Glied des ersten Menschen geschiehet, nach dem ist sie auch zu betrachten. XXII. Auf dem Einfluß dieser Sephirarum in einander durch die Würckung des Nominis Tetragrammati ist die Erfüllung der Gefässe zur Hervorbringung der Welten geschehen.
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Abbildung 3
DIE GEBURT DER JUDAISTIK AUS DEM GEIST DER CHRISTLICHEN KABBALA Saverio Campanini Heute, wo es kaum Juden mehr in Deutschland gibt, wollen alle deutschen Universitäten ein Ordinariat für Judaistik gründen. [. . .] Es ist schon so, wie Heinrich Heine schrieb: Gäbe es nur einen Juden auf der Welt, würde alle Welt hinlaufen, ihn zu sehen. Nun, wo es zu viele gäbe, wolle man möglichst nicht hinsehen. Gershom Scholem
Die „letzten Fragen“ nach dem Sinn und der Aufgabe der Judaistik werden nur selten gestellt1. Welche Geschichte, welche bleibende Bestimmung hat die Judaistik, wo liegt ihre akademische Zukunft? Zuerst scheint es mir angebracht, eine Prämisse vorauszuschicken, ohne die die Überlegungen dieses Beitrags unverständlich wären: Wenn ich von „Judaistik“ rede, verstehe ich darunter hauptsächlich eine christliche Wissenseinteilung. Nicht, weil ich ein Monstrum wie eine konfessionelle Wissenschaft für denkbar halten würde, sondern weil es falsch wäre, die stark religiös und theologisch geprägte Herkunft der Judaistik zu verkennen. Gegen diese These ließe sich einwenden, die Judaistik berufe sich auf die Erfahrung der Wissenschaft des Judentums, oder besser, auf die Wissenschaft vom Judentum als Bruch mit der jahrhundertealten und von Polemik geprägten christlichen Hebraistik. Diese Rekonstruktion wäre natürlich sehr schön und sogar wünschenswert (es handelt sich dabei um Wunschdenken), aber sie ist meines Erachtens schlicht und einfach unmöglich.
1 Siehe M. Brenner u. St. Rohrbacher (Hrsg.), Wissenschaft vom Judentum. Annäherungen nach dem Holocaust, Göttingen 2000.
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Ich werde versuchen, diesen wichtigen Punkt zu klären. Im 19. Jahrhundert wollte die positivistisch orientierte Wissenschaft des Judentums die Emanzipation der Juden bekanntlich mit den Mitteln der Wissenschaft vorantreiben. Eine wichtige, für uns heute kaum nachvollziehbare Prämisse, war dabei der feste Glaube an die Möglichkeit einer wertfreien Forschung und Historiographie des Judentums. Die dahinterstehenden apologetischen Motive wurden spätestens dann sichtbar, als das assimilatorische Programm der Hauptvertreter der Wissenschaft des Judentums bloßgestellt wurde. Im Nachhinein, nach der Tragödie und den Zerstörungen, die das Judentum im 20. Jahrhundert dramatisch getroffen haben, scheint die vor allem von zionistischer Seite geübte Kritik gegen die Wissenschaft des Judentums als Agent der Assimilation um so berechtigter. Das gegenwärtige wissenschaftliche Klima kann selbst in Israel als post-zionistisch bezeichnet werden. Als Reaktion auf die assimilatorischen Neigungen der „ersten“ Wissenschaft des Judentums wurde deren Ideologie zunächst durch eine gleichermaßen ideologische, aber aktuellere Programmatik der vorzüglich im Lande Israel möglichen Rückbesinnung auf das Judentum als Alternative zur Assimilation ersetzt. Inzwischen hat auch diese Ideologie all ihre apologetischen Züge offenbart. Eine neue Ideologie, die ihren Platz früher oder später bestimmt einnehmen wird, ist noch nicht in Sicht. Heute scheint festzustehen – bis die nächste Generation auch das als pure Ideologie entlarven wird –, daß die Judaistik nur eine Konstruktion des Judentums entwirft. Ihre Arbeit besteht nicht darin, ein möglichst detailgetreues Abbild eines Objektes zu liefern (besonders weil dieses nie existiert hat), sondern in einem Prozeß der Selektion (entsetzliches aber unersetzliches Wort) und der Vermittlung ausgewählter Inhalte aus der Galaxie des selbst- und von außen definierten Judentums. Diese Vermittlung ist mit der Praxis der Übersetzung vergleichbar: Logischerweise kann der Übersetzer nur das wiedergeben, was er vom Originaltext verstanden hat und was sich in der Zielsprache sagen läßt. Es ist nicht meine Absicht, die Grundlage für eine neue Illusion zu liefern. Mir geht es zunächst um die Erkenntnis, daß es 1.) keine a-ideologische Wissenschaft des Judentums geben kann und daß wir dennoch 2.) aus Angst vor einem möglichen Scheitern nicht unbedingt anderes als Judaistik betreiben müssen. Eher als eine „neutrale“, den Methoden der Naturwissenschaften nachgebildete Forschung scheint mir eine spezifisch geisteswissenschaftlich orientierte Disziplin wün-
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schenswert, die keine Angst vor der eigenen Herkunft hat und in der Lage ist, wertvolle Beiträge zum Augmentum Scientiarum zu leisten, ohne die eigene Geschichte und die sich daraus ergebende Bestimmung zu verkennen. Die Debatte innerhalb der Wissenschaft des Judentums und die zionistisch inspirierte Aufhebung der Ideale der Zunz-Steinschneider Schule, die mit polemischer Verve vor allem durch Gershom Scholem2 geführt wurde, haben gezeigt, inwiefern selbst die „neutrale“ Wissenschaft in den Augen der nächsten Generation unter den Begriff eines verfrühten Begräbnisses des Judentums subsumiert werden konnte. Man könnte mit anderen Worten sagen, daß das akademische Studium der Ganzheit des Judentums (das heißt die Judaistik) gerade aufgrund der notwendigen Distanz zu dem eigenen Objekt in seiner idealtypischen Gestalt immer nicht-jüdisch sein muß. Dies bedeutet aber, zumindest in der westlichen Welt, daß sie sich an keine andere Tradition als an die christliche binden kann. Eine vermeintlich neutrale, wertfreie, aufklärerische, post- oder meta-religiöse Wissenschaft ist, wie bereits ausgeführt, nichts anderes als eine fromme Illusion. Persönliche Optionen und Anhänglichkeiten einzelner Wissenschaftler spielen in dieser Dialektik kaum eine Rolle. Das Judentum ist ein besonderes Objekt des Wissens: Die gebotene Neutralität der Wissenschaft zwingt in seinem Fall zu einer, sozusagen, notwendigen Parteilichkeit. Dies ist meiner Meinung nach der Grund, warum Steven Wasserstrom in seinem Religion after Religion behauptet, Gershom Scholem sei selbst ein christlicher (!) Kabbalist gewesen3.
2 Gershom Scholem hat bekanntlich zwei wichtige Aufsätze über dieses Thema geschrieben, die sich voneinander vor allem im Ton sehr unterscheiden, einen auf Hebräisch (vgl. G. Scholem, „Mitok hirhurim ‘al chokmat Israel“, in: Luach ha-aretz Tel Aviv 1944, S. 94–112; nachgedruckt in: ders., Devarim be-go, Bd. 2, Tel Aviv 1975, S. 385–403) und einen auf Deutsch (vgl. G. Scholem, „Wissenschaft vom Judentum einst und jetzt“, in: Bulletin des Leo Baeck Instituts 9 (1960), S. 2–12, nachgedruckt in G. Scholem, Judaica 1, Frankfurt a. M. 1963, S. 147–164). Erst in letzter Zeit ist die hebräische Fassung dank der Initiative von Peter Schäfer in deutscher Sprache zugänglich geworden, siehe G. Scholem, Judaica 6. Die Wissenschaft vom Judentum, Frankfurt a. M. 1997, S. 7–52. Scholem betonte allerdings auch andernorts immer wieder, daß er sich mit der von ihm gerne zitierten Anekdote, nach der Moritz Steinschneider gesagt haben soll, es sei die Aufgabe der Wissenschaft des Judentums, „ein anständiges Begräbnis“ für das Judentum vorzubereiten, natürlich nicht zufrieden geben konnte. Vgl. auch die Autobiographie Scholems, Von Berlin nach Jerusalem. Jugenderinnerungen. Erweiterte Fassung. Aus dem Hebräischen von M. Brocke u. A. Schatz, Frankfurt a. M. 1994, S. 147. 3 S. M. Wasserstrom, Religion after Religion. Gershom Scholem, Mircea Eliade, and Henri Corbin at Eranos, Princeton 1999, S. 41.
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Scholem, daran ist kaum zu zweifeln, wäre von einer so kühnen Bezeichnung nicht wenig überrascht gewesen, obwohl er eine solche Schlußfolgerung gewissermaßen antizipierte, als er 1969 bemerkte: Wenn ich an Seelenwanderung glaubte, würde ich wohl manchmal denken können, unter den neuen Bedingungen der Forschung eine Art Reinkarnation Johannes Reuchlins, des ersten Erforschers des Judentums, seiner Sprache und seiner Welt, und speziell der Kabbala, zu sein, des Mannes, der vor fast fünfhundert Jahren die Wissenschaft vom Judentum in Europa ins Leben gerufen hat.4
Trotz der vielen Abschwächungen, die Scholem hinzufügen mußte, hat dieser Satz seine paradoxe Kraft noch immer nicht eingebüßt. Gerade weil Scholem aus einem weitgehend assimilierten Milieu stammte, gegen das er sich früh auflehnte, entwickelte er sein Paradigma, nach dem die wissenschaftliche Untersuchung, die Philologie und die Historisierung zu einer Wiederbelebung des Judentums in seinem ureigensten Lande führen würden, wenn diese auf die Mystik angewendet würden. Aus dieser Perspektive wird verständlich, was gemeint ist, wenn ich über die Geburt der Judaistik aus dem Geist der christlichen Kabbala spreche. Ich möchte hier einige der Ergebnisse meiner Arbeit über die christliche Kabbala als die Disziplin5, die alte Vorurteile der Christen gegenüber dem Judentum zu überwinden suchte, darstellen. Der wissenschaftsgeschichtliche Blickwinkel zeigt uns, was die Judaistik ist – nicht, was sie sein sollte. Ein kaum zu überschätzendes Merkmal der Judaistik ist selbstverständlich die Kenntnis der hebräischen Sprache sowie die Erkenntnis, daß das Hebräische als Schibbolet zwischen amateurhaften Versuchen, über das Judentum irgend etwas zu behaupten, und einer ernsthaften und sachgerechten Beschäftigung mit dem Spezifischen des Judentums und seinem dauerhaften Selbstverständnis dienen kann. 4 G. Scholem, Die Erforschung der Kabbala von Reuchlin bis zur Gegenwart. Vortrag gehalten anläßlich der Entgegennahme des Reuchlin-Preises der Stadt Pforzheim zu Pforzheim, am 10. September 1969, Pforzheim o. D. [1969], S. 7; nachgedruckt in G. Scholem, Judaica 3. Studien zur jüdischen Mystik, Frankfurt a. M. 1973, S. 247–258, hier 247. Über die Gefahr, Scholems Äußerungen in unfreiwillige Aphorismen zerfallen zu lassen hat sich neuerdings Daniel Weidner in seiner Doktorarbeit geäußert (vgl. D. Weidner, Gershom Scholem. Politisches, esoterisches und historiographisches Schreiben, München 2003, S. 19–20). 5 Vgl. S. Campanini, „Annotazioni sulla qabbalah e la nascita della giudaistica moderna“, in: F. E. Manuel, Chiesa e sinagoga. Il giudaismo visto dai cristiani, Genova 1998, S. 11–31.
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Es ist wohl bekannt, daß die Kenntnis der hebräischen Sprache in der westlichen Welt unter den Christen sehr bald, schon in der Spätantike, unterging. Man könnte schärfer formulieren, sie habe auch unter den hellenistischen Juden, die später zum Teil zum Christentum übertraten, nie tiefe Wurzeln geschlagen. Die Assimilation an die Kultur ihrer Umgebung, die das Diasporajudentum auch in sprachlicher Hinsicht charakterisierte und sogar das palästinensische Judentum in den letzten Jahrhunderten v. Chr. nicht unversehrt ließ, setzte sich jetzt mit Hilfe von theologischen Motivationen auch unter den Christen fort. Man kann das “parting of the ways” zwischen Juden und Christen unter anderem auch als ein Phänomen linguistischer Natur betrachten. Die sprachliche Kontinuität zu einigen großen, griechischen Texten des hellenistischen Judentums wie der Septuaginta, Philo, Josephus und einem guten Teil der Apokalyptik und der Weisheitsliteratur wurde von den Christen gewährleistet – auf diesem Terrain fand keine Enteignung statt – und von den Juden vernachlässigt, denen diese Assimilation suspekt geworden war und die sich deshalb auf das eigene Erbe und auf die immense Anstrengung, die zur Entstehung und Festigung der talmudischen und midraschischen Literatur führte, konzentrierten. Der heilige Hieronymus ist für das Christentum nicht der letzte christliche Hebraist der Antike, vielmehr ist er bereits im 4. Jahrhundert eine, man möchte fast sagen die einzige Ausnahme, wie das Zeugnis des Augustinus zeigt. Augustinus bekennt seine Unkenntnis der heiligen Sprache in einer berühmten Stelle der Confessiones6 mit einem gewissen Stolz: Moyses de illo scripsit: hoc ipse ait, hoc veritas ait. Audiam et intelligam, quomodo in principio fecisti caelum et terram. Scripsit hoc Moyses, scripsit et abiit, transiit hinc a te ad te neque nunc ante me est. Nam si esset, tenerem eum et rogarem eum et per te obsecrarem, ut mihi ista panderet, et praeberem aures corporis mei sonis erumpentibus ex ore eius, et si hebraea voce loqueretur, frustra pulsaret sensum meum nec inde mentem meam quidquam tangeret; si autem latine, scirem quid diceret. 6
Aug., Conf. 11,3,3: „Moses hat von Ihm geschrieben; das sagt Er selbst, das sagt ,die Wahrheit‘. Laß mich vernehmen und verstehen, wie Du ,im Anfang Himmel und Erde erschaffen hast‘. Geschrieben hat das Moses, geschrieben und ist dahingegangen, hinübergegangen von hinnen, von Dir zu Dir, und ist jetzt nicht vor mir. Wäre er da, ich hielte ihn fest, ich bäte ihn, flehte ihn an, beschwüre ihn bei Dir, daß er mir das alles enthülle. Und ich hinge leiblich hörend and den Worten, die seinem Mund entströmten; und spräche er hebräisch, so klopfte er vergebens an die Pforte meines Sinnes, und nichts davon erreichte meinen Geist; aber spräche er lateinisch, so wüßte ich, was er sagt.“ (Übersetzung v. J. Bernhart)
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Die Grundlage dieser Einstellung zum Judentum findet sich bekanntlich bereits bei Paulus, der die Ablösung des „alten“ durch den „neuen“ Bund theoretisch und theologisch begründet. Das Christentum sieht im Judentum die eigene Wurzel, die aber wie jede Wurzel notwendigerweise unsichtbar ist, und deshalb zusammen mit ihrer Sprache zum Exotischen schlechthin wurde. Manchmal wird diese Wurzel jedoch fühlbar: Sie kann so sehr schmerzen, daß sie radikal entfernt wird. Das Judentum bleibt für die Christen eine ewige Quelle der Verlegenheit, keine Quelle des Wissens oder gar parallele Überlieferung der Wahrheit. Wie erwartet, schwand die Kenntnis des Hebräischen (und selbst des Griechischen) abgesehen von wenigen, isolierten Ausnahmen im Laufe des sogenannten Mittelalters immer mehr. Besonders das Hebräische wurde zum Inbegriff des von Verdacht und Mißtrauen umwölkten Esoterischen. Dies ist das erste Indiz dafür, daß das Christentum für eine mögliche Neuentdeckung des Judentums die Keller der Esoterik frequentieren mußte. Die Wiedergeburt der Hebraistik, die eigentlich eine Geburt war und zweifelsohne in der Renaissance stattfand, konnte nicht wie diejenige der griechischen Studien vonstatten gehen. Die oft gezogene Parallele ist weitgehend irreführend, weil das Griechische nicht vollkommen vergessen und der Faden nie ganz gerissen war. Ein bedeutender Teil des klassischen Erbes konnte, wenn auch (Basilius von Cäsarea zum Trotz) nicht völlig christianisiert, so doch rasch assimiliert werden. Nach dem Fall Konstantinopels 1453 war dies besonders leicht, da 1.) viele griechische Bücher und griechische Lehrer gerne zur Verfügung standen und 2.) das sterbende Griechenland gerade deshalb zum perfekten Objekt der Erkenntnis wurde. Fast gleichzeitig mit der Eroberung Konstantinopels wurden die Juden aus der iberischen Halbinsel vertrieben (1492–1497), was oft als Ursache für die neue Einstellung der Christen zum Judentum galt. Die (Wieder-)Geburt des Interesses für das Judentum und, was noch wichtiger ist, der bei vielen christlichen Intellektuellen nachweisbare, von sehr unterschiedlichem Erfolg gekrönte Wunsch, die hebräische Sprache zu erlernen, können jedoch bereits ein wenig früher nachgewiesen werden7. 7 Vgl. G. Busi u. S. Campanini, „Marco Lippomano and Crescas Meir. A Humanistic Dispute in Hebrew“, in: Una manna buona per Mantova. Man tov le-Mantova. Scritti in onore di Vittore Colorni per il suo 920 compleanno, hrsg. von M. Perani, S. 179–202.
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Die Parallele zwischen der Wiedergeburt des Griechischen und des Hebräischen läßt sich aber noch weiter führen: Die Epoche, nämlich das Ende des Quattrocento, das kulturelle Klima des italienischen Humanismus und die Hauptakteure, in diesem Fall der Florentiner Kreis um Marsilio Ficino, waren oft dieselben. Auch die Wiedergeburt des Griechischen wurde von esoterischen und neuplatonischen Motivationen getragen. Während Aristoteles durch die Vermittlung von arabischen und hebräischen Übersetzungen und durch die Kommentare von Averroes noch immer in altmodischen lateinischen Ausgaben veröffentlicht und gelesen wurde, wurden in eben denselben Jahren seit Jahrhunderten als verloren geltende oder in Vergessenheit geratene Autoren wie Plotin, Iamblichus, Proclus und das Corpus Hermeticum erstmals zugänglich. Humanistische Verleger wie Aldo Manuzio erweiterten überdies das Spektrum der direkt zugänglichen Texte und den Horizont der möglichen Kenntnisse. Virtuell wurde die ganze griechische Kultur erhältlich, so daß deren Dichtung und Philosophie, deren Rhetorik und Wissenschaften bis heute einen unbestrittenen Bestandteil des westlichen Kanons bilden. In diesem Punkt unterscheidet sich das Schicksal des Hebräischen radikal, da die hebräische Sprache von Mißtrauen umhüllt war und das Erlernen des Hebräischen als dubios galt, weil es als Indiz des Judaisierens, das heißt einer gefährlichen und damals als schlimmes Verbrechen geltenden Neigung zur jüdischen Religion, verstanden wurde. Antiquarisches Interesse oder die schwache Erinnerung an eine uralte Tradition alleine konnten das Studium des Hebräischen nicht rechtfertigen. Nicht einmal die Tatsache, daß das alte Testament ursprünglich zum größten Teil auf Hebräisch verfaßt worden war, bot eine hinreichende Motivation, um das alte Mißtrauen zu beseitigen. Erst mit Hilfe einer List der Vernunft gelang es, das Begehrte (ich meine das Antike, das Uralte, das Authentische, das Ursprüngliche), das direkt nicht erreicht werden konnte, zu erlangen. Vor allem vor der Vertreibung der Juden aus Spanien fand man hebräische Bücher ganz bestimmt nicht auf der Straße. Aber selbst dann wäre es naiv zu In diesem Aufsatz ediere ich den erstaunlichen Briefwechsel zwischen dem Humanisten Marco Lippomano aus Venedig und dem jüdischen Arzt und Philosoph Meir Crescas aus Apulien, der um 1420 stattfand. Bemerkenswert ist nicht so sehr die bald aufflammende Polemik, sondern die Tatsache, daß der christliche Gesprächspartner sich die Mühe gemacht hatte, Hebräisch zu lernen. Der auf Hebräisch erhaltene Briefwechsel wurde von Juden tradiert.
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glauben, daß durch das bloße Vorhandensein von Büchern Vorurteile abgebaut und die Hürde der Sprache mit ihrem exotischen Alphabet überwunden werden könnten. Diese List der Vernunft wurde in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zum ersten Mal gefunden; wir bezeichnen dieses Phänomen mit einem inzwischen etablierten Oxymoron als „christliche Kabbala“8. Gershom Scholem, der auch hier Pionierarbeit leistete, wollte die christliche Kabbala dialektisch in sein Modell integrieren und sicherte so deren Stellung und deren Legitimität als Vorläuferin des akademischen Studium der Kabbala, das heißt seiner eigenen Forschung. Ich möchte diese Rekonstruktion der Geschichte noch weiter zuspitzen: Das Studium der jüdischen Geschichte und Literatur, vor allem der nachbiblischen Zeit, ist Erbe der christlichen Kabbala. In anderen Worten beruht das ganze Programm der Judaistik auf dieser christlichen Vorläuferin, auch wenn dies oft übersehen wurde. Die erwähnte List besteht in der Unterscheidung oder genauer in der Dichotomie zwischen Talmudisten und Kabbalisten, die man in die jüdische Literaturgeschichte einführte9. Diese nur scheinbar historischen Kategorien sind eigentlich nichts anderes als der Versuch, die alten Vorurteile beizubehalten und dennoch behaupten zu können, daß das Judentum eine uralte Weisheit in sich berge, welche die Wahrheit des Christentums als eine Art Zusatzoffenbarung bestätige. Anders gesagt ermöglichte sie einen direkten Zugang zur jüdischen Tradition, obwohl die uralten Vorurteile weiter Bestand hatten. Der so geschaffene Zugang zur „jüdischen Tradition“ erreichte naturgemäß nicht die „authentische“ Wahrheit des Judentums, sondern nur eine christliche Konstruktion dieser Tradition. So scheint die alte paulinische Ambivalenz aktueller denn je, wenn Johannes Reuchlin den Talmudisten als an das Fleisch gebundenen Pharisäer sieht, dessen Religion um das Gesetz und die Furcht kreise. Der Kabbalist als kontemplativer naturaliter Christianus atme dagegen 8 Der Terminus „christliche Kabbala“ kann mehrfach mißverstanden werden, da er einerseits als Christianisierung der Inhalte der jüdischen Kabbala interpretiert werden kann, andererseits aber als Bezeichnung des christlichen Interesses für die jüdische Mystik im Allgemeinen benutzt werden kann. Darüber hinaus neigt das christliche Selbstverständnis dazu, eine esoterische Zusatzoffenbarung auszuschließen oder höchstens als zweitrangige demonstratio evangelica anzusehen. Vielleicht hat sich der Begriff „christliche Kabbala“ aber gerade wegen dieser seiner Mehrdeutigkeit erfolgreich durchgesetzt. 9 Vgl. S. Campanini, „Talmudisti e cabbalisti. Un’immagine dell’ebraismo alle origini della qabbalah cristiana“, in: Quaderni di Dianoia. Annali di storia della filosofia del Dipartimento di filosofia dell’Universita` di Bologna, Bologna 1999, S. 119–135.
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den reinsten Geist, weshalb seine Religion die der höchsten metaphysischen Freiheit sei.10 Diese a-historische oder besser anti-historische Konstruktion trug sofort Früchte: Reuchlin verfaßt nicht nur zwei immer besser informierte Traktate, in denen er den Inhalt seiner Quellen zugleich immer mehr falsifiziert. Er wird zum ersten Judaisten, indem er die erste systematische Grammatik und das erste zuverlässige Wörterbuch der hebräischen Sprache verfaßt und sich persönlich für das akademische Studium des Hebräischen einsetzt. Dies macht ihn zugleich zum Vorboten der „kulturellen“ Reformation in Sinne Melanchthons. Der vermeintliche Begründer der christlichen Kabbala Giovanni Pico della Mirandola11, in dessen Werken wir faszinierende, knappe Andeutungen, ja fast Aphorismen und keine ausformulierten Argumentationen finden, verwendet diese Typologie noch nicht. Wie die Forschung der letzten Jahrzehnte gezeigt hat, konnte Pico della Mirandola seine Sammlung seltener hebräischer kabbalistischer Bücher nicht selbst erschließen, sondern war völlig von seinem Informanten, dem getauften Juden Flavius Mithridates abhängig. Ein weiteres Beispiel mag ausreichen, um zu belegen, daß diese Dichotomie auch später beibehalten wurde und weitere Ergebnisse (vor allem im judaistischen Sinne) erbrachte: Francesco Zorzi12, der berühmte christliche Kabbalist aus Venedig, übernimmt die Spaltung des Judentums in Talmudisten und Kabbalisten, ja er vertieft sie noch, indem er sie auch auf die Exegese anwendet. Die Talmudisten erreichen seiner Ansicht nach nur den buchstäblichen Sinn der heiligen Schrift, die Kabbalisten hingegen dringen in tiefere Bedeutungsschichten vor und schaffen so die Voraussetzungen, um die wahre, christliche Botschaft der Bibel zu erreichen. Zorzis Standpunkt ist besonders interessant, weil ihm diese Dichotomie nicht zur Polemik gegen die Juden, sondern gegen die Vulgata dient. Hunderte von Stellen aus seinem De harmonia mundi totius cantica tria (1525) und aus seinen späteren In 10 Vgl. J. Reuchlin, L’arte cabbalistica (De arte cabalistica), a cura di G. Busi e S. Campanini, Florenz 1995, S. 48–51. 11 Vgl. S. Campanini, „Pici Mirandulensis bibliotheca cabbalistica latina. Sulle traduzioni latine di opere cabbalistiche compiute da Flavio Mitridate per Pico della Mirandola“, in: Materia Giudaica, 7,1 (2002), S. 90–96; The Great Parchment. Flavius Mithridates’ Latin Translation. The Hebrew Text, and an English Version, hrsg. von G. Busi, S. M. Bondoni, S. Campanini, Torino 2004. 12 Vgl. S. Campanini, „Le fonti ebraiche del De Harmonia mundi di Francesco Zorzi“, in: Annali di Ca’ Foscari XXXVIII, 3 (1999), S. 29–74 und ders., „Haophan betoc haophan. La struttura simbolica del De Harmonia mundi di Francesco Zorzi“, in: Materia Giudaica, 3 (1997), S. 13–17.
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Scripturam Sanctam Problemata (1536) beweisen, daß Zorzi durch seine erneute, direkte Lektüre der Bibel im Hebräischen Urtext (also ein vollkommenes judaistisches Programm) tatsächlich vor allem die authentische Bedeutung der Bibel sichern wollte. Die Judaistik entstand also deshalb nicht bereits in der Antike oder im Mittelalter, weil 1.) das Interesse für das Hebräische vor der Renaissance nur sporadisch erwachte und in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle von jüdischen Informanten abhängig war. Auch der apologetische Versuch Scholems, die christliche Kabbala doch ins Mittelalter und in den Zusammenhang der anti-jüdischen Polemik des 13. oder spätestens des 14. Jahrhunderts zu datieren,13 bestätigt dies nur. Weil 2.) vorher das Dispositiv fehlte, das eine begriffliche Teilung des Judentums in einen positiven und einen negativen Pol ermöglichte. Das so gewonnene, an das Christentum anschlußfähige Judentum lieferte nicht nur wichtige Informationen, sondern auch apologetische Argumente – nicht so sehr, um Juden zu konvertieren, (damit wären wir noch immer beim Alten), sondern um Christen von der zunehmend schwankenden Wahrheit des Christentums zu überzeugen. Der alte Anti-Judaismus schlug nicht in seinen Zwillingsbruder, den Philo-Judaismus um, sondern mit Hilfe dieser Spaltung konnte das Judentum zum ersten Mal ohne Ansteckungsgefahr vermittelt werden. Es ist also kein Zufall, daß die christliche Kabbala ausgerechnet in der Zeit der Reformation entstanden ist. Sie ist nicht nur vom Geist der anti-jüdischen Polemik, sondern auch und um so mehr vom Geist der innerchristlichen Polemik geprägt. Als Beweis dafür oder, umgekehrt, als logische Schlußfolgerung daraus, mag die der Judaistik inhärente Polemik gegen die christliche Theologie und ihre Abgrenzung gegen die sogenannten „Jewish Studies“ dienen, deren Programm eine „Verwestlichung“ der jüdischen Kultur scheint. Die Judaistik verkennt damit – man möchte hinzufügen: 13 Vgl. G. Scholem, „Zur Geschichte der Anfänge der christlichen Kabbala“, in: Essays Presented to Leo Baeck on the Occasion of His Eightieth Birthday, London 1954, S. 158–193. Gegen Ende seines Lebens veröffentlichte Scholem eine aktualisierte, verbesserte Version dieses Aufsatzes in französischer Sprache, vgl. G. Scholem, «Conside´rations sur l’histoire des de´buts de la Kabbale chre´tienne», in: Kabbalistes Chre´tiens. Cahiers de l’Herme´tisme, hrsg. von A. Faivre u. F. Tristan, Paris 1979, S. 17–46. In letzter Zeit erschien dieser Aufsatz auch in englischer Übersetzung, vgl. G. Scholem, “The Beginnings of the Christian Kabbalah”, in: The Christian Kabbalah. Jewish Mystical Books and their Christian Interpreters, hrsg. von J. Dan, Harvard 1997, S. 17–51. Zu diesem wichtigen Aufsatz siehe meinen Some Notes on Gershom Scholem and Christian Kabbalah, hrsg. von J. Dan (in Druck).
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notwendigerweise – ihre eigene Geschichte, ihre eigene Tradition und, das Wort sei mir erlaubt, ihr eigenes Schicksal. Die konstituierende Illusion der Judaistik (und ich sage dies als Judaist) ist heutzutage nicht mehr, daß das Judentum sich an das Christentum anpassen ließe, sondern daß es sich zu einem „ruhigen“ Objekt der Wissenschaft reduzieren lasse. Gerade die Frustration, die sich aus diesem Programm kontinuierlich ergibt, liefert ihr die Gründe, um in ihrer Absicht fort zufahren. Die Judaistik ist der nie ganz gelungene und doch nie ganz gescheiterte Versuch, die „endgültige“ Biographie eines noch lebenden Menschen zu schreiben. Wenn wir im Sinne des Aristoteles davon ausgehen, daß aus einem Einzelfall keine wissenschaftliche Erkenntnis abgeleitet werden kann, führt gerade die stark theologisch geprägte Annahme der Einzigartigkeit des jüdischen Schicksals, die auch im Objekt begründet werden kann, dazu, daß es keine Wissenschaft des oder vom Judentum(s), sondern nur ein paradoxes, bewegliches Gemälde geben kann. Dieses Gemälde, welches das Objekt nie ganz festzuhalten oder ganz zum Schweigen zu bringen vermag, sagt viel mehr über den Maler als über die Landschaft aus. Die judaistische Arbeit bedeutet dann, speziell für Nicht-Juden – wie ich zu zeigen versucht habe, muß aber jeder Judaist ipso facto unabhängig von seiner religiösen bzw. nationalen Herkunft als postjüdisch angesehen werden – eine Art Selbsterfahrung, die zeigt, daß man zwar durchaus von einem Judentum in se, aber unmöglich von einem hypothetischen Judentum per se sprechen kann. Ein ständiger, bewußter Wechsel der Perspektiven scheint mir ein möglicher Ausweg aus dieser Aporie: Wessen Judentum steht in Frage, von wem wird es betrachtet, verlassen, bewundert, beneidet, studiert, zerstört, vergessen, rekonstruiert, belacht oder beweint? In diesem Sinn muss auch und besonders im akademischen Geschäft und in der impliziten Pädagogik unseres Faches, von Anfang an und immer wieder nicht das Objekt, sondern das Subjekt der Erkenntnis, das etwas vom Judentum wissen möchte, in Frage gestellt werden: Die grundlegende Frage des Judaisten sollte dann nicht lauten: „Was kann ich über das Judentum erfahren?“, sondern: „Was veranlaßt mich, etwas über das Judentum wissen zu wollen, von welch vorurteilsbeladener Begrifflichkeit des Judentums geht meine Reise nach Jerusalem aus?“. Die christliche Kabbala, dieses Ding der Unmöglichkeit, war nur die erste, unerwartete Hebamme bei einer schwierigen Geburt, die offensichtlich noch immer nicht vollendet ist.
Teil III Philosophie und Philologie
MAIMONIDES IM STREIT DER KONFESSIONEN: DIE „STATERA PRUDENTUM“ DES PAULUS RITIUS UND DIE CHRISTLICHE NEULEKTÜRE DES MAIMONIDES IM 16. JAHRHUNDERT Bernd Roling
I. Einleitung Wie sehr das Christentum der Frühen Neuzeit der Konvertiten bedurfte, um sich die Literatur des Judentums zu erschließen, läßt sich an vielen Fällen belegen, und das gelehrte Umfeld Pico della Mirandolas bildet sicher ein besonders eindrucksvolles Beispiel1. Ein Konvertit, der sein Judentum und die Bildung, die ihm noch vor seinem Übertritt zuteil wurde, wenige Jahre später nicht allein als Materialfundus, sondern als kritische Herausforderung an die eigene christliche Umgebung begriffen hat, war Paulus Ritius, von dem noch Johannes Reuchlin sagte, er stünde weit in seinem Schatten2. Geboren in den achtziger Jahren des 15. Jahrhunderts als Sohn jüdischer Eltern in Trient, trat Ricci als junger Mann zum Christentum über. Seine theologische Ausbildung erhielt er unter der Ägide des portugiesischen Franziskaners Federigo Gomez de Lisboa. In Padua und Pavia studierte er im Umkreis Pomponazzis Philosophie und Medizin und erhielt in Pavia in der ersten Dekade des 16. Jahrhunderts eine Professur für Medizin und orientalische Sprachen. Seine Universitätskarriere begleitete eine Tätigkeit als Arzt, die ihn nach zahlreichen Stationen bis an den Hof des Kaisers Maximilian führte. Bis zum Ende seines Lebens im Jahre 1541 pendelte er zwischen dem Alten Reich und Italien. Seine Erfolge als Arzt trugen ihm 1530 in Österreich ein vakant gewordenes Lehen ein und machten ihn zum Baron3. 1 Die folgenden Ausführungen greifen zurück auf meine Ende 2002 fertiggestellte Doktorarbeit, Credere more peripatetico. Aristotelische Naturphilosophie und christliche Kabbalah im Werk des Paulus Ritius, die sich in Druckvorbereitung befindet. 2 J. Reuchlin, Briefwechsel, hrsg. von L. Geiger, Stuttgart 1875 (Repr. Hildesheim 1962), ep. 256, S. 295 f.
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Unter seinen zahlreichen unbeachtet gebliebenen Schriften finden sich Abhandlungen zu in Padua virulenten Fragen der Methodenlehre und Erörterungen theologischer Gegenstände4. Als philosophischer Traktat versucht der 1514 erschienene „Dialogus in Symbolum Apostolorum“ zeitgenössische averoistische Ansätze mit dem Christentum zu verbinden5. Einen auch historisch interessanten Beitrag liefert die Schrift „Statera prudentum“ des Jahres 1531, die nach den ersten gescheiterten Religionsgesprächen zwischen den streitenden Parteien der Reformationszeit eine vermittelnde Position einnahm und die Konfessionen zu einem neuen Gespräch ermutigen wollte6. Dem Wanderleben und der Breite seiner Schriften entsprach im Denken Riccis eine Verbindung philosophischer Subversion und Synthesewillen. Seine gesellschaftliche Position, die ihm ebenso hohe Ehrung wie Anfeindung eintrug, blieb ambivalent, ja sein Konvertitentum wurde zum Teil seines Schicksals. Seit seinem Übertritt zum Christentum mühte sich Ricci in starker Anlehnung an das Projekt Pico della Mirandolas um die Erschließung der sapientia judaica7. Als Urweisheit der Pharisäer legitimiert waren Talmud, Kabbalah Bestandteile auch der christlichen Tradition und konnten ihren rationalen Kern rechtfertigen. Einerseits war für Ricci die jüdische Tradition daher als apologetischer Steinbruch zu nutzen. Andererseits legte Ricci großen Wert 3 Zur Biographie Paolo Riccis (Paulus Ritius/Paulus Israelita) F. Secret, Les Kabbalistes chre´tiens de la Renaissance, Mailand 19852, S. 87 f.; P. G. Bietenholz u. Th. Deutscher (Hrsg.), Contemporaries of Erasmus. A Biographical Register of Renaissance and Reformation, Toronto 1987, s. v. Ricci, Paolo, S. 158–160; A. Zöhrer, Geschichte des Marktes Sarleinsbach. Ein Heimatbuch, Sarleinsbach 1959, S. 256–259; weitere Literatur in Roling, Credere more peripatectico, Einleitung. 4 Eine Zusammenstellung der Werke Riccis geben Secret, Les Kabbalistes chre´tiens, S. 87 f. und Th. Wiedemann, Dr. Johann Eck. Professor der Theologie an der Universität Ingolstadt, Regensburg 1865, S. 341–344. Wenig ergiebig sind die „bibliographischen“ Ausführungen von P. Beitchman, Alchemy of the Word. Cabala of the Renaissance, New York 1998, S. 140 f. und S. 169. 5 In Apostolorum simbolum Paulii Ricii oratoris philosophi et theologi oculatissimi a priori demonstrativus dialogus, Augsburg 1514, erneut überarbeitet erschienen als erster Teil des 1541 gedruckten Sammelwerkes De coelesti agricultura, das verschiedene Schriften Riccis in erneuerter Gestalt in sich vereinigte. Dieses Werk und zahlreiche andere wurden erneut herausgegeben von J. Pistorius, Artis cabalisticae hoc est reconditae theologiae et philosophiae scriptorum tomus I, Basel 1587 (Repr. Frankfurt 1970). 6 Zum ersten Mal gedruckt 1532 in Regensburg, im selben Jahr erneut, dann stark überarbeitet als vierter Teil der Sammlung De coelesti agricultura im Jahre 1541. 7 Zu Picos Erschließung der Kabbalah und Picos hebräischem Literaturkanon allgemein C. Wirszubski, Pico’s Encounter with Jewish Mysticism, Cambridge 1989, S. 53– 65, F. Lelli, „Pico tra filosofia ebraica e ,qabbala,“, in: Pico, Poliziano e l’Umanesimo di fine Quattrocento, hrsg. von P. Viti, Florenz 1994, S. 193–223, passim.
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darauf, das jüdische Schrifttum gegen seine Verächter zu verteidigen. Ricci übersetzte nicht allein die Traktate Sanhedrin und Berakhot und die „Sha’are ha-Shamayim“ des Joseph Gikatilla, sondern auch Moshe ben Maimons Prolog seiner Mishna-Glossen und mehrere Kommentare des Averroes aus dem Hebräischen8. Als Konvertit, der sich als Vermittler und Philosoph verstand, nahm Ricci also zunächst die Rolle des Apologeten ein. Als Konvertit wurde er erst als Fürsprecher der komplementären jüdischen Offenbarung in die Defensive gedrängt, um schließlich in seiner Konvertitenrolle selbst angegriffen zu werden. Zwei Gründe lassen sich hierfür nennen: Eine wichtige Rolle spielte das starke Ressentiment dieser Zeit gegenüber sozialen Aufsteigern, die dem Judentum entsprangen. Der zweite Grund war der Versuch Riccis, das jüdische Wissen nicht allein als Beweis des Christentums heranzuziehen, sondern es schließlich zu seiner Evaluierung auf das Christentum selbst anzuwenden.
II. „Iqqarim“ und „sodot“: Maimonides als Werkzeug christlicher Apologie Als erstes Werk schreibt Ricci im Jahr 1507 das „Sal foederis“, mit dem er seinen Übertritt zum Christentum begründen wollte9. Aus philosophischer und exegetischer Perspektive sollte hier das Christentum als Vollendung aller Religion seine Legitimation erhalten. Während Ricci in seiner christianisierenden Auslegung des Talmud in weiten Teilen in der Gefolgschaft des Raymundus Martini, des Abner von Burgos und anderer christlicher Apologeten steht, verbindet ihn eine naturphilosophische Rechtfertigung des Christentums mit der Autorität 8 Die in weiten Teilen paraphrasierende Übertragung der Sha’are ha-Shamayim erscheint als Portae lucis haec est porta Tetragrammaton iusti intrabunt per eam, Augsburg 1516, und erneut gekürzt 1541 im vierten Teil der Schrift De coelesti agricultura. Der Mischna-Prolog des Maimonides geht den Übersetzungen der Traktate Sanhedrin und Berakhot voran, die in Augsburg im Jahre 1519 in Druck gelangen. Im Jahr 1511 veröffentlicht Ricci in Mailand in einem Band aus dem Corpus der Werke des Averroes den für die Methodengeschichte wichtigen Prolog des großen Physik-Kommentars, das Proöm zum zwölften Buch des Kommentars zur Metaphysik und eine Übertragung des mittleren Kommentars zum De coelo. 9 Sal foederis: Paulii Ricii philosophica, prophetica ac talmudistica pro christiana veritate tuenda cum iuniori hebreorum synagoga mirabili ingenii disputatio, Pavia 1507. Eine Überarbeitung des Sal foederis fügte Ricci als zweiten Teil in die Sammlung De agricultura coelesti. Zitiert wird im weiteren nach der 1515 in Augsburg gedruckten Neuausgabe des Sal foederis und der Pistorius-Ausgabe der Agricultura.
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des Ramon de Sibiuda, mit Marsilio Ficino und den Conclusiones Picos10. Zitierautorität seiner Beweisführungen wird Ricci neben Avicenna und dem in Padua dominanten Averroes vor allem Moses Maimonides, dessen „Führer der Unschlüssigen“ und „Mishne Torah“ zu den zentralen Texten aller Schriften Riccis gehören. Als Instrument seiner Argumentation wählt Ricci im „Sal foederis“ eine Gegenüberstellung der Artikel des Glaubensbekenntnisses und der 13 Prinzipien des Maimonides. Nach einer Analyse der basalen Sätze beider Konfessionen kann für Ricci in einem ersten Schritt die formale Widerspruchsfreiheit beider Dogmatiken bewiesen werden11. In einem weiteren Schritt deduziert Ricci das Superadditum der christlichen Doxologie aus einer vermeintlichen inneren Notwendigkeit der jüdischen Prinzipien. Beide Bekenntnisse kommen in ihren wesentlichen Gedanken überein, nur werden sie, glaubt Ricci, vom Christentum klarer und kohärenter formuliert12. Daß nicht allein der jüdischen, sondern auch der christlichen Theologie in diesem oktroyierten Äquilibrium erhebliche Gewalt angetan werden mußte, verwundert nicht weiter.
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Zu den wesentlichen Quellen der Talmudlektüre und der Auswahl der „Autoritäten“ des Sal foederis gehört der Pugio fidei des Raymundus Martini, das Scrutinium Scripturarum des Paulus von Burgos, der De religione christiana liber Marsilio Ficinos und vielleicht auch der Mostrador de Justicia des Abner von Burgos. Die starke innere Geschlossenheit dieser polemischen Literatur erschwert es mitunter, eine konkrete Quelle zu bestimmen. 11 Sal foederis, fol. 14r–26v. Zu den iqqarim sagt Ricci, unter Bezugnahme auf Joseph Albo: fol. 14vf.: „De Mosaicae legis radicibus diversi diversa opinantur quibus autem magis innituntur iudaei sunt rabi Mose aegyptius, et iunior rabis Ioseph alba compilator libri radicum, quorum etiam in aliquibus varia sententia est. Placuit enim rabi Mosi sua in explanatione, c. helec, secundum Talmudistarum sententias tredecim ponere mosaicae legis radices. Prima de deo glorioso quod sit. Secunda quod sit unus. Tertia quod sit incorporeus. Quarta quod primus. Quinta quod ipse solus sit adorandus. Sexta quod prophetia sit. Septima quod Moses fuerit propheta. Octava quod lex sit tradita de coelo. Nona quod lex non sit permutabilis in aliam. Decima quod Deus omnia noscit. Undecima quod praemiat et punit. Duodecima quod sit expectandus mossia id est salvator. Decimatertia quod sit futura mortuorum resurrectio. Hec ille. Rabi Ioseph alba in multis ab hac sententia recedit. Quantum vero ad nos spectat in duobus, videlicet adventu Mossiae, et legis permanentia, quae ipse renuit de legis esse fundamentis, ut liber ikarim primo et tertio tractatu rationibus auctoritatibusque plane demonstrat.“ 12 Sal foederis, fol. 27r–31v. Zu Beginn heißt es daher, Sal foederis, fol. 15v: „Quattuor continet partes secundum quattuor quae agenda videntur. Primum (iudaeorum legis radices ad fidei articulos referendo) ostendit quod aliquae illarum radicum cum aliquibus fidei articulis explicite sunt idem. Secundum quod radicum quadam quosdam fidei articulorum comitantur. Tertium quod quaedam, etsi idem non sint nec comitentur nullam, tamen ad aliquem fidei articulorum pariunt repugnantiam. Quartum demonstrat quosdam articulorum fidei, quos iudaica insipientia aliquibus legis radicibus obviare opinatur, nullam prorsus contradictionem efficere.“
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Den Glauben an eine verbindliche Prinzipienlehre, deren Maximen, waren sie in ihrer Evidenz einmal bestätigt, nur in der Exegese abgesichert werden mußten, verdankt Ricci vor allem zwei Impulsen: Seinen eigenen Schriften zur Beweislehre, die sich an Averroes und Galen ausrichteten, und dem großen Projekt der „Konklusionen“ Picos, dem er anders als viele seiner Zeitgenossen positiv gegenüberstand. Es war nicht zuletzt der scheinbare Erfolg des „Sal foederis“ und seiner Konzeption, der ihn ermutigte, ein Vierteljahrhundert später, Katholizismus und das Anliegen der neuen Bewegungen einander gegenüberzustellen, auf basale Sätze zu reduzieren und eine Synthese in Angriff zu nehmen. Daß Melanchthon seine eigene Lehre in „Loci communes“ zusammenfaßte, kam Ricci hier sehr gelegen. Ein weiteres Motiv, das Ricci direkt Maimonides zuschreibt, wird ihm im „Sal foederis“ zum Schlüssel der Beweisführung. Welche Replik kann dem zunächst berechtigten Vorwurf jüdischer Gegner des Christentums, die Anhänger Jesu hätten die Torah verändert, gegeben werden? Ricci antwortet aus dem Fundus der jüdischen und arabischen Philosophie und bedient sich des „Moreh Nebuchim“. Thomas Aquinas und spätere apologetische Lesarten des Maimonides, wie sie Abner und Paulus von Burgos feilbieten, haben Ricci hier Vorarbeit geleistet13. Daß Ricci jenseits oberflächlicher Übernahmen dem Geist und Gehalt des „Moreh Nebuchim“ nicht gerecht wurde, muß vielleicht nicht eigens betont werden14. Zwei Ebenen des einen Gesetzes lassen sich für Ricci unterscheiden, das Zeremonialgesetz, das eine didaktische Aufgabe innehat, und das intelligible Gesetz, das mit den „Sodot“ der Torah identisch ist. Während das Zeremonialgesetz der Idolatrie der Antike antwortet und einer historischen Entwicklung unterliegt, steht das innere Gesetz unverrückbar fest und begründet sich in der Weisheit der Philosophen. Während
13 Zur sich anschließenden Argumentation Th. von Aquin, Summa theologiae (Opera, Bd. 4–8) Rom 1888–95, I/II, q. 98–102, W. von Auvergne, De legibus (Opera omnia, Bd. 1), Paris 1674 (Repr. Frankfurt 1963), c. 16–17, fol. 47a–49b, und z. B. A. von Burgos, Mostrador de Justicia, hrsg. von W. Mettmann (2 Bde.), Opladen 1993–96, Bd. 1, S. 95 f. 14 Die Grundlage der „Beweisführung“ Riccis liefert M. Maimonides, Führer der Unschlüssigen, übersetzt von A. Weiss, eingeleitet von J. Maier, Hamburg 19952, Bd. 3, 28, S. 176 f., III, 30–34, S. 193–213, III, 51, S. 346 f. Hierzu z. B. A. Funkenstein, „Gesetz und Geschichte. Zur historisierenden Hermeneutik bei Moses Maimonides und Thomas von Aquin“, in: Viator 1 (1970), S. 147–178, S. 150–163, und J. Stern, Problems and Parables of Law. Maimonides and Nachmanides on Reasons for the Commandments (Ta’amei ha-Mitzwot), Albany 1998, S. 68–76.
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das äußerliche und erziehende Gesetz sich an die Vorstellungskraft wendet und in Allegorien spricht, richtet sich die lex aeterna an die mens und kann in ihrer idealen Form im Geiste eingesehen werden15. Beide Bestandteile der Offenbarung sind als schriftliches und mündliches Gesetz von Moses in Empfang genommen worden. Entspricht das unveränderliche substantielle Gesetz dem Dekalog, läßt sich das bildliche und zeitgebundene Gesetz den 613 Weisungen der Torah zuordnen. Letztere dienen der körperlichen Disziplinierung und können bei sich einstellendem pädagogischen Erfolg und bei gewachsener Einsicht in den intelligiblen Gehalt des Gesetzes der Zeit erneut angepaßt werden. Das Christentum, schließt Ricci, hat das innere Gesetz nach außen getragen, ohne das äußere Gesetz aufzuheben. Der Christ hat die innere Weisung des Gesetzes erkannt, die von den Rabbinen seit Anbeginn gelehrt wurde. Die idolatrische Neigung der antiken Völker hatte es zunächst nicht erlaubt, die subtile Wahrheit des philosophischen Christentums ans Tageslicht zu lassen16.
15 Sal foederis, fol. 23v: „Rationum vero, quibus conclusione statuere conantur, solutio ex iam habitis facile haberi potest. Quo enim argumentatur, scilicet: Cuius stat causa, stat etiam illud, admittitur de causa quam necessario et per se sequitur id cuius ipsa causa est, et tunc neganda erit minor, videlicet, quod totius legis stet causa, ly totum accipiendo pro singulis partibus, quamvis legis potissima intentio semper stat, non tamen cuiusque legis particula. Multa enim sunt legis quae non per se et prima intentione necessitentur a fine, sed sunt aut removentia prohibens, aut non ut res fit, sed bene fit, veluti sacrificia et plura ceremonialium, ut Rabi Moses ostendit 3. tractatu more. [. . .] Secunda autem, quod magis propria eorum est ratio, nil aliud convincit nisi ea quae attinent cognitioni et moribus permanent semum, quod etiam catholica veritas non spernit, imo iubet cuncta legis observari moralia, non quatenus sint Mosis, sed quia legis aeternae cuius nostris mentibus inscriptio lex naturae vocari solet. Quod vero concludunt, videlicet, stante figurato, stat figura, figuratum est aeternum, quia aeterna veritas, ergo etiam figura, hoc totum conprobamus, sed non sequitur inde quod exterior corporea legis observantia obligatoria maneat, quia legis figurae potissimum in ipso literali intellectu consistunt, qui nos ducit et stimulat ad intellectualem allegoriam. Actus vero exterior corporis etsi coadiuvet ad stimulandum, parum tamen in hoc vim habet, sed ipsa litteralis interpretatio concepta, etsi nihil agamus ab extra. Quantum vero archana legis ad litteralem intellectum exuberant, talmudisti saepe enunciant, hunc enim appellant davor kata, id est res parva, illa vero davar gadal, id est res magna, vocantque litteralem sensum mascal, id est exemplum.“ 16 De coelesti agricultura, hrsg. von Pistorius, Buch II, fol. 73: „Deinde idem patet ex natura illius, qui legem suscipit. Unummodoque enim recipitur per modum recipientis. Sed recipiens, id est homo, est mutabilis. Ergo etiam receptum, id est lex. Variari autem legem secundum homines, testatur Rabi Moyses tertio tractatu sui More, ubi dicit plurimas Leges ceremoniales magis propter hominum hebetudinem et Idolatriae consuetudinem traditas esse, quam quod ita Legislator cuperet. Unde patet potuisse aliter tradi, si alia fuisset hominum recipientium conditio. Item posse mutari, mutata hominum conditione, mutabilis igitur lex.“
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An der Idee eines progressiven und erzieherischen Gesetzes hält Ricci auch in späteren Werken fest. Seine Aufarbeitung der Kabbalah, die 1509 erschienene „Isagoge in eruditionem Cabalistarum“, bedient sich der Dichotomie von intelligibler und körperlicher Torah, um die kabbalistische Überlieferung als christliche Urtradition einzuführen17. Die subkutane Wirklichkeit der schriftlichen Überlieferung, die als Interpretation durch die Jahrhunderte getragen wurde, repräsentiert nun auch den inneren Gehalt des kabbalistischen Schrifttums und kann ein philosophisches, stark an Pico ausgerichtetes Christentum als Kern des esoterischen Judentums beweisen. Es bedarf nun für Ricci der Allegorese, um die zeitgebundene Bildwelt eines Moshe ben Nachman oder Joseph Gikatillas aufzulösen. Auch in diesem Fall ist die zentrale Zitierautorität, auf die zur Rechtfertigung der dekodierenden Praxis Bezug genommen wird, Maimonides18.
III. Wahres Gesetz und falsche Bilder: Riccis Beitrag zum Bilderstreit Einen Vorgeschmack auf die Zerlegung seiner späteren Thesen und die rigide Kritik, die ihm von Seiten der universitären Theologie zuteil werden sollte, erhielt Ricci schon wenig später, als er Gedanken des „Sal foederis“ in einem anderen Zusammenhang erneut zur Geltung brachte. 1510 veröffentlicht Ricci in Pavia eine Übersetzung und Kom-
17 Paulii Ricii in Cabalistarum seu allegorizantium eruditionem Isagoge, Pavia 1509, erneut Augsburg 1515. Als Teil des vierten Buches gelangt auch dieses Werk in die Agricultura coelestis des Jahres 1541. 18 In Cabalistarum eruditionem Isagoge, fol. 12v f.: Conclusio octava: „Nam inter allegoricum et literalem nullus sensus offenditur tertius. Allegoricum voco intellectum qui in ipso universi ordine quipiam typice designat, quo pacto etiam Ga. 4 apostolus loquitur, legem non legistis et cum usquam, quae sunt per allegoriam dicta. Huic innititur Salomo verbum verbo reddendo, mala inquit, aurea in maschios (id est operculis subtili artificio perforatis) argenteis est res prolata secundum quod congruit ei. Nam eiuscemodi aurea mala obtusis quidem luminibus se argentea offerunt, visus autem pollentes acumine, per exilia operculi foramina aurum rutilare spectantes, ad ipsa aurea mala suum tandem figunt intuitum. In quidem convertitur illud apostoli: Quae exemplari et umbrae deserviunt coelestium, et illud umbram habet lex futurorum bonorum et illud, habens formam scientiae et veritatis. In lege vergit etiam hunc rabi mose in exordio more: talmudistico fultus testimonio. Literalis inquit, legis conceptio sic refertur ad sensum certitudinis ibi latitantem, quemadmodum ad praeciosam margaritam obscuris in edibus abditam, ipsae caligantes aedes conferuntur. Rursus et tracta. 2. saepe inquit, prophetica verba literarum ordine transposito, aliisque insolitis signaculis grandia sapientiae oracula decernunt.“
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mentierung der „Taryag mitzwot“, der 613 Gebote und Verbote19. Riccis äußerst knapp gehaltener Kommentar wählt die Zählweise des „Sefer ha-mitzwot gadol“ des Moses von Coucy und greift auf dessen Glossierung und die ihm grundlegende Aufarbeitung des Maimonides zurück20. Das 26. Verbot, „Du sollst Dir kein Bildnis machen“, erhält eine längere Kommentierung. Ricci wendet sich zunächst gegen vermeintliche Kritiker der Bilderverehrung und liefert eine Reihe von konventionellen Argumenten, die er bei Thomas und seinen zeitgenössischen Verwendern finden konnte21. Bilder erregen der Moral zuträgliche Affekte und liefern ein Memorandum dogmatischer Inhalte. Ein Bild referiert in Wahrheit auf den Spiritus und macht sich keiner theologischen Anthropomorphismen schuldig. Das Christentum kann also vom Vorwurf der Idolatrie freigesprochen werden. Ricci will sich diese Sichtweise jedoch nicht ohne Vorbehalt zu eigen machen. Kein apostolisches Edikt scheint die Bilderverehrung zu fordern. Warum ist sie dann von der Kirche eingerichtet worden? Ricci gibt eine historisierende Antwort, die sich seiner Maimonides-Lektüre verdankt. Das von der heidnischen Welt eingekreiste frühe Christentum, das an anthropomorphe Götter gewohnt war, bedurfte eines Anhaltspunktes. Das Unkraut menschlicher Schwachheit konnte nicht mit einem Male ausgerottet werden22. In heutiger Zeit aber hat sich die 19 De sexcentum et tredecim Mosaice sanctionis edictis, Pavia 1510. Zitiert wird nach der in Augsburg im Jahre 1515 erschienen zweiten Ausgabe. Ein Neudruck fand Eingang in Pistorius’ Neuausgabe der Werke Riccis. 20 Zur Liste der 613 Weisungen der Torah in der Zählweise des Mose Chuzensis Moshe bar Yakov, Sefer mitzwot gadol (SmaG), hrsg. von A. P. Ferber (2 Bde.), Jerusalem 1991, Bd. 1, S. 1–14, Bd. 2, S. 1–10, zum Verhältnis dieses Werkes zu den Schriften des Maimonides z. B. J. Woolf, „Maimonides Revised: The Case of Sefer Mitzwot gadol“, in: Harvard Theological Review 90 (1997), S. 175–203, bes. S. 178–181 und S. 187–199 und J. Galinsky, „We-lehiyot le-fanekha ’eved ne’eman kol ha-yamim: Pereq be-hagoto shel Rabbi Moshe mi-Qotzy“, in: Da’at 42 (1999), S. 13–31, bes. S. 16–22. 21 Einen Überblick über die Traktate für und gegen die Bilderverehrung im 16. Jahrhundert, ihre Quellen und ihre Argumente geben H. Jedin, „Entstehung und Tragweite des Trienter Dekretes über die Bilderverehrung“, in: Theologische Quartalschrift 116 (1935), S. 143–188, bes. S. 144–168 und S. 404–429; E. Iserloh, „Bildfeindlichkeit des Nominalismus und Bildersturm im 16. Jahrhundert“, in: Bild – Wort – Symbol in der Theologie, hrsg. von W. Heinen, Würzburg 1968, S. 119–138, passim; und jetzt zu weiteren Traktaten N. Schnitzler, Ikonoklasmus – Bildersturm. Theologischer Bilderstreit und ikonoklastisches Handlen während des 15. und 16. Jahrhunderts, München 1996, S. 36–39 und ders., „Illusion, Täuschung und schöner Schein. Probleme der Bilderverehrung im späten Mittelalter“, in: Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen, hrsg. von K. Schreiner, München 2002, S. 221–242, bes. S. 232–236. 22 De sexcentum et tredecim edictis, fol. 9v: „Quamobrem dicendum imaginum ritum in sacro christianorum conventu (veluti in vinea labruscam, in cultissimo tritici agro
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Situation verändert: Wo der Geist weht, bedarf es des Buchstaben nicht. Nicht mehr im Zwang, sondern in der Liebe kann das Gesetz erfüllt werden. Nicht mehr die Imago, sondern das geistige Exemplar läßt sich nun verehren. Riccis Konsequenz ist eindeutig: Heute sollte der Tempel gereinigt werden, um dem Geist den Vorrang zu lassen. Auch den Juden wäre endlich der Gegenstand des Anstroßes genommen23. Blieb der Aufruf 1510 noch ungehört, änderte sich mit dem Auftreten Karlstadts in Dresden und seiner publizistischen Rechtfertigung die Stimmung erheblich. In seiner Schrift „Von der Abtuhung der Bilder“ propagierte Andreas Bodenstein 1522 genau jenen „gereinigten Tempel“, den auch Ricci zur Forderung erhoben hatte, nur setzte er ihn auch in die Tat um24. Die katholische Seite, die den Ikonoklasten begegnen wollte, setzte sich auch mit den Vorgängerwerken auseinander. 1522 veröffentlichten Johannes Eck und Hieronymus Emser Streitschriften wider den protestantischen Bildersturm und nahmen auch Ricci ins Visier. Johannes Eck greift in seiner Rechtfertigung des Bildes zunächst auf die klassische platonisierende und seit Johannes
lolium) insanabilis consuetudinis corruptela geminavit (siquidem ut de sacrificiis aegyptius rabi mose loquitur) longaevam turbae consuetudinem actuum, et funditus evellere vana sollicitudo est. Nam quemadmodum iudaei evangelii verbum suscipientes (simul tamen legis aemulatione et consuetudinis vinculo capti) malebant sublimen Christi fidem quam terrena mosis opera linquere, sicut gentibus econtra effrenata libertatis libidine per saecula functis potius sempiternam redemptoris salutem negligere quam circumcisionis aliaque legis onera subire placuit. Unde ad utrorumque salutem universo apostolorum coenobio, consulente spiritu, libuit iudaeis pro tempore legis observationem et gentibus eiusdem solutionem admittere, quum hoc et illud omnino exigeret sola consuetudo, non salus.“ 23 De sexcentum et tredecim edictis, fol. 10v: „Verum hoc unum (salva tamen reverentia occultorum) censere et probare non formido orthodoxa iam Christi fide ad plenitudinem redacta, et idolorum cultu penitus deleto, non solum non impium, sed et etiam condecens et laudabile esse (nisi in hoc quoque consuetudinis corruptela reniteretur) templa et sacras aedes absque imaginibus construere, id siquidem ad empyreos et supercoelestes sanctorum spiritus, hominum mentes extollerent, et non ad corporeas manufactas imagines. Sicque omnem infirmorum offendiculum et nephandissimi erroris periculum caveretur. Obtrectantium insuper Iudaeorum plures, qui prae caeteris imaginum cultum abominantur, ad piam Christi religionem amplectendam, induci et persuaderi possent. In singulis tamen ad sacra et inconcussa Ecclesiae (quae a non errante spiritu regitur) sancita me confero, cum illa pergo, cum illa sapio, vivo et requiescam in sempiterna saecula.“ 24 A. Bodenstein, Von Abtuhung der Bilder und das kein Betdler unther den Christen sein soll, Wittenberg 1522, abgedruckt in: Bibliothek der Kunstliteratur. Renaissance und Barock, hrsg. von Th. Cramer u. C. Klemm, Frankfurt 1995, S. 9–35, bes. S. 12 f., S. 15, S. 17 f., S. 27 f., zu dieser Schrift z. B. M. Stirm, Die Bilderfrage in der Reformation, Gütersloh 1977, S. 24–29, S. 38–40, und Schnitzler, Ikonoklasmus, S. 36–39.
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Damascenus kanonische Bildtheologie des Mittelalters zurück: Aus der Inkarnation, also der Bildwerdung Gottes, lasse sich ohne Schwierigkeiten eine ontologische Rechtfertigung des Bildes ableiten. Als didaktisches Simile erhalte das Bild weitere Berechtigung25. Ricci leugne, hält Eck fest, die signifikante Funktion der Imago. Kein Christ werde sich durch ein Bild zur Idolatrie verleiten lassen. Nur ein Mann seiner alten Religion, ein Jude, könne ein von Bildwerk und Skulpturen freies Gotteshaus zur Forderung erheben26. Hieronymus Emser schlägt in seinem 1522 erschienenen Traktat mit dem Titel „Daß man der Heiligen Bilder nit abthun soll“ eine ähnliche Richtung ein27. Natürlich referieren Bilder nur auf den Prototypen und genießen selbst keinerlei autonome Verehrung. Ricci reihe sich, bemerkt Emser, in die Schar der Ikonoklasten ein. Auch Emser macht Ricci seine alte Konfession zum Vorwurf: Stachelten früher Juden Muslime an, um Gotteshäuser zu plündern, so wählen sie heute, heißt es bei Emser, scheinbar einen anderen Weg. Auf keinen Fall sei Bilderverehrung ein temporäres
25 Zu diesem Werk E. Iserloh, „Zur Verteidigung der Bilder durch Johannes Eck zu Beginn des reformatorischen Bildersturms“, in: Festschrift für Theobald Freudenberger (Würzburger Diözesan-Geschichtsblätter, 35/36 [1974]), Würzburg 1974, S. 75–85, passim. 26 J. Eck, De non tollendis Christi et Sanctorum imaginibus contra haeresim Faelicianam sub Carolo magno damnatum et iam sub Carolo V. renascentem dicisio, Ingolstadt 1522, c. 18, fol. 14r f.: „At illud ergo quod primo assumit, cavendum quod simplices scandalizet, non admitto, imagines scandalizare simplices, quam unica et facili directione rectificat usum imaginum, si referat in imaginatum, pestifera autem est imaginum adoratio, sicut idolatriae adorant, quasi sit aliquid divinitatis in eis, ut supra latissime dissuerimus. Deinde male reiicit S. Thomae rationes, cui alioquin plura tribuere solet, quum superius docuimus. Hunc imaginum usum ab ipso Christo et apostolis in ecclesiam emanatum, quod apostolum de symulacris idolorum assert, hoc non officit sanctorum imaginibus, ut expositionem non admittimus. Fugit a cultu idolorum, id est imaginum, cum non omnes imagines sint idola (nisi cherubin in propiciatorio dicat esse idolum) licet omnia idola sint imagines, ita inaniter timet. Idolatrandi suspitione ex imaginibus nisi forte a suae gentis hominibus, Judaeis, sed cum illi caeci sint et obstinati, ut ismet de eis conqueritur. Tantum bonum ex imaginibus proveniens, non debet impediri, propter sinistram Judaeorum interpretationem, quoniam si vellent auscultare. Facile eis daretur unica directio, usum imaginum ab idolatria excludens, sed aures habent, et audiunt. Ita falsum est quod ille suspicatur a gentibus apostolos non potuisse avellere imaginum usum. Hoc enim nullibi comperit, ideo eadem facilitate contemnitur, qua dicitur. Immo oppositum superius luculenter ostendimus. De consilio suo valeat, quum quod ecclesia in quinque conciliis magno praehabito et maturo consilio, determinavit.“ 27 Zu dieser Schrift H. Smolinsky, „Reformation und Bildersturm. Hieronymus Emsers Schrift gegen Karlstadt über die Bilderverehrung“, in: Reformatio ecclesiae. Beiträge zu kirchlichen Reformbemühungen von der Alten Kirche bis zur Neuzeit. Festgabe für Erwin Iserloh, hrsg. von R. Bäumer, Paderborn, München 1980, S. 427–440, passim, und Schnitzler, Ikonoklasmus, S. 32–37.
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Zugeständnis an eine heidnische Umwelt. Mag Ricci auch guten Willens sein, seinem Drängen darf in keinem Fall nachgegeben werden28.
IV. Ein Streit um die „anima coelestis“ Riccis umfangreiche Synthesebemühungen, sein bisweilen lockerer Umgang mit der katholischen Dogmatik, seine Konfliktbereitschaft und nicht zuletzt sein vehementes Festhalten an der Berechtigung der jüdischen Weisheit trugen ihm eine weitere Kontroverse ein, die dem Streit um die „Statera“ voranging und das Publikum auf ihn vorbereitete. Recht signifikant zeigt die Auseinandersetzung um die Existenz der Astralseele, wie italienische Naturphilosophie und transalpiner Nominalismus miteinander kollidieren konnten29. 1509 hatte Ricci als Ergebnis seiner kabbalistischen Überlegungen die Existenz einer anima coelestis für unabdingbar gehalten, und sie mit weiteren Argumenten verteidigt30. 1514 veröffentlichte Johannes Eck seinen „Chrysopassus“, der sich der Prädestinationslehre widmete, aber zugleich das große Spektrum häretischer Bewegungen anvisierte und unschädlich zu machen suchte. Zu den Irrlehren, die Eck nicht zuletzt in der arabischen
28 H. Emser, Das man der Heyligen Bilder yn den Kirchen nit abthon noch unehren soll und das sie yn der Schrifft nyndert verbotten seyn, Dresden 1522, fol. biiiiv f.: „Ja es hat auch Paulus Ricius bey disen unseren gezeyten in praefatis edictis suis Mosaicis ein rat gegeben. Dieweyl die alten Veter die bilder umb tzuneygung des starrenden Volkes die sie von altersher nur zu den bildern getragen, im anfang so bald mit eym gewalt nit haben mogen abschaffen, sonder inen in dem was nachgelassen. Wie den Juden die beschneydung und ander ceremonien ouch ein zeytlang nachgelassen worden. Und aber die Christen itzo im Glouben gefestigt weren, so solt man die bild, gleych wie die beschneydung ouch gar wiederomb abthon. Wölcher Rat von Riccio (demnach er getoufft und zu Christen worden ist) wol aus guter meynung geschehen seyn mag. Er ist aber der Kirchen in keyn Weg anzunehmen.“ Zur langen Tradition dieses Vorwurfs in ikonophilen und antijudaistischen Traktaten Schnitzler, Ikonoklasmus, S. 114–125. 29 Eine kurze Erörterung der Kontroverse zwischen Ricci und Johannes Eck um die Existenz einer anima coelestis geben Wiedemann, Dr. Johann Eck, S. 335–340 und J. Schlecht, „Dr. Johann Ecks Anfänge“, in: Historisches Jahrbuch der Görresgesellschaft 36 (1915), S. 1–36, bes. S. 17–20. Zur ausgreifenden philosophischen Diskussion, die dieser Frage im Mittelalter und der Renaissance voranging z. B. R. C. Dales, “The De-Animation of the Heavens in the Middle Ages”, in: Journal of the History of Ideas 41 (1980), S. 531–550, passim; S. Donati, „La dottrina di Egidio Romano sulla materia dei corpi celesti. Discussioni sulla natura dei corpi celesti alla fine del tredicesimo secolo“, in: Medioevo 12 (1986), S. 229–280, passim oder P. Zambelli, The Speculum Astronomiae and its Enigma. Astrology, Theology and Science in Albertus Magnus and his Contemporaries, Dordrecht 1992, S. 75–94. 30 In Cabalistarum eruditionem Isagoge, Conclusio trigesimasexta, fol. 22r f.
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und jüdischen Philosophie ausfindig machte, zählte auch die Behauptung einer dritten gnadenfähigen Spezies, einer stellaren Seele. Als Vertreter einer solchen Position gehörte daher auch Ricci zu den Häretikern31. Ricci wollte dieses Verdikt nicht hinnehmen. 1515 kam es in Ingolstadt im Beisein des Kardinals Matthias Gurk zu einer offenen Disputation, in der beide Kontrahenten aufeinandertrafen32. Die Begegnung endete ohne konkretes Ergebnis und beide erklärten sich zum Sieger. Die zentrale Frage, ob die Bewegung der Sphären in äquivoker Form oder doch in einer analogen Weise Belebtheit genannt werden konnte, blieb ungeklärt. Vier Jahre später, 1519, veröffentlichte Ricci ein umfangreiches „Compendium de anima coelesti“, das ihm nachträglich die Lorbeeren des Streitgespräches sichern sollte. Mit einer Batterie von einschlägigen Kirchenväterzitaten und scholastischen Belegen versucht Ricci, die für ihn wesentlichen Thesen zu unterfüttern. Auch wenn die stellare Seele kein Glaubensinhalt ist, lege die Heilige Schrift ihre Existenz nahe. Die Vernunft und Philosophie erfordern sie ohne Widerspruch33. Neben der konventionellen Masse von Beweismaterial greift Ricci als Hilfsmittel der Exegese zurück auf die sapientia iudaica und auf kabbalistische Texte, die ihm vertraut waren. Die syzigische Weltstruktur der Kabbalah, so Ricci, spreche für ein weibliches Gegenstück des Intellektes, eine anima coelestis34. Johannes Ecks Antwort
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J. Eck, Chrysopassus praedestinationis, Augsburg 1514, fol. biiv und fol. Bv–Biiv. Zu dieser Passage auch kurz J. Greving, Johann Eck als junger Gelehrter. Eine literarund dogmengeschichtliche Untersuchung über seinen „Chrysopassus praedestinationis“ aus dem Jahre 1514, Münster 1906, S. 62–64. 32 Zur Praxis der in diesen Jahren wiederholt von Eck ausgetragenen öffentlichen Disputationen in Ingolstadt und ihrem Ablauf W. Kausch, Geschichte der Theologischen Fakultät Ingolstadt im 15. und 16. Jahrhundert, Berlin 1977, S. 25–30. 33 Paulii Ricii de anima coeli compendium, Augsburg 1519, fol. aiir f. 34 De anima coeli compendium, fol. biiv f.: „Exprimit igitur Propheta non quidem coeli militiam, non Lunam vel Iunonem, non regem rectoremque, sed foeminea appellatione reginam, quo coeli animam designet, quod sola haec ipsa in universa archetypa machina foeminae habitudinem refert, quae utique potiorem idolatriae occasionem praebuit, quemadmodum latius octavo de civitate Dei Augustinus [Augustinus, De civitate Dei, hrsg. von B. Dombart und A. Kalb [Opera 14, 2, CCSL 48] Turnhoult 1955, VIII, 5, S. 221 f.] disseruit. Ex eo enim quod Lunam, Solem ceteraque coeli sidera rationali anima animata cognoverint illorum, imploranda suffragia eisque latriae cultum adhibendum instituerunt. Si enim in Hebraico exemplari haec Heremiae verba attendas, invenies quod dictio Regina uno modo in contextu literae scribitur enim Malchas, quod reginam sonat, in margine autem legitur Meleches, quod opificium seu artem ostendit.“ Als Quelle der „Himmelskönigin“ Riccis vielleicht – als eine der wesentlichen kabbalistischen Autoritäten Riccis – das Sefer ha-Ma’arekhet ha-Elohut, Mantua 1558, c. 9, fol. 126a.
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erschien wenige Monate später in Gestalt der „Amica responsio de anima coeli“. Mit gelegentlicher Ironie und starken Zweifeln an der theologischen Kompetenz Riccis läßt Eck keines der Argumente Riccis gelten und beharrt auf der äquivokativen Bedeutung des Belebtheitsprädikates35. Eine weitere Schrift Riccis, die „Apologetica ad Eckii responsa narratio“, nahm den Faden wieder auf. Argumentativ ohne Fortschritte sieht sich Ricci nun auch persönlich und auf dem Felde seiner Überzeugungen angegriffen. Ricci kehrte noch einmal zur Kritik des „Chrysopassus“ zurück. Warum stellt Eck die jüdische und arabische Weisheit in Frage? Waren nicht Petrus und Paulus am Anfang jüdischen Glaubens, war nicht auch Christus selbst in seinem Ursprung Jude36? Abgesehen davon könne an der Richtigkeit seiner Position kein Zweifel bestehen, und abermals läßt Ricci seine Argumente Revue passieren. Die erneute Antwortschrift Ecks, die „Defensio contra invectiones Ritianas“ fällt in ihrem Ton erheblich schärfer aus und nimmt direkt auf das Konvertitentum Riccis Bezug. Ricci, so Eck, laufe Gefahr, sich in die Reihe zeitgenössischer Häretiker, wie Luther und Bodenstein einzuordnen, die sich ebenfalls gegen die Wahrheit der katholischen Theologie richteten. Jüdische und arabische sapientia habe in sich ohne die Glaubenswahrheit keinen Wert, ja verleite nur zum Aberglauben. Petrus und Paulus haben, so Eck, ihrem früheren Irrtum abgeschworen. Vor Konvertiten solle man sich gleichwohl in Acht nehmen und ihnen mit Mißtrauen gegenübertreten37.
35 J. Eck, Ad Pauli Ricii Israelitae de anima coeli examina Ioan. Eckii artium, Iuris et Theologiae Doctoris amica responsio, Augsburg 1519, fol. Av: „At quia vir est bonus ac honestus et non vulgaris eruditionis, sive in arena sua medica aut in philosophia, etsi vis etiam in Theologia, versetur nolui calamum contra eum exasperare verum salva amicitia liceat nobis hoc loco de anima coeli dissentire, cum illam opinionem ita morditus teneat, quod quam recte facit bonus et eruditus vir diiudicet.“ 36 Pauli Ricii apologetica ad Eckiana responsa narratio, Augsburg 1519, fol. aiiiiv: „Nimium insuper aut considerate aut callide dubitat, ne in stomachum provocet auditorem, quod lotos (ut ipse loquitur) Iudaeos cum reliqua ethnicorum turba in medium proferat, quasi etiam Christi mundi restauratoris, qui Iudaeum Ioannis baptismate lotum esse exhibuerit, in stomachum provocet authoritas, in stomachum provocet lota Iudaea sacratissima deipeta virgo alma, in stomachum provocet lotus Iudaeus Ioannes, lotus Iudaeus Petrus, lotus Iudaeus Paulus, in stomachum denique provocent loti Iudaei praecipui orthodoxae fidei architecti et fulgentissima Christiani orbis lumine nec ipse (ut plerique consuetudinis tracti capistro magis quam intelligentia et re ipsa christiani) talem me exhibui vitae aut morum immunditia, Christianum, ut cum reliqua ethnicorum turba in stomachum provocet auditorem Ritii appellatio. Testis sit ille, qui cogitationum est discretor deus et hi quibus et nunc et a primis (ut aiunt) unguiculis cognita est mea conversatio, nec talia aut verbo aut operis exemplo docui, quin in orthodoxae et Christianae veritatis laudem roburque convertantur.“
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V. Versöhnung der Konfessionen im Gesetz: Die „Statera prudentum“ Ecks latenter Antijudaismus, der sich in späteren Schriften völlig ungezügelt den Weg bahnte, und die harsche Kritik an Riccis theologischen Einlassungen schmälerten das Vertrauen Riccis in seine eigenen Fähigkeiten als Theologe nicht38. Ricci war gewillt, die Erfahrungen, die er im Umgang mit jüdisch-christlicher Apologetik gemacht hatte, auf den interkonfessionellen Dialog zu übertragen und glaubte an die Berechtigung seines systematischen Zugriffes. Als 1530 der Augsburger Reichstag ohne eine konkrete Einigung sein Ende fand, und Augsburger Bekenntnis, ihre „Confutatio“ und die „Apologie“ Melanchthons sich unversöhnlich gegenüberstanden, sah er seine Stunde gekommen. 1532 erscheint die „Statera prudentum“, die laut Selbstaussage als Stimme der Vernunft zwischen den Parteien vermitteln wollte39. Nach Art einer Beweislehre formuliert sie wie im „Sal foederis“ eine Kollektion basaler Sätze, auf die sich die Konfessionen, glaubte Ricci, als kleinstem gemeinsamen Nenner einigen sollten. Um die protestan37 J. Eck, Ad generosum D. Maximilianum ex baronibus Sevenbergiis inclitissimi Caroli V. Romanorum Hispaniarum regis Oratorem defensio adversus invectiones Ritianas, Ingolstadt 1519, fol. Aiiiiv: „Sed stomachantur super loto iudeo, cum et Petrus lotus fuerit iudaeus. Sed audi praestabilis Maximiliane, tu non ignoras commune iudicium super iudaeis modo conversis, ut simulachra Coloniae pro foribus S. Andreae indicant, aliqui fateor honeste ac pie perseverant, plures etiam ad vomitum revertuntur. Cum autem D. Ritius eo tempore, apud nostrates esset ignotior, non immerito verebar, eos stomachaturos super peregrina eius opinatione. Diversiora sunt exempla de sanctis in primitiva ecclesia ad fidem conversis. Petris enim iudayismus non fuit sibi error et damnatio, uti modo existit infeliciter in eo decedentibus, levius enim in antiquos recidunt errores, qui Christi et Christiani nominis odium tot seculis ex maternis uberibus et patriis osculis suxerunt, quam hi qui primo conversi sunt, iudaico odio nondum adeo obfirmato et secundum duriciam cordis eorum obstinato, quamvis de fide Ritii nichil addubitem, neque aliam causam arbitror contradictionis nisi quia nolit cedere ingenio.“ 38 Zu nennen ist hier vor allem die gegen Osiander gerichtete und schon im Titel jeden vermeintlichen Zweifel ausräumende Kampfschrift des J. Eck, Ains Judenbüechleins Verlegung: Darin ain Christ gantzer Christenhait zu Schmach will es geschehe den Juden Unrecht in Bezichtigung der Christen Kindermordt, Ingolstadt 1541. In Erinnerung an Ricci sind in diesem Werk vielleicht die Invektive gegen das Studium des Hebräischen und der jüdischen Schriften (fol. Pvv–Qiiv) und die Anklage der jüdischen Ärzte (fol. aiivf.) verfaßt worden. Zu diesem Werk siehe R. Bäumer, „Die Juden im Urteil von Johannes Eck und Martin Luther“, in: Münchener Theologische Zeitschrift 34 (1983), S. 253–278, bes. S. 264–278 und B. Hägler, Die Christen und die Judenfrage am Beispiel der Schriften Osianders und Ecks zum Ritualmordvorwurf, Erlangen 1992, S. 64– 132. 39 Statera prudentum. Ipse est pax nostra, qui fecit utraque unum interficiens inimicitias per crucem, Regensburg 1532, fol. Aiir f.
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tische Position zu umreißen, bedient sich Ricci der „Loci communes“ Melanchthons und ihrer Rechtfertigung; um einen Spiegel der katholischen Meinung zu erhalten, greift er auf das „Enchiridion“ Ecks zurück, auf die zeitgenössischen Schriften des Johannes Cochläus, Kaspar Schatzgeyers, Hieronymus Emsers und anderer. Seine Leitidee ist uns bereits geläufig: Das nur einmal auf dem Sinai proklamierte Gesetz hat eine historisch variable Reichweite. Einzelnen hält es zahlreiche konkrete, situative und körpergebundene Vorschriften bereit, die der Reinigung zuträglich sind, andere benötigen die Weisungen des Gesetzes nicht mehr, erschauen die Wahrheit des Exemplars in spiritueller Vollkommenheit und sind auf die zahlreichen Ritualvorschriften nicht mehr angewiesen. Tatsächlich glaubt Ricci katholisches und protestantisches Bekenntnis als unterschiedliche Episoden einer Entwicklung des Gesetzes deuten zu können. Beide Parteien, beide Zugriffe auf die Offenbarung, erhalten je nach Disposition des Rezipienten ihre Berechtigung. In einem mitunter kühnen Ansatz und unter lockerem Umgang mit theologischen Autoritäten sortiert Ricci zentrale Probleme der Kontroversschriften neu. Das Verhältnis von Glauben und Werkgerechtigkeit, der Reichweite der Sakramente wird ebenso auf dieser Grundlage ausgelegt wie die Gewichtung kirchlicher Autorität und Schriftinstanz. Nur Aspekte dieser Synthesepraxis sollten hier im weiteren vor Augen geführt werden. Die Auflagen des Gesetzes erarbeiten die Reinheit des Körpers, ohne die eine unbescholtene Seele nicht denkbar ist. Eine reine Seele bedarf der Rituale nicht mehr. Sie erfüllt das Gesetz nicht mehr zweckgebunden, sondern wie es Maimonides forderte, in der Anerkennung Gottes aus Liebe. Während die Apostel selbst ohne Drang aus dem Spiritus Christi lebten, bedurfte ihre Umwelt der Idole, um sich in der Furcht zu Gott leiten zu lassen. 1500 Jahre später, so Ricci, hat das Gros der katholischen Rituale, das dieser Intention entsprungen ist, seine Schuldigkeit getan. Es fehlt ihnen die Berechtigung und es ist an der Zeit, das Gesetz zu lockern und sie abzuschaffen40.
40 Statera prudentum (T. 6), fol. Bviir: „Si igitur de immoderamine quorundam onerum Augustinus lamentatur, quibus tunc cervices premebant fidelium, eoque divina misericordia vere pietatis religionem paucissimis immo et manifestissimis sacramentis liberam esse voluit, a cuius temporibus ad hunc usque diem nonnulli ultra centum et millesimum effluxerunt iam anni, quot puras medio tempore nova ieiuniorum festorumque dierum, psalmodiarum onera, quot ritus et novi ceremoniarum usus sanciti et perplura licita olim connubia, tamquam prophana et sacrilegia vetita et explosa sunt? Iudicet ille qui Apostolorum primorumque sanctorum gesta et scriptorum monumenta evoluerit.
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Für Ricci setzt das Christusereignis keine substantielle Grenze. Christus verdichtete das Gesetz, ohne das mosaische abzulösen. Vor diesem Hintergrund ist für Ricci die zunächst unversöhnliche Dichotomie von Werkgerechtigkeit und Rechtfertigung im Glauben historisch und epistemologisch begründet41. Die vom Körper noch determinierte Seele bedarf der opera meritoria, um zu Gott zu gelangen, und nähert sich schrittweise dem Glauben. Ist die Materialdisposition der Werke, die aus der rechtfertigenden Furcht vollbracht werden, zu ihrer Vollendung gelangt, so Ricci, stellt sich im Menschen der Glaube ein. Erst die freie Seele wird im Glauben allein gerechtfertigt42. Eine ähnliche Antinomie, die den mentalen und historischen Fortschritt betont, kennzeichnet Riccis Interpretation der Sakramente. Auf katholischer Seite stand hier die Proklamation einer autonom wirksamen Gnade einer protestantischen Position gegenüber, die wie Melanchthon auf dem bloßen Zeichencharakter des Sakramentes beharrte43. Auch wenn Ricci die verborgene energeia des Sakramentes billigt, besitzen Sakramente für ihn zunächst eine Zeichenfunktion, die im Alten wie Neuen Bund auf die Kraft des Gesetzes weist. Kein SakraVerum equidem non infitior et certus sum, is, qui cuncta eiuscemodi instituta pio et sincero corde observat, quod iure sanctorum beatissimorumque Catalogo adscribi mereatur. Sed cum ex tot centenis Myriadibus vix unum talium observatorem dabis ceteros cunctos, qui (prout solet multitudo) magis carnis quam spiritus prudentie obtemperant, ex tanto institutionum acervo prevaricatores magis quam factores legum constituis.“ 41 Zur protestantischen Wertung von Glaube, Gesetz, Werk und Rechtfertigung z. B. Ph. Melanchthon, Loci communes 1521, lateinisch – deutsch, übersetzt von G. Pöhlmann, Gütersloh 19972, c. 6–7, bes. c. 6, S. 258–265, S. 272 f., c. 7, S. 298–301, S. 312–315, als Gegenposition J. Eck, Enchiridion locorum communium adversus Lutherum et alios hostes ecclesiae (1525–1543), hrsg. von P. Fränkel, Münster 1979, c. 5, p. I, S. 84–86, p. II, S. 92 f. 42 Statera prudentum (T. 7) fol. Cvrf.: „Et ideo minime ambigendum, quin fides absque externo mandatorum iustificet. Si igitur animus ille, qui fide et timore arripitur, illico evolet et de crasso hoc corpore migret, exquisitum et certum est animum illum in beatorum recipi coloniam. Si vero diutius ceco hoc carcere exulet, ubi perpetuo terrenarum rerum pulsatur turbine, cui resistere si velit, quatenus timoris spiritus in eo permaneat, modi omnibus mandatorum opus erit observantia, iuxta illud Jacobi: Qui etiam perspexerit in lege perfecte libertatis, et permanserit in ea, non auditor oblivisiosus, sed factor operis, is beatus in facto suo erit. Propterea et Christus Salvator, licet suos fideles inter amicos et non servos enumeret, nullam tamen absque mandatorum observantia pollicetur salutem. Si vis (inquit) ad vitam ingredi, serva mandata dei, mandata nosti: Non occides, non adulterabis.“ 43 Als Autoritäten der protestantischen Position z. B. Melanchthon, Loci communes, c. 8, bes. S. 322 f., S. 330 f., S. 334–337, auf katholischer Seite z. B. Eck, Enchiridion, c. 35, S. 367 f., oder J. Cochläus, De gratia sacramentorum liber unus adversus assertionem Martini Lutheri, Augsburg 1522, in: ders., Opuscula (Repr. Farnborough 1968), fol. 3r–5r, fol. 11r f., fol. 14r f., fol. 20r f. und öfter.
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ment rechtfertigt in sich, sehr wohl jedoch aus der Gewalt des Gesetzes. Ebenso wie Christus das Gesetz verdichtet hat, indem er den Dekalog als seine Summe betonte, verändert er die sakramentalen Signa, um ihre Repräsentationskraft zu verstärken44. Im Alten wie im Neuen Bund ist für Ricci die Intention der sakramentalen Handlung entscheidend. Feiert ein Jude das Pascha im Geist der Liebe, gelangt er ebenso in den Genuß sakramentaler Gnade wie ein Christ, der auf die Taufe vertraut oder die Eucharistie. Allein die Effizienz unterscheidet den Zeichenwert der alten und neuen Sakramente45. Riccis eigenwilliger Syntheseversuch scheiterte grandios im Sperrfeuer der Kontroverstheologie. Während Riccis Gewährsmann Melanchthon die „Statera“ keiner Reaktion würdigte, amüsierte sich Luther in seinen Tischgesprächen über den in seinen Augen überzogenen Rationalismus Riccis46. Die katholische Seite reagierte mit harscher Kritik, die vor allem judaisierende Tendenzen bemängelte. Zwei große Zensurgutachten, verfaßt von Johannes Eck und dem kaiserlichen Hofkaplan und Bischof von Wien Johannes Fabri, gingen der finalen Verurteilung Riccis voraus47. 44
Statera prudentum, fol. Giir: „Quemadmodum novum nuncupamus mandatum et cor novum novitate revelate intelligentie, sic vetus et interiturum censeri testamentum, vetustate et evanescentia pristine servitutis et timoris spiritus, quo obstricti erant precipue legis observantie. Sicut et novum probatur novo lumine gratie, veri atque eterni fidei testamenti, quod quidem minime excludit, immo perficit atque adimplet substantiam et opera veteris testamenti mandatorum. Minus quoque recte iudicat, qui sacramenta per salvatorem Christi instituta nova novitate essentie operis dixerit, cum et Baptismatis et fractionis mysterii perpetua quidem et vetustissima consuetudo fuerit. Est et modo universe synagoge Israel. Sed nihil prohibet nova appellari Sacramenta ex revelate fidei novitate, que carnalia et mortua mortiferaque mandatorum opera vivificat efficitque salutaria.“ 45 Statera prudentum, fol. Giir–Giiiv. 46 So heißt es 1532 Martin Luther, Tischreden (6 Bde.), Weimar 1912–21, Bd. 1, 205, S. 90: „Cum edidisset Paulus Ricius sub comitia Ratisponensia libellum quo producebatur Moses et Paulus conciliaturi sententias, quae de religione controvertuntur, eumque noster vidisset, inquit: Ein yeder ways das, wie man der welt radten sol, denn wir, die wirs doch so herztlich gern wollten und besser kondten denn sie. Sic fit in aliis facultatibus omnibus. Eyn yeder lest sich dunken, er konne es allein, ander leut konnen nichts.“ Das Übermaß an Vernunftgläubigkeit bemängelt Luther in Bezug auf die Statera im Jahre 1540, Bd. 4, 5015, S. 613–615. 47 Das Original der Zensur Ecks, die Rectificatio staterae et ponderum fallentium Paulii Ricii liegt in der Vaticana als Ottob. Lat. 1910, fol. 40v–83v, beschrieben von P. O. Kristeller, Iter Italicum. A Finding List of uncatalogued or incompletly catalogued Mansuscripts of the Renaissance in italian or other Libraries (6 Bde.), Leiden 1963–93, Bd. 2, 420a, eine unveränderte Abschrift liegt als Censura in Stateram prudentum Paulii Ritii in der Universitätsbibliothek in München, 2° Cod. MS. 125, fol. 331r–360v, beschrieben von G. Schott, Die Handschriften der Universitätsbibliothek München (3 Bde.), Wiesbaden 1977, Bd. 3, S. 199–201.
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Eck nutzte die Gelegenheit zu einer Generalabrechnung mit seinem Widersacher, und machte wiederholt darauf aufmerksam, daß es sich im Falle Riccis um einen Konvertiten handelte. Weder die Idee einer Concordia der Konfessionen, noch ihr Instrument, die Verpflichtung aller auf das Gesetz, das dem Glauben vorausging, konnte Eck gutheißen. Ricci, so Eck, ignoriere – wie in seinen früheren Schriften – das Novum der Heilsgeschichte, das neue Gesetz des Evangeliums48. Was Ricci in Ecks Augen betrieb, war pures Ebionitentum. Angesichts der realen Zweiheit der Gesetze und der evacuatio, der Entwertung des Alten Bundes, sei die Idee eines progressiven Gesetzes, das womöglich eine Reformulierung in der eigenen Zeit erlaubte, reine Häresie. Das Gesetz konnte keine erzieherische Funktion mehr innehaben, geschweige denn eine propädeutische und reinigende. Ricci mache sich, so sagt es Eck ausdrücklich, zum Gefolgsmann des Maimonides49. Auch im Fall der Sakramente sieht Eck einen Versuch am Werk, erneut das mosaische Gesetz für verbindlich zu erklären. Das jüdische Ritualwesen sei eine superstitio judaica, bloßer Aberglauben ohne Wert, während die jüdischen Gesetze zur Zeit des alten Bundes zumindest noch typologische Funktion besessen hätten. Riccis nivellierende Interpretation der Eucharistie kann es, hält Eck fest, in ihrer Dreistigkeit ohne Schwierigkeiten mit Luther und Zwingli aufnehmen und entspricht in ihrem relativierenden Charakter der Intention seiner früheren
48
Censura theorematis 20., vigesimo primo, Rom Ottob. Lat. 1910, fol. 72r /München 2° Cod. MS. 125, fol. 353r: „Recolligit Ritius, nullam esse aliam ad deo hominibus datam legem preter legem Mosis, que ubi fidei novitate et libertatis spiritu absque infirmorum scandalo servanda est, quod modum obligandi apostolus legitimum noverat. Bona ingenii est lex, si quis eam legitime servaverit. Et spiritalis et sancta et iustificans indubie censenda erat. Recurrit hic ad principale intentum, quod quia magna iniuria legis Evangelii hoc facit, huius distuli fortiorem eius improbationem ultra eam, quam ab initio huius theorematis adduximus. Principio autem moneo lectorem, iam a multis annis hos Ritii errores iam cognitos fuisse, cum animam coeli Ritianam expugnarem, nam in libro Sal foederis inquit, novum testamentum non vere dicitum lex, sed fidei mentibus dumtaxat inscriptum.“ 49 Censura theorematis 20., octavo, Rom Ottob. Lat. 1910, fol. 60v /München 2° MS. Cod. 125, fol. 344v: „De carnibus et cibis in lege prohibitis decrevit Ritius in natura funditas rationes, quia animalia immunda sunt mali nutrimenti, sic autem foedum porcus obtundat. Remittit se ad divi Aquinatis scripta. Hanc notulam non iudicassem obelisco dignam, nisi vererer Ritium per hec tacite voluisse evertere catholicos doctores, qui animalia existimant reputata immunda, potius secundum significationes, quam secundum substantiam, quod omnis creatura dei bona, et nihil reiicienda quam cum gratia ex actione percipiens. Ideo etiam hoc Ritii, sicut in se est falsissima, reiiciamus. Nam primo haec non est sententia S. Thomae, sed Rabini Moysis, Thomas enim porcum non dicit in se immundum, nisi quia vescatur nutrimento immundo.“
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Werke50. Eck fällt abschließend ein vernichtendes Urteil: Ricci hat die Religion seiner Väter nicht verlassen und redet einer ecclesia Judaeorum das Wort. Zur treibenden Kraft der weiteren Auseinandersetzung um die „Statera prudentum“ wurde der Wiener Bischof Johannes Fabri, der zugleich hoffte, seinen Kontrahenten bei Hof, den kaiserlichen Leibarzt Ricci, ausstechen zu können51. Fabri wandte sich an die päpstlichen Legaten Girolamo Aleandro und Lorenzo Campeggio, die Ricci nach einer kurzen Prüfung seiner Thesen zum Widerruf nötigten52. Auf dem Reichstag zu Regensburg im Jahre 1532 war Ricci nach der öffentlichen Examinierung seiner Thesen durch Johannes Cochläus abermals genötigt, von seinem Werk Abstand zu nehmen. Die Kritik des Cochläus, die sich scheinbar kaum von der Fabris und Ecks unterschied, bemängelte die Zugeständnisse an die Thesen Melanchthons und erneut eine weitreichende Judaisierung des Christentums. Auch Cochläus unterstrich das Konvertitentum Riccis53. Der nun so oft Gescholtene 50 Censura theorematis 26., Tertio, Rom Ottob. Lat. fol. 82r /München 2° Cod. MS. 125, fol. 359v: „Eodem utique parte ait Ritius de communionis fractionisque sacramento iudicandum, quod quantum ad operis essentiam nequaquam credenda est nova sacramenti institutio, cum vetustissimus usus fuerit, ut Talmudici libri dicunt, et hodie Judeorum multitudo, quoties ad mensam recumbunt pater familias, panem benedicit, benedicendo frangit et cuilibet discumbentium portiunculas distribuit. Simili modo de calice. Quid hic audio ab hominem inquit se christianum profitentem, quod non est nova institutio sacramenti eucharistiae, quae ad operis essentiam, cum inaudito et ineffabili modo Christus corpus suum et sanguinem sub speciebus panis et vini transsubstantiatione nobis exhibuit. At forsitan non tradit Ritius cum Luteranis transsubstantiationem illam panis et vini contra sacrum consilium, contra Ambrosium, Gregorium, Augustinum, Cyprianum in sermone de cena domini, Gregorium Nicenum et nostram ecclesiam catholicam. At quod deterius esset cum Zwinglianis sicut alterius Berengarius negat corporis domini et sanguinis Jesu Christi, quod nulla sit igitur novitatis in operis essentia. Anathema sit libro flammis digno, qui buccelsas Judaeorum et fractionem eorum superstitiosam sacratissimo eucharistiae sacramento equiparat.“ 51 Zur Kontroverse um die „Statera“ und der Auseinandersetzung zwischen Ricci und Johannes Fabri kurz L. Helbling, Dr. Johann Fabri. Generalvikar von Konstanz und Bischof von Wien 1478–1541. Beiträge zu seiner Lebensgeschichte, Münster 1941, S. 69 f.; C. Radey, Dr. Johann Fabri. Bischof von Wien (1530–1541). Wegbereiter der katholischen Reform, Rat König Ferdinands, Diss. masch. (2 Bde.), Wien 1976, Bd. 2, S. 306–309, S. 486 f.; Wiedemann, Dr. Johann Eck, S. 340 f. 52 Hierzu der begleitende Briefwechsel innerhalb der Nuntiaturberichte aus Deutschland 1533–1559 nebst ergänzenden Aktenstücken. 2. Ergänzungsband 1532. Legation Lorenzo Campeggios 1532 und Nuntiatur Girolamo Aleandros 1532, bearbeitet von G. Müller, Tübingen 1969, 148c, Aleander an Sanga, S. 84–88, 152a, Aleander an Sanga, S. 105, 152b, Aleander an Sanga, S. 111, 156, Aleander an Sanga, S. 143, 158a, Aleander an Sanga, S, 155, 158c, Aleander an Sanga, S. 163, 159, Aleander an Sanga, S. 169. 53 Nachträglich schreibt J. Cochläus, Commentaria de actis et scriptis Martini Lutheri, Mainz 1549 (Repr. Farnborough 1968), S. 233: „Ad quos [den päpstlichen Lega-
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versuchte seine Ehre zu retten und sandte aus dem Zensurgutachten Fabris eine Zusammenstellung vermeintlich häretischer Thesen an den bolognesischen Theologen Tomasso de Badia, der Riccis Absicht zunächst unterstützte, um sich aber später auf die Seite Fabris zu schlagen54. Noch weitere Hofintrigen schlossen sich an, in denen sich Fabri des conversus und judaizans zu entledigen suchte55. Auch wenn Ricci schließlich im Jahre 1533 durch päpstlichen Auftrag Lehrverbot erhielt, konnte noch 1541 in der „Agricultura coelestis“ ein Zusammenschnitt seiner Werke erscheinen56. Die kaiserliche Hand blieb ihm bis zum Ende treu. Das einmal eingeleitete kirchliche Mißtrauen endete nach seinem Tod freilich wenige Jahre später in der endgültigen Indizierung aller seiner Schriften57. Das Klima der Gegenreformation konnte die liberale, ja aufklärerische Haltung Riccis nicht mehr tolerieren.
ten] delatus fuit liber quidam hominis eruditi, qui Lutheranis cum Catholicis concordare in doctrina nitebatur. Verum dum abrogaret multa Catholicis, iamdiu observata, repertus est in multus iudaizare. Liber itaque eius iussu Cardinalis legati et Aleandri Nuncii Apostolici a quibusdam Theologis Hispanis (quibus additus erat Cochleus) examinatus, eorum iudicio reiectus fuit velut iudaizans. Quandoquidem etiam autor eius ex Iudaismo ad Christi religionem conversus fuerat.“ Schon vorher, im Oktober 1532, ein Brief des Cochläus an Lorenz von Truchseß, abgedruckt in J. B. Riederer, Nachrichten zur Kirchen-, Gelehrten- und Bücher-Geschichte: aus gedruckten und ungedruckten Quellen gesammelt, Altdorf 1764 (2 Bde.), Bd. 1, S. 343 f.: „Aderant cum illo [dem Kaiser] tres alii Theologi Hispani, cum quibus eram et ego deputatus in examinatione et condemnatione libelli Pauli Ritii. Novi autem, quam impatientes laborum fuerint aliqui ex illis. Nescio igitur, quid hic cogitem, timeo vehementer, a diabolo inmitti tales cogitationes nostris Principibus, ne quid contra Apologiam (quae latine et Teuthonice maxime grassatur et nocet) edatur.“ Hierzu auch kurz M. Spahn, Johannes Cochläus. Ein Lebensbild aus der Zeit aus der Kirchenspaltung, Berlin 1898, S. 169. 54 Während das Zensurgutachten Johannes Fabris verloren gegangen ist, existiert das für Tomasso de Badia geschriebene Gegengutachten Riccis in der Vaticana, Cod. Vat. Lat. 3918, fol. 69r–72v, beschrieben von Kristeller, Iter Italicum, Bd. 2, 324a. 55 In einem Schreiben an den neuen Legaten Pier Paolo Vergerio, abgedruckt bei A. Horawitz, „Johannes Faber und Petrus Paulus Vergerius“, in: Vierteljahrsschrift für Kultur und Literatur der Renaissance 2 (1886/87), S. 244–253, bes. S. 245 f. und S. 247, kritisiert Fabri die in seinen Augen unerträgliche Hybris des Konvertiten und judaizans Riccis und erbittet ein unverzügliches Eingreifen. In einem weiteren Brief, ebenfalls abgedruckt bei Horawitz, „Johannes Faber“, S. 245, an den neuen Legaten Pier Paolo Vergerio klagt Fabri, Ricci versuche das Gerücht zuverbreiten, er, Fabri, habe den Legaten mit einem Messer angegriffen. Die genauen Vorgänge Hofe bleiben in ihren letzten Details wohl ungeklärt. 56 Dazu Nuntiaturberichte aus Deutschland 1533–1559. Erster Band. Nuntiaturen des Vergerio 1533–1536, bearb. von W. Friedensburg, Gotha 1892, 53, Carnesecchi an Vergerio, S. 161 f. 57 Die Indices librorum prohibitorum des 16. Jahrhunderts, hrsg. von F. H. Reusch, Tübingen 1886, S. 275.
DIE DRUCKE EINZELNER LATEINISCHER ÜBERSETZUNGEN VON WERKEN DES MAIMONIDES IM 16. JAHRHUNDERT ALS BEITRAG ZUR ENTSTEHUNG DER MODERNEN HEBRAISTIK: AGOSTINO GIUSTINIANI UND SEBASTIAN MÜNSTER Görge K. Hasselhoff*
1. Einleitende Bemerkungen Sebastian Münster „hat mer in rabbinis gelesen denn ich. Wenn ich sein kunst hett, so wolt ich den Juden vil bas bey kommen auß irn aigen schrifften.“ So berichtet Georg Rörer aus einer undatierten Tischrede ein Diktum Martin Luthers.1 In einer anderen, von Kaspar Heydenreich aufgezeichneten Tischrede aus dem Winter 1242/43 heißt es: „Munster gefelt mir wol, aber ich wolt, das er hie wer gewest und hett mit vns hie conferiret: es solte im viel helffen. Denn er giebet den rabinis noch zu vil nach, wie wol er den Juden auch feind ist, abr er nimbt sichs so hefftig nicht an als ich.“2 Agostino Giustiniani dagegen wird von Luther an keiner Stelle namentlich genannt, vielleicht weil er sowohl als Dominikaner als auch als Humanist zur bekämpften Gegenseite gehörte und zudem für Luther als theologisch unbedeutend gegolten hätte, hätte er ihn gekannt. Moses Maimonides schließlich wird von Luther nur einmal nach einem Zitat bei Paulus de Santa Maria (Pablo de Burgos) angeführt.3 Anders als der wohl berühmteste Einwohner dieser Stadt es glauben läßt, gibt es Verbindendes zwischen Münster, seinem älteren Zeitgenossen Giustiniani und Moses Maimonides.4 Dem *
DerVortragstext wurde weitgehend beibehalten, die wichtigste Fachliteratur in den Anmerkungen ergänzt. Die Forschungen wurden ermöglicht durch die DFG und den SFB »Judentum – Christentum« an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. 1 M. Luther, Tischreden, Weimarer Ausgabe (WA), Bd. 5, Nr. 5975, S. 414. 2 Luther, Tischreden, Bd. 5, Nr. 5533, S. 218. 3 Im Millenarius Sextus von 1542/43, WA 53, S. 159: Messias Mosi Egyptij. 4 Darauf hatte schon H. Bobzin, „Die Columbusvita im ,Psalterium Octaplum‘ des Agostino Giustiniani (Genua 1516)“, in: Columbus zwischen zwei Welten: Historische
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görge k. hasselhoff
werde ich im Folgenden in vier Schritten nachgehen. Zunächst gebe ich jeweils eine biografische Einführung zu den beiden humanistischen Hebraisten. Anschließend gehe ich auf ihre jeweiligen Maimonidesausgaben ein, die zwischen 1520 und 1530 erschienen.
2.1 Agostino Giustiniani – Leben und Werk Ungefähr im Jahr 1470 wurde Agostino als Pantaleone in die wohlhabende Genueser Familie der Giustiniani geboren.5 Nach einem circa dreijährigen Aufenthalt in Valencia trat er im Alter von etwa achtzehn Jahren am 26. April 1487 in Pavia in den Konvent San Apollinare des Dominikanerordens ein und nahm den Namen Augustin, Agostino, an.6 Was genau er – und wo – bis zur ersten urkundlichen Erwähnung als Sentenzen-Lektor an der Universität Bologna am 20. Mai 1512 tat, ist nicht eindeutig zu ermitteln. Antoine-Marie Graziani, um nur ein Beispiel anzuführen, stützt sich auf einen „autobiografischen“ Bericht Giustinianis in den kurz vor seinem Tod abgefaßten Annales Genuensis und versetzt ihn für achtzehn Jahre (1488–1506) in ein nicht näher bezeichnetes lombardisches Kloster, wahrscheinlich seinen Pavianer Mutterkonvent, wo er sich dem Studium des Griechischen wie der orientalischen Sprachen widmete. Das klingt plausibel, allerdings entsteht eine Lücke von sechs Jahren, die Graziani nicht füllen kann.7 Ist der
und literarische Wertungen aus fünf Jahrhunderten (Lateinamerika-Studien 30, Bd. 1), hrsg. von T. Heydenreich, Frankfurt a. M. 1992, S. 97–106, auf S. 97 hingewiesen. 5 Zu seiner Biographie vgl. F. Secret, «Les dominicains et la Kabbale chre´tienne a` la Renaissance», in: Archivum Fratrum Praedicatorum 27 (1957), S. 319–336, hier S. 321–324; G. G. Musso, „Agostino Giustiniani: l’uomo e l’opera“, in: Agostino Giustiniani annalista genovese ed i suoi tempi: Atti del Convegno di studi Genova 28–31 maggio 1982, Genua 1984, S. 11–21; A. M. Salone, „La fortuna editoriale di mons. Agostino Giustiniani e della sua opera“, in: ebd., S. 135–146; G. N. Zazzu, „Ritratto di Agostino Giustiniani“, in: Studi Genuesi 4 (1986), S. 45–56; A. Cevolotto, Agostino Giustiniani: Un umanista tra Bibbia e Cabala, Genua 1992. 6 Daß er das gegen den Widerstand seiner Familie tat, wie er legendarisch in seiner „Autobiographie“ berichtet und wie es beispielsweise F. Secret, Les Kabbalistes Chre´tiens de la Renaissance: Nouvelle e´dition mise a` jours et augmente´e, Mailand 1985, S. 99; H. Bobzin, „Agostino Giustiniani (1470–1536) und seine Bedeutung für die Geschichte der Arabistik“, in: XXIV. Deutscher Orientalistentag vom 26. bis 30. September 1988 in Köln: Ausgewählte Vorträge (Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft. Supplement 8), hrsg. von W. Diem u. A. Falaturi, Stuttgart 1990, S. 131–139, hier S. 133 wiederholen, ist angesichts der wirtschaftlichen und kirchenpolitischen Bedeutung des Ordens wohl eher als eine Imitatio des und Verneigung vor Thomas de Aquino zu verstehen.
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Wissenschaftler Graziani, wie viele andere, dem Humanisten auf den Leim gegangen, der sich nicht nur hier bewußt zweideutig ausdrückt? (So ist der angebliche Konflikt mit den Eltern wegen seines Klostereintritt wohl eher als eine Reminiszenz an den heiligen Thomas von Aquino als der Wahrheit entsprechend – war doch der Dominikanerorden am Ende des 15. und am Anfang des 16. Jahrhunderts alles andere als ein schlecht angesehener Bettelorden!) Mir scheint es eher so zu sein, daß Giustiniani sich zumindest zeitweilig zum Ordensstudium in Bologna aufgehalten hat. Dafür spricht, daß sowohl der Bologneser Dominikanerkonvent als auch die Universität gute Möglichkeiten zum Studium der arabischen Sprache boten.8 Auch bleibt bei einem angenommenen ausschließlichen Aufenthalt im Pavianer Kloster offen, wie der Kontakt mit dem etwa gleichaltrigen Pico della Mirandola zustande kam – sollte dieser ausschließlich literarischer oder nicht auch persönlicher Art gewesen sein? Im Jahr 1512, also erst relativ spät, wird Agostino als über Vierzigjähriger Sentenziar.9 Aus dieser Zeit stammen seine beiden ersten Veröffentlichungen, zum einen ein von ihm herausgegebenes Werk des Neuplatonikers Eneas von Gaza in der Übertragung von Ambrogio Traversari (Ambrosius Camaldulensi).10 Dieser Druck, der „Anno M. D.
7 Vgl. A.-M. Graziani, „Vie de Monseigneur Agostino Giustiniani“, in: Agostino Giustiniani, Description de la Corse: pre´face, notes et traduction de A.-M. Graziani, Ajaccio 1993, S. IX–XXXIII, hier S. XVI–XVII. 8 Erinnert sei hier nur daran, daß die Bibliothek des Dominikanerkonvents in Bologna eine arabische Bibelausgabe besaß, vgl. A. d’Amato, „Il patrimonio librario“, in: V. Alce u. A. d’Amato, La biblioteca di s. Domenico in Bologna (Collana di Monografie delle Biblioteche d’Italia 5), Florenz 1961, S. 71–138, hier S. 91 (ebd. zwischen S. 80 und S. 81 findet sich auch eine Abbildung einer Seite der Handschrift). – Ähnlich argumentiert auch Cevolotto, Agostino Giustiniani, S. 20 f, der zudem mir nicht zugängliche Archivalien aus Bologna zitiert, denen zufolge Giustiniani am 20. September 1494 in Bologna zum Priester geweiht wurde, wo er ab dem 18. Juli 1495 als Student geführt wurde. Am 1. Juni 1503 sei er schließlich vom Generalkapitel in Piacenza für das Studienjahr 1503/04 zum „Magister studiorum“ in Bologna nominiert worden; insbesondere die letzte Nennung läßt sich jedoch kaum mit der erst acht Jahre später erfolgten Nennung als Sentenzenbakkalaureus harmonisieren. – Bei R. Urbaniu u. G. N. Zazzu (Hrsg.), The Jews in Genoa (Studia Post-Biblica 48, 4), Bd. 1, S. 507–1681, Leiden, Boston, Köln 1999, S. lxii, findet sich die bedenkenswerte Überlegung, daß Giustiniani in Genua bei Exulanten und eher unbekannten Konvertiten die hebräische Sprache erlernt haben könnte. Auch eine Begegnung mit der Familie der Hacohens sei nicht auszuschließen. 9 Vgl. Cevolotto, Agostino Giustiniani, S. 20 mit Verweis auf das Archivio del Convento di S. Domenico in Bologna (A. u. L. II 2100), f. 8r. 10 Aeneae, platonici graeci christianissimi, de Immortalitate animorum, deque corporum resurrectione aureus libellus, cui titulus est Theophrastus [Ambrosio Camaldulensi interprete, ab Augusto Justiniano in lucem editus], Venedig, per Alexandrum de
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XIII. Mense VIIbri.“ (f. 34r) datiert ist, wurde Giustinianis Cousin Filippo Sauli, dem Bischof von Brugnato, gewidmet. Zum anderen eine eigene kabbalistische Abhandlung über die 70 hebräischen und lateinischen Namen Gottes, die ohne Orts- und Jahresangabe, jedoch mit einer Widmung an Stefano Sauli erschien. Diese sehr knappe Abhandlung – sie umfaßt sechseinhalb Blätter eines Pergamentdrucks in gleicher Ausstattung und in gleichem Format wie die Eneas-Ausgabe11 – begründete Giustinianis Ruhm als christlicher Kabbalist. Bemerkenswert für unsere Fragestellung ist, daß Giustiniani schon in dieser sehr kurzen Abhandlung Maimonides zitiert.12 Kurze Zeit nach Abfassung der Schrift, am 22. Juni 1514, bittet Agostino um Entbindung von der Lehrverpflichtung, um sich der Herausgabe einer Polyglottenbibel zu widmen. Als erstes und einziges Faszikel erscheint 1516 in Genua das Psalterium Octaplum.13 Das Widmungsschreiben ist an den Renaissancepapst Leo X. gerichtet.14 Obwohl sich das Psalterium schlecht
Paganinis, anno 1513 (mense VIIIbri). Nach Graziani, „Vie de Monseigneur“, XIX ist die Ausgabe nicht anonym. – Zu Aineias vgl. Enea di Gaza: Teofrasto, A cura di M. E. Colonna, Neapel o. J. [1958], S. VII–XVII, XL (zu dieser Ausgabe); M. Wacht: Aeneas von Gaza als Apologet: Seine Kosmologie im Verhältnis zum Platonismus (Theophaneia: Beiträge zur Religions- und Kirchengeschichte des Altertums 21), Bonn 1969; Cevolotto, Agostino Giustiniani, S. 36 mit 63 A 6 (weitere Lit.). 11 Precatio ad Deum: composita ex 72 nominibus divinis hebraicis et latinis, una cum interprete commentariolo / edente Aug. Iustiniano, s. l. s. a. (Ich zitiere nach dem unpaginierten Exemplar Wolfenbüttel, Herzog-August-Bibliothek, 920.2 Theol., unter Zufügung der Blattzahl.) Zu dem gleichen Schluß kommt auch Salone, „La fortuna“, S. 142 Anm. 10. – Nur am Rande sei bemerkt, daß Petrus Columna Galatinus 1518 einen Teil der kabbalistischen Schriften Giustinianis (sowohl aus der genannten Abhandlung als auch aus dem nachfolgend zu besprechenden Psalterium) nachdrucken ließ, vgl. P. Galatinus, Opus toti christiane reipublice maxime utile, de arcanis catholiceueritatis, contra obstinatissimam Iudeorum nostre tempestatis perfidiam: ex Talmud, aliisque Hebraicis libris nuper excerptum . . ., Ortona, per Hieronymum Suncinam 1518. – Zur Erstausgabe vgl. Cevolotto, Agostino Giustiniani, S. 37–39 mit 63 f A 9–18; zum Nachdruck, ebd. S. 49 f; zur Verwendung des Sohar durch Giustiniani vgl. ergänzend F. Secret, Le Zoˆhar chez les kabbalistes chre´tiens de la Renaissance (Me´moires de la Socie´te´ de E´tudes Juives 3), Paris 1958, S. 30–34. 12 Precatio ad Deum, f. 6r: [. . .] Sunt enim omnia hec deliramenta meracissimeque nuge. Quod aperte iam pridem monstrauit rabbi Moses egyptius Maimoni inter hebreos doctissimus eo libro cui apud illos titulus est directio errantium. Cuius autoritas satis in presentia nobis sit ad confutandam hebraicam vanitatem. 13 Psalterium Hebreum, Graecum, Arabicum, Chaldaicum: cum lat. interpr. / cum tribus latinis interpretationibus et glossis Augustini Justiniani, Genua: Porrus, 1516. (Der Psalter ist relativ leicht zugänglich auf der Internetseite http://gallica. bnf. fr; ich danke Dr. Saverio Campanini, Berlin, für diesen Hinweis.) 14 Hier läge, wenn er ihn kannte, auch eine Negativ-Verbindung Luthers zu Giustiniani begründet.
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verkaufte – von den 2.050 gedruckten Exemplaren (davon 2.000 auf Papier, 50 auf Pergament) wurden gerade einmal 500 abgesetzt – und obwohl es philologisch und drucktechnisch fehlerhaft war,15 begründete es in vielerlei Hinsicht Giustinianis Ansehen bei seinen Zeitgenossen. So verweist Hartmut Bobzin auf die Bedeutung des Drucks für das Studium des Arabischen bei Nicolas Clenard (Nicolaus Clenardus; 1495–1542) in Flandern, der mit dem Psalterium die arabische Sprache erlernte, auf Wolfgang Musculus (1497–1563) in Bern, sowie auf Guillaume Postel in Frankreich.16 Franc¸ois Secret verweist zudem darauf, daß Christian Knorr von Rosenroth in der Kabbala denudata Passagen des Psalterium übertragen hat.17 Desiderius Erasmus aus Rotterdam kritisierte in seiner Apologia zwar das Werk, äußerte sich später in Briefen jedoch positiv über Agostino. (Ich komme darauf zurück.) Im gleichen Jahr, in dem Giustiniani seine Lehrtätigkeit in Bologna aufgibt, wird ihm am 11. September 1514 das Bistum Nebbio auf Korsika als Pfründe übertragen – möglicherweise auf Vermittlung seines Cousins, des Kardinals Bendinello Sauli.18 In seiner Funktion als Bischof war Agostino beim 5. Lateran-Konzil mindestens während der 10.–12. Session (1515–17) anwesend.19 In den Konzilsdokumenten wird er als Reverendus pater dominus Augustinus Nobiensis genannt.20 Wie Verwandte gelegentlich Ärger bereiten, so auch in Giustinianis Fall: Sauli 15 Vgl. Bobzin, „Die Columbusvita“, S. 99. – Zum Psalterium vgl. außerdem J. Balagna, L’imprimerie arabe en occident (XVI e, XVII e et XVIII e sie`cles) (Collection Islam et Occident 2), Paris 1984, S. 20–23, 131; Cevolotto, Agostino Giustiniani, S. 41–49. 16 Vgl. Bobzin, „Agostino Giustiniani“, S. 138 f; ders., „Über einige gedruckte und ungedruckte Grammatiken des Arabischen im frühen 16. Jahrhundert und ihre Verfasser“, in: Fremdsprachenunterricht 1500–1800 (Wolfenbütteler Forschungen 52), hrsg. von K. Schröder, Wiesbaden 1992, S. 1–27, hier S. 5; speziell zu Postel ders., Der Koran im Zeitalter der Reformation: Studien zur Frühgeschichte der Arabistik und Islamkunde in Europa (Beiruter Texte und Studien 42), Beirut, Stuttgart 1995, S. 375 A 68, S. 395; St. G. Burnett, From Christian Hebraism to Jewish Studies: Johannes Buxtorf (1564–1629) and Hebrew Learning in the Seventeenth Century (Studies in the History of Christian Thought 68), Leiden u. a. 1996, S. 180 verweist zudem darauf, daß auch Buxtorf den Psalter verwendet hat. 17 Vgl. Secret, Les Kabbalistes, S. 101. 18 Vgl. Cevolotto, Agostino Giustiniani, S. 41; Secret, Les Kabbalistes, S. 100 scheint die drei verschiedenen Sauli zu einer Person zu machen. 19 Vgl. Cevolotto, Agostino Giustiniani, S. 74–76; ob Giustiniani länger in Rom war, wie Bobzin, „Agostino Giustiniani“, S. 133 vermutet, sei dahingestellt. 20 Vgl. J. D. Mansi, Sacrorum Conciliorum nova amplissima collectio, Tom. 32: Ab Anno 1438 ad annum 1549, Paris, Leipzig 1902 (1901), 937 (Sessio 10), 941 (Sessio 11), 978 (Prorogatio Sessionis 12), 982 und 993 (Sessio 12). Die von Graziani, „Vie de Monseigneur“, S. XXII A 63 angeführte Nennung bei Mansi 932 konnte ich nicht nachweisen.
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wurde wegen einer – angeblichen – Verschwörung gegen den Papst angeklagt, und Giustiniani scheint es vorgezogen zu haben, die nähere Umgebung der Kurie zu verlassen. Wohl auch auf Vermittlung des Pariser Bischofs und späteren Erzbischofs von Sens, E´tienne Poncher, wurde Agostino Giustiniani an den Hof des französischen Königs Franc¸ois I. eingeladen, wo er spätestens ab April 1518 anwesend ist. Ebenfalls in Paris war zu dieser Zeit Paolo Ricci (Paulus Ritius), den er schon zuvor zumindest dem Namen nach kennengelernt hatte.21 Ob Giustiniani allerdings Riccis Ausgabe der maimonidischen Geboteliste nach dem Sefer ha-Mitzvot bekannt war,22 läßt sich nicht belegen. In Paris blieb Giustiniani mit Unterbrechungen bis 1522 und unterrichtete u. a. an der Sorbonne Hebräisch. Die Unterbrechungen kamen zustande durch Reisen nach Flandern und nach England, wo er u. a. Heinrich VIII. und Thomas Moore traf. Im Oktober 1518 besuchte er in Leuven den schon genannten Erasmus. Bereits am 12. April 1518 hatte Guillaume Bude´ in einem Brief an Erasmus vom Kommen Giustinianis nach Paris berichtet und möglicherweise ein Treffen beider veranlaßt.23 In nach dem Treffen beider abgefaßten Briefen erwähnt Erasmus Giustiniani mehrfach.24
21 Vgl. den Eintrag „63 – Salfederis Pauli Rici Hisraelite“ im Inventar seiner Bibliothek (zit. n. F. L. Mannucci, „Inventari della biblioteca di Agostino Giustiniani“, in: Giornale storico e letterario della Liguria, Nov. Ser. 2 (1926), S. 263–291, hier S. 271) sowie die Anführung in der Schrift Precatio ad Deum, f. 5r. – Zu dem Zitat vgl. Cevolotto, Agostino Giustiniani, S. 38; zu Ricci vgl. Secret, Les Kabbalistes, S. 87–99; siehe auch den Beitrag Bernhard Rolings in diesem Band. 22 Paulus Ricius, De sexcentvm et tredecim Mosaice sanctionis edictis, Pavia: J. de Burgofrancho 1510; 1. Nachdruck Augustae Vindelicorum (Augsburg): officina propria Ioann. Miller, 1515; danach mehrere weitere in Sammelwerken. 23 Vgl. Erasmus, Epistoli III (ed. Allen), p. 278,356–360 (# 810 von W. Budaeus, 12. April 1518: Rex ex Italia Iustinianum Episcopum ex Dominicali sodalitio accersendum curauit, et alium Hebraice doctum, nomine, vt arbitror, Ritium [Paolo Ricci, s. o.]: iamque habet vnum Mithridatis aemulum, qui omnes pene linguas nouit, vt aiunt qui hominem viderunt.). 24 Vgl. Erasmus, Epistoli III (ed. Allen), p. 415,11–15 (# 877 an Wolfgang Fabricius Capito, 19. Oktober 1518: Visit nos autor octapli Psalterii Episcopus Nebiensis, qui legit locum vbi honorificam illius facio mentionem in Apologia. Homo gloriosus est magis quam virulentus. Habet a Rege Gallie octingentos francos annue.); p. 416 (# 878 an Graf Hermann von Neuenahr, 19. Oktober 1518 mit ähnlichem Wortlaut); p. 424,32–36 (# 886 an Cuthbert Tunstali, 22. Oktober 1518: Inuisit nos Louanii Praedicator, qui edidit Octaplum Psalterium: cuius honorificam facio in Apologia mentionem, quod illum sane non fugit. Opus quoniam vendi non potest, donat magnatibus obambulans, atque ita charius vendit quam si venderet. Conductus est a Rege Gallorum octingentis francis.); p. 460, 481–483 (# 906 an Wilhelm Budaeus, 22. Dezember 1518: Iustinianus episcopus nos inuisit Louanii. Visus est homo candidus, minimeque virulentus; proinde dolet quod illius
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Während der Pariser Zeit ist Giustiniani in vielerlei Hinsicht editorisch tätig.25 Bereits vor den berühmten Pariser Drucken veranlaßte er 1519 in Hagenau den ersten, recht unbekannt gebliebenen Druck der Grammatik von Moses Kimchi, der dem Dekan von Tour, Martin Balneus, gewidmet war.26 In Paris folgen mehrere, sehr unterschiedliche Textausgaben, zu denen Giustiniani Dedikationsbriefe verfaßte. Am 29. Februar 1520 schrieb er eine Dedikation zu einer zweiten Ausgabe von Kimchis Liber viarum linguae sanctae, nun seinen Gönnern, dem Erzbischof E´tienne Poncher sowie dem Bischof von Troyes, Guillaume Petit (Parvi) O. P., gewidmet.27 Schon einen Monat früher, am 16. Januar 1520, verfaßte Giustiniani das Geleitwort zu einer hebräischlateinischen Hiobausgabe mit einer Widmung an Marianus Domilutius.28 Am 4. Juni folgte eine gemeinsam mit Pierre de Sou(b)slefour besorgte, hebräische Ausgabe der Bücher Rut und Lamentationes.29 Zwischen diesen beiden Ausgaben biblischer Bücher schrieb Giustiniani mehrere weitere Geleitbriefe, so im April einen an Guillaume Petit zu dem mittelalterlichen polemisch-antijüdischen Traktat Porchetis Adversus impios hebraeos, der seinerseits eine Bearbeitung des Pugio fidei von Raymundus Martini ist.30 Dieser Druck erschien am
nomen in Apologia perstrinxerim [. . .].); p. 514,1–5 (# 931 an Wilhelm Nesen, 21. März 1519: Ex amicorum literis intelligo isthic R. P. Augustinum Nebyensem episcopum strennue vociferari in Erasmum; etiamsi nondum adducor vt credam. Quod si verum est, longe dissimili nogocio fuimus vtrique occupati; ego dum hic illius candorem laudo, ille isthic me traducit.) – Zum Verhältnis beider zueinander vgl. den instruktiven Beitrag U. Rimassa, „Agostino Giustiniani umanista italiano: Un confronto con Erasmo da Rotterdam“, in: Agostino Giustiniani annalista genovese (wie Anm. 5), S. 83–102. 25 Zu den einzelnen Ausgaben vgl. A. Salone, „La fortuna“, S. 138 mit 142 f A 12–23 (mit Angaben von Bibliotheksexemplaren der einzelnen Werke). 26 Hebraicae grammatices R. Mosse Chimchi aureus libellus (Hagenau) (Dedikation an Martinus Balneus vom XVIII Cal. Ian. 1518); vgl. F. Secret, «Les grammaires he´braı¨ques d’Augustinus Justinianus», in: Archivum fratrum praedicatorum 33 (1963) S. 263–279, hier S. 270 f; Cevolotto, Agostino Giustiniani, 53. 85 f – Erstaunlicherweise wird weder dieser noch der Zweitdruck genannt bei M. Engammare, «Olivetan et les Commentaires Rabbiniques: Historiographie et recherche d’une utilisyation de la litte´rature rabbinique par un he´braı¨sant chre´tien du premier tiers du XVIe`me sie`cle», in: L’He´breu au temps de la Renaissance: Ouvrage collectif recueilli et e´dite´ (Brill’s Series in Jewish Studies 4), hrsg. von I. Zinguer, Leiden u. a. 1992, S. 27–64, hier S. 32 f. 27 Moses ben Josef Kimchi, Liber viarum linguae sanctae, ed. von A. Giustiniani, Paris s. a.; vgl. Cevolotto, Agostino Giustiniani, S. 86. 28 Vgl. Cevolotto, Agostino Giustiniani, S. 87. 29 Der ebenfalls in der Edition mit abgedruckte Libellus de Numeris des Yehuda Sarko soll Giustiniani sogar gewidmet sein; da es mir bislang nicht gelungen ist, ein Originalexemplar der Ausgabe in den Händen zu halten, kann ich diese Angabe nicht verifizieren.
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14. Juli 1520. Ebenfalls im April schrieb Agostino eine Widmung an den königlichen Sekretär, Robertus Geduinus, zu Giovanni Matteos (da Luna) De rerum inventoribus, das am 15. Mai erschien.31 Zwischen dem 27. Juni und dem 7. August erscheinen dann vier Werke bei Joos Bade van Asschen (Badius Ascensius), die allesamt hochrangigen Personen dediziert waren: Am 7. Juni Platons Timaios, gewidmet dem Kardinal Jean de Lorraine, Bischof von Metz und Tour;32 am 7. Juli die Maimonides-Ausgabe, wie der zweite Kimchi-Druck E´tienne Poncher dediziert.33 (Auf den Maimonides-Druck komme ich noch zurück.) Am 5. August erschien eine (pseudo-)philonische Genesis-Auslegung, mit einem Geleitbrief an Louis von Savoyen,34 und schließlich am 7. August Giacomo Bracellis Lucubraciones, gewidmet Rene´ von Savoyen, dem „Großmeister“ von Frankreich.35 Die Verbindung zu Joos Bade scheint auf Vermittlung von Guillaume Petit zustande gekommen zu sein.36 30 Victoria Porcheti adversus impios Hebr[a]eos: in qua tum ex sacris literis, tum ex dictis Talmud, ac Caballistaru[m], et alioru[m] omniu[m] authoru[m], quos Hebr[a]ei recipiu[n]t, monstratur veritas catholic[a]e fidei / Ex Recognitione R. P. Aug. Iustiniani ordinis Pr[a]edicatorii, episcopi Nebiensis, Parhisiis: Gourmo[n]tius et Regnault, 1520. – Zu dieser Ausgabe vgl. G. Foot Moore, “Christian Writers On Judaism”, in: Harvard Theological Review 14 (1921), S. 197–254, hier S. 206. 254; Cevolotto, Agostino Giustiniani, S. 89. Nach Moore, ebd. S. 206, hat Martin Luther die Giustiniani’sche Ausgabe bei der Abfassung der Schrift Vom Schem Hamephoras verwendet; in jedem Fall gibt es Randbemerkungen zur Victoria von 1543, vgl. WA 60, (236) 237–239. 31 De Rerum inventoribus aureus libellus, quem Joannes Matthaeus Lunensis cudebat ex recognitione A. Justiniani, . . . – Vaenalis sub signo divi Joannis Baptistae e regione collegii Langobardorum, Paris [per Nicolam de la Barre] 1520. – Die Vorrede ist erneut abgedruckt im Nachdruck: Iohannis Matthæi Lvnenis Libellus de rerum inventoribvs Ex recognitione Aug. Iustiniani Episcopi Nebiensis. M. Antonii Sabellici de rervm et artivm inventoribus Poe´ma. Hamburg: In Bibliopolio Michaelis Heringii, 1613, p. 1–3. 32 Chalcidii Viri Clarissimi luculenta Timaei Platonis traductio, & eiusdem argutissima explanatio / Auspicio longe Reverendi domini Ioannis Lotharingi, Cardinalis per Nebiensium Episcopum in lucem editae [Paris:] Ascensius, 1520; vgl. Imprimeurs et libraires parisiens du XVI e sie`cle: Ouvrage publie´ d’apre`s les manuscrits de Philippe Renouard, vol. II, Paris 1969, Nr. 460 (im Folgenden zit. Renouard unter Zufügung der Nummer). 33 Rabi Mossei Aegyptij, Dux seu Director dubita(n)tium aut perplexorum, in / treis Libros diuisus, & summa accuratione Reueren / di patris Augustini Iustiniani ordinis Prædicatorii / Nebiensiu(m) Episcopi recognitus. Cuius index seu ta = / bella ad calcem totius apponetur operis. // V(a)enundatur cum Gratia & Priuilegio in / Triennium, ab Iodoco Badio Ascensio, [Paris 1520]; bei Renouard # 456. 34 Centum et duae Quaestiones et totidem responsiones morales super Genesim / hrsg. von A. Giustiniani; Renouard # 459. 35 Jacobi Bracellei . . . Lucubrationes. De Bello hispaniensi libri quinque. De claris Genuensibus libellus unus. Descriptio Lyguriae libro uno. Epistolarum lib. unus. Additumque diploma mirae antiquitatis tabellae in agro Genuensi repertae. / Edidit Aug. Justinianus, Paris: Ascensius, 1520; Renouard # 441.
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Damit endet die Editionstätigkeit Giustinianis. Im Jahr 1522 brach er aus unbekannten Gründen seinen Aufenthalt in Paris ab und kehrte zurück nach Genua.37 Von dort aus setzte er über in sein korsisches Bistum, dem er sich die nächsten neun Jahre widmete. Daneben verfaßte er in dieser Zeit mindestens zwei weitere Werke.38 Das eine ist eine handschriftlich mit Widmung an Egidio da Viterbo überlieferte Grammatik des Arabischen. Die Handschrift ist datiert auf den 9. November 1524 und war nach Bobzin die erste in lateinischer Sprache abgefaßte Abhandlung dieser Art. Aus Egidios Bibliothek ging die Handschrift in den Besitz Johann Albrecht von Widmannstetters über, der sie selbst benutzte. Nach seinem Tod wanderte die Handschrift in die Königlich-Bayerische Bibliothek (die heutige Staatsbibliothek München).39 Das andere Werk dieser Jahre ist eine Beschreibung Korsikas (Dialogo nominato Corsica), die seit 1993 in einer kritischen Ausgabe vorliegt.40 Ab dem Jahr 1531 ist Giustiniani wieder in Genua, wo er in den folgenden Jahren u. a. eine Geschichte Genuas schrieb.41 In dieser findet sich neben seiner Autobiographie eine Lebensbeschreibung des berühmten Sohnes der Stadt Genua, Christoph Kolumbus, die Giustiniani wohl nicht nur Freunde machte.42
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Vgl. Cevolotto, Agostino Giustiniani, S. 77. Das stellt auch Cevolotto, Agostino Giustiniani, S. 91 mit 97 A 67 fest. 38 Cevolotto, Agostino Giustiniani, S. 99–116 nennt nur den Dialogo. 39 Vgl. Bobzin, „Agostino Giustiniani“, S. 136 ff.; ders., „Die Columbusvita“, S. 5–7; ders., Der Koran, S.86; 304 f. 40 Vgl. die schon genannte, 1993 von Graziani besorgte (Erst-)Ausgabe; eine Erstübersetzung veröffentlichte am Ende des 19. Jahrhunderts Lucien-Auguste Letteron, Histoire de la Corse comprenant la description de cette ile [. . .] Tome I, Bastia 1888 [reprografischer Nachdruck Marseille 1975], S. 1–85; zur geographischen Leistung im Dialogo vgl. M. P. Rota, „Agostino Giustiniani: Ge´ographe de la Corse“, in: Mgr Agostino Giustiniani (Cahier Corsica 112), hrsg. von G. G. Musso u. M. P. Rota, Bastia 1986, S. 5–10; ergänzend dazu existierte noch eine Karte von Korsica, die auf Giustiniani zurück ging; vgl. dazu G. Caraci, „La carta della Corsica attribuita ad Agostino Giustiniani“, in: Archivio Storico di Corsica 12 (1936), S. 129–172, S. 268–315, S. 461–495. 41 Vgl. V. Polonio, „Agostino Giustiniani scrittore di storia“, in: Agostino Giustiniani annalista genovese (wie Anm. 5), S. 23–47; G. Costamagna, „Originalita` e autenticita` del documento negli ‘Annali’ di Agostino Giustiniani“, in: ebd. S. 71–81; Cevolotto, Agostino Giustiniani, S. 117–137; zur Bedeutung dieser Chronik für die Bevölkerungsstatistik Liguriens vgl. D. Galassi u. a., Popolazione e insediamento in Liguria secondo la testimonianza di Agostino Giustiniani (Comitato dei Geografi Italiani 3), Florenz 1979; M. P. Rota Guerrieri, „Agostino Giustiniani geografo della Liguria e della Corsica“, in: Agostino Giustiniani annalista genovese (wie Anm. 5), S. 201–211. 42 Zum Kolumbusbild in der Chronik und im Psalterium vgl. A. Agosto, „Agostino Giustiniani e Cristofero Colombo“, in: Agostino Giustiniani annalista genovese (wie Anm. 5), S. 49–61 (ebd., S. 57–61 mit Wiedergabe der relevanten Texte); Bobzin, „Die 37
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Um 1535 vermachte Giustiniani seine ca. 1.000 Bände umfassende, heute in ihrer Gesamtheit jedoch nicht mehr erhaltene Bibliothek der Stadt Genua.43 Aus ungeklärten Gründen ertrank Giustiniani bei der Überfahrt nach Korsika im Jahr 1536.
2.2 Der Druck des „Dux dubitantium“ – Vorgeschichte und Rezeption Seit Joseph Perles’ bahnbrechendem Aufsatz von 1875, in dem jener den Giustiniani’schen Druck mit der mittelalterlichen, handschriftlich überlieferten Übertragung des Dux neutrorum identifizierte44, hält sich in der Wissenschaftswelt hartnäckig das Gerücht, daß Giustiniani behaupte, er habe Maimonides übersetzt. Dem ist so nicht. Im sehr kurzen Dedikationsbrief zum Druck heißt es: [. . .] iam pridem in nostrum sermonem versum constat ab interprete [. . .]: Schon lange ist vom Übersetzer in unsere Sprache bekannt, daß es für ihn von großer Bedeutung war, in jener Zeit die maimonidischen Aussagen so gut es geht auszudrücken, etc. Was hat es mit dieser alten Übertragung auf sich? Am Anfang der 1240er Jahre fertigte aller Wahrscheinlichkeit nach in Paris ein anonym bleibender Übersetzer – wahrscheinlich aus dem dortigen Dominikanerorden – nach Yehuda al-Charizis hebräischer Übertragung eine
Columbusvita“, behandelt nur die entsprechenden Passagen des Psalterium (ebd., S. 100–103 mit Wiedergabe des Wortlauts). – Nicht klären kann ich gegenwärtig, ob eine in Paris aufbewahrte Handschrift (Paris, Bibl. Nat. Lat. 373 = MF 6.546) mit einem Fragment einer Übersetzung des Torah-Kommentars des Nachmanides ebenfalls Giustiniani zuzuschreiben ist. Vgl. Ph. Lauer, Catalogue ge´ne´ral des manuscrits latins, Tome I, Paris 1939, S. 132; bei der Handschrift handelt es sich um 246 numerierte Blätter, 20–22 Zeilen; klare Hand des 16. Jahrhunderts mit vereinzelten Korrekturen im Text und in margine. – Es scheinen Blätter zu fehlen, z. B. zwischen f. 10 und 11 (= Abschrift von f. 1 etc.), verschiedene Hände; laut Vorsatzblatt sine fine; beginnt: [I]NNOVATIONES In lege Magistri Magistri Nostri Moyse barnamam sit anima sua ligata in ligamnie vite: Cum timore cum metu: cum tremore: cum commotione: cum horrore: Rogans et confitens cum corde contrito: et cum anima humiliata: Petens venia postulans propitiationem et indulgentiam: cum humiliatione: cum genuflexione: cum adoratione vsque rupantur omnes nodi spine [etc.]. 43 Zu den Beständen dieser Bibliothek vgl. Mannucci, „Inventari della biblioteca“ (Übersicht über 380 Titel der Bibliothek). 44 Vgl. J. Perles, „Die in einer Münchener Handschrift aufgefundene erste lateinische Uebersetzung des Maimonidischen ,Führers‘.“, in: Monatschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judenthums 24 (1875), S. 9–24; S. 67–86; S. 99–110; S. 149–159; S. 209– 218; S. 261–268 (auch separat Breslau 1875).
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lateinische Übertragung des More nevukhim an, die ihrerseits von scholastischen Theologen von Albertus Magnus bis Meister Eckhart gelesen und verwendet wurde.45 Ab spätestens dem zweiten Drittel des 14. Jahrhunderts geriet diese Übertragung in Vergessenheit. Erst Nikolaus von Kues „entdeckte“ 1455 diese Übertragung neu. Pico della Mirandola besaß zwei noch erhaltene Abschriften der Übertragung des Dux neutrorum. Eine weitere Abschrift mit auffälligen Varianten v. a. hinsichtlich der Kapitelzählung entstand im 16. Jahrhundert in Cambridge. Diese Übertragung des 13. Jahrhunderts nun ließ Giustiniani in Paris drucken. Sein Begleitschreiben ist datiert auf den 1. März 1520, der Druck selbst wurde am 7. Juli desselben Jahres abgeschlossen. (Die Auflagenhöhe konnte ich nicht ermitteln, bis heute ist der Druck jedoch nicht selten.46) Im Widmungsschreiben an den Erzbischof von Sens, E´tienne Poncher, unterscheidet Giustiniani zunächst zwischen den beiden großen Moses des Mittelalters, aus Ägypten ben Maimon und aus Gerundi ben Nachman, deren Namen er jeweils vom Vater herleitet. Für Maimonides führt er weiter aus, welche Werke er verfaßt hat, nämlich die Mishne Tora und den More nevukhim (beide Werke im lateinischen Text in hebräischen Lettern gedruckt), sowie die nur summarisch genannten medizinischen Traktate. (Daß die Schriften ursprünglich auf arabisch abgefaßt waren, scheint Giustiniani dabei unbekannt zu sein.) Es folgen die oben angeführten Aussagen zur lateinischen Übertragung, die Agostino für so bedeutend erachtet, daß er sie der breiten Öffentlichkeit zugänglich machen möchte. Das sei nicht zuletzt deswegen nötig, weil die Juden in Frankreich selbst das Buch nicht hätten. Wie wurde der Druck nun aufgenommen? Obwohl Johannes Buxtorf anderthalb Jahrhunderte später den Giustiniani’schen Druck als schlecht abqualifizierte und durch seine Übertragung ersetzen zu kön-
45 Zu dieser Übertragung vgl. G. K. Hasselhoff, “The Reception of Maimonides in the Latin World: The Evidence of the Latin Translations in the 13th to 15th Century”, in: Materia Giudaica: Rivista dell’associazione italiana per lo studio del giudaismo 6 (2001), S. 262–280, hier S. 264–270 (Übersicht über den Stand der Forschung) sowie die Korrekturen in ders., Dicit Rabbi Moyses: Studien zum Bild von Moses Maimonides im lateinischen Westen vom 13. bis zum 15. Jahrhundert, Würzburg 2004, S. 122–221. 46 Die Aussage der Encyclopaedia Judaica, Art. „Giustiniani“ (CDR-Ausgabe): “The latter [= the Guide of the Perplexed of Maimonides], which Giustiniani produced with the aid of Jacob Mantino, was marred by its reliance on faulty texts.” (ähnlich der Eintrag der Library of Congress) kann ich weder verifizieren noch falsifizieren.
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nen meinte, so sei doch einiges zur Wirkungsgeschichte ergänzt: Zum einen sind in den Standardwerken zur Bibliotheksgeschichte über zwanzig heute noch existente Drucke nachgewiesen.47 Nicht genannt ist zudem z. B. ein Exemplar aus der Klosterbibliothek in Loccum, mit dem ich gearbeitet habe.48 Dieses Exemplar ist deswegen interessant, weil es erstens einem „Sylvester Ku˚nstmann. D.“, der mir nicht näher bekannt ist, gehört hat und zweitens dieser Besitzer das Buch von vorne bis hinten gelesen und mit Anmerkungen versehen hat. Weniger wichtig scheinen dem Leser dabei die Diskussionen zur Debatte um die Ewigkeit der Welt gewesen zu sein, die beispielsweise noch für Albertus Magnus von entscheidender Bedeutung gewesen war.49 Wichtiger war dem Bearbeiter ausweislich der An- und Unterstreichungen dagegen v. a. der erste Teil des ersten Buches zur Sprachtheorie, zur Verbindung von Glaube und Denken, zu den Gottesnamen und der Einheit Gottes, der Angelologie sowie aus dem dritten Buch die Einleitungskapitel zur Ezechielvision, die Ausführungen zu Abraham und die zu den einzelnen biblischen Geboten und Gesetzen. Die letzteren sind auch für Guillaume Postel von entscheidender Bedeutung gewesen, wie sich sowohl aus dessen Exemplar als auch dessen Exzerpten, die heute in der Pariser Bibliothek nationale de France, Inv. Re´serve A 588bis50 und Ms. he´br. 1294, aufbewahrt werden, ablesen läßt.51 47 Gegen W. Kluxen, „Literargeschichtliches zum lateinischen Moses Maimonides“, in: Recherches de The´ologie ancienne et me´die´vale 21 (1954), S. 23–50, hier S. 24 mit A 7; bekannte Exemplare sind z. B. in allen europäischen Nationalbibliotheken sowie in verschiedenen „kleineren“ Bibliotheken nachweisbar. 48 Klosterbibliothek Loccum, Relig.- u. Kultur-Gesch. 3008 (alte Signatur: theol. patrist. et rabb. p. 93) – Einband: Pappe; Signatur auf Rücken verkehrt herum aufgeklebt; Wasserschäden (dadurch und durch späteres Beschneiden Textverluste in den Marginalien); Auf Titel (f. Ir): über Druckrahmen wohl ältere Signatur; unter Titel: Rasur, darüber Stempel der Klosterbibliothek mit Jahresangabe (?): „A. 1588“; unter Druckernamen: „Sylvester Ku˚nstmann. D.“; auf Vorsatzblatt: „R. Mosche Ben Maimon obiit 1205 septiagenarius vixit ergo sæc. XII.“; darunter: „Hic liber est rarissimus“; Handschriftliche Notizen und Unterstreichungen mit zweierlei Tinte (und wohl zweierlei Händen): f. Iv–VIIr (darunter: Iv Angaben zu Agostino Giustiniani sowie zur Zeitgenossenschaft von Maimonides und Averroes); f. XIIv–XIIIv; f. XXIIIIr–XXVIr; f. XXVIIIv–XXIXv; f. XXXv–XXXIr; f. XLIIIr–v; f. XLVIv [Korrekturen im Text: in II,14 Z.6 aus creatoris creaturaru(m)]; f. LXIr–LXXIv [ohne LXXIIv] [LXXIv: III,2 Z. 6: proba = /bationes !!]; f. LXXVIv; f. XCr–XCIIr; f. XCVv–XCVIIr; f. CIIv–CIIIr. 49 Vgl. die Übersicht in Hasselhoff, Dicit Rabbi Moyses, S. 133–136 (mit weiterer Lit.). 50 Vgl. Cevolotto, Agostino Giustiniani, 95 A 50. 51 Vgl. M. Zotenberg u. a., Catalogues des manuscrits he´breux et samaritains de la Bibliothe`que impe´riale, Paris 1866, S. 232.
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Zusammenfassend sei daher zu Giustiniani und Maimonides festgehalten: Es ist vielleicht zufällig, daß der Genueser Dominikaner ausgerechnet Maimonides herausgab, aber der Druck steht einerseits in einem Zusammenhang mit den anderen, teils neuplatonischen, teils kabbalistischen Texten, die Giustiniani drucken ließ, andererseits erklärt sich die Herausgabe mit der Bedeutung des Rabbi Moyses bei den Ikonen des Dominikanerordens (z. B. Albertus Magnus, der im 15. Jahrhundert eine Renaissance erlebte) und schließlich deckt er sich mit den humanistisch-hebraistischen Interessen, die der Bischof ja durchaus auch verfolgte, wie sich am Psalterium und an den KimchiDrucken ablesen läßt. Hierauf deuten auch die Maimonideszitate in den Schriften Precatio ad Deum und im Psalterium (Scholien zu Ps. 90,16 und Ps. 130,1) hin. Inwieweit die Maimonides-Ausgabe dabei eine Bedeutung für die sogenannte „christliche Kabbalah“ hatte, läßt sich jedoch nicht bestimmen.
3.1 Sebastian Münster – Leben und Werk Eine andere Art von Wissenschaft betrieb der zweite Frühhebraist, dem ich mich nun zuwenden möchte. Sebastian Münster, dessen Biographie mehrfach ausführlich beschrieben wurde52, erblickte in dem Jahr, in dem Giustiniani in den Dominikanerorden eintrat, also 1488, am 20. Januar in Niederingelheim am Rhein das Licht der Welt. Wie jener trat er früh einem Orden, in seinem Fall dem der Franziskaner, bei. Er studierte u. a. in Rufach bei Konrad Pellikan53 und hatte in Basel wohl noch persönliche Bekanntschaft mit Erasmus gemacht. Das Verhältnis 52
Zu seiner Biografie vgl. V. Hantzsch, Sebastian Münster: Leben, Werk, wissenschaftliche Bedeutung (Abhandlungen der königlich sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-historische Klasse 18,3), Leipzig 1898; F. Rosenthal, “The Rise of Christian Hebraism in the Sixteenth Century”, in: Historia Judaica. New York 7 (1945), S. 167–191, hier S. 182–191; K.-H. Burmeister, Sebastian Münster: Versuch eines biographischen Gesamtbildes (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 91), Basel, Stuttgart 1963 (19692; zit. im folgenden nach der Erstauflage); G. E. Weil, E´lie Le´vita: Humaniste et massore`te (1469–1549) (Studia Post-Biblica 7), Leiden 1963, S. 221–234; A. Friedt, „Friedensliebe, Toleranz und Gläubigkeit: Über Sebastian Münster aus Ingelheim (1488 bis 1552) und die Früchte des Fleißes“, in: Mainz. Vierteljahreshefte für Kultur Politik Wirtschaft Geschichte 8, 3 (1988), S. 79–88. – Nicht eingehen kann ich hier auf die Thesen von J. Friedman, „Sebastian Münster, the Jewish Mission, and Protestant Antisemitism“, in: Archiv für Reformationsgeschichte 70 (1979), S. 238–259; dazu – leider wenig profiliert – A. Detmers, Reformation und Judentum: Israel-Lehren und Einstellungen zum Judentum von Luther bis zum frühen Calvin (Judentum und Christentum 7) Stuttgart u. a. 2001, S. 31.
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zu letzterem blieb aber, anders als bei Giustiniani, eher kühl. An wichtigen Lebensdaten Münsters ist weiter festzuhalten, daß Münster von 1524 bis ’28 oder ’29 an der Universität Heidelberg Hebräisch unterrichtete. Hier lernte er den Gräzisten Simon Grynaeus kennen, mit dem ihn spätestens seit der ab 1529 gemeinsamen Zeit in Basel eine lebenslange Freundschaft bis zu Grynaei Pesttod 1541 verband. Spätestens ab 1529 ist Münster in Basel mit verschiedenen Aufgaben an der Universität betraut. Hier bleibt er bis zu seinem eigenen Pesttod am 26. Mai 1552. Wahrscheinlich im Zuge der Übersiedlung nach Basel in der zweiten Hälfte der 1520er Jahre ist Münster aus dem Franziskanerorden ausgetreten. Die ersten Verbindungen nach Basel waren drucktechnischer Art: Im Jahr 1520, als Martin Luthers Kirchenreformversuche einem ersten Höhepunkt entgegenstrebten, ließ Münster Luthers Dekalogerklärung in Basel bei Adam Petri (nach)drucken. Es folgten an die sechzig weitere Editionen, die Münster betreute, und etwa so viele eigene Werke.54 Zu den wichtigsten Büchern zählen die Bibelausgabe mit hebräischem Text und einer eigenen lateinischen Übersetzung, die übrigens auch von Martin Luther mehrfach genannt wird, eine hebräische Übersetzung des Matthäusevangeliums, die Kosmographie55, die neben dem Porträt auf dem alten 100 DM-Schein zu den meistbeschriebenen Werken Münsters gehört56, verschiedene Schriften zur hebräischen und aramäischen Grammatik und Lexikographie57, sowie zwei Werke, die auf Maimonides zurückgehen.58 53
Zu Pellikan vgl. jüngst B. Ego u. Dor. Betz, „Konrad Pellican und die Anfänge der wissenschaftlichen Hebraistik im Zeitalter von Humanismus und Reformation“, in: Humanismus und Reformation: Historische und pädagogische Beiträge zu deren Wechselwirkung (Arbeiten zur Historischen und Systematischen Theologie 3), hrsg. von R. Mokrosch u. H. Merkel, Münster 2001, S. 73–84. 54 Die von Karl-Heinz Burmeister angefertigte Bibliografie (Sebastian Münster: Eine Bibliographie mit 22 Abbildungen, Wiesbaden 1964) hat 173 Einträge, zählt aber alle Auflagen und Drucke als je eigene Nummer; daher die unterschiedlichen Zahlen. 55 Aus der jüngeren Literatur sei verwiesen auf S. Wagner, „Von ,neüwen inseln‘ und ,canibales‘: Zur Columbus- und Anghiera-Rezeption bei Sebastian Münster“, in: Columbus zwischen zwei Welten (wie Anm. 4), Bd. 1, S. 107–124; K. Uhde, Ladislaus Sunthayms geografisches Werk und seine Rezeption durch Sebastian Münster, 2 Bde., Köln u. a. 1993, Bd. 1, S. 134–171; J. Knape, „Geohistoriographie und Geoskopie bei Sebastian Franck und Sebastian Münster“, in: Sebastian Franck (1499–1542) (Wolfenbütteler Forschungen 56), hrsg. von J.-D. Müller, Wiesbaden 1993, S. 239–271. 56 Vgl. K.-H. Burmeister, Neue Forschungen zu Sebastian Münster, mit einem Anhang von E. Emmerling (Beiträge zur Ingelheimer Geschichte 21), Ingelheim 1971, S. 42–57, hier S. 50, 46, 56; siehe auch H. Bobzins Vortragseinleitung von 1996 (s. nächste Anm.). 57 Nicht von ungefähr kommt Walter Seibs Wertung, Münster sei einer „der Väter der europäischen orientalistischen Philologie“ (W. Seib, „Die Zeit Sebastian Münsters“,
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3.2 Der Druck der „Logica Rabbi Symeonis“ und der „Tredecim articuli fidei“ – Vorgeschichte und Rezeption Wie schon gesagt, kannten sich Münster und Simon Grynaeus schon seit Heidelberger Tagen. Im Jahr 1526 brachte Grynaeus Münster aus Budapest eine hebräische Übersetzung von Maimonides’ Traktat über Logik Maqalah fi-sina’at al-mantiq in der Übertragung Shmuel ibn ˙ fertigte wohl ˙ sofort eine lateinische Übersetzung Tibbons mit. Münster an. Nachdem er bei der Leitung seines Ordens die Genehmigung erwirkt hatte, nach Basel zu reisen – und es scheint vieler Interventionen bedurft zu haben, wie Karl-Heinz Burmeister anschaulich beschreibt –, brachte Münster den hebräischen Text samt der lateinischen Übertragung zum Basler Drucker Froben und überwachte dort die Drucklegung. Der Druck selbst trägt die Jahreszahl 1527 und ist mit einem Widmungsschreiben an Johannes Campensis in Leuven, das auf den 1. November 1526 datiert ist, versehen. Etwas sticht sofort ins Auge: der Titel lautet Logica sapientis Rabbi Simeonis (übrigens auch die lateinischen und die hebräischen Kopfzeilen haben Simeon!).59 Der Text beginnt dagegen mit Rabbi Moyses, also Maimonides. Ein Versehen oder Absicht? Es scheint sich, wie u. a. Friedrich Niewöhner dargelegt hat,60 um eine absichtliche Referenz an seinen Kollegen Grynaeus zu handeln, der mit Vornamen Simon hieß und der ihm ja, wie gesagt, den hebräischen Text mitgebracht hatte. (Münster selbst berichtet dies auch in seinem Dedikationsbrief.) Die Ausgabe beginnt mit
in: Sebastian Münster: Katalog zur Ausstellung aus Anlaß des 500. Geburtstages am 20. Januar 1988 im Museum – Altes Rathaus Ingelheim am Rhein, hrsg. von der Stadt Ingelheim am Rhein, Fernwald 1988, S. 1–26, hier S. 18; vgl. auch H. Bobzin, „,Ich bereite jetzt einige hebräische und aramäische Bücher vor . . .‘: Sebastian Münster in Heidelberg (1524–7) und die Begründung der Semitistik (Gastvortrag Heidelberg 1996)“, auf: www. semitistik. uni-hd. de/muenster. 58 Nicht eingehen kann ich dabei auf die Gebotenliste nach Mose ben Joseph aus Coucy, die in unmittelbarer Abhängigkeit von Maimonides steht. Dazu und zur deutschen Übertragung von Sebastian Franck, vgl. F. Niewöhner, „Warum übersetzte Sebastian Franck Moses Ben Jacob aus Coucy?“, in: Sebastian Franck (wie Anm. 55), S. 273–292. Burmeister nennt als einen Besitzer dieser Liste Achilles Pirmin Gasser, der das Buch am 15. Juni 1534 in Lindau erwarb; vgl. Burmeister, Neue Forschungen, S. 40; zu Gasser und Münster vgl. auch D. J. Jordan, „Sebastian Münster und Achilles Gasser“, in: Bodensee-Heimat-Schau. Lindau 75 (1928), S. 81 f – Die Liste wurde 1510 auch von Paolo Ricci gedruckt (s. o.). 59 Logica Sapientis Rabbi Simeonis, Basel, Io. Frob. 1527; verwendete Exemplare: Konstanz Da 260, Wolfenbüttel, P 776 Helmst. 8°. 60 Niewöhner, „Warum übersetzte“, S. 274 f.
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Ausgabe und Übersetzung von Shmuel ibn Tibbons Vorwort, aus dem die maimonidische Verfasserschaft deutlich hervorgeht. Die Edition ist so aufgebaut, daß die Recto-Seite die lateinische Übertragung, die gegenüberliegende Verso-Seite dagegen den hebräischen Text hat. (Kapitel 7 weist einen Einschub auf, der durch Spaltendruck gekennzeichnet ist.) In dem Kolophon heisst es Ego scriptor Iehosias filius Ephraim qui uiuat in longitudinem bonorum dierum, cognominatus Hoschil, de Cracouia.61 Zwei Jahre später ließ Münster ein weiteres Werk des Maimonides drucken. In der Erläuterung zum Traktat Sanhedrin im Mischna-Kommentar des Maimonides finden sich die berühmten dreizehn Glaubensartikel. Daß Maimonides diese abgefaßt hatte, war im lateinischen Sprachraum spätestens seit der Disputation zu Tortosa 1413/14 bekannt, oder konnte zumindest prinzipiell gewußt werden.62 Münster, der auf eine uns nicht mehr nachvollziehbare Weise Kenntnis von der hebräischen Übertragung erhalten hatte, fertigte wohl noch in Heidelberger Tagen eine lateinische Übertragung an und ließ sie im September 1529 im relativ nahe bei Heidelberg gelegenen Worms bei Peter Schöffer drucken.63 An diesem Druck fällt auf, daß das Titelblatt keinen Hinweis auf den Autor der Glaubensartikel liefert,64 lediglich das in Worms verfaßte Widmungsschreiben gibt den Hinweis darauf, daß ihr Urheber Maimonides sei: [. . .] Est autem autor huius libelli Rabi Moyses filius Maimon, qui a Iudæis ut doctissimus & colitur & suscipitur, multorum uoluminum editor, & Græcorum Philosophorum sectator, id quod dictionis te[f. av]nor facile indicat. [. . .] (f. a 2r–v)
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Ob die dem Druck zugrunde liegende Handschrift noch existiert, ließ sich nicht ermitteln, immerhin listet Burmeister, Sebastian Münster, S. 201 sie als der „Bibliotheca Rabbinica“ Münsters zugehörig auf. 62 Jero´nimo de Santa Fe´, der Initiator der Disputation hatte in seinem Werk Ad convincendum perfidiam, Cp. 1 bereits auf die Existenz der 13 Artikel hingewiesen und in der Disputation darauf angespielt, vgl. Hasselhoff, Dicit Rabbi Moyses, S. 201 A 130 (mit Belegen). 63 Vgl. Burmeister, Sebastian Münster, # 163; im gleichen Jahr druckte Schöffer noch zwei weitere Werke Münsters, vgl. ebd., # 36 und 37. 64 Vgl. Tredecim articuli fidei Iudæorum. / Item, Compendium elegans histo/riarum Iosephi, complectens: / Acta lxx. Interpretum: / Gesta Machab(a)eorum: / Facta Herodum / Excidium Hierosolymitanum. / Item, Decem captiuitates Iudæorum. / Hæc per Sebastianum Munsterum (et) Hebræis (et) Latinis legenda exarantur. / Anno Christi, / M. D. XXIX. Verwendetes Exemplar: Wolfenbüttel 527.2 Quodl. – Auf Titelblatt folgen drei Seiten (f. a 2r–v; a 3r) Einleitung, Doppelseite f. a 3v /a 4r – c 2v /c 3r (16 Doppelseiten) Maimonides, es schließt nahtlos an: Josefus.
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Über die Wirkungsgeschichte beider Editionen ist mir nur wenig bekannt. Der von mir überwiegend verwendete Druck der Logica gehörte einem Ioan. Ripue (oder Ripne). Aus seiner Bibliothek gelangte es 1622 in das Konstanzer Jesuitenkloster. Entweder Johannes selbst oder ein späterer Leser hat das Buch sowohl im hebräischen als auch im lateinischen Text studiert und einige Anmerkungen hinterlassen. Ein weiterer namentlich bekannter Besitzer der Logik war Kaspar Heldelin, ein nach 1560 gestorbener Schulmeister aus Lindau am Bodensee.65 Andererseits war die Logik noch 1569 bei Froben erhältlich, sie scheint sich doch als ein Ladenhüter entpuppt zu haben.66
4. Schlußbemerkungen Zusammenfassend läßt sich festhalten: Trotz aller Unterschiede zwischen Agostino Giustiniani und Sebastian Münster gibt es einige Gemeinsamkeiten. Beide waren – zumindest zeitweilig – Mönche, die sich nicht-christlicher Sprache und Literatur zuwandten. Giustiniani hatte dabei alle „klassischen“ Sprachen, d. h. Griechisch, Hebräisch, Arabisch und Syrisch im Blick, während sich Münster insbesondere dem Hebräischen zuwandte und zu einem der größten Kenner der Sprache wurde. Beide erkannten die Notwendigkeit und hatten die nötigen Verbindungen und auch finanziellen Mittel, Texte zum Studium herauszugeben, beschränkten sich dabei jedoch nicht auf ein einziges Feld, sondern hatten beide neben anderem ein Interesse an Geographie und Geschichte. Beide hatten Kontakt mit führenden Gelehrten ihrer Zeit, denen sie auch Werke widmeten. Schließlich erkannten beide, daß Bibeltexte, Kimchi und Maimonides den Zeitgenossen zugänglich gemacht werden mußten und etablierten so ihren je eigenen Kanon. Dennoch blieben die genannten Drucke nicht die einzigen Texte des Maimonides, die seit 1477 im Druck zirkulierten. Darüber zu sprechen muß jedoch einer anderen Gelegenheit vorbehalten bleiben.
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Vgl. Burmeister, Neue Forschungen, S. 41. Vgl. Burmeister, Neue Forschungen, S. 40.
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Anhang: Schriften und Ausgaben des Agostino Giustiniani in chronologischer Reihenfolge 1513 1.) Aeneae, platonici graeci christianissimi, de Immortalitate animorum, deque corporum resurrectione aureus libellus, cui titulus est Theophrastus [Ambrosio Camaldulensi interprete, ab Augusto Justiniano in lucem editus], Venedig, per Alexandrum de Paganinis, anno 1513, mense VIIIbri [Repr. Genova, F. M. Farroni, 1645] 2.) Precatio ad Deum: composita ex 72 nominibus divinis hebraicis et latinis, una cum interprete commentariolo / edente Aug. Iustiniano, s. l. s. a. [Venedig, per Alexandrum de Paganinis, 1513] 1516 3.) [Psalterium Octaplum:] Psalterium Hebreum, Graecum, Arabicum, Chaldaicum : cum lat. interpr. / cum tribus latinis interpretationibus et glossis Augustini Justiniani, Genua: Porrus, 1516 1519 4.) Hebraicae grammatices R. Mosse Chimchi aureus libellus (Hagenau) (Dedikation an Martinus Balneus vom XVIII Cal. Ian. 1518) 1520 5.) 15. Mai Giovanni Matteo, De Rerum inventoribus aureus libellus, quem Joannes Matthaeus Lunensis cudebat ex recognitione A. Justiniani, . . . – Vaenalis sub signo divi Joannis Baptistae e regione collegii Langobardorum, Paris, [per Nicolam de la Barre], 1520 [gemeinsam mit Jean Vatel] (Moreau # 2.416) [Repr. Hamburg, In Bibliopolio Michaelis Heringii, 1613] 6.) 27. Juni [Platon:] Chalcidii Viri Clarissimi luculenta Timaei Platonis traductio, & eiusdem argutissima explanatio / Auspicio longe Reverendi domini Ioannis Lotharingi, Cardinalis per Nebiensium Episcopum in lucem editae [Paris]: Ascensius, 1520 (Renouard # 460; Moreau # 2.453) 7.) 7. Juli [Moses Maimonides:] Rabi Mossei Aegyptij / Dux seu Director dubita(n)tium aut perplexorum, in / treis Libros diuisus, & summa accuratione Reueren / di patris Augustini Iustiniani ordinis Prædicatorii / Nebiensiu(m) Episcopi recognitus. Cuius index seu
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ta = / bella ad calcem totius apponetur operis. // V(a)enundatur cum Gratia & Priuilegio in / Triennium, ab Iodoco Badio Ascensio, [Paris 1520] (Renouard # 456; Moreau # 2.408) [Reprografischer Nachdruck Frankfurt a. M. 1964] 8.) 14. Juli [Porchetto de’ Salvatici:] Victoria Porcheti adversus impios Hebr(a)eos: in qua tum ex sacris literis, tum ex dictis Talmud, ac Caballistaru(m), et alioru(m) omniu(m) authoru(m), quos Hebr[a]ei recipiu(n)t, monstratur veritas catholic[a]e fidei / Ex Recognitione R. P. Aug. Iustiniani ordinis Pr[a]edicatorii, episcopi Nebiensis, Parhisiis: Gourmo(n)tius et Regnault, 1520 (Moreau # 2.472) 9.) 5. August [(Ps.-)Philo Judaeus,] Centum et duae Quaestiones et totidem responsiones morales super Genesim / ed. A. G. (Renouard # 459; Moreau # 2.450) 10.) 7. August [Giacomo Bracelli:] Jacobi Bracellei . . . Lucubrationes. De Bello hispaniensi libri quinque. De claris Genuensibus libellus unus. Descriptio Lyguriae libro uno. Epistolarum lib. unus. Additumque diploma mirae antiquitatis tabellae in agro Genuensi repertae. (Edidit Aug. Justinianus), Paris Ascensius, 1520 (Renouard # 441; Moreau # 2.265) undatiert, aber mit Widmungsschreiben von 1520 11.) 16. Januar Liber beati Iob [hebr.-lt.] / editio et traductio A. G. (Moreau # 2.255) 12.) 29. Februar Moses ben Josef Kimchi, Liber viarum linguae sanctae / Ed. A. G., Paris (Moreau # 2.382) 13.) 4. Juni Rut et Lamentationes (+ Jehuda Sarko, Libellus De numeris) / ed. A. G. et Pierre de Souslefour (Moreau # 2.256) ca. 1524 14.) Arabische Grammatik (nur handschriftlich) ca. 1531 15.) Dialogo nominato Corsica (nur handschriftlich), Erstausgabe in französischer Übertragung in: Histoire de la Corse comprenant la description de cette ile d’apre`s A. Giustiniani [. . .], Tome I, Bastia 1888 [reprografischer Nachdruck Marseille 1975], S. 1–85; kritische Ausgabe: A. G.: Description de la Corse, Pre´face, notes et traduction de Antoine-Marie Graziani (Publication de l’Association Pandetta Corsica 1993,2), Ajaccio 1993
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ca. 1535/6 16.) Castigatissimi annali, con la loro copiosa tavola, della eccelsa et illustrissima Republi. di Genoa, da fideli et approvati scrittori, per el reverendo monsignore Agostino Giustiniano accuratamente racolti . . ., Genoa: per A. Bellon, 1537 (postum gedruckt)
SPINOZAS PAPAGEIENARGUMENT UND LEIBNIZ’ ANTWORT. DIE BEDEUTUNG VON SPINOZAS HEBRAISTISCHEN ARGUMENTEN FÜR DIE ANFÄNGE CHRISTLICHER BIBELWISSENSCHAFT Ursula Goldenbaum
I. Zu Spinozas Wirkung Ein merkwürdiges Moment in der traditionellen Beurteilung der Wirkung des Tractatus theologico-politicus von Spinoza bringt Rüdiger Otto auf den Punkt: „In der Geschichte der historisch-kritischen Erforschung der Bibel nimmt der ,Theologisch-politische Traktat‘ eine Sonderstellung ein. In den einschlägigen Handbüchern besteht Einigkeit darüber, daß Spinoza entscheidende bibelkritische Einsichten gewonnen und methodische Grundsätze formuliert hat, vermöge derer er als einer der Begründer der Bibelwissenschaft gelten kann. In einem schroffen Gegensatz dazu steht die Feststellung, daß eine Wirkung des Traktats im Jahrhundert nach seiner Entstehung in der zünftigen Wissenschaft nicht zu entdecken ist.“1 Tatsächlich ist die Wirkung Spinozas auf seine Zeitgenossen nach wie vor umstritten. Die sich lange Zeit haltende Auffassung, wonach es schlicht keine positive Bezugnahme auf Spinozas Tractatus und somit auch keine Spinozarezeption gegeben habe, ist sicherlich zu einfach, wenngleich sie immer noch begegnet.2 1 R. Otto, Studien zur Spinozarezeption in Deutschland im 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M., Berlin u. a. 1994, S. 347. Selbst Emmanuel Hirsch behauptet in seiner außerordentlich kenntnisreichen Theologiegeschichte ganz apodiktisch: „Abseits der Hauptlinie vernünftiger Religionskritik, und gerade in England, das der erste Träger dieser Kritik wird, völlig unwirksam ist ein andrer viel berufner Ansatz zur freien philosophischen Betrachtung der biblischen Religion: der des Spinoza in seinem Tractatus theologico-politicus (gedruckt 1670).“ (E. Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Gütersloh 1951, Bd. 1, S. 256). Aber diese Aussage wäre nicht einmal aufrechtzuhalten, wenn man unter Wirkung Spinozas allein die Zustimmung zu ihm zu verstehen hätte. 2 Winfried Schröder hat in seiner Untersuchung der Wirkung der Philosophie Spinozas in der deutschen Frühaufklärung zu Recht darauf hingewiesen, daß eine genaue
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Eine solche Auffassung läßt sich nur dadurch rechtfertigen, daß man als Kriterium für eine Wirkung des Tractatus ausschließlich das Vorhandensein positiver Bezugnahmen auf Spinoza ansetzt, dagegen Kritik und Ablehnung als Wirkungslosigkeit schlechthin versteht. Im Ergebnis solcher Vorgehensweise ist natürlich das Ergebnis bereits programmiert, denn natürlich war die Ablehnung Spinozas bis zum Ende des 18. Jahrhunderts allgemein. Die bei näherem Hinsehen unbestreitbare und außerordentliche Wirkung des Tractatus theologico-politicus kommt aber gerade darin zum Ausdruck kommt, daß er 200 Jahre lang zu den meistwiderlegten Büchern gehörte und daß sich neben Magistern und Professoren der protestantischen theologischen Fakultäten auch die berühmtesten Autoren seiner Zeit und der folgenden Generationen an eine Widerlegung seiner Argumente machten. Zu diesen gehörten in Frankreich Fe´ne´lon und Pierre Daniel Huet, in England Samuel Clarke und Henry More, in den Niederlanden Regnier van Mansfelt und Lambert van Velthuysen, in Deutschland Jakob Thomasius, Musäus und Christian Wolff. Nachdem seit dem Ende des 19. Jahrhunderts immerhin die religionskritischen Außenseiter der deutschen Aufklärung als mögliche Spinozarezipienten ins Blickfeld der Forschung rückten, wurde die intensive Auseinandersetzung protestantischer Theologen mit Spinozas theoretischer Herausforderung erstmals durch Walter Sparn ins Licht gestellt und in systematischer Weise herausgearbeitet.3 Auch Rüdiger
Untersuchung der Rezeption Spinozas bis jetzt noch kaum erfolgt sei, sondern pauschale Versicherungen „einer verhältnismäßig starken Resonanz“ (W. Schröder, Spinoza in der deutschen Frühaufklärung, Würzburg 1987, S. 17) überwiegen. Aus dem berechtigten Mißtrauen gegen solche Allgemeinplätze scheint mir Schröder aber der Gefahr zu unterliegen, eine „Wirkung“ Spinozas auf die bloße Übernahme originär spinozischer Ideen, im Fall der Philosophie seines Determinismus, zu beschränken. Auf diese Weise wird die Frage nach einer Wirkung Spinozas – hier beschränkt auf die Wirkung seiner Philosophie – wiederum auf die Frage nach einem Spinozismus eingeengt, mit dem Resultat: „Der innovative Einfluß des Systems der ,Ethik‘, den die eingangs zitierten Autoren konstatieren zu können glaubten, ließ sich in den Quellen nicht nachweisen. [. . .] Die verschwindend geringe Zahl derer, die überhaupt Elemente des Systems der ,Ethik‘ aufgriffen, das völlige Fehlen einer epigonalen Anhängerschaft oder gar ,Schule‘ Spinozas, und mehr noch der Umstand, daß zentrale Zielsetzungen der Frühaufklärung einer mehr als selektiven Rezeption entgegenstanden, wecken Zweifel an der Spinoza oft zugeschriebenen Rolle eines Bahnbrechers der Aufklärung.“ (S. 178–9) Das Buch, das meines Erachtens gerade eine interessante, genaue und aufschlußreiche Darstellung der Rezeption Spinozas bietet, endet so mit dem wenig aussagekräftigen Satz: „– sie alle waren keine Spinozisten.“ (S. 179) 3 W. Sparn, „Formalis Atheus? Die Krise der protestantischen Theologie, gespiegelt in ihrer Auseinandersetzung mit Spinoza“, in: Spinoza in der Frühzeit seiner religiösen
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Ottos Studie zur deutschen Spinozarezeption enthält in ihren Einleitungskapiteln interessante Darstellungen über die innertheologische Spinozadiskussion im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert.4 Danach kann heute davon ausgegangen werden, daß der Tractatus von allen an theologischen Problemen interessierten Zeitgenossen zur Kenntnis genommen wurde, nicht nur von Theologen, sondern auch von all denen, denen das Verhältnis von Vernunft und Glauben ins Wanken gekommen war. Angesichts des Erfolges und der Überzeugungskraft der modernen mechanischen Naturwissenschaft und Philosophie war die christliche Theologie aller Konfessionen seit dem Ausgang des 17. Jahrhundert zunehmend unter Rechtfertigungsdruck geraten, nicht so sehr hinsichtlich einer natürlichen Religion, sondern gerade in Hinblick auf die Offenbarungswahrheiten. Diese sollten als Wahrheiten anerkannt und geglaubt werden, ohne daß sie der Vernunft zugänglich waren. Das aber stand den erkenntnistheoretischen Prinzipien von Galileis „Neuer Wissenschaft“, dem von Pascal in klassischer Weise definierten geometrischen Geist strikt entgegen, wonach keine Begriffe mehr zugelassen waren, die nicht klar und deutlich definiert worden waren und keine Sätze, die nicht aus solchen klaren und deutlichen Definitionen bestünden.5 Vor allem der Glaube an die der Vernunft unzugänglichen christlichen Mysterien, seit der Reformation ohnehin zum Zankapfel zwischen den Konfessionen geworden, schien die Parteigänger der modernen Wissenschaft zu überfordern, die nicht mehr glauben konnten, was sie sie nicht verstehen konnten, ja was der Vernunft zu widersprechen schien. In dieser Perspektive wäre es daher eher überraschend, wenn Spinozas Tractatus keine Wirkung auf die Zeitgenossen gehabt haben sollte. Zwar bleibt es unbestritten, daß Spinozas Schrift in ihrer radikalen theoretischen Konsequenz die meisten zeitgenössischen Leser abschrecken und entsetzen mußte und das starke Bedürfnis nach einer Widerlegung hervorrief; ungeachtet dessen ist sie wegen der theoretischen Seriosität des Autors – seiner gründlichen Kenntnis der hebräi-
Wirkung (Wolffenbütteler Studien zur deutschen Aufklärung, 12), hrsg. von K. Gründer u. W. Schmidt-Biggemann, Heidelberg 1984, S. 27–63. 4 Vgl. Otto, Studien zur Spinoza-Rezeption, S. 15–74. Allerdings liegen die Schwerpunkte dieser gründlichen Studie dann wieder auf den sogenannten „Spinozisten“ der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts sowie auf der sogenannten „Spinozarenaissance“ 1785. 5 Das Fragment L’Esprit ge´ome´trique von Blaise Pascal ist in der bekannten Logik von Port-Royal überliefert worden. Vgl. A. Arnauld u. P. Nicole, Die Logik oder Die Kunst des Denkens, üb. v. Chr. Axelos, Darmstadt 1972, S. 299–300 (T. IV, Kap. 3).
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schen Sprache, der Geschichte der Heiligen Schrift und besonders der rabbinischen Kommentare, vor allem aber wegen seiner methodischen Klarheit und Kohärenz der Argumentation – von allen redlichen Geistern sehr ernst genommen worden und selbst bei entschiedener Gegnerschaft respektiert worden. Bis in das frühe 18. Jahrhundert ist der Tractatus mehrfach ins Französische übersetzt worden. Das lateinische Original stand u. a. in den Bibliotheken des englischen Mathematikers Isaac Barrow, eines Freundes von Newton, des Hamburger Gelehrten Reimarus und des pietistischen Theologen Siegmund Jakob Baumgartens, des Begründers der Neologie. Seine Lektüre ist auch bekundet für Toland und die englischen Deisten, für Helvetius und Diderot, für Mendelssohn und Lessing. Auch hinsichtlich des großen Leibniz war es lange Zeit heftig umstritten, ob seine Philosophie in näherer Beziehung zu der Spinozas gestanden haben könnte. Obgleich seine Gegner ihm früh Determinismus und Spinozismus vorwarfen, vertrat die Leibniz-Forschung seit dem späten 19. Jahrhundert die Auffassung, daß Leibniz Spinozas Philosophie, d. h. seine Ethik, überhaupt erst zur Kenntnis genommen habe, nachdem er sein eigenes metaphysisches System in den wesentlichen Grundzügen bereits entworfen hatte, weshalb er keinerlei Anregungen von dem verruchten Philosophen mehr habe aufnehmen können.6 Ein mögliches Interesse von Leibniz für Spinozas Tractatus aber wurde gar nicht erst in den Blick genommen bzw. als philoso-
6 Vgl. G. E. Guhrauer, Quaestiones criticae ad Leibnitii opera philosophica pertinentes, Bratislava 1842, S. 3 und 15. Guhrauer vertritt die Ansicht, daß die Schrift vielmehr cartesianische Positionen von Leibniz belege. Vgl. auch A. Trendelenburg, „Ist Leibniz in seiner Entwicklung einmal Spinozist oder Cartesianer gewesen und was bedeutet dafür die Schrift ,de vita beata‘?“ in: Monatsberichte der Berliner Akademie der Wissenschaften (1847), S. 372–386. Trendelenburg weist sowohl den Cartesianismus als auch den Spinozismus als Durchgangsstufen der philosophischen Entwicklung von Leibniz zurück; A. Foucher de Careil, Me´moire sur la Re´futation ine´dite de Spinoza par Leibniz, Paris 1854, S. I–CVI. Das ist eigentlich die Einleitung zur ersten Veröffentlichung und französischen Übersetzung der Leibnizschen Animadversiones ad Joh. Georg. Wachteri librum de recondita Hebraeorum Philosophia, enthält aber zuvor eine umfangreiche Darstellung des Autors Foucher de Careil zum Verhältnis von Leibniz und Spinoza, in dem er die These eines Einflusses von Spinoza auf Leibniz sehr polemisch zurückweist. Vgl. auch ders., Leibniz, Descartes et Spinoza, avec un rapport par V. Cousin, Paris 1862; C. I. Gerhardt, „Leibniz und Spinoza“, in: Sitzungsberichte der Berliner Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bd. XLIX, Berlin 1889, S. 1075–1080; E. Cassirer, Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen, Marburg 1902, S. 519–520; W. Kabitz, Anmerkungen zu: K. Fischer, Geschichte der neuern Philosophie, Bd 3: Gottfried Wilhelm Leibniz. Leben, Werke und Lehre, Heidelberg 19205, S. 724 ff.; G. Friedmann, Leibniz et Spinoza, Paris 1946 (2. bearb. Aufl. Paris 1962, 19753).
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phisch bedeutungslos bestritten.7 Dagegen konnte ich vor wenigen Jahren den Nachweis führen, daß Leibniz den Tractatus tatsächlich schon bald nach seinem Erscheinen mit großem Interesse gelesen und sich mit den Argumenten intensiv auseinandergesetzt hat.8 Aus Briefen von Tschirnhaus und Leibniz wissen wir, – und hätten es längst wissen können, daß Leibniz das Werk außerordentlich geschätzt hat.9 Aber das heißt natürlich keineswegs, daß er sich den Thesen Spinozas und den daraus folgenden Konsequenzen etwa hätte anschließen können. Es bedeutete vielmehr eine Herausforderung für ihn, eine Lösung zu finden, die diesen starken, von ihm respektierten Argumenten Rechnung tragen konnte und die Dogmatik der christlichen Religion in ihren wesentlichen Bestandteilen aufrechtzuhalten vermochte. Diese ambivalente Haltung von Leibniz zu Spinozas Tractatus bietet auch die Erklärung dafür, daß sich neben dem seinem Freund Tschirnhaus in Paris bezeugten Respekt gegenüber dem wissenschaftlichen Wert des Tractatus zugleich die Äußerung gegenüber seinem Lehrer Thomasius findet, in der von einem „libellum intolerabiliter licentiosum“10 die Rede ist.
7 Vgl. U. Goldenbaum: „Die ,Commentatiuncula de judice‘ als Leibnizens erste philosophische Auseinandersetzung mit Spinoza nebst der Mitteilung über ein neuaufgefundenes Leibnizstück. Beilage: Leibniz’ Marginalien zu Spinozas ,Tractatus theologico-politicus‘ im Exemplar der Bibliotheca Boineburgica in Erfurt, also zu datieren auf 1670–71“, in: Labora diligenter. Potsdamer Arbeitstagung zur Leibnizforschung vom 4.–6.7.1996 (studia leibnitiana Sonderhefte, 29), hrsg. von H. Rudolph, Wiesbaden 1999, S. 61–127. 8 Vgl. G H. R. Parkinson, „Leibniz’s Paris Writings in Relation to Spinoza“, in: Leibniz a` Paris (1672–1672), Bd. 2: La philosophie de Leibniz (Studia Leibnitiana Supplementa, XVIII), Wiesbaden 1978, S. 73–89. 9 Vgl. Spinoza, Briefwechsel, üb. und hrsg. von C. Gebhardt, neu hrsg. von M. Walther, Hamburg 1986, S. 271–272. Tschirnhaus schreibt bekanntlich an Schuller, der dann das Anliegen an Spinoza am 14.11.1675 meldet. Auch aus dem Brief von Leibniz an Graevius vom 5.5.1671 geht Leibniz’ Hochschätzung des Werkes hervor: „Doleo virum doctum, ut apparet, huc prolapsum . . . Utinam excitari posset aliquis eruditione par Spinozae sed rei Christianae – (?) qui crebros eius paralogismos et literarum orientalium abusum refutet.“ (Gottfried Wilhelm Leibniz, Sämtliche Schriften und Briefe (Akademieausgabe, im folg. A, nebst römischer Ziffer für die Reihe, arabischer Ziffer für den Band, Stücknummer und Seitenangabe), Berlin 1926 ff., II, 1, Nr. 84, S. 148). 10 Vgl. A II, 1, Nr. 29, S. 66. Dabei hat er schon so viel Kenntnis vom Werk, daß er sich den Einwand gegen Thomasius’ Darstellung erlaubt, Spinoza sei nicht nur im politischen, sondern auch im theologischen Teil von Hobbes und nicht von Cherbury abhängig. Vgl. ebd. – Die Formulierung findet sich so übrigens auch von Boineburgs Hand zwischen die Zeilen des gedruckten Titels im Handexemplar notiert.
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II. Spinozas theoretische Herausforderung Diese widersprüchliche Wirkung Spinozas, die gewissermaßen in Bewunderung und Entsetzen zugleich bestand,11 beruhte vor allem auf ihrem kohärenten methodischen Ansatz, der ohne Rücksicht auf die christliche Dogmatik, wenngleich nicht gegen sie durchgeführt wird. Hinsichtlich seines wissenschaftlichen Anspruchs unterscheidet sich Spinoza von zeitgenössischen Religionsspöttern ebenso wie von dem zunehmenden Fideismus, entspringend aus der Resignation gegenüber dem Problem von Glauben und Vernunft. Vor allem der sozinianischen Argumentation ist er hoch überlegen. Aufgrund seiner Unabhängigkeit von christlich-dogmatischen Vorbehalten überschreitet er die selbstgezogenen Grenzen vor allem protestantischer Schriftgelehrter und Hermeneutiker, die nur partiell und unter Vorbehalt wagten, den sich ihnen aufdrängenden Ergebnissen ihrer kritischen Arbeit mit den Texten konsequent zu folgen (dennoch gerieten Autoren wie Grotius und Jean Leclerc schon oft genug unter Verdacht und sahen sich Angriffen von Glaubensgenossen ausgesetzt). Wie nur wenigen christlichen Gelehrten war Spinoza die hebräische Sprache vertraut und er hatte Zugang zu den rabbinischen Kommentaren und zu den Quellen der jüdischen Geschichte. Dieser Kenntnisreichtum machte es den gewöhnlichen Theologen außerordentlich schwer, die Argumente des Tractatus wirklich zu widerlegen. Vor allem aber war es die Kohärenz des methodischen Ansatzes, der es Spinoza erlaubte, eine Bibelkritik als freie historische Textkritik zu erarbeiten, ohne die dabei gefundenen und benannten Widersprüche im Text – Kontradiktionen der Aussagen, unmotivierte Redundanzen, chronologische Schwierigkeiten etc. – als Argumente gegen die Wahrheit der Religion oder als Priesterbetrug interpretieren zu müssen. Spinoza hat vielmehr die Kraft der Religion als Erfahrungstatsache anerkannt und versucht, diese Kraft aus der sozialen Funktion der Religion zu erklären.12 Dies gelingt ihm durch eine klare Trennung der 11
U. Goldenbaum, Zwischen Bewunderung und Entsetzen. Leibniz’ frühe Faszination durch Spinozas ,Tractatus theologico-politicus‘ , Medelingen vanwege het Spinozahuis. Ed. by the executive committee of the society Het Spinozahuis, 80, Delft 2001, S. 3–27. 12 Vgl. U. Goldenbaum, „Der historische Ansatz des Theologisch-politischen Traktats Baruch Spinozas als ein Ausweg aus den religionsphilosophischen Debatten des 17. Jahrhunderts“, in: Religionsphilosophie. Europäische Denker zwischen philosophischer Theologie und Religionskritik (Religion in der Moderne, 4), hrsg. von Th. Brose, Würzburg 1998, S. 83–112.
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zufälligen, historisch veränderlichen und in seiner Sicht der Religion äußerlichen Momente wie die überlieferten Texte und ihr Material Papier und Tinte, der Kultus und die Sitten, von der zentralen Lehre der Religion, die er in der auch in der Schrift durchgehend gelehrten wahren Lebensweise erkennt. Die Wahrheit der Religion besteht für Spinoza so schlechthin in der Wahrheit der von ihr gelehrten Lebensweise. Sofern daher die Heilige Schrift in deutlich erkennbarer Weise die Liebe Gottes und die Liebe des Nächsten lehrt, worin Spinoza eben die wahre Lebensweise sieht, ist sie eine göttliche Schrift, unabhängig davon, ob sich in ihr auch einzelne falsche Aussagen finden lassen. Allerdings dürfen wir die Lehre von der wahren Lebensweise nicht deshalb, weil wir sie mit der Vernunft als wahr erkennen, der Bibel als ihre Lehre unterstellen, sondern sie muß sich im Text selber eindeutig finden lassen, bevor wir diese Schrift göttlich nennen können. Eben das ist das Anliegen des Unternehmens des Tractatus – eine Untersuchung der Heiligen Schrift auf die in ihr selbst gelehrten Lebensweise, unabhängig davon, ob sie wahr ist oder nicht. Spinoza fragt daher zunächst nicht nach der Wahrheit der Heiligen Schrift, sondern nach dem Sinn der einzelnen Texte. Erst wenn dieser festgestellt worden sei, könne über die Wahrheit der einzelnen Aussagen sowie über die Wahrheit und damit die Göttlichkeit der Schrift entschieden werden. Für seine Suche nach dem Sinn der einzelnen Passagen entwickelt Spinoza im 7. Kapitel eine eigene Hermeneutik. Er fordert zunächst eine Rekonstruktion der hebräischen Sprache und eine hebräische Grammatik. Weiterhin hält er eine Geschichte des jüdischen Volkes für notwendig, um die Texte zeitlich ordnen zu können. Um den Sinn eines Textes ausmachen zu können, müsse man zudem die Intentionen des jeweiligen Autors verstehen, weshalb es erforderlich sei, die Biographien der Autoren, ihren sozialen Status, ihren Bildungsgrad, ihren Erfahrungshorizont kennenzulernen. Erst auf der Grundlage eines solchen kontextualen Wissens sei es möglich, zu einem adäquaten Verständnis der Texte zu kommen und ihren Sinn zu verstehen. Im Projekt einer solchen Rekonstruktion liegen nach Spinoza allerdings zugleich unüberwindliche Schwierigkeiten. Dies betrifft schon die sprachlichen Probleme. Zum einen sei die hebräische Sprache zu wesentlichen Teilen vergessen und daher kaum noch vollständig rekonstruierbar. Zudem könnten hebräische Worte, u. a. wegen des Fehlens von Vokalen, mehrere, sogar bis zu acht Bedeutungen haben. Auch seien die Tempi der Verben nicht eindeutig erkennbar. Schon diese Schwierigkeiten des Textverständnisses lassen Spinoza daran zweifeln, jemals ein vollstän-
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diges Verständnis aller Texte zu erlangen. Hinzu kommen Textverluste, verderbte Texte, Unklarheiten über die Interpretation der Punktierung, Unwissen über weite Teile der jüdischen Geschichte usw. Von daher ist für Spinoza klar, daß ein erheblicher Teil der Heiligen Schrift notwendig für immer dunkel und unverständlich bleiben werde. Darin sieht Spinoza allerdings kein grundsätzliches Problem für das Verständnis der Heiligen Schrift, insofern hinreichend viele Stellen überliefert seien, die klar und verständlich und ohne Widerspruch eine bestimmte Lebensweise lehrten. Wenn wir der Frage nachgingen, was das Allgemeinste, was die Grundlage der ganzen Schrift sei, so könnten wir klar verstehen, daß „von allen Propheten“ „überall so klar und ausdrücklich“ „als ewige und allen Sterblichen höchst heilsame Lehre empfohlen wird“13, daß es nur einen allmächtigen Gott gibt, der allein anzubeten ist, der für alle sorgt und diejenigen vor allen liebt, die ihn anbeten und ihren Nächsten lieben wie sich selbst. Diese Lehre der Heiligen Schrift, die Aufforderung zur wahren Lebensweise, ist nach allen Texten der Heiligen Schrift ohne Widerspruch ihre Botschaft, die Gott uns durch Bilder und Geschichten, durch Gesetze und religiöse Vorschriften, bringen wollte. Diese Lehre sei der völlig unbezweifelbare Sinn der Schrift, die uns zwar nicht als gewisse, d. h. bewiesene Erkenntnis der wahren Lebensweise mitgeteilt wird, aber doch aufgrund des Zeugnisses so vieler frommer Männer über eine so lange Zeit, deren moralische Integrität überliefert ist, mit moralischer Gewißheit. Überdies aber stimme diese Lehre im Grunde auch mit den Forderungen einer Ethik überein, die uns die wahre Vernunft mit demonstrativer Gewißheit lehrt. Aus der Wahrheit der in der Schrift gelehrten Lebensweise folgert Spinoza dann auf die Göttlichkeit der Schrift. Zugleich fordert Spinoza die Theologen auf, endlich von fruchtlosen Streitigkeiten über den Sinn einzelner unverständlicher und dunkler Stellen der Schrift abzusehen; diese könnten zu nichts führen, da auch ihnen wie allen anderen Sterblichen allein die natürliche Vernunft zu Gebote stünde. Und an dieser Stelle folgt dann, im 13. Kapitel des Tractatus das schlagende „Papageienargument“, das von den englischen Deisten sogleich aufgenommen wird:14 Wenn wir über Dinge
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Spinoza, Theologisch-politischer Traktat, hrsg. von G. Gawlick auf der Grundlage der Üb. v. C. Gebhardt. Hamburg 1976, S. 113–137, hier S. 119. Vgl. das lateinische Original in: Spinoza, Opera quotquot reperta sunt, 3 Bde, hrsg. von J. van Vloten u. J. P. N. Land, Den Haag 1895, Bd. 2, S. 37–55, hier S. 41.
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sprechen oder Urteile fällen, die wir nicht verstehen, so sprechen wir wie ein Papagei oder ein Automat: „Wenn nun einer sagt, es sei nicht nötig, Gottes Attribute zu verstehen, man müsse sie vielmehr einfach und ohne Beweis glauben, so redet er offenbaren Unsinn. Denn unsichtbare Dinge, die Objekte bloß des Geistes sind, können mit keinen anderen Augen gesehen werden als durch Beweise, und wenn man die nicht hat, sieht man von diesen Dingen ganz und gar nichts. Was man darüber hört und nachspricht, berührt den Geist nicht mehr und hat keine größere Bedeutung als die Worte eines Papageien oder eines Automaten.“15 Die zentrale Forderung Spinozas hinsichtlich der Bibel lautet also, sich des Urteils über alle unverständlichen Stellen zu enthalten, nutzlose konfessionelle Streitigkeiten zu beenden und sich stattdessen an die eindeutige Botschaft der Nächstenliebe zu halten.
III. Leibniz’ Antwort 16 Beim Erscheinen des Tractatus theologico-politicus war Leibniz gerade mit der Ausarbeitung und Publikation seiner Lösung des Problems der von vielen Seiten behaupteten Widervernünftigkeit der christlichen Mysterien beschäftigt – der Theoria motus abstracti.17 Schon zuvor
14 Vgl. W. Schröder, „Psittazismus (psittacisme)“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von J. Ritter u. K. Gründer, Bd 7, Basel 1989, Sp. 1569. Schröder verweist darauf, daß das Wort vorher im Französischen nicht belegt sei. Im Englischen finde sich der Ausdruck (parrotism/parrotry) (zufolge dem Oxford English Dictionary, Oxford Univ. Press 1994) zuerst erst 1773. Allerdings gebraucht Seth Ward bereits 1647 das Wort „parrotize“, allerdings nicht im Sinne des Psittazismus-Arguments. Schröder benennt als Kontext des Leibnizschen Begriffs Psittazismus ausdrücklich das hier diskutierte Mysterienproblem. Interessanterweise findet sich der „Papagei“ als Bezeichnung für Gläubige, die nicht wissen, warum sie glauben, 1680 auch bei dem englischen Deisten Charles Blount, in Reimarus’ von ihm nicht veröffentlichter Schutzschrift sowie in Edelmanns Göttlichkeit der Vernunft. 15 „Quod si quis dicat, non esse quidem opus Dei attributa intelligere, at omnino simpliciter, absque demonstratione, credere; is sane nugabitur. Nam res invisibiles, et quae solius mentis sunt objecta, nullis aliis oculis videri possunt, quam per demonstrationes; qui itaque eas non habent, nihil harum rerum plane vident; atque adeo quicquid de similibus auditum referunt, non magis eorum mentem tangit sive indicat, quam verba psittaci vel automati, quae sine mente et sensu loquuntur.“ (Spinoza, Tractatus theologico-politicus, S. 104. [13. Kap.]; Spinoza, Theologisch-politischer Traktat, S. 208) 16 Dieser Abschnitt beruht zum Teil auf meinem Aufsatz zu Leibniz’ Commentatiuncula de judice (siehe Anm. 7). 17 Den engen theoretischen Zusammenhang der scheinbar physikalischen Sätze der Theoria motus abstracti mit seinem Projekt einer Philosophie des Geistes und mit seinen theologischen Überlegungen stellt er im November 1671 in seinem großen Brief an
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hatte er die Verteidigung der christlichen Mysterien gegen die Sozinianer übernommen.18 In beiden Fällen konnte sich Leibniz bei der Ausarbeitung seiner Argumentationsstrategie auf die Unerkennbarkeit der Mysterien stützen, – er machte gewissermaßen aus der Not eine Tugend. Gerade weil die Mysterien der Vernunft grundsätzlich unzugänglich waren, konnte jede Aussage, die ihre Widervernünftigkeit aufzuweisen suchte und dazu Deutungen der Mysterien vorlegen mußte, als in sich widersprüchlich zurückgewiesen werden. Spinoza aber hatte nun gar nicht versucht, die Mysterien als widervernünftig zu kritisieren. Er hatte nur gefordert zu schweigen, wenn man – wie auch im Fall der Mysterien – nichts verstehe. Und man könne eben mitunter nichts verstehen, wegen der bekannten Probleme mit der hebräischen Sprache. Die Brisanz dieses Arguments hat Leibniz sogleich in seiner ganzen Grundsätzlichkeit und Gefahr für die christlichen Mysterien erkannt und sich von nun an zeitlebens mit diesem Argument auseinandergesetzt, das in seinen Schriften auch unter den Topoi „leere Worte“ oder „Blitiri“ auftritt. In den Nouveaux essais prägte er sogar einen eigenen Namen für dieses Argument – „Psittacisme“.19 Den ersten grundlegenden und bleibenden Begriff, der seine Antwort auf Spinoza enthält, entwickelt er jedoch schon in seiner ersten Auseinadersetzung mit Spinoza 1670/71. Das wichtigste Dokument dieser Auseinandersetzung stellen Leibniz’ Commentatiuncula de judice controversiarum dar. Diese größere Schrift ist zum ersten Mal 1930 in der historisch-kritischen AkademieAusgabe abgedruckt worden und dort der Textgruppe der „Demonstrationes catholicae“ zugeordnet worden. Dabei entspricht „katholisch“ keineswegs dem heutigen einschränkenden Gebrauch; wenn Leibniz von der Katholischen Kirche im heutigen Wortsinn spricht, benutzt er nämlich den Terminus „Römische Kirche“. Während der weitaus kleinere zweite Teil dieses insgesamt 58 Paragraphen umfassenden Textes sich um eine eindeutige und unparteiliche Einrichtung eines Gesetzeswerks mit klaren Verfahrensregeln dreht, das parteiischen oder unverständigen Richtern keinen Spielraum läßt, ist der
Antoine Arnauld – nach der Veröffentlichung der Theoria motus abstracti und der Hypothesis physica nova dar. Leibniz an Arnauld im November 1671 (A II, 1, Nr. 87, S. 173). 18 Vgl. Leibniz, Responsio ad Objectiones Wissowatii contra Trinitatem et Incarnationem DEI altissimi (A VI, 1, Nr. 16, S. 518–530); Leibniz, Refutatio objectionum Dan. Zwickeri contra Trinitatem et Incarnationem Dei (A VI, 1, Nr. 17, S. 531–532). 19 Vgl. Leibniz, Nouveaux essais (A VI, 6, Nr. 2, S. 186 und 190).
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umfangreichere erste Teil dieser Schrift der Bibel als Richterin in religiösen Streitfragen gewidmet. Wenn ich von einer ersten Auseinandersetzung von Leibniz mit Spinozas Tractatus in diesem Text spreche, geht es mir allein um diesen ersten Teil. Darin werden gut protestantisch die Bedingungen der Möglichkeit einer Geltung der Heiligen Schrift als Richterin in religiösen Kontroversen diskutiert. Es geht um die Prinzipien der Schriftauslegung, um literale oder allegorische Auslegung strittiger oder schwer bis unverständlicher Stellen, um den Streit der „Rationales“ contra „Textuales“, und um den Erweis der Göttlichkeit der Schrift. Es sind dabei insbesondere zwei Argumentationsketten von Leibniz, die meines Erachtens eine genaue Antwort auf Spinozas Tractatus sind: 1. Leibniz’ Auseinandersetzung mit Spinozas Papageienargument aus dem 13. Kapitel des Tractatus, die sich über zwölf Paragraphen hin erstreckt, d. h. über ein Drittel dieses Teils der Schrift. 2. Leibniz’ Verteidigung der Eindeutigkeit aller für den Glauben essentiellen Aussagen der Heiligen Schrift sowohl im ursprünglich hebräischen Text, als auch in den Übersetzungen aller Sprachen gegen die Einwände Spinozas, die hebräische Sprache sei zu wesentlichen Teilen vergessen, kaum vollständig rekonstruierbar, hebräische Worte könnten z. B. wegen des Fehlens von Vokalen bis zu acht Bedeutungen haben, die Tempi der Verben seien nicht eindeutig erkennbar, weshalb ein erheblicher Teil der Schrift für immer dunkel und unverständlich bleiben würde. Bevor ich allerdings auf diese beiden Hauptkritikpunkte zu sprechen komme, will ich kurz darlegen, worin Leibniz durchaus mit Spinoza übereinstimmen konnte. Erst auf diesem Hintergrund kann deutlich werden, wie sehr Leibniz durch Spinozas Argumente betroffen sein mußte und worin genau seine Gegnerschaft zu dem berüchtigten Philosophen lag. A. Gemeinsamkeiten Bei näherem Hinsehen, insbesondere im Vergleich mit anderen zeitgenössischen Positionen, zeigt sich nämlich, daß Leibniz mit wichtigen Prinzipien Spinozas durchaus einverstanden ist. Das gilt zunächst für Spinozas strikte Forderung einer rein literalen Auslegung der Schrift, gegen alle metaphorische Interpretation auch sogar dann, wenn eine Aussage der Schrift unserer vernünftigen Einsicht widerspreche. Als Repräsentanten dieser u. a. von Spinozas Freund Ludwig Meier vertretenen Ansicht kritisiert Spinoza im Tractatus den jüdischen Philo-
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sophen Maimonides. Auch der Lutheraner Leibniz argumentiert aus anderen guten Gründen gegen die „Vernünftler“, die Rationales, die wie die Deisten und Sozinianer mehr Vernunft in die Schrift bringen wollten und deshalb insbesondere die „vernunftwidrigen“ Mysterien attakkierten. Im § 6 der Commentatiuncula heißt es, daß der Text selbst ausreicht für alle Fragen über die Religion, die sich auf den Glauben beziehen. [. . .] Denn Fragen, die auf den Glauben gehen oder zur Grundlage des Heils gehören, dürfen nicht durch Schlußfolgerungen aus dem Text abgeleitet werden, sondern müssen in ihm wörtlich [in terminis] enthalten sein.20
Leibniz fährt im folgenden § 7 fort: Wenn folgende Regel eingehalten wird, daß nichts als wissensnotwendig zugelassen werden darf, was nicht in der Heiligen Schrift in Begriffen enthalten ist, dann werden sogleich alle Fragen über den heilsbringenden Glauben behoben sein, und folglich wird die Schrift die Richterin für alle Streitfragen sein, die zum Heil notwendig sind.21
Daß Leibniz Spinozas Position der literalen Interpretation in diesem Sinne verstanden hat, geht aus seiner eigenen Darstellung der Prinzipien von Spinozas Hermeneutik hervor, die er auf Wunsch seines katholischen Dienstherrn, Johann Friedrich von Braunschweig-Lüneburg, nicht lange nach seinem Dienstantritt in Hannover im Februar 1677 in einem außerordentlich diplomatischen Brief bietet: Spinoza sei der Auffassung, „daß die Schrift der Interpret der Schrift sei: d. h. weder die Kirche, noch die Vernunft ist dieser Interpret; die Kirche nicht, weil er [wie Leibniz selbst] die Unfehlbarkeit nicht anerkennt, und die Vernunft ebenso nicht, weil er sich einbildet, daß die Autoren der Heiligen Schriften oft im Irrtum befangen waren, und daß folglich, wer sie gemäß der wahren Philosophie erklären will, ihre wirklichen Auffassungen nicht verstehen wird.“22 20 „Et tamen ajo textum ipsum sufficere omnibus quaestionibus de religione ad fidem pertinentibus. [. . .] Nam quaestiones quae sunt de fide, seu ad fundamentum salutis, non debent per consequentiam ex textu derivari, sed in eo in terminis contineri.“ (Die Commentatiuncula de judice controversiarum werden im folgenden oben nach den Paragraphen zitiert, die Seitenangaben werden unten in den Anmerkungen nach dem Originaltext gegeben (A VI, 1, Nr. 22, S. 548–559, hier S. 548–549). 21 „Haec regula si teneatur, nihil esse admittendum tanquam scitu necessarium ad salutem, nisi quod in Scriptura Sacra in terminis contineatur, jam omnes de fide salutari quaestiones erunt sublatae, et per consequens Scriptura erit judex omnium controversiarum necessariarum ad salutem.“ (A VI, 1, Nr. 22, S. 549) 22 «que l’e´criture est l’interprete de l’ecriture: c’est a` dire que ny l’eglise, ny la raison n’est pas cet interprete; Non pas l’eglise, par ce qu’il n’en reconnoist pas l’infall-
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Ein anderer Punkt grundsätzlicher Übereinstimmung von Leibniz mit Spinoza ist die Ansicht, daß die Göttlichkeit der Schrift nicht aus ihr selbst entnommen werden, sondern nur „durch Vernunft und Geschichte“ geprüft werden könne: „denn selbst wenn sie sich das ,Wort Gottes‘ nennt, muß dies von woandersher geprüft werden“ (§ 16). Eben diese Auffassung vertritt auch Spinoza, für den sich die Göttlichkeit der Schrift allerdings aus der Übereinstimmung ihrer Gebote mit der wahren Lebensweise, vor allem der Nächstenliebe ergibt. Die Gebote der Offenbarung in der Schrift stimmten so mit denen der göttlichen Offenbarung der Vernunft überein. Eine dritte wesentliche Gemeinsamkeit der Auffassung scheint mir in der zentralen Stellung der Liebe zu liegen, die für beide Philosophen die entscheidende Lehre der Heiligen Schrift bildet, die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten. Für beide gilt, wer ohne Liebe ist, ist ohne Glauben. Die starke Betonung der Liebe als seligmachendes Essential christlicher Religion unabhängig von der Zugehörigkeit zur wahren Kirche wird Leibniz noch mehrfach Probleme vonseiten der christlichen Theologen aller Konfessionen eintragen.23 B. Differenzen Ich komme nun zu den beiden oben genannten Punkten der kritischen Auseinandersetzung zurück. Gerade weil Leibniz wie Spinoza die Auffassung teilte, daß wir zu einer streng literalen Interpretation die Geschichte der Autoren und die Kenntnis der Sprache untersuchen müssen, um dadurch den Sinn der überlieferten Texte erst korrekt verstehen zu können, mußte ihn Spinozas Schlußfolgerung, daß wir viele Stellen der Schrift wohl nie mehr verstehen können, da uns die Mittel zu einer vollständigen Geschichte der Schrift ebenso wie zu einer vollständigen Rekonstruktion der hebräischen Sprache weitgehend fehlen, zutiefst beunruhigen. Sowohl Spinozas Darstellung der Schwierigkeiten mit einer Rekonstruktion der hebräischen Sprache als auch das Papageienargument berühren das Verständnis der Heiligen Schrift.
ibilite´, et la raison non plus, par ce qu’il s’imagine que les auteurs des livres sacre´s ont este´ souvent dans des erreurs, et que par consequent celuy qui les voudroit expliquer suivant la veritable philosophie, n’entendroit pas bien leur veritables sentimens.» (A II, 1, Nr. 134, S. 303) 23 Vgl. Leibniz’ Korrespondenz mit Paul Pelisson-Fontanier, in: Reflexions sur les differens de la religion, 4. Teil, Paris 1691 (A I, 6, Nr. 59–61 sowie Nr. 65, 68, 75 u. 78).
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Seine detaillierte Schilderung der Schwierigkeiten, die sich aus der fast vergessenen hebräischen Sprache für das Verständnis der Heiligen Schrift ergeben, weshalb uns viele Stellen für immer unverständlich und dunkel bleiben werden, bei gleichzeitiger Warnung, solche dunklen Stellen zu göttlichen Geheimnissen, zu Mysterien zu stilisieren, war ein klarer Angriff auf die christlichen Mysterien. 1. Leibniz’ Antwort auf das Papageienargument Leibniz, der, wie bereits erwähnt, gerade zu dieser Zeit intensiv an den Beweisen für die Möglichkeit der christlichen Mysterien arbeitete, die der menschlichen Erkenntnis grundsätzlich verschlossen bleiben mußten, insbesondere an dem der Möglichkeit der Transsubstantiation bzw. Realpräsenz in der Eucharistie, nennt dieses Argument im § 20 „keine kleine Schwierigkeit“ [non modica difficultas] und erklärt das im folgenden: Denn Glauben wird Empfindungen [sensus] geschenkt, nicht Worten. Es genügt also nicht, daß wir glauben, derjenige habe Wahres gesagt, der diesen Satz gesprochen hat „dies ist mein Leib“, wenn wir nicht auch wissen, was er gesagt hat. Wir wissen aber nicht, was er gesagt hat, wenn wir uns nur an die Worte halten, ohne ihre Kraft und Macht zu kennen. Das beweise ich auch so: Der Glaube besteht darin zu glauben. Zu glauben heißt, Wahres zu meinen. Wahrheit gibt es nicht von Worten, sondern von Dingen, denn wer Wahres meint, meint, daß sich die Sache so verhält, wie die Worte es bedeuten. Niemand aber kann dies, wenn er nicht weiß, was die Worte bedeuten, oder wenigstens ihre Bedeutung denkt.24
Daß Leibniz hier genau die genannte Spinoza-Stelle im Auge hat, wird meines Erachtens auch durch den Nachhall dieser Formulierungen in dem bekannten späteren Leibnizschen Exzerpt des Tractatus theologico-politicus von 1675/6 bestätigt, wo er – nun schon in Paris – Spinozas Meinung, abweichend von dessen Formulierung, in seinen eigenen Worten aus den Commentatiuncula niederschreibt, und wo es zum besagten 13. Kapitel des Tractatus heißt: „Gottes Attribute nur zu glauben, nicht zu wissen, ist nichts. Denn damit Du glauben kannst, ist 24 „Nam fides est sensus, non vocum, non sufficit igitur nos credere verum locutum esse qui hanc propositionem dixit, hoc est corpus meum; nisi sciamus etiam quid dixerit. Non autem scimus quid dixerit si verba tantum teneamus, ignorata vi et potestate. Quod et si probo: Fides est credere. Credere est verum putare. Veritas est non verborum sed rerum; nam qui verum putat, putat sic rem se habere, ut verba significant, nemo autem hoc potest, nisi sciat, quid verba significent, vel saltem eorum significationem cogitet.“ (A VI, 1, Nr. 22, S. 550)
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es nötig zu verstehen, und dieses [nämlich die unsichtbaren Attribute Gottes] kann mit keinen anderen Augen als durch Beweise verstanden werden.“25 Der Sinn Spinozas ist genau getroffen, aber der Satz ist mit der eigenen Formulierung schon „zurechtgelegt“ für die Erwiderung. In den folgenden Paragraphen der Commentatiuncula entwickelt er dann einen Lösungsversuch für das von Spinoza aufgeworfene Problem, der meiner Ansicht nach außerordentlich folgenreich für seine künftigen erkenntnistheoretischen Überlegungen geworden ist, weil er eine grundlegende Aufwertung der konfusen Ideen bedeutet, die zwar eine nur sehr opake Erkenntnis seien, aber doch schon eine Art der Erkenntnis und nicht nichts. Er antwortet auf Spinozas Einwand im § 21, „daß es zum Glauben nicht immer nötig ist zu wissen, was der wahre Sinn der Worte ist, wenn wir ihn nur erkennen [. . .] und nicht positiv verwerfen, sondern uns zweifelnd verhalten, auch wenn wir in eine andere Richtung neigen.“26 Und er fährt fort: „Manchmal genügt es uns sogar zu glauben, daß jeder beliebige Sinn, der in ihnen enthalten ist, wahr ist, und zwar ganz besonders in den Mysterien, bei denen die Ausübung nichts ändert, welcher Sinn auch immer es schließlich sei.“27 Und nun kommt Leibniz ausdrücklich auf das Papageienargument zu sprechen: Doch darf der Verstand nicht schlechthin auf Worte verfallen, wie ein Papagei, sondern es muß von ihm irgendein, wenn auch allgemeiner konfuser und gewissermaßen disjunktiver Sinn gewahrt werden, wie ihn über ziemlich alle theoretischen Dinge ein Bauer oder ein anderer Mann aus dem Volke hat. (§ 22)28
In den weiteren Paragraphen führt Leibniz dieses Argument weiter aus, spricht über das Zureichende dieser Erkenntnisart in allen alltäglichen Fragen des Lebens, verweist darauf, daß die meisten Christen aller 25 „Dei attributa credere tantum non scire nihil est. Nam ut credas intelligi opus est, at ista non aliis oculis quam demonstrationis intelliguntur.“ (Leibniz, Aus Spinozas Tractatus theologico-politicus [A VI, 3, Nr. 18, S. 268]) 26 „non semper esse opus ad fidem, ut sciamus quis sensus verborum sit verus, dummodo eum intelligamus, nec rejiciamus positive, sed circa eum nos habeamus dubitative, etsi alio inclineamus.“ (A VI, 1, Nr. 22, S. 550) 27 „Imo sufficit interdum quod credamus: quicunque in iis sensus contineatur eum esse verum, idque inprimis in mysteriis in quibus praxis non variat, quisquis tandem sit sensus.“ (Ebd.) 28 „Necesse est tamen ut intellectus non nude cadat super voces, uti psittacus, sed ut obversetur ei sensus aliquis etsi generalis et confusus, et quasi disjunctivus, qualem fere de omnibus rebus theoreticis habet rusticus, aut alius homo plebejus.“ (A VI, 1, Nr. 22, S. 551)
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Zeiten sich mit dieser opaken Erkenntnis der Mysterien begnügt hätten, um abschließend festzustellen, „daß folglich die Anerkennung der in der Bibel ausgedrückten Formel zusammen mit einer konfusen Kenntnis des Verstandes von der Bedeutung und einer sich in Gegensätzen bewegenden Zustimmung oder Meinung zum Heil hinreicht.“ (§ 32)29 Marcelo Dascal hat auf die problematischen Konsequenzen dieser Position für die Begründung der Wahrheit der christlichen Religion hingewiesen;30 zu konstatieren ist dennoch, daß Leibniz Spinozas Argument, wer glaube oder nachspreche, was er nicht versteht, spreche ohne Sinn wie ein Papagei oder Automat, insofern zu relativieren vermag, daß auch eine solche opake Erkenntnis den Worten einen Sinn, wenn auch nur in konfusen Ideen, zu geben vermag. 2. Die hebraistischen Argumente Spinozas Bedenken über die Grenzen unseres Verständnisses der Ursprache der Heiligen Schriften mußten Leibniz aber ebenso alarmieren. Aufgrund seiner Überzeugung von der Notwendigkeit einer streng literalen Interpretation der Heiligen Schrift war das unabweisbare Argument, daß schlicht die Unkenntnis der hebräischen Sprache zu grundsätzlichen Verständnisschwierigkeiten führen müsse, für Leibniz von erheblichem Gewicht. Zunächst unternimmt er es in den Commentatiuncula, diesen Einwand hinsichtlich der christlichen Mysterien zu bestreiten, und zwar im Sinne einer Selbstverständigung über die von ihm klar anerkannten Probleme. Zunächst bekräftigt er noch einmal seine Überzeugung, daß die Interpretation der Heiligen Schrift streng literal vorzugehen habe. Dies sei nicht unbedingt notwendig bei einzelnen Fragen des Kultes und der täglichen Praxis des Christenlebens, aber doch unbedingt „bei Fragen [. . .] über den einen und dreieinigen GOTT, über Christi Natur und Person, über die Präsenz Christi und des Brotes beim Abendmahl, über die Prädestination, und was sonst noch die Welt erregt. Bei diesen Dingen darf kein Satz als vom Glauben handelnd zugelassen werden, der nicht bei wörtlicher Übersetzung der Heiligen Schrift aus den Quellen in den Worten selbst [in terminis] 29 „Et per consequens apprehensionem expressae in Script. Sacra formulae, cum intellectus confusa significationis cognitione, et disjunctivo quodam assensu seu opinione, sufficere ad salutem.“ (A VI, 1, Nr. 22, S. 552) 30 Vgl. M. Dascal, “Reason and the mysteries of faith: Leibniz on the Meaning of Religious discourse”, in: ders., Leibniz. Language, signs and thought, a collection of essays, Amsterdam 1987, S. 93–124.
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enthalten ist.“ (§ 12)31 Dann wirft er jedoch die Frage auf: „Was aber, wenn es sich um die Frage nach dem Sinn des Originaltextes handelt, und dieser ist zweifelhaft, wie es wegen der Mehrdeutigkeiten im Hebräischen vorkommt?“32 (§ 13) Mit diesen Worten formuliert er exakt das von Spinoza im Tractatus hinsichtlich der vielen möglichen Äquivokationen im Hebräischen aufgeworfene Problem. Dagegen entwickelt er nun folgendes Argument: „Ich antworte: Auch so wird die Sache leicht sein, wenn nur jene Stellen als vom Glauben handelnd genannt werden, bei denen alle Fassungen übereinstimmen.“33 Damit räumt Leibniz grundsätzlich die Stichhaltigkeit des Spinozaschen Bedenkens ein, denn er ist offensichtlich bereit, alle Stellen zu verwerfen, die nicht in allen Fassungen übereinstimmen. Er sucht aber den Konsequenzen Spinozas zu entgehen, indem er fortfährt: „Denn wenn ich mich nicht täusche, gehen die Fassungen bei Dingen von großer Bedeutung [magnum momentum] nicht auseinander, und der griechische Originaltext ist keineswegs dunkel.“34 Allerdings ist sich Leibniz hinsichtlich des hebräischen Originaltextes offenbar nicht so sicher, was seine Aktivitäten verständlich macht, geeignete gelehrte Hebraisten als Widerleger zu finden. Der nachfolgende Satz klingt nicht eben überzeugend, sondern eher defensiv: „Und wenn auch der hebräische dunkler ist, werden doch unter diesem Vorwand kaum irgendwelche Hauptpunkte des Glaubens in Frage gestellt.“ (§ 13)35 Sicherheitshalber fügt Leibniz die Feststellung hinzu: „Aber auch, wo der Sinn einer Stelle fraglich ist, ist die Fassung gewöhnlich dieselbe; z. B. übersetzen die Evangelischen und die Reformierten die Stellen der Schrift über das Abendmahl des Herrn auf genau die gleiche Art und so auch sonst.“ (§ 15)36 31 „in quaestionibus a praxi remotis, de Deo uno et trino, Christi natura et persona, de praesentia in coena Christi et panis, de praedestinatione, et quae alia orbem exagitant. In his nulla propositio admittenda est tanquam sit de fide, quae non in terminis Scriptura Sacra ad verbum ex fontibus versa continetur.“ (A VI, 1, Nr. 22, S. 549) 32 „At quid si quaestio est de sensu textus originalis, isque est dubius, ut contingit ob Hebraicas aequivocationes.“ (Ebd.) 33 „Respondeo: Etiam sic facilis res erit, si tantum illa dicantur de fide esse in quibus versiones omnes consentiunt.“ (Ebd.) 34 „Nam ni fallor versiones in rebus magni momenti non dissentiunt, et textus originalis Graecus minime obscurus.“ (Ebd.) 35 „Hebraicus autem etsi sit obscurior, tamen occasione eius vix ulla fidei capita controvertuntur.“ (Ebd.) 36 „Et vero etiam ubi quaestio est de sensu loci, tamen solet eadem esse versio, v. g. Evangelici et Reformati eodem prorsus modo vertunt locos Scripturae de coena domini, et ita de caeteris.“ (Ebd.)
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Der § 14 formuliert dann die theoretischen Forderungen des Umgangs mit der textkritischen Arbeit an der Heiligen Schrift, die die Grundlagen für eine streng literale Interpretation liefern soll: Ob wir nun also die alten Fassungen der Gegner selbst heranziehen,37 wenn wir mit ihnen disputieren, oder ob wir mit dem gemeinen Menschenverstand [sensus communis] das Neue Testament wörtlich übertragen, das wird nichts ausmachen. Diese Fassung soll mit Sorgfalt gemacht werden, daß dort, wo alle übereinstimmen, dieser gemeinsame Gebrauch des Wortes, dort aber, wo sie auseinandergehen, die Herkunft des Wortes oder die zur Ethymologie stimmende Bedeutung ausgedrückt wird, oder wenn diese nicht feststeht, was im Falle eines mehrdeutigen Wortes vorkommt, jene Bedeutungen im Falle von Mehrdeutigkeiten (welche selten und leicht zu beurteilen sind) ausgedrückt werden. (§ 14)38
In diesen strengen textkritischen Regeln formuliert Leibniz also nicht anders als Spinoza im Tractatus.39 Allerdings legte er zugleich Konzepte und Erklärungen vor, die ihn vor Spinozas Konsequenzen bewahren sollten.
IV. Einwerbung von kompetenten Hebraisten zur Widerlegung Während Leibniz mit seiner Antwort auf Spinozas Papageienargument, der Aufwertung der klaren und konfusen Idee offenbar zufrieden war und mit diesem Konzept noch in den Nouveaux essais und in der The´odice´e gearbeitet hat,40 scheint er seiner Argumentation gegen die aus der unentwickelten Hebraistik entspringenden Schwierigkeiten für das Verständnis der christlichen Religion weniger vertraut zu haben. Sie besitzt für ihn offensichtlich einen bloß vorläufigen Charakter und er fordert wiederholt eine strenge Prüfung der hebräischen Urtexte hin37 Gemeint sind die in der katholischen Kirche geläufigen griechischen bzw. lateinischen Fassungen der Heiligen Schrift, insbesondere die Septuaginta sowie die Vulgata. 38 „Adhibeamus igitur licet adversariorum ipsorum versiones veteres, quando cum iis disputamus, vel communi consensu vertamus novum Testamentum ad verbum, nihil intererit. Ea versio ea fiat diligentia, ut ubi omnes consentiunt, usus iste vocabuli communis, ubi discrepant, vocis originatio seu significatio etymologiae consentanea, vel cum ea non constat, quod fit in aeqivocis casu, significationes illae casu aequivocorum (quae rarae, et facile dijudicabiles) exprimantur.“ (A VI, 1, Nr. 22, S. 549) 39 Vgl. das 7. Kapitel von Spinozas Tractatus (wie Anm. 13). 40 Vgl. Leibniz, Nouveaux essais (A VI, 6, Nr. 2, S. 186 u. 190). In der The´odice´e findet sich eine Diskussion dieser Fragestellung „leerer Worte“ im § 75 des Discours pre´liminaire, ohne den Ausdruck des „Psittazismus“. Vgl. Leibniz, „The´odice´e“, in: ders., Die philosophische Schriften (7 Bde.), hrsg. von C. Gerhardt, Berlin 1885, Bd. 6, S. 93– 94.
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sichtlich der genannten Schwierigkeiten. Das wird auch deutlich, wenn er immer wieder die große Gelehrtheit Spinozas im Hebräischen hervorhebt.41 Es kommt aber besonders anschaulich zum Ausdruck in seinen gemeinsam mit seinem einflußreichen Gönner, dem katholischen Konvertiten und theologisch hochinteressierten ehemaligen Staatsministers des Erzbischofs von Mainz, Christian Baron von Boineburg, unternommenen Versuchen, geeignete gelehrte und seriöse Hebraisten ausfindig zu machen und zu drängen, eine gründliche Widerlegung von Spinozas hebraistischen Argumenten zu unternehmen. Es scheint 1671–1672 beinah so etwas wie eine konzertierte Aktion gegeben zu haben, in die auch der Hofmeister des Sohnes von Boineburg, Sinold, genannt von Schütz, einbezogen worden ist, der zu dieser Zeit mit seinem Schützling an der Universität Straßburg weilte.42 Aus dem Briefwechsel von Boineburg und Leibniz mit verschiedenen Gelehrten aus diesem Zeitraum, darunter mit Balthasar Bebel, Albert van Holten,
41 Vgl. Leibniz an Graevius am 5.5.1671 (A I, 1, Nr. 84, S. 148); „Vidisti sine dubio librum in Belgio editum, cui titulus: Libertas philosophandi; autorem ajunt esse Judaeum. Is crisin exercet ut eruditam quidem, ita veneno multo aspersam in ipsam antiquitatem, genuitatem, autoritatem Scriptura Sacrae veteris Testamenti. Interest pietatis a viro quodam Orientalia solide docto, qualis Tu Tuique similes, refutari. Non minus meretur quam Menassis Israeligenae Tribus.“ (Leibniz an Spizel am 27.2./8.3.1672 [A I, 1, Nr. 127, S. 193]); „Auctor libri de libertate philosophandi, cujus refutationem brevem, sed elegantem, programmate complexus es, est Benedictus Spinoza, Judaeus, ob opinionum monstra, ut mihi e Batavis scribitur. Ceterum homo omni literatura excultus, et inprimis insignis Opticus, praeclarorum admodum tuborum elaborator.“ (Leibniz an Thomasius am 21./31.1.1672 (A II, 1, Nr. 100, S. 205)); „Spinosam autorem esse illius libri, non adeo certa ut intelligo res est, quare ab eo nominando, publice praesertim, velim abstineri, etsi librum ipsum refutari, et quidem erudite magis et solide quam vehementer et acerbe (is enim stylus etiam bonam causam suspectam facit) optem.“ (Leibniz an van Holten 17./27.2. 1672 [A II, 1, Nr. 102, S. 208]). 42 1710 wurde eine Epistola D. B. a Boineburg ad Ephorum filii, cum Argentorati studiorum causa versaretur, de Spinoza. Ex MSto in der Zeitschrift von Ernst Valentin Löscher Unschuldige Nachrichten von Alten und Neuen Theologischen Sachen abgedruckt, die auf den Seiten 386–388 exakt das von uns im Boineburgischen Exemplar des Tractatus theologico-politicus aufgefundene Leibnizsche Textstück enthält. Die Epistola muß aus dem Sommersemester 1671 stammen, da der Sohn Johann Christian von Boineburgs nur in diesem einen Semester in Straßburg auf der Universität war. Der Brief führt das „argumentum contra Spinozam“ im Rahmen einer dringenden Aufforderung an, den Prof. Bebel im Namen Boineburgs dringend zu ersuchen, möglichst umgehend eine gelehrte Widerlegung des Tractatus zu erarbeiten. Der Brief enthält außerdem die hier genannte Auflistung der bisherigen Versuche einer Widerlegung, darunter Rappolt, Perrizon, Mansfelt, Calov, Henry More und Saubert. Einleitend wird Spinoza in eine Reihe mit häretischen Köpfen der Zeit gestellt, darunter Descartes, Velthuysen, Machiavelli, Campanella, Bodin, Postel, Cardano, Hobbes, Pere`yre und Herbert von Cherbury. Es gäbe keinen besseren Autor über die Kunst, nichts zu glauben als Spinoza (Ebd., S. 385).
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Theodor Spizel, Friedrich Walther und Theodor Craanen wird dabei deutlich, für wie dringlich sie diese Aufgabe angesehen haben.43 Das geht bis hin zu der dringlichen Bitte an Bebel, seine laufende Arbeit für diesen guten Zweck beiseite zu legen.44 Aber aus den Briefen von Leibniz geht zugleich der hohe Respekt vor dem wissenschaftlichen Wert des Tractatus hervor, indem er immer wieder ausdrücklich die Forderung erhebt, die gewünschte Widerlegung solle von der üblichen theologischen Polemik ganz absehen und sich allein darauf beschränken, die hebraistischen Argumente Spinozas auf dessen hohem gelehrten Niveau zu diskutieren und zu entkräften. Aber nicht nur aus dem Briefwechsel mit gelehrten Hebraisten ist Leibniz’ und Boineburgs konzertierte Aktion zur Hervorbringung einer gründlich-gelehrten Widerlegung des Tractatus erkennbar. Diese läßt sich auch aus den Marginalien in dem von beiden genutzten Handexemplar von Spinozas Tractatus theologico-politicus anschaulich nachvollziehen. Auf den Vorsatz- und Titelblättern dieses Exemplars finden sich Kommentare in zwei verschiedenen Handschriften, von Boineburg und Leibniz, die zunächst die allmähliche Aufklärung dieser beiden engagierten Leser über den anonymen Autor erkennen lassen. Zunächst wurde in Mainz offenbar aufgrund von Nachrichten aus Holland der Name Spinoza als Pseudonym des Sohnes des Sozinianers Crellius vermutet: „Auctor dicitur esto Spinoza. Sub quo latet Joannis Crellii filius, Amstelodami hodieque habitans.“45 Später wurde von Leibniz’ Hand ergänzt: „Est vir huius nominis, alius a Crellii filio. Judaeus Amstelo43 Vgl. A. van Holten an Leibniz am 18./28.11.1671 (A II, 1, Nr. 92, S. 193); Leibniz an van Holten am 17./27.2.1672 (A II, 1, Nr. 102, S. 208); Leibniz an Spizel am 27.2./8.3.1672 (A I, 1, Nr. 127, S. 193); Th. Craanen für F. Walter (A I, 1, Nr. 131 [Beilage zu Nr. 130: Walter an Leibniz am 3./13.4.1672, ebd. S. 200], S. 202). 44 Aus einem Schreiben von Sinhold, dem Hofmeister des jungen Boineburg, an Leibniz in Paris im Sommer 1672 geht hervor, daß der Prof. der Theologie Balthasar Bebel an der Universität Straßburg bereit sei, allerdings erst nach der Fertigstellung seiner Kirchengeschichte, sich an diese Arbeit zu machen. Wahrscheinlich war Sinhold als Hofmeister des jungen Boineburg der ,Ephesus‘ und also der Adressat des Boineburgschen Briefes, in dem das Hauptargument gegen Spinoza gleich mitgeliefert wurde. Joh. Friedrich Sinold gen. Schütz schreibt jedoch am 1.6.1672 aus Straßburg an Leibniz nach Paris: „Cum Do Bebelio multus mihi fuit sermo de Anonymo illo Libertatis Philosophandi scriptore, improbat ille perfidam Hominis audaciam, Tuum laudat egregium in Ecclesiam studium. quid multa? Refutatorem se pollicetur absoluto quarto Antiqitatum Ecclesiasticarum saeculo. Altdorffi nunc quidam refutatum esse perhibent, nobis vero nil inde constat. Sunt qui putant, Authorem illum consultius non refutatum suppressum iri.“ (A I, 1, Nr. 182, S. 272) 45 Die Marginalien finden sich auf dem Vorsatzblatt links neben dem Titelblatt des Tractatus.
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dami.“ Zu diesem Zeitpunkt wird dieser Autor auch handschriftlich in das Titelblatt eingetragen, zwischen den Untertitel und das Motto ( Joh. ep. I, cap. IV, vers XIII): „Aucthore Spinoza, judaeo Amstelodamensi.“ Wiederum auf dem Vorsatzblatt davor wird Spinoza nun auch richtig als der Autor einer 1663 in Amsterdam erschienenen cartesianischen Philosophie nach geometrischer Beweisart benannt.46 Aus weiteren Marginalien geht sodann hervor, wie frühzeitig Leibniz und Boineburg sich sowohl über bereits erschienene Widerlegungen als auch über solche zu informieren wußten, die erst noch in Vorbereitung zum Druck waren.47 Als Autoren bereits erschienener Widerlegungen werden zwischen den Zeilen des Titelblatts Rappolt und Thomasius aufgeführt,48 beide Leibniz’ Lehrer an der Universität Leipzig. Auf der Rückseite des Titelblatts findet sich aber auch eine Aufzählung von Autorennamen, deren Widerlegungen erst erwartet wurden, wie aus einem vorgestellten „expectatur“ erhellt: Rappoltus Reinholdus Pauli49 Quidam notatur anonymus I. M. sub titulo Epist[olae] ad amicum, continens censuram tractatus theologico-politici Ultra[jectae] 167150 Perizonius51 Mansfeldius52 46 D. i. BdS [B. Spinoza], Renati des Cartes Principiorum philosophiae pars I et II. More geometrico demonstratae. Accesserunt ejusdem Cogitata metaphysica. Amsterdam 1663. 47 Über die Entwicklung des Wissens über Spinoza als Autor des Tractatus sowie über die ersten Widerlegungen vgl. Otto: Studien zur Spinozarezeption, S. 15–36. Otto unterstreicht insbesondere die auffallende Übereinstimmung von Boineburg und Leibniz hinsichtlich der jeweils ersten Nennung von Spinozas Tractatus in Briefen vom 3.10.1670 aus Frankfurt an verschiedene Korrespondenten bei Gelegenheit der Frankfurter Buchmesse. Vgl. ebd. S. 19, FN 22. 48 Friedrich Rappolt (gest. 1676) und Jakob Thomasus (gest. 1684). 49 Reinhold Pauli (gest. 1682) war Professor für Theologie in Marburg. 50 Der Autor war der Professor für Theologie an der Universität Herborn Johann Melchior. Einen Hinweis auf diese Schrift, aber nicht den hier bereits korrekt und vollständig angegebenen Titel erhielt Leibniz in einem Bericht von Theodor Craanen, den ihm Friedrich Walther am 3./13.4.1672 zusandte (A I, 1, Nr. 130, S. 200). Die Auskunft über diesen Autor verdanke ich Rüdiger Otto. 51 Das ist Antonius Perizonius, Prof. der Philosophie zu Deventer, gest. 1672. Von der bevorstehenden Publikation seiner Spinoza-Widerlegung hatte Leibniz durch einen Brief von Graevius vom 17. (27.)4.1671 erfahren (A I, 1, Nr. 83, S. 144). Vgl. auch Allgemeines Gelehrten-Lexikon, Darinne die Gelehrten aller Stände [. . .] beschrieben werden (4 Bde), hrsg. von C. G. Jöcher, Leipzig 1750–1751, Bd. 3, Sp. 1393. 52 Das ist Reiner van Mansveldt (gest. 1671), Prof. der Philosophie an der Universität zu Utrecht. Auch von seiner bevorstehenden Spinoza-Widerlegung, die allerdings
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Bebel53 Calovius54 Das große Engagement der beiden Mainzer Spinozaleser für das Projekt einer gelehrten hebraistischen Widerlegung des Tractatus kommt aber noch in einem weiteren Faktum zum Ausdruck, in der Erarbeitung und Verbreitung eines theoretischen Arguments gegen Spinozas Bestreitung von Moses’ Autorschaft am Pentateuch. Auf der Rückseite des Titelblatts des 1994 von mir entdeckten Handexemplars von Leibniz und Boineburg findet sich ein längeres handschriftliches Textstück von Leibniz’ Hand, das dieses Argument im Rahmen einer immanenten Kritik von Spinozas textkritischer Methode formuliert. Dieses bisher unbekannte Leibnizstück wurde von mir 1999 in transkribierter Form und als Faksimile veröffentlicht.55 Daß dieses Argument Leibniz und Boineburg offenbar außerordentlich überzeugend erschien, geht nicht nur daraus hervor, daß Leibniz es auf die Rückseite des Titelblatts des Exemplars aus Boineburgs Bibliothek einschreiben durfte. Es zeigt sich auch darin, daß es sowohl von Leibniz als auch von Boineburg in Briefen an potentielle Widerleger verbreitet wurde. Leibniz benutzt eben dieses Argument fast wörtlich, wenngleich nicht in voller Länge, in einem Brief an Lambert van Velthuysen vom 7. Mai 1671,56 woraus sich zugleich eine nähere Datierung von Leibniz’ (und Boineburgs) Lektüre von Spinozas Tractatus theologico-politicus ergibt.57 Dasselbe Argument findet sich aber auch in voller Länge in dem bereits erwähn-
erst posthum erfolgte, hatte Leibniz durch Graevius im Frühjahr 1671 bereits erfahren, vgl. die vorige Fußnote. 53 Das ist Balthasar Bebel, Prof. der Theologie und Münsterprediger zu Straßburg (1686). Er galt als Autorität in Fragen der Kirchengeschichte, insbesondere der Geschichte des frühen Christentums. An ihn ist der obengenannte Brief Boineburgs gerichtet, der Leibniz’s Argument gegen Spinozas Bestreitung der Autorschaft des Moses am Pentateuch enthielt. Vgl. auch das Schreiben des Hofmeisters des in Straßburg studierenden Sohnes von Boineburg an Leibniz: Joh. Friedrich Sinold, gen. von Schütz, vom 1.6.1672 (A I, 1, Nr. 182, S. 272). 54 Das ist Abraham Calovius (gest. 1686), über seine Widerlegung von Spinozas TTP ist mir nichts bekannt geworden. 55 Vgl. Anm. 7. 56 Der Brief ist erstmals abgedruckt in: „Ein neu aufgefundener Brief von Leibniz an Lambert van Velthuysen“ [7.5.1671 (neuer Stil)], hrsg. von I. Hein, mit einer Einführung von A. Heinekamp, in: Studia leibnitiana XXII (1990), H. 2, S. 151–162, hier S. 159. 57 Die Datierung von Leibniz’ Lektüre des Tractatus läßt sich damit noch näher eingrenzen. Sie dürfte mindestens ab April 1671 erfolgt sein, wenn Leibniz schon Anfang Mai das für ihn wichtigste Argument gegen die Bestreitung der Autorschaft von Moses am Pentateuch ausgearbeitet hat.
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ten Brief Boineburgs an den Ephorus seines Sohnes in Straßburg, der es dem dortigen Theologieprofessor Bebel offenbar als intellektuelle Starthilfe für die von ihm erwartete Widerlegung Spinozas offerieren sollte.58 Alle diese Indizien lassen natürlich klar erkennen, daß Leibniz und Boineburg Spinozas Tractatus ablehnten. Ungeachtet dessen ist die Tatsache, daß sie es nicht bei einer kritischen Lektüre bewenden ließen, sondern gemeinsam Aktivitäten entwickeln, um eine theoretisch adäquate Widerlegung des Tractatus vonseiten gelehrter Hebraisten zu initiieren, Ausweis dafür, daß sie dieses Werk für keine der gewöhnlichen religionskritischen Schriften gehalten haben, sondern für etwas Außergewöhnliches. Der Theologisch-politische Traktat bedeutete mindestens für Leibniz gerade wegen seines hohen theoretischen Niveaus und der Ensthaftigkeit seiner Untersuchung eine außergewöhnliche Gefahr für die christliche Dogmatik, der nur vonseiten gelehrter Hebraisten Einhalt geboten werden konnte. Abschließend möchte ich angesichts der hier beschriebenen Aktivitäten zu einer möglichst umfassenden und entscheidenden Widerlegung von Spinozas Tractatus auf ein mögliches Indiz für Leibniz’ Toleranz gegenüber dem Autor des zu widerlegenden Werkes aufmerksam machen. In auffallender Weise spricht Leibniz auch dann noch, als er den wahren Verfasser des verruchten Tractatus offensichtlich schon kennt, mindestens seit April 1671 durch Graevius,59 seit November 1671 auch durch Spinoza selber,60 immer nur von dem anonymen Autor des „libellus de libertate philosophandi“. Daß Leibniz in seiner Korrespondenz bewußt vermieden hat, Spinoza als Autor zu benennen, wird meines Erachtens ganz unzweifelhaft, wenn er sich – noch 1672 – gegenüber dem Orientalisten Albert van Holten ausdrücklich dagegen ausspricht, den Namen Spinozas zu nennen, angeblich weil dessen Autorschaft noch ungewiß sei.61 Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits Briefe mit Spinoza gewechselt, darunter auch über den Tractatus; es kann also gar keine Rede davon sein, daß er über den Autor noch im ungewissen hätte sein können. Sollte diese auffallende Zurückhaltung nicht ein Beleg dafür sein, daß Leibniz zwar dringend die Widerlegung des Werkes in der Sache wünschte, aber doch den Autor vor persönli-
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Vgl. Anm. 42. Vgl. Graevius an Leibniz am 12.(22.)4.1671 (A II, 1, Nr. 82, S. 142) und am 17.(27.)4.1671 (A II, 1, Nr. 83, S. 144). 60 Spinoza an Leibniz am 9.11.1671 (A II, 1, Nr. 89, S. 184–185). 61 Vgl. Leibniz an van Holten 17./27.2.1672 (A II, 1, Nr. 102, 208). 59
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cher Verfolgung schützen wollte? Dies scheint auch in der milden Beurteilung des Autors im Unterschied zu der des Werkes Bestätigung zu finden: „Spinozae librum legi. Doleo virum doctum, ut apparet, huc prolapsum . . . Utinam excitari posset aliquis eruditione par Spinozae sed rei Christianae – (?) qui crebros eius paralogismos et literarum orientalium abusum refutet.“62
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Leibniz an Graevius am 5.5.1671 (A I, 1, Nr. 84, 148).
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Tractatus Theologico Politicus
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Rückseite Titelblatt
GESCHICHTE DER HEBRÄISCHEN GRAMMATIK VOM 10. BIS ZUM 16. JAHRHUNDERT Jens Kotjatko* Die Beschäftigung mit grammatikalischen Erscheinungen der hebräischen Sprache, oder mit der hebräischen Grammatik und Lexikographie an sich, begann verhältnismäßig spät und in einer Epoche, in der Hebräisch, selbst in Form des rabbinischen Hebräisch, im Alltag nicht mehr gesprochen wurde. Für Jahrhunderte war Hebräisch auf den synagogalen, liturgischen und literarischen sowie den rechtlichen und religionsphilosophischen Gebrauch beschränkt. Hebräisch galt den Gelehrten als Sprache der Heiligen Schrift, deren Verständnis Grundvoraussetzung für das Wirken im jüdischen Gelehrtenalltag war. Erst allmählich wurde die hebräische Sprache auch selbst Gegenstand der Untersuchung, angefangen bei der Analyse sprachlicher Phänomene und Eigenheiten, die sich insbesondere bei der Tradierung der Heiligen Schrift auftaten, bis hin zu umfangreichen grammatischen Werken, die versuchten, die hebräische Sprache in ein allgemein gültiges Korsett von grammatikalischen Regeln, Formen und Termini zu hüllen. Mehrere Faktoren mögen diese Entwicklung, wenn nicht ausgelöst, so doch maßgeblich beeinflußt haben: Erstens haben die Masoreten durch die Festlegung einheitlicher Aussprache- und Rezitationsregeln die Basis geschaffen, die es späteren Grammatikern erst ermöglichte, die hebräische Sprache zu beschreiben und deren Gesetze und Normen einheitlich zu formulieren. Zweitens gilt die Auseinandersetzung der rabbinischen Gelehrten mit den Karäern als Ausgangspunkt für die intensivere Beschäftigung mit der Sprache als Objekt linguistischer Untersuchungen. Und nicht zuletzt muß von einem enormen äußeren
* Dieser Artikel gibt einen komprimierten Überblick über die Geschichte der jüdischen hebräischen Linguistik von den Anfängen im 10. Jahrhundert bis zum Beginn der christlichen Hebraistik Anfang des 16. Jahrhunderts. Er markiert in aller Kürze die Eckpunkte in der Entwicklung der hebräischen Grammatik und erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Dank sagen möchte ich Herrn Prof. W. van Bekkum für seine kritischen Anmerkungen und Hinweise, die ich in den Artikel einarbeiten konnte.
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Einfluß der arabischen Philologie auf die jüdischen Grammatiker ausgegangen werden. Dem Bedürfnis der Gemeinde und der Gelehrten, die über Generationen überlieferten Aussprachetraditionen des geschriebenen reinen Konsonantentextes festzulegen und zu vereinheitlichen, wurde insofern entsprochen, als man bereits im 6. Jahrhundert begann, dem Konsonantentext mit seinen oft mehrdeutigen Vokalbuchstaben, den matres lectionis, Zeichen für die Bezeichnung der Vokale hinzuzufügen. Das wahrscheinlich nach dem Vorbild der syrischen Vokalisation entstandene Punktierungssystem (nikkud) entwickelte sich aus einer anfänglich einfachen Hilfestellung für den im synagogalen Gottesdienst Vortragenden zu komplizierten Systemen der Vokalisierung. Dabei entstanden in den damaligen Zentren der jüdischen Kultur, in Babylonien (Sura, Pumbeditha) und in Palästina, verschiedene supralineare Punktierungssysteme, die aber bald den Anforderungen einer eindeutigen und zweifelsfreien Rezitation und Auslegung des Heiligen Textes nicht mehr genügten. Die Entwicklung komplizierterer Systeme hängt vermutlich auch mit dem Auftreten der Karäer zusammen, deren Sekte um 760 von Anan ben Dawı¯d gegründet wurde. Da sie den Talmud und die mündlich überlieferte Tradition überhaupt als für das Judentum relevantes Gesetz verwarfen, entstand ein neues Interesse am Bibeltext und das Bedürfnis, die Aussprache des Textes möglichst genau festzulegen. Während im Osten das babylonische System verfeinert wurde, genügte das unvollkommene palästinische System im Westen bald nicht mehr den Anforderungen der Zeit und wurde durch ein völlig neues System ersetzt. Wahrscheinlich ebenfalls durch den Einfluß der Karäerbewegung kam es im Westen zwischen dem Ende des 8. Jahrhunderts und dem des 10. Jahrhunderts zu einer Blüte der masoretischen Arbeiten in deren Zentrum Tiberias stand. Hier entstand das Tiberische System, ein fein ausgeklügeltes System der Punktierung und Akzentuierung des biblischen Textes, das es ermöglichte, den heiligen Text in Aussprache und Vortrag bis ins Kleinste festzulegen. Das Tiberische System hat die beiden anderen so stark verdrängt, daß man über Jahrhunderte hinweg nichts von ihrer Existenz wußte. Besonders die von der Ben-Asˇer Familie vokalisierten und mit Akzenten und Masora versehenen Handschriften der Bibel fanden ab dem 9. und 10. Jahrhundert große Verbreitung in der damaligen jüdischen Welt. Spätestens hier muß von einer intensiven Beschäftigung mit der hebräischen Grammatik und einer Theorie zur hebräischen Phonologie ausgegangen werden, ohne die ein solch durchdachtes und einheitliches System der Vokalisierung
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und Akzentuierung nur schwer vorstellbar wäre, wenngleich sich die Abhandlungen, wie z. B. Diqduqei ha-te amim von Aharon ben-Asˇer am Anfang des 10. Jahrhunderts, eben fast ausschließlich auf Akzentzeichen, Vokalisationsprobleme, Schewa und Dagesch konzentrierten. Dennoch zählt das Werk Aharon ben-Asˇers, des jüngsten Vertreters dieser großen Masoretenfamilie, zu den Anfängen der Beschäftigung mit grammatischen Erscheinungen der hebräischen Sprache und deren Festlegung in Regeln und Normen.1 Die Auseinandersetzungen zwischen den Vertretern des rabbinischen Judentums und den Karäern mit ihrer Ablehnung der mündlichen Tora taten ihr Übriges und fanden in polemischen Streitschriften nicht nur auf dem Gebiet der Religion und Philosophie statt, sondern betrafen auch Probleme der hebräischen Grammatik, die von beiden Seiten unterschiedlich bewertet wurden. Diese Meinungsverschiedenheiten bilden eine der Grundlagen für die im 10. Jahrhundert beginnende wissenschaftliche und systematische Beschäftigung mit der hebräischen Sprache und ihrer Grammatik als eigenständiges Feld für wissenschaftliche Studien. Ein weiterer Faktor, der stimulierend auf die hebräischen Grammatiker gewirkt hat, war die arabische Sprachforschung muslimischer Gelehrter. Die von Sibawaih (gest. 796) verfaßte Nationalgrammatik des Arabischen, al-Kita¯b, führte in der Folge zu einer wahren Flut grammatischer Traktate und umfangreicher philologischer Abhandlungen über die arabische Sprache. Genannt seien hier nur al-Mubarrad (gest.898), Ibn as-Sarra¯gˇ (gest. 928) oder az-Zagˇgˇa¯gˇ¯ı (gest. 949). Auch hier wirkten die unterschiedlichen Lehrmeinungen grammatischer Schulen, besonders der in Basra und Kufa, später auch Bagdad, einander befruchtend und belebten˙ die grammatische Diskussion weit über diese beiden Zentren der Erforschung der arabischen Sprache und Grammatik hinaus. Die seit der arabischen Eroberung im 7. Jahrhundert in Selbstverwaltung lebenden Juden Babyloniens konnten weitgehend unbehelligt und frei von Repressalien seitens der muslimischen Mehrheit ihr religiöses, kulturelles und wissenschaftliches Leben gestalten. Arabisch wurde zur Umgangs- und Muttersprache der jüdischen Bevöl1 Vgl. zur Masora und den Masoreten u. a. D. Yellin, Toldot hitpathut ha-diqduq ˙ Lesˇonenu 54 ha- ivri, Jerusalem 1945, S. 8; A. Dotan, „Min ha-Masora el ha-Diqduq“, in: (1990), S. 155–168; ders., “The Beginnings of Masoretic Vowel Notation”, in: Studies on Medival Hebrew Linguistic Thought, hrsg. von I. Eldar u. Sh. Morag, Jerusalem 1986, S. 30–43; D. Tene, “Linguistic Literature, Hebrew”, in: Encyclopaedia Judaica, 1970, Bd. 16, Sp. 1353–1355; M. Waxman, A History of Jewish Literature, Volume 1: From the Close of the Canon to the End of the Twelfth Century, New York 1960, S. 159–165.
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kerung und selbst in den beiden rabbinischen Schulen von Sura und Pumbeditha, deren Führer, die Geonim, vom Kalifenhof in Bagdad als offizielle politische Vertreter und geistige Oberhäupter der Juden in der gesamten islamischen Welt anerkannt wurden, gaben spätestens zu Beginn des 10. Jahrhunderts das Aramäische zugunsten des Arabischen auf. Juden und Muslime gingen eine weitgehende kulturelle Symbiose ein, die durch gewisse religiöse Gemeinsamkeiten, wie dem Monotheismus, und durch die Einheit der arabischen Sprache geprägt war. So ging mit dem Aufblühen der islamischen Kunst, Kultur und Wissenschaft ab der Mitte des 8. Jahrhunderts auch eine Blüte der jüdischen Kultur und Wissenschaft, darunter auch der Philologie, einher. Und so kann es nicht verwundern, daß als Begründer der hebraistischen Philologie der Theologe und Religionsphilosoph Saadia Gaon, ein Zeitgenosse der oben erwähnten arabischen Grammatiker, gilt.
1. Die Anfänge (ca. 900 – Anfang 11. Jahrhundert) Saadia Gaon Saadia Gaon oder Saadia ibn Yu¯suf al-Fayyu¯mı¯ (892–942), geb. in Fayyu¯m/Ägypten, war ab 928 Leiter der rabbinischen Akademie in Sura und in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts oberste Autorität im rabbinischen Judentum. Neben unzähligen religiösen und philosophischen Werken verfaßte er die erste systematische Darstellung des Hebräischen, das aus 12 Teilen bestehende Werk Kutub al-lug˙a „Die Bücher der Sprache“ oder Kita¯b fas¯ıh lug˙at al- ibraniyyı¯na „Buch der ˙ erstmalig Fragen der Laut- und reinen Sprache der Hebräer“, in dem˙ er Formenlehre des Hebräischen systematisch bearbeitete. In diesem Buch, in Arabisch mit hebräischen Buchstaben geschrieben, behandelt er u. a. die Buchstaben des Alphabets, die Eigentümlichkeiten der Kehlbuchstaben, Buchstabenwechsel (z. B. he statt alef und nun statt lamed), Vokalwechsel, Dagesch und Rafe, Assimilation, Konjugation des Verbs (√sˇm ), das Nomen und die Partikel. Die grundlegende Systematik für die Darstellung der hebräischen Grammatik übernahm Saadia, wie fast alle folgenden hebräischen Grammatiker, von den arabischen Philologen, die wiederum wohl unter dem Einfluß der griechischen und syrischen Grammatik standen und gerade ins Arabische übersetzte Werke z. B. der Aristotelischen Philosophie und Logik in ihren grammatischen Betrachtungen berücksichtigten. Man kann davon ausgehen, daß die arabischen Grammatiker die eigentlichen Lehrmeister der hebräischen
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Philologen waren und deren Betrachtungsweisen und Beschreibungen des Arabischen auf das Hebräische adaptiert und teilweise wortwörtlich zur Darstellung grammatikalischer Phänomene des Hebräischen herangezogen wurden. In seinem Kita¯b as-sab ¯ın lafzah al-mufradah „Buch ˙ der 70 einmalig vorkommenden Wörter“ beschrieb Saadia Gaon als erster das Phänomen der hapax legomena, der Wörter oder Wurzeln, die nur einmal in der Bibel vorkommen, und verglich sie mit deren Gebrauch im rabbinischen Hebräisch. Als Beleg für die schwindende Kenntnis des Hebräischen selbst unter Poeten verfaßte Saadia Gaon das wohl erste hebräische Wörterbuch mit arabischen Glossen Kita¯b usu¯l ˙ asˇ-sˇi r al- ibra¯nı¯ „Buch der Wurzeln der hebräischen Poesie“ und versuchte damit hebräische Dichter anzuregen, in ihren Werken auch seltene und komplizierte hebräische Wörter zu verwenden. Geordnet war dieses Kompendium (ha-Egron), alphabetisch, im ersten Teil nach dem Anfangsbuchstaben und im zweiten Teil, der leider größtenteils verloren ging, nach dem Endbuchstaben. Eingeleitet hat er dieses Buch sowohl mit einem arabischen als auch mit einem hebräischen Vorwort, in dem er sich u. a. besorgt über die Reinheit (Sahot) der arabischen und ˙ ˙Einleitung definiert er hebräischen Sprache äußert. In der hebräischen Buchstaben als solche, welche die Bedeutung des Wortes ausmachen und andere, die als Zusätze dienen und Prä-, In- und Affixe darstellen (Yesod/gˇauhar, Tosefet/ arad). Die beiden Begriffe gˇauhar „Substanz“ ˙ Saadia von den arabischen Philolound arad „Akkzidenz“ übernahm ˙ gen, die schon seit Sibawaih versuchten, die aristotelische Lehre von Substanz und Akkzidenz aus dem Bereich der Philosophie auf die Linguistik zu übertragen.2 Daneben übersetzte Saadia Gaon die Tora ins Arabische, auch das ist vielleicht ein Beleg geringer werdender Hebräischkenntnisse innerhalb der jüdischen Gemeinde, und erzeugte damit wieder großen Unmut unter den Karäern. Diese betrachteten die schnelle Verbreitung der teilweise paraphrasierenden und kommentierenden Übersetzung, die von einem enormen Einfühlungsvermögen Saadias sowohl in die hebräische als auch in die Zielsprache, das Arabische, zeugt und sein beein2 Zu Saadia Gaon vgl. u. a. A. Dotan, The Dawn of the Hebrew Linguistics – The Book of Elegance of the Language of the Hebrews by Saadia Gaon (Kita¯b fas¯ıh lug˙at ˙ of al- ibraniyyı¯na), Introduction and Critical Edition by A. Dotan (Sources for the ˙Study Jewish Culture; 3), Jerusalem 1997; H. Malter, Saadia Gaon – His Life and his Works, Philadelphia 1921 (Reprint Hildesheim, New York 1978); S. L. Skoss, Saadia Gaon, The Earliest Hebrew Grammarian, Philadelphia 1955; H. Hirschfeld, Literary History of Hebrew Grammarians and Lexicographers, London 1926, S. 11–15.
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druckendes Verständnis des biblischen Textes deutlich macht, mit Argwohn. Diese wohl einmalige Übersetzung des Pentateuch galt nicht nur unter den Juden als gleichsam autoritative Bibelausgabe (schon vor Saadia gab es Übersetzungsversuche, denen nicht eine solche Beachtung geschenkt wurde), sondern fand auch unter Samaritanern und Kopten großen Zuspruch.3 Die Karäer in Palästina Weiter westlich, in Jerusalem, sind vor allem die Werke der beiden Karäer David ben Abraham al-Fa¯sı¯ und Abu-l-Faragˇ Haru¯n ibn al-Faragˇ von großer Bedeutung.4 Erster verfaßte zwischen 930 und 950 das umfangreichste Wörterbuch für Hebräisch und biblisches Aramäisch seiner Zeit, bekannt unter dem arabischen Titel Kita¯b gˇa¯mi -l-alfaz „Das komplette Buch der Laute“. Im Unterschied zur rab˙ über die Grundform der Verbalkonjugation binischen Auffassung betrachtet al-Fa¯sı¯ und andere karäische Gelehrte den Imperativ als ˇ ana¯h und Basisform der Verbalflektion,5 während Saadia Gaon, Ibn G ˙ die nachfolgenden Grammatiker, ebenso wie die arabischen Grammatiker der Basrener Schule, den Infinitiv als Grundform betrachten, von ˙ der alle Verbformen abgeleitet werden. Der bedeutendste Grammatiker unter den Karäern zu Beginn des 11. Jahrhunderts war aber Abu-l-Faragˇ Haru¯n, von dem zwei monumentale Werke überliefert sind, das Kita¯b al-musˇtamil ala¯-l- usu¯l ˙ wa-l-fusu¯l fı¯-l-lug˙ati-l- ibraniyyah „Das umfassende Buch über die [all˙ Grundsätze und die [speziellen] Teile der hebräischen Spragemeinen] che“ sowie das Kita¯b al-ka¯fı¯ fı¯-l-lug˙ati-l- ibraniyyah „Das ausreichende Buch der hebräischen Sprache“, eine Art Kurzgrammatik. Das komplette Manuskript umfaßt, obwohl es vom Autor nicht beendet wurde, 579 Seiten und ist bis zum abrupten Ende in acht große Kapitel unterteilt. Teil 1 handelt von 10 Grundprinzipien der hebräischen Sprache; 3 Zur arabischen Bibelübersetzung von Saadia und bei den Karäern vgl. J. Blau, “On Karaite Translations of the Bible into Arabic from the Tenth and Eleventh Centuries” (Book Review on: M. Poliak, The Karaite Tradition of Arabic Bilble Translation), in: Tarbiz 67 (1998), S. 417–430. 4 Zu den Karäern und ihren wichtigsten Gelehrten vgl. D. Frank, „Karaite Exegesis“, in: Hebrew Bible/Old Testament. The History of its Interpretation, Volume I: From the Beginning to the Middle Ages (Until 1300), hrsg. von Magne Sæbø, Göttingen 2000, S. 110–128. 5 Dazu A. Maman, „Ha-mahsˇevah ha-diqduqit biymei ha-benayim: ben ha-qara im la˙ 7, hrsg. von M. Bar-Asher, Jerusalem 1995, S. 84–87. rabbanim“, in: Language Studies;
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Teil 2 ist in 18 Kapiteln dem Infinitiv gewidmet; Teil 3 bespricht die Buchstaben des Alphabets; Teil 4 die Partikeln; Teil 5 ist ein Mix aus grammatischen (wie z. B. Genus, Numerus, Pronomen, transitive und intransitive Verben usw.), lexikologischen und anderen Themen. Teil 6 beinhaltet die Konjugation des Verbs. Im Teil 7 bearbeitet Haru¯n lexikographisch dreiradikalige Verben nach dem Anagramm-System. Diese Methode ist der des arabischen Grammatikers Halı¯l ibn Ahmad ¯ ˙ (710–786), einem Lehrer Sibawaihs, verblüffend ähnlich und ordnet die Konsonanten nicht alphabetisch sondern nach der Artikulationsstelle. Da nach damaligem Erkenntnisstand der Laut, der am tiefsten Punkt in der Kehle erzeugt wurde, das ayin war, nannte Halı¯l sein ¯ Wörterbuch Kita¯b al- ayin. Und schließlich ist Teil 8 ein Sprachver6 gleich zwischen Hebräisch und biblischem Aramäisch. Überhaupt hatten die Schriften der Karäer, insbesondere die von Haru¯n, kaum eine oder gar keine Wirkungsgeschichte in der Entwicklung der hebräischen Grammatik, weder damals und, wie das Beispiel zeigt, noch heute. Das Kita¯b al-ka¯fı¯ ist eine Art Kurzfassung oder Kompendium des Erstgenannten, umfaßt aber auch immerhin 400 Manuskriptseiten.7 Neben diesen beiden karäischen Gelehrten darf Haru¯ns Lehrer nicht unerwähnt bleiben: Abu Ya qu¯b Yu¯suf ibn Nu¯h (2. Hälfte des 10. Jahr˙ hunderts). Ibn Nu¯h verfaßte einen grammatischen Kommentar zu den ˙ Hagiographen, der von ihm selbst und seinem Schüler Haru¯n als Diqduq oder al-Diqduq bezeichnet wird. Die Diqduq von Ibn Nu¯h ist keine ˙ systematische Beschreibung der hebräischen Sprache der Bibel, sondern vielmehr ein mit grammatischen Anmerkungen versehener Kommentar zu einzelnen Stellen des biblischen Textes. Sie konzentriert sich auf die Analyse von Wortformen und der Beschreibung übergeordneter Normen anhand paralleler Beispiele aus der gesamten Bibel. Aspekte der Phonologie, Syntax, Rhetorik, Akzentuierung werden nur am Rande beschrieben oder sind gar nur aus dem Kontext heraus zu erlesen. Die Diqduq unterscheidet sich somit wesentlich von den gram-
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Zu Teil 2 der Handschrift über den Infinitiv siehe A. Maman, “The Infinitive and the Verbal Noun According to Abu¯-l-Faraj Haru¯n” (hebr.), in: Studies in Hebrew and Jewish Languages. Presented to Sh. Morag, hrsg. von M. Bar-Asher, Jerusalem 1996, S. 119–149. Die komplette Handschrift des Kita¯b al-musˇtamil wird z. Zt. von A. Maman für die Edition vorbereitet, siehe G. Khan, The Early Karaite Tradition of Hebrew Grammatical Thought – Including a Critical Edition, Translation and Analysis of the Diqduq of Abu¯ Ya qu¯b Yu¯suf ibn Nu¯h on the Hagiographa, Leiden [u. a.] 2000, S. 8, Anm. 33. 7 Das Kita¯b al-Ka¯fı¯, ˙hrsg. von G. Khan, M. Angeles Gallego u. J. Olszowy-Schlanger, ist soeben bei Brill, Leiden, erschienen.
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matischen Kompendien des Saadia Gaon oder des Abu-l-Faragˇ Haru¯n und erinnern eher an die grammatikalischen Glossen des Ibn Ezra in seinen Kommentaren zur Bibel. Hier liegt wohl auch die eigentliche Intention Ibn Nu¯hs mit seiner Diqduq, eine exakte Analyse und ein ˙ der grammatischen Formen, die zu einem besseren genaues Verständnis Verständnis des biblischen Textes führt. Die Beschreibung der hebräischen Sprache ist nicht Ziel und Zweck seiner Arbeit, sondern nur ein Hilfsmittel auf dem Weg, den Text der hebräischen Bibel besser verstehen zu können.8 Der Terminus Diqduq ist hier noch nicht im Sinne von „Grammatik“ zu verstehen, sondern steht vielmehr in der masoretischen Tradition, umfangreiche Wortlisten anzufertigen und diese anhand gemeinsamer Merkmale wie Form, Vokalisation oder Akzentuierung, zu ordnen. Die ersten Grundregeln zur „genauen“ Beschreibung der hebräischen Sprache, die sich aus Listen ableiten lassen, wurden von den Masoreten als „Diqduqim“ bezeichnet und waren der Grundstock für das Entstehen einer hebräischen Grammatik im eigentlichen Sinne.9 Obgleich die Werke und das Ausmaß der grammatischen Forschung der karäischen Gelehrten sowie deren Erkenntnisstand auf dem Gebiet der Linguistik im Lichte der modernen Forschung neu bewertet werden muß, so muß doch festgehalten werden, daß die Arbeiten der Karäer nur eine sehr geringe Auswirkung auf die weitere Entwicklung einer normativen hebräischen Grammatik hatten. Zwar erwähnt z. B. Ibn Ezra in seinem Vorwort zu Moznayim10 in einem Atemzug mit Saadia Gaon einen namentlich nicht bekannten „Jerusalemer Gelehrten“, der acht Bücher zur hebräischen Grammatik schrieb, hier kann nur Abu-l-Faragˇ Haru¯n und sein Kita¯b al-musˇtamil gemeint sein, doch die Durchsetzungskraft der rabbinischen Gelehrten in Bezug auf deren Verständnis der Grammatik der hebräischen Sprache war so enorm, daß die linguistischen Theorien der Rabbinen für Jahrhunderte Grundlage linguistischen Denkens bei den hebräischen Gelehrten sein sollten und die Ansichten der karäischen Schule, ähnlich wie sich im arabischen Raum Basra gegen Ku¯fa behaupten konnte, fast gänzlich aus der Wahrneh˙ verdrängten. mung
8 Zu Ibn Nu¯h siehe Khan, The Early Karaite Tradition, und Maman, “The Infini˙ tive”, S. 148. 9 Vgl. Dotan, „Min ha-Masora el ha-Diqduq“, (wie Anm. 1). 10 Ibn Ezra, Moznei lesˇon ha-qodesˇ, hrsg. von W. Heidenheim, Offenbach 1791, S. 1b; vgl. auch Maman, „Ha-mahsˇevah ha-diqduqit biymei ha-benayim“, S. 80. ˙
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Nordafrika In der Mitte des 10. Jahrhunderts, das Interesse an der Beschäftigung mit grammatikalischen und lexikographischen Problemen des Hebräischen hatte sich schnell über Nord-Afrika bis zum islamischen Spanien ausgebreitet, finden wir im heutigen Algerien Yehudah ibn Quraysˇ, der im ersten Teil seines Risa¯lah „Epistel“ erstmalig systematisch bibelhebräische Wörter mit deren Äquivalenten im biblischen Aramäisch, in den Targumim sowie in der Mischna und im hebräischen Anteil des Talmud verglich. Der zweite Teil beschäftigt sich mit hapax legomena, wobei er die einzelnen insgesamt 70 Eintragungen alphabetisch ordnete, was u. a. ein Beleg dafür sein könnte, daß Ibn Quraysˇ als etwas jüngerer Zeitgenosse unabhängig von Saadia Gaon das Problem der hapax legomena beschrieb und das Kita¯b as-sab ¯ın lafzah al-mufradah von Saadia nicht direktes Vorbild für den Risa¯lah war.11˙ Im dritten Teil widmet er sich vor allem dem Vergleich zwischen Arabisch und Hebräisch. Die Bedeutung seines Werks für die damalige Zeit liegt darin begründet, daß er auf dem Gebiet der hebräischen Linguistik komparative Methoden einführte und zur Erklärung bestimmter Phänomene im Hebräischen Entsprechungen aus verwandten Sprachen heranzog. Seine originären Leistungen auf diesem Gebiet sind unbestritten. Doch die Wirkung seiner Arbeit auf nachfolgende Generationen von Grammatikern war eher gering. Die Methode des Sprachvergleichs, ermöglicht durch die Zwei- bzw. Dreisprachigkeit (Arabisch, Hebräisch, Aramäisch) der damaligen Forscher, wurde von nachfolgenden Gelehrten nicht als eigenständige Disziplin innerhalb der Linguistik12 übernommen. So gehen Ibn Quraysˇ und später Ibn Baru¯n vielleicht als Gründer der vergleichenden Wissenschaft der „semitischen“ Sprachen in die Geschichte ein, die Bedeutung dieses Fakts bleibt aber für Jahrhunderte unerkannt oder unreflektiert.13
11 Vgl. dazu W. van Bekkum, “The ‘Risala’ of Yehuda Ibn Quraysh and its Place in Hebrew Linguistics”, in: The History of Linguistics in the Near East (Amsterdam Studies in the Theory and History of Linguistic Science; 28), hrsg. von C. H. M. Versteegh u. a., Amsterdam 1983, S. 71–91. 12 Vergleiche zwischen Hebräisch, Arabisch und Aramäisch wurden zwar, besonders auf lexikographischem Gebiet, immer wieder auch von anderen Gelehrten angestellt, ˇ ana¯h, Dunasˇ ben Tamim u. a., doch betrachteten sie genannt seien Haru¯n, al-Fa¯sı¯, Ibn G ˙ den Sprachvergleich, wohl auch wegen ihrer mehrsprachigen Bildung, als selbstverständliches Mittel der linguistischen Tätigkeit, nicht aber als eigenständige wissenschaftliche Methode der lexikologischen und grammatikalischen Analyse. 13 van Bekkum, “The ‘Risala’ of Yehuda Ibn Quraysh”, S. 79 und S. 84–85.
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Spanien Der Beginn der Studien auf dem Gebiet der hebräischen Grammatik und Lexikographie in Spanien ist vor allem mit dem Namen Menahem ben Yakob ibn Saruq (ca. 910–970) verbunden.14 Das Zentrum ˙der damaligen jüdischen Welt verlagerte sich langsam von Babylonien nach Spanien und in der Folgezeit sollte Spanien über zwei Jahrhunderte lang eine herausragende Rolle für die Jüdische Literatur spielen, insbesondere auf dem Gebiet der hebräischen Philologie. Die Voraussetzungen für eine solche Entwicklung konnten in Spanien nicht günstiger sein, da die Toleranz der umayyadischen Herrscher gegenüber der jüdischen Minderheit es führenden Persönlichkeiten der jüdischen Oberschicht immer wieder ermöglichte, in machtvolle Positionen zu gelangen und großen politischen Einfluß auszuüben. Hasdai ibn Sˇaprut ˙ seinem Hof in (915–970), Wesir des Kalifen Abd ar-Rahma¯n, der an ˙ Cordoba Dichter, Grammatiker und Philosophen förderte, war für die Entwicklung Cordobas zu einem der Zentren der jüdischen Literatur von größter Bedeutung. Hasdai ibn Sˇaprut, der eine tiefe Liebe zu ˙ fließend Hebräisch, Arabisch und Latein, Sprachen pflegte, er sprach hörte natürlich von Menahem ibn Saruq und holte ihn als seinen Sekre˙ tär an seinen Hof. In seinem Auftrag schrieb Menahem Gedichte und Lobreden, sollte aber mit dem ersten umfassenden˙ Wörterbuch des biblischen Hebräisch in Hebräisch, dem Mahberet, in die Geschichte ˙ der Hebraistik eingehen. Obwohl er in der Tradition Saadia Gaons und Ibn Quraysˇ’ das Wörterbuch alphabetisch ordnete und Wurzelbuchstaben von morphologischen Bildungselementen unterschied, erkannte er noch nicht die besondere Charakteristik der „schwachen“ Konsonanten. Dieses sollte erst einem seiner Schüler gelingen. Die große Verbreitung des Mahberet sowohl unter den spanischen Juden als auch unter den Juden des˙ christlichen Abendlandes ist somit nur dadurch zu erklären, daß es in Hebräisch abgefaßt wurde. Während die arabisch verfaßten grammatikalischen Werke, die nicht ins Hebräische übersetzt wurden, alsbald in Vergessenheit gerieten oder, wie z. B.
14 Zu den spanischen Grammatikern vgl. besonders A. Saenz-Badillos, “Early Hebraists in Spain: Menahem ben Saruq and Dunash ben Labat”, in: Hebrew Bible/Old ˙ Testament, The History ˙of its Interpretation (wie Anm. 4), S. 96–109; A. Saenz-Badillos u. J. Targarona Borras, Grammaticos Hebreos de Al-Andalus (Siglos X–XII), Filologia Y Biblia, Cordoba 1988; C. del Valle Rodriguez, „Die Anfänge der hebräischen Grammatik in Spanien“, in: The History of Linguistics in the Near East, hrsg. von C. H. M. Versteegh u. a., Amsterdam 1983, S. 153–166.
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einige Schriften Saadia Gaons, gänzlich verschwanden und erst in jüngster Zeit wiederentdeckt wurden, fanden die ab dem 12. Jahrhundert in Hebräisch geschriebenen oder dahin übertragenen Abhandlungen zur Grammatik weite Verbreitung in ganz Europa. Sie wurden sogar zur Grundlage der ab dem 16. Jahrhundert vorherrschenden christlichen Hebraisten. Mit der Veröffentlichung des Mahberet durch Menahem trat einer seiner erbittersten Widersacher auf˙ den Plan: Dunasˇ˙ bin Labat, bekannt auch als Rabbi Adonim ha-Levi (920–990). ˙ geboren und u. a. bei Saadia Gaon in die Lehre Dunasˇ, in Bagdad gegangen, siedelte bald nach Fez im heutigen Marokko um und folgte dann dem guten Ruf der Stadt Cordoba, um dort als Poet und Grammatiker zu wirken. Sein bedeutsamstes Werk auf dem Gebiet der Grammatik ist seine Erwiderung auf das Mahberet des Menahem, Tesˇuvot ˙ langen metrischen ˙ Dunasˇ ben Labat, die in der Form eines Poems ˙ geschrieben wurde und als das erste grammatikalische und lexikographische Gedicht in der hebräischen Literatur gilt. Neben 180 Korrekturen des Mahberet waren sein eigentlicher Verdienst neue Erkenntnisse auf dem ˙Gebiet der Grammatiktheorie und ihrer Terminologie. Er unterschied, wie Haru¯n, als erster zwischen transitiven und intransitiven Verben und bezeichnete die Buchstaben einer Wurzel mit den Konsonanten des Paradigmenverbs pa al, also pe, ayin und lamed. Dunasˇ’ scharfer Angriff gegen das Wörterbuch von Menahem, das er als eine Gefahr für unkultivierte Bürger ansah und welches ˙nach seiner Ansicht in der Lage war, die jüdische Religion und die „Schönste aller Sprachen“ zu zerstören,15 fand schnell großes Interesse in den literarischen und philologischen Zirkeln. Die weitere Kontroverse fand ihren Ausdruck in den Erwiderungen der Schüler Menahems in den Tesˇuvot ˙ Talmidei Menahem, in denen sie auf 55 Kritikpunkte seitens Dunasˇ’ ˙ eingingen. Von den Schülern Dunasˇ’ wiederum, antwortete Yehudi ben Sˇesˇet mit scharfer Polemik in seinen Tesˇuvot Talmidei Dunasˇ al Tesˇuvot Talmidei Menahem. Einer der Schüler von Menahem war ein gewisser Yehudah H˙ayyu¯gˇ, der mit seinen Erkenntnissen˙ zur hebräischen Wurzeltheorie˙ eine neue Epoche in der Entwicklung der hebräischen Grammatik einläutete.
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Saenz-Badillos, “Early Hebraists in Spain”, S. 97.
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2. Die „spanische“ Epoche (Anfang 11. Jahrhundert – Mitte 12. Jahrhundert) Die Entdeckung der Dreiradikalität der hebräischen Verben inklusive der „schwachen“ Verben durch Abu Zakkariyya Yahya¯ ben Dawı¯d alFa¯sı¯ Hayyu¯gˇ genannt Yehudah Hayyu¯gˇ (geb. ca. ˙930 in Fez – gest. ˙ in Cordoba) war revolutionär ˙ ca.1000 für die hebräische Grammatik.16 In seinen zwei wichtigsten Werken, Kita¯b al- af a¯l dawa¯t huru¯f al-lı¯n ˙ layin über über die „schwachen“ Verben und Kita¯b al- af a¯l dawa¯¯ t al-mit ¯ er zu der¯ Erkenntdie Verben mit doppeltem Endkonsonanten, kam nis, daß die hebräische Verbalwurzel aus mindestens drei Radikalen besteht. Er verwarf damit komplett die bisherige Theorie, daß im Hebräischen auch Wurzeln mit zwei oder gar nur einem Konsonanten existierten. Er nannte die Konsonanten alef, yod, waw und he „schwach“ oder „ruhend“ und machte deutlich, daß bei den entsprechenden Verben diese Konsonanten zur Wurzel gehören und nur in bestimmten Konjugationsformen nicht sichtbar sind. Vier Kategorien von schwachen Verben konnte Hayyu¯gˇ herausarbeiten: 1. verba primae ˙ alef, 2. verba primae yod, 3. verba mediae infirmae (yod oder waw) und 4. verba tertiae infirmae (alef oder he). Er errichtete damit den folgenden Grammatikern das Fundament, auf dem diese aufbauen konnten, um die Beschreibung des biblischen Hebräisch, sowohl auf dem Gebiet der Grammatik, als auch der Lexikographie, zu komplettieren. ˇ ana¯h (ca.950–1050) schrieb Abu-l-Walı¯d Merwan oder Jonah ibn G um 1020 sein Kita¯b al-mustalhaq, das, wie alle˙Werke dieser Periode in ˙ verfaßt war. Darin vervollständigte er Spanien, in arabischer Sprache die Erkenntnisse Hayyu¯gˇs und verwarf einige seiner Analysen, um sie ˙ durch eigene Lösungen zu ersetzen. Samu el ibn Nagdila, genannt Sˇemu el ha-Nagid ((993–1055), ein Schüler von Hayyu¯gˇ, erwiderte ˙ fruchtbaren ihm in Rasa¯ il ar-rifa¯q und leitete damit einen jahrelangen, wissenschaftlichen Disput zwischen beiden ein, der um 1040 in den abschließenden großen Werken der beiden Grammatiker gipfelte.
16 Zu den Grammatikern der „spanischen“ Epoche, die auch als „Goldenes Zeitalter“ des mittelalterlichen Judentums bezeichnet wird, vgl. A. Maman, “The Flourishing Era of Jewish Exegesis in Spain, The Linguistic School: Judah Hayyu¯j, Jonah ibn Jana¯h, Moses ˙ ˙ Testament, The History of ibn Chiquitilla and Judah ibn Bal am”, in: Hebrew Bible/Old its Interpretation (wie Anm. 4), S. 261–281; I. Eldar, „Misˇnato ha-diqduqit sˇel R. Yehuda Hayyu¯gˇ ha-sefaradi“, in: Lesˇonenu 54 (1990), S. 169–181., u. a. ˙
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Sˇemu el ha-Nagid konzipierte Kita¯b al- istig˙na¯h, ein Wörterbuch, das, auch wenn nur einige Reste überliefert sind, wohl den Zenit der hebräiˇ ana¯h faßte seine Studien in dem schen Lexikographie darstellt. Ibn G ˙ Kita¯b at-tanqı¯h „Buch der Korrektur“ zusammen, eine allumfassende ˙ Beschreibung des biblischen Hebräisch. Das aus zwei Teilen bestehende Werk markierte den Höhepunkt linguistischen Denkens auf dem Gebiet der hebräischen Sprache. Teil 1, Kita¯b al-luma „Buch des Leuchtens“, behandelt in 46 Kapiteln die Grammatik (Teile der Rede, Phonologie, Morphologie des Verbs und des Nomens) und Syntax des biblischen Hebräisch. Teil 2, Kita¯b al- usu¯l „Buch der Wurzeln“, ist ein ˙ Wörterbuch. Diese beiden nach dem arabischen Alphabet geordnetes Bücher, die später von Ibn Tibbon ins Hebräische übersetzt wurden, sind in Umfang, Tiefe und Präzision bis in die Moderne mit keinem anderen Werk zur hebräischen Grammatik vergleichbar. In der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts schrieb Moses ha-Kohen ˇ Giqattila, der Hayyu¯gˇs Werke zu den schwachen Verben ins Hebräische ˙˙ übersetzte und˙ damit die Arabisch–Hebräische linguistische Übersetzungsliteratur begründete, sein Werk über die grammatischen Geschlechter: Kita¯b at-tad¯kı¯r wa-t-ta anı¯t „Buch über das Maskulinum und ¯ ˇ ana¯hs. das Femininum“, basierend auf den Argumentationen Ibn G Zum Ende des 11. Jahrhunderts schrieb Yehudah ibn Bal am˙ (gest. 1100) aus Toledo, später in Sevilla lebend, ein „Buch über die Homonyme“ Kita¯b at-tagˇnı¯s und denominale Verben Kita¯b al- afa¯l al-mustaqqah min al-asma¯ . Eine umfassende Beschreibung der Partikeln im Hebräischen bot er in Kita¯b huru¯f al-ma a¯nı¯. ˙ Etwa zur selben Zeit verfaßte Isaaq ibn Baru¯n das Kita¯b al-muwa¯zana bayn al-lug˙a al- ibraniyya wa-l- arabiyya „Buch des Vergleichs zwischen der hebräischen und arabischen Sprache“. Dieses war bis dahin in seiner Tiefe die kompletteste Studie zur Beziehung der beiden Sprachen zueinander. In Bezug auf frühere sprachvergleichende Abhandlungen von Ibn Qurayisˇ, Dunasˇ ben Tamim u. a., die sich auf einen lexikologischen Vergleich beschränkten, dehnte Ibn Baru¯n seine Studien auch auf die Grammatik des Hebräischen und Arabischen aus.17
17 Zur Bedeutung Ibn Baru¯ns für die Entwicklung der hebräischen Linguistik vgl. van Bekkum, “The ‘Risala’ of Yehuda Ibn Quraysh”; P. Wechter, Ibn Barun’s Arabic Works on Hebrew Grammar and Lexicography (Kita¯b al-muwa¯zana bayn al-lug˙a al- ibraniyya wa-l- arabiyya), Philadelphia 1964, S. 1–22; Tene, “Linguistic Literature, Hebrew”, Sp. 1363.
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Neben den großen Poeten dieser Periode, Sˇelomo ibn Gabirol (993– 1055) und Yehudah ha-Levi (1075–1141), die auch an hebräischer Grammatik interessiert waren und Gedichte zur Didaktik und Metrik verfaßten, ist in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts noch Moses ibn Ezra von Bedeutung. Sein Kita¯b al-muha¯dara wa-l-muda¯kara – „Buch ˙ ˙ ¯ arabischem des Vortragens und des [Auswendig]lernens“ – ist nach Vorbild die erste theoretisch-wissenschaftliche Abhandlung zur hebräischen Dichtkunst. Diese Epoche war geprägt durch die großen kreativen Autoren auf dem Gebiet der hebräischen Linguistik. In ihr wurde der Umfang der hebräischen Sprache determiniert, das System ihrer Beschreibung festgelegt und deren Regeln bestimmt. Außerdem wurden die Terminologie und Phraseologie für Grammatik und Lexikologie, teils Hebräisch – Aramäisch, in Anlehnung an die Masora-Literatur, teils Arabisch, beeinflußt durch die arabische Philologie, fixiert. Der Zenit in der jüdisch-hebraistischen Forschung war damit erreicht und sollte durch folgende Generationen nicht mehr übertroffen werden.
3. Die Ausbreitung über Europa (Mitte 12. Jahrhundert – Mitte 13. Jahrhundert) Nach dem Zerfall des Umayyaden-Kalifats von Cordoba im Jahre 1031 und der folgenden Epoche der Territorialkönige übernahmen zu Beginn des 12. Jahrhunderts die Almoraviden und später die berberischen Almohaden die Hoheit über das südliche Spanien und Nordafrika. Mit ihnen zog ein Geist der Intoleranz gegen alle Nichtmuslime ein, die, aufgrund des wachsenden Drucks durch die christliche „Reconquista“ im Norden, des Einverständnisses mit dem Feind verdächtigt wurden. Die spanisch-jüdische Intelligenz zog ins Exil nach Südfrankreich, Italien oder Ägypten und begann, das Wissen der in Spanien auf Arabisch verfaßten Werke zur hebräischen Literatur in den „neuen“ Ländern zu verbreiten. Diese Verbreitung erfolgte auf zweierlei Art: in Form von hebräischen Adaptionen oder hebräischen Übersetzungen. Die spanischen Exilanten begannen, grammatische Werke auf Hebräisch zu verfassen, die oft aber nur als Zusammenfassungen ˇ ana¯h, Sˇemu el der Ideen ihrer großen Vorgänger, wie Hayyu¯gˇ, Ibn G ˙ ˙ ha-Nagid u. a., bezeichnet werden können. Solche Adaptionen beinhalten die grammatischen Werke Abraham Ibn Ezras (1089–1164), die er während seiner Wanderungen zwischen Italien und Frankreich
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schrieb.18 1140 entstand in Rom sein erstes grammatikalisches Werk: Sefer Moznayim oder Moznei Lesˇon ha-Qodesˇ „Abwägungen zur heiligen Sprache“, in dem er in erster Linie, in Form einer Kurzgrammatik, die grammatische Terminologie behandelt. Zwischen 1140 und 1145 schrieb er Sefat Yeter „Die bevorzugte Sprache“, eine Verteidigung Saadia Gaons, 1145 gibt er in Sefer ha-Yesod oder Yesodei haDiqduq „Grundlagen der Grammatik“ einen Überblick über die Regeln der hebräischen Grammatik, und schließlich entstand Sefer ha-Sahot ˙ ˙ „Buch der Reinheit [der hebräischen Sprache]“, welches ausführlich und intensiv das gesamte Feld der hebräischen Grammatik behandelt. Später in Südfrankreich verfaßte er Safah berurah „Klare Sprache“, das im Gegensatz zum Titel, in nicht sehr klarer Form einige Probleme der Grammatik beschreibt. Ibn Ezras Beitrag zur hebräischen Philologie bestand nicht in der Einführung neuer Theorien, sondern darin, daß seine Werke die ersten systematischen grammatikalischen Arbeiten in hebräischer Sprache darstellten. Er legte damit den Grundstein für die Verbreitung der Ideen der großen spanischen Grammatiker in Westeuropa. Er sorgte für eine Vereinheitlichung der aus dem Arabischen ins Hebräische übertragenen grammatischen Termini als Basis für die Beschreibung der hebräischen Sprache in den folgenden Generationen jüdischer Grammatiker. Einer seiner Schüler Salomon ibn Parhon schrieb 1161 in Salerno, ˙ Italien, sein hebräisches Wörterbuch Mahberet ha- Aruh, das so sehr an ˙ einst dachte, ˙ ˇ ana¯hs erinnert, daß man die Arbeiten Hayyu¯gˇs und Ibn G ˙ ˙ es seien Übersetzungen derselben. Neben diesen Adaptionen war es die Übersetzungsliteratur, die Juden in der christlichen Umwelt mit dem Gedankengut der jüdischarabischen Welt vertraut machte. Abraham Ibn Ezra übersetzte nach Ibn ˇ iqatilla die Werke Hayyu¯gˇs ein zweites Mal, wahrscheinlich um 1140 G in Rom. Gegen Ende˙ des 12. Jahrhunderts übertrug Obadiah ha-Sefaˇ ana¯h ins Hebräische. Im Jahre radi das Kita¯b al-mustalhaq von Ibn G ˙ ˙ später in die Provence 1171 beendete der in Granada geborene und ausgewanderte Yehudah ibn Tibbon (ca.1120–1190) seine Übersetzung ˇ ana¯h unter dem Titel Sefer ha-Diqduq. des Kita¯b at-tanqı¯h von Ibn G ˙ ˙ Den ersten Teil nannte er Sefer ha-Riqmah und den zweiten Sefer haSˇorasˇim. 18
Zu Ibn Ezra vgl. u. a. U. Simon, “Abraham Ibn Ezra”, in: Hebrew Bible/Old Testament, The History of its Interpretation (wie Anm. 4), S. 377–387, L. R. Charlap, Rabbi Abraham Ibn-Ezra’s Linguistic System – Tradition and Innovation (hebr.), Jerusalem 1999, W. Bacher, Abraham Ibn Ezra als Grammatiker, Straßburg 1882.
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Als geistiges Bindeglied zwischen dem jüdisch-christlichen Norden und dem jüdisch-muslimischen Spanien fungierte die Stadt Narbonne in der südfranzösischen Provence. Hier wirkten zwei Generationen der Qimh¯ı-Familie auf dem Gebiet der Erforschung der hebräischen Spra˙ che und sollten mit David Qimh¯ı das in der Wirkungsgeschichte der ˙ hebräischen Grammatik erfolgreichste Mitglied hervorbringen.19 Zunächst aber schrieb Yosef Qimh¯ı (ca.1105–1170), geb. in Andalusien ˙ übergesiedelt, sein Sefer ha-Zikkaron und in der Jugend nach Narbonne „Buch der Erinnerung“. Mit diesem Werk leistete er auf dem Gebiet der Vokaltheorie einen bedeutenden Beitrag zur hebräischen Grammatik. Anstelle der traditionellen sieben „melachim“ (Vokale), unterteilte er als Erster, in Anlehnung an die sefardischen Aussprachetraditionen, die Vokale a, e, i, o und u in je fünf lange und kurze Vokale. Zudem führte er die schon von Ibn Ezra erwähnten Passivformen des Pi el und Hif il, Pu al und Hof al, entgültig in die hebräische Grammatik ein. Weniger bedeutend ist sein zweites Werk, Sefer ha-Galui, indem lexikologische und exegetische Fragen behandelt werden. Sein Sohn Moses Qimh¯ı (ca.1170–1190) folgte seinem Vater und schrieb ein grammatisches˙ Textbuch Sˇevilei ha-Da at „Wege des Wissens“, in dem er die Arbeiten Ibn Ezras und die seines Vaters benutzte. Dieses Buch wurde 1506 von Sebastian Müller ins Lateinische übersetzt, und unter dem Titel Liber Viarum inguae Sacrae „Buch der Wege der heiligen Sprache“ publiziert, und war im 16. Jahrhundert unter den christlichen Hebraisten sehr populär. An Popularität noch weit übertroffen hat ihn sein Bruder Rabbi David Qimh¯ı (ca.1160–1235) auch Radak genannt, der mit seinem Werk Sefer ˙Michlol „Buch der Gesamtheit“ für die folgenden mehr als 250 Jahre die autoritative linguistische Quelle für Grammatiker und ˇ ana¯h besteht Lexikographen schuf. Wie das Kita¯b at-tanqı¯h von Ibn G ˙ ˙ Michlol ebenfalls aus zwei Teilen, einer Grammatik, Michlol, und ˇ einem Wörterbuch, Sefer ha-Sorasˇim „Buch der Wurzeln“. Seine Grammatik unterscheidet sich von Vorhergehenden in der umfassenden Behandlung des Verbums (66% Verb, 33% Nomen, 1% Partikel), der er sehr viel Platz einräumt. Er beschreibt alle Regeln bezüglich der Verbalkonjugation, Vokalveränderungen und Tonverschiebungen. Daneben beinhaltet Michlol vollständige Konjugationstabellen (√pqd) und zeich-
19 Zur Qimh¯ı-Familie vgl. besonders M. Cohen, “The Qimhi Family”, in: Hebrew ˙ Bible/Old Testament, The History of its Interpretation (wie Anm. 4), S. 387–415.
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net sich durch seine Klarheit im Stil und seine Prägnanz aus. Neben dem Michlol verfaßte er auch das Werk Et Sofer „Feder des Schreibers“, ein Handbuch über die Regeln der Punktierung und der Akzente. David Qimh¯ı hat mit seinem Michlol mehr zur Verbreitung der Ideen ˇ ana¯hs ˙beigetragen als irgendein anderer Grammatiker und gleichIbn G ˇ ana¯hs und sogar zeitig aber˙ dafür gesorgt, daß die Originaltexte Ibn G ˙ die hebräischen Übersetzungen alsbald in Vergessenheit gerieten. Während die beiden Teile des Michlol in ganz Europa verbreitet wurden und ab 1480 viele Male übersetzt und publiziert wurden, erschienen die ˇ ana¯hs selbst erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Werke Ibn G zum ersten Male˙ in Buchform.
4. Die Periode bis zum Aufkommen der „christlichen Hebraistik“ (Mitte 13. Jahrhundert – Anfang 16. Jahrhundert) Die grammatikalischen und lexikographischen Arbeiten dieser Periode, die auch die Periode des „Stillstands“ genannt wird,20 stehen fast ausschließlich unter dem Einfluß der Werke der dritten Periode, in erster Linie unter dem des Michlol von David Qimh¯ı. Die beinahe absolute ˙ Autorität des Michlol für die hebräische Linguistik und die weite Verbreitung der Grammatik Qimh¯ıs und seiner Bibelkommentare, führte ˙ vierten Periode in ihren Werken mehr dazu, daß fast alle Autoren der oder weniger von Qimh¯ı abhängig waren und so kaum qualitativ Neues ˙ zur hebräischen Philologie beitrugen. Neben Adaptionen früherer Abhandlungen und Werke praktischer Art, wie Textbücher oder Vokalisationshilfen für den biblischen Text, gab es Betrachtungen zur Metrik, Dichtkunst und Rhetorik. Auch wurden Wörterbücher zu verschiedenen Typen des post-biblischen Hebräisch und Aramäisch geschrieben. Als erstes seiner Art verfaßte zu Beginn des 15. Jahrhunderts Yehiel von Italien ein Wörterbuch Hebräisch–Italienisch–Arabisch. Einzig bedeutend auf dem Gebiet der Linguistik in dieser Periode war Profiat Duran, der 1403 sein Ma ase Efod „Werke Efodis“ abschloß, indem er die ˇ ana¯hs zusammenfassend grammatischen Prinzipien Hayyu¯gˇs und Ibn G ˙ ˙ erläuterte und Qimh¯ıs Lehrsätze gelegentlich berichtigte. Originell ist ˙ die Art der Behandlung des Gegenstandes und die konsequente Anwendung der Logik auf die Grammatik. Sein rein wissenschaftliches Vorgehen bei der Behandlung des grammatischen Stoffes, seine Kenntnisse 20
So u. a. Tene, “Linguistic Literature, Hebrew”, Sp. 1359.
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des Arabischen, Lateinischen und Spanischen kamen ihm dabei zugute, fand spätere Nachahmer. So versuchte zum Ende dieser Periode, 1523, Abraham de Balmes in seinem Mikneh Avram Ideen der lateinischen Grammatik auf die Beschreibung der hebräischen Sprache zu applizieren. Etwa zur selben Zeit wirkte in Italien der Autor und Verleger Elija Levita (1468–1549). Er hatte großen Anteil daran, daß neben seinen eigenen Werken, wie Tisˇbi, ein Wörterbuch des talmudischen Hebräisch, oder Meturgeman, ein Wörterbuch des Targum-Aramäischen, auch die früherer Autoren, wie Ibn Ezra, die Qimh¯ıs u. a., nun, mit der ˙ weite Verbreitung Erfindung des Buchdrucks, publiziert wurden und erlangten. Das Ende dieser Periode, zu Beginn des 15. Jahrhundert, ist gleichzeitig der Anfang einer neuen Epoche in der Geschichte der hebräischen Linguistik. Im Jahre 1506 veröffentlichte der Tübinger Theologe, Hebraist und Humanist Johann Reuchlin sein „Rudimenta Linguae hebraicae“. Die auf dem Michlol von David Qimh¯ı basierende ˙ Grammatik war eines der ersten Werke christlicher Gelehrter zur Einführung in die hebräische Sprache für Christen. Die fast 600 Jahre währende jüdisch-hebräische Linguistik wurde nun Teil der europäischen Kultur und durch die christliche Hebraistik der Renaissance abgelöst.
Teil IV Kritik und Apologie
ATHEN UND JERUSALEM: DER KONTRAST ZWISCHEN HERMENEUTIK UND KRITISCHER PHILOLOGIE IM WERK VON FRIEDRICH AUGUST WOLF Giuseppe Veltri* Die dialektische Gegenüberstellung von historischen Figuren versucht vergangene Ereignisse als Typen mythologisch darzulegen. Ein berühmtes Beispiel dafür ist die hermeneutische Geschichte des Vergleichs (bzw. der Verbindung) von Athen – der Polis als Symbol der griechischen Kultur, und Jerusalem – der Stadt Davids, welche die jüdische Umwelt darstellt.1 Die kulturelle Geschichte dieser Metapher von Vereinigung und Gegenüberstellung verläuft durch die Jahrhunderte der christlichen Ära in einer Schwankung zwischen mythologischem Kampf, gewünschter (aber teilweise auch erzwungener) Vereinigung und überhaupt keiner Konsenstrennung. In diesem Prozeß kann man drei Phasen unterscheiden, die im nun folgenden näher erläutert werden sollen. Die erste Phase ist die Formulierung eines Existenzkampfes. Quid athenis et hierosolymis? quid academiae et ecclesiae? quid haereticis et christianis? Diese Fragen stellte sich bereits der christliche Apologet Tertullian2, wobei er die semantische und religiöse Kluft betonen *
Eine deutsche Übersetzung des italienischen Originals besorgte Gianfranco Miletto. Ihm sei mein herzlicher Dank ausgesprochen. Ebenfalls zum Dank verpflichtet bin ich Reinhard Markner für seine wertvolle Kritik. 1 Die Gegenüberstellung von Athen und Jerusalem ist fast stereotyp für die Verhältnisse zwischen Judentum und Hellenismus geworden, siehe z. B. H. S. Versnel, „Quid Athenis et Hierosolymis? Bemerkungen über die Herkunft von Aspekten des ,Effective Death‘“, in: Die Entstehung der jüdischen Martyrologie, hrsg. von J. W. van Henten, Leiden 1989, S. 162–196; Ph. S. Alexander, „Quid Athenis et Hierosolymis? Rabbinic Midrash and Hermeneutics in the Graeco-Roman World“, in: A Tribute to Geza Vermes; Essays on Jewish and Christian Literature and History, hrsg. von Ph. R. Davies und R. T. White, Sheffield 1990, S. 101–124. Siehe dazu auch Y. Shavit, Athens in Jerusalem. Classical Antiquity and Hellenism in the Making of the Modern Secular Jew, London 1997. 2 Tertullian, De praescriptione haereticarum, 7,9: „Hinc illae fabulae et genealogiae interminabiles et quaestiones infructuosae et sermones serpentes uelut cancer, a quibus nos apostolus refrenans nominatim philosophiam et inanem seductionem conte-
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wollte, die die stoischen, epikureischen und dialektischen Philosophenschulen seiner Zeit vom Christentum, der neuen, unter dem „Salomos Portikus“ entstandenen Religion, trennte. Die Identifikation des „neuen Weges“, wie sich das Christentum der Apostelgeschichte zufolge definiert hat, sich et simpliciter mit dem Judentum ist ein axiomatisches Postulat, obgleich es nicht frei von apologetischen Anspielungen gegen die römische Macht ist, welche das Christentum ablehnte, das Judentum dagegen aber anerkannte. Die zweite Phase besteht in einer Veränderung der Einstellung bedingt durch zweckmäßige Vereinigung. Die kontinuierliche Übernahme der Methoden und der griechisch-römischen philosophischen Inhalte, was besonders durch die alexandrinische Schule von Clemens Alexandrinus und Origenes zustande kam und von den kappadozischen Vätern fortgesetzt wurde, versöhnte das Christentum mit den philosophischen Akademien. Athen wurde nun zum Sitz der Gelehrsamkeit des Christentums, während Jerusalem im Gegensatz dazu zum Symbol der Zerstörung und der Zerstreuung eines Volkes wurde, das nur die historische Beziehung zur väterlichen Tradition „hartnäckig“ und „blind“ anerkannte. Jerusalem galt als die „Hure“ der Apokalypse des Johannes, d. h. als eine Prostituierte, welche nur die Fleischeslust kennt. Damit stand es symbolisch für das Körperliche und Vergängliche. Der reine Geist gehörte dagegen zu jener Religion, welche die jüdische Tradition, von der sie abstammt, nicht mehr akzeptierte. Die Gegenüberstellung von Athen und Jerusalem stellt demnach keinen Gegensatz zwischen Philosophie und Judentum bzw. Christentum dar, sondern verdeutlicht vielmehr den Unterschied zwischen Christentum und Judentum, denn ersteres wird als materielle und geistige Verbindung der alten jüdischen Tradition und der Errungenschaften der griechischrömischen Kultur angesehen, während letzteres als eingefleischte „stultitia“ und Hartnäckigkeit betrachtet wird. Diese Ansicht hielt sich bis in die Zeit der Renaissance, als man nur die Traditionen suchte, welche für ursprünglich gehalten wurden (obwohl man sich dabei auch auf das
statur caueri oportere scribens ad colossenses: videte ne qui sit circumueniens uos per philosophiam et inanem seductionem, secundum traditionem hominum, praeter prouidentiam spiritus sancti. Fuerat athenis et istam sapientiam humanam affectatricem et interpolatricem ueritatis de congressibus nouerat, ipsam quoque in suas haereses multipartitam uarietate sectarum inuicem repugnantium. Quid athenis et hierosolymis? quid academiae et ecclesiae? quid haereticis et christianis? nostra institutio de porticu solomonis est qui et ipse tradiderat dominum in simplicitate cordis esse quaerendum. Viderint qui stoicum et platonicum et dialecticum christianismum protulerunt.“
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post-biblische Judentum bezog). Man war dadurch in der Lage, der Suche nach der perfekten klassischen Ära einen neuen Schub zu verleihen. Das zeitgenössische Judentum wurde hingegen kaum geachtet, weil man es für eine minderwertige Erscheinung des postbiblischen Geistes hielt. Hieraus ergab sich eine schicksalhafte Trennung zwischen dem biblischen und dem jüdischen Volk, wobei das erste als Prototyp der Menschlichkeit angesehen wurde, während das zweite als nichtmenschlich bzw. unmenschliches Überbleibsel galt. Man muß darauf hinweisen, daß die Adjektive „jüdisch“ und „hebräisch“ seit der Renaissance hauptsächlich im Bezug auf die biblische Tradition verwandt wurden. Die akademische Forschung zeigte dagegen, abgesehen von wenigen bemerkenswerten Ausnahmen, kaum Interesse für die jüdischen Kommentare.3 Die dritte Phase, mit der wir uns in diesem Beitrag etwas ausführlicher beschäftigen wollen, besteht in der Ablehnung der hermeneutischen, folgenschweren Gegenüberstellung von Jerusalem und Athen. Nachdem man schon das Judentum von der Bibel getrennt hatte, sollte auch die Bibel isoliert von der europäischen Kultur betrachtet werden. Es wird nun nicht mehr zwischen biblischer Kultur und Judentum unterschieden, da beide aus einer Umwelt stammen, die für sich nicht die Rolle einer „Weltkultur“ beanspruchen kann, denn diese wurde bereits der griechischen Kultur zugeschrieben. Athen wurde das Symbol des aufgeklärten, rationellen Fortschritts, worauf sich die europäische Kultur berief, deren Wesenskern – das ist selbstverständlich und klar zu erkennen – in der deutschen Kultur liegt. Dies ist zumindest die Auffassung Johann Gottfried Herders, welcher die semitischen und europäischen Sprachen verglich. Die ersten seien nach seiner Ansicht fromm, ernst und versteinert, die zweiten hingegen schöpferisch, künstlerisch und dynamisch. Friedrich August Wolf greift in seinen Vorlesungen, welche im Wintersemester 1798–1799 an der Universität zu Halle gehalten und von S. M. Stockmann niedergeschrieben wurden, auf diese Kategorien zurück, aus denen er pädagogische Schlüsse ableitet:
3 Die Rezeption von jüdischen, nicht-kabbalistischen Traditionen ist ein Kapitel der jüdisch-christlichen Auseinandersetzungen, das noch geschrieben werden sollte. Tatsache ist, daß nur wenige Kommentare und jüdische Bücher bei den Christen bekannt wurden. Wenn man Maimonides ausklammert, bleiben in der Frühneuzeit vor allem Isaak Abravanel und – man staune – Rabbi Löw von Prag. Dies soll an dieser Stelle allerdings noch nicht vertieft werden. In einer zukünftigen Publikation, die in Vorbereitung ist, werde ich näher darauf eingehen.
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giuseppe veltri Die orientalischen Völker weichen gänzlich von den vorzüglichsten Völkern des Alterthums ab. Die Hebräer haben sich nie so ausgebildet, daß man sie für eine gelehrte Nation halten könnte, und daher sind sie zu verschieden von den Griechen und Römern. Es versteht sich also, daß wir Werke solcher Völker, wie die Hebräer waren, ausschließen müssen.4
Nur die gelehrten Nationen genießen das Recht, systematisch erforscht zu werden: Es gehören vorzüglich jene der Griechen und Römer hierher. Beide waren die gelehrtesten im Alterthume, selbst nach dem Urtheile der Juden. Diese äfften den Griechen auch überall nach; sie bildeten sich nach ihnen. Vor den Griechen und neben ihnen hat sich kein Volk mehr aufgeklärt.5
Die humanistische Bildung des Gelehrten, welche im Humanismus und in der Renaissance als „vir trilinguis“ verstanden wurde, wird auf einen „vir bilinguis“ eingeschränkt, wohl gemerkt aber, daß auch für Wolf nur die griechische Sprache als ursprüngliche gilt.6 Athen hat an allen Fronten gesiegt. Welches ist aber das kulturelle Bezugssystem dieses „Sieges“? Es besteht kein Zweifel daran, daß sich die Altertumswissenschaft ab dem 19. Jahrhundert auf eine Methode und ein Curriculum bezog, welche gänzlich über die Theologie hinausgingen. Die Wissenschaft der östlichen Sprachen und Kulturen, die auch in Halle, Leipzig und Jena eine alte Tradition hat, entfernte sich allmählich von den missionarischen und christlichen Prämissen, die in der früheren pietistischen Schule vorhanden waren, und gründete eine nicht-religiöse Literaturwissenschaft. Im 20. Jahrhundert wurde die Unvereinbarkeit der semitischen und der griechischen Kultur als eine Tatsache betrachtet. Der griechischen Kultur wurde der historische Verdienst zugeschrieben, das Christentum universell gemacht zu haben und nicht etwa dem jüdischen Ursprung des Wissens (ein Bestandteil der Theorie der philosophia perennis), wie man zur Zeit der Renaissance und des Humanismus annahm. Rudolph Kittel, der berühmte Urheber des noch heute mit 4
Friedrich August Wolf. Encyclopaedie der Philologie. Nach dessen Vorlesungen im Winterhalbjahre vom 1798–1799 hrsg. und mit einigen literarischen Zusätzen versehen von S. M. Stockmann, Leipzig 1831, S. 9, erwähnt von A. Grafton, „Juden und Griechen bei F. A. Wolf“, in: Friedrich August Wolf. Studien, Dokumente, Bibliographie, hrsg. von R. Markner u. G. Veltri, Stuttgart 1999, S. 28. 5 Ebd. 6 Über die Bevorzugung der griechischen Sprache und Kultur siehe S. Cerasuolo, „La Esposizione della scienza dell’antichita` di Friedrich August Wolf“, in: Friedrich August Wolf e la scienza dell’antichita`, hrsg. von S. Cerasuolo, Neapel 1997, S. 29–31.
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Recht gelobten Nachschlagewerkes Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, stellt die Antinomie zwischen Athen und Jerusalem sowie Logos und Mythos als These seiner Forschung auf. Woher aber stammt diese Tendenz, die sich so schnell verbreitet hat? Anthony Grafton, Wissenschaftler an der Universität von Princeton und bekannter Forscher der Renaissance und Neuzeit, ist anhand einer ausführlichen Auslegung der Prämissen der philologischen Enzyklopädie von Wolf zu erstaunlichen Ergebnissen gelangt. Man könne Wolf die deutliche Trennung zwischen „Altertumswissenschaften“ und jüdisch-semitischen Wissenschaften zuschreiben. Letztere seien aber nicht mehr dazu geeignet, den Menschen zu bilden. Wolf hatte romantische Theorien angewandt, um die Stellung der klassischen Wissenschaften auf Kosten der semitischen und insbesondere der hebräischen zu untermauern. Die jüdische Kultur wird nicht mehr für würdig gehalten, dem Lehrplan der Altertumswissenschaft anzugehören.7 Diese These ist bemerkenswert, weil Wolf als Revolutionär des akademischen und kulturellen Umfeldes dargestellt wird, jedoch mit verhängnisvollen Folgen, was die Bildung des europäischen Individuums anbelangt, das auf diese Weise seiner jüdischen Tradition beraubt wird. Wolf war ein Gelehrter seiner Zeit gewesen, ein „Antiquar“8 des Wissens, ein belehrter, sehr begabter und geschickter Philologe, aber sicher kein revolutionärer Ideologe. In der modernen und zeitgenössischen Forschung neigt man oft dazu, seine Arbeit höher zu schätzen. Wie bereits von Hermann Patsch9 bemerkt wurde, gehen aber einige seiner Erkenntnisse auf seine Studenten, Freunde und Bekannten zurück. In der Tat bezog er sich auf Thesen und Ideen, die ihm ihn interessant erschienen, ohne sich darum zu kümmern und zu prüfen, ob diese mit den Thesen und Ideen vereinbar waren, die er schon früher vertreten hatte. Einer seiner Studenten, August Boeckh, ist in seinem Urteil über seinen Lehrmeister erbarmungslos gewesen: Philologen können keine Ideen schaffen. Er dachte dabei vor allem an Wolf, dessen propädeutische Verwirklichung seiner Enzyklopädie, philosophisch betrachtet, unvertretbar war. Die gleiche kritische Einstellung weist auch das Werk
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Siehe die oben (Anm. 3) erwähnte Arbeit. Darüber siehe die klassische Arbeit von A. Momigliano, “Ancient History and the Antiquarian”, in: ders., Contributo alla storia defli studi classici, Rom 1955, S. 67–106. 9 H. Patsch, „Friedrich August Wolf und Friedrich Ast: Die Hermeneutik als Appendix der Philologie“, in: Klassiker der Hermeneutik, hrsg. von U. Nassen, Paderborn u. a. 1982, S. 77 ff. 8
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des berühmten Berliner Kanzlers Friedrich Schleiermacher auf, der an Wolf den Mangel eines Systems beklagt. Auch im 19. Jahrhundert suchte man bei Wolf das, was er nicht bieten konnte, nämlich eine umfassende Darstellung der Hermeneutik. Daran mangelt es bei fast all seinen Arbeiten, welche sich nur auf traditionelle, allgemeine Grundsätze beschränken. Die These, die ich hier aufstellen und erörtern möchte, ist folgende: Die Befreiung, die vom „revolutionären“ Wolf vorgeschlagen wurde, sei nicht die von der Theologie oder von den östlichen Sprachen und Kulturen, sondern die von der klassischen Hermeneutik, die den Anspruch hatte, die Basis der Philologie zu sein.10 Die schwache Stelle einiger neuer Auslegungen des Werkes von Wolf ist die Voraussetzung eines bestimmten Begriffs von Philologie, während man hingegen von mindestens zwei Begriffen sprechen sollte. Der erste könnte indirekt als akritisch (d. h. „philosophisch“) angesehen werden, wenn ihm der zweite nicht voranginge, welcher das darstellt, was ich „Kritik der reinen Philologie“ nennen würde, wenn ich es riskierte, Begriffe der kantischen Philosophie für wenig philosophische Zwecke zu mißbrauchen. Die Geschichte der klassischen Philologie sollte man auf keinen Fall auf eine bloße Untersuchung von grammatikalischen und syntaktischen Formen reduzieren. Die Quellen der Philologie gehen auf die Anfänge der Hermeneutik zurück, wie die antiken Forschungen zur Abstammung der Wörter (Etymologie) bezeugen.11 Wenn diese alte Wortstammkunde einerseits streng philologisch betrachtet nur auf der Vorstellungskraft beruht, so ist sie doch von einem kulturell-sozialen Standpunkt zu sehen, denn sie versucht, das Individuum in sein soziales Umfeld einzuordnen, indem man ihm eine semantische Tradition verleiht. Als die ersten Grammatiken verfaßt wurden, oder zumindest als die Eigenschaften einer Sprache und ihres Wortschatzes wahrgenommen wurden, versuchte man mit Sicherheit auch, systematisch vorzugehen, indem man beispielsweise die Wörter klassifizierte und dadurch Normen ableitete, die später den alexandrinischen „Kanon“ bildeten. Aber auch in diesem Fall waren es außertextliche Faktoren, wie z. B. die hel-
10 Siehe F. A. Wolf, Darstellung der Altertums-Wissenschaft nach Begriff, Umfang, Zweck und Wert. 1807 (Nachdruck Berlin 1985), S. 37–38. Zu diesem Werk siehe die ausführliche Einleitung von S. Cerasuolo zur italienischen Übersetzung Esposizione della scienza dell’antichita´, Neapel 1999, S. 15–97. 11 Siehe z. B. L. L. Grabbe, Etymology in Early Jewish Interpretation. The Hebrew Names in Philo, Atlanta (Georgia) 1988.
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lenitas, welche die Gelehrten bei ihrer Auswahl beeinflußten und sicher nicht die vorgenommene Objektivität, die sich in einer textlichen Auswahl hätte verwirklichen sollen. Schon der Mangel an Hinweisen auf verwendete oder nachgeschlagene Handschriften ist ein Anzeichen dafür, daß die alten Philologen kein Interesse daran hatten, eine Textkritik auszuführen, geschweige denn einen Text auszuwählen, welcher mehr oder minder infolge der zeitgenössischen Verwendung (und Mißbrauchs) als receptus galt. Es ist ein erstaunliches, kaum in der Forschung beachtetes Phänomen, daß die Homerforschung aus noch zu klärenden Gründen im ersten Jahrhundert vor der christlichen Epoche auch von einer Legende unterstützt wurde, die von einer prä-alexandrinischen Redaktion der homerischen Gedichte wußte. Sie sei von Peisistratos veranlaßt geworden, der die verstreuten Gedichte von einem Kollegium redigieren ließ. Parallel zu dieser Erzählung und wahrscheinlich auch beeinflußt von ihr, entstand im Judentum die Legende der Redaktion des Pentateuchs durch das Wirken Ezras, des Schreibers, nachdem die Tora infolge der Zerstörung des ersten Tempels durch Nebukadnezar verbrannt wurde.12 Die drei Legenden verband eine sonderbare Wechselwirkung, so daß Elemente der einen in die anderen einflossen bzw. die eine als Bestätigung der anderen herangezogen wurde.13 So wurde, vielleicht an der Schule des Grammatikers Choiroboskos (6. Jahrhundert n. Chr.?) die Überzeugung verbreitet, daß das Redaktionskollegium aus 72 Grammatikern bestand. Sie hätten einen Text wiederhergestellt, der im Laufe der Zeit verdorben, verstreut und sogar verbrannt worden war.14
12 Siehe schon J. G. Eichhorn, Einleitung in das Alte Testament, Bd. 1, Göttingen 18234, S. 210 ff.; siehe auch E. Schürer, The History of the Jewish People in the Age of Jesus Christ, hrsg. u. bearb. von G. Vermes, F. Millar, M. Goodman, Bd. 3.1., Edinburgh 1986, S. 301. 13 Siehe meinen Aufsatz „ ,Tolomeo Filadelfo, emulo di Pisistrato‘. Alcune note su leggende antiche di biblioteche, edizioni e traduzioni“, in: Laurentianum 32 (1991), S. 146–166 und Ausführlicheres in meinem Buch Deconstructing Libraries, Texts, and Hermeneutics. The Septuaginta, Aquila and Ben Sira in the Process of Jewish and Christian Decanonization of Oral and Written Traditions, Leiden (im Druck). 14 Siehe dazu F. A. Wolf, Prolegomena ad Homerum, Halle 1795 (Nachdruck Hildesheim 1963), S. 109–114; M. Sengenbusch, Homerica dissertatio posterior, Leipzig 1856; K. Lehrs, „Zur homerischen Interpolation“, in: Rheinisches Museum für Philologie 17 (1862), S. 481 ff.; F. Ritschl, Opuscula Philologica, Bd. 1.1., Leipzig 1866; V. Be´rard, «Pisistrate, re´dacteurs des poe`mes home´riques», in: Revue Philologie 46 (1921), S. 194–233; T. W. Allen, Homer. The Origins and the Transmission, Oxford 1924 (Nachdruck 1969), S. 225–248; R. Merkelbach, „Die pisistratische Redaktion der homerischen Gedichte“, in: Rheinisches Museum für Philologie 95 (1952), S. 23–47; J. A. Davison,
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Obwohl sich diese Erzählung schon bei Johannes Tzetzes als Erdichtung entpuppte, machte sie Schule. Noch der Humanist Giannozzo Manetti zog die peisistratische Redaktion der homerischen Gedichte als Beweis für die Echtheit der Erzählung der Septuaginta heran.15 Die Kritik von Justus Scaliger16 bis H. Hody17 ließ keinen Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Legenden der LXX und des Pisistratos,18 und bewies gleichzeitig den Zusammenhang, der die Altertums- mit der Bibelwissenschaft verband. Friedrich August Wolf war nicht besonders originell, als er beide Legenden verglich: . . . Quibus omnibus receptis collectisque ipsum statim congregrasse LXXII Grammaticos (Aristeae fabulam audis de LXXII interpretibus Bibliorum), eosque iussisse hanc farraginem in iustum ordinem redigere. In hoc consessu Grammaticorum prae ceteris Zenodoto et Aristarcho locus est, errore turpissimo, a quo tamen nec Eustathius nec recentiores quidam docti recesserunt. Atque huius unius fabulae auctoritate se tueantur ii, qui Pisistratum non prima scriptura collegisse et disposuisse Carmina, sed distracta, dissipata et divulsa restituisse contendunt. Nos, qui scire nobis videmur, qui inter fabulam et historiam intersit, illic historiam sub fabula occultatam agnoscimus, simili eruendam modo, quo versati sunt viri docti in Iudaico commento de LXX interpretibus.19
Bei der Kritik an der Glaubwürdigkeit der Homer-Legende rekurrierte Wolf auf das parallele Beispiel der LXX („fabula“) bei Aristeas. Jedoch wollte er das ganze nicht als bloße Erdichtung abqualifizieren, sondern “Peisistratos and Homer”, in: Transactions and Proceedings Of the American Philological Association 86 (1955), S. 1–21; D. Gray, in: J. L. Myres, Homer and his Critics, London 1958, S. 290 ff. 15 G. Manetti, Apologeticum adversus suae novae Psalterii traductionis obtrectatores libri 5 (als MS), erwähnt von Ch. Trinkaus, “Italian Humanism and the Scripture”, in: ders., In our Image and Likeness, Bd. 2, Chicago 1970, S. 588–589, Anm. 75 (S. 821). Manettis Meinung wurde von dem jüdischen Gelehrten Azaria de’Rossi übernommen, siehe sein Me or Enayim, Mantua 1573, Kap. 7. 16 J. Scaliger, „Animadversiones in Chronologia Eusebii“, in: ders., Thesaurus temporum Eusebii Pamphilii, Leiden 1606, S. 122–125; Amsterdam 1658, S. 132–135; vgl. auch J. C. H. Lebram, „Ein Streit um die hebräische Bibel und die Septuaginta“, in: Leiden University in the Seventeenth Century. An Exchange of Learning, hrsg. von Th. H. Lunsingh Scheurleer, Leiden 1975,, S. 36ff. 17 H. Hody, „Contra historiam LXX interpretum Aeristeae nomine inscriptum dissertatio“, in: De Bibliorum Textibus Originalibus, Versionibus Graecis, et Latina Vulgata, Oxford 1705, S. 1–89. 18 Gegen die Reduzierung der Erzählung auf ein Märchen gab es selbstverständlich Widerstand, siehe in meinem Buch Eine Tora für den König Talmai. Untersuchungen zum Übersetzungsverständnis in der jüdisch-hellenistischen und rabbinischen Literatur, Tübingen 1994, S. 5–6. 19 Wolf, Prolegomena, S. 114.
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einen wahren Kern herauskristallisieren, der die sogenannte „Liedertheorie“ historisch stützen konnte. Er behauptete, man könne hier das Historische hinter dem Fabelhaften (wieder)erkennen („historiam sub fabula occultam agnoscimus“). Und dies könne man auch mit den Resultaten historischer Natur vergleichen, die die Bibelwissenschaftler aus der Aristeas-Erzählung gezogen haben. In der Anmerkung zitiert er Johann Gottfried Eichhorn mit dem Satz: „Ut acutissime omnius Eichhorn, in Repert. Bibl. Et orient. Litt. T. I. p. 266 seqq.“20 Eichhorn sah den Ursprung der Legende in den Nöten der alexandrinischen Juden, die des Hebräischen nicht mehr mächtig waren. Über Legendenbildung im Allgemeinen schrieb er richtungsweisend, daß selbst Erzählungen, „die durch die mündliche Überlieferung eine fabelhafte Wendung bekommen haben“, immer „wenigstens von einem wahren Grund ausgehen“.21 Wolf folgt Eichhorn also fast wörtlich. Der Zusammenhang der Untersuchungsmethoden, die in den ursprünglich nicht getrennten Fächern Altertumswissenschaft und Bibelwissenschaft angewandt wurden, war Wolf bewußt. Sowohl in seinen oben zitierten Prolegomena ad Homerum, als auch in seinen Vorlesungen wies der Hallenser Professor darauf hin, daß er die critica sacra als maßgeblich für die Philologie hielt. Dieser Aspekt wurde von Wolf auf den Punkt gebracht, als er auf die Ähnlichkeit zwischen homerischer und massoretischer Kritik hinwies: Von Seiten der Geschichte ist keine Wissenschaft interessanter, als diese [scl. die Kritik, G. V.]. Für den Anfang ist Walch de arte critica romana22. Dann kann man sich an die Kenntnis der homerischen Kritik machen. Schon aus einigen Büchern, besonders denen von Valesius und Maussacus23 zieht man hinlängliche Belehrung über diese Sache. Man sieht, von welchen tenuibus initiis diese Kunst ausging. Will Jemand tiefer eindringen, so muß er sich mit der Geschichte der Masoreten-Manuscripte beschäftigen, die aber viel später aufkamen, als die griechische Kritik. Doch ist viel Ähnlichkeit mit dem griechischen Anfange der Kritik. So 20 Gemeint ist J. G. Eichhorn, „Über die Quellen, aus denen die verschiedenen Erzählungen von der Entstehung der alexandrinischen Übersetzung geflossen sind“, in: Repertorium für biblische und morgenländische Litteratur 1 (1777), S. 266–280. 21 Eichhorn, Einführung, S. 21. 22 Gemeint ist wohl Johann Ernst Immanuel Walch, De arte critica veterum Romanorum liber, Jena 17572, oder vom selben Verfasser die schon vorher separat abgedruckte Rede, Diatribe de ortu et progressu artis criticae apud veteres Romanos, Jena 1747. 23 Gemeint ist wohl Philippe Jacques de Maussac (1590–1650), kritischer Herausgeber u. a. von Harpocraton . . . Dictionarium in decem rhetores. Phil. Jacobus Maussacus suppleuit & emendanit. Additae sunt notae, & dissertatio critica in qua de auctore, & de hoc scribendi genere diligenter disputatur, Paris 1614.
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giuseppe veltri viel ist klar, sie sind lange nicht so kühn, wie die griechischen Gelehrten. Dennoch darf man nicht denken, daß wir das alte Testament in seiner ursprünglichen Gestalt haben. Eine Vergleichung zwischen der griechischen und hebräischen Kritik ist noch nicht angestellt.24
Beide criticae, die griechische und die massoretische, seien aber unvertretbar, wie er im Jahre 1791 bei der Prüfung einer neuen Ausgabe der scholia behauptete: Nur war es unmöglich, hierin gleich von sichern Grundsätzen auszugehen: zumal da nirgends eine Spur von alten Handschriften, weder der des Pisistratos, noch weniger einer von den halbfabelhaften Homeriden verfaßten vorkommt, die den ersten Kritikern zur Grundlage gedient hätten. Sofern scheint die Homerische Kritik einen ähnlichen Anfang gehabt zu haben, wie die Masoretische.25
Was Wolf nicht verstanden hatte, war, daß es sich nicht um eine willkürliche Auswahl von Texten handelte, sondern um unkritische Grundsätze einer Textauswahl, die in der philologischen Hermeneutik entstanden waren bzw. entwickelt wurden. Zur Entstehung dieses Begriffs trugen einige kultur-philosophische Elemente bei, wie beispielsweise die Suche nach der vollkommenen Sprache und die Auffassung des griechischen Bildungsideals, dessen Ursprung im jüdisch-christlichen Altertum, in der Vermittlung des Humanismus und der Renaissance lag. Es handelte sich um eine historische und symbolische Brücke zwischen dem hellenistisch-römischen Orient und dem Europa der Neuzeit. Dies wurde durch die humanistische Forschung über die Natur der Sprache und ihrer ursprünglichen Struktur ermöglicht, entsprechend der Voraussetzung, daß – philosophisch betrachtet – eine unlösbare Verbindung zwischen Zeit und Sprache besteht, welche auf der Vorstellung der aetas aurea beruht, daß die Götter mit den Menschen direkt sprachen. Der mythische Teil und nicht die rationale Betrachtung des Logos führte zur modernen Hermeneutik. Die Anfänge der Untersuchungen über Entstehung, Eigenschaft und (Weiter-)Entwicklung der (griechischen) Sprache sind im ägyptischen Alexandrien zu suchen, im Kreis der berühmten Bibliothek der Lagi24 F. A. Wolf: Vorlesungen über die Alterthumswissenschaft, Bd. 1: Vorlesung über die Encyclopädie der Alterthumswissenschaft, hrsg. von J. D. Gürtler, Leipzig 1831, S. 311. 25 Allgemeine Literatur-Zeitung 1 (1791), Kol. 246. Siehe aber die Ausgabe der Prolegomena ad Homerum von (Berlin) 1876, versehen mit bis heute unbekannten Anmerkungen von Immanuel Bekker. Ich bedanke mich bei Reinhard Markner für diesen Hinweis.
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den. Die Arbeit der Gelehrten, die von den Ptolemäern zu diesem Unterfangen aufgefordert wurden, bestand, wenn man es ganz konkret betrachtet, in der mehr oder minder ausführlichen Sammlung von Handschriften und in der Auswahl der besseren Lesevarianten. Ihre Aufgabe ging aber über den rein technischen Aspekt hinaus und betraf vor allem die Suche nach linguistischen, grammatikalischen und stilistischen Grundsätzen, die für die Katalogisierung eines Werkes geeignet sein sollten. Ziel der griechischen Grammatiker war es, einen Kanon von Autoren festzulegen, dessen Vollkommenheit bei der Anwendung der griechischen Sprache als Vorbild gelten konnte.26 Die Arbeit der alexandrinischen Gelehrten war also philologischer, grammatikalischer und stilistischer Natur ebenso wie die Textkritik bei der Bewertung von Werken und Handschriften der griechischen Lyriker und Rhetoriker. Die ideologischen Wege, welche von den Grammatikern dieser Zeit bewußt oder unbewußt eingeschlagen wurden, führten, durch die Betonung und die Behauptung der Überlegenheit der griechischen Kultur, die sich in einer außerordentlichen Anzahl von Werken, die von griechischen Gelehrten und Literaten geschaffen bzw. ihnen zugeschrieben wurden, direkt zu einer apologetischen Absicht. Gerade die Betonung der Exemplarität und Mustergültigkeit der griechischen Literatur löste die Reaktion der „barbarischen“ Völker aus, die nun sie ihrerseits versuchten, die Bedeutung ihrer Werke zu verteidigen und hervorzuheben, indem sie sich auf das Prinzip des Alters bezogen.27 Dieser Reaktion liegen zwei alten Traditionen zugrunde: der Übersetzung der Bibel ins Griechische einerseits und die These der Beraubung des jüdischen Wissens andererseits. Der sogenannte Brief von Aristea an Filocrates, ein jüdisch-alexandrinischer Text, der auf das erste Jahrhundert v. Chr. zurückzuführen ist, beschwört bei der Hervorhebung des jüdischen Glanzes – gemeint ist die Thora – und der jüdischen Traditionen genau dieses kulturelle Umfeld 26 Vgl. Quintilian, Institutiones Oratoriae X,1,54: „Panyasin ex utroque mixtum putant in eloquendo neutriusque aequare virtutes, alterum tamen ab eo materia alterum disponendi ratione superari. Apollonius in ordinem a grammaticis datum non venit, quia Aristarchus atque Aristophanes, poetarum iudices, neminem sui temporis in numerum redegerunt . . .“X,1,59: „Sed dum adsequamur illam firmam, ut dixi, facilitatem, optimis adsuescendum est et multa magis quam multorum lectione formanda mens et ducendus color“. Über die Anwendung von „kanon“ in der klassischen griechischen Kultur siehe H. W. Beyer, in: ThWNT 3 (1967), S. 600–602. 27 Dazu verweise ich auf meinen Aufsatz: „Dalla tesi giudeo-ellenistica del ,plagio‘ dei Greci al concetto rabbinico del verus Israel: Disputa sull’appartenenza della sofia“, in: Revista Catalana de Teologia 17 (1992), S. 85–104.
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herauf. Bei der Beschreibung, oder vielleicht historisch richtiger, bei der Erdichtung eines Banketts, das von Ptolemäus Philadelphos veranstaltet wurde, um die Übersetzer der ersten fünf Bücher der hebräischen Bibel zu ehren, hebt der Autor die Bedeutung der jüdischen Kultur hervor, welche gerufen wurde, am alexandrinischen Kanon teilzunehmen. Es ist kein Zufall, daß die Übersetzung der hebräischen schriftlichen Überlieferungen – immer laut jüdischen Quellen – auf Betreiben der alexandrinischen Bibliothek zustande kam; jenem Tempel der hellenistischen Kultur also, welcher “glory of the hellenistic world” war.28 Die Behauptung, daß Altertümlichkeit als Voraussetzung für die Autorität der jüdischen Traditionen zu sehen sei, bildete die Grundlage der Untersuchungen über den Ursprung der sofia, des Wissens, das im Altertum als eine metaphysische Wirklichkeit angesehen wurde. Die Erörterung über den Protos Heuretes, den ersten Erfinder, entstammte der griechischen Wahrnehmung der eigenen Minderwertigkeit gegenüber der Weisheit, der Philosophie und dem „östlichen“ Wissen, vor allem babylonischen und ägyptischen Ursprungs. Die Abhängigkeit des griechischen Alphabets vom phönizischen, der medizinischen, technischen und mathematischen Wissenschaft von den babylonischen und ägyptischen Forschungen und die angepriesene Altertümlichkeit der nicht-griechischen Völker verursachten indirekt einen Minderwertigkeitskomplex. Die „Barbaren“ erwiderten die Herausforderung der griechischen Kultur nicht nur durch die Betonung dieser gut bekannten Elemente, sondern auch dadurch, daß sie den Griechen Plagiat vorwarfen. Sie hätten ihre Philosophie unrechtmäßig von den orientalischen Völkern übernommen und nicht einmal die Theorie des Logos, womit sich die Griechen in der Antike brüsteten, sei ein originaler Inhalt ihrer Philosophie. Die Auseinandersetzung über das Alter der Traditionen wird ein wichtiger Bestandteil in der Geschichte der Philologie sein, gerade wegen ihrer Auswirkung auf die Untersuchungen über den Ursprung und die Ausbreitung des Alphabets und den tatsächlichen bzw. vermuteten Zusammenhang, welcher – nach Ansicht der alten Literaten – zwischen den verschiedenen Sprachen bestand. Sehr wichtig zum Verständnis der späteren Entwicklungen ist der Begriff der heiligen Sprache, der anscheinend zum ersten Mal29 in der
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E. A. Parson, The Alexandrian Library. Glory of the Hellenistic World, Amsterdam u. a. 1952. 29 Über die Auffassung von heiliger Sprache siehe meinen Beitrag „Übersetzbarkeit und Magie der ,heiligen‘ Sprache: Sprachphilosophien und Übersetzungstheorien“, in:
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alten ägyptischen Kultur vorkommt und später von der rabbinischen Literatur und der mittelalterlichen Mystik übernommen wurde. Am Ende des klassischen Altertums und zu Beginn des Mittelalters wird sich die mystisch-philosophische Tendenz bezüglich der Heiligkeit der hebräischen Sprache entwickeln. Die neuplatonischen und hermetischen Überlegungen über die Magie der Sprache waren eine wichtige Voraussetzung für die Untersuchung ihrer Auswirkungen auf die jüdische Kultur. Wenn diese Tendenz, die biblisch-hebräische Sprache zu heiligen, zuerst nur eine nebensächliche und zögerliche Erscheinung war, so erlangte sie am Ende des Mittelalters den Bedeutungsgehalt eines apodiktischen Axioms, das man nicht beweisen mußte, weil es sich von selbst versteht. Die drei Elemente, nämlich die Aneignung der philologisch-alexandrinischen Kultur, das Bewußtsein der Überlegenheit des Christentums – welches sich als verus Israel und daher auch als rechtmäßiger Erbe der hebräischen Kultur betrachtete – und die Heiligkeit der hebräischen Sprache, werden im Humanismus und in der Renaissance eine wichtige Rolle spielen. Vor allem die in der arabisch-jüdischen Kultur errungenen Fortschritte in der Sprachwissenschaft und der Philologie, aber auch die philosophischen und mystischen (kabbalistischen) Überlegungen über den Ursprung der Sprache, werden die humanistische Debatte über dieses Thema beleben und neu akzentuieren. Der Druck der polyglotten Bibel wird schriftlich nicht nur die humanistischen Thesen über die Suche nach dem vollkommenen und ursprünglichen Text verwirklichen, sondern auch die philosophischen Prämissen der reductio ad unum, d. h. der Einschränkung auf jene Sprache, jenen Text, jenes Wort, welches die vielseitigen Veränderungen der Wahrheit darstellen konnte. Die jüdische Widerlegung gegen die christlichen Ansprüche fiel in ihrer Wirkung – auch in Anbetracht der politischen Situation – schwach aus, war aber immerhin in der Lage, die spätere respublica litteraria zu beeinflussen, die sich auf die Thesen berief, die in jüdischen Werken vertreten sind, wie z. B. in denen von Elia Levita und Azaria de’Rossi, welchen eine besondere Bedeutung beigemessen wird. Die Hermeneutik von Schleiermacher bezieht sich bei der Erörterung des Begriffs von „Hermeneutik“ aus Anlaß einer Konferenz, welche am 13. August und am 22. Oktober 1829 gehalten wurde, auf diese Philologie und auf die Arbeiten von Wolf und Ast. Er schreibt: Tradition und Translation. Zum Problem der interkulturellen Übersetzbarkeit religiöser Phänomene. Festschrift für Carsten Colpe zum 65. Geburtstag, hrsg. von C. Elsas, Berlin, New York 1994, S. 299–314.
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giuseppe veltri Besser erwartet ich, als Fülleborn aus Wolfs Vorlesungen entstandene philologische Encyclopädie erschien, allein das wenige hermeneutische hatte auch nicht die Tendenz wenn auch nur mit wenigen Strichen doch ein ganzes abreißen zu wollen; und da das dargebotene auch hier wie natürlich speziell auf die Werke des klassischen Alterthums angewendet wurde, wie in den meisten Handbüchern auf das eigenthümliche Gebiet der heiligen Schriften; so fand ich nicht besser befriedigt als zuvor.30
Wenn Fülleborn31 von Wolfs Vorlesungen kaum etwas ableitet, was die Hermeneutik anbelangt, kann das auf den ersten Blick bedeuten, daß er daran kein besonderes Interesse hatte, oder im Gegenteil, daß sein Interesse nicht größer als das seines Lehrers war. Die zwei Fachgebiete, die Bibel- und die Altertumswissenschaft, werden gemeinsam erwähnt. Für das zweite schlägt Fülleborn die gleichen hermeneutischen Kategorien vor, die auch in den theologischen Lehrbüchern über die heilige Schrift genannt sind. Dasselbe wird auch bei Wolf deutlich, wenn er von der Hermeneutik spricht. Seine Anmerkungen weichen nicht von den üblichen Traktaten bezüglich der Auslegungskunst, verstanden als explicari/interpretari, ab. Wolf lehnt jegliches System und jegliche Theorie ab, wenn er über die Hermeneutik sagt: „Hermeneutik und Kritik (. . .) sind Künste, die durch einen praktischen Vortrag mehr gewonnen werden, als durch eine Theorie. Sie sollen bloß entwickelt werden, im Einzelnen zu leiten.“32 Eine systematische Überlegung über die Hermeneutik wird von Wolf abgelehnt, weil dies das alte System darstellte, welches er verlassen wollte. Wolf wird noch deutlicher, wenn er behauptet: Das ist etwas Philosophisches und verbreitet sich über die ersten Principien allen Erklärens, wo manche Grundsätze sind, die gut sind für specielle Hermeneutik, und viele, die sich von selbst verstehen. Der eigentliche Nutzen von der allgemeinen ist nicht groß, besonders dann, wenn man sich nicht in praxi mit der Erklärung beschäftigt.33
Wenn man Wolfs Abneigung gegen die Philosophie kennt34, dann versteht man die feine Ironie, die seine Worte erkennen lassen. Die 30 Friedrich Schleiermacher, Sämmtliche Werke, 3. Abt. Bd. 3: Reden und Abhandlungen, hrsg. von L. Jonas, Berlin 1835, S. 345 (Hervorhebung im Original). 31 Schleiermacher bezieht sich auf das Werk von G. G. Fülebornii, Encyclopaedia philologica s. primae lineae Isagoges in antiquarum litterarum studia, Vratisl. 1798, welches von Wolf selbst in seiner Darstellung, S. 7, erwähnt ist. 32 So Wolf laut der stenographischen Niederschrift von Gürtler. 33 Ebd. 34 Wolf, Vorlesungen, Bd. 1, S. 3.: „Will man nach einer bestimmten philosophischen Anordnung verfahren, so ist die Sache so häklicht, daß man fast nicht durchzukommen weiß; denn es ist außerordentlich schwer, einen Punkt zu finden, in dem sich
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Hermeneutik besteht aus einem allgemeinen Teil, dessen Nutzen letztendlich nicht sehr groß ist, und aus anderen Teilen, welche durch die Erfahrung selbstverständlich sind. Wenn man die Regeln und die Beispiele, welche Wolf aufführt, um die Hermeneutik eines Textes zu erklären, betrachtet, merkt man, daß er nichts anderes als Philologie und deren enzyklopädische Voraussetzungen beschreibt: Bedeutung der Worte anhand des linguistischen Vergleichs und der zeitgenössischen Autoren (usus loquendi), die Bedeutungen der Schrift, historische und philosophische Erklärung, etc. Wolf ist keineswegs ein Anhänger von hermetisch-kabbalistischen Theorien, wonach ein schwer auslegbarer Text wahrhaftige Inhalte vermittelt. Er erwähnt extra die Aussage des Quintilian „emendatio praecedat lectionem“, die Wolf folgendermaßen übersetzt: „Die praktische Kritik muß der Interpretation vorausgehen.“35 Die Annahme, von der er ausgeht, ist kategorisch. Jeder Satz hat im allgemeinen einen Sinn und daraus schließt er, „daß jeder Satz einen wahren Sinn habe“. Die Betonung liegt hier nicht auf „Sinn“, sondern auf „wahren Sinn“. Wenn die Philosophie und die Hermeneutik behaupten, daß mehrere Sinne möglich sind, bedeutet dies, daß der wahre Sinn in den verschiedenen Sinnen zerstreut ist. Die Unmöglichkeit, den wahren Sinn des Textes zu finden, ist nur dadurch bedingt, daß wir die historischen Ereignisse und Zusammenhänge, die der Text voraussetzt, nicht genau kennen. Das ist nichts anderes als die Kritik der bloßen Philologie, die vom Zusammenhang des Textes und des Lesers absieht und nur auf die Feststellung des wahren Sinnes abzielt. Dies ist, was den Menschen in seiner ethischen Dimension schafft, die Suche nämlich nach dem wahren Sinn. Das, was durch die historische Forschung und Kenntnis von unsterblichen Sprachen und Kulturen errungen wird, trägt auf eine einzigartige Art und Weise „zur harmonischen Ausbildung des Geistes und des Gemueth“ bei, wie Wolf in seiner „Darstellung der Alterthumswissenschaft“36 behauptet. In seiner Kritik gegen Wolf scheint der Theologe Schleiermacher nicht verstanden zu haben bzw. es scheint, als wollte er nicht verstehen, daß die minderwertige Bedeutung, die Wolf der Hermeneutik beimißt, kein Zufall ist. Denn diese wird von Prämissen abgeleitet, denen der Autor folgt, und das ist genau das, was Wolf vermeiden will. Schleiermacher schreibt: alle Wissenschaften vereinigen, weil eine zu große Ungleichheit unter den Disciplinen herrscht.“ 35 Wolf, Vorlesungen, Bd.1, S. 295. 36 Wolf, Darstellung der Altertums-Wissenschaft, (wie Anm. 10).
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giuseppe veltri Es ist eine ganz andere Art der Gewißheit, auch – wie Wolf es von der kritischen rühmt –, mehr divinatorisch, die daraus entsteht, daß der Ausleger sich in die ganze Verfassung des Schriftstellers möglichst hineinversetzt.37
Wolf spricht wenig von Autoren, beschäftigt sich vor allem mit den Werken, spricht von Literatur, Sprache, Wortschatz, Archäologie des Wissens etc. Sein Begriff von Enzyklopädie beinhaltet die Gesamtheit des Textes im Text selbst; er kümmert sich nicht um den Autor. Daher behandelt er die „Liedertheorie“ in bezug auf das homerische Werk, als ob es seine Theorie wäre, obwohl Heyne in seinen in Göttingen gehaltenen Seminaren, an denen Wolf teilnahm, sie bereits vertreten hatte. Neu ist nicht die Theorie, sondern die Art und Weise ihrer Beweisführung: tota quaestio nostra historica et critica est, non de optabili re, sed de re facta. Potest fieri, ut novae ex illa difficultates nascantur, ut augeatur etiam admirabilitas rei: quid id ad nos? Amandae sunt artes, at reveranda est historia.38
Schon im Altertum hatte man die homerische Autorschaft in Zweifel gezogen39, neu ist aber jetzt, dies anhand von kritischen und historischen Überlegungen nachzuweisen. Hierzu hätte sich Wolf auf das Beispiel der Autorität des Pentateuchs und auf die Zweifel bezüglich der mosaischen Autorschaft beziehen können. Die Ansätze von Wolfs Philologie – die seit langem bekannt, aber fast in Vergessenheit geraten sind – gehen auf die critica sacra zurück. Was Jean Morin (1591–1659) oder Richard Simon in seiner „Histoire critique“ (1678) auf das Alte Testament angewandt hatten, wird von Wolf entsprechend den „Vorlesungen“ von J. G. Eichhorn (gest. 1827) auf die homerische Kritik angewandt. Genau auf der Ausschließung der Inspiration des Autors beruhen die Bibelkritik und die philologische Kritik, welche von Wolf vertreten werden. Was gilt, ist nur die Literatur eines bestimmten Volkes und nicht die Abstammung und die philosophische, religiöse, „divinatorische“ Aneignung des Wissens, wie Schleiermacher sagen würde. In diesem Sinn sagt Wolf:
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Jonas (Hrsg.), Schleiermacher, Sämmtliche Werke, (wie Anm. 30). Homeri et Homeridarum opera et reliquiae, S. XXV, siehe Grafton, Juden, S. 19. 39 Siehe meinen Aufsatz „,Tolomeo Filadelfo, emulo di Pisistrato‘“ (wie Anm. 12), wo die dazu gehörige Bibliographie angeführt ist. 38
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Vor den Griechen sehen wir keine einzige Nation und neben ihnen keine orientalische, die Beredtsamkeit hätte, was daher kam, daß sie nicht reden durften über die wichtigsten Gegenstände. Dies ist auch der Grund bei den orientalischen Völkern, daß, weil sie nicht gesprochen, sie auch keine Prosa haben; sie sind nie zu der glücklichen Verbindung der Sätze eines periodus gekommen, worin die Kunst zu schreiben liegt.40
Die Überlegenheit der Griechen lag nicht in ihrer Inspiration, sondern in ihrer Literatur, in ihrer „schönen Kunst“. Wolf wußte, daß seine Auffassung auch bei den Juden, von den Zeiten der alexandrinischen Bibliothek bis zu seinen Berliner Studenten Jost und Zunz, Zustimmung fand. Im palästinischen Talmud wird behauptet, daß die griechische Sprache für die Poesie und das Lied geeignet ist, während das Hebräische nur für die alltäglichen Bedürfnisse, das Latein für das Imperium und das Aramäische für das Jammern passend sind.41 Wolf hat die Altertumswissenschaft nicht von der Orientalistik getrennt, aber er hat sich für die Unabhängigkeit der Philologie von der Hermeneutik entschieden. Die Trennung der Philologie von der Theologie war schon von anderen vollzogen worden, der Hallenser Professor hat nur die Ergebnisse vorgelegt. Die Tatsache, daß er am Anfang seiner Laufbahn die Massoreten und die Bibelkritik erwähnt, bedeutet nichts anderes, als daß er sich auf die parallele Entwicklung der Bibelwissenschaft bezog. Das Interesse für die Literatur entsprechend den Grundsätzen der historischen und kritischen Philologie bildet die Basis der Altertumswissenschaft, welche vom Joch der Hermeneutik und der Poetik platonischer Herkunft befreit ist. Man kann Wolf jedoch nicht für das zunehmende Interesse am nationalistischen Charakter der deutschen Kultur verantwortlich machen, der sich im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelt; von der Verherrlichung eines alten Volkes bis hin zur Behauptung der Überlegenheit der deutschen Bildung und des deutschen Geistes ist der Schritt zu kurz.
40 41
Wolf, Vorlesungen, Bd. 1, S. 33. Talmud Yerushalmi jMeg 71b 1,11.
LUDWIG GEIGER ODER „DER TOD DER HEBRÄISCHEN PHILOLOGIE DURCH DEN UNGEIST DER CHRISTLICHPROTESTANTISCHEN HEBRAISTIK“ Klaus Herrmann Der Nagelschmied, der die Nägel fertigte, womit der Doktor Luther seine 95 Sätze an die Tür der Schloßkirche da drüben annagelte . . . der Nagelschmied, der die Nägel dazu anfertigte, hat nicht gewußt und nicht geahnt, wozu sie dienen sollten. Der Handwerker weiß oft nicht, wozu und für wen er seine Arbeit vollführt. Was da in Werkstätten und Fabriken fertig wird, hat das Gleiche wie das Wachstum des Feldes. Das Getreide wächst, es wird Brot daraus für Gerechte und Ungerechte, für Betrüger und Betrogene. „Wie wir hier beisammen sind, sind wir Bürger von Wittenberg, und wer einmal in der Fremde gewesen, besonders in Süddeutschland und auch in Schweden und Holland, weiß davon zu erzählen, wie einem das zugute kommt. – Ah! heißt es da, Sie sind von Wittenberg! Muß eine schöne Stadt sein, und eine freisinnige, tapfere Bürgerschaft haben. – In katholischen Ländern haben sie gar geglaubt, man wallfahrte hierher.“
Mit diesen Worten beginnt der jüdische Schriftsteller Berthold Auerbach (1812 als Moses Baruch Auerbacher in Nordstetten bei Horb im Schwarzwald geboren und 1882 in Cannes gestorben) seine Erzählung „Der Blitzschlosser von Wittenberg“, die zum ersten Male 1860 und mit Zeichnungen von Adolph Menzel (1815–1905) illustriert erschien und mehrfach nachgedruckt wurde.1 Im Kontext der jüdischen Literaturpädagogik wurde diese Erzählung immer wieder als Jugendliteratur empfohlen und gerade auch noch zu einer Zeit, da der Ruhm Auerbachs – nach der Veröffentlichung seiner Schwarzwälder Dorfgeschichten in den Jahren 1843–1880 zeitweise sehr populär in Deutschland – schon weithin wieder verblasst war.2 Die Rahmenhandlung des „Blitzschlossers“ ist als Erzählung eines Wittenberger Schlossermeisters gestaltet: 1 B. Auerbach, Der Blitzschlosser von Wittenberg, München 1860. Die nachfolgenden Zitate beziehen sich auf die Ausgabe Marbach 1962, das vorangehende Zitat S. 75. 2 Zu den von Auerbach verarbeiteten jüdischen Motiven in den Dorfgeschichten s. H. O. Horch, „Heimat – Fremde – ,Urheimat‘. Zur Funktion jüdischer Nebenfiguren in Berthold Auerbachs Dorfgeschichten“, in: M. H. Gelber, Confrontations/Accommodations. German-Jewish Literary and Cultural Relations from Heine to Wassermann, Tübingen 2004.
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klaus herrmann So erzählte der Schlossmeister Friedrich Benjamin Knolle, ein Mann aufgeweckten Geistes, der sich viel in der Welt umgesehen hat. Seine Erzählungsweise ist absonderlich. – Wie man nämlich bei seinen Schlössern immer zweimal umdrehen muß, bis sie aufgehen, so hat er’s auch bei seinen Geschichten.3
Wofür stehen die Nägel an der Schloßkirche in dieser Erzählung? Den Grundtenor der Lutherischen Thesen, die Polemik gegen das Ablaßwesen, darf der Autor als bekannt voraussetzen; dies ist jedenfalls nicht das Thema der Erzählung. Doch schon recht bald erfährt der Leser, wofür die Nägel an der Schloßkirche ganz offensichtlich nicht stehen. Leitmotivisch durchzieht die Erzählung der Ruf nach Freiheit und Aufklärung,4 um auch in der Lutherstadt „die verfolgten und gehaßten Anstalten der Freiheit auszuführen“ und damit, wie im einleitenden Zitat gesagt, die doch angeblich die Wittenberger Bürger auszeichnenden Tugenden der Freisinnigkeit und Tapferkeit Wirklichkeit werden zu lassen.5 Oder, negativ formuliert, polemisiert die Erzählung gegen einen „Aberglaube“, den es zu besiegen und den Garaus zu machen gelte6, verbunden mit dem Aufruf „allem Pfaffentum Widerpart (zu) leisten.“7 Für all das stehen Luthers Nägel also nicht, nein erst ein anderes Metall sollte Freiheit und Aufklärung auch nach der Lutherstadt Wittenberg bringen und zwar der erste Blitzableiter: „Zu damaliger Zeit hatte ein Amerikaner . . . – so heißt es in der Erzählung – also Benjamin Franklin hat die Entdeckung gemacht, daß man die Blitze fangen kann wie einen Fisch an der Angelhake.“8 Und an diesem Punkt kommt nun auch die hiesige ehemalige Universität und heutige Wittenberger Forschungsstätte Leucorea in den Gang der Erzählung, die im Jahr unserer Hebraistik-Tagung ihr 500jähriges Bestehen als Universität Halle-Wittenberg feiert, zur Zeit der Erzählung jedoch als Kaserne diente: Dazumal haben wir hier noch eine Universität gehabt; sie war dort neben dem Hause Melanchthons, wo jetzt die große Kaserne ist, in die der Blitz schon zweimal eingeschlagen hat; da war die Universität. Ein Professor mit Namen Titius, der auch die Naturkunde vorgetragen, hat sich über die 3
Ebd., S. 76. Siehe etwa ebd., S. 82: „weil Ihr der jüngste seid, müßt ihr auch der Aufgeklärteste sein.“ 5 Ebd., S. 75. S. auch S. 76: „zuletzt bleibt die Freiheit doch obenauf“. 6 Ebd., S. 76. 7 Ebd., S. 78. 8 Ebd., S. 76. 4
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Entdeckung des Franklin gefreut und hat sie bei uns heimisch gemacht. Wohlverstanden, nicht er selber, denn die Professoren können nicht alles allein. Ohne meinen Meister hätte der Professor Titius, – er soll eigentlich Tietz geheißen haben, aber die Professoren haben ihre Namen ins Lateinische übersetzt, – also der Professor Tietz oder Titius hätte ohne meinen Meister den Blitzableiter nicht auf sein Haus bringen können, und fast hätte die Geschichte meinem Meister das Leben gekostet.9
Bei dem genannten Gelehrten handelt es sich um Professor Johannes Daniel Titius (1729–1796), der als Physiker in den Jahren 1756 bis zu seinem Tod in Wittenberg wirkte. Dieser Gelehrte soll den Bau des ersten Blitzableiters veranlaßt haben, was Auerbach wie folgt darstellt: Und jetzt erklärt der Professor meinem Meister, daß er ihn dazu ausersehen habe, den ersten Blitzableiter hier in Wittenberg zu machen. Wittenberg, das einen so guten Namen hat in der Welt, dürfe nicht zurückbleiben, wo es darauf ankommt, einen Aberglauben auszutreiben und ein Stück Freiheit in die Welt zu bringen. Der Meister, dem das Herz im Leib zittert, sagt: „Herr Professor, ich meine, das kommt eher älteren Meistern zu.“ Der Professor gesteht, daß er bereits bei drei anderen gewesen, daß aber alle aus Furcht und Aberglauben sich weigern. „Die Finsterlinge“, – sagt er, – „die Finsterlinge mit und ohne Kutte, verdammen den in die unterste Hölle, der die Hand dazu bietet, – wie sie es nennen, – in Gottes Allmacht einzugreifen.“10
Die Annahme des Auftrags zum Bau des Blitzableiters durch den Meister des „Erzählers“ führt zu allerlei Verwicklungen, da die Wittenberger Bürgerschaft darin nichts als „Teufelswerk“11 erblickt und – der Pfarrer selbstverständlich eingeschlossen – das Werk zu verhindern versucht.12 Schließlich wird sogar die Liebesheirat des „Blitzschlossers“ in Frage gestellt, dem nicht auch noch eine „Blitzhexe“ angetraut werden möge, ja man schreckt nicht einmal vor einem Anschlag auf sein Leben zurück, der glücklicherweise fehlschlägt und den Professor ausrufen läßt. „Wehe! Wenn du in den Tod sinkst, dann hat der Aberglaube gesiegt!“13 Und damit findet die Erzählung auch schon ihr happy end, der Blitzableiter wird erfolgreich installiert und mit einen Mal empfindet die Wittenberger Bürgerschaft diese hart umkämpfte Neuerung als eine segensreiche Erfindung: „Natürlich, daß jetzt alle taten, als ob sie ihr Leben lang kein Wort gegen das Aufrichten eines Blitzableiters 9 10 11 12 13
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. S. S. S. S.
77. 80 f. 89. 90: „der Pfarrer wird das Höllentor sperrangelweit aufriegeln“. 99.
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gesagt hätten.“14 Und wenn dennoch ein bitterer Nachgeschmack bleibt, dann allein aus folgendem Grund: Den Tag nach der Rettung des Meisters kommt der Bruder des Stenz, der Schiffmann gewesen ist, aus Hamburg zurück und erzählt, daß man dort vor wenig Tagen auf dem Jakobiturm endlich einen Blitzableiter aufgerichtet hat, und das ist der erste in Deutschland. Hätte man dem Meister nicht so viele Hindernisse in den Weg gelegt, hätte Wittenberg den Ruhm des ersten Blitzableiters in Deutschland. Der Bäcker vergaß das der Schlosserzunft und dem Stadtpfarrer nicht.15
So findet die Erzählung ihren Höhepunkt darin, daß die Schloßkirche selbst mit einem Blitzableiter versehen wird, der damit in Konkurrenz zu den Nägeln der eingangs genannten Lutherischen Thesen tritt: Noch im Herbst ist auf unsere Schloßkirche ein Blitzableiter gesetzt worden, und wer hat ihn gemacht? Mein Meister. In der ganzen Umgegend hat alles nur von ihm Blitzableiter haben wollen, und er hat den Namen Blitzschlosser sein Leben lang behalten. Auf der Hochzeit da soll’s lustig hergegangen sein, wie noch nie. Der Professor hat dem Meister ein großes eingerahmtes Bild zum Hochzeitsgeschenk gemacht, und den Spruch drunter gesetzt, der aus dem Lateinischen übersetzt sein soll und Franklin ehrte, der sich auch um die Freiheit in Amerika so sehr verdient gemacht hat. Der Spruch heißt: Des Himmels Blitz wußt’ er zu bannen, Das Schwert entriß er den Tyrannen. Franklin ist unser Hausheiliger geworden. Versteht mich recht! Er war ein Mensch wie wir, aber gescheit wie der Tag, und gerad’ und einfach wie ein Erzvater, und wenn der Meister besonders gut gegen mich gewesen ist, hat er mich Benjamin geheißen.16
Die Message der Erzählung ist ebenso deutlich wie kühn: Nicht Luther und seine 95 Thesen stehen für ein freisinniges und tolerantes Wittenberg, wofür Luther im Kontext eines sich aufgeklärt gebenden Protestantismus gerne in Anspruch genommen wurde, ganz im Gegenteil, gerade die Lutherstadt verharrte noch längere Zeit in Aberglauben und Pfaffentum und erst durch die segensreiche Erfindung des „Hausheiligen“ und Amerikaners Benjamin Franklin wird auch ihr das Symbol für Freiheit und Toleranz in Gestalt eines Blitzableiters aufgesetzt. Keine Frage, diese Erzählung läßt sich unmittelbar auf die Lebensumstände des jüdischen Schriftstellers Berthold Auerbauch beziehen, sein Ein14 15 16
Ebd., S. 101. Ebd., S. 101. Ebd., S. 101 f.
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treten für die bürgerliche und gesellschaftliche Gleichstellung der Juden im 19. Jahrhundert, seine Polemik gegen eine überkommene Gesellschaftsordnung, die einen Teil ihrer Bürger aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit zu Bürgern zweiter Klasse degradiert, oder, wie er es selbst formuliert hat: Gebt uns das Vaterland, dem wir durch Geburt, Sitte und Liebe angehören, und treulich legen wir Gut und Blut auf seinen Altar. Vergesset und lehret uns vergessen der finsteren Scheidewand, die uns trennte, und ersparet uns die schmerzliche Mühe, gegen euch in die Schranken zu treten, weil ihr so oft eure vaterländischen Bestrebungen dem Dämon des Judenhasses beigesellt.17
Doch sollten die hohen Erwartungen, die der junge Berthold Auerbach an die Zukunft der Juden in Deutschland gehabt hat, im Laufe seines Lebens mehr und mehr enttäuscht werden und ihn im Zuge des im deutschen Kaiserreich immer virulenter werdenden Antisemitismus ausrufen lassen: „Vergebens gelebt und gearbeitet.“18 Die Verbindung Auerbachs mit dem Ort unserer Tagung „Die Geburt der hebräischen Philologie durch den Geist der christlichen Hebraistik“ ist also mit dem „Blitzschlosser“ sichergestellt – doch was hat Auerbach mit dem eigentlichen Thema dieser Tagung, der Hebraistik, zu tun? Auerbach, aufgrund seiner traditionellen jüdischen Erziehung des Hebräischen mächtig, war ein Meister des Deutschen, nicht des Hebräischen und in deutscher Sprache hat er auf vielfältige Weise jüdische Themen und Motive in seinen Werken verarbeitet. Doch schauen wir auf die von Ludwig Geiger, Sohn des berühmten Reformrabbiners Abraham Geiger, im Jahre 1910 veröffentlichte Arbeit über Die deutsche Literatur und die Juden, so ergeben sich erste Anhaltspunkte für solch eine Verbindung.19 Hier eröffnet Reuchlin, der Begründer der Hebraistik in Deutschland, und sein Kampf für die Bücher der Juden die Darstellung von zehn Einzelpersonen; ihm folgen Moses Mendelssohn, Johann Gottfried Herder, Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich 17
Zitiert nach L. Geiger, Die deutsche Literatur und die Juden, Berlin 1910, S. 239. Zitiert nach Geiger, Die deutsche Literatur und die Juden, S. 246; siehe auch S. 245 f.: „Er wollte es unternehmen, gegen Richard Wagner wegen seiner Broschüre ,Das Judentum und die Musik‘ polemisch aufzutreten. Er empfand die Schriften Treitschkes als ,ein völkerwidriges Explosivgeschoß‘, das ,ihm das Herz zermarterte‘. Mit dem tiefsten Schmerze schrieb er die Worte nieder: ,darum also arbeiten wir so lang, um eine solche Barbarei von einem gebildeten ernsthaften Deutschen zu erringen‘“. 19 Vgl. Anm. 16. Ludwig Geiger wurde 1848 in Breslau geboren und starb 1919 in Berlin. Vom Jahre 1870 bis zu seinem Tode wirkte er an der Berliner Universität. 18
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Schiller, Ludwig Börne, Moritz Veit, Gabriel Rießer, und an vorletzter Stelle eben auch Berthold Auerbach, bis Karl Emil Franzos diese Reihe beschließt. Was also haben Reuchlin und Auerbach gemeinsam, der Pforzheimer Humanist berühmt durch sein Interesse am Hebräischen und, vor allem, an der Kabbalah, und der Schwarzwälder „Heimatschriftsteller“, den seine Dorfgeschichten prominent gemacht haben? Wie wir sehen werden, besteht diese Verbindung vor allem anderen in den gemeinsamen Grundanschauungen von Auerbach und Geiger, die je auf ihre Weise, der eine von einem schriftstellerischen Standpunkt aus und der andere von einem kulturhistorischen Ansatz aus schreibend, in ihrem Urteil über die Lutherstadt Wittenberg und damit letztlich über die deutsch-jüdische Geschichte eng zusammengehen. Im Blick auf Reuchlin ist festzuhalten, daß 500 Jahre Universität Halle-Wittenberg zugleich auch 500 Jahre Studium der hebräischen Sprache bedeuten und dies allein könnte schon ein Grund zum Feiern sein. So jedenfalls bewertete Gustav Bauch in seinem Beitrag „Die Einführung des Hebräischen in Wittenberg“, der nicht zum 500sten, aber kurz nach dem 400sten Gründungsjahr der hiesigen Universität, und gewiß nicht zufällig in der Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums erschienen ist, das damalige Jubiläum: Die Universität Wittenberg ist die erste feste Heimat für das Studium der hebräischen Sprache in Deutschland geworden. Hier schlug es als von der Oberhand eingeführtes ordentliches Lehrfach, einmal aufgenommen, sogleich für alle Zeit Wurzel. Und da alle Universitäten in seiner Aufnahme dem Beispiele Wittenbergs folgten, so ist die Wittenberger Hochschule als die Chorführerin ihrer Schwestern für die Geschichte des Faches von ganz besonderer Bedeutung.20
Doch Ludwig Geiger, der als erster im Jahre 1870 eine umfangreiche Arbeit zu diesem Thema – ich zitiere den Originaltitel – „Das Studium der Hebräischen Sprache in Deutschland vom Ende des XV. bis zur Mitte des XVI. Jahrhunderts“21 vorgelegt hat, beurteilt die hiesigen Hebräischstudien sehr viel kritischer und läßt gerade in diesem kritischen Grundtenor eine erstaunliche Nähe zu Auerbachs „Blitzschlosser“ erkennen, ja für ihn bedeutet nun gerade die Wirksamkeit von
20 G. Bauch, „Die Einführung des Hebräischen in Wittenberg“, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 48 (1904), S. 22–32; 77–86; 145–160; 214–223; 283–299; 328–340; 461–490; hier S. 22. 21 L. Geiger, Das Studium der Hebräischen Sprache in Deutschland vom Ende des XV. bis zur Mitte des XVI. Jahrhunderts, Breslau 1870.
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Luther und Melanchthon den Grund dafür, daß die hebräischen Studien in Wittenberg nur schwer in Gang kamen, um dann nach Luthers Tode im Zuge der theologischen Streitigkeiten gleich wieder zu erstarren: Man suchte – so schreibt Geiger über die Anfänge des Hebräischstudiums in Wittenberg – also einen Professor für das Hebräische. Es ist von vornherein klar, dass die Stellung eines solchen, inmitten eines vorzugsweise theologischen Lehrkörpers, neben den Männern, wie Luther und Melanchthon, die nicht nur durch den Grad ihrer Kenntnisse, sondern durch den eigenthümlich hervorragenden Platz, den ihnen die Bewunderung ihrer Berufsgenossen zuerkannt hatte, eine Art Oberaufsicht über Alles ausübten, was unter ihren Augen vorging; es ist klar, dass die Stellung eines Lehrers der Sprache, deren richtiges Verständnis die Grundlage ihrer ganzen Theologie bildete, eine schwierige war, und dass ein selbständiger Geist, der sich in seiner Lehrmethode und in seinen Ansichten nicht beschränken lassen wollte, hier schwer, wenn nicht gar unmöglich, eine Wirksamkeit auszuüben im Stande war. Hierin mag wol der Grund liegen, dass es ziemlich lange dauerte, bis man den rechten Mann gefunden hatte, dass eine Anzahl Versuche fruchtlos blieben, und dass, wenigstens in den ersten Jahrzehnten, keiner in Wittenberg dauernd die hebräische Sprache gelehrt hat, der unter den Kennern derselben einen bedeutenden Rang einnimmt.22
Ein wenig überspitzt formuliert: Für Geiger stehen die Namen Luther und Melanchthon also nicht nur nicht für eine gedeihliche und fruchtbare Entwicklung des Studiums der hebräischen Sprache in Wittenberg, nein, sie stehen einer solchen im Wege. Und während für den anfangs genannten Gustav Bauch die Berufung des Hebraisten Aurogallus alias Matthäus Goldhahn an die Wittenberger Universität im Jahre 1521 dazu führte, daß „das Hebräische, wie Melanchthon und Luther gehofft hatten, in den sicheren Hafen seiner dauernden Existenz einfuhr“, beurteilt Geiger diese Situation ganz anders: Man hatte in Wittenberg überhaupt keine Zeit mehr zu wissenschaftlicher Beschäftigung. Schon nach Luther’s Tode hatten fast nur theologische Streitigkeiten die Gemüther beschäftigt, die Federn in Bewegung gesetzt; nachdem mit Melanchthon’s Tode (1560) der letzte Damm einer zuletzt freilich sehr wankenden Autorität gebrochen war, gingen die Wissenschaften – und damit eben auch das Studium der hebräischen Sprache – in dem allgemeinen Trubel theologischen Zankes völlig unter.23
22 23
Ebd., S. 93. Ebd., S. 104.
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Gewiß, forsche und mutige Worte eines jungen jüdischen Gelehrten, der bei der Abfassung dieser Schrift gerade einmal 22 Jahre alt war und die also in nicht allzu großem zeitlichen Abstand zu Auerbachs „Blitzschlosser“ entstanden ist. Dabei ist unbedingt hervorzuheben, daß Luther im Judentum des 19. Jahrhunderts, gerade auch im Blick auf die völlige Integration der Juden in die (protestantisch-)christliche Umweltkultur, vielfach positiv beurteilt und dabei sein offenkundiger Antijudaismus gerne ausgeblendet wurde.24 Ganz offen wird Geigers Kritik dann in seiner Reuchlin-Biographie ausgesprochen, die im Jahre 1871 erschien und die in gewissem Sinne eine monographische Ausarbeitung des dritten Kapitels seiner Arbeit über das Studium der hebräischen Sprache in Deutschland darstellt.25 Von ihrer Grundtendenz her ist diese Monographie gegen den jüdischen Historiker Heinrich Graetz gerichtet.26 Für Graetz war Reuchlin ein Vorläufer der Reformation und bei dem Streit zwischen Reuchlin und seinen Widersachern ging es um den Talmud: „Der Streit um den Talmud, ein Schibolet der Humanisten und Dunkelmänner“, so lautet denn auch die Überschrift zu dem entsprechenden Abschnitt in Graetz Geschichte.27 Und im Abschnitt „Der Reuchlinsche Streit und die lutherische Reformation“ lesen wir: Der Anfang zu einer durchgreifenden Umwälzung war eben der Reuchlinsche Streit mit den Dominikanern wegen des Talmud, und dieser sollte die versteinerte und entsittlichte Welt bessern28 . . . Als das Interesse an dem Reuchlinischen Streit lauter zu werden anfing, tauchte eine andere Bewegung in Deutschland auf, welche das fortsetzte, was jener angebahnt hatte, die festen Säulen des Papsttums und der katholischen Kirche bis ins Innerste zu erschüttern und eine Neugestaltung Europas vorzubereiten. Die so weittragende, von Luther ausgegangene Reformation, hatte durch den ursprünglich sich um den Talmud drehenden Streit einen günstigen
24 Siehe dazu die Studie von C. Wiese, „Überwinder des Mittelalters? Ahnherr des Nationalsozialismus? Zur Vielstimmigkeit und Tragik der jüdischen Lutherrezeption im wilhelminischen Deutschland und in der Weimarer Republik“, in: Lutherinszenierung und Luthergedenken, hrsg. von St. Lauge, Weimar 2003, S. 139–171. 25 L. Geiger, Johann Reuchlin: Sein Leben und seine Werke, Leipzig 1871. 26 Erste Korrekturen Geigers zu Graetzens Geschichte (siehe Anm. 27), auch im Blick auf Luther, finden sich in seiner in der von seinem Vater Abraham Geiger herausgegebenen Zeitschrift Jüdischen Zeitschrift für Wissenschaft und Leben, 5. Jahrgang, Breslau 1867, S. 23–29. 27 H. Graetz, Die Geschichte der Juden, 11 Bde., Leipzig 1853–1876; die vorliegende Studie stützt sich auf den Nachdruck (Berlin 1998) der vierten Auflage; hier Bd. 9, S. 112. 28 Graetz, Geschichte der Juden, Bd. 9, S. 157.
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Luftzug vorgefunden, ohne welchen sie weder hätte entstehen, noch wachsen können.29
Reuchlin als Vorläufer der Reformation und der Talmud an der Schwelle der Besserung einer versteinerten und entsittlichten Welt?! Diese beiden Hauptthesen sind von Geiger grundsätzlich in Frage gestellt worden. „Unter den vielen andern geisteskräftigen Männern namentlich des ausgehenden Mittelalters, die man als Vorläufer der Reformation bezeichnet, hat man auch Reuchlin genannt. Er verdient diesen Namen nicht“ – so lautet sein Fazit.30 Worin liegt dann aber für Geiger die Bedeutung Reuchlins und seines Wirkens? Bei genauem Hinsehen fällt auf, daß Geiger und zwar gleich zu Beginn seiner Reuchlin Darstellung von einem „welthistorischen Ereigniss“ zu berichten weiß, das mit dem Talmud und seiner Verteidigung genauso wenig zu tun hat wie mit der Reformation, vielmehr meint er die Begegnung zwischen Reuchlin und seinem jüdischen Lehrer Jakob ben Jechiel Loans. Diesen Abschnitt hat Geiger nahezu wörtlich aus seiner bereits mehrfach erwähnten Arbeit über das Studium der hebräischen Sprache in Deutschland in seine Reuchlin-Biographie übernommen:
29
Ebd., Bd. 9, S. 171. Geiger, Johann Reuchlin, S. 148. Schon in seiner Dissertation, die im Jahre 1868 in Göttingen veröffentlicht wurde und den Titel Ueber Melanthons Oratio continens historiam Capnionis trägt, d. h. Melanchthons Rede über Reuchlin aus dem Jahre 1552 gewidmet ist, übt Geiger indirekt Kritik an der Auffassung, Reuchlin sei ein Vorläufer der Reformation gewesen. Der Untertitel der Dissertation lautet „Eine Quellenuntersuchung“, und in der Tat enthält die Arbeit vor allem eine genauere Analyse der chronologischen Angaben über Reuchlin, die Melanchthon 30 Jahre nach dem Tode seines Großonkels gemacht hat. Bereits in der Einleitung kritisiert Geiger den Reformator vor allem darum, daß er „30 Jahre verstreichen (ließ), ehe er die Erinnerung an seinen Lehrer, Verwandten und Freund aufzufrischen für gut fand!“ (Ueber Melanthons Oratio continens historiam Capnionis, S. 14. Siehe auch S. 13: „Und wahrlich, es ehrt den Mann nicht, der ein gut Theil seiner ganzen Bildung und somit die Anleitung und Grundlage zu dem, was er später geworden ist, Reuchlin verdankte, dass er ein Jahr nach dem Tode dieses Mannes ausrufen konnte: Von Reuchlin habe ich mir niemals mehr als gewöhnliche Dienste versprochen, obwol eine alte Freundschaft zwischen meiner und seiner Familie bestand, und da er mich sogar sehr zu lieben schien“.) Vordergründig sieht das Ergebnis der chronologischen Analyse, die mit den Worten: „In jedem Fall ist die Nachricht Melanthons falsch und er hat sich in dieser letzten chronologischen Angabe so wenig als in seinen früheren als genauer Berichterstatter bewährt“ (ebd., S. 34) nach Besserwisserei eines jungen Gelehrten aus, doch liest man in seiner Dissertation bereits deutlich zwischen den Zeilen eine Kritik an der Auffassung, Reuchlin habe die Reformation nachhaltig beeinflußt. 30
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klaus herrmann Er [Loans] wurde Reuchlins Lehrer. Es lässt sich nicht läugnen: dieses erste Begegniss Reuchlins mit einem jüdischen Arzt ist ein Moment von welthistorischer Bedeutung. Reuchlin war ein Kind seiner Zeit: er hat sich in vielen Dingen von den Fesseln, die der Zeitgeist einem Jeden auferlegt, nicht freizumachen gewusst, vielleicht nicht zu befreien gesucht. Er hatte bisher wohl Juden gesehen: auf seinen Reisen, vorübergehend auch in seinem Wohnort; zogen sie doch überall in Deutschland und im Auslande umher, wo eine Handelsgelegenheit sie anlockte, wo ein Bedürfnis sie hintrieb. Aber in welcher Gestalt waren sie ihm, waren sie allen Christen erschienen! In sonderbarem Aufzuge, der sie schon äusserlich von der sie umgebenden Welt schied, mit einer eigenthümlich gemischten Sprache, die nur ihnen recht verständlich war, mit deinem Geiste, der nur am Irdischen, an Handel und Gewinn zu kleben und für das Höhere keine Empfänglichkeit zu haben schien. Hier trat ihm ein Anderes entgegen, ein Spross desselben Volkes, das ihm so verächtlich erschienen war und seinen bisherigen Erfahrungen nach auch nicht anders hatte erscheinen können, und dabei ein Mann, am Hofe geehrt, in Wissenschaften unterrichtet und in die Gemeinschaft willig aufgenommen.31
Und gleich darauf teilt uns Geiger mit, daß wir von Loans „Leben und äusseren Verhältnissen . . . wenig wissen“, nicht einmal sein genaues Todesdatum ist bekannt, und auch heute hat sich unsere Kenntnis über Loans, wie Saverio Campanini in seinem 1993 veröffentlichten Beitrag „Reuchlins jüdische Lehrer aus Italien“ feststellt, nicht verbessert.32 Also ein weltgeschichtliches Ereignis, das in den Quellen nicht bezeugt ist?! Es fällt nicht schwer zu sehen, daß Geiger hier das Selbstverständnis des liberalen Judentums auf Reuchlin und seinen jüdischen Lehrer überträgt, wobei auf den modernen Leser seine positivistische Grundhaltung, wonach ein akkulturiertes Judentum die Vorurteile der Umweltkultur so gut wie von selbst zu beseitigen imstande ist, um dadurch, wie Geiger es formuliert, „willig in die Gemeinschaft aufgenommen“ zu werden, sehr befremdend wirkt. Diese ausgesprochen idealistische Anschauung, gerade auch in ihrer kritiklosen Übernahme antijüdischer Vorurteile: „besonderer Aufzug“, „handeltreibender Jude“ und „keine Empfänglichkeit für die höheren Dinge“ kann natürlich nur in ihrem historischen Kontext des 19. Jahrhunderts angemessen interpretiert werden. Wenn also etwas in Reuchlins Wirken für Geiger weltgeschichtliche Bedeutung erlangt hat, dann nicht sein Eintreten für den
31
Geiger, Johann Reuchlin, S. 105 f.; siehe auch ders., Das Studium der Hebräischen Sprache in Deutschland, S. 26 f. 32 S. Campanini, „Reuchlins jüdische Lehrer aus Italien“, in: Reuchlin und die Juden, hrsg. von A. Herzig u. J. H. Schoeps, Sigmaringen 1993, S. 69–85, hier 76 f.
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Talmud, mit dem das liberale Judentum als halachische Autorität ohnehin gebrochen hatte, vielmehr ist für ihn Reuchlins Interesse an der hebräischen Sprache und eine sich aus dem Sprachstudium ergebende Kritikfähigkeit Grundlage dafür, überkommene Vorurteile ebenso zu beseitigen wie fragwürdig gewordene Traditionen zu relativieren und damit erstmals die Möglichkeit eröffnet, daß Juden und Christen unvoreingenommen aufeinander zugehen können wie dies Loans und Reuchlin getan haben. Reuchlins Kampf für das jüdische Schrifttum steht somit für Geiger vor allem für das „Princip des Humanismus: die unzerstörbare Ueberzeugung davon, dass die wissenschaftliche freie Forschung in allen geistigen Gebieten erlaubt, ja als heilige Pflicht geboten sei.“33 Wie sehr Geiger Reuchlin im Kontext aufgeklärter Toleranzideen gesehen hat, ja daß Geiger Reuchlin geradezu als Vorläufer der jüdischen Aufklärung, der Haskala, und der sich daran anschließenden jüdischen Reformbewegung im 19. Jahrhundert verstanden hat, zeigt sich in seiner Geschichte der Juden in Berlin, die wie seine Reuchlin-Biographie im Jahre 1871 erschien ist. Denn es ist die Aufklärungszeit in Berlin, in der es wie zu Reuchlins Zeiten zu einem Ereignis von welthistorischer Bedeutung gekommen ist: die Begegnung von Mendelssohn und Lessing.34 Wenngleich der junge Ludwig Geiger mit Kritik an Graetz und seiner Deutung des Lebens und Wirkens von Reuchlin nicht gespart hat, in diesem Punkte war er mit dem großen jüdischen Historiker völlig d’accord. Denn auch für Heinrich Graetz markiert diese Freundschaft zwischen dem jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn und christlichen Gelehrten Gotthold Ephraim Lessing die entscheidende Wende in der jüdischen Geschichte in Europa und antizipiert zugleich die Hoffnung auf ein friedvolles Miteinander von Juden und Christen: Es war ein sehr wichtiger Augenblick für die Geschichte der Juden, in dem die beiden jungen Männer, Mendelssohn und Lessing Bekanntschaft miteinander machten. Man sagt, daß ein leidenschaftlicher Schachspieler (Isaak Heß) sie beim Schachbrett zusammengeführt habe (1754). Das Königsspiel hat gewissermaßen zwei Könige im Reiche der Gedanken zu einem Bündnis vereinigt. . . .. Sobald Lessing und Mendelssohn Bekanntschaft miteinander gemacht hatten, lernten sie einander verehren und lieben.35
33 34 35
Geiger, Johann Reuchlin, S. 426. L. Geiger, Geschichte der Juden in Berlin, Berlin 1871, S. 78 ff. Graetz, Geschichte der Juden, Bd. 11, S. 9.
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Von hier aus fällt es nicht schwer, Geigers Kritik an der Auffassung, Reuchlin habe die Reformation nachhaltig beeinflußt, zu verstehen: Zu welthistorischen Ereignissen ist es im Kontext der Reformation nicht gekommen, ganz im Gegenteil: die boshafte Polemik Luthers gegen das Judentum, vor allem in seiner Spätschrift „Von den Juden und ihren Lügen“, hat die Haltung des Protestantismus zum Judentum nachhaltig beeinflußt. Diese Kritik führt Geiger schließlich zu der Frage, wie denn wohl die Geschichte verlaufen wäre, wenn Reuchlin den Ruf auf den Lehrstuhl für Griechisch und Hebräisch an der 1502 gegründeten Wittenberger Universität angenommen hätte, eine Frage, die er in seiner Arbeit über das Studium der hebräischen Sprache in Deutschland noch nicht gestellt hat: Und wenn er nun doch den Schritt gewagt hätte (d. h. nach Wittenberg gekommen wäre)? Wer kann entscheiden, ob er sich der neuen Bewegung, wie sie von Wittenberg ausging, entgegengestemmt, und sie, wenigstens für einige Jahre, noch zurückgehalten, ob er sich freudig ihr angeschlossen hätte, oder ob er im Kampfe gegen sie von den brausenden Wellen darniedergedrückt, überfluthet worden wäre!?36
In diesem Kontext steht nun Geigers gesamte Kritik an dem HebräischStudium in Wittenberg, das sich nur, wie er immer wieder betont, unter den Argusaugen von Luther und Melanchthon entfalten konnte. Dabei ist sich Geiger sehr wohl der Bedeutung der hebräischen Sprache in Kreisen der Reformatoren bewußt und hebt dies in seiner Arbeit zum Studium des Hebräischen in Deutschland, in der er zahlreiche philologische Werke aus christlicher Feder aufzählt und charakterisiert, deutlich hervor, vor allem auch dort, wo er sich den Gegnern dieses neu erwachten Interesses am Hebräischen zuwendet: Kann es uns da wundern, wenn bei diesem nicht etwa auf den einen Mann beschränkten, sondern fast unter dem ganzen Kreis der Humanisten und Reformatoren verbreiteten Enthusiasmus – von den bedeutenderen Gelehrten in der ersten Hälfte des 16. Jahrh. ist mir nur von Erasmus bekannt, dass er fast oder gar kein Hebräisch verstand – auch eine Reaction sich zeigte, wenn sich ein Streben kundgab, die classischen Studien mehr in den Vordergund zu stellen, ihnen den Platz wieder zu erringen, den sie wenige Jahrzehnte vorher eingenommen hatten? Da ist eine bezeichnende Aeusserung, die in klagendem Ton Heinrich Loriti Glareanus an Pirckheimer schreibt: wie die Kenntniss der griechischen Sprache wieder hergestellt werden könnte, das sehe er nicht; schreien ja die Leute, Griechisch und Lateinisch zu studiren, sei nicht nothwendig, es sei genug, 36
Geiger, Johann Reuchlin, S. 464.
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wenn man Hebräisch verstehe und Deutsch; da beschwert sich Erasmus bei Melanchthon, dass man öffentlich zu Strassburg und an anderen Orten lehre, man brauche jetzt keine Wissenschaften und keine Sprachen mehr zu lernen mit alleiniger Ausnahme des Hebräischen.37
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß ein ganz ähnlicher Vorwurf gegen Geiger selbst erhoben wird – und zwar in dem Gutachten zu seinem Habilitationsgesuch an der Berliner Universität. Geiger hatte im Jahre 1873 eine Habilitationsschrift mit dem Titel Quid de Judaeorum moribus atque intitutis scriptoribus Romanis persuasum fuerit an der Berliner Universität eingereicht, hier geht es um das Verhältnis des Judentums zu der Umweltkultur in der Antike; diese Schrift hatte er bereits als Abiturarbeit angefertigt. In seinem Habilitationsgesuch bezieht er sich vor allem auf seine Reuchlin-Biographie und seine Geschichte der Juden in Berlin. Beide Werke werden in dem Gutachten, das von dem im Jahr zuvor an die Berliner Universität berufenen Historikers Nitzsch angefertigt worden war und von so illustren Namen wie Theodor Mommsen unterschrieben ist, aufgrund des „wissenschaftlichen Eifers“ positiv gewürdigt und zugleich wird hervorgehoben, „mit welchem Erfolg der Vf. sein Material gesammelt, bearbeitet und, vor allem, zu einem wohl Begründeten, äußerst klar und lebendig entworfenen und durchgeführten Gesamtbild zusammengefaßt hat.“38 Doch dann folgen die kritischen Einwände, die vor allem monieren, „daß es dem Vf. nicht gelungen ist, den Gang der griechischen Studien Reuchlins ebenso . . . klar zu legen, wie den der hebräischen.“ Und die Ursache für diesen Mangel erblickt der Gutachter Nitzsch darin, „daß das Grundmotiv seiner Studien nur dieses Interesse für die Geschichte des Judentums und der hebräischen Sprache ist.“ Wenn wir diese Kritik ins Positive wenden, haben wir sehr gut Geigers Grundanliegen verstanden. Immer wieder geht es ihm um diese Wechselwirkung zwischen der jüdischen und der Umweltkultur. Doch wie dieses Habilitationsgutachten bereits erkennen läßt, ist Geiger mit seinen Ideen bei seinen nichtjüdischen Kollegen, aber auch bei jüdischen, vielfach auf Kritik und später auch auf offene Ablehnung gestoßen. Doch kommen wir zurück zu Geigers Arbeit über das Studium der hebräischen Sprache. Für ihn ist es wichtig festzustellen, daß das im Humanismus neu erwachte Interesse an der hebräischen Sprache zwar in der Reformation neue Pflege erfährt, daß nun aber neben diesem 37 38
Geiger, Das Studium der Hebräischen Sprache in Deutschland, S. 4 f. Das Gutachten befindet sich im Archiv der Berliner Humboldt Universität.
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erwachenden wissenschaftlichen Interesse vor allem, wie er es nennt, „die theologische Richtung der Zeit“ tritt: Man ging auf die Bibel zurück, aus ihr nur wollte man Belehrung schöpfen, nur aus ihr konnte eine Widerlegung der gegnerischen Ansichten gegeben werden. Was Wunder, dass man nach der Ursprache verlangte, sie bei Uebersetzungen in die Muttersprache zu Grunde legte.39
In diesem Sinne betonte eben auch Luther an unzähligen Stellen die Notwendigkeit des Hebräischen, wobei Luthers Kenntnis des Hebräischen, wie Geiger schreibt, „nicht allzubedeutend“ war, „bei der Bibelübersetzung bediente er sich der Hülfe des hebräischkundigen Johann Forster, bei seinen Kommentaren musste ihm der jeweilige Professor der hebräischen Sprache in Wittenberg zur Hand gehen“.40 Die Grenzen bzw. die Einseitigkeit des reformatorischen Interesses an der hebräischen Sprache sieht Geiger dann vor allem dort, wo es um jüdische Auslegungstraditonen geht: Er meint, sie haben die Schrift verdreht und gefälscht, um ihre Träumereien und Einbildungen zu erweisen. Er warnt daher vor ihrem Gebrauch, ja er geht so weit, den Juden nur grammatische Kenntniss zuzuschreiben und auch diese nur in beschränktem Masse, Sacherklärung, Verständnis des wahren Inhalts sei bei ihnen nicht zu finden – und schließlich zitiert Geiger Luther selbst: „so müssen wir’s thun, die Christen sind, als die den Verstand Christi haben, ohne welchen auch die Kunst der Sprache nichts ist.“41
Dieser Aspekt der Nutzanwendung des Hebräischen im Kontext der reformatorischen Theologie setzte, wie Geiger betont, dem Sprachstudium des Hebräischen von vornherein sehr enge, oder besser: viel zu enge Grenzen. Wie sehr sich diese Grundhaltung gerade im Zusammenhang mit der Einführung des Hebräischstudiums in Wittenberg ausgewirkt hat, zeigt für Geiger insbesondere das Schicksal der beiden Hebraisten Matthäus Adrianus und Johann Böschenstein. Wer sich heute, d. h. im Jahre 2002, kurz über die beiden in einem der gängigen protestantischen Lexika informieren möchte, wird sehr schnell feststellen: Fehlanzeige. Dies gilt für die ältere Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts erschienen ist genauso wie für die TRE, die Theologische Realenzyklopädie, deren erste Bände nahezu 100 Jahre später erschei39 40 41
Geiger, Das Studium der Hebräischen Sprache in Deutschland, S. 4. Ebd., S. 5. Ebd., S. 6.
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nen sollten und die nun bald zum Abschluß kommen wird. Der gleiche Befund gilt für die vier Auflagen der RGG, Die Religion in Geschichte und Gegenwart (fairerweise sollte man hinzufügen, daß die RGG mit der jetzt erscheinenden vierten Auflage auf den Artikel „die“ verzichtet und damit ganz offenkundig mehr Pluralität im Religiösen zugesteht und nicht nur die, d. h. die protestantische Religion im Blick hat). Um so erstaunlicher ist es, daß wir einen ausführlichen Artikel zu dem Wittenberger Hebräischlehrer Matthäus Adrianus nun ausgerechnet in dem Lexikon „Das Judentum in Geschichte und Gegenwart“ finden, so der ganz offensichtlich im Anschluß an das bekannte protestantische Lexikon gewählte Untertitel des besser als Enzyclopaedia Judaica bekannten Lexikons, das ja bekanntlich nur bis zum Eintrag „Lyra“ vorliegt, da es durch die Shoah ein abruptes Ende gefunden hat.42 Sollte dieser Befund wirklich nur Zufall sein und sind die beiden in Wittenberg als Hebräischlehrer wirkenden Gelehrten Adrianus und Böschenstein keinen Eintrag in einem protestantischen Lexikon wert? In der Tat fällt auch heute noch auf: All jene Hebraisten, die der jüdische Gelehrte Geiger besonders geschätzt hat, fehlen in protestantischen Lexika, während jene Hebräischlehrer, denen Geiger aufgrund ihres einseitig theologisch motivierten Interesses an der hebräischen Sprache eher skeptisch gegenübergestanden hat, in diesen Lexika ihren festen Platz gefunden haben. Den Abschnitt über Johann Böschenstein und Matthäus Adrianus beginnt Geiger mit folgender Einleitung: Das Vorurtheil, als sei ein Jeder, der sich mit dem Studium der hebräischen Sprache abgebe, ein Jude, als weiche er von christlichem Wege, von christlichen Anschauungen ab, hat sich namentlich gegen die beiden Männer gerichtet, deren Lebensschicksale und Leistungen uns im Folgenden beschäftigen sollen.43
Im Falle von Matthäus Adrianus war dieses Vorurteil besonders schnell zur Hand: stammte er doch aus einer spanisch-jüdischen Familie und war offenbar erst in Deutschland zum Christentum übergetreten. Geiger hat, sofern es die Quellenlage zuließ, ausführlich den Lebensweg von Adrianus verfolgt, seine Kontakte zu Reuchlin, Pellikan und anderen am Hebräischen interessierten Humanisten nachgezeichnet, seine sehr kurze Lehrtätigkeit in Löwen – im Jahre 1870 wußte Geiger noch nicht 42 Zu Matthäus Adrianus siehe Encyclopaedia Judaica, hrsg. von J. Klatzkin, Berlin 1928–34, Bd. 1, Sp. 918 f., Berlin 1928. 43 Geiger, Das Studium der Hebräischen Sprache in Deutschland, S. 41.
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den eigentlichen Grund für seinen plötzlichen Weggang aus Löwen – und dann seine im Jahre 1519 in Wittenberg aufgenommene Lehrtätigkeit nach der jeweiligen Quellenlage skizziert. Über das Verhältnis zwischen Luther und Adrianus schreibt Geiger: Ein sehr freundliches Verhältnis scheint trotz der grossen Mühe, die Luther sich gab, ihn nach Wittenberg zu ziehen, zwischen ihm und dem neuen Ankömmling nicht geherrscht zu haben; wenn Luther auch in verschiedenen Dingen ihm behülflich war, ihm zu seiner plötzlich geschlossenen Heirat (13. Januar 1520) alles Glück wünscht, so beklagt er sich doch ziemlich bitter darüber, dass Hadrian ihm ziemlich viel zu schaffen mache. Noch nicht vier Monate später war das Verhältniss vollständig gelöst: Adrian wüthet, schreibt Luther (3. Oktober), und sucht eine Gelegenheit, fortzugehen. Ich habe ihm nichts gethan, dennoch verfolgt er mich, will mich das Evangelium lehren, er der nicht einmal seinen Moses versteht.44
Der Schluß des Zitates ist natürlich ein deutlicher Hinweis auf die jüdische Herkunft von Adrianus; der wirkliche Anlaß für das Zerwürfnis war also seine Kritik an Luthers Rechtfertigungslehre, daß „nur der Glaube etwas vermöge und die guten Werke ohne Kraft seien“, die ihm sogleich den Vorwurf einbrachte, ein Jude geblieben zu sein. Auch Melanchthon tituliert ihn nunmehr als einen Pseudochristen und Adrianus sah sich gezwungen, Wittenberg zu verlassen. Im Jahre 1876 veröffentlichte Geiger einen weiteren Beitrag zu Adrianus, da ihm inzwischen ein Dokument bekannt geworden war, das uns Genaueres über die Hintergründe von Adrianus Scheitern an der Universität zu Löwen mitteilt. Adrianus hatte sich dort öffentlich gegen Hieronymus ausgesprochen und ihn einen irrenden Menschen genannt; die entscheidende Stelle in dem Dokument lautet: Homo erat Hieronymus, multa nescivit, alcubi dormitavit, quaedam casu praeteriit, quaedam ab illo controversa interciderunt, multa depravata sunt ...
Damit war seine Karriere an der Löwener Universität beendet. Adrianus Schwierigkeiten, im akademischen Leben als Gelehrter des Hebräischen Fuß zu fassen, beschreibt Geiger mit folgenden Worten – und diese Worte erscheinen uns heute geradezu als Antizipation seines eigenen akademischen Schicksals, denn aufgrund seines Judeseins kam er an der Berliner Universität nicht über den Status eines Extraordinarius hinaus: 44
Ebd., S. 47.
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Ein tatenvoller Mensch, von vielem Wissen und freier Anschauung in Leben und Glauben, der es wol weniger seiner Unverträglichkeit zuzuschreiben hatte, dass er nirgends eine feste Stätte finden konnte, sondern den kleinlichen Nachstellungen, die ihm seine Gegner bereiteten, die es nicht zu vergessen schienen, dass er ein Jude war.45
Ein ganz ähnliches Schicksal widerfuhr dem Hebraisten Johannes Böschenstein, von Geiger in seinem Beitrag zur Allgemeinen Deutschen Biographie wie folgt umrissen: Johannes B(öschenstein), geb. zu Eßlingen 1472, gest. 1540, verdient mit Recht nächst Reuchlin den Namen eines Wiedererweckers der hebräischen Sprache, den ihm die Zeitgenossen erteilt haben, merkwürdig nicht nur wegen seiner bedeutenden Kenntniss dieser Sprache, sondern auch wegen der Schicksale, die er in Folge derselben erlitt. Man warf ihm nämlich, weil man einem geborenen Christen eine so eingehende, liebevolle Beschäftigung mit der hebräischen Sprache nicht zutraute, vor, daß er ein getaufter Jude sei, und er mußte sich gegen diese damals schwerwiegende Beschuldigung in einer eigenen Schrift . . . vertheidigen, ja man belegte ihn einmal mit Gefängnisstrafe, weil er im Reuchlin’schen Streite seine Verachtung der Feinde wissenschaftlichen Strebens zu heftig aussprach.46
Offenbar hat Geiger an Böschenstein, der 1518 nach Wittenberg kam, vor allem auch die Art und Weise geschätzt, wie er sich gegen den Vorwurf, ein getaufter Jude zu sein, zu Wehr setzte: Das red ich nit darumm, ob ich joch (wie der Bruder von mir sagt) ains Juden sun were, mich dester verwürflicher vor got schätzen, dann ich wayss das got kein person besonder ansicht, aber ain yeder der got fürcht und würkt die gerechtikeit, er sey welches geschlechts oder volks er wölle, der ist angenem got dem herren, aber ich muss dannocht meinen nachkommen zu gut disen argkwon umbstossen.47
Vor Gott sind also alle Menschen gleich: ob Jude oder Christ, allein die Liebe zur Wahrheit ist für Böschenstein Anlaß, den Vorwurf, ein getaufter Jude zu sein, zurückzuweisen, der eben nur darum ein Vorwurf ist, da er nicht der Wahrheit entspricht. Offenbar war für diese Form des Humanismus in der Lutherstadt kein Raum und Böschenstein mußte bereits nach einem Jahr Witterberg wieder verlassen, wobei es Luther nicht vergaß, wie Geiger schreibt, „ihm . . . einen kleinen Fußtritt mitzugeben, indem er ihn unsern 45 46 47
Ebd., S. 48. Bd. 3, 1876 (Repr. Berlin 1967), S. 184–186; hier S. 184. Zitiert nach Geiger, Das Studium der Hebräischen Sprache in Deutschland, S. 49.
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Böchenstein nennt, ,dem Namen nach ein Christ, in der That aber ein Erzjude‘“.48 Und noch 30 Jahre später wird Böschenstein von Melanchthon wie folgt diffamiert: Wir hatten vor 30 Jahren einen Professor des Hebräischen hier, der sagte: was soll ich thun? Ich kann anderswo leben, wo ich mich besser stehe. Ich fragte, welchen Ort er meine. Er antwortete: ich könnte in Regensburg unter den Juden frei leben. Einmal ging ich des morgens der Gesundheit wegen in ihrem Tempel spazieren. Da kam eine alte Frau, gab mir einen Batzen und bat mich für sie eine Messe zu lesen (!), ebenso eine zweite und eine dritte, so kann ich die Woche sechs Batzen verdienen.49
Eine gewisse Konsolidierung hat das Studium des Hebräischen in Wittenberg erst unter Matthäus Aurogallus, der hier von 1521 bis zum seinem Tode im Jahre 1543 tätig war und dann unter Johann Forster, der, wie Geiger urteilt, „nach Böschenstein wol beste Schüler Reuchlins“, der 1539 berufen dieses Amt sieben Jahre lang bis zu seinem Tode ausüben konnte. Mit letzterem hat sich Geiger intensiv auseinandergesetzt, da, wie Geiger schreibt, „in ihm sich . . . mit am schärfsten und schroffsten die Gesinnung aus[prägte], die Luther über die hebräische Sprache und ihre Behandlung gehegt und seinen Schülern eingeflösst hatte.“50 Diese Grundhaltung Forsters zeigt sich etwa in seiner Polemik gegen das rabbinische Schrifttum: Viele Jahre nach dem Wiedererwachen des Evangeliums habe ich gesehen, dass ebenso wie in den Synagogen und Schulen der Juden, so bei den Christen beim Uebersetzen und Erklären der h. Schrift die rabbinischen Commentare gleichsam wie heilige Mysterien Gottes von allen mit grösster Dehmuth und Verehrung angebetet werden. Daher konnten wir den wahren Sinn der heiligen Schrift nicht erlangen.51
Demgegenüber sieht Forster den positiven Wert der hebräischen Sprache vor allem darin, daß sie die erste und älteste ist, in welcher die Gottheit, Vater, Sohn und heiliger Geist, diesen wunderbaren Schauplatz der Welt und alle Geschöpfe in ihr geschaffen hat, in der die ganze Dreieinigkeit gleichsam im Bilde sich dargestellt hat . . . Durch diese Sprache war der Sohn Gottes allein wirksam, mit ihr schenkte er den Elendgestorbenen neues Leben . . . 52 48 49 50 51 52
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. S. S. S. S.
52. 52. 98. 99. 99.
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Das Studium des Hebräischen hat für Förster neben diesem christologischen Erkenntnisgewinn einen weiteren Nutzen, nämlich den, „um die von den Rabbinen hervorgebrachten Verschlechterungen zu erkennen, die den Worten innewohnende Bedeutung, ihren wahren Sinn zu zeigen und gegen die Spöttereien Jener zu vertheidigen.“ So urteilt Geiger, daß sein eigenes hebräisches Lexikon bei all seinem lexikographischen Verdienst im Grunde genommen nichts anderes als „eine Frucht dieser Rabbinenverachtung“ darstellt53 und daß Forster damit – mag er auch viel von seinem Lehrer Reuchlin gelernt haben – doch schließlich einen Weg eingeschlagen hat, der von dem seines Lehrers grundverschieden war, der aber dem theologischen Umfeld in Wittenberg ganz und gar entsprach. In einem Punkte hat sich Forsters Haltung auf jeden Fall ausgezahlt: Im Gegensatz zu Adrianus und Böschenstein hat er, der hebraistische Erzprotestant, wenn ich mich hier einmal Luthers Jargon bedienen darf, seinen festen Platz in allen einschlägigen protestantischen Lexika gefunden. Von daher nimmt es uns nicht Wunder, daß sich Geiger in seiner akademischen Karriere nicht weiter mit der protestantisch dominierten Hebraistik beschäftigt hat, zumal gerade auch die christliche Hebraistik seiner eigenen Zeit ihn allzu deutlich spüren ließ, daß das antijüdische Vorurteil durch eine intensive Beschäftigung mit der hebräischen Sprache nicht aufgehoben, zuweilen eben gerade dadurch erst noch verstärkt wurde. Geiger hat sich anderen Aufgaben gewidmet, vor allem ist er auch Bearbeiter von Burckhardts epochalen Werk Die Cultur der Renaissance in Italien, das im Jahre 1860 erstmals erschien und von der dritten bis zur zwölften Auflage von Geiger im Einvernehmen mit Burckhardt bearbeitet wurde. Die eigentliche Leistung Geigers bei seiner Neubearbeitung der Burckhardtschen Kulturgeschichte ist dabei vor allem darin zu sehen, daß er der hebräischen Sprache und dem Judentum einen festen Platz in der italienischen Kulturgeschichte gegeben hat.54 Mehr und mehr hat sich Geiger dann als Goethe-Interpret einen Namen gemacht, wobei für ihn natürlich auch das Thema Goethe und die Juden wichtig war. Und natürlich wurde zu Geigers 70. Geburtstag nicht etwa ein hebräisches Lied angestimmt, sondern Goethes Heidenröslein mit der Melodie von Franz Schubert.55 53
Ebd., S. 100. Dazu K. Herrmann, „Ludwig Geiger as the Redactor of Jakob Burckhardt’s Die Cultur der Renaissance in Italien“, in: Jewish Studies Quarterly 10 (2003), S. 377–400. 55 Einen ausführlichen Bericht über diese Geburtstagsfeier hat Geiger an seinen Freund Harry Bresslau geschickt, der sich in dem in der Berliner Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz verwahrten Bresslau-Nachlaß befindet. 54
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Auf die Frage nach dem Verhältnis von Luther zu den Juden ist Geiger dann im Jahre 1888 in seinem Beitrag „Die Juden und die deutsche Literatur“, erschienen in der von ihm selbst herausgegebenen Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland,56 etwas ausführlicher zu sprechen gekommen, wobei er besonders den Antijudaismus von Luthers Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ von 1543 aufgreift – selbstverständlich sind diese Ausführungen Geigers vor allem auch vor dem im zweiten deutschen Reich immer virulenter werdenden Antijudaismus zu sehen. Dies gilt insbesondere für die – in der Betonung der „Gewissensfreiheit“ im Vergleich zu früheren Werken durchaus positivere – Gesamtbewertung Luthers, die nur allzu deutlich Geigers eigene ambivalente Haltung im Blick auf seine stark ausgeprägte deutsch-nationale Grundhaltung einerseits und den Antisemitismus in dieser deutschen Umweltkultur andererseits Ausdruck verleiht: Es ist für den Menschenfreund betrübend und für den Psychologen fast unerklärlich, wie ein Mann, dem Deutschland außer dem köstlichen Gut seiner Sprache auch einen großen Theil seiner Geistesfreiheit verdankt, so barbarische Maßregeln vorschlagen, so dunklen Anschauungen huldigen konnte, wie er, der mit der Fackel der Critik die wirrsten Gebiete erleuchtete, so critiklos oft widerlegte Märchen vorzubringen vermochte. Die maßlosen Ausdrücke gegen die Juden überraschen bei ihm nicht sehr; sie finden ihre Analogie in seinen gleich maßlosen Reden wider die Bauern, wider verschiedene persönliche Gegner, wider Papsthum und Päpste; die feindseligen Gesinnungen aber erklären sich nicht allein aus persönlicher Gereiztheit oder nationaler Einseitigkeit. Als eine tiefliegende, mächtig wirkende Ursache kann man wohl die Nichtübereinstimmung in der Bibelerklärung auffassen.57
Auf Reuchlin ist Geiger hingegen immer wieder zurückgekommen, sein Reuchlin-Bild hat dabei keine größeren Korrekturen mehr erfahren. Seine im Jahre 1919 gehaltene Gedenkrede auf Ludwig Geiger hat Ismar Elbogen mit den Worten beendet: „Er bleibe der Nachwelt erhalten!“58 Wir müssen heute feststellen, daß dieser Wunsch ein frommer
56 L. Geiger, „Die Juden und die deutsche Literatur“, in: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland (1888), S. 297–374; zu Luther siehe S. 326–328. 57 Dieser Schlußsatz ist gewiß auch eine kritische Anfrage an theologische Arbeiten aus der Feder protestantischer Theologen, die aufgrund der Shoah nun bemüht sind, die gemeinsame theologische Basis von Luthers und der rabbinischen Theologie herauszuarbeiten. Ein Musterbeispiel für diesen Versuch stellt die Arbeit von P. von der OstenSacken, Katechimus und Siddur. Aufbrüche mit Martin Luther und den Lehrern Israels, erschienen anläßlich von Luthers 500stem Geburtstag im Jahre 1983 (Berlin), dar.
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geblieben ist. Geiger wurde schon sehr bald nach seinem Tode heftig angegriffen, vor allem von der antisemitischen Presse in Deutschland und dann vergessen; und damit Reuchlins Erbschaft, die Geiger vor allem in Toleranz, Meinungsfreiheit und Humanität gesehen hat. Erst in allerjüngster Zeit ist ein neues Interesse an Geiger erwacht, das sich aber vor allem auf seine Goethestudien und seinen Beitrag zu dem Thema deutsch-jüdische Literatur konzentriert. Sinnbild für diese Situation ist nicht zuletzt seine Privatbibliothek, die heute in der Stadtbücherei Berlin-Wilmersdorf zwischen ausgedienten Computern und Altpapiertonnen verstaubt. Dabei zeigt diese Bibliothek in nuce Geigers kulturhistorisches Anliegen und stellt meines Erachtens ein wichtiges zeitgeschichtliches Zeugnis für das deutsche Judentums am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts dar – in dieser Bibliothek finden sich natürlich auch die Bücher, die Geiger für die hier zitierten Studien benutzt hat. So meine ich, daß Geiger in der protestantischen Theologie nach der Shoah unbedingt zur Kenntnis genommen werden sollte: vieles von dem, was in der heutigen protestantischen Theologie als Irrweg erkannt und beklagt wird, gerade was das Verhältnis des Protestantismus zum Judentum angeht, hat Geiger bereits vor mehr als 130 Jahren klar gesehen und deutlich ausgesprochen, ohne daß er von der christlichen Umweltkultur beachtet wurde.59 Dabei lautet sein philologisches Credo: Alles Sprachstudium und mag es sprachgeschichtlich oder philologisch noch so gelehrt und bedeutend sein, hat seinen eigentlichen Sinn verfehlt, wenn es über dieses Studium nicht auch zu „welthistorischen Begegnungen“ kommt, Begegnungen wie das vorurteilsfreie Zusammentreffen von Loans und Reuchlin sowie von Mendelssohn und Lessing.
58 Allgemeine Zeitung des Judentums, 1920, S. 69. Ludwig Geiger selbst war bis zu seinem Tode und über viele Jahre hinweg Herausgeber dieser Zeitschrift. 59 Siehe dazu jetzt die Arbeit von P. von der Osten-Sacken, Martin Luther und die Juden. Neu untersucht anhand von Anton Margarithas „Der gantz Jüdisch glaub“ (1530/31), Stuttgart u. a. 2002.
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Die Herstellung des Blitzableiters Quelle: Berthold Auerbach, Der Blitzschlosser von Wittenberg. Mit drei Initialen und neun Zeichnungen nach Originalen von Adolf von Menzel, München 1860, S. 23.
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Beim Anbringen des Blitzableiters stürzt der Meister vom Dach Quelle: Berthold Auerbach, Der Blitzschlosser von Wittenberg. Mit drei Initialen und neun Zeichnungen nach Originalen von Adolf von Menzel, München 1860, S. 41.
EIN „AUFRICHTIGER FREUND DES JUDENTUMS“? „JUDENMISSION“, CHRISTLICHE JUDAISTIK, UND WISSENSCHAFT DES JUDENTUMS IM DEUTSCHEN KAISERREICH AM BEISPIEL HERMANN L. STRACKS Christian Wiese
I. Zwiespältige jüdische Erfahrungen mit der „Judenmission“ Unmittelbar nach dem Tode des protestantischen Alttestamentlers und Judaisten Hermann L. Strack, des Direktors des der theologischen Fakultät der Universität Berlin angeschlossenen Institutum Judaicum Berolinense, erschienen 1922 in mehreren jüdischen Zeitschriften ungewöhnlich positive Nachrufe, meist aus der Feder orthodoxer Gelehrter. Die Jüdische Presse rühmte Stracks „leidenschaftlichen Gerechtigkeitssinn“ und erinnerte daran, daß er mehrfach „mit einem Talmudfolianten unter dem Arm“ als Gutachter vor preußischen Gerichtsbehörden erschienen sei, um in Antisemitenprozessen „die Ankläger des Talmuds als Unwissende, als Irregeführte und Irrführer zu entlarven.“1 Die Zeitschrift Der Israelit hob vor allem den Respekt seiner jüdischen Kollegen hervor: Prof. Strack genoß auch in jüdischen Kreisen höchste Achtung, die er sich durch seine wissenschaftliche Objektivität, durch seine Wahrheitsliebe und sein absolutes Gerechtigkeitsgefühl in allen Fragen des Judentums erworben hat. Es gab im letzten halben Jahrhundert kaum einen jüdischen wissenschaftlichen Abwehrkampf, der nicht Hermann L. Strack zum Helfer, ja zum Führer gehabt hätte. Keiner wie er war so imstande, mit dem schweren Geschütz der einschlägigen Wissenschaft Verleumdung und Verdrehung entgegenzutreten und der Wahrheit zum Siege zu verhelfen.2
Die zionistische Jüdische Rundschau urteilte: „Mit Professor Strack ist nicht nur eine der markantesten Gestalten der deutschen Wissenschaft, sondern auch ein aufrichtiger Freund des Judentums dahingegangen.“3 Joseph Wohlgemuth (1867–1942), seit 1895 Dozent für Talmud und 1
Jüdische Presse 53 (1922), Nr. 42/43, S. 255. Der Israelit 63 (1922), Nr. 42, S. 3 f.; vgl. Israelitisches Familienblatt Hamburg (1922), Nr. 42, S. 1 f. 3 Jüdische Rundschau 27 (1922), Nr. 80, S. 534. 2
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Religionsphilosophie am Berliner Rabbiner-Seminar und einer der profiliertesten, streitbarsten Apologeten des orthodoxen Judentums jener Zeit, schrieb im Namen seiner Kollegen in der Zeitschrift Jeschurun, die Überheblichkeit, „die so manchen christlichen Gelehrten eigen ist, wenn sie über talmudisch-rabbinische Dinge und über die jüdische Wissenschaft reden“, habe bei ihm völlig gefehlt: Um eine kleine Notiz in seiner Einleitung in den Talmud zu korrigieren, scheute er – damals schon schwach und krank – nicht den Weg in unser Rabbinerseminar, um in einer Konferenz mit uns Dozenten das festzustellen. Wehmütige Erinnerungen steigen in uns auf, wenn wir an das schöne Verhältnis denken, in dem er zu dem jetzt dahin gegangenen alten Geschlecht unserer Dozenten stand, wie dankbar er für die Förderung war, die er von [Jacob] Barth, [Abraham] Berliner, [David] Hoffmann erfahren und wie tapfer er wiederum Hirsch Hildesheimer in seinem Abwehrkampf gegen den Antisemitismus beistand. Aber es gab wohl kaum irgendeinen jüdischen Gelehrten von Bedeutung, mit dem er nicht in Verbindung stand.
Strack habe, so Wohlgemuth, weit mehr als alle zeitgenössischen christlichen Theologen den Mut besessen, sich unermüdlich „den Schmähungen und Verunglimpfungen zu stellen, mit denen die antisemitische Hetzmeute jeden begeifert, der für das Judentum einzutreten wagt“, und sei deshalb mit Hohn überschüttet, ja „in der schändlichsten Weise“ als „Judensöldling“ verdächtigt worden. Dabei verschwieg Wohlgemuth nicht den Zwiespalt, den er als jüdischer Forscher angesichts der judenmissionarischen Ausrichtung der Wirksamkeit Stracks und seines Instituts empfand. Der christliche Theologe habe, da er so viele Juden kannte, zwar nicht „in den Chor der Hassenden und Verachtenden einstimmen“ können, aber „er liebte nicht das Judentum, dem er, wie nur einer der einseitigsten christlichen Theologen, eine sehr untergeordnete Rolle dem Christentum gegenüber zuwies.“ Die „natürliche Abneigung“ gegen den Missionsaspekt dürfe jedoch – zumal angesichts der „lächerlich geringen Erfolge der Judenmission“ – nicht daran hindern, „öffentlich zu erklären, daß es wohl keinen Einzigen unter den christlichen Gelehrten des letzten Menschenalters“ gebe, „dem das Judentum zu solchem Dank verpflichtet“ sei: Das „Unsympathische“ seiner Tätigkeit trete daher „gegenüber den außerordentlichen Verdiensten, die er sich um das Judentum erworben“, völlig in den Hintergrund.4 Wohlgemuth verabschiedete sich daher von dem Berliner Gelehrten letztlich mit einer überschwenglichen Würdigung: 4 J. Wohlgemuth, „H. L. Strack“, in: Jeschurun 9 (1922), S. 381–384. Der Israelit 63 (1922), Nr. 42, S. 4 hob hervor, man könne es Strack nicht verübeln, „wenn er, getreu
ein „aufrichtiger freund des judentums“?
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Hermann L. Strack, die Zierde der theologischen Fakultät zu Berlin, der Gelehrte von Weltruf, der bedeutendste Kenner des talmudisch-rabbinischen Schrifttums seit dem Heimgange Franz Delitzsch’, der unermüdliche Kämpfer für Wahrheit und Recht, ist nicht mehr. Christentum und Judentum haben gleichen Anlaß, an seiner Bahre zu trauern. Das Christentum, dessen Glauben er in der Treue der Überlieferung bekannt, dessen Ruhm er gekündet, dessen Wissenschaft er bereichert, ein Gottesgelehrter in des Wortes eigenster Bedeutung. Das Judentum, dessen Sprache er geliebt, dessen heilige Bücher er kommentiert, dessen Lehren und Bräuche er gekannt, dessen Fürsprecher er gewesen in schweren Zeiten. [. . .] In tiefer Ergriffenheit folgte ich als Vertreter des Rabbinerseminars, als man Stracks sterbliche Reste der Erde übergab, und mit dem Geistlichen durften wir am Grabe sprechen: Wejipaked moscha weka (sic!), die Stelle, die Strack eingenommen hat, wird auf absehbare Zeit leer bleiben. In unseren Herzen aber hat er sich ein Denkmal gesetzt, dauernder als Erz.5
In ihrem preisenden Ton wie in der klaren, wenn auch spürbar sanften Kritik an Stracks missionarischer Orientierung erinnern diese Ausführungen an die Nachrufe, die 1890 einem der Vorbilder des Theologen, dem Gründer des Leipziger Institutum Judaicum (Delitzschianum), Franz Delitzsch, zuteil geworden waren.6 Der eindrucksvollste dieser Nekrologe stammte von dem Budapester Gelehrten David Kaufmann, der den Toten unter dem Titel „Franz Delitzsch. Ein Palmblatt aus Juda auf sein frisches Grab“ als Gelehrten ehrte, der es verdient habe, „daß sein Name auf den Blättern der jüdischen Geschichte unvergessen fortlebe und mit Dank gepriesen werde, wo jüdische Herzen schlagen.“ Stellvertretend für die jüdische Gemeinschaft drückte er seinen Schmerz darüber aus, „in so schwerer Zeit einen so seltenen Mann heimgehen zu sehen“, zugleich aber die Hoffnung, daß Delitzsch – als „Zeuge und Streiter Israels“ – über sein Grab hinaus ein „Symbol der Versöhnung“ zwischen Juden und Christen sein werde.7 „Wie zwei verseiner theologischen Eignung und Neigung, sich gelegentlich in der Judenmission“ betätigt habe; er habe dies ohne jede Aufdringlichkeit getan und seine Aufgabe letztlich weniger darin gesehen, „das Christentum unter den Juden zu verbreiten als vielmehr, das Judentum und den sittlichen Gehalt seiner Lehren dem Verständnis der Christen näher zu bringen.“ 5 J. Wohlgemuth, „H. L. Strack“, in: C. V.–Zeitung 1 (1922), Nr. 24, S. 291. [Vgl. 1. Samuel 20, 18: „wenifkadta ki wajipaked moschawecha“ („Da wird man dich vermissen, wenn dein Platz leer bleibt“).] 6 Zu Delitzsch vgl. die – allerdings recht unkritische – Arbeit von S. Wagner, Franz Delitzsch. Leben und Werk, München 1978. 7 D. Kaufmann, „Franz Delitzsch. Ein Palmblatt aus Juda auf sein frisches Grab“ (1890), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, hrsg. von M. Brann, Frankfurt a. M. 1908, S. 290–306, Zitat S. 305 f.
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söhnte Engel“, so das Bild, das Kaufmann für den Abschied von Delitzsch fand, „begleiten der alte und der neue Bund seine Bahre: Judentum und Christentum betrauern einen großen Toten.“ Mit Blick auf seine Leistungen auf dem Gebiet der jüdischen Literaturgeschichte und der Bibelauslegung zählte er Delitzsch zu den „Herolden und Bahnbrechern der unter seinen Augen erwachten jüdischen Wissenschaft“. Sein Name könne unter den besten jüdischen Gelehrten glänzen, da seinen Arbeiten nichts von seinem christlichen Glauben anzumerken sei – „ein Triumph des Geistes jener wahren Wissenschaftlichkeit, die wie ein Regenbogen der Versöhnung über dem Gewölke prangt, das die Menschen scheidet.“8 In nahezu hymnischem Ton gedachte Kaufmann Delitzschs Verteidigung des Judentums gegen antisemitische Verleumdungen: Heil ihm, daß er gewürdigt ward, am Tage der Gefahr mit blankem Schilde und funkelndem Schwerte für diejenigen zu kämpfen, die sich nicht verteidigen konnten, und als Zeuge für uns einzutreten, denen sein Wort um so mehr helfen mußte, je weniger man ihn der Voreingenommenheit oder gar Bestochenheit für uns zeihen konnte.9
Dennoch brachte der jüdische Gelehrte, der wenige Jahre zuvor Delitzschs Missionstraktat Ernste Fragen an die Gebildeten jüdischer Religion (1888) einer scharfen Kritik unterzogen hatte10, auch die tiefe Ambivalenz, die er an Delitzschs Haltung gegenüber dem Judentum wahrnahm, zum Ausdruck. „Muß ich fürchten, die Saite, die von so Herrlichem getönt hat, in schrillem Mißton abzureißen, wenn ich zum Schlusse sage: Franz Delitzsch war kein Freund des Judentums?“11 Er bestritt damit den Anspruch des christlichen Theologen, als „Freund Israels“ gelten zu dürfen, da es seine große Leidenschaft gewesen sei, „Kirche und Synagoge zu vereinigen, d. h., das Judentum im Christentum verschwinden zu lassen, Christus den Juden näher zu bringen, das Evangelium in Israel zu verbreiten.“ Allerdings sei in seinem Geist „die Liebe zu Israels Literatur und Sprache eher aufgegangen“ als „jene Liebe zum Volke, die gewinnen, besitzen, erobern wollte“, und dank seines wissenschaftlichen Ethos habe „der Gläubige ihm niemals ganz den Gelehrten zu verdunkeln“ vermocht.12 8
Ebd., S. 290 f. Ebd., S. 303. 10 Ders., „Prof. Delitzsch’s neueste Bekehrungsschrift“, in: Jüdische Presse 19 (1888), Nr. 45, S. 442 f.; Nr.46, S. 449–451; Nr. 47, S. 461 f.; Nr. 48, S. 477 f.; Nr. 50, S. 494–496; Nr. 51, S. 514–516. 11 Ders., „Franz Delitzsch“, S. 302. 9
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Wie sind, wenn man das Gesamtbild der Begegnung von Wissenschaft des Judentums und „Judenmission“ Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts betrachtet, die Gefühle der Verehrung zu bewerten, die Delitzsch und Strack bei ihrem Tode zuströmten und ihre jüdischen Kollegen veranlaßten, sie zu den „Frommen aus den Völkern“ zu zählen?13 Die in ihrer aufrichtigen Würdigung christlicher Theologen einzigartigen Nachrufe, die 1890 und 1922 in jüdischen Zeitschriften erschienen, sind gewiß nicht allein Ausdruck des Prinzips de mortuis nihil nisi bene – dann wäre man ihrem Tod am ehesten mit Schweigen begegnet. Vielmehr vermitteln sie einen Eindruck des Ranges, den beide aufgrund ihrer Persönlichkeit und ihres Werkes aus der Sicht des zeitgenössischen Judentums besaßen. Andererseits sollte das Diktum, Delitzsch sei „kein Freund des Judentums“ gewesen, das Joseph Wohlgemuth später auch auf Strack übertrug, für die offene und die unausgesprochene Kritik an ihrem theologischen Ansatz hellhörig machen. Die jüdischen Quellen legen daher eine differenzierte Neubewertung des Wirkens der Theologen der „Judenmission“ nahe, die in der Forschung gewöhnlich, trotz mancher kritischer Akzente, als Vertreter einer denkbar positiven Tradition protestantischen Zugangs zum Judentum dargestellt werden. So wird etwa Delitzsch mit einigem Recht als „Förderer der Wissenschaft des Judentums“ gewürdigt14, dessen judaistisches Werk von Faszination vom Judentum getragen war. Ob man allerdings von einem „anhaltende(n) Bemühen“ reden kann, die Juden
12
Ebd., S. 291. Ebd., S. 305 mit Blick auf Delitzsch; mit Blick auf Strack vgl. Der Israelit 63 (1922), Nr. 42, S. 4 und Jüdische Presse 53 (1922), Nr. 42/43, S. 255. 14 H. H. Völker, „Franz Delitzsch als Förderer der Wissenschaft vom Judentum. Zur Vorgeschichte des Institutum Judaicum zu Leipzig und zur Debatte um die Errichtung eines Lehrstuhls für jüdische Geschichte und Literatur an einer deutschen Universität“, in: Judaica 49 (1993), S. 90–100, Zitat S. 97. Er habe die „Anerkennung des Judentums und seiner Wissenschaft“ praktiziert, obwohl er „immer seinen Standpunkt als tief christgläubiger Mensch offengelegt“ habe (ebd.). Allerdings scheint es doch eher fragwürdig, die Beantragung eines Lehrstuhls für christliche Judentumskunde, der, wie Völker mit Recht anmerkt, als „Instrument der wissenschaftlichen Kritik des Judentums“ und der Kontrolle der durch die Emanzipation in ihrer Identität gestärkten jüdischen Gemeinschaft gedacht war (ebd., S. 93), als uneingeschränkte Förderung der Wissenschaft des Judentums zu interpretieren. In einer Eingabe der Berliner Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden an das preußische Unterrichtsministerium vom 25. Juni 1870 wird Delitzsch mit der Aussage zitiert, ein christlicher Professor der jüdischen Literatur solle verhindern, daß die wissenschaftliche Erforschung der jüdischen Geschichte zu einem „nationalen Selbstverherrlichungsmittel“ der Juden werde, vgl. Evangelisches Zentralarchiv (EZA) Berlin, Bestand 7, Nr. 3646, Bl. 178 ff., zitiert nach ebd., S. 92 f. 13
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wirklich kennen zu lernen, damit sie sich selbst darstellen und definieren könnten“,15 oder stärker die Neigung zur „Infragestellung des jüdischen Glaubens- und Lebensweges“16 gewichten soll, hängt von den Kriterien ab, mit denen man Dialogbereitschaft messen will. Unabhängig davon wird man dem Urteil, die Theologen der „Judenmission“ seien Repräsentanten „der damals einzigen öffentlichen Form einer gewissen freundlichen Zuwendung zu den Juden“ gewesen, angesichts der allgemein offen oder latent judenfeindlichen gesellschaftlichen Stimmung in Deutschland, die auch die protestantische Theologie beherrschte, zustimmen können.17 Daß die kritische Analyse in der bisherigen Forschung eher allgemein bleibt und weder eine konkrete inhaltliche Bewertung des von der „Judenmission“ gezeichneten Bildes vom Judentum noch eine überzeugende Bewertung ihres Verhältnisses zur Wissenschaft des Judentums geleistet hat, hängt sicher auch damit zusammen, daß nicht ausreichend wahrgenommen wird, wie sehr jüdische Zeitgenossen den missionarischen Anspruch und die Stereotypen, die ihn begleiteten, als verletzend empfanden. So unangemessen es wäre, den Maßstab des christlichjüdischen Dialogs der Gegenwart anzulegen, so wichtig erscheint es doch, die kritische Perspektive der Wissenschaft des Judentums ernstzunehmen und zu fragen, wie Juden damals die judenmissionarische „Liebe zu Israel“ erlebten. Wie bewerteten sie die Verbindung von jüdischer Gelehrsamkeit und missionarischem Anspruch? Wie verhielten sich jüdische und christliche „Wissenschaft vom Judentum“ zueinander? Welches Bild vom historischen und vom gegenwärtigen Judentum bestimmte die Theologen der „Judenmission“? In welcher Weise bedachten sie die Zusammenhänge zwischen ihrer theologischen Überzeugung und der politischen Diskussion um die Stellung der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland? Wie reagierten sie, wenn Juden die Anerkennung des Existenzrechtes des Judentums in der Moderne
15 P. G. Aring, Christen und Juden heute – und die „Judenmission“? Geschichte und Theologie protestantischer Judenmission in Deutschland dargestellt und untersucht am Beispiel des Protestantismus im mittleren Deutschland, Frankfurt a. M. 1987, S. 219. 16 Völker, „Franz Delitzsch als Förderer der Wissenschaft vom Judentum“, S. 97; vgl. Aring, Christen und Juden heute, S. 237 f. Differenziert urteilt R. Golling, „Strack und die Judenmission“, in: Judaica 38 (1982), S. 67–90 mit Blick auf Strack, er habe Verantwortung gegenüber dem Antisemitismus bewiesen, aber zugleich ein „theologisch gebrochenes Verhältnis zum nachbiblischen Judentum“ (82) an den Tag gelegt und jüdischem Selbstverständnis wenig Raum gelassen (82). 17 Ebd., S. 69.
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forderten? Wie gingen sie mit jüdischer Kritik am Christentum um? Berücksichtigt man diese Kriterien, so ergibt sich das Bild eines überaus zwiespältigen Verhältnisses zwischen Wissenschaft des Judentums und den Theologen der „Judenmission“. In außergewöhnlich positiver Weise bezogen sich jüdische Gelehrte auf Delitzschs und Stracks im Bereich christlicher Theologie singuläre Kenntnis der jüdischen Tradition, zumal ihre Beiträge zur Geschichte und Literatur des Judentums, was die Rezeption der Forschungsergebnisse der Wissenschaft des Judentums betraf, als hoffnungsvolles Zeichen eines ernsthaften Wandels der Beziehungen verstanden werden konnten. Ihr Eintreten gegen die Rassenverhetzung und die Verleumdung der Ethik des Judentums wurde mit Recht als Akt der Menschlichkeit und der Versöhnung, in jedem Fall aber eines Ethos der Wahrhaftigkeit verstanden. Demgegenüber trat der Widerspruch gegen die Instrumentalisierung jüdischen Wissens für die „Judenmission“ und gegen theologisch motivierte, negative Werturteile zunächst zurück. Es ist aber die Frage, ob nicht diese Tatsache selbst Ausdruck einer asymmetrischen, von den politischen Machtverhältnissen festgelegten Beziehung war. Die Bedeutung der Dimension der Solidarität mit dem Judentum – hier gebührt Strack eine besondere Stellung – kann dabei im zeitgeschichtlichen Kontext gar nicht genug hervorgehoben werden. Der vorliegende Essay widmet sich am Beispiel Stracks, der aus jüdischer Sicht eindeutig positivsten Gestalt der „Judenmission“, der Frage nach dem Zusammenspiel von christlicher Judaistik, Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus, missionarischer „Liebe zu Israel“ und „Gespräch“ mit der jüdischen Forschung.
II. Missionarische „Liebe zu Israel“ und Solidarität mit der jüdischen Minderheit gegenüber dem Antisemitismus Für eine differenzierte Bewertung dieser Thematik ist vor allem der politische Kontext entscheidend. Daß die Geschichte der jüdischen Minderheit in Deutschland in den letzten zwanzig Jahren des 19. Jahrhunderts in hohem Maße von der gesellschaftlichen Wirkung des modernen Antisemitismus bestimmt wurde, spiegelt sich im Verhältnis von Wissenschaft des Judentums und protestantischer Theologie unübersehbar wider. Es fällt auf, daß zu dieser Zeit, anders als nach der Jahrhundertwende, als liberale jüdische Gelehrte in eine heftige und offene Debatte über das „Wesen“ von Judentum und Christentum ein-
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traten,18 kaum eine Auseinandersetzung mit religionsgeschichtlichen Themen stattfand, sondern der Akzent vollkommen auf der Frage nach einer gemeinsamen Gegenwirkung gegen die antisemitische Angriffe auf die angeblich religiös wie ethisch minderwertige und gefährliche normative jüdische Literatur lag. Nicht zufällig richteten vor allem orthodoxe und konservative Juden den Blick auf protestantische Theologen und Orientalisten, die als potentielle Bündnispartner bei der Abwehr solcher Verleumdungen galten. Dabei spielen die Namen Franz Delitzsch, Gustaf Dalman und Hermann L. Strack, die eng mit der Geschichte der „Judenmission“ und der christlichen Erforschung der rabbinischen Literatur verbunden sind, eine herausragende Rolle. Auch in nachträglichen Betrachtungen über die Geschichte der Wissenschaft des Judentums werden diese Theologen als wichtige Förderer gewürdigt, die als christliche Hebraisten – in einer für die Hochschultheologie ihrer Zeit einzigartigen Weise – über profunde Kenntnisse der jüdischen Religionsquellen verfügten und bereit waren, diese auch zum Zwecke der Bekämpfung des Antisemitismus einzusetzen.19 Das theologische Denken und die wissenschaftliche Arbeit dieser drei Forscher weisen, trotz unterschiedlicher Gewichtungen, Gemeinsamkeiten auf, die auch für jüdische Zeitgenossen von außerordentlicher Bedeutung waren: die Verwurzelung in einer im weitesten Sinne als „heilsgeschichtlich-konservativ“ zu nennenden theologischen Richtung, ein Spezialwissen über die jüdische Tradition, das unmittelbar mit ihrer missionarischen Intention zusammenhing, und eine ambivalente Haltung gegenüber dem Judentum, die zwischen solidarischem Verstehen und einem mitunter auch antijüdisch akzentuierten christlichen Überlegenheitsbewußtsein schwankte.20 Die Beziehung zwischen Wissenschaft des Judentums und protestantischer „Judenmission“ war maßgeblich von der Erfahrung bestimmt,
18 Vgl. etwa U. Tal, „Theologische Debatte um das ,Wesen‘ des Judentums“, in: Juden im Wilhelminischen Deutschland 1890–1914, hrsg. von W. E. Mosse u. A. Paucker, Tübingen 1976, S. 599–632. 19 F. Perles, Hundert Jahre Wissenschaft vom Judentum, Berlin 1925, S. 12; vgl. E. Toeplitz, Art. „Dalman“ u. E. Pessen, Art. „Delitzsch“, in: Jüdisches Lexikon Bd. II, S. 5 f. und 64 f.; B. Kirschner, Art. Strack, in: Jüdisches Lexikon Bd. IV/2, S. 735 f. Vgl. auch Encyclopedia Judaica Bd. 5, Sp. 1232 (Dalman) und Sp. 1474 f. (Delitzsch); Bd. 15, Sp. 418 f. (Strack). 20 Als Gesamtinterpretation der Beziehung der Wissenschaft des Judentums mit dieser Richtung protestantischer Theologie vgl. C. Wiese, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland, Ein „Schrei ins Leere“?, Tübingen 1999, S. 88–130.
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daß die judenfeindliche Agitation im Zuge der Wellen des modernen Antisemitismus, der den gesellschaftlichen Diskurs in Deutschland über die Stellung und Integration der jüdischen Minderheit im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bestimmte, zunehmend auch längst überwunden geglaubte christliche antijüdische Mythen wie die Verketzerung des Talmud oder Ritualmordvorwürfe in modernisierter, radikalisierter Form wieder ins Spiel brachte.21 Daß christliche Theologen, die Kenntnisse auf dem Gebiet der rabbinischen Literatur besaßen, der Verleumdung der jüdischen Religion in diesen Jahren öffentlich widersprachen, gewann angesichts der gefährlichen gesellschaftlichen Wirkung der antitalmudischen Hetze aus jüdischer Sicht große Bedeutung. Die Beschuldigung, Talmud und Schulchan Aruch gestatteten es, Nichtjuden, insbesondere Christen, zu benachteiligen, zu betrügen oder sogar zu töten, schürten den Haß und das Mißtrauen gegenüber der jüdischen Bevölkerung und verschärften die sozialen Konflikte. Auf dem Wege der Massenpropaganda sollte die Anklage verbreitet werden, Juden würden aufgrund ihrer Religionsgesetze zwangsläufig zu Verbrechern, so im Mai 1892 in Berlin durch 300.000 Exemplare eines Flugblatts mit dem Titel „Talmud-Auszug“, das angeblich geheime, verbrecherische Sätze aus dem jüdischen Religionsgesetz enthüllte. Die Einleitung des Flugblatts vermittelt einen Eindruck des Bildes vom Judentum, das der Bevölkerung eingeprägt werden sollte: Talmud-Auszug (Schulchan-Arukh), enthaltend: die wichtigsten bisher übersetzten, noch heute gültigen Gesetze der jüdischen Religion. Im bisher ängstlich mit nur allen erdenklichen Mitteln geheim gehaltenen Tal-
21 Zur Instrumentalisierung des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Antitalmudismus durch den „modernen Antisemitismus“ vgl. H. Greive, „Der Talmud. Zielscheibe und Ausgangspunkt antisemitischer Polemik“, in: Antisemitismus. Erscheinungsformen der Judenfeindschaft gestern und heute, hrsg. von G. B. Ginzel, Köln 1991, S. 304–310; zur katholischen antisemitischen Publizistik seit dem Kulturkampf, welche die Talmudhetze aktualisierte, vgl. U. Tal, Christians and Jews in Germany. Religion, Politics and Ideology in the Second Reich, 1870–1914, Ithaca, London 1975, S. 85–109. Am einflußreichsten war die auf J. A. Eisenmengers Werk Entdecktes Judenthum (1710) beruhende Hetzschrift Der Talmudjude (1871) des katholischen Theologen August Rohling, der durch verfälschte und willkürlich ausgelegte Talmudzitate den Beweis dafür führen wollte, daß die jüdische Religion ihren Anhängern alle erdenklichen betrügerischen und verbrecherischen Handlungen gegenüber Christen erlaubte; zur Wirkung des Buches vgl. St. Lehr, Antisemitismus – religiöse Motive im sozialen Vorurteil. Aus der Frühgeschichte des Antisemitismus in Deutschland 1870–1914, München 1975, S. 34–38. Eine ähnliche Tendenz verfolgte der von dem Konvertiten Aron Briman 1883 herausgegebene Judenspiegel und das von dem katholischen Semitisten Jakob Ecker verbreitete Buch Der Judenspiegel im Lichte der Wahrheit (1883).
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Die Wiederaufnahme des vorwiegend in der katholischen Volksfrömmigkeit latenten Ritualmordvorwurfs erwies sich für die antisemitische Bewegung als ein wirksames Mittel der Agitation. Als 1882 aus dem ostungarischen Dorf Tisza Eszlar die Nachricht eintraf, mehrere Mitglieder der jüdischen Gemeinde seien unter dem Verdacht des Ritualmords verhaftet worden, begann auch in Deutschland eine öffentliche Debatte über die angeblichen jüdischen Blutriten.23 Auch auf dem 22 Zit. nach H. L. Strack, Die Juden, dürfen sie „Verbrecher von Religions wegen“ genannt werden. Aktenstücke, zugleich als ein Beitrag zur Kennzeichnung der Gerechtigkeitspflege in Preußen, Berlin 1893, S. 14–16 (Hervorhebungen nicht im Original). Zu Stracks Vorgehen gegen dieses Flugblatt vgl. unten. 23 In diesem Zusammenhang erschien 1882 in Berlin die Schrift Christliche Zeugnisse gegen die Blutbeschuldigung der Juden, in der – auf Bitten einer Rabbiner-Versammlung in Budapest 1882 – neben Franz Delitzsch und Hermann L. Strack auch die Theologen August Dillmann, Eduard Riehm, Carl Siegfried und Bernhard Stade übereinstimmend den Haß verurteilten, der die Ritualmordvorwürfe nährte, und einschärften, daß das jüdische Schrifttum keine einzige Stelle aufwies, welche diese Anklage stützen konnte; vgl. dazu Allgemeine Zeitung des Judentums 47 (1883), Nr. 3 und Jüdische Presse 14 (1883), Nr. 33, S. 379 f.: Die Stellungnahme der Theologen zeige, daß die
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Gebiet des deutschen Reiches kam es zu Ritualmordgerüchten und -prozessen, etwa 1891 im niederrheinischen Xanten24 oder 1900 in der westpreußischen Provinzstadt Konitz. Im Fall Konitz fand die Hetze, die von pogromartigen Ausschreitungen begleitet war, auch im protestantischen Bildungsbürgertum Widerhall.25 Gerade konservative Christen waren für die Instrumentalisierung des Mythos vom Blutmord anfällig. Antijüdische Gottesmordthese, Ritualmordanklagen und politisch-soziale Vorurteile verschmolzen zu der verhängnisvollen Vorstellung eines jüdischen Hasses, der auf die allmähliche „Zersetzung“ und Zerstörung der christlichen Gesellschaft ziele. Die völkisch-antisemitische Hetze bediente sich der überkommenen christlichen Metaphorik, die nach wie vor Angst und Haß hervorzurufen vermochte, um mittels einer systematischen Dämonisierung und Enthumanisierung der religiösen und sozialen Erscheinung des Judentums latente Fremdheitsgefühle zu mobilisieren und die Ergebnisse der Emanzipation zu untergraben. Da die jüdische Gemeinschaft die Verleumdung und Verzerrung ihrer Tradition schon auf Grund ihrer gefährlichen Konsequenzen für christliche Religion an sich an den Exzessen des Antisemitismus unschuldig sei. Daß aber „von den gläubigen Führern und Geistlichen beider Kirchen“ in Deutschland nur „verschwindend wenige“ ihre Stimme erhoben hätten, während die überwiegende Mehrheit schweige und repräsentative konservativ-christliche Organe wie die „Kreuzzeitung“ oder die „Germania“ dem Treiben in Ungarn zujubelten, müsse als neuerliche Schande der deutschen Geschichte gewertet werden. 24 Anläßlich des Ritualmordprozesses in Xanten klagte die Jüdische Presse, es sei „dank einer jahrelang vorbereiteten, durch keine behördliche Maßnahme gehemmten öffentlichen Verlästerung unserer religiösen Einrichtungen“ möglich geworden, daß vor einem deutschen Gericht ernsthaft die Frage behandelt werden konnte, „ob die Juden nicht die Liebhaberei der Menschenfresser theilen, ihren Durst mit dem Blute heimlich abgeschlachteter Menschen zu löschen.“ In Deutschland werde im Namen der Religion und des Deutschtums weiter „gegen alles, was den Juden heilig ist, verläumderisch gehetzt“, bis die Gesellschaft „für den Glauben an das ,jüdische Blutritual‘ reif“ und „auf der Stufe der Hexen- und Brunnenvergiftungs-Processe wieder angelangt“ sei (Jüdische Presse 23 (1892), Nr. 29, S. 355 f.). 25 Vgl. St. Rohrbacher u. M. Schmidt, Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile, Hamburg 1991; zu den Vorgängen in Konitz jetzt H. Walser Smith, „Die Geschichte des Schlachters“. Mord und Antisemitismus in einer deutschen Kleinstadt, Göttingen 2002. In einer Reihe von Berichten über den Konitzer Mord legte die Allgemeine Evangelische Kirchenzeitung 33 (1900), Nr. 15, S. 352–354; Nr. 25, S. 594; Nr. 27, S. 639; Nr. 45, S. 1070 f. nahe, daß ein jüdischer Ritualmord nicht auszuschließen sei und daß die Schuld der Juden von den Behörden verschleiert werde. vgl. dazu A. Jülicher, „Christliche Gedanken zu den Konitzer Vorfällen“, in: Christliche Welt 14 (1900), Nr. 26, 608–611, der dem Verfasser vorwarf, den „Aberglauben des christlichen Pöbels“ zu begünstigen (610 f.), und M. Rade, „Zum Konitzer Mord“, in: Christliche Welt 14 (1900), Nr. 31, S. 740 f. Ähnlich die gutachtliche Stellungnahme von C. H. Cornill, in: Im Deutschen Reich 7 (1901), Nr. 5, S. 252–254.
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den Integrationsprozeß nicht unwidersprochen lassen konnte, übernahmen Vertreter – insbesondere, aber nicht ausschließlich – der orthodoxen Strömung der Wissenschaft des Judentums die Verteidigung der Sittlichkeit des Talmud.26 Sie traten dabei in ein kritisches Gespräch mit der „Judenmission“, die ihrerseits, von ihrem Standpunkt aus, in die öffentliche Diskussion eingriff. Eine 1883 eingesetzte Kommission unter der Führung des Philosophen Moritz Lazarus legte am 14. Dezember 1885 mit den „15 Grundsätzen der jüdischen Sittenlehre“ Leitlinien zum ethischen Selbstverständnis des modernen Judentums vor.27 Dieses Kompendium jüdischer Ethik sollte der Aufklärungsarbeit unter Christen dienen, in Prozessen gegen Antisemiten eine autoritative Grundlage bieten und, nicht zuletzt, jüdische Identität stärken.28 Bis Juli 1889 hatten das Rabbinat der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, das Lehrerkollegium der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums in Berlin und 204 Gelehrte und Rabbiner Deutschlands das Manifest unterzeichnet.29 1893 veröffentlichten 220 deutsche Rabbiner zudem eine öffent26 Zum spezifischen Charakter der orthodoxen Apologetik, die sich auf die Verteidigung des Offenbarungscharakters der hebräischen Bibel sowie der rabbinischen Literatur konzentrierte, sich aber – im Gegensatz zur liberalen Strömung der Wissenschaft des Judentums – ansonsten von religionsgeschichtlichen Debatten mit der protestantischen Theologie fernhielt, vgl. M. Breuer, Jüdische Orthodoxie im Deutschen Reich 1871–1918. Die Sozialgeschichte einer religiösen Minderheit, Frankfurt a. M. 1986, S. 187–197. 27 Der Text ist abgedruckt in: M. Lazarus, Die Ethik des Judentums, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1898, S. 409–412. Zur Entstehungsgeschichte der „15 Grundsätze“ vgl. den Rückblick von J. Hertzberg, in: Allgemeine Zeitung des Judentums 83 (1919), Nr. 18, S. 181–183. 28 Zur Motivation bei der Abfassung der „Grundsätze“ vgl. Mitteilungen vom Deutsch-Israelitischen Gemeindebund 1889, Nr. 23, S. 1: „Unter den vielen Kränkungen, welche die Verirrung des letzten Jahrzehnts uns zugefügt, hat keine uns so schwer betroffen, wie die Verdächtigung unserer Sittenlehre. Vergessen hatten unsere Gegner, daß unsere heiligen Schriften die Grundlage aller Civilisation, daß unsere Zehngebote die Pfeiler der gesellschaftlichen Ordnung geworden sind, und daß sie selbst nach dem mosaischen Gebot der Nächstenliebe ihre eigene Religion zu benennen pflegen. Die Anklagen der Übelwollenden wurden von Unwissenden geglaubt, und da unserem Schweigen gegenüber die Verleumdung immer kühner ihr Haupt erhob, so hat es geschehen können, daß selbst mancher der Unsrigen aus Unkenntnis an der Reinheit unserer Sittenlehre zu zweifeln begann. Darum ist es Zeit, durch eine gemeinsame Kundgebung die wesentlichen Sätze zu bekennen, in denen die Religion des Judenthums unser Verhalten zu den einzelnen Nebenmenschen, zur allgemeinen Cultur, zum Vaterlande und zur Menschheit vorschreibt, und daß jeder Jude, welcher in seinem Verhalten von diesen Grundsätzen abweicht, den Geboten seiner Religion zuwider handelt. Lasset uns dies bekennen, tief beherzigen und es unserer Jugend als ein heiliges Erbthum übergeben, damit sie ausgerüstet sei zur Bethätigung des Guten und zur Bekämpfung der Ungerechtigkeit.“ 29 Mitteilungen vom Deutsch-Israelitischen Gemeindebund 1889, Nr. 23, S. 9 f.
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liche „Erklärung“ gegen die antitalmudische Polemik. Sie schloß mit einer Zusammenfassung der jüdischen Ethik, welche gebiete, in jedem Menschen das Ebenbild Gottes zu achten, in Handel und Wandel strengste Wahrhaftigkeit gegen Jedermann zu bethätigen, jedes Gelübde und Versprechen, welches irgendeinem Menschen, sei er Jude oder Nichtjude, geleistet wurde, als unauflöslich und unverbrüchlich treu zu erfüllen, Nächstenliebe gegen Jedermann ohne Unterschied der Abstammung und des Glaubens zu üben, die Gesetze des Vaterlandes in treuer Hingebung zu befolgen, das Wohl des Vaterlandes mit allen Kräften zu fördern und an der geistigen und sittlichen Vervollkommnung der Menschheit mitzuarbeiten.30
Leider wurden diese beiden offiziellen Erklärungen jedoch in der Regel nicht, wie erhofft, zur Grundlage einer gemeinsamen Verteidigungsstrategie jüdischer und protestantischer Forscher, da letztere die Zurückweisung der antisemitischen Hetze meist mit deutlicher Polemik gegen die aus ihrer Perspektive tatsächliche sittliche Minderwertigkeit der talmudischen Überlieferung verbanden. Exemplarisch zeigt dies die Auseinandersetzung Gustaf Dalmans, eines der wichtigsten Vertreter der neulutherisch-heilsgeschichtlich geprägten „Judenmission“,31 mit David Hoffmann, der – als Autorität auf dem Gebiet der halachischen Literatur und namhafter Repräsentant des orthodoxen Rabbinerseminars in Berlin – 1885 mit Der Schulchan-Aruch und die Rabbinen über das Verhältnis der Juden zu Andersgläubigen die maßgebliche jüdische wissenschaftliche Schrift zur Verteidigung des sittlichen Charakters der rabbinischen Literatur publiziert hatte.32 Dalman ging 1886 in seiner 30 „Erklärung!“, in: Allgemeine Zeitung des Judentums 57 (1893), Nr. 7, S. 73–75, Zitat S. 74. 31 Dalman, ursprünglich aus der Herrnhuter Tradition stammend, kam nach einer Zeit der Lehrtätigkeit am Theologischen Seminar der Brüdergemeine in Gnadenfeld/Schlesien 1887 nach Leipzig, wo er 1891 Privatdozent, 1895 a. o. Professor an der Theologischen Fakultät wurde. 1893 übernahm er als Nachfolger Franz Delitzschs die Leitung des Leipziger Institutum Judaicum. Zu Leben und Werk Dalmans vgl. J. Männchen, Gustaf Dalmans Leben und Wirken in der Brüdergemeine, für die Judenmission und an der Universität Leipzig, Wiesbaden 1987 und dies., Gustaf Dalman Als Palästinawissenschaftler in Jerusalem und Greifswald 1902–1941, Wiesbaden 1993. 32 D. Hoffmann, Der Schulchan-Aruch und die Rabbinen über das Verhältnis der Juden zu Andesgläubigen. Zur Berichtigung des von Prof. Gildemeister in dem „Isaakiade“ – Prozesse abgegebenen gerichtlich Gutachten, Berlin 1885 (2. Aufl. 1894 unter dem Titel Der Schulchan- Aruch und die Rabbinen über das Verhältnis der Juden zu Andersgläubigen). Den Anlaß für Hoffmanns Schrift hatte ein Antisemitenprozeß vor der Strafkammer des Königlichen Landgerichts in Bonn am 6. Juni 1884 geboten, in dessen Verlauf der als Gutachter bestellte Orientalist Johann Gildemeister wichtige Zugeständnisse an die Position der Antisemiten gemacht hatte. So hatte er behauptet, es gehöre zum
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Schrift Jüdisches Fremdenrecht, antisemitische Polemik und jüdische Apologetik. Kritische Blätter für Antisemiten und Juden, ausführlich und überaus kritisch auf Hoffmanns Argumentation ein. Zwar wies auch er die antisemitische Verleumdung der rabbinischen Literatur zurück, warf aber Hoffmann vor, ein idealisiertes Bild von Talmud und Schulchan Aruch zu zeichnen und behauptete, Juden, die beanspruchten, die Vergangenheit ihres Volkes „unbefangen zu betrachten“, müßten eingestehen, daß die Ethik des „Rabbinismus“ einer „sehr niedrigen Stufe“ angehöre.33 Ein anschließender Briefwechsel mit Hoffmann zeigt, daß Dalman für seine negative Bewertung der rabbinischen Tradition die Rolle des Anwalts der Wahrheit beanspruchte, „von welcher Seite auch ihre Verdunkelung versucht werden sollte“, während er die Apologie seines jüdischen Kollegen, was ihre wissenschaftliche Objektivität betraf, letztlich auf eine Stufe mit den antisemitischen Angriffen stellte.34 Dabei übersah er nicht nur, daß er damit eine wirksame Zurückweisung der Talmudhetze beeinträchtigte, sondern verschwieg auch, daß er in seiner Kritik jüdischer Tradition selbst vor allem von missionarischen Motiven bestimmt war – sichtbar in der Bemerkung, die „christliche Liebe“ zwinge ihn, davor zu warnen, daß sich das Judentum der Gegenwart „der ihm von Gott gegebenen Veranlassung, mit sich und seiner Vergangenheit in ein gerechtes Gericht zu gehn“, in „Selbstverblendung“ entziehen könnte.35 Auch das in den „15 Grundsätzen“ formulierte sittliche Selbstverständnis des zeitgenössischen Judentums erschien Dalman nicht als Nachweis der Existenzberechtigung der jüdischen Religion: Es fehle „die rückhaltlose, mit Gewissensernst und vor Gott vollzogene Scheidung von dem, was als unhaltbar,
„System der Täuschungen“, mit dem die Juden „harmlose Christen im Dunkel zu erhalten“ suchten, daß sie leugneten, daß die Christen im Schulchan Aruch selbstverständlich unter die „Götzendiener“ fielen; vgl. J. Gildemeister, Der Schulchan aruch und was daran hängt. Ein gerichtlich erfordertes Gutachten, Bonn 1884, S. 10. Vgl. dazu M. Joel, Gegen Gildemeister, Breslau 1884 und den Artikel „Ein Professoren-Gutachten“, in: Jüdische Presse 15 (1884), Nr. 25, S. 259–261. und Nr. 26, S. 272–274. Der Verfasser, vermutlich Hirsch Hildesheimer, warnte davor, daß „die Gerichtspraxis einreiße, mit Umgehung jüdischer Gelehrter als Sachverständige in talmudischen Fragen Männer zu citiren, die, wie gelehrt auch sonst immer, nicht die geringste Probe talmudischer Kenntnisse trotz einer Decennien langen Thätigkeit gegeben haben“, und fragte, was man sagen würde, wenn bei einem Prozeß über christliche Glaubenslehren ein jüdischer Gutachter bestellt würde (S. 260). 33 G. Marx (Dalman), Jüdisches Fremdenrecht, antisemitische Polemik und jüdische Apologetik. Kritische Blätter für Antisemiten und Juden, Karlsruhe, Leipzig 1886, S. 58. 34 Ebd., S. III. 35 Ebd., S. 59 f.
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als unrecht erkannt“ worden sei, und es mangele an der Erkenntnis, daß die jüdische Gschichte seit Christus „nicht nur an einigen Punkten taube Blüten gezeitigt“ habe, sondern „im Prinzip verfehlt war und mit einem Bankerott abschließen mußte.“36 Ein Blick auf die Wirksamkeit von Franz Delitzsch, der in den achtziger Jahren mit seinen Schriften Rohling’s Talmudjude beleuchtet (1881) oder Schachmatt den Blutleugnern Rohling und Justus entboten (1883) ebenfalls prominent als Verteidiger der jüdischen Tradition gegen die Hetze der Antisemiten hervortrat, zeigt, daß dieser Zwiespalt zwischen gutem Willen und einem im christlichen Überlegenheitsanspruch gründenden traditionellem Antijudaismus einen Grundzug der von der „Judenmission“ beschworenen „Liebe zu Israel“ ausmachte und ihre wissenschaftliche Beschäftigung mit jüdischer Geschichte und Literatur nicht selten ebenso ernsthaft beeinträchtigte wie ihre solidarische Haltung gegenüber dem Antisemitismus. So widmete Delitzsch, dessen heilsgeschichtliches Denken dem Judentum Wert letztlich nur in einer fernen Vergangenheit und in der erhofften Zukunft seiner Überwindung beizumessen vermochte, dem Nachweis, daß die Erwählung auf die Kirche als dem neuen Israel übergegangen sei, 1889 eine ganze Schrift mit dem Titel Sind die Juden wirklich das auserwählte Volk?37 Darin legte er dar, das alleinige Ziel der Erwählung Israels sei das Christentum gewesen, und behauptete, der obstinate Erwählungsstolz der Juden stelle die wichtigste Ursache des Antisemitismus dar. Das Judentum, das Jesus verworfen habe, habe sich mit dem Talmud auf einer Vorstufe der Offenbarung „verbarrikadirt“ und seine Geschichte sei eine „ziellose, eine sich im Sande verlaufende Geschichte“, „wie der Jordan, der in das tote Meer mündet, um da mit allem Lebendigen, was er ihm zuführt, zu ersterben.“38 Antitalmudismus war Delitzsch durchaus nicht fremd.39 Ebensowenig wie Dalman reflektierte er dar-
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Ebd., S. 60 f. F. Delitzsch, Sind die Juden wirklich das auserwählte Volk? Ein Beitrag zur Lichtung der Judenfrage, Leipzig 1889, bes. S. 22 f. 38 Ebd., S. 3 f. 39 Vgl. ders., Schachmatt den Blutleugnern Rohling und Justus entboten, Erlangen 1883, S. 3 f.: August Rohling hätte mit seinem antitalmudischen Machwerk nur dann recht gehabt, wenn er, statt ein „sternloses nächtliches Bild“ zu entwerfen, gezeigt hätte, daß die jüdische Literatur vieles enthalte, „dessen sich der Jude der Gegenwart zu schämen hat“, und vom Judentum verlangt hätte, „dieses Gerümpel einer von dem Religionsund Culturfortschritt der Menschheit verurteilten Vergangenheit wegzuwerfen wie einen Unflat“. Delitzsch hob namentlich die „Rechtsungleichheitsgesetze“ hervor, die als die „widerwärtigsten Auswüchse“ in der rabbinischen Literatur gelten müßten. Das Judentum 37
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über, daß die Antisemiten ihre Argumente aus dem Arsenal christlicher Judenfeindschaft bezogen und die schwerwiegenden Vorwürfe, die er selbst gegen die rabbinische Tradition erhob, instrumentalisieren konnten. Damit aber war ein Teil seines aufklärerischen Wirkens und des kritischen Potentials seiner heilsgeschichtlichen Theologie gegenüber dem rassischen Determinismus radikaler Antisemiten, denen nicht einmal die Taufe der Juden als denkbare Lösung der von ihnen behaupteten „Judenfrage“ erschien, wieder verspielt. So gewiß das engagierte Auftreten der Theologen der „Judenmission“ gegen die Verleumdung der jüdischen Religion und Ethik gerade angesichts ihrer eigenen, traditionell antijudaistischen Sicht des nachbiblischen Judentums als Versuch einer Versachlichung der Diskussion gewürdigt zu werden verdient, so deutlich ist festzuhalten, daß nicht wenige ihrer theologischen und politischen Überzeugungen zumindest kontraproduktiv waren. Die Wirkung des Widerstandes gegen den Judenhaß mußte entscheidend eingeschränkt werden, wenn etwa Delitzsch eine „religöse Judenfrage“ postulierte, deren einzige Lösung darin bestand, „daß die jüdische Nationalität von dem christlichen Geist überwunden und durchdrungen“ werde.40 Die Zwiespältigkeit gipfelte darin, daß er zwar den Vorwurf zu entkräften trachtete, die Juden stünden den Christen in jeder Hinsicht feindlich gegenüber, andererseits aber dazu neigte, den Versuch jüdischer Gelehrter wie Abraham Geiger, das Existenzrecht des Judentums mit historischen und theologischen Argumenten zu verteidigen, mit dem Verdikt der „Jesusfeindschaft“ und des „Antichristianismus“ abzutun.41 Wie konnte „Liebe zu Israel“ überzeugen, wenn sich Juden ihrer nur durch Verschweigen ihres Standpunktes würdig zeigen konnten? Und was vermochte eine Bekämpfung des Antisemitismus zu bewirken, die Zugeständnisse an seine wichtigsten Stereotype machte?
müsse es sich gefallen lassen, „wenn man ihm, je religionsstolzer es sich brüstet, desto beschämender diese Immoralitäten des rabbinischen Gesetzes unter die Augen rückt“ (18 f.). Als Preis für die Emanzipation müsse sich das Judentum öffentlich von diesen Teilen ihrer Tradition distanzieren (22 f.). 40 Ders., „Es muß und wird und kann geschehen. Gedanken über die Bekehrung Israels und das Verhältnis der Instituta dazu“, in: Saat auf Hoffnung 22 (1885), S. 34–46, Zitat S. 44. 41 Vgl. etwa ders., „Sind die Instituta Missionsvereine? Mit Bezug auf den Angriff des Dr. A. Berliner beantwortet “, in: Saat auf Hoffnung 22 (1885), S. 49–57. Zu Geiger vgl. S. Heschel, Der jüdische Jesus und das Christentum. Abraham Geigers Herausforderung an die christliche Theologie, Berlin 2001.
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Ein Vergleich mit Dalmans zwiespältigen Ansichten und Delitzschs sehr unmittelbarer Bindung der „Liebe zu Israel“ an die Mission zeigt, daß sich Hermann L. Strack, obwohl auch er in erster Linie der Tradition der „Judenmission“ verpflichtet war, deutlich stärker durch entschiedene, beherzte Solidarität mit dem Judentum auszeichnete. Die wissenschaftlichen Voraussetzungen für seine aufklärerische Tätigkeit hatte Strack erworben, nachdem er sich während seines Studiums in Berlin und Leipzig (1865–70) auf Anregung Franz Delitzschs und des judenchristlichen Missionar Johann Heinrich Biesenthal dem Studium der hebräisch-jüdischen Literatur zugewandt hatte. Dabei lernte er auch bei Seligmann Baer, Abraham Berliner und Moritz Steinschneider.42 Ein Aufenthalt in Rußland 1873–76 verschaffte ihm weitere Kenntnisse über die jüdische Traditionsliteratur und das zeitgenössische Judentum. Seit 1877 lehrte Strack als a. o. Professor für Altes Testament an der Berliner Universität. Ein Ordinariat für alttestamentliche Wissenschaft mit einem besonderen Lehrauftrag im Bereich der jüdischen Religion, Geschichte und Literatur, das er um die Jahrhundertwende beantragte, blieb ihm auf Grund der Skepsis seiner Berliner Kollegen gegenüber seinem konservativen exegetischen Ansatz und dem Spezialinteresse am Judentum verwehrt. 1883 hatte er das in loser Form mit der Berliner Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden assoziierte Institutum Judaicum Berolinense gegründet, das sich der Aufgabe widmete, „unter den künftigen Geistlichen Teilnahme und Verständnis für die Judenmission zu verbreiten“.43 Der Schwerpunkt lag zunächst eindeutig auf der Schaffung einer breiten Basis für eine wirksame Mission unter der jüdischen Minderheit. Als Herausgeber der Zeitschrift Nathanael und der Reihe der „Schriften des Institutum Judaicum in Berlin“ wurde Strack zum maßgeblichen Gestalter der „Judenmission“ dieser Zeit. Theologisch der konservativen, „positiven“ Strömung des Protestantismus verpflichtet, ließ er sich durch die Überzeugung von der heilsgeschichtlichen Kontinuität zwischen Judentum und Christentum leiten, wonach das von Gott erwählte Volk Israel eine wichtige Vorstufe des Christentums darstellte, seine Vollendung aber 42 Vgl. H. L. Strack, Jüdische Geheimgesetze? Mit drei Anhängen: Rohling, Ecker und kein Ende? Artur Dinter und Kunst, Wissenschaft und Vaterland. ,Die Weisen von Zion‘ und ihre Gläubigen, Berlin 1920, S. 9. 43 Vgl. H. L. Strack, „Wie gewinnen wir unsere Geistlichen für die Arbeit an Israel?“, in: Nathanael 13 (1897), S. 50–55, Zitat S. 52. Zu Strack und dem Institutum Judaicum vgl. R. Golling, P. von der Osten-Sacken (Hrsg.), Hermann L. Strack und das Institutum Judaicum in Berlin. Mit einem Anhang über das Institut Kirche und Judentum, Berlin 1996, bes. S. 70–91.
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erst in der religiösen Überwindung des Judentums durch die Bekehrung zu Jesus Christus finden werde. Stärker als die Vertreter der Leipziger „Judenmission“ legte Strack jedoch den Akzent seiner eigenen Forschung auf die wissenschaftlich-philologische Beschäftigung mit den jüdischen Quellen und war daher dafür prädestiniert, in den öffentlichen Kontroversen der Zeit als namhaftester Fachmann der Judentumskunde das Wort zu ergreifen. Stracks Engagement gegen die antisemitische Agitation setzte 1885 ein, als er öffentlich dem Treiben des Berliner protestantischen Oberhofpredigers Adolf Stoecker entgegentrat und in der gesellschaftlichen Diskussion über Emanzipation und Integration zu einer Haltung der „Liebe“ und gerechten Beurteilung mahnte. Auf dem Hintergrund seiner missionarischen Ausrichtung war es nur konsequent, daß er in diesem Zusammenhang hervorhob, wie sehr der Antisemitismus zum Hindernis der „Judenmission“ zu werden drohte und ihren Grundanliegen widersprach: „Mission aber zu üben ohne Liebe und ohne daß der, an den die Mission geht, von der Liebe des Missionierenden überzeugt ist, ist unmöglich. So muß ich auch den Juden zuerst zeigen, daß ich auch für sie eintrete; sie müssen wissen, daß sie in mir keinen Hasser haben. Dann werden ihre Ohren offener werden.“44 Anders als Franz Delitzsch, der in zum Teil bitteren Kontroversen mit jüdischen Kollegen Dankbarkeit für diese „Liebe zu Israel“ einklagen und Widerspruch gegen missionarische Ansprüche mit der Drohung des Verlustes dieser „Liebe“ beantworten konnte45, band Strack seine Solidarität jedoch nicht an die Akzeptanz seiner Missionstätigkeit, sondern betonte in seinen weiteren Aufklärungsschriften immer eindeutiger die Notwendigkeit eines Ethos wissenschaftlicher Objektivität bei der Beurteilung jüdischer Geschichte, Tradition und Literatur sowie der Gerechtigkeit in der aktuellen politischen Diskussion. 1893 beklagte Strack in seiner Schrift Die Juden, dürfen sie ,Verbrecher von Religions wegen‘ genannt werden?, „daß in meinem lieben deutschen Vaterlande vielfach statt der Liebe Haß, statt der Wahrheit 44
H. L. Strack, Herr Adolf Stöcker, christliche Liebe und Wahrhaftigkeit, Karlsruhe, Leipzig 1885, S. 53. Zu Stoeckers Antisemitismus vgl. H. Engelmann, Kirche am Abgrund. Adolf Stoecker und seine antijüdische Bewegung, Berlin 1984. 45 Vgl. C. Wiese, „Was heißt ,Liebe zu Israel‘? Die aktuelle Diskussion um die ,Judenmission‘ im Licht der Auseinandersetzung jüdischer Gelehrter mit dem Wissenschaftler und Missionar Franz Delitzsch“, in: TUN UND ERKENNEN. Theologisches Fragen und Vermitteln im Kontext des jüdisch-christlichen Gesprächs. Zum 65. Geburtstag von Adam Weyer hrsg. von H. J. Barkenings, M. Peek-Horn u. S. Wolff, Duisburg 1994, S. 211–242.
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Lüge gesäet wird und daß ernstes Streben nach Gerechtigkeit gar oft vermißt wird.“46 Die Verbreitung des oben erwähnten „Talmud-Auszugs“ (1892) hatte ihn veranlaßt, bei der Königlichen Staatsanwaltschaft am Landgericht I, Berlin, ein gerichtliches Vorgehen gegen die Verbreitung des Flugblatts zu beantragen. Die Grundlage boten die Paragraphen 166 und 130 des Strafgesetzbuchs, die für die Beschimpfung einer mit Korporationsrechten ausgestatteten Religionsgemeinschaft und die Gefährdung des öffentlichen Friedens durch Anreizung zu Gewalttaten Gefängnis vorsahen. Sollten die Behauptungen des Flugblatts wahr sein, so argumentierte er, müsse „gegen das Judentum von Staats wegen eingeschritten werden“, seien sie aber falsch, dürfe ihre Verbreitung nicht ungehindert bleiben. Daher müßten die Initiatoren des Flugblatts und die Zeitungen, die es verbreiteten, gezwungen werden, „ihre Beschuldigungen vor Gericht zu erweisen oder zurückzunehmen.“ Die Antwort der Staatsanwaltschaft manifestierte die fragwürdige Haltung der staatlichen Behörden und die Unwirksamkeit einer halbherzigen Verteidigung des Talmud, wie sie Gustaf Dalman 1886 versucht hatte. Der „Talmud-Auszug“, so lautete die Antwort, sei eine nahezu wörtliche Wiedergabe aus dem Judenspiegel des Dr. Justus, der in Deutschland verbreitet worden sei, „ohne daß dadurch Gewaltthätigkeiten gegen die Juden verursacht worden“ seien. Jüdische Forscher hätten keine „begründete(n) Zweifel“ an der Glaubwürdigkeit Jakob Eckers, August Rohlings und Johann Gildemeisters geltend machen können, zumal etwa Dalman gezeigt habe, warum derjenige, der zum ersten Mal die rabbinischen Rechtsgrundsätze lese, mit Recht entsetzt sei. Solange die „wissenschaftliche Streitfrage“ hinsichtlich der Sittlichkeit des Talmuds nicht „staatsautoritativ“ entschieden sei, dürfe die „Kritik“ am Talmud nicht als strafbare Beschimpfung der jüdischen Religionsgemeinschaft gelten.47 Strack machte daraufhin in einer Be46 H. L. Strack, Die Juden, dürfen sie ,Verbrecher von Religion wegen‘ genannt werden. Aktenstücke, zugleich als ein Beitrag zur Kennzeichnung der Gerechtigkeitspflege in Preußen (Schriften des Institutum Judaicum in Berlin), Berlin 1893, S. 3. vgl. dazu Der Israelit 34 (1893), Nr. 9, S. 161. 47 Strack, Die Juden, dürfen sie, S. 6 und 11 f. Die Textpassage bei Dalman, auf die sich der Staatsanwalt bezog, lautet: „Es ist gewiß, wer zum erstenmal die Rechtsgrundsätze des Rabbinismus kennen lernt, mit Grund entsetzt. Es liegt der Verdacht nahe, daß das ganze System seinen eigentlichen Ursprung in einem maßlos überspannten nationalen Selbstbewußtsein habe.“ Dalman hielt jedoch fest, daß dies nicht der Fall sei, sondern daß der Talmud sich noch schärfer gegen die eigenen Volksgenossen wende, sofern sie dem Gesetz untreu würden. „Es ist wirklich Religionseifer, welcher den Rabbinismus beseelt, aber freilich um eine Volksreligion, deren nationaler Charakter bis zur Karikatur verzerrt ist“, vgl. G. Dalman, Jüdisches Fremdenrecht, S. 21.
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schwerde an den Oberstaatsanwalt beim Königlichen Kammergericht zu Berlin geltend, eine Gefährdung des öffentlichen Friedens liege auch dort vor, wo sich kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Aufhetzung und Gewalttat nachweisen lasse. Autoren wie Rohling und Ecker seien längst durch jüdische und christliche Forscher der bewußten Fälschung und Verleumdung überführt worden.48 Der Oberstaatsanwalt zog sich nun auf das Argument zurück, da vielfach bestritten werde, daß der Talmud für die gegenwärtige jüdische Gemeinschaft überhaupt noch eine verbindliche Glaubens- und Sittenlehre darstelle, könne das Bekenntnis zu ihm „nicht als eine Einrichtung der jüdischen Religionsgesellschaft betrachtet werden.“ Angriffe gegen den Talmud stünden demnach nicht unter der Strafandrohung des § 166, wie auch seine Anhänger „nicht als die alleinigen Repräsentanten der jüdischen Religionsgesellschaft gelten“ dürften.49 Nachdem auch ein offizielles Schreiben Stracks an den preußischen Justizminister nichts fruchtete, stellte er resigniert fest, daß „die Rechtspflege in Preußen einer zielbewußten festen Leitung“ ermangele, da nicht alle Bürger des Reiches in gleicher Weise gegen verleumderische Beschimpfung ihrer Religion geschützt seien.50 In immer neuen Anläufen stellte sich Strack in der Folge vor allem der Ritualmordanklage entgegen und unternahm den Versuch, diesen Vorwurf durch eine umfassende historische Untersuchung über Blutaberglauben und Blutriten sowie über konkrete Ritualmordbeschuldigungen grundsätzlich und wirksam als antisemitischen Mythos zu entlarven. 1891 veröffentlichte er, veranlaßt durch eine Ritualmord48 Strack, Die Juden, dürfen sie, S. 13–23; er zitierte in diesem Zusammenhang einen Brief, in dem Dalman ihm gegenüber zugestanden hatte, er habe „zu sehr den Historiker gespielt“, statt darauf zu hören, wie Juden in der Gegenwart selbst die sittlichen Vorschriften des Talmuds auslegten (23). 49 Ebd., S. 27. Mit Hilfe dieser Konstruktion entzogen sich staatliche Behörden von nun an häufig mit Hilfe christlicher Gutachter und unter eklatanter Mißachtung der Voten jüdischer Gelehrter, ihrer Verantwortung für den Schutz der jüdischen Religionsgemeinschaft. Zum besonders aufschlußreichen Beispiel des Prozesses gegen den notorischen Antisemiten Theodor Fritsch vgl. die Analyse von C. Wiese, „Jahwe – ein Gott nur für Juden? Der Disput um das Gottesverständnis zwischen Wissenschaft des Judentums und protestantischer alttestamentlicher Wissenschaft im Kaiserreich“, in: Christlicher Antijudaismus und Antisemitismus. Theologische und kirchliche Programme Deutscher Christen, hrsg. von L. Siegele-Wenschkewitz , Frankfurt a. M. 1994, S. 27–94. 50 Strack, Die Juden, dürfen sie, S. 5. Später konnte Strack „mit Befriedigung“ feststellen, daß andere deutsche Gerichtshöfe in seinem Sinne entschieden hatten und daß etwa in Bayern die Verbreitung des „Talmud-Auszugs“ rechtskräftig mit Strafe belegt worden war, vgl. ders., Das Blut im Glauben und Aberglauben der Menschheit, München 19005–7, S. IX.
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Affäre auf der Insel Korfu, seine Schrift Der Blutaberglaube in der Menschheit, Blutmorde und Blutritus, um „die furchtbare Krankheit des Aberglaubens“ zu bekämpfen. Bereits 1892, nach den Xantener Vorgängen, stellte er eine neue Fassung her.51 Der Ritualmordprozeß im böhmischen Polna (1899) motivierte schließlich eine neue Ausgabe des Werkes unter dem neuen Titel Das Blut im Glauben und Aberglauben der Menschheit. In seinem Vorwort hob Strack hervor, die „Ritualmordbeschuldigung“ sei ein „so wirksames Mittel, die Volksmassen aufzureizen“, daß er gezwungen sei, erneut dagegen vorzugehen, denn solange die Verleumdungen wiederholt würden, sehe er es als Pflicht für einen „Vorkämpfer für Wahrheit, Wissenschaft und Gerechtigkeit“ an, mit der Widerlegung fortzufahren: Sucht man doch nur allzu häufig den Anwalt der Wahrheit, weil man ihn nicht widerlegen kann, totzuschweigen. Wie viel mehr würde man aus seinem wirklichen Schweigen Folgerungen gegen die von ihm vertretene Sache ziehn! Ich werde, solange ich noch das Schwert des Geistes führen kann, nicht schweigen, und ich sorge auch dafür, daß mein Wort denen bekannt wird, auf die es wirken soll.52
Strack war sich allerdings, wie auch die jüdischen Gelehrten, darüber im Klaren, daß seine Arbeit die Ritualmordbeschuldigungen nicht wirklich zum Schweigen zu bringen vermochte.53 Bestätigt wurde das 51 Ders., Der Blutaberglaube in der Menschheit, Blutmorde und Blutritus, München 18924 (18911–3, S. III. D. Hoffmann, in: Israelitische Monatsschrift 1892, Nr. 5 (wissenschaftliche Beilage zu Jüdische Presse 23 (1892), Nr. 22), S. 19 hob den wissenschaftlichen Wert der Schrift hervor, die mit ihrer ruhig-objektiven Darstellung jedem sachlichen Argumenten zugänglichen Leser „die Nichtigkeit und Grundlosigkeit“ der Anklagen „bis zur Evidenz beweisen“ müsse. Vgl. J. Müller, in: Allgemeine Zeitung des Judentums 56 (1892), Nr. 15, S. 172–174. Nach E. Biberfeld, in: Jüdische Presse 23 (1892), Nr. 45, S. 560 war Stracks Schrift die beste, „welche die apologetische Literatur gezeitigt hat.“ Ders., in: Jüdische Presse 22 (1891), Nr. 32, S. 369 f betonte, Stracks Verdienst bestehe darin, die Antisemiten der Lächerlichkeit preisgegeben zu haben, denn sie fürchteten nichts mehr, als daß sie nicht ernstgenommen würden. Wenn einmal die Zeit gekommen sei, wo es „einfach lächerlich“ sein werde, das Blutmärchen vorzubringen, werde man „mit nie erlöschendem Dankbarkeitsgefühle“ des protestantischen Theologen gedenken. 52 Strack, Das Blut im Glauben und Aberglauben der Menschheit, S. VIII und VI. Das Vorwort wurde vollständig abgedruckt in: Im Deutschen Reich 6 (1900), Nr. 4, S. 192–196. M. Brann, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 44 (1900), S. 96 empfand es als eine „Schmach“, daß ein solches Buch überhaupt erforderlich sei, jedoch keineswegs für das geschmähte Judentum, sondern für die „viel gerühmte christlich-germanische Cultur“, in der Theologen an der Schwelle des 20. Jahrhunderts noch immer gezwungen seien, den Christen nachzuweisen, „daß der Stamm, dem Jesus im Fleische angehört hat, nicht eine Bande feiger Meuchelmörder“ sei. 53 Strack, Blutaberglaube, S. V; vgl. C. Werner, in: Im Deutschen Reich 2 (1896), Nr. 1, S. 77; I. Deutsch, in: Jüdisches Litteratur-Blatt 24 (1900), Nr. 6, S. 41. Vgl. den
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etwa durch eine 1895 in Leipzig erschienene anonyme Schrift mit dem Titel Die Aufhebung der Judenemanzipation und ihre rechtliche Begründung, die Stracks Argumente als judenfreundliches Vorurteil zurückwies. Zudem unterstellten ihm Antisemiten, er sei entweder von Juden bezahlt oder selbst jüdischer Abstammung. „Wenn ich durch Mutter oder Vater von Abraham abstammte“, erwiderte Strack, „würde ich darob zu erröthen nicht nötig haben.“ Dennoch sah er sich zu der Erklärung genötigt, daß alle seine Vorfahren „christlich-germanischer Abstammung“ seien.54 Von dem Ruf, er gehöre mit Franz Delitzsch zu den „eifrigen Juden-Verteidigern“, die doch als „christlich-maskierte Juden“ bekannt seien, befreite ihn das nicht.55 Im Vorwort zur Neuauflage von 1900 deutete Strack an, sein Eintreten für die jüdische Religion habe ihm „nicht nur Beschimpfungen in der Tagespresse, sondern auch schweren äußeren Nachteil gebracht.“ Zugleich verlieh er seiner Entschlossenheit Ausdruck, dies weiter auf sich zu nehmen, solange die politische Situation es erforderte.56 Widerhall fand dies in der Anerkennung seiner jüdischen Kollegen, etwa wenn Eduard Biberfeld den „teuflischen Haß“ bedauerte, mit dem der „ganze antisemitische Heerbann“ über Strack hergefallen sei. Dies zeige, welche Selbstlosigkeit den wenigen Aufrechten abverlangt werde, die dem Judenhaß entgegenträten. Man vertheidigt heutzutage nicht ungestraft die Juden. [. . .] Mußten wir an unserem eigenen Leibe die Erfahrung machen, daß der Jude heutzutage vogelfrei ist [. . .], warum soll dies Schicksal nicht auch dem evangelischen Geistlichen drohen, der das ,Verbrechen‘ beging, seine Stimme für uns zu erheben? 57 Brief des Erfurter Rabbiners Moritz Salzberger vom 28.3.1900 (Sammlung von Briefen an H. L. Strack, Archiv des Jewish Theological Seminary in New York): „Für Ihr so mutiges und mannhaftes Auftreten gegen Lüge und Verleumdung ist Ihnen, wie Ihnen das gewiß von allen Seiten bezeugt wird, im Herzen aller Israeliten der Dank für immer gesichert, der nur noch durch das erhebende Bewußtsein, der Wahrheit zu dienen, überboten werden kann. Ob Ihr edles Bestreben den erwünschten Erfolg haben und die infernale Verdächtigung vom jüdischen Blutritual aus der Welt schaffen wird, das muß die Zukunft zeigen. Nichts ist schwerer zu besiegen als Schlechtigkeit und Dummheit, zumal wenn sie sich miteinander verbinden, wenn die Dummen glauben, was die Bösen ersinnen. [. . .] Mögen Sie im Kampfe für die Wahrheit nicht ermüden, möge der Allgütige Ihre Kraft stärken und segnen, die sie als Mensch im Dienste der Gerechtigkeit und Humanität nicht minder denn als Forscher auf dem Gebiete der Wissenschaft so glänzend bethätigen.“ 54 Strack, Blutaberglaube, S. V. 55 Die Aufhebung der Judenemanzipation und ihre rechtliche Begründung, Leipzig 1895, S. 75 und 48. 56 Strack, Das Blut im Glauben und Aberglauben der Menschheit, S. IX f.
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1900 veröffentlichte Strack einen weiteren ausführlichen Artikel mit dem Titel „Sind die Juden Verbrecher von Religions wegen?“, in dem er bekräftigte, es gebe im Judentum keinerlei Geheimschriften oder -traditionen, die Verbrechen an Nichtjuden erlaubten. Notwendig war dies, weil derartige Anklagen auf der Ebene der Politik nicht einfach für sinnlos erklärt wurden, sondern immerhin Anlaß zur Diskussion gaben.58 Die Jüdische Presse hielt Stracks Aufsatz für so wichtig, daß sie ihn im Wortlaut abdruckte59, wohl weil dieser als einziger christlicher Theologe darauf beharrte, das ethische Selbstverständnis des zeitgenössischen Judentums zum Maßstab der Bewertung zu erheben, anstatt sich darüber hinwegzusetzen und jüdische Ethik aus nichtjüdischer Perspektive zu definieren. So druckte Strack die „15 Grundsätze der jüdischen Sittenlehre“ von 1885 mit der Bemerkung ab, eine von so vielen Rabbinern und Gelehrten aus Deutschland und Österreich-Ungarn unterzeichnete Erklärung könne beanspruchen, „als autoritativ zu gelten.“ Noch bedeutsamer schien ihm die „Erklärung der Rabbiner Deutschlands“ von 1893. Unabhängig davon, ob dieser Text eine historisch zutreffende Darstellung dessen biete, was das Judentum in früheren Zeiten gelehrt habe, müsse als „unbestreitbar“ gelten, „daß der Inhalt der Erklärung für das gegenwärtige Judentum Deutschlands autoritativ ist und daß dieses Judentum beanspruchen darf, daß bei einem Urteil über seine Sittenlehre diese ,Erklärung‘ samt den ,Grundsätzen‘ als hervorragend wichtig anerkannt werde.“60
57 E. Biberfeld, „Prof. Strack über den ,Blutaberglauben‘“, in: Jüdische Presse 23 (1892), Nr. 45, S. 560. 58 So hatte der preußische Unterrichtsminister 1892 eine Revision aller jüdischen Religionsbücher veranlaßt, um diese Vorwürfe zu prüfen, mit dem Ergebnis, daß keiner davon zutreffe. Zwischen 1893 und 1896 mußten sowohl der Reichstag als auch die parlamentarischen Gremien in Preußen, Baden und Sachsen Petitionen der antisemitischen Parteien zurückweisen, welche die Einsetzung von Kommissionen zur Prüfung des jüdischen Schrifttums verlangten; vgl. dazu H. L. Strack, „Sind die Juden Verbrecher von Religions wegen?“, in: Nathanael 16 (1900), Nr. 4, S. 97–132, bes. S. 115–117 und Der Israelit 36 (1895), Nr. 49, S. 895–897. 59 Jüdische Presse 31 (1900), 323 ff, 332 ff, 349 ff, 369 ff. 60 Strack, „Sind die Juden Verbrecher von Religions wegen?“, S. 97–132, Zitate S. 126 und 132. Dies blieb nicht unbestritten; so bezweifelte etwa der Bonner Alttestamentler Eduard König, daß die „Erklärungen“ von allen Juden anerkannt würden, und fragte, „ob die Talmudjuden in den östlicheren Gegenden damit übereinstimmen, und ob dadurch die Rechtsungleichheitssätze des rabbinischen Judenthums aufgehoben worden sind“; vgl. E. König, in: Theologisches Literaturblatt 22 (1901), Nr. 5, S. 59 f., Zitat S. 60. B. Stade, Geschichte des Volkes Israel, Bd. 1, Berlin 1887, S. 510 f., Anm. 3 stellte in polemischen Formulierungen in Frage, daß die „Grundsätze“ Anhalt an der jüdischen Tradition hätten: „Es ist ein durch seine Unverfrorenheit auffallendes Beginnen, wenn
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Indem Strack die antijüdische Instrumentalisierung vielfach falsch verstandener, aus dem historischen Kontext gerissener oder verfälschter Texte aus dem antiken oder mittelalterlichen jüdischen Schrifttum bekämpfte und entschieden auf das Selbstverständnis des modernen Judentums hinwies, unterstützte er wirksam eines der wichtigsten Anliegen der jüdischen Abwehr des modernen Antisemitismus. Das hinderte ihn allerdings nicht daran, im Gespräch mit Juden öffentlich die Überzeugung zu vertreten, das Christentum sei dem Judentum in religiöser wie ethischer Hinsicht überlegen. So betonte er 1896 als Gast auf der Generalversammlung des Centralvereins Deutscher Staatsbürger Jüdischen Glaubens (C. V.) in einem Votum einerseits, er glaube, daß das Fortbestehen des Judentums „im Plane der göttlichen Weltregierung“ liege und daß zu einem friedlichen Miteinander in der Gegenwart „ein gegenseitiges Kennenlernen und die umfassendste Toleranz“ erforderlich seien, wollte aber andererseits das Judentum nur als Vorstufe des Christentums gelten lassen.61 Als der Vorstand des C. V. angegriffen wurde, weil er Strack nicht deutlich widersprochen habe, erinnerte der orthodoxe Gelehrte Hirsch Hildesheimer an die notwendige Milde einem Theologen gegenüber, der „für die Wahrheit und Menschenliebe große Opfer gebracht“ habe, als die Ehre des Judentums angegriffen wurde und „fast alle Anderen schwiegen“: „Wenn [. . .] ein christlicher Theologe für sein dogmatisches Christenthum eintritt, so thut er nur, was ihm Amt und Pflicht gebieten. Wollte Gott, kein Christ hätte uns Böseres gesagt!“62 Strack selbst hielt in einem Brief an den C. V. fest, Christi Sendungsbefehl mache es ihm zur „religiösen Pflicht, dafür zu arbeiten, daß das Evangelium auch Israel nahegebracht
versammelte Rabbiner dem christlichen Publikum einzureden suchen, daß die Juden durch Gebote wie Lev. 19,18, 24,22 zu gleichem sittlichen Verhalten gegen alle Menschen verpflichtet seien, und das Judentum zur Religion der Menschenliebe stempeln. [. . .] Ich zweifle zwar keinen Augenblick, daß jene Rabbiner wirklich nach solchen Grundsätzen handeln, und auch ihre Gemeinden hierzu zu erziehen suchen, allein dann handeln sie unter dem Einflusse christlicher Ethik und gegen die Ethik des talmudischen Judentums (Hervorhebung nicht im Original). Da man hierdurch noch nicht zum Christen wird, so ist jedenfalls kein Grund vorhanden, den Sachverhalt zu verdunkeln, zumal es noch nie Vortheil gebracht hat, Thatsachen zu leugnen, welche Jedermann zu constatiren vermag.“ G. Karpeles, in: Allgemeine Zeitung des Judentums 58 (1894), Nr. 20, S. 229 f. warf Stade einen gefährlichen „wissenschaftlichen Antisemitismus“ vor: „Wie, wenn ein angehender christlicher Theologe diesen Passus liest, muß er nicht, außer Stande, ihn einer selbständigen Nachprüfung zu unterziehen, zu Anschauungen über Juden und Judenthum gelangen, die auf sein späteres Wirken einen unheilvollen Einfluß üben?“ 61 Zitiert nach dem Referat in: Im Deutschen Reich 2 (1896), Nr. 12, S. 640 f. 62 H. Hildesheimer, in: Im Deutschen Reich 3 (1897), Nr. 2, S. 11.
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werde“, doch er habe dies immer damit verbunden, ungerechten Urteilen entgegenzutreten. „Wer diese Art des ,Missionirens‘ verurtheilt, dessen Tadel wird mein Gewissen nicht beunruhigen.“63 In der Tat zog sich durch alle Schriften Stracks der Gedanke, Mission müsse sich immer durch die Liebe bewähren und mit solidarischem Handeln verbinden. Allein durch Gerechtigkeit gegenüber den Juden und der jüdischen Religion sowie durch ein vorbildhaftes Leben könne man die Überzeugung wecken, „daß es etwas Schönes, Großes, Gutes ist, Christ zu sein.“64 Das Gebot der Nächstenliebe gelte „insonderheit den Juden, als von welchen der Heiland stammt nach dem Fleisch und welche er zu sich zu ziehen und so zum Vater zu bringen sich bemüht hat alle Tage seines Erdenwandels.“ Gerade aus der Liebe zu Christus erwachse daher die Aufgabe, die Stimme gegen Verleumdungen zu erheben. Wie ein Leitmotiv zieht sich durch Stracks Schriften seit dem frühen Angriff gegen Stoecker zudem die Warnung davor, daß unwahre Angriffe auf die jüdische Religion das, was Juden und Christen trenne, zu einer „unüberbrückbaren und unausfüllbaren Kluft“ vertieften: Die Juden müssen von Haß und Verachtung erfüllt werden zunächst wider die unwahrhaftigen Angreifer ihrer Religion; in weiterer Folge können sie kaum umhin auch über die Religion ihrer Angreifer geringschätzig zu denken, und das kann nicht ohne Einfluß bleiben auf ihre Beurteilung der Person Jesu, des Stifters der Religion ihrer Angreifer. Weh dem Menschen, durch welchen Ärgernis kommt.65
Jüdische Beobachter hatten dennoch nicht das Empfinden, daß Strack den Antisemitismus in erster Linie bekämpfte, weil dieser den Zielen der „Judenmission“ entgegenstand, sondern würdigten, öffentlich wie privat, die Wahrheitsliebe, die sein unermüdliches Engagement motivierte. In einer Rezension über Stracks Aufklärungsbroschüren urteilte etwa Immanuel Deutsch, Strack gehöre zu den „erlesenen, gesinnungstüchtigen, überzeugungstreuen, christlichen Gelehrten“, die „mannhaft
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Zitiert nach Im Deutschen Reich 3 (1897), Nr. 3, S. 181. H. L. Strack, „Die Pflichten des Christen gegen die Juden“ in: Nathanael 30 (1914), Nr. 4, S. 100–105, Zitat S. 104. 65 Ders., „Sind die Juden Verbrecher von Religions wegen“, S. 100. Als Strack 1901 vom Wiener Deutschen Volksblatt ein „kleiner Judenvertheidiger“ genannt wurde, schrieb die Zeitschrift Im Deutschen Reich 7 (1901), Nr. 10, S. 543 f.: „Das heißt, die Dinge auf den Kopf stellen, denn als christlicher Missionar vertheidigt Dr. Strack nicht die Juden, sondern bekämpft nur als Christ Fälschungen des ihm genau bekannten jüdischen Schriftthums und den das Werk der Mission in Israel vollständig vereitelnden Rassen-Antisemitismus.“ 64
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und muthig, tapfer und beherzt im Dienste der unbestechlichen Wahrheit und Gerechtigkeit“ den Kampf gegen den Haß aufgenommen hätten. Wie Herkules in den Augiasställen habe er gründlich mit den „noch so dicht und fest gesponnenen Lügengeweben der Verleumdung“ aufgeräumt.66 Die Hochachtung, die sich Strack durch seine solidarische Haltung erwarb, spiegelt sich eindrucksvoll in Briefen wider, die ihm jüdische Kollegen 1900 anläßlich seiner Arbeit über den Blutaberglauben schrieben. Der Posener Oberrabbiner Wolf Feilchenfeld sprach ihm den „wärmsten Dank“ für die Zusendung des „ebenso gelehrten wie lehrreichen Werkes“ aus, ganz besonders aber für sein „mannhaftes Eintreten zum Schutze meiner armen, gekränkten und vielfach verfolgten Glaubensgenossen.“ Julius Theodor, Midraschforscher und Rabbiner von Bojanowo/Posen, hob seinen „ehrerbietigsten Dank“ für das Werk hervor, das die „gegen das Judenthum gerichteten schmachvollsten und grundlosesten Anschuldigungen“ im Interesse der „reinsten Wahrheit und im heiligsten Eifer“ zurückgewiesen habe. Mit „tiefer Ergriffenheit“ habe er vor allem das Vorwort gelesen: In einem ruhigen und friedlichen Wirkungskreise lebend, hätte ich nie ahnen können, daß Ihr offenes Eintreten für Ihre Überzeugungen, Ihr edler Kampf für Recht und Wahrheit, den Sie nur mit den Waffen der Wissenschaft führen, Ihnen leider Beschimpfungen und schwere Nachteile gebracht haben. Möge der allgütige Gott bald die Zeiten wandeln!67
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I. Deutsch, in: Jüdisches Litteratur-Blatt 24 (1900), Nr. 6, S. 41–43, Zitat S. 41. Briefe von Wolf Feilchenfeld vom 22. April 1900 sowie von Julius Theodor vom 29. März 1900. Der Frankfurter Rabbiner Markus Horovitz hatte Strack bereits am 16. November 1892 gemeinsam „mit allen Freunden der Wahrheit und Wissenschaftlichkeit“ „innigen Dank“ bekundet. Der Mannheimer Rabbiner Moritz Steckelmacher zeigte sich in seinem Brief vom 23. April 1900 durch Stracks „wahrhaft sittlich-religiösen Geist erhoben und zur Bewunderung hingerissen.“ Kritisch vermerkte er, daß Strack die Möglichkeit eingeräumt hatte, daß Juden im Mittelalter gelegentlich aus Christenhaß zu Ostern Christenkinder gekreuzigt hätten, ohne daß dies allerdings rituellen Charakter gehabt hätte. Hier müsse gefragt werden, ob er „mit dieser Einräumung nicht unseren Widersachern, ohne es zu wollen, ein Thürchen zu ihren wüsten Verleumdungen weiter geöffnet“ habe. Steckelmacher bezog sich auf Strack, Das Blut im Glauben und Aberglauben der Menschheit, S. 125: „Man that einem Christen an, was einst Jesu angethan ward und was man gerne allen denen angethan hätte, von denen man gehaßt, verfolgt und getötet wurde.“ Alle zitierten Briefe befinden sich im Nachlaß des Historikers Moritz Stern, der seit 1905 Direktor der jüdischen Gemeinde zu Berlin war (Sammlung M. Stern, Central Archives for the History of the Jewish People, Jerusalem (CAHJP P 17/61). Stern hatte die Briefe gesammelt, da er an der Thematik interessiert war und sich selbst speziell mit den Quellen zur Blutbeschuldigung in der frühen Neuzeit beschäftigt hatte, vgl. M. Stern, „Schachmatt den Blutleugnern“, in: Jüdische Presse 22 (1891), Nr. 4, 33–35; Nr. 5, S. 53–55; Nr. 6, S. 78–80. 67
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Der Posener Rabbiner und Historiker Philipp Bloch reagierte auf Stracks Bekenntnis, er erachte es als seine „heilige Pflicht als eines christlichen Theologen“, dazu beizutragen, „daß in Israel die Überzeugung Raum gewinne und fest werde: Jesus will nicht Lüge, sondern Wahrheit, nicht Haß, sondern Liebe; Er macht die gerecht, welche wirklich an ihn glauben, und er ist es wert, daß in seinem Namen Menschenknie sich beugen“: Diese Sorge, so Bloch, treffe vielleicht noch mehr zu, als er ahne, denn Juden müßten angesichts der antisemitischen Hetze schließlich „zu dem Glauben kommen, daß Alles auf Erden nichts weiter als eine Machtfrage ist, und daß selbst denen, die Gottesworte walten sollen, die Religion nur als eine Art Politik, nicht als das süsseste, heiligste Herzensbedürfnis gilt.“ Um so erfreulicher sei es, „endlich wieder Einem zu begegnen, der nach nichts Anderem, als nach Wahrheit und Gerechtigkeit strebt und sich bemüht, für wahre Religiosität Zeugnis abzulegen.“ Gerade weil solche Theologen immer seltener würden, dürfe man zu Strack sagen: „Sie haben jedenfalls, in welchem Sinne Sie auch es auffassen wollen, ,den Namen Gottes geheiligt‘.“68 Strack trat auch nach der Jahrhundertwende immer wieder für die Belange der jüdischen Gemeinschaft ein und verfolgte insbesondere die Entwicklung in Rußland mit großer Besorgnis. 1903 warnte er ange68 Strack, Das Blut im Glauben und Aberglauben der Menschheit, S. X. Brief von Philipp Bloch vom 29. März 1900 (Sammlung M. Stern). Vgl. auch die im Archiv des Jewish Theological Seminary in New York aufbewahrte Sammlung von 23 Briefen von Rabbinern, denen Strack jeweils zwei Exemplare des Buches zugesandt hatte. Es handelt sich dabei zumeist um orthodoxe Rabbiner (darunter Max Beermann, Insterburg; Salomon Posner, Karlsruhe; Sinai Schiffer, Karlsruhe; Salomon Stein, Schweinfurt; Siegmund Tepler, Halle; Moses Löb Bamberger, Schildberg; Gustav Wachenheimer, Aschaffenburg; Seligmann Pick, Straßburg), aber auch Sigmund Maybaum von der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums in Berlin und der liberale Rabbiner Heinemann Vogelstein aus Königsberg dankten ihm. Vogelstein schrieb am 16. April 1900: „Es ist betrübend genug, daß gegenwärtig noch immer ein solches Buch eine Notwendigkeit ist; um so dankenswerter aber und erfreulicher ist es, daß ein Gelehrter, den Schmerz und Widerwillen überwindend, die ihn bei dem Studium dieser Dinge erfassen, einzig und allein um der Wahrheit und Gerechtigkeit einen Dienst zu leisten, ein solches Buch schreibt. Das ist es, verehrter Herr Professor, wofür ich Ihnen ganz besonders dankbar bin, wofür Ihnen meines Erachtens jeder Freund der Wahrheit, welcher Confession er auch angehören mag, dankbar sein muß. Wer Ihr Buch einigermaßen unbefangen liest, muß von der Unsinnigkeit des Blutmärchens überzeugt werden.“ Der Leipziger Nathan Porges schrieb am 11. April 1900: „Je betrübender es ist, daß dieser von Beschränktheit und Niedertracht genährte Aberglaube noch immer seinen bösen Spuk treibt, desto erfreulicher ist, daß ein Mann wie Sie, gewappnet mit dem ganzen Rüstzeuge der Gelehrsamkeit und Gewissenhaftigkeit diesen Aberglauben aufs nachdrücklichste und gründlichste zu Leibe geht. Möchte doch Ihr Wort der Hammer werden, der Felsen zerschlägt.“
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sichts der öffentlich geduldeten Pogrome in Kischinew vor ähnlichen Entwicklungen in Westeuropa.69 1913 nahm er in einem Gutachten Stellung zum aufsehenerregenden Ritualmordprozeß gegen Mendel Beilis in Kiew.70 Noch 1920, wenige Jahre vor seinem Tod, wandte er sich gegen die antisemitisch-völkische Agitation und unternahm es, in seinem Buch über Jüdische Geheimgesetze? die berüchtigten „Protokolle der Weisen von Zion“ als Fälschung zu entlarven.71 Auch seine während des Ersten Weltkriegs veröffentlichten philogischen Arbeiten zur Erschließung des Jiddischen (etwa sein Jüdisches Wörterbuch mit besonderer Berücksichtigung der gegenwärtig in Polen üblichen Ausdrücke, Leipzig 1916) dienten aufklärenden Zwecken und sollten ein besseres Verständnis der osteuropäisch-jüdischen Bevölkerung herbeiführen, der vor allem deutsche Soldaten an der Front verstärkt begegnet waren.
III. Stracks judaistische Forschungstätigkeit und sein Verhältnis zur Wissenschaft des Judentums Fast noch wichtiger als Stracks aufklärende Schriften wurden aus der Sicht jüdischer Gelehrter seine immer wieder bewundernd als sachlich und objektiv gewürdigten philologischen Arbeiten. Als nach der Jahrhundertwende die antisemitische Agitation vorübergehend an Schärfe verlor, verlagerte sich die Aufmerksamkeit jüdischer Gelehrter interessanterweise erkennbar auf Stracks Forschungen zur Geschichte der jüdischen Literatur. Was dieser „in den Zeiten, da der Antisemitismus seine Orgien feierte, in den Tagen der Blutritualprozesse“ für die Juden getan habe, schrieb 1910 Eduard Biberfeld, Rabbinatsassessor der orthodoxen Berliner Austrittsgemeinde Adass Jisroel, „das ist für immer in unsere Herzen geschrieben.“ Weit wichtiger sei jedoch seine „in stiller und steter Forschung geleistete Arbeit für die Verbreitung der Kenntnisse jüdischen Schrifttums in nichtjüdischen Kreisen“, denn
69 H. L. Strack, „Ostern 1903 in Kischinew oder: Betrübende Folgen unchristlichen Herzens wider die Juden“, in: Nathanael 19 (1903), S. 92. 70 Vgl. Jüdische Presse 48 (1917), Nr. 19, 203–205. 71 „Unendlich dankbar“, schrieb der Breslauer Historiker Markus Brann, Herausgeber der Monatsschrift für die Geschichte und Wissenschaft des Judentums, am 5. August 1920 darauf in einem Brief an Strack, „bin ich Ihnen für die Unermüdlichkeit, mit der Sie all diesem Unsinn immer wieder von neuem entgegentreten.“ (Nachlaß M. Brann, Jewish National University Library (JNUL), Jerusalem, Acc. Ms. Var 308/1217).
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mehr als alle Apologetik könne „eine wirkliche Kenntnis des jüdischen Schrifttums die Vorurteile über dies Schrifttum, die nun einmal durch Jahrtausende lange Gewöhnung den Christen förmlich angeboren sind, aus den Köpfen [. . .] entfernen.“ Auch bei der Bewertung von Stracks judaistischen Schriften stand jedoch der Gedanke im Vordergrund, daß die nichtjüdische Öffentlichkeit den Schriften eines christlichen Forschers ein höheres Maß an Objektivität zuschreiben werde als Werken aus jüdischer Feder: Mehr als hundert apologetische Auseinandersetzungen, die von Juden ausgehen, wirkt ein Buch, das von einer der ersten christlichen Autoritäten geschrieben ist, zumal wenn es sich nicht um eine Verteidigungsschrift handelt, sondern um eine nüchterne Darstellung juristischer und ritueller Bestimmungen.
Der missionarische Kontext der Arbeiten Stracks sei dabei sogar eher positiv zu bewerten, da selbst der „Übelwollende“ nicht an der Sachgemäßheit all dessen zweifeln könne, „was hier vom jüdischen Schrifttum geschrieben wird.“72 Daß auch in diesem Votum Stracks wissenschaftliche Arbeit in erster Linie unter dem Aspekt ihrer aufklärenden Wirkung begegnet, entsprach durchaus dem Selbstverständnis des Berliner Theologen. So verstand er sein wichtigstes Werk, die Einleitung in den Talmud (1887), mit dem er zum Begründer der modernen christlichen Talmudforschung in Deutschland wurde73, zwar als „Versuch, objektiv und wissenschaftlich über das Ganze des Thalmuds zu belehren“, in dem Bemühen, sich „weder von polemischem noch von apologetischem Interesse“ beeinflussen zu lassen, sondern „ausschließlich der Wahrheit zu dienen.“ Gelänge es ihm damit jedoch, so fügte er hinzu, zum Abbau von Vorurteilen beizutragen, und zwar sowohl bei denen, „die dem Thalmud unbedingt feindlich sind“, als auch bei „seinen übereifrigen Verehrern“, so werde er für seine Arbeit reich belohnt sein.74 72 E. Biberfeld, „Ein Religionsgespräch“, in: Der Israelit 51 (1910), Nr. 31, S. 12. Vgl. die Besprechung einiger von Strack herausgegebener Mischnatraktate durch J. Wohlgemuth, in: Jeschurun 2 (1915), S. 289 f.: Die Wirkung der jüdischen Apologetik sei beschränkt, weil man sie als Verteidigung in eigener Sache mit Mißtrauen betrachte. Aber auch dort, wo die Verteidigung von Christen geleistet werde, könne sie „ihre volle Kraft nicht entfalten, weil eben jeder Apologetik eine Tendenz anhaftet und Tendenzschriften von vorneherein an Überzeugungskraft einbüßen.“ Um so dankbarer müsse man für die rein wissenschaftliche Beschäftigung Stracks mit der jüdischen Literatur sein. 73 Zur Bedeutung der Arbeiten Stracks zur rabbinischen Literatur vgl. G. Stemberger, „Hermann L. Stracks Beitrag zur Erforschung der rabbinischen Literatur“, in: Hermann L. Strack und das Institutum Judaicum in Berlin, hrsg, von R. Golling u. P. von der Osten-Sacken, S. 53–69. 74 Zitiert nach H. L. Strack, 18942 (18871, V (Vorwort zur ersten Auflage).
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In der 1894 erschienenen Neuauflage hob er hervor, gerade zu Beginn der neunziger Jahre habe sich „das Vorhandensein einer wirklichen Aufklärung über das Wesen des Thalmuds“ als Notwendigkeit „nicht nur für Theologen und Orientalisten, sondern auch für Juristen und Staatsmänner“ erwiesen.75 Hatte Strack sein Werk zunächst verfaßt, „ohne auch nur eines Fadens oder Schuhriemens Wert an Mitteilungen von Juden oder Judenchristen erbeten oder angenommen zu haben“, um den öffentlichen Beweis zu erbringen, daß „auch für ein wissenschaftliches Urteil der Christ nicht mehr von dem abhängig ist, was Juden ihm über den Thalmud mitzuteilen für gut halten“, so dankte er in der überarbeiteten 4. Auflage 1908 ausdrücklich Abraham Berliner, David Hoffmann, Moritz Steinschneider und dem Dozenten für Talmud an der Israelitisch-Theologische Lehranstalt in Wien, Samuel Krauss, für „freundlichen Rat.“76 Der Wandel in der Beziehung zu jüdischen Kollegen, der sich darin andeutete, spiegelte sich auch in der jüdischen Rezeption seines Buches wider. War lange Zeit – abgesehen von der Würdigung der aufklärerischen Funktion des Buches77 – sein Wert für das Studium des Talmud eher am Rande vermerkt worden78, so trat spätestens 1908 seine wissenschaftliche Leistung in den Vordergrund. Der Orientalist Immanuel Löw aus dem ungarischen Szegedin betonte, Stracks Werk stelle zur Zeit das „einzige methodisch einwandfreie“ Werk zur Einführung in die talmudische Literatur dar, und das von ihm bereitgestellte Material verdiene „von seiten der Pfleger des traditionellen Talmudstudiums“ viel größere Beachtung.79 Auch der berühmte Orien-
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Ebd., S. V (Vorwort zur 2. Auflage). Vgl. ders., 19084, V. Ders., 18942, S. VI vgl. ders., 19084, S. V. 77 Vgl. u. a. Der Israelit 35 (1894), Nr. 24/25, S. 447; Allgemeine Zeitung des Judentums 58 (1894), Nr. 12, S. 144; Im Deutschen Reich 2 (1896), Nr. 3, S. 184–186; Im Deutschen Reich 6 (1900), Nr. 8, S. 435 f. Besonderen Beifall fand, daß Stracks Kapitel „Zur Charakteristik des Talmud“ das Vorurteil der talmudfeindlichen Literatur seit Eisenmenger, der Talmud sei „ein Sammelsurium von Albernheiten und Gemeinheiten, sowie von Feindseligkeiten gegen das Christentum“, zu entkräften suchte; er müsse vielmehr als im historischen Kontext Palästinas und Babyloniens in der Antike verankertes Diskussionsbuch verstanden und unter Berücksichtigung der dynamischen Auslegungstradition des Judentums bewertet werden, vgl. Strack, 19084, S. 113 f. 78 Vgl. aber die ausgesprochen positive Würdigung von M. Steinschneider, in: Deutsche Literaturzeitung 10 (1889), Nr. 13, S. 461 f. 79 I. Löw, in: Orientalistische Literaturzeitung 12 (1909), Nr. 7, S. 317. Zur freundschaftlichen Beziehung zwischen Strack und Löw vgl. H. Schmelzer, „Hermann Leberecht Strack: Die Wissenschaft des Judentums als Dialog (Anhang: Unveröffentlichter Brief von H. L. Strack an Oberrabbiner Immanuel Löw vom 21. August 1907)“, in: Ju76
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talist und Professor an der Landesrabbinerschule in Budapest, Wilhelm Bacher, und Viktor Aptowitzer, Talmudist an der Israelitisch-Theologischen Lehranstalt in Wien, werteten Stracks Einleitung als sorgfältige Darstellung der Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte des Talmud, die auch dem Talmudkenner gute Dienste leisten könne.80 Wie schwer dieses Lob wiegt, wird erst wirklich deutlich, wenn man bedenkt, daß gerade Bacher und Aptowitzer zu den strengsten Kritikern der christlichen Talmudgelehrsamkeit zählten und etwa die Anfänge der Edition der Gießener Mischna, vor allem die Herausgeber der ersten Traktate, einer vernichtenden Kritik unterzogen hatten. Während Georg Beers Kommentierung des Traktates Schabbat mit Recht als antisemitisches Machwerk verurteilt wurde, galt Oscar Holtzmanns Ausgabe des Traktates Pesachim als paradigmatisches Beispiel philologischhistorischer Unzulänglichkeit christlicher Forscher, die sich ohne entsprechende Ausbildung und ohne wissenschaftliches Gespräch mit jüdischen Fachleuten an rabbinische Texte heranwagten.81 Auch Strack
daica 49 (1993), S. 81–87. A. Katz, in: Allgemeine Zeitung des Judentums 72 (1908), Nr. 45, S. 537 f. hielt die Einleitung in ihrer einzigartigen systematischen Ordnung für ein unentbehrliches Nachschlagewerk und empfahl den orthodoxen Talmudkennern, sie als wissenschaftliche Ergänzung zu ihrem praktischen Umgang mit dem Talmud heranzuziehen (538). E. Biberfeld, „Ein ,Religionsgespräch‘“, in: Der Israelit 51 (1910), Nr. 31, S. 12 hielt fest, daß es sich bei Stracks Einleitung um eine bisher einzigartige orientierende Arbeit handelte. „Das ist bei der umfassenden wissenschaftlichen Arbeit, die von jüdischen Gelehrten in Einzelfragen geleistet worden ist, und von der die bei Strack angegebene Literatur zeugt, sehr zu bedauern. Um so dankbarer dürfen wir dem Verfasser sein, daß er die große Mühe nicht gescheut hat, diese zusammenfassende Arbeit zu schaffen und sie durch Berücksichtigung der Neuerscheinungen und stete Erweiterung auf der Höhe zu halten.“ 80 W. Bacher, in: Zeitschrift der Deutsch-Morgenländischen Gesellschaft 63 (1909), S. 205–207 und V. Aptowitzer, in: Monatschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 53 (1909), S. 383 f; Aptowitzer verglich das Buch mit einem „Hausboot“, das Juden und Christen, die eine Fahrt auf dem „großen, weiten Meer“ des Talmud aufgrund ihres fehlenden Vorwissens nicht unternehmen könnten, ohne große Mühen „gründliche und erschöpfende Belehrung“ biete (383); vgl. L. Blau, in: Revue des Etudes Juives 7 (1909), S. 140–149. 81 Vgl. vor allem Aptowitzer, „Christliche Talmudforschung“, in: Monatsschrift für die Geschichte und Wissenschaft des Judentums 57 (1913), S. 1–23; 129–152; 272–283; Monatsschrift für die Geschichte und Wissenschaft des Judentums 58 (1914), S. 386–394; W. Bacher, „Eine neue Mischnaausgabe“, in: Deutsche Literaturzeitung 33 (1912), S. 3205–3213. F. Perles, in: Orientalistische Literaturzeitung 16 (1913), Nr. 2, S. 77 betrachtete die wissenschaftlichen Mängel bei Holtzmann als „traurige Folgeerscheinung“ der Diskriminierung der Wissenschaft des Judentums. Um so mehr erschien es ihm als „elementare“, wenn auch unerfreuliche Pflicht jüdischer Forscher, „den Einbruch Unberufener in dieses Gebiet ohne jede Schonung zurückzuweisen.“ Er empfahl Holtzmann, sich zunächst mehrere Jahre lang dem Talmudstudium bei einem guten Lehrer zu
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warf Holtzmann vor, die christliche Judentumskunde bei Juden durch seine Inkompetenz in Verruf zu bringen: „Wer hier lehren will, muß gründlich gelernt haben (was anfangs ohne jüdische Lehrer kaum möglich), damit er nicht den Juden gegenüber schwere Blößen sich gebe und dadurch der Achtung, welche der von Christen gepflegten Wissenschaft gebührt, Schaden zufüge.“82 Strack jedenfalls konnte sich als einziger protestantischer Gelehrter dieser Achtung gewiß sein. Uneingeschränkte Würdigung erfuhren neben der Einleitung etwa auch seine Arbeiten Die Sprüche Jesus, des Sohnes Sirachs (1903)83 und Jesus, die Häretiker und die Christen (1910). Bedenkt man die Brisanz des antisemitischen Vorwurfs der „Christentumsfeindlichkeit“ des Talmud, so war es von nicht unerheblicher Bedeutung, daß Strack in der zuletzt genannten Schrift die rabbinischen Quellen, die sich scheinbar oder tatsächlich auf Jesus und das junge Christentum bezogen, in Urtext wie Übersetzung zusammenstellte und kommentierte, um die Diskussion zu versachlichen.84 Lob erhielt Strack auch für die seit 1888 in mehreren Auflagen veröffentlichten kritischen Ausgaben und Übersetzungen wichtiger Mischnatraktate. Die jüdischen Forscher zeigten sich davon beeindruckt, daß ein christlicher Theologe wie Strack, „der streng auf dem Boden des positiven Christentums“ verharrte, nicht nur im Besitz des philologischen Instrumentariums zur Bewältigung einer solchen Aufgabe schien, sondern zugleich bestrebt war, „in seinen Forschungen die jüdische Tradition respektierend zu berücksichtigen“ und das religionsgeschichtliche Material auch zur Erhellung der Evangelien heranzuziehen. Sie hofften daher, Strack könne dazu beitragen, „daß die jüdische Literatur
widmen; bis dahin müßten jüdische Forscher wünschen, „ihm nur auf neutestamentlichem Gebiete zu begegnen.“ Vgl. die Analyse des Diskurses über die Gießener Mischna bei C. Wiese, Wissenschaft des Judentums, S. 317–327. 82 H. L. Strack, in: Theologisches Literaturblatt 3 (1912), Nr. 21, S. 481–483, Zitat S. 481. O. Holtzmann, in: Theologisches Literaturblatt 33 (1912), Nr. 23, S. 531 warf daraufhin dem Kreis jüdischer und christlicher Gelehrter, der bisher die talmudischen Studien alleine getrieben habe, vor, er versuche „mit Keulenschlägen jeden niederzuschmettern, der in sein geheiligtes Gehege“ eindringen wolle. „Auch damit schadet man nicht nur seinem eigenen Rufe, sondern bringt auch das wissenschaftliche Arbeiten (seines jüdischen oder christlichen Kreises) in Verruf.“ 83 Vgl. I. Elbogen, in: Allgemeine Zeitung des Judentums 68 (1904), Nr. 22, S. 263. 84 Aptowitzer, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 55 (1911), S. 193 f. betonte, Strack habe auch hier „den Theologen und Apologeten ausgezogen“ und einzig „den streng objektiven [. . .] Wissenschaftler das Wort führen“ lassen; vgl. Bacher, in: Theologische Literaturzeitung 35 (1910), Nr. 19, S. 584 f.; Jüdisches Litteratur-Blatt 34 (1912), Nr. 1, S. 42–44.
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in christlichen wie insbesondere in jüdischen Kreisen die ihr gebührende Würdigung, Anerkennung und Förderung“ finden werde.85 Aus diesen Äußerungen wird ersichtlich, daß es der Wissenschaft des Judentums nach der Jahrhundertwende nicht mehr so sehr um die Verteidigung gegen die „Talmudhetze“ ging, sondern weit entschiedener um die Forderung nach objektiver religionsgeschichtlicher Erforschung jüdischer Quellen im Kontext der neutestamentlichen Zeitgeschichte und nach Berücksichtigung der jüdischen Forschung. In der Auseinandersetzung um das „Wesen des Judentums“, die 1900 im Gefolge der Vorlesungen des Berliner Kirchenhistorikers Adolf von Harnack über das „Wesen des Christentums“ und der von theologischen Vorurteilen belasteten „Spätjudentumsforschung“ der „Religionsgeschichtlichen Schule“ entbrannt war, hatten jüdische Gelehrte mit großem Selbstbewußtsein die historisch-philologischen Schwächen ihrer protestantischen Kollegen aufgedeckt, die ideologisch motivierte Herauslösung Jesu von Nazareth aus seinem pharisäischen Kontext kritisiert, die Berücksichtigung der rabbinischen Literatur zur Erhellung der neutestamentlichen Zeitgeschichte angemahnt, sich als kompetente Gesprächspartner auf diesem Gebiet angeboten und um einer vorurteilslosen Erforschung jüdischer Geschichte und Literatur willen die Etablierung von Lehrstühlen für die Wissenschaft des Judentums an deutschen Universitäten gefordert.86 Diese Herausforderung war insofern nicht ganz folgenlos geblieben, als mit der Zeit in der neutestamentlichen Forschung das Bewußtsein für die Bedeutung der Rezeption der rabbinischen Literatur wuchs und vereinzelt Stimmen laut wurden, die dem institutionell durch die Etablierung von entsprechenden – allerdings christlich dominierten – Lektoraten in diesem Bereich Rechnung tragen wollten. Aus jüdischer Sicht war Strack ein Vorreiter dieses allmählichen wissenschaftlichen Paradigmenwechsels und setzte Maßstäbe, indem er nicht nur den von Paul Billerbeck verfaßten Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch anregte, sondern vor allem stets im Gespräch mit der Wissenschaft des Judentums blieb und durch zahllose Rezensionen ihre Forschungsergebnisse der protestantischen Theologie zugänglich machte.
85 A. Katz, in: Allgemeine Zeitung des Judentums 76 (1912), Nr. 35, S. 418; vgl. Bacher, in: Theologische Literaturzeitung 37 (1912), Nr. 10, S. 294 f und ders., in: Theologische Literaturzeitung 37 (1912), Nr. 24, S. 742 f; Wohlgemuth, in: Jeschurun 2 (1915), S. 289 f. 86 Vgl. Wiese, Wissenschaft des Judentums, S. 131–178 und S. 294–360.
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Gerade an diesem Punkt sind jedoch rückblickend kritische Perspektiven angebracht. Wie sich Strack die Beziehung von christlicher Judaistik und Wissenschaft des Judentums vorstellte, wird am Beispiel der Initiative deutlich, mit der er 1912 versuchte, das Institutum Judaicum Berolinense aus einem vorwiegend der Ausbildung von Missionaren verpflichteten Institut in ein wissenschaftliches „Seminar für nachbiblisches Judentum“ umzuwandeln. Die Berliner Theologische Fakultät unterstützte diese Idee und beantragte beim Preußischen Kultusministerium, Strack möge ein jüdischer Gelehrter als Assistent zur Seite gestellt werden.87 Das beiliegende Gutachten Stracks hob hervor, Kenntnisse der jüdischen Geschichte und Literatur seien nicht nur für die allgemeine Sprach- und Kulturgeschichte, sondern vor allem für die theologische Wissenschaft relevant und zudem für „das neueste christliche und deutsche Verständnis der ,Judenfrage‘ unerläßlich“.88 Die eigentliche Problematik der Initiative Stracks wird nicht nur im Festhalten an der missionarischen Zielsetzung des Seminars sichtbar, sondern auch darin, wie er sich die Stellung des jüdischen Gelehrten vorstellte. In seinem Gutachten machte er geltend, er bedürfe zur Ergänzung seiner eigenen Lehrtätigkeit der Hilfe eines „geborenen Israeliten“, der durch seine Verwurzelung in der jüdischen Tradition als „gegenwärtigen geistigen Besitz“ habe, was ein christlicher Gelehrter trotz noch so guter Kenntnisse erst mühsam erwerben müsse.89 Offenbar kam es bei einer Besprechung innerhalb der Fakultät am 17. Mai 1912 zur Diskussion darüber, ob und unter welchen Bedingungen ein jüdischer Forscher an einer theologischen Fakultät lehren dürfe. Strack fügte seinem Gutachten daraufhin, offenbar auf Druck der Fakultät, einen Passus an, der betonte, die Abteilung für nachbiblisches Juden-
87 Schreiben der Theologischen Fakultät der Königlichen Friedrich Wilhelms-Universität vom 14. Juni 1912 an das Ministerium der geistlichen und Unterrichtsangelegenheiten, in: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA PK), Kultusministerium, Rep. 76–Va, Sekt. 2, Nr. 186 (Acta betreffend: das Seminar für nachbiblisches Judentum an der Universität Berlin), Bl. 1–2. Die Fakultät begründete dies mit der „immer größeren Bedeutung, die das Studium des nachbiblischen Judentums für die neutestamentliche und dogmenhistorische Forschung in der Gegenwart genommen“ habe. 88 Gutachten H. L. Stracks an die Theologische Fakultät (15. April 1912), in: GStA PK, Kultusministerium, Rep. 76–Va, Sekt. 2, Nr. 186, Bl. 3–5, bes. Bl. 3. Als Aufgabengebiet des Seminars sah Strack Grammatik des nachbiblischen Hebräisch und Aramäisch, Lektüre ausgewählter Mischnatrakte und Midraschim, jüdische Liturgie, Exegese und Poesie, Religionsphilosophie, Chassidismus, jüdische Geschichte, neuere und neueste jüdische Literatur und Jiddisch vor (Bl. 5). 89 GStA PK, Kultusministerium, Rep. 76–Va, Sekt 2, Nr. 186, Bl. 4.
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tum solle „unbeschadet der Selbständigkeit ihres Arbeitens“ dem Alttestamentlichen Seminar angegliedert werden. Die jüdische Lehrkraft solle den Titel „Assistent“ erhalten, die Anstellungsbedingungen müßten „dafür sorgen, daß der evangelische Grundcharakter dieser Seminarabteilung gewahrt bleibt.“90 Am 30. Juni 1913 – die Entscheidung des Kultusministeriums war vorläufig vertagt worden – legte Strack seinen Antrag erneut vor, diesmal erweitert um einen Abschnitt über die „Notwendigkeit des Lehrens durch einen Christen.“ Darin betonte er, es sei „nützlich, ja notwendig, daß an den Rabbinerseminaren Wissenschaft des Judentums gelehrt werde, unverzichtbar aber sei, daß all dies auch von Christen und vom christlichen Standpunkt gelehrt werde:“ Wie man in Deutschland Chinesisch und Japanisch nicht nur von Chinesen und Japanern lernt, sondern auch von Deutschen und manches von diesen besser, so muß man bei Christen auch über Judentum und jüdische Literatur sich Rats erholen können, ja gerade hierüber wegen der Wichtigkeit dieser Lehrgegenstände für unsere Kirche.91
Am 8. Juli 1914 formulierte Strack in einem weiteren Antrag, die Kenntnis des nachbiblischen Judentums könne „durch Juden, selbst bei bestem Willen und großer Gelehrsamkeit, nicht in einer die berechtigten Ansprüche von Christen wirklich befriedigenden Weise vermittelt werden.“92 Der für die Berliner Fakultät vorgesehene jüdische Gelehrte sollte den Status eines Assistenten unter „Leitung durch einen Christen“ und „mit Vorbehalt der Kündigung“ erhalten und langfristig Universitätslehrer heranbilden, die das Fach aus christlicher Sicht vertreten 90 GStA PK, Kultusministerium, Rep. 76–Va, Sekt 2, Nr. 186, Bl. 4. Der Antrag der Fakultät an das Kultusministerium wollte noch keinen definitiven Vorschlag machen. Möglich erschien danach grundsätzlich die „Herstellung einer neuen, dem nachbiblischen Judentum gewidmeten Abteilung des Theologischen Seminars.“ In dieser Form gehöre diese jedoch eher in die philosophische, nicht in die theologische Fakultät, weil eine selbständige Stellung der Erforschung des Judentums „den Zusammenhang mit dem Betrieb der theologischen Disziplinen und Interessen in keiner Weise wahrnehmbar“ mache. Am besten sollte das der „Judenmission“ gewidmete Institutum Judaicum Stracks durch eine neue Abteilung ergänzt werden, die einen jüdischen Assistenten beschäftige. „Auf diese Weise ließe sich die Berechtigung einer derartigen Einrichtung an einer theologischen Fakultät durch den, wenn auch indirekten, Zusammenhang mit dem Zwecke der Judenmission am ehesten rechtfertigen“ (Bl. 2). 91 Antrag H. L. Stracks vom 30. Juni 1913 an die Theologische Fakultät Berlin, in: GStA PK, Kltusministerium, Rep. 76–Va, Sekt.2, Nr. 186, Bl. 7–9, Zitate Bl. 8 (Hervorhebungen im Original). 92 Antrag H. L. Stracks vom 8. Juli 1914 an die Theologische Fakultät Berlin, in: GstA PK, Kultusministerium, Rep. 76–Va, Sekt.2, Nr. 186, Bl. 16–17, Zitate Bl. 16.
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konnten.93 Stracks Argumentation, die er zugegebenermaßen auf Grund der Skepsis der Berliner Theologischen Fakultät in besonderer Weise zuspitzte, ist gleichwohl bezeichnend für seine insgesamt zwiespältige Haltung gegenüber der Wissenschaft des Judentums. Wohl besaß er ausgeprägtes Interesse an einer christlichen Rezeption der jüdischen Traditionsliteratur und an einer Zusammenarbeit mit jüdischen, insbesondere orthodoxen Kollegen, die er auch zu fördern bereit war.94 Seine theologische Verhältnisbestimmung von Judentum und Christentum verstellte ihm jedoch die Möglichkeit zur uneingeschränkten Anerkennung der wissenschaftlichen Objektivität jüdischer Gelehrter, die für sich und die protestantische Theologie selbstverständlich in Anspruch nahm. Die Initiative Stracks und der Berliner Fakultät zielte eindeutig nicht auf die gleichberechtigte Partizipation der Wissenschaft des Judentums und eine ernsthafte Auseinandersetzung mit jüdischem Selbstverständnis, sondern auf die Förderung einer christlichen Judentumskunde, die sich die Kompetenz eines – bewußt in einem inferioren akademischen Status gehaltenen – jüdischen Gelehrten zunutze machen sollte. Die Grenzen der positiven Bezugnahme Stracks zur Wissenschaft des Judentums kommen in diesem Konzept klar zum Ausdruck. Verständnis für die Anliegen vor allem der jüdisch-liberalen Gelehrten, die in der Kontroverse über das „Wesen des Judentums“ zum Ausdruck kamen, hatte Strack nicht. Ihr Anspruch auf Anerkennung des Existenzrechts eines modernen Judentums, ihre Forderung nach akademischer Gleichberechtigung ihrer Disziplin, ihr Beharren auf der Bewahrung jüdischer Identität und ihre Kritik am Antijudaismus der protestantischen Theologie fanden bei der „Judenmission“ insgesamt kein Gehör. Statt dessen kam es hier zu einer rein apologetischen Reaktion, die
93 GStA PK, Kultusministerium, Rep. 76–Va, Sekt.2, Nr. 186, Bl. 8–9 (Hervorhebung im Original). Die Anträge Stracks wurden – trotz Befürwortung durch Kultusminister August von Trott zur Solz am 23. August 1913 und am 20. Mai 1914 – vor dem Ende des Ersten Weltkriegs seitens des Finanzministeriums nicht bewilligt (GStA PK, Kultusministerium, Rep. 76–Va, Sekt. 2, Nr. 186, Bl. 11–15). Erst 1922 erhielt Strack einen seiner christlichen Schüler, den Studienrat Willi Cossmann aus Spandau, als Assistenten (Bl. 20–25). 94 So befürwortete Strack etwa 1917 gegenüber dem Preußischen Kultusministerium die vom Kuratorium der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums beantragte Verleihung des Professortitels an Eduard Baneth (1855–1930) und Ismar Elbogen (1874– 1943) unter Hinweis auf ihre gründliche Gelehrsamkeit, vgl. GStA PK, Kultusministerium, Rep. 76–Vc, Sekt.2, Tit.16, Bd. III (Die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums), Bl. 416–422.
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deutlich macht, wie sehr auch diese Strömung von traditionellem Überlegenheitsbewußtsein und antijüdischen Stereotypen beherrscht blieb. Symptomatisch dafür ist etwa, daß die 7. Internationale Konferenz für Judenmission, die 1906 in Amsterdam stattfand, sich ausgiebig und wenig verständnisvoll mit den jüdischen Beiträgen zur „Wesensdebatte“ beschäftigte. In dem Einladungsschreiben heißt es: Die bedeutsamen Vorgänge und Neugestaltungen im jüdischen Volk stellen auch die Judenmission vor neue Aufgaben und mahnen sie zu neuen Anstrengungen. Mit dem wieder erwachenden Selbstbewußtsein des jüdischen Volkes hat sich auch sein trotziges Kraftgefühl gegenüber dem Christentum gestärkt. Versuche werden gemacht, das Wesen des Judentums klar zu stellen, neue Grundlagen für den Glauben zu finden, die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Christentum vorzunehmen und die Überlegenheit des Judentums darzutun. Demgegenüber haben wir der wissenschaftlichen Arbeit in der Judenmission erneute Aufmerksamkeit zuzuwenden, unsere geistliche Waffenkleidung zu prüfen und, wenn nötig, zu ergänzen.95
Strack selbst deutete in seiner Rede über „Das Wesen des Judentums“ das moderne jüdische Selbstverständnis als Selbstüberhebung: Das Judentum habe „eine falsche Beurteilung seiner Vergangenheit und seiner Erwählung“, doch der jüdische Wahrheitsanspruch werde einst durch den siegreichen christlichen Glauben überwunden: „Er soll, er muß, er wird auch Israels starr gewordenes Herz erweichen und gewinnen.“96 Insgesamt scheint bei der Bewertung der christlichen Judaistik Stracks und der „Judenmission“ überhaupt, trotz ihrer nicht zu unterschätzenden Leistungen und der hohen Wertschätzung, die Gelehrte wie Delitzsch und Strack bei jüdischen Kollegen genossen, Vorsicht angebracht. „Wir dürfen nicht wehtun der Hand, die uns wohltut“ – diese Formulierung, mit der das Jüdische Literaturblatt 1883 begründete, weshalb bei der Würdigung von Delitzschs Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus seine eigenen negativen Werturteile gegen den Talmud unerwähnt bleiben sollten, muß als Schlüsselsatz für die Deutung der ambivalenten Beziehung jüdischer Forscher zur „Judenmission“ verstanden werden.97 Sie wurde offensichtlich nicht als Verhältnis 95 Zitiert nach H. L. Strack, (Hrsg.), Jahrbuch der evangelischen Judenmission, Bd. 1, Leipzig 1906, S. 10. 96 Ders., „Das Wesen des Judentums. Vortrag gehalten auf der internationalen Konferenz für Judenmission zu Amsterdam 1906“, in: Jahrbuch der evangelischen Judenmission (wie Anm. 95), S. 19–39, Zitate S. 37–39. 97 Jüdisches Literatur-Blatt 12 (1883), Nr. 7, S. 28.
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zweier gleichberechtigter Dialogpartner erlebt, die einander offen und in einander befruchtender Gelehrsamkeit begegnen konnten. Vielmehr spiegelt sich darin eine Situation wider, in der Kritik vielfach entweder verschwiegen oder mit äußerster Vorsicht vorgebracht wurde, um Solidarität, auf die man angesichts des Antisemitismus dringend angewiesen war, nicht zu gefährden. Die Empfindungen des Dankes und der Verehrung sind zudem besonders auf dem Hintergrund des Schweigens der Mehrheit der anderen Theologen zu werten, die sich nicht zum Widerspruch gegen die judenfeindliche Agitation herausgefordert sahen: Diese Form der Solidarität blieb eine Ausnahme und wurde daher, trotz ihrer Grenzen, als besonders wertvoll wahrgenommen. Nicht zuletzt dokumentieren die Dankesbezeugungen, daß Juden, insbesondere die von der Talmudhetze besonders betroffene Orthodoxie, in Hinblick auf die Verteidigung ihrer Religion und Ethik nicht auf ihre eigenen Aufklärungsversuche vertrauen durften, weil ihre Stimme – vor der Gesellschaft wie vor staatlichen Gerichten – nichts galt. Die Stellungnahmen angesehener und im Bereich der rabbinischen Literatur kompetenter christlicher Forscher würden, so mußten sie annehmen, eher als Ergebnis objektiver Wissenschaft anerkannt werden.98 Die Kehrseite dieser Abhängigkeit, daß nämlich die protestantischen Theologen leise oder offen drohend die Pflicht zur Dankbarkeit anmahnen konnten, um den Einspruch gegen die „Judenmission“ oder kritische Einwände gegen ihr Judentumsbild zum Schweigen zu bringen, wird zwar bei Strack kaum deutlich, dafür aber um so mehr bei Delitzsch. Immerhin konnten die jüdischen Gelehrten nicht umhin, ihren Widerspruch gegen den Überlegenheitsanspruch des Christentums diplomatisch, aber dezidiert zum Ausdruck zu bringen, weil sie die missionarische Seite der „Liebe zu Israel“ und den christlichen Absolutheitsanspruch als Bedrohung der religiösen Identität und sozialen Gleichberechtigung des Judentums erfuhren. Sie protestierten dagegen, daß das Judentum letztlich nur als Missionsobjekt verstanden wurde, das sich – wenn nicht sofort, so doch in Zukunft – mit geschichtlicher Notwendigkeit dem Herrschaftsanspruch des Christen-
98 Vgl. C. Werner, in: Jüdisches Literatur-Blatt 10 (1881), Nr. 43, 167: „Gewiß ist von Seiten der Juden manche würdige und glänzende Leistung gegen unsere Feinde erschienen, aber da wo eigentlich gewirkt werden soll, im feindlichen Lager, verschlägt das Wort eines Nichtisraeliten mehr als das eines am Kampf beteiligten Israeliten, dem man ja leicht als einem Parteimanne, der pro domo schreibt, mit einem gewissen Mißtrauen entgegenkommt.“
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tums unterwerfen mußte, bis dahin aber in der Unwahrheit lebte und seine Identität allein theologischer Blindheit und „Selbstgerechtigkeit“ verdankte. Schmerzlich nahmen sie wahr, daß bereits ihr Wille, die Selbstbehauptung des Judentums intellektuell zu begründen, den protestantischen „Gesprächspartnern“ als untragbarer Angriff auf das Christentum erschien, der massive Reaktionen bis hin zur Warnung vor verstärktem Antisemitismus rechtfertigte.99 Das „Gespräch“, wie es der „Judenmission“ vorschwebte, spiegelte letztlich die realen politischen Herrschaftsverhältnisse wider. Nicht zuletzt gilt es eine unauflösliche Spannung mit Blick auf die „Dialogstruktur“ zwischen Wissenschaft des Judentums und der christlichen Judaistik im Stile Delitzschs wie Stracks festzustellen. Daß beide Gelehrte freundlichen Umgang mit jüdischen Gelehrten pflegten, jüdisches Schrifttum in den Horizont ihrer eigenen Forschung einbezogen und ihre Kenntnisse der rabbinischen Quellen für die christliche Theologie fruchtbar zu machen versuchten, war zu ihrer Zeit etwas Neues. Andererseits verstanden beide die Aufgabe der christlich begründeten Judentumskunde vor allem auch im Sinne einer „Apologie des Christentums gegenüber Juden“ und einer „christliche(n), wissenschaftlich untermauerte(n) Kritik am Judentum.“100 Ziel war, neben der Zurückweisung der antisemitischen Hetze, immer auch die missionarische Gegenwirkung gegen die identitätsstärkende Funktion der Wissenschaft des Judentums. Die Theologen der „Judenmission“, einschließlich Strack, sprachen im Namen einer herrschenden Religion und Wissenschaft mit jüdischen Forschern, die – als Juden – Wahrheit nur in einer fernen heilsgeschichtlichen Vergangenheit oder in einer Zukunft hatten, von der aus gesehen ihre jüdische Identität eine Selbsttäuschung darstellte. Letztere mußten erkennen, daß sie, wenigstens ansatzweise, als Wissenschaftler ernstgenommen, als Juden jedoch zu Objekten degradiert wurden, deren religiöse Überzeugung es zu überwinden galt. Ihre gleichberechtigte Anerkennung als jüdische Gelehrte und Repräsentanten einer legitimen jüdischen Gemeinschaft lag außerhalb der Intentio-
99 G. Dalman, „Die Judenmission ein Werk der Kirche“, in: Saat auf Hoffnung 26 (1889), S. 6–17 behauptete, die Juden würden dem deutschen Volk nie etwas Neues bringen – „aber etwas nehmen können sie uns – unseren Christus. [. . .] Wenn der aus dem Mittel gethan ist und zum achtungswerthen Rabbinerzögling herabgezogen, – dann, dann ist Deutschland verjudet. Darum, ihr deutschen Kirchen, auf zur Verteidigung, auf zum Angriff!“ (S. 10) 100 So zutreffend Völker, „Franz Delitzsch als Förderer der Wissenschaft vom Judentum“, S. 94.
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nen der protestantischen „Judenmissionare“: Deren „Liebe zu Israel“ galt den Juden vor allem als potentiellen Christen.101 Zieht man als entscheidendes Kriterium für die wechselseitigen Beziehungen die Frage heran, wie die Theologen der „Judenmission“, die sich mit Werturteilen über das Judentum nicht zurückhielten, auf theologischen Widerspruch reagierten, so wird man urteilen müssen, daß eine gleichberechtigte Gesprächssituation mit der Chance zu wechselseitigen Lernprozessen und der Möglichkeit, Trennendes freimütig namhaft zu machen, nicht gegeben war. Statt dessen nahm die christliche Seite gerade dort, wo sie Schutz anbot, die Rolle des Mächtigen und Gebenden ein und führte das „Gespräch“ in der Struktur von Superiori tätsansprüchen, deren Anerkennung nicht selten mit missionarischer Zudringlichkeit eingefordert oder gönnerhaft zukünftiger Einsicht anheimgegeben werden konnte. Trotz der unverkennbaren positiven Aspekte, mit denen sich namentlich Strack die Achtung und den aufrichtigen Dank vieler jüdischer Gelehrter verdiente, ist unübersehbar, daß die „judenmissionarische“ Judaistik jener Zeit die Chance zu einem wirklichen Dialog mit der Wissenschaft des Judentums verspielte – eine zwangsläufige Folge ihrer theologischen Prämissen.
101 Zum „Philosemitismus“ der „Judenmission“ vgl. M. Brenner, „,Gott schütze uns vor unseren Freunden‘ – Zur Ambivalenz des ,Philosemitismus‘ im Kaiserreich“, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 2 (1993), S. 174–199.
AUTORENREGISTER Agosto, A. 177 Alexander, Ph. S. 235 Allen, T. W. 174, 241 d’Amato, A. 171 Aptowitzer, V. 307f. Aring, P. G. 282 Bacher, W. 44, 229, 307–309 Bäumer, R. 158, 162 Baldini, A. E. 104 Bauch, G. 35, 76, 80, 86, 258f. Bautz, F. W. 87 Beitchman, P. 150 Bekkum, W. van 223, 227 Be´rard, V. 241 Berg, J. van den 54 Berkel, K. van 49 Berriot, F. 104 Betz, D. 182 Biberfeld, E. 297–299, 304f., 307 Bickel, E. 4 Bienert, W. 84 Bischoff, C. F. 94 Blau, J. 220, 307 Bobzin, H. 7, 9, 15, 169f., 173, 177, 182f. Borst, A. 7, 22 Brann, M. 297, 304 Breuer, M. 288 Buchner, A. 89 Burmeister, K.-H. 45, 181–185 Burnett, St. G. 53, 173 Busi, G. 140, 143 Campanini, S. 97, 138, 140, 142f., 262 Cassirer, E. 192 Cerasuolo, S. 238, 240 Cevolotto, A. 170–177, 180 Charlap, L. R. 229 Cohen, A. 115, 122
Cohen, M. 115f., 230 Cornill, C. H. 287 Dales, R. C. 159 Dan, J. 114, 144, 198, 294, 315 Dascal, M. 204 Davison, J. A. 241 Detmers, A. 181 Deutsch, I. 297, 301f. Dietrich, W. 84 Donati, S. 159 Dotan, A. 217, 219, 222 Ego, B. 44, 182 Ehrlich, E. L. 84 Eisenmenger, J. A. 285, 306 Eissfeldt, O. 86 Eldar, I. 217, 226 Emser, H. 158 Engammare, M. 175 Faltenbacher, K. F. 99f. Foot Moore, G. 176 Foucher de Careil, A. 192 Frank, D. 220 Friedensburg, W. 75, 87, 168 Friedman, J. 25, 48, 181 Friedmann, G. 192 Friedrich, A. 239 Friedrich, M. 92 Friedt, A. 181 Funkenstein, A. 153 Galassi, D. 177 Galinsky, J. 156 Gardt, A. 13 Geiger, Ludwig 31–34, 42, 84f., 149 Gerhardt, C. I. 192, 206 Gesenius, W. 37 Ginzel, G. B. 285
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autorenregister
Gleich, A. J. 90 Goldenbaum, U. 193f. Golling, R. 282 Grabbe, L. L. 240 Grafton, A. 238f., 250 Gray, D. 242 Graziani, A.-M. 170–173, 177, 187 Greive, H. 30f., 285 Greving, J. 160 Grözinger, K. E. 26 Grossmann, M. 76 Guhrauer, G. E. 192 Gundersheimer, W. L. 53 Guttmann, J. 104 Habermann, M. 19 Hägler, B. 162 Hantzsch, V. 181 Hasselhoff, G. K. 179f., 184 Helbling, L. 167 Herrmann, K. 271 Hertzberg, J. 288 Heschel, S. 292 Hirsch, E. 189 Hirschfeld, H. 219 Hoffmann, D. 289f., 297 Horawitz, A. 168 Horowitz, M. Cline 104 Idel, M. 114 Iserloh, E. 156, 158 Ising, E. 9 Itterzon, G. P. van 50, 52 Jedin, H. 156 Jellinek, M. H. 15, 18 Joel, M. 290 Jordan, D. J. 183 Jülicher, A. 287 Kabitz, W. 192 Kaplan, Y. 114, 116 Katchen, A. L. 74 Kathe, H. 76, 82, 90f., 93–95 Katz, A. 307, 309 Kausch, W. 160 Khan, G. 221f. Kilcher, A. B. 115
Kirschner, B. 284 Kisch, G. 53 Klein, W. P. 4, 7–9, 13–17 Kluge, O. 8 Kluxen, W. 180 Knape, J. 182 König, E. 299 Kohut, G. A. 53f. Krabbenhoft, K. 115f., 119f., 123 Kremers, H. 84 Kristeller, P. O. 165, 168 Krümmel, A. 82 Lange, S. R. 37f., 92 Lauer, Ph. 178 Lebram, J. C. H. 242 Lehr, St. 38, 45, 285 Lehrs, K. 241 Leinkauf, Th. 16 Lelli, F. 150 Lemmer, M. 83 Levita, E. 44 Lindsay, W. M. 5 Löw, I. 306 Männchen, J. 289 Majus, J. H. 94 Malter, H. 219 Maman, A. 220–222, 226 Mannucci, L. 174, 178 Mansi, J. D. 173 Marcos, N. F. 107, 109 Marx, A. 53 Marx, G. 290 Mayer Tasch, P. C. 99 Merkelbach, R. 241 Meroz, R. 115 Meyer, H. 53 Momigliano, A. 239 Mowbray, M. de 49 Muccillo, M. 98 Müller, G. 167 Müller, J. 297 Müller, P. O. 11, 13 Musso, G. G. 170, 177 Nat, J. 73 Nauta, D. 51
autorenregister Neubauer, J. 17 Niewöhner, F. 116, 183 Osten-Sacken, P. von der Otto, R. 189, 191, 209
272f.
Parkinson, G. H. R. 193 Parson, E. A. 246 Pasquier, E. 104 Patsch, H. 239 Perles, F. 284, 307 Perles, J. 113, 178 Pessen, E. 284 Pfeiffer, R 4 Pinborg, J. 5 Platt, J. E. 50 Polonio, V. 177 Popkin, R. H. 51 Postma, F. 55 Prijs, B. 30, 34f., 40, 42, 44–48 Prijs, J. 30, 34f., 40, 42, 44–48 Rabin, C. 48 Rabinowitz, I. 108 Rade, M. 287 Riederer, J. B. 168 Riggenbach, B. 15, 30, 32, 39, 42f. Rimassa, U. 175 Ritschl, F. 241 Ritter, F. 36 Rodrı´guez, C. Sa´nchez 107, 109 Roellenbleck, G. 102–104 Rohrbacher, St. 135, 287 Rooden, P. T. van 50f., 54f. Rota, M. P. 177 Ruderman, D. B. 108 Rüger, H. P. 79f. Saccaro Battisti, G. 125 Saenz-Badillos, A. 224f. Salone, A. M. 170, 172, 175 Scheible, H. 87 Schlecht, J. 159 Schmelzer, H. 306 Schmidt, M. 287 Schmidt-Biggemann, W. 16, 191 Schnitzler, N. 156–159 Scholem, G. 113–115, 117f., 122, 124f., 135, 137f., 142, 144 Schröder, K. 173
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Schröder, W. 124f., 189f., 197 Secret, F. 80, 150, 170, 173–175 Secret, Franc¸ois 172f. Seebold, E. 6 Seib, W. 182 Sengenbusch, M. 241 Shavit, Y. 235 Simon, E. 125 Simon, U. 229 Skoss, S. L. 219 Smith, H. Walser 287 Smolinsky, H. 158 Sommer, W. 90, 208 Späth, A. 84 Sparn, W. 190 Steinmetz, M. 76 Stemberger, G. 305 Stern, J. 153 Stern, M. 302 Strobel, Th. G. 87 Tal, U. 284f. Tejero, E. F. 107, 109 Tishby, I. 121 Toeplitz, E. 284 Trendelenburg, A. 192 Treu, M. 44, 76 Valle Rodriguez, C. del 224 Vanderjagt, A. 49 Veltri, G. 82, 84, 87, 95, 238 Venard, M. 107 Versnel, B. H. S. 235 Völker, H. H. 281f., 315 Volz, H. 80 Wacht, M. 172 Wagner, S. 182, 257, 279 Walde, B. 34, 36, 38 Walk, J. 29 Wasserstrom, S. M. 137 Waxman, M. 217 Weil, G. E. 36, 38, 44, 181 Weller, E. 90, 124 Werner, C. 53, 297, 314 Wesselius, J. W. 54f. Wiedemann, Th. 150, 159, 167 Wiese, C. 40, 95, 260, 284, 294, 296, 308f. Wilke, C. 94f.
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autorenregister
Willi, Th. 46 Winkelmann, F. 5 Wirszubski, C. 150 Woolf, J. 156 Yates, F. 98 Yellin, D. 217 Yosha, N. 115–118, 121, 123
Zambelli, P. 159 Zeller, R. 16 Zika, C. 26 Zinguer, I. 82, 98 Zobel, H.-J. 87f. Zöhrer, A. 150 Zotenberg, M. 180 Zürcher,C. S. 33, 42
NAMENREGISTER Abd ar-Rahma¯n 224 Abel 101 ˙ Abner von Burgos 151–153 Abraham Calovius 210 Abravanel, Isaak 95, 237 Abu Ya qu¯b Yu¯suf ibn Nu¯h 221f. ˙ Abu-l-Farag˘ Haru¯n 220–223, 225 Abu-l-Walı¯d Merwan 226 Achmed al Mansur 116 Adelung, Johann Christoph 15, 22 Adonim ha-Levi 225 Adrianus, Matthäus 35, 39, 85, 266–268, 271 Aegidius von Viterbo s. Egidio da Viterbo Agricola, Rudolph 49 Albertus Magnus 179–181 Albertus, Laurentius 18 Aleandro, Girolamo 167 Alting, Henricus 49 Alting, Jacobus 49–53, 55f., 64f., 68, 73f. Amama, Sixtinus 50 Ambrogio Traversari 171 Ambrogio, Teseo 10 Amerbach, Johannes 40 Anshelm, Thomas 29 Arias Montano, Benedito 99, 105– 110 Aristeas 242 Aristoteles 28, 119f., 141, 145 Arminius, Jacobus 50 Auerbach, Berthold (geb. Moses Baruch Auerbacher) 253, 255, 257f., 260, 274f. Augustin 40, 139, 170 Aurogallus, Matthäus (Goldhahn) 85f., 259, 270 Avenarius, Johannes 17 Averroes 141, 151–153, 180 Avicenna 119f., 152
Bade van Asschen, Joos (Badius Ascensius) 176 Baer, Seligman 293 Balmes, Abraham ben Meir de 44, 232 Balneus, Martin 186 Barcassius, Salomo 100 Barrios, Levi de 115 Barrow, Isaac 192 Basilius von Cäsarea 140 Baumgarten, Siegmund Jakob 192 Bebel, Balthasar 207f., 210f. Beilis, Mandel 304 Belier, Suzanna 49 Benivieni, Girolamo 119f. Berliner, Abraham 265, 268, 278, 281, 292–294, 304–306, 309–312 Bernard von Breydenbach 6 Beyer, Christian 77, 245 Bibliander, Theodor 10–13 Biesenthal, Johann Heinrich 293 Bloch, Philipp 303 Boccaccio, Giovanni 86 Bodenstein, Andreas (genannt „Karlstadt“) 79–81, 83, 157, 161 Bodin, Jean 99f., 102–105, 108– 110, 207 Boeckh, August 239 Böhm (Beheim), Johannes 34 Börne, Ludwig 258 Böschenstein, Johannes 39, 83, 85, 266f., 269–271 Bomberg, Daniel 44, 86, 98 Bracellis, Giacomo 176 Brucker, Johann Jakob 125–127 Budde, Johann Franz 115, 124f. Burckhardt, Jakob 271 Buxtorf d. J., Johannes 48, 92 Buxtorf, Johannes 48, 51, 53, 97, 173, 179
322
namenregister
Camaldulensi, Ambrosius s. Ambrogio Traversari Campeggio, Lorenzo 167 Campensis, Johannes 183 Capella, Martianus 77 Capito (Koepfel), Wolfgang Fabritius 32, 36, 39–42, 174 Carpzov d. J., Johann Benedikt 93 Ceporinus (Wiesendanger), Jakob 43 Christian Baron von Boineburg 207 Christian I. 88 Christianus, Federicus Albertus 93 Cicero 77 Cipriano de la Huerga 110 Clarke, Samuel 190 Clenard, Nicolas (Nicolaus Clenardus) 173 Cocceius, Johannes 52 Cochläus, Johannes 163f., 167 Cohen, David 116 Conradi („Syasticanus“), Tileman 80f. Constantius l’Empereur 51 Contarini, Gasparo 120 Coroni, Paulo („Paulus Coronaeus“) 100 Craanen, Theodor 208f. Crellius, Johannes 208 Cruciger, Georg 13, 20f. Curtius, Antonius 100 Dalman, Gustaf 284, 289–291, 293, 295f., 315 Dassow, Theodor 92–94 David Reubeni 28 Delitzsch, Franz 279–281, 283f., 286, 289, 291–294, 298, 313–315 Delmedigo, Josef 117f. Devereux, Robert 116 Diderot, Denis 192 Domilutius, Marianus 175 Donatus 9 Drusius, Johannes 50 Eberbach, Heinrich 77 Eberbach, Peter 77 Eck, Johannes 43, 157–167
Ecker, Jakob 285, 295f. Edenberger, Lukas 87 Edzard, Esdras 92 Egidio da Viterbo 43–45, 177 Eichhorn, Johann Gottfried 241, 243, 250 Elbogen, Ismar 272, 308, 312 Elia Levita 41, 43–48, 232, 247 Emser, Hieronymus 157–159, 163 Eneas von Gaza 171 Enoch 101 Erasmus, Desiderius 25, 33, 35, 52, 81f., 97, 173f., 181, 264f. Euklid 28 Fabri, Johannes 165, 167f. Fabricius, Laurentius 89 Fabricius, Theodor 87 Fabritius, Johannes 32 Fagius (Büchlein), Paulus 43, 46 Fagnola, Octavius 100 Fano, Menachem Asariah da 118 al-Fa¯sı¯, David ben Abraham 220, 223, 226 Feilchenfeld, Wolf 302 Felsius, Christian Lebrecht 94 Fe´ne´lon 190 Ficino, Marsilio 98, 118, 141, 152 Figo, Azaria 108 Filocrates 245 Fininger, Mauricius 42 Flacius, Matthias 87 Flavius Mithridates 12, 22, 143 Förster, Johann 17, 271 Forster, Johann 48, 87f., 266, 270f. Franc¸ois I. 174 Franklin, Benjamin 254–256 Franzos, Karl Emil 258 Freimann, Aron 53 Friedrich der Weise 76, 81 Froben, Johann 35, 40, 44, 183, 185 Fülleborn, G. G. 248 Galatinus, Petrus Columna Galen 153 Galilei, Galileo 191 Gallus, Jacob 31, 36
172
namenregister Gansfort, Wessel 26, 49 Gebwiler, Johannes 42 Geduinus, Robertus 176 Geiger, Abraham 257, 260, 292 Geiger, Ludwig 31f., 257–273, 292 Gelenius, Sigismund 10f. Gesner, Konrad 12 Gikatilla, Joseph 151, 155 Gildemeister, Johann 289f., 295 Giustiniani, Agostino (geb. Pantaleone Giustiniani) 10, 169– 175, 177–179, 181f., 185 Goethe, Johann Wolfgang von 257, 271 Gomarus, Franciscus 50 Gomez (de Lisbao), Federigo 149 Gonsalvo de Co´rdoba 115 Graetz, Heinrich 115f., 260, 263 Graevius 193, 207, 209–212 Grimani, Domenico 27 Gronenberg, Johannes (Johannes Rhau-Grunenberg) 78f. Groninger („Grynaeus“), Simon 44, 182f. Grotius, Hugo 194 Grüninger, Johann 31, 36 Guillaume Petit („Parvi“) 175f. Gurk, Matthias 39, 160 Hachenborg, Paul von 77 Hadrian 268 Halı¯l ibn Ahmad 221 ¯ ˙ Hananel 28 Harnack, Adolf von 309 Heidegger, Johann Heinrich 53 Heinrich V. 78 Heinrich VIII. 174 Heldelin, Kaspar 185 Helvetius 192 Herder, Johann Gottfried 237, 257 Heredia, Paulus de 114 Hermann von der Busche 78 Herrera, Abraham Cohen de 114– 127 Herrera, Alonso Nun˜es de 116 Heß, Isaak 263 Heydenreich, Kaspar 169
323
Hieronymus 5, 40, 47, 82, 97, 139, 268 Hildesheimer, Hirsch 278, 290, 300 Hody, H. 242 Hoffmann, D. 306 Holten, Albert van 207f., 211 Holtzmann, Oscar 307f. Hottinger, Johann Heinrich 51 Hottinger, Johann Jakob 53 Huet, Pierre Daniel 190 Hutter, Elias 13, 15 Iamblichus 141 Ibn Baru¯n 223, 227 Ibn Ezra, Abraham 46, 228f. Ibn Ezra, Moses 222, 228–230, 232 Ibn Gabirol, Salomo 228 Ibn Parhon, Salomon 229 ˙ Ibn Tibbon, Shmuel 183f., 227 Ibn Tibbon, Yehudah 229 Isaak Aboab (da Fonseca) 114f., 120–123 Isidor von Sevilla 5 Jagel, Abraham 108 Jean de Lorraine 176 Jesaja 28, 33, 38, 61, 64 Joachim I. 78 Johann Friedrich 84, 86f. Johann Friedrich von BraunschweigLüneburg 200 Johann Georg I. 90 Johannes 236 Johannes Damascenus 158 Joseph Albo 123, 152 Josephus 139 Juan de Marchena 116f. Ku˚nstmann, Sylvester 180 Karlstadt s. Bodenstein, Andreas Kaufmann, David 279f. Kittel, Rudolph 238 Knolle, Friedrich Benjamin 254 Knorr von Rosenroth, Christian 113, 115, 120, 122– 125, 173 Kolumbus, Christoph 177
324
namenregister
Krauss, Samuel 306 Kürscher, Konrad s. Pellican, Conrad Lang, Johann 77 Lascaris, Constantinus 77 Lazarus, Moritz 288 Leclerc, Jean 194 Leibniz, Gottfried Wilhelm 16, 192f., 197–212 Leon, Messer 108 Lessing, Gotthold Ephraim 192, 263, 273 Lightfoot, John 53 Loans, Jakob ben Jechiel 27, 261 Löw, Immanuel 81, 237, 267f., 306 Louis von Savoyen 176 Ludovicus de Dieu 51 Ludwig von Anhalt 19 Luis de Leo´n 107, 110 Luria, Isaak 115, 123, 127 Luther, Martin 40, 78, 80f., 83–86, 88, 161, 165f., 169, 172, 181f., 253f., 256, 259f., 264, 266, 268– 272 Maimonides, Moses 103, 123, 151–153, 155f., 163, 166, 169f., 172, 176, 178–186, 200, 237 Mandeville, Jean de 6 Manetti, Giannozzo 242 Manuzio, Aldo 77, 141 Marescalcus de Gronenberg, Nicolaus s. Marschalk, Nikolaus Maresius, Samuel 51–53 Marschalk, Nikolaus 35, 76–79 Martini, Raymundus 151f., 175 Matteos (da Luna), Giovanni 176 Maximilian I. 25f., 75f., 149 Meier, Ludwig 199 Melanchthon, Philipp 81, 83, 85, 143, 153, 162–164, 167, 254, 259, 261, 264, 268, 270 Menahem ben Saruq 27 Menahem ben Yakob ibn Saruq 34, 224˙ Menasse ben Israel 114, 117, 123 Mendez Bravo, Hektor 116 Mensinga, Johannes 73
Menzel, Adolph 253, 274f. Mercier 104 Mirandola, Giovanni Pico della 7, 27, 98, 113, 118–120, 143, 149f., 171, 179 Mörlin, Jobst 82 Moller, Heinrich 17 Mommsen, Theodor 265 Moore, Thomas 174 More, Henry 155, 179, 190, 207 Morin, Jean 250 Mortera, Shaul 123 Moses von Coucy 156 al-Mubarrad 217 Müller, Alexander (Aegdius) 33 Müller, Sebastian 230 Münster, Sebastian 8–10, 29–32, 35, 39f., 42–48, 160, 169, 181–185 Musäus 190 Musculus, Wolfgang 42, 173 Nachman, Moses ben 155, 178f. Nebukadnezar 241 Neumann, Johann Christian 94 Newton, Isaac 192 Nigri, Petrus 33 Noah 22, 101 Obermüller, Martin 36 Oekolampad, Johannes 39, 42 Olearius, Johannes 17 Ostermann, Johann Ehrenreich 90 Paradis, Paul 104 Pascal, Blaise 191 Pauli, Reinhold 209 Paulus de Santa Maria (Pablo de Burgos) 152f., 169 Peisistratos 241f. Peisistratos (Pisistratos) 244 Pellican, Conrad 15, 30–36, 38– 43, 48, 181f., 267 Pellican, Samuel 32 Perizonius, Antonius 209 Petri, Adam 182 Petri, Henric 29f., 46 Petrus 82, 161, 168 Pfedersheimer, Paul 32f.
namenregister Pfefferkorn, Johannes 41 Philipp von Zesen 19 Philo 139 Plantin, Christoph 105 Plotin 119f., 141 Pococke, Edward 53 Podamicus, Fridericus 100 Pollich, Martin 78 Poncher, E´tienne 174–176, 179 Porphyrios 119f. Portaleone, Abraham ben David 108 Postel, Guillaume 10–13, 16, 173, 180, 207 Potken, Johann 9f., 15 Pratensis, Felix 86 Priscianus 30 Proclus 141 Psellos, Michael 77 Ptolemäus Philadelphos 246 Pythagoras 98, 119f. Qimhi, David 30, 46, 230–232 Qimh˙ i, Moses 27, 30f., 34f., 38, 44,˙ 46, 175, 230 Qimhi, Yosef 230 ˙ Raimund von Petrandi 39 Ramon de Sibiuda 152 Rappolt, Friedrich 207, 209 Raschi 86 Regnier van Mansfelt 190 Reimarus 192, 197 Reisch, Gregor 32, 35–37 Reuber („Raptor“), Johann 82 Reuchlin, Johann 7f., 25–28, 30f., 33–36, 38, 43–45, 47, 49, 79f., 82, 85, 88, 93, 97, 138, 142f., 149, 232, 257f., 260–265, 267, 269–273 Reynolds, John 53 Rießer, Gabriel 258 Ripue, Ioan. 185 Ritius („Ricci“), Paulus 149–168, 174, 183 Rörer, Georg 169 Rohling, August 285, 291, 295f. de’Rossi, Azaria 48, 107, 242, 247
325
Saadia Gaon 218–220, 222–225, 229 Salomo 42f., 100–102, 106f., 236, 303 Saruq, Israel 115, 117f., 121 Sauli, Bendinello 173 Sauli, Filippo 172f. Sauli, Stefano 172f. Sbrulius, Richardus 76 Scaliger, Justus 242 Schadaeus, Elias 17 Schatzgeyer, Kaspar 42, 163 Schenk, Wolfgang 42, 60, 77 Scheurl, Christoph 76, 79 Schiller, Friedrich 258 Schindler, Valentine 88f. Schleiermacher, Friedrich 240, 247–250 Schneur, Abraham 61, 63, 69, 73 Schott, Johann 36, 165 Schottelius, Justus Georg 18–20 Schreckenfuchs, Oswald 43 Schubert, Franz 271 Schultens, Albert 73 Schurzfleisch, Konrad Samuel 93 Senamus, Hieronymus 100 Sennert, Andreas 90–92, 94 Sennert, Daniel 90 Sforno, Obadja ben Jacob 27f., 30 Sibawaih 217, 219, 221 Simon, Ernst 125 Simon, Richard 250 Sommo, J. 48 Sou(b)slefour, Pierre de 175, 187 Spalatin, Georg 77, 80f., 83, 85 Speeth, Johann Peter 124 Spinoza, Baruch 51, 124f., 189– 212 Spizel, Theodor 207f. Steinschneider, Moritz 43, 47, 137, 293, 306 Stockmann, S. M. 237f. Stoecker, Adolf 294, 301 Strack, Hermann L. 277–279, 281–284, 286, 293–316 Theodor, Julius 11, 296, 302 Thomas von Aquin 121, 153, 171
326
namenregister
Thomasius, Jakob 190, 193, 207, 209 Titius, Johannes Daniel 254f. Toland 192 Tomasso de Badia 168 Toralba, Diego 100, 102 Trebelius (von Eisenach), Hermann 76–78 Treves, Jochanan 29 Trismegistos 98, 119f. Trost, Martin 89f. Tschirnhaus 193 Tzetzes, Johannes 242 Ulrich von Hutten
35
Vach („Phacchus“), Balthasar 76 Vallas, Giorgio 77 Veit, Moritz 258 Velthuysen, Lambert van 190, 207, 210 Vital, Chajim 118 Voetius, Gijsbertus 51 Wachter, Johann Georg 124f. Wakefield, Robert 17 Walrich, Baudewina 50 Walter, Friedrich 208
Weller, Jakob 90f. Weller, Petrus 86 Wetstein, Johann Rudolph 53 Wicelius, Georg 17 Wichmannshausen, Johann Christoph 93, 95 Widmannstetter, Johann Albrecht von s. Widmanstadt, Johann Albrecht Widmanstadt, Johann Albrecht 10, 113, 177 Winmann, Nicolaus 17 Wohlgemuth, Joseph 277–279, 281, 305, 309 Wolf, Friedrich August 95, 237–244, 247–251, 286 Wolff, Christian 190 Yehuda al-Charizi 178 Yehuda Sarko 175 Yehudah ha-Levi 228 Yehudah ibn Bal am 227 Zoroaster 98, 119f. Zorzi, Francesco 143f. Zunz, Leopold 251 Zwingli 43, 166
SACHREGISTER Absolutheitsanspruch 314 Adass Jisroel 304 Allegorese 155 anima coelestis 159f. Antichristianismus 292, 308 Antijudaismus 162, 260, 272, 291, 312 Antisemitenprozesse 277 Antisemitismus 257, 272f., 278, 280, 282–287, 289–292, 294, 296, 298–301, 303f., 307f., 313– 315 Apologetik 47, 162, 288, 290, 305 Apologie 114, 124, 162, 290, 315 Athen 74, 235–239 Bibelkritik 194, 250f. Bilderverehrung 156, 158 Blutriten 286, 296 Centralvereins Deutscher Staatsbürger Jüdischen Glaubens 300 Christentum 10, 40, 44, 97f., 100, 105, 139f., 144f., 149–156, 167, 169, 210, 236, 238, 247, 267, 278– 280, 283, 291, 293, 300, 308f., 312–315 Dämonisierung des Judentums 287 Deisten 192, 196f., 200 Determinismus 190, 192, 292 Dialog 162, 282, 316 Emanzipation 136, 281, 287, 292, 294 Enzyklopädie 239, 250 Erwählung 103, 291, 313 Erwählungsstolz 291 Ethik 101, 124, 192, 196, 289f., 292, 299, 314
− des Judentums 283, 288 Existenzrecht des Judentums Fideismus
292
194
Geheimschriften, jüdische 299 Gesellschaft zur Beförderung des Christentum unter den Juden (Berlin) 281 Gießener Mischna 307 Glaubensbekenntnis 152 Gottesmordthese 287 Grammatik − arabische 187, 217f., 227 − hebräische 14–17, 20, 26f., 30f., 34–38, 41f., 44f., 47, 79, 86, 88–90, 143, 175, 177, 182, 195, 215–218, 220–222, 224– 232, 310 Griechen 103, 106f., 238, 246, 251 Hebräisch 3, 5f., 8–12, 15–18, 21, 26–28, 33, 40, 47, 51, 56, 76f., 79, 81–83, 89, 91, 110, 140f., 144, 151, 185, 205, 207, 215, 218f., 221, 223–229, 231, 243, 251, 258f., 264–268, 270 − biblisches 84, 221, 224, 226f. − Buchstaben 89, 179, 218 − Heilige Sprache 5, 16, 41, 88, 95, 100, 139, 215, 247, 257 − Kenntnis 36, 73, 78, 81f., 95, 97, 106, 138, 140 − Lehrstuhl für 80, 83, 85–91, 95, 104, 264 − rabbinisches 89, 91, 94, 215, 219, 223, 232 − Studium 26f., 31–33, 35, 39, 45, 49f., 75, 79–83, 85–88, 90f., 93, 95, 104, 141, 143, 162, 174, 182, 258f., 266f., 270f.
328
sachregister
− Text 183–185, 199, 205f. − Übersetzung 28, 46, 115, 122f., 141, 178, 182–184, 224, 227–229, 231 hebräische Bibel 25, 34, 40f., 47, 51, 105, 107, 110, 141, 144, 222, 246, 288 Hebraisten 114, 170, 205, 207f., 211, 266f. − christliche 14, 35, 52, 82, 84f., 94, 97f., 110, 113, 225, 230, 259, 269, 284 Hebraistik 20, 140, 206, 224, 257 − christliche 14, 17, 23, 25, 31, 38, 43f., 47f., 53, 83, 86, 91, 93f., 135, 232, 257, 271 Heilsgeschichtliche Theologie 284 Hellenismus 235 Hermeneutik 194f., 200, 240, 244, 247–249, 251 Homerforschung 241 Inquisition 109, 116 Institutum Judaicum Berolinense 293, 310 Institutum Judaicum Delitzschianum 279 iqqarim 152 Israelitisch-Theologischen Lehranstalt in Wien 306f. Jesusfeindschaft 292 Judaistik 135–138, 142, 144f., 283, 310, 313, 315f. Judenfeindschaft 282, 285, 292, 314 Judenfrage 286, 292, 310 Judenmission 92, 278f., 281–284, 288f., 291–294, 301, 311–316 Judentum 28, 44f., 98, 104f., 109f., 115f., 124, 135–140, 142– 145, 149, 151, 155, 216–218, 226, 235–237, 241, 260, 262– 265, 267, 271, 273, 277–288, 290–295, 297, 299f., 306, 310– 316 Judentumskunde, christliche 281, 294, 308, 312, 315
Kabbala 7, 26, 97f., 113–115, 118, 121f., 124f., 127, 138, 142, 150, 155, 160, 258 − christliche 79f., 88, 113–115, 123f., 126, 138, 142–145, 173, 181 Kabbalisten 114, 122f., 142f. Landesrabbinerschule in Budapest 307 Lehranstalt Wissenschaft des Judentums 288 Lexikographie − hebräische 30f., 47, 85–87, 143, 182, 215, 219f., 223–227, 229f., 271 Lexikologie − arabische 228 − hebräische 228 Liebe zu Israel 280 Linguistik 4, 22, 222f. − arabische 219 − hebräische 222f., 227f., 231f. Literatur − hebräische 47, 225 − jüdische 224 Literaturgeschichte, jüdische 26, 142, 280 Magie 247 Masora 216f. Messias 56f., 61, 65–68, 70, 72 Mission 10, 28, 114, 293f., 301 Mystik 117f., 138, 142, 247 Neuplatonismus 98, 114, 118, 120– 122, 141, 171, 181, 247 neutestamentliche Zeitgeschichte 309 Orthodoxie
110, 314
Pantheismus 124 Philo-Judaismus 144 Philologie − arabische 216, 218, 228 − hebräische 45, 80, 218f., 224, 229, 231, 257
329
sachregister Philosemitismus 316 Protokolle der Weisen von Zion
304
Rabbiner-Seminar zu Berlin 278f., 289 Rabbinische Literatur 83, 92f., 97f., 105, 110 Rabbinische Tradition 94, 98, 292 Rassenverhetzung 283 Rechtfertigung 92, 151, 155, 157f., 163f. Reformation 32f., 41, 47f., 78f., 83, 143f., 191, 260f., 264f. Renaissance 25, 47, 118, 140, 144, 159, 181, 232, 236–239, 244, 247, 271 Ritualmordbeschuldigung 296f. Ritualmordprozeß 297, 304 Römer 106, 238 Sakrament 52, 163–166 sapientia judaica 150 Schulchan Aruch 285, 290 Solidarität mit dem Judentum 283, 293 Sozinianer 198, 200, 208 Sprache − arabische 10, 89, 91, 95, 171, 173, 185, 217–219, 223f., 226f. − hebräische 3, 10, 14, 17, 33f.,
38, 41, 43, 49, 52f., 79, 81–85, 92, 97f., 116, 122, 138–141, 171, 185, 192, 194f., 198f., 201f., 204, 215, 217, 219f., 222, 227–230, 232, 259, 263–267, 269–271 − Studium 95 − Ursprache 7f., 12f., 15, 17, 20– 23, 49, 103, 109 Talmud 41, 73, 97f., 104, 150f., 187, 216, 223, 251, 260f., 263, 277f., 285f., 288, 290f., 295f., 305–309, 313 Talmudforschung, christliche 94, 305, 307 Talmudhetze 285, 290f., 309, 314 Talmudisten 142f. taryag mitzwot 154, 156 Tora 38, 99, 101–104, 108, 142, 152–157, 163–166, 180, 196, 215f., 285f., 289, 295 Volksfrömmigkeit, katholische
286
Wesen des Judentums 309, 312f. Wissenschaft des Judentums 135– 138, 258, 281–284, 288, 303, 307, 309–312, 315f. Zeremonialgesetz
153
STUDIES IN EUROPEAN JUDAISM ISSN 1568-5004 1. J. Helm & A. Winkelmann, Religious Confessions and the Sciences in the Sixteenth Century. 2001. ISBN 90 04 12045 9 2. A. Gotzmann, Eigenheit und Einheit. Modernisierungsdiskurse des deutschen Judentums der Emanzipationszeit. 2002. ISBN 90 04 12371 7 3. S. Rauschenbach, Josef Albo (um 1380-1444). Jüdische Philosophie und christliche Kontroverstheologie in der Frühen Neuzeit. 2002. ISBN 90 04 12485 3 4. H. Wiedebach & A. Winkelmann, Chajim H. Steinthal. Sprachwissenschaftler und Philosoph im 19. Jahrhundert. Linguist and Philosopher in the 19th Century. 2002. ISBN 90 04 12645 7 5. K. Krabbenhoft, (Tr.), Abraham Cohen de Herrera: Gate of Heaven. Translated from the Spanish with Introduction and Notes. 2002. ISBN 90 04 12253 2 6. M. Morgenstern, From Frankfurt to Jerusalem. Isaac Breuer and the History of the Secession Dispute in Modern Jewish Orthodoxy. 2002. ISBN 90 04 12838 7 7. G. Veltri & A. Winkelmann, An der Schwelle zur Moderne. Juden in der Renaissance. 2003. ISBN 90 04 12979 0 8. C. Kasper-Holtkotte, Im Westen Neues. Migration und ihre Folgen: deutsche Juden als Pioniere jüdischen Lebens in Belgien, 18./19. Jahrhundert. 2003. ISBN 90 04 13109 4 9. S. Wendehorst (ed.), The Roman Inquisition, the Index and the Jews. Contexts, Sources and Perspectives. 2004. ISBN 90 04 14069 7 10. C. Wiese, Challenging Colonial Discourse. Jewish Studies and Protestant Theology in Wilhelmine Germany. 2004. ISBN 90 04 11962 0 11. G. Veltri and G. Necker (hrsg.), Gottes Sprache in der philologischen Werkstatt. Hebraistik vom 15. bis zum 19. Jahrhundert. 2004. ISBN 90 04 14312 2