W.G. Sebald Die dialektische Imagination (Quellen Und Forschunger Zur Literatur Und Kulturgeschichte) (German Edition) [1 ed.] 3110223430, 9783110223439 [PDF]


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W.G. Sebald  Die dialektische Imagination (Quellen Und Forschunger Zur Literatur Und Kulturgeschichte) (German Edition) [1 ed.]
 3110223430, 9783110223439 [PDF]

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Zitiervorschau

W. G. Sebald – Die dialektische Imagination

Ben Hutchinson

Walter de Gruyter

Ben Hutchinson W. G. Sebald − Die dialektische Imagination

Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als

Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von

Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer

Herausgegeben von

Ernst Osterkamp und Werner Röcke

59 ( 293 )

≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York

W. G. Sebald − Die dialektische Imagination von

Ben Hutchinson

≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-022343-9 ISSN 0946-9419 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Sigurd Wendland, Berlin

Je dédie ce livre à ma femme Marie: c’est elle qui l’a rendu possible. Il ne pourra jamais être à la hauteur de son amour et de sa patience, mais il témoignera pour toujours de nos deux années heureuses à Stuttgart.

Vorwort Es ist mir eine grosse Freude, die vielen Schulden dieses Buches anzuerkennen. Die Forschung für die Studie wurde mit Hilfe eines Humboldt-Stipendiums am Deutschen Literaturarchiv Marbach unternommen. An erster Stelle möchte ich mich also ganz herzlich bei der Humboldt-Stiftung bedanken, sowie beim Deutschen Literaturarchiv Marbach, dessen Mitarbeiter sich stets sachkundig und hilfsbereit erwiesen: Hier seien unter anderem Jutta Bendt, Ulrich von Bülow, Jan Bürger, Christiane Dätsch, Frank Druffner, Carsten Dutt, Marcel Lepper, Ulrich Raulff und Nicolai Riedel hervorgehoben. Die gelegentlichen Zurechtweisungen von Katharina von Wilucki dürfen auch nicht unerwähnt bleiben. Als erster Leser des Buches hat sich der große Sebald-Kenner Richard Sheppard als unentbehrlich erwiesen. Zahlreich sind die Fehler, die er mir erspart hat. Vielleicht würde er nicht unbedingt jedem Punkt in der Monografie zustimmen – das Buch ist aber ohne Zweifel durch seine klugen Eingriffe viel besser geworden. Als letzte Leserinnen haben sich Manuela Gerlof und Angelika Hermann vom Walter de Gruyter Verlag als ebenso hilfreich erwiesen. Bei Ihnen, bei Herrn Prof. Heiko Hartmann, bei den Reihenherausgebern Ernst Osterkamp und Werner Röcke und bei allen im Verlag möchte ich mich hier ganz herzlich bedanken. Für die freundlichen Einladungen zu Tagungen und Gastseminaren möchte ich mich bei den Universitäten von Davidson, Norwich und Heidelberg bedanken. Kollegen bei der University of Kent und ihrem Centre for Modern European Literature – allen voran meine CoDirektoren Tom Baldwin und Shane Weller, sowie Osman Durrani und Anna Katharina Schaffner – haben mich auf vielfache Weise unterstützt. Meine postgraduates, die über Sebald geschrieben haben – hier seien vor allem Harriet Clements und Angela Gerhardt genannt – haben auch ihren Beitrag zu diesem Buch geleistet.

Inhalt Vorwort ................................................................................................................vii Einleitung: Zur Ästhetik der Ethik ....................................................................1 Fortschrittskritik und die Dialektik der Aufklärung...............................4 Thomas Bernhard als stilistisches Vorbild ............................................8 Stil oder Form .........................................................................................12 Eine Prosa der „Metaphorisierung“ .....................................................20 „Sentimentalischer“ Stil .........................................................................23 Kapitelübersicht ......................................................................................30 Erzähltechnik I: „Seemann“ oder „Ackermann“? .........................................35 „In die Naturgeschichte [ein]gebettet“. Rahmenerzählung als philosophisches Prinzip .........................................................................36 Das Prinzip des „Einschachtelns“........................................................44 Das Prinzip der „Montage“ ...................................................................49 Erzähltechnik II: „Der Erzähler als Schutzengel“. Sebalds Lektüre von Giorgio Bassani ...................................................................................................57 Bassani und die realistische Tradition..................................................58 Landschaftsbeschreibungen ..................................................................61 Vergänglichkeit und Nostalgie ..............................................................65 Andeutungen des kommenden Antisemitismus ................................67 „Annäherung und Entfernung“. Dialektische Erzählprinzipien .....69 „Baulust und Zerstörung“. Fortschrittskritik in der Baugeschichte ...........77 Schwindel. Gefühle ......................................................................................78 Die Ausgewanderten ....................................................................................81 Die Ringe desSaturn....................................................................................87 Austerlitz....................................................................................................91 Antwerpen................................................................................................92 Die Antwerpener Centraal Station .......................................................95 Fort Breendonk .....................................................................................100 Der Brüsseler Justizpalast ....................................................................106 Die Bibliothèque Nationale .................................................................107 Das architektonische Idiom der Sprachskepsis ................................108

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Inhalt

„Das selbstzerstörerische Geschäft des Schreibens“. Fortschrittskritik in der Literaturgeschichte ................................................................................112 Die „Kunst des Schreibens“ ...............................................................112 „Die zunehmende Schwierigkeit der Artikulation“. Sebalds Literaturwissenschaft............................................................................116 Thomas Bernhard und „die Geschichte eines naturhistorischen Prozesses“ ..............................................................................................121 Sir Thomas Browne ..............................................................................124 Michael Hamburger ..............................................................................127 Edward Fitzgerald.................................................................................128 Algernon Swinburne.............................................................................130 Chateaubriand .......................................................................................132 Seide ........................................................................................................133 Claude Lévi-Strauss ..............................................................................135 Joseph Conrad .......................................................................................141 Die Leichtigkeit der Schwermut: Sebalds „Kunst der Levitation“ ...........145 Leichtigkeit als Ziel ...............................................................................147 Nietzsche und „das Vergessen-Können“ .........................................151 „Höhenflug der Sprache“. Levitation als stilistisches Prinzip .......153 Levitation in Sebalds literaturwissenschaftlichem Werk .................157 „Ein Hellseher im Kleinen“. Minimalisierung und Elaboration ...158 „Beatific moments“. Benjaminische Geschichtsphilosophie .........162 Schlussbemerkungen ........................................................................................166 Literaturverzeichnis . ........................................................................................172 Register ...............................................................................................................182

Einleitung: Zur Ästhetik der Ethik „Der Schlüssel jeglichen Gehaltes von Kunst liegt in ihrer Technik“.1 W.G. Sebalds Hervorhebung dieses programmatischen Satzes in seinem Exemplar von Adornos Versuch über Wagner lässt auf einen eventuellen methodologischen Ansatz zu seinem eigenen Werk schließen. Dass die frühe Rezeption von Sebalds Werk vom Klischee des HolocaustSchriftstellers geprägt wurde, ist mittlerweile selbst zum Klischee geworden. Wo bleibt das benötigte close reading von Sebalds Syntax und Satzbau? Die vorliegende Studie versteht sich als Versuch, anstelle von Sebalds Thematik die technē seiner Prosa ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Nicht nur was Sebald schreibt, sondern wie er schreibt, soll zum Mittelpunkt der Analyse werden, um damit einen Überblick über den Rhythmus seiner Syntax zu gewinnen. Dementsprechend hat das Buch zwei Hauptziele: Sebalds Stil und Erzählstrukturen zu untersuchen, um sie als Inszenierung einer aus seiner Lektüre sich speisenden Fortschrittskritik zu deuten. Um diesem Stil und dessen Auswirkungen nachzugehen, stützt sich die Studie nicht nur auf Sebalds veröffentlichte Werke, sondern auch auf seine bisher wenig erforschte Handbibliothek, die sich im Deutschen Literaturarchiv in Marbach befindet. Obwohl diese Studie sich keineswegs als systematische Untersuchung oder Auflistung des Inhalts von Sebalds Bibliothek versteht, gibt diese Bibliothek einen aufschlussreichen Einblick in die Quellen seines Stils: Zwar entsprechen Sebalds Hervorhebungen und Randbemerkungen manchmal Stellen in seinem eigenen Werk, sie verraten aber oft auch explizit Gedankengänge, die in den endgültigen Büchern nur implizit zu verfolgen sind. Die zahlreichen Äußerungen in seinen kritischen Aufsätzen mögen einen ersten Ausgangspunkt zur Interpretation dieser Bibliothek bilden: Jedoch entsteht gleichzeitig der Eindruck, dass angesichts der Inhalte seiner Bibliothek (bzw. seiner eigenen Äußerungen zu wichtigen „Einflüssen“) auffallende Lücken in Sebalds kritischen Schriften vorhanden sind. Diese sind also nur von bedingtem Wert und bedürfen der Ergänzung durch das, was sich aus seiner Bibliothek erschließen lässt. _____________ 1

Theodor Adorno, Versuch über Wagner, München 1964, S. 135.

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Einleitung: Zur Ästhetik der Ethik

Sebald mag zunächst immer wieder als eine Art HolocaustSchriftsteller, als Nachkriegsdichter verstanden worden sein, die Herangehensweise der Forschung hat sich jedoch allmählich geändert.2 _____________ 2

Die erstaunliche internationale Karriere von Sebalds Werk im letzten Jahrzehnt ist in gewisser Hinsicht nicht schwer zu verstehen. Sebald gilt als Musterschüler der Vergangenheitsbewältigung, dessen Schriften sich mit den spezifischen Erinnerungsproblemen der Nachkriegszeit mit unerhörter Subtilität auseinandersetzen. Eine ausführliche Besprechung der wachsenden Sekundärliteratur zu seinem Werk würde den Rahmen dieser Einleitung sprengen (für einen Überblick über die neuesten Erscheinungen siehe Richard Sheppard, „Woods, trees and the spaces inbetween. A report on work published on W.G. Sebald 2005-2008“, Journal of European Studies, vol. 39, 2009, S. 79-128). Es seien für unsere Zwecke drei repräsentative Bereiche hervorgehoben: die unterschiedliche Rezeption in der angelsächsischen Welt bzw. im deutschsprachigen Raum, die Frage seiner Intertextualität und die aus den bekanntesten Tagungen hervorgegangen Sammelbände. In den angelsächsischen Ländern, wo Sebald viel schneller rezipiert wurde als in seiner deutschen Heimat, liegt sein Erfolg wohl eher an seiner Beschäftigung mit den Nachwirkungen des Holocausts als an den Subtilitäten seiner Sprache. Vor allem in Amerika ist Sebald als „Trauma-Theoretiker“, als eine Art nachträglicher Shoa-Dichter gefeiert worden, dessen Schriften beinah als historische Dokumente zu lesen seien (dazu gehört naturgemäß auch seine Verwendung von Fotografien). Anne Parry zum Beispiel interpretierte Sebald als das Musterbeispiel des gegenwärtigen Holocaust-Dichters (Anne Parry, „Idioms for the Unrepresentable: Postwar Fiction and the Shoah“, in: The Holocaust and the Text: Speaking the Unspeakable, hrsg. von Andrew Leak, George Paizis, New York 2000, S. 109-24), während Susan Sontags Bezeichnung seines „mind in mourning“ mittlerweile berühmt geworden ist (Susan Sontag, „A Mind in Mourning: W.G. Sebald’s Travels in Search of Some Remnant of the Past“, Times Literary Supplement, 25/2/2000, S. 3). In Deutschland selbst ist Sebalds Rezeption viel differenzierter gewesen, und zwar aus zwei Hauptgründen. Erstens ist er wegen seiner oft äußerst aggressiven literaturkritischen Schriften zu einer umstrittenen Figur geworden: Die provozierende These des Scheiterns der deutschen Literatur angesichts der allierten Luftangriffe (und die anschließende Kritik an der Selbstdarstellung Alfred Anderschs), die in den mittlerweile berühmt-berüchtigten Vorlesungen Luftkrieg und Literatur ein breites Publikum gefunden hat, sowie die viel früher in seiner Karriere veröffentlichten – aber erst kürzlich in der Forschung zur Kenntnis genommenen – Angriffe auf die guten Rufe Carl Sternheims und Alfred Döblins haben dazu beigetragen, dass Sebald in seiner Heimat durchaus weniger hagiografisch wahrgenommen wird als in seiner Wahlheimat England, geschweige denn in den USA. „Der Ruhm, der Sebald in der englischsprachigen Welt zugewachsen ist, (...) ist in der deutschen Literaturkritik misstrauisch beäugt worden, als Symptom jener Verflüchtigung der Erinnerung, die der Gerühmte gerade bedauert“ (FAZ, 17/12/2001). Zweifellos liegt Sebalds problematischerer Status in Deutschland aber auch daran, dass sein Werk nicht nur thematisch, sondern auch allmählich technisch gedeutet wird. Die umfangsreichste Studie zu Sebalds Werk ist wohl nach wie vor Anne Fuchs’ 2004 erschienene Die Schmerzensspuren der Geschichte, die sich ausführlich mit der Verschränkung von Ethik und Poetik in Sebalds Werk auseinandersetzt, vor allem vor dem Hintergrund der Theorie des kulturellen Gedächtnisses. Fuchs geht es auch darum, Sebalds Rezeption als „Holocaust-Autor“ (Anne Fuchs, Die Schmerzensspuren der Geschichte: Zur Poetik der Erinnerungen in W.G. Sebalds Prosa, Köln 2004, S. 17) zu widerstehen, indem sie einerseits die „geradezu obsessive Beschäftigung mit dem Konzept des geschichtlichen Traumas“ (vor allem in den USA) diagnostiziert, andererseits die Vernachlässigung des ganzen „ethisch und ästhetisch relevanten Erinnerungsdiskurs vor Sebald“ beklagt (Fuchs, S. 12). Sie zitiert dazu auch Rüdiger Görner, der der Mehrheit der englischsprachigen Kritiker vorwirft, „die bis ins Mark des deutschen Selbstverständnisses

Einleitung. Zur Ästhetik der Ethik

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Dem Ansatz der vorliegenden Studie am nächsten ist wohl Claudia Öhlschlägers Deutung von Sebalds durch Walter Benjamin inspirierter „poetische[r] Zivilisationskritik“, die sich als Versuch präsentiere, _____________ reichenden großen Kontroversen der letzten beiden Jahrzehnte namens Historikerstreit, Hauptstadtdebatte, Christa-Wolf-Streit, Holocaust-Denkmal, Walser-Bubis-Debatte, Bundeswehreinsatz außerhalb des NATO-Gebietes und ihre politisch-moralischen Implikationen“ vergessen bzw. gar nicht zur Kenntnis genommen zu haben (Rüdiger Görner, „Im Allgäu, Grafschaft Norfolk: Über W.G. Sebald in England“, Text + Kritik 158 (2003), S. 29 [Fuchs, S. 13]). Hingegen hat J.J. Long, einer der besten Sebald-Kenner in der angelsächsichen Welt, mit seiner Studie W.G. Sebald – Image, Archive, Modernity (Edinburgh/New York 2007) eindeutig gezeigt, dass man Sebalds Werk auch theoretisch verstehen kann, fern von solchen rein deutschen Beschäftigungen. Long skizziert einen differenzierten Foucaultschen Ansatz zu den verschiedenen ‚Archiven’ in Sebalds Werk, der Sebald wieder in der Moderne verortet. Solche Stimmen werden als Gegengewichte zur beinah hagiografischen Rezeption Sebalds in der angelsächsischen Welt dringend benötigt. Die vielschichtige Intertextualität von Sebalds Büchern ist mittlerweile durchgehend untersucht worden (in der deutschsprachigen Kritik eher als in der englischen, denn eine ausführliche Analyse seiner Technik des Anspielens und Zitierens setzt eine Kenntnis der deutschsprachigen Literatur des 19. bzw. 20. Jahrhunderts voraus, die bei angelsächsischen Kritikern oft fehlt). Susanne Schedels Wer weiß, wie es wirklich vor Zeiten gewesen ist? leistet einen wichtigen Beitrag zu diesem Forschungsgebiet, indem sie Sebalds „Textbeziehungen als Mittel der Geschichtsdarstellung“ untersucht (Susanne Schedel, Wer weiß, wie es wirklich vor Zeiten gewesen ist? Textbeziehungen als Mittel der Geschichtsdarstellung bei W.G. Sebald [Würzburg 2004]). Die Betonung von Sebalds intertextuellen Verfahrensweisen kann aber letztendlich nur einen einzigen Aspekt seiner schriftstellerischen Technik erörtern. Zwar ist eine Untersuchung der Intertextualität in Sebalds Werk von großer Wichtigkeit, dennoch interessiert sie sich naturgemäß eher für Resonanzen außerhalb des Textes, und nicht so sehr für den Duktus des Textes selbst. Die drei wohl beachtetsten Sammelbände der letzten Jahre bilden zwar eine unverzichtbare Grundlage zur weiteren Forschung, schließen jedoch keineswegs die Notwendigkeit einer von einer einzigen, grundlegenden These getriebenen Studie seines Stils aus. Das 2004 erschienene Critical Companion zu Sebalds Werk teilt seine Kapitel in fünf Abschnitte auf („Contents“, „Landscape and Nature“, „Travel and Walking“, „Intertextuality and Intermediality“, „Haunting, Trauma and Memory“), die zwar allesamt interessante Beiträge zur Forschung leisten, seinen Stil aber nur am Rande der Diskussion wahrnehmen (W.G. Sebald – A Critical Companion, hrsg. von J.J. Long / Anne Whitehead [Edinburgh, 2004]). Der 2005 erschienene Band Sebald. Lektüren (Eggingen 2005) stellt den ersten Versuch dar, Sebalds in Marbach aufbewahrte Bibliothek für die Forschung zu erschließen, und enthält viele sehr interessante Aufsätze, die der zukünftigen Forschung einen großen Dienst erweisen. Allerdings liegt es in der Natur eines solchen Sammelbandes, dass er eine Vielzahl von Perspektiven vertritt, wie schon der Titel des Bandes ankündigt. Dies ist zwar eine der großen Stärken des Buches, bedeutet aber zwangsläufig, dass es keine durchgehende These vertreten kann. Ähnliches gilt für den 2006 erschienenen Band W.G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei, der auf eine im März 2004 gehaltene Tagung zurückgeht, so dass er keine Rücksicht auf Sebalds erst im Sommer 2004 in Marbach deponierte Bibliothek nehmen konnte. Einer der Beiträge beklagt sogar „das in wissenschaftlichen Analysen leider noch stark vernachlässigte audielle [Erleben], das durch den eigentümlichen Satzrhythmus Sebaldscher Prosa bedingt ist“ (Doren Wohlleben, „Effet de flou“, in: W.G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei, hrsg. von Michael Niehaus / Claudia Öhlschläger, Berlin 2006, S. 143). Es gilt also immer noch, diesen Satzrhythmus zu untersuchen.

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„Artikulationsformen der Zerstörung“ darzustellen.3 Anne Fuchs zeigt auch, „wie Sebald zwischen der romantischen und ironischen Geschichtsallegorese hin- und herschwankt“,4 wobei „romantisch“ und „ironisch“ als zwei Aspekte einer dialektischen Historiografie verstanden werden können. Ausschlaggebend in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass die wahren Wurzeln von Sebalds Mißbehagen viel weiter in die Geschichte zurückgehen, als häufig angenommen wird – er setzt sich ja nicht nur mit den Auswirkungen der beiden Weltkriege auseinander. J.M. Coetzee deutet darauf an: In Sebald, 1914 often appears as the year when Europe took the wrong turn. But, looked at more closely, the pre-1914 idyll reveals itself to be without foundation. Did the true wrong turn take place earlier, then, with the triumph of Enlightenment reason and the enthronement of the idea of progress?5

Die von Öhlschläger und Coetzee angedeutete Fortschrittskritik bzw. Dialektik der Aufklärung wird in dieser Studie unter drei Gesichtspunkten untersucht: Sebalds Verständnis der ‚Naturgeschichte’, der Architekturgeschichte und der Literaturgeschichte. Die sich daraus ergebende Melancholie, die Sebald so beharrlich anhaftet, wird dementsprechend als eine Nebenwirkung seiner pessimistischen Einstellung gegenüber der Entwicklung der Geschichte aufgefasst – eine Schwermut, die allerdings in die im letzten Kapitel dieser Studie analysierten Augenblicke der Leichtigkeit dialektisch umschlägt, in eine sogenannte „Kunst der Levitation“.

Fortschrittskritik und die Dialektik der Aufklärung Die vorliegende Studie versucht also, Sebalds Stil und Erzählstrukturen als die Verwirklichung seiner Thematik zu deuten, insbesondere als eine ästhetische Antwort auf gewisse geschichtsphilosophische Fragen. Sebalds Stil beruht auf einer jahrelangen Auseinandersetzung mit den Theoretikern und Sozialwissenschaftlern der Vor- und Nachkriegszeit, vor allem denen der Frankfurter Schule. Soviel lässt sich auf Anhieb aus seiner Bibliothek vermuten, aus den Anmerkungen in seinen Exemplaren von Werken von Adorno, Horkheimer, Arendt, Lévi-Strauss, Sartre, Foucault, Deleuze, Barthes, Canetti usw. Seit seiner Auseinandersetzung mit Benja_____________ 3 4 5

Siehe Claudia Öhlschläger, „Der Saturnring oder Etwas vom Eisenbau“, in: W.G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei, Berlin 2006, hrsg. von Michael Niehaus und Claudia Öhlschläger, S. 189-204, hier S. 201. Anne Fuchs, Die Schmerzensspuren der Geschichte: Zur Poetik der Erinnerungen in W.G. Sebalds Prosa, Köln 2004, S. 20. J.M. Coetzee, „W.G. Sebald, After Nature”, in: Inner Workings, London 2008, S. 145-54, hier S. 147.

Fortschrittskritik und die Dialektik der Aufklärung

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min und Adorno in den 1960er Jahren (wobei er kurzfristig mit Adorno korrespondierte),6 hat sich Sebald ständig für historiografische und sozialwissenschaftliche Fragen interessiert: Als ich 1963 in Freiburg mit dem Studium begann, war das alles [der Jargon der Nazis] unter den Teppich gekehrt, und nicht selten habe ich mich seither gefragt, wie trüb und verlogen unser Literaturverständnis wohl geblieben wäre, hätten uns die damals nach und nach erscheinenden Schriften Benjamins und der Frankfurter Schule, die ja eine jüdische Schule zur Erforschung der bürgerlichen Sozialund Geistesgeschichte gewesen ist, nicht andere Perspektiven eröffnet. (Logis, 12)

Sebalds eigene wissenschaftliche Arbeit erwies sich jedoch als eher literaturkritisch als „sozial- oder geistesgeschichtlich“: Immer wieder begnügt er sich mit der österreichischen und schweizerischen Literatur – seinem Spezialgebiet – und keiner seiner zahlreichen Essays ist einer ausführlichen Auseinandersetzung mit „den Schriften Benjamins und der Frankfurter Schule“ gewidmet. Wo ist also der selbstproklamierte Einfluss der Philosophen zu spüren? Dieser Einfluss schlägt sich in erster Linie in Sebalds Stil nieder sowie in seinem Verständnis der schriftstellerischen Tätigkeit überhaupt, nämlich in der Art und Weise, wie sich gewisse Ideen der Kritischen Theorie in seiner Syntax wiederfinden. Vergleicht man die Anmerkungen und die unterstrichenen Stellen in Sebalds Bibliothek mit seinem eigenen Werk, so fällt auf, inwieweit seine Prosa von der Geschichtsphilosophie der Frankfurter Schule geprägt wurde: Stil selbst wird zu einer in der idiosynkratischen Syntax immer wieder zum Ausdruck kommenden historiografischen Perspektive. Grundpfeiler von Sebalds Stil sowie seiner Auffassung von Literatur ist eine Fortschrittskritik, eine dialektische Deutung der Geschichte, die seinem ganzen Schaffen zugrunde liegt. Der Rhythmus von Sebalds Erzählungen wird auf allen Ebenen von einer dialektischen historiografischen Fortschrittskritik geprägt, die besagt, die Geschichte könne sich nicht vorwärts entwickeln ohne sich auch zugleich rückwärts zu bewegen. Diese grundsätzliche Hypothese der Kritischen Theorie – dass, um mit Benjamin zu sprechen, es kein Dokument der Kultur gäbe, das nicht zugleich ein Dokument der Barbarei wäre, dass „der Fluch des unaufhaltsamen Fortschritts [...] die unaufhaltsame Regression“ sei,7 um das von Sebald in seinem Exemplar der Dialektik der Aufklärung hervorgehobene Verdikt von Adorno und Horkheimer zu zitieren – prägt fast jeden Aspekt von Sebalds Prosa. In der Einleitung zur Dialektik der Aufklärung _____________ 6 7

Siehe Sebald. Lektüren, hrsg. von Marcel Atze und Franz Loquai, Eggingen 2005, S. 12-38. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1969, S. 42.

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Einleitung: Zur Ästhetik der Ethik

schreiben Adorno und Horkheimer bekanntlich, „der Fortschritt schlägt in den Rückschritt um“.8 Die beiden dialektischen Begriffe können mit Recht als die zwei Pole von Sebalds ganzem Schaffen aufgefasst werden, zumal er den Binarismus „Fortschritt“ und „Regression“ im Laufe der Dialektik der Aufklärung immer wieder umkringelt. Der historische Hintergrund der im amerikanischen Exil verfassten Dialektik der Aufklärung war der zweite Weltkrieg, wobei der Holocaust als Gipfel der zweischneidigen Entwicklung der Aufklärung ihrer dialektischen Auslegung eine zeitgeschlichtliche Resonanz verlieh. Ähnliches gilt für Sebalds Prosa: Die Entwicklung seiner Protagonisten entfaltet sich vor der Kulisse des Dritten Reichs, und ihre Entwicklung gipfelt, dialektisch betrachtet, in der Shoa. Vielleicht ist es in der Tat barbarisch, ein Gedicht nach Auschwitz zu schreiben, es sei denn, dass das Gedicht – „als sei es hervorgegangen aus einer langen Ahnenreihe grauer, eingeäscherter, in dem zerschundenen Papier nach wie vor herumgeisternder Gesichter“ – das katastrophale Scheitern des humanistischen „Fortschrittes“ in sich hineinziehe. Genau das tut die Prosa Sebalds: Die Dialektik wohnt ihr stilistisch inne. „Die großen Künstler“ – so Adorno und Horkheimer in einer langen, durchwegs von Sebald angestrichenen Passage über den Stilbegriff – „sind jene, die den Stil als Härte gegen den chaotischen Ausdruck von Leiden, als negative Wahrheit, in ihr Werk aufnahmen“.9 Diese „negative Wahrheit“ versucht Sebald ebenfalls in sein Werk aufzunehmen, indem er auf die Konventionen der Fiktion zugunsten einer sorgfältig stilisierten Prosa verzichtet. Welche sind also die stilistischen Merkmale, die diese „negative Dialektik“ bewirken? Adorno und Horkheimer liefern einen Hinweis in ihrer Behauptung, der Stil würde den wahren Schriftsteller verraten: „Das Moment am Kunstwerk, durch das es über die Wirklichkeit hinausgeht, ist in der Tat von Stil nicht abzulösen“, schreiben sie in einer von Sebald in Klammern gesetzten Passage, „doch es besteht nicht in der geleisteten Harmonie, [...] sondern in jenen Zügen, in denen die Diskrepanz erscheint, im notwendigen Scheitern der leidenschaftlichen Anstrengung zur Identität.“10 Die aufschlussreichsten Momente seien diejenigen, die in ihren „Diskrepanzen“ und Aporien ihr eigenes Scheitern verkünden – Momente, dialektisch formuliert, wo „Fortschritt“ in „Regression“ umkippt. Sebalds Stil beruht grundsätzlich auf solchen dialektischen Momenten, wovon das frappierendste Beispiel wohl die Konstruktion „je mehr ... _____________ 8 9 10

Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, S. 5. Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, S. 138. Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, S. 139.

Fortschrittskritik und die Dialektik der Aufklärung

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desto weniger“ ist, deren Variationen im Laufe seines Werks immer wieder vorkommen. Sebalds performative11 Syntax verwirklicht ihre eigene Dialektik: „Je mehr ... desto weniger“ ist die syntaktische Figur par excellence einer Fortschrittskritik, die – grob formuliert – darauf besteht, je weiter sich die Menschheit „entwickele“, desto weniger komme sie eigentlich voran, desto schneller zerstöre sie sich. „Alle Geburt wird mit dem Tod bezahlt, jedes Glück durch Unglück“, streicht Sebald heraus.12 „Die Selbstzerstörung der Aufklärung“13 sei unvermeidlich, so Adorno und Horkheimer in ihrer Einleitung. Sebald streicht die verschiedenen Variationen dieser syntaktischen Konstruktion in den zahlreichen in seiner Bibliothek befindlichen Exemplaren von den Werken Adornos, Arendts14 und Lévi-Strauss immer wieder an. Zwei Beispiele seien hier stellvertretend erwähnt. In Adornos Versuch über Wagner streicht Sebald zunächst den folgenden Satz heraus: In Wagners Musik wird bereits jene Entwicklungstendenz des spätbürgerlichen Bewußtseins sichtbar, unter deren Zwang das Individuum um so emphatischer sich selbst hervorhebt, je scheinhafter und ohnmächtiger es in der Realität geworden ist.15

Später im Buch streicht Sebald einen ähnlichen Satz heraus: „Sein Blick auf die Totale ist nicht bloß totalitär-verfügend, sondern mahnt an die universale Verstricktheit, in der das Individuum desto weniger vermag, je rücksichtloser es sich selbst setzt“.16 In beiden Fällen kommt das dialektische Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft erst in der Syntax zum Ausdruck: Je mehr man sich in der einen Richtung bewege, so das Argument, desto weniger komme man eigentlich voran. Diese Kritik der Frankfurter Schule am Fortschrittsglauben kann man mit Recht als Grundpfeiler der Sebald’schen Weltanschauung bezeichnen, denn eine Kritik am nur scheinbaren Fortschritt kennzeichnet sein ganzes Dichten und Denken. Das eindeutigste Beispiel, das als locus classicus seiner dialektischen Herangehensweise gelten darf, taucht schon in Schwindel. Gefühle auf: „Je mehr Bilder aus der Vergangenheit ich versammle“, schreibt Sebald, „desto unwahrscheinlicher wird es mir, daß die Vergangenheit auf diese Weise sich abgespielt haben soll“ (SG, 231). Die dialekti_____________ 11

12 13 14 15 16

„Performativ“ wird hier im Sinne J.L. Austins verstanden: „to utter the [performative] sentence is not to describe my doing of what I should be said in so uttering to be doing or to state that I am doing it: it is to do it.“ J.L. Austin, How to do things with words, Oxford 1971, S. 6. Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, S. 22. Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, S. 5. In Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft streicht Sebald die Struktur viermal innerhalb von vierzig Seiten an. Adorno, Versuch über Wagner, S. 51. Adorno, Versuch über Wagner, S. 125.

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Einleitung: Zur Ästhetik der Ethik

sche Bewegung charakterisiert sein ganzes Werk: In dem Maß, in dem er mit seinen Forschungen zur europäischen Geschichte vorankommt, zweifelt er an der Möglichkeit jeglichen Fortschrittes: I think all our philosophical systems, all our systems of creed, all our constructions, even the technological ones, are built in that way, in order to make some sort of sense, which there isn’t, as we all know. 17

Diese Fortschrittskritik entspringt allerdings nicht nur der dialektischen Geschichtsphilosophie, sondern auch Sebalds im vierten Kapitel dieser Studie analysierten Verständnis des „selbstzerstörerischen Geschäft[s] des Schreibens“. Im siebten Kapitel von Die Ringe des Saturn bringt Michael Hamburger die Dialektik auf den Punkt: Vielleicht verliert ein jeder von uns den Überblick genau in dem Maß, in dem er fortbaut am eigenen Werk, und vielleicht neigen wir aus diesem Grund dazu, die zunehmende Komplexität unserer Geisteskonstruktionen zu verwechseln mit einem Fortschritt an Erkenntnis, während wir zugleich schon ahnen, daß wir die Unwägbarkeiten, die in Wahrheit unsere Laufbahn bestimmen, nie werden begreifen können. (RS, 217)

Sowohl die Syntax als auch das Idiom der Passage verraten ihre Herkunft in den klassischen Analysen der Dialektik: Nicht nur Konstruktionen wie „in dem Maß, indem er fortbaut“ oder „während wir zugleich schon ahnen“ gebärden sich dialektisch, sondern selbst der verkannte „Fortschritt an Erkenntnis“ weist direkt auf eine dialektische Kritik am Fortschrittsglauben der Aufklärung.

Thomas Bernhard als stilistisches Vorbild Diese dialektische Denkweise geht zudem auch auf Sebalds stilistische Auseinandersetzung mit seinen literarischen Vorbildern zurück – allen voran Thomas Bernhard, der einen so prägenden Einfluss auf den Sebald’schen Stil ausgeübt hat. In seinem Exemplar von Bernhards Verstörung streicht Sebald etwa den folgenden Satz heraus: „Je länger mein Vater auf den Mann [...] einredete, desto unsinniger erschien es ihm offensichtlich“.18 Bemerkenswert hier ist nicht nur die Tatsache, dass Sebald wiederum eine dialektische Struktur angestrichen hat, die das „Scheitern der leidenschaftlichen Anstrengung“ so eindeutig zum Ausdruck bringt, son_____________ 17 18

Joseph Cuomo, „A Conversation with W.G. Sebald“, in: The Emergence of Memory. Conversations with W.G. Sebald, hrsg. von Lynne Sharon Schwartz, London 2007, S. 93-117, hier S. 97. Thomas Bernhard, Verstörung, Frankfurt a.M. 1967, S. 13.

Thomas Bernhard als stilistisches Vorbild

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dern auch, dass er an den Rand des Textes das Kürzel „S“ geschrieben hat, das vermutlich für „Stil“ steht. Die Bernhard’sche „Übertreibungskunst“ hat Sebalds Prosastil entscheidend geprägt. Nicht nur den Grundton, den manchmal etwas monotonen Pessimismus des Bernhard’schen Duktus hat Sebald übernommen, sondern auch genau zu identifizierende Aspekte seines Stils. Abgesehen von den verschiedenen Beispielen der Struktur „je mehr ... desto weniger“, die er bei Bernhard unterstrichen hat, fallen bei Sebalds Lesespuren vor allem zwei komplementäre Merkmale des Bernhard’schen Satzes auf: Steigerungswörter („zunehmend“, „in zunehmendem Maße“) und Momente eines dialektischen Umschlags („gleichzeitig“, „einerseits / andererseits“). Die erste Gruppe von Konstruktionen mag zwar durch solche Steigerungswörter einen Prozess des Fortschritts vortäuschen, aber der Fortschritt, der beschrieben wird, ist in der Praxis dermaßen ‚negativ’, dass er gleichsam einer Regression gleichkommt. Sebald streicht etwa eine Stelle in Verstörung an, wo Bernhard „ein zunehmend Melancholisches, das sich mehr und mehr über uns alle ausbreitete“, beschreibt; die Steigerungswörter „zunehmend“ und „mehr und mehr“ kommen in einem solchen Kontext eher einer Fortschrittskritik als einem wahren Fortschrittsprozess gleich. In ähnlicher Weise streicht Sebald einen Satz in Frost heraus, der als typisch für Bernhard gelten mag: „Die Welt ist ein stufenweiser Abbau des Lichts“.19 Die Welt komme nur „stufenweise“ voran, in dem Maß, in dem sie abgebaut werde. Solche Sätze täuschen zwar einen Fortschrittsprozess vor, in der Wirklichkeit entsprechen sie aber vielmehr der von Sebald mehrfach zitierten ‚negativen’ Dialektik, die bei Adorno und Horkheimer zu finden ist. „Der Fluch des unaufthaltsamen Fortschrittes“ ist in diesem Fall tatsächlich „die unaufhaltsame Regression“. Die zweite Gruppe von Sätzen, die Sebald bei Bernhard hervorhebt, stellt ihren dialektischen Duktus augenfälliger zur Schau. Sätze, die einerseits eines, andererseits das Gegenteil behaupten, sind ein charakteristisches Merkmal des Bernhard’schen Stils. Frappierend ist nicht nur, dass Sebald solche Strukturen unterstreicht, sondern dass er sich vor allem für diejenigen interessiert, die sowohl Nähe (bzw. „Leidensgenossenschaft“) als auch Ferne (bzw. kühle Objektivität) inszenieren. Bernhard spricht in Verstörung von einer „ungeheuere[n] Entfernung und Entfremdung, die gleichzeitig die größtmögliche Nähe und Leidensgenossenschaft, aber keine Qualgenossenschaft gewesen ist“,20 worauf Sebald am Rand „pathologische Kontaktfreiheit“ schreibt. Darüber hinaus hebt Sebald in Ungenach eine ähnli_____________ 19 20

Diesen Satz zitiert Sebald auch in seinem Aufsatz „Wo die Dunkelheit den Strick zuzieht“, in: W.G. Sebald, Die Beschreibung des Unglücks, Frankfurt a.M. 1994, S. 107. Bernhard, Verstörung, S. 117.

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che Passage vor: „eine wirkliche Kunst ist es,“ schreibt Bernhard, „sich hundertprozentig von den Menschen abzuschließen und gleichzeitig ebenso hundertprozentig in ihnen aufzugehen“.21 Von Relevanz hier ist vor allem die Verwendung des Adverbs „gleichzeitig“, denn es suggeriert sowohl Nähe als auch Ferne, sowohl eine gewisse Sympathie („Leidensgenossenschaft“) als auch eine sorgfältig konstruierte Diskretion („keine Qualgenossenschaft“). Wenn sich Sebalds in seinem Prosastil inhärente Geschichtsphilosophie als ein Oszillieren zwischen den beiden Polen „Fortschritt“ und „Regression“ lesen lässt, so lassen sich seine Erzähltechnik bzw. seine Rahmenerzählungen als ein gespanntes Verhältnis zwischen Sympathie und Diskretion verstehen. Sebald kommt in Interviews immer wieder darauf zurück: „Ich glaube, dass man sehr viel einleuchtender über das schreiben kann, was in der Entfernung ist, und dass diese Entfernung eine Voraussetzung für die Wahrnehmung ist“‚ sagte er etwa 1996 dem Rheinischen Merkur.22 Andererseits müsse der Erzähler äußerst „diskret“ mit dieser Wahrnehmung umgehen: „Ich glaube [...], dass man heute nicht mehr so schreiben kann, als sei der Erzähler eine wertfreie Instanz“, sagte Sebald 1997. „Der Erzähler muß die Karten auf den Tisch legen, aber auf möglichst diskrete Art“.23 Die sorgfältige Positionierung des Erzählers zwischen Sympathie (bzw. Nähe oder Diskretion) und Ferne kommt etwas poetischer zum Ausdruck am Rande von Sebalds Exemplar von Giorgio Bassanis Ferrareser Geschichten (siehe Kapitel 2 dieser Studie). Dort schreibt Sebald: „Der Erzähler als Schutzengel, der seinen Figuren nicht helfen kann, aber doch bei ihnen bleibt“.24 Die Beschreibung ist sehr ambivalent: Einerseits soll der Erzähler als Schutzengel fungieren, andererseits darf er in die Leben seiner Protagonisten nicht eingreifen. Dieses dialektische Erzählverhältnis verkörpert auf dem Niveau der Satzstruktur das Adverb „gleichzeitig“, indem es auf zwei verschiedene Zeitebenen hindeutet. Die für Bernhards Prosastil charakteristischen Adverbien („zunehmend“, „gleichzeitig“, „in dem Maß“, „im Verlauf“, „fortschreitend“, „einerseits“ /„andererseits“, „sowohl ... als auch“), die dem „stufenweise[n] Abbau des Lichts“ Gestalt geben, finden ihr Gegenstück nicht nur in Sebalds Syntax, sondern auch in seiner pessimistischen, an der Benjaminischen Naturgeschichte (siehe Kapitel 1) bzw. an der Frankfurter Schule geschulten Geschichtsphilosophie. Bernhards Satzstruktur steht in direktem Verhältnis zu seiner Erzähltechnik, zumal die monologischen Struktu_____________ 21 22 23 24

Thomas Bernhard, Ungenach, Frankfurt a.M. 1968, S. 17. Rheinischer Merkur, 19/4/1996. Marco Poltronieri, „Wie kriegen die Deutschen das auf die Reihe? Ein Gespräch mit W.G. Sebald“, in: Porträt: W.G. Sebald, hrsg. von Franz Loquai, Eggingen 1997, S. 144. Giorgio Bassani, Ferrareser Geschichten, München 1996, S. 59.

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ren seiner Erzählungen einen diskret zuhörenden Erzähler voraussetzen, der dann seinerseits den ursprünglichen Monolog an den Leser weitergibt. Sebalds Erzählungen bedienen sich der gleichen Technik: Der diskrete Erzähler steht immer am Rande des Textes, wenn er die Geschichten der Protagonisten weitergibt. Diese Struktur setzt also eine Bernhard’sche Kunst des Berichtens voraus. Frappierend bei Sebalds Texten ist in der Tat die ständige Wiederholung der Struktur des Berichtens: Kleine Phrasen wie „deine Mutter Agáta, so begann sie, glaube ich, sagte Austerlitz“ (A, 239) kommen immer wieder vor und erinnern unweigerlich an Bernhards ähnliches Erzählverfahren. In seiner Analyse der „Form und Genese modernen Erzählens“ in Bernhards Prosa spricht Hans Höller von einem „erzählerische[n] Grundmodell, das viele Variationen erlaubt“: Es kann sich die Erzählfigur berichtend und kommentierend mit einer lebenden oder bereits verstorbenen Person auseinandersetzen, oder das Reden und Denken des Icherzählers selber wird [...] zum Thema. Das auffälligste sprachliche Zeichen dieses literarisch verfremdenden Umgangs mit der Rede des Anderen oder dem eigenen Denken und Sprechen ist das ständig eingeschobene, für Bernhards Erzähl-Grammatik so charakteristische „sagte er“ oder „sagte ich“ oder „dachte er“ und „dachte ich“ usw. Solche Grammatikalisierungen der Redesituation bringen ein reflektierendes, quasi wissenschaftliches Moment ins Spiel.25

Diese „Erzähl-Grammatik“ Bernhards hat Sebald seinerseits in einem Interview mit dem Spiegel als „periskopisch“ bezeichnet: Mein Vorbild ist Thomas Bernhard, den ich als Autor sehr vermisse. Ich würde sein Verfahren als periskopisch bezeichnen, als Erzählen um ein, zwei Ecken herum – eine sehr wichtige Erfindung für die epische Literatur dieser Zeit.26

Diese „ein, zwei Ecken“ entsprechen den immer wieder eingeschobenen kurzen Phrasen „sagte er“ oder „dachte ich“: Es werde immer „vermittelt“, es werde, so Sebald weiter‚ „immer wieder daran erinnert, dass es so von jemandem erzählt worden ist, dass es durch den Filter des Erzählers gegangen ist“. Die Schichten der Geschichte sind in Sebalds eigener Prosa ebensowenig durchlässig: „Everything is related round various corners in a periscopic sort of way“,27 sagte Sebald auch in Bezug auf sein eigenes Werk in einem Interview mit Michael Silverblatt. In diesem kurz vor seinem Tod geführten Interview geht Sebald zum ersten Mal ausführlich auf die Bedeutung von Bernhard für sein Werk ein: _____________ 25 26 27

Hans Höller, Thomas Bernhard. Erzählungen, Frankfurt a.M. 2001, S. 115. Der Spiegel, 12/3/2001. Michael Silverblatt, „A Poem of an Invisble Subject“, in: The Emergence of Memory. Conversations with W.G. Sebald, hrsg. von Lynn Sharon Schwartz, London 2007, S. 77-86, hier S. 82.

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What Thomas Bernhard did to postwar fiction writing in the German language was to bring it to a new radicality which didn’t exist before, which wasn’t compromised in any sense. Much of German prose fiction writing, of the fifties certainly, but of the sixties and seventies also, is severely compromised, morally compromised, and because of that, aesthetically frequently insufficient. And Thomas Bernhard was in quite a different league because he occupied a position which was absolute. [...] And what he achieved, I think, was to move away from the standard pattern of the standard novel. He only tells you in his books what he heard from others. So he invented, as it were, a kind of periscopic form of narrative. You’re always sure that what he tells you is related, at one remove, at two removes, at two or three. That appealed to me very much, because this notion of the omniscient narrator who pushes around the flats on the stage of the novel, you know, cranks things up on page three and moves them along on page four and one sees him constantly working behind the scenes, is something that I think one can’t do very easily any longer. So Bernhard, single-handedly I think, invented a new form of narrating which appealed to me from the start.28

Bernhard, so Sebald, hat eine ethische Dimension in die Ästhetik wieder eingeführt, indem er seinen Stil und seine Erzähltechnik radikal und konsequent weiterentwickelt hat. Seine ‚Übertreibungskunst’ sei auch ethisch zu verstehen. Inwiefern lässt sich Ähnliches vom Sebald’schen Stil behaupten?

Stil oder Form Le miracle de cette transformation fait du style une sorte d’opération supralittéraire, qui emporte l’homme au seuil de la puissance et de la magie (Roland Barthes, Le degré zéro de l’écriture).29

Dass das Verhältnis zwischen „wie“ und „was“ als Ausgangspunkt eines Versuchs zur Definition eines Stilbegriffs vorausgesetzt werden darf, mag vielleicht als Gemeinplatz gelten. In ihrem Handbuch zur Stilistik (1974) vertraten etwa Bernhard Asmuth und Luise Berg-Ehlers diese Ansicht: „Stil, so ließe sich vorab simplifizierend sagen, ist die Art und Weise, wie jemand schreibt“.30 Mit dieser Definition wiesen sie auch auf Richard Ohmanns einflussreichen Aufsatz „Generative grammars and the concept of literary style“ (1964) hin, der mit der gleichen Bemerkung anfing: „Stil ist – der Wortbedeutung nach – die Art, wie einer schreibt.“31 Gegenwärtige Definitionsversuche weichen nicht sehr weit von diesem Muster ab: _____________ 28 29 30 31

Silverblatt, „A Poem of an Invisble Subject“, S. 82f Roland Barthes, Le degré zéro de l’écriture, Paris 1953, S. 17. Bernhard Asmuth und Luise Berg-Ehlers, Stilistik, Düsseldorf 1974, S. 12. Richard Ohmann, „Generative grammars and the concept of literary style“, Word XX (1964), S. 423-39. Übersetzt von Heinz Blumensath.

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Dirk Werle versucht zum Beispiel die Begriffe des Stils und der Form gleichzusetzen: „Beide scheinen sich auf das ‚Wie’ gegenüber das ‚Was’ des jeweils untersuchten Artefakts zu beziehen, also nicht auf den Inhalt, sondern auf die Art und Weise, wie der Inhalt erzeugt und vor allem transportiert wird“.32 Man dürfe allerdings die verschiedenen Definitionsversuche des Begriffs nicht bloß auf einen gemeinsamen Nenner bringen, moniert Werle: „Der Stilbegriff ist, wie kaum einer seiner Theoretiker zu betonen versäumt, ein suggestiver, weil schillernder Begriff, das heißt, er ist hinsichtlich seines Inhaltes und seines Umfangs nicht sehr klar bestimmt“.33 Die meisten modernen Untersuchungen beginnen bei dem locus classicus des modernen Stilbegriffs: Goethes Aufsatz „Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil“. Goethe versteht den Begriff allerdings eher als eine Frage der Qualität als der Technik, eher als einen Gradunterschied als eine Grundvoraussetzung des Schreibens: „Es ist uns bloß angelegen, das Wort Stil in den höchsten Ehren zu halten, damit uns ein Ausdruck übrig bleibe um den höchsten Grad zu bezeichnen, welchen die Kunst je erreicht hat und je erreichen kann“.34 Interessanter für die vorliegende Studie ist vielleicht die Tatsache, dass Susan Sontag, eine der wichtigsten Förderinnen Sebalds, in ihrem 1966 veröffentlichten Essay Against Interpretation die gängige Definition des Stils als „die Art, wie einer schreibt“ auch auf die Funktion der Kritik anwendet: „The function of criticism should be to show how it is what it is, even that it is what it is, rather than to show what it means.“35 Dieser Definition zufolge wäre der Stil besonders gut geeignet, von der Kritik untersucht zu werden, denn es hieße, das „Wie“ des Wissenschaftlers (Kritik) auf das „Wie“ des Dichters (Stil) anzuwenden, indem man moralische bzw. thematische Betrachtungen, wenn nicht ausklammert, dann nur als vom Stil bedingt betrachtet. Form und Inhalt lassen sich jedoch nicht so streng voneinander trennen, denn ein erfolgreicher Stil bedeutet im Gegenteil die Überwindung dieser künstlichen Trennung. Bezeichnend ist, dass sowohl Sontag als auch Werle auf diese Idee kommen, sie aber nur als eine Frage auszudrücken vermögen. In ihrem Essay „On Style“ stellt sich Sontag die Frage: _____________ 32

33 34 35

Dirk Werle, „Stil, Denkstil und Stilisierung der Stile. Vorschläge zur Bestimmung und Verwendung eines Begriffs in der Wissenschaftsgeschichte der Geistes- und Kulturwissenschaften“, Stil, Schule, Disziplin, hrsg. von Lutz Danneberg, Wolfgang Höppner, Ralf Klausnitzer, Frankfurt a.M. 2005, S. 7f Werle, Stil, Schule, Disziplin, S. 4. J.W. Goethe, „Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil“, in: Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 12, S. 34. Susan Sontag, Against Interpretation, New York 1966, S. 14.

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„How to overcome the putative opposition between form and content?“36 Werle bedient sich seinerseits fast der gleichen Wörter: „Stellt Stil nun die Einheit von Form und Inhalt dar?“37 Solche als Fragen formulierten Vorschläge charakterisieren immer wieder den Versuch, Stil als eine Art von Vermittler zwischen Form und Inhalt zu verstehen. Denn die Vielfalt der Ansätze zum Begriff lässt sich nicht einfach auf eine einzige Methodologie reduzieren, wie Ohmann zu Recht bemerkt. Ohmanns (von Chomskys „transformational grammar“ stark beinflusstes) Plädoyer für eine sprachwissenschaftliche Systematisierung der Stilistik mag uns hier vor allem wegen seiner langen Liste dieser verschiedenen Ansätze interessieren. Als Bestandteile des Stils versteht er unter anderem: Das „Studium des Klanges, besonders des Rhythmus“. Den Versuch, „den Stil eines Autors in Hinblick auf dessen Selbstverständnis zu verstehen“. Das „Studium der Bildersprache (Imagery)“. Das „Studium von dem, was etwa ‚Ton’, ‚Stellung’, ‚Rolle’ usw. genannt wird: Die Haltung des Autors zu dem, was er seinem Leser und sich selbst gegenüber sagt, so wie sie durch seine Sprache nahegelegt wird“. Das „Studium der literarischen Struktur“: „Die Art und Weise, wie ein Roman gebaut ist, kann eine Entsprechung in der Art und Weise haben, wie ein Satz konstruiert ist“. Die „Analyse einzelner und lokal begrenzter Effekte“: „Technik“. Das „Studium besonderer Idiosynkrasien“.38

Entscheidend hier ist die Tatsache, dass Ohmann die verschiedenen Ansätze nur als äußerst bedingt darstellt. Gegen jeden einzelnen findet er etwas einzuwenden, denn eine solche detaillierte Analyse von Literatur entspricht offenbar nicht seinem Verlangen nach einem systematischeren Verständnis der Stilistik. Signifikanterweise beruhen aber fast all seine Einwände auf einer strikten Trennung von Form und Inhalt: Bildlichkeit „gehört mit Sicherheit mehr dem inhaltlichen als dem stilistischen Bereich an“, Rhythmus hänge „von der Syntax und sogar vom Inhalt ab“, Struktur als eine Komponente des Stils anzusehen „weitet die Bedeutung des Terminus ‚Stil’ über seine Grenzen aus“. Ohmann scheint damit eine Definition des Begriffs vorzuziehen, die Stil vom „Inhalt“ getrennt hält. Es stellt sich daher die Frage, ob wir diesen Stilbegriff ohne weiteres übernehmen können. Denn gemäß Ohmanns Bestimmung wäre der Stil _____________ 36 37 38

Sontag, Against Interpretation, S. 20. Werle, Stil, Schule, Disziplin, S. 8. Ohmann, Word XX, S. 214-216.

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eines jeden Dichters als austauschbar zu verstehen: „Der Begriff des Stils impliziert“, so Ohmann, „dass andere Wörter hätten stehen können, oder diese in anderer Stellung, ohne einen entsprechenden Unterschied in der Substanz“.39 Dieses Verständnis des Stilbegriffs zu widerlegen ist eins der Ziele der vorliegenden Studie. Am Beispiel von Sebalds Prosastil bzw. seiner Erzähltechnik soll veranschaulicht werden, dass sich der Begriff des Stils vom Begriff der „Substanz“ nicht so scharf trennen lässt. Sebalds Stil bestimmt die Substanz seiner Erzählungen und umgekehrt. Wenn tatsächlich „andere Wörter hätten stehen können“, wie Ohmann meint, so würde dies zwangsläufig implizieren, dass der Stil kein organisches Verhältnis zur „Substanz“ hätte, was bei Sebald keineswegs der Fall ist. Im Gegenteil, wie Susan Sontag bemerkt: Der Stil eines Schriftstellers bilde „an epistemological decision, an interpretation of how and what we perceive“.40 Also nicht nur „how“, sondern auch „what“: Die Wahrnehmung der Substanz, des Inhalts, wird vom Stil grundlegend geprägt, so dass das „Wie“ letztendlich auch das „Was“ bestimmt. Sebalds melancholischer Tonfall, sein Ich-Erzähler oder seine „Schachtelsätze“ lassen sich nicht von seiner Geschichtsauffassung trennen: Sie prägen im Gegenteil seine geschichtliche Perspektive, sie prägen die Darstellung seiner Protagonisten und ihrer „transzendentalen Heimatlosigkeit“.41 „Das Sujet ist am Stil beteiligt“, wie Werle schreibt: „manche Unterschiede im Stil bestehen ausschließlich aus Unterschieden in dem, was gesagt wird“ (Hervorhebung Werle).42 Das Verständnis des Stilbegriffs in der vorliegenden Studie ist in diesem Sinn der Definition Werles viel näher als der Ohmanns: „Der Stil umfasst [...] gewisse charakteristische Merkmale sowohl des Inhalts als auch der Form bzw. des Gesagten, des Exemplifizierten und des Ausgedrückten.“43 Die Definition der Form als das „Gesagte“, das „Exemplifizierte“ und das „Ausgedrückte“ lässt allerdings die Frage des historischen Kontexts außer Acht. Einerseits versucht sich die vorliegende Studie zwar an einem textimmanenten close reading von Sebalds Stil, andererseits will sie diesen Stil auch historisch verorten, in der Dialektik der Vor- und Nachkriegszeit. Im letzten Kapitel seines wegweisenden Werkes Marxism and Form (1971), „Towards Dialectical Criticism“, skizziert Fredric Jameson einen eventuellen Ansatz zum Formbegriff, indem er auf die „historically conditioned _____________ 39 40 41 42 43

Ohmann, Word XX, S. 218. Sontag, Against Interpretation, S. 35. Sebald unterstreicht Lukàcs berühmte Definition des Romans als „die Form der transzendentalen Heimatlosigkeit“ in seinem Exemplar von Walter Benjamins Aufsatz „Der Erzähler“ (siehe das erste Kapitel dieser Studie). Werle, Stil, Schule, Disziplin, S. 8f Werle, Stil, Schule, Disziplin, S. 9.

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nature of form“ hindeutet.44 Jamesons „dialectical criticism“ zielt darauf hin, die textimmanente Lesart des New Criticism mit dem historischen Bewusstsein des marxistischen Kulturkritikers zu versöhnen. Jameson versteht Stil als „the very element of individuality istelf, that mode through which the individual consciousness seeks to distinguish itself, to affirm its incomparable originality“.45 Er konzediert allerdings, dass ein „exchange of stylistic affinities“46 zwischen Kunstwerk und Kontext hervortreten könne, was uns auf den sozio-historischen Erfahrungshorizont zurückführt. Stil mag also „the principle of decision in a work of art, the signature of the artist’s will“ sein,47 um mit Susan Sontag zu sprechen – die impersonelle „Form“ wurzelt jedoch in einem spezifischen historischen Moment. „The ‚best’ reading,“ so Derrida, „would consist in giving oneself up to the most idiomatic aspects of the work while also taking account of the historical context.“48 Es lassen sich also hier nicht zwei, sondern drei Begriffe ausmachen: Stil, Form und Inhalt. Dem von Jameson analysierten „dialectical notion of the relationship between form and content“49 können wir den bewusst gewählten Stil des individuellen Künstlers hinzufügen: Der eventuelle Gewinn von Sebalds Stil bestünde dieser Deutung zufolge darin, für seinen historisch bedingten Inhalt eine historisch angemessene Form gefunden zu haben – was darauf hinausläuft, dass er seine Thematik der Naturgeschichte und Zerstörung der dialektischen Form der Frankfurter Schule anpasst. Man muss Jamesons marxistische Weltanschauung nicht unbedingt teilen, um auch die Ausgabe des Kritikers in solchen Worten zu formulieren: „dialectical criticism“, so Jameson, „is called upon to articulate the work and its content in such a way that this relationship stands revealed, and is once more visible“.50 Das enge Verhältnis zwischen Stil, Form und Inhalt deutet auf das viel breitere Verhältnis zwischen Ästhetik und Ethik hin, das Sebalds ganzem Schaffen zugrunde liegt. Jameson spricht von the essential movement of all dialectical criticism, which is to reconcile the inner and the outer, the intrinsic and the extrinsic, the existential and the historical, to allow us to feel our way within a single determinate form or moment of history at the same time that we stand outside of it, in judgment of it as well, transcending

_____________ 44 45 46 47 48 49 50

Fredric Jameson, Marxism and Form, Princeton 1971, S. 358. Jameson, Marxism and Form, S. 334. Jameson, Marxism and Form, S. 377. Sontag, Against Interpretation, S. 32. Jacques Derrida, „An Interview with Jacques Derrida“, in: Acts of Literature, London 1992, S. 68. Jameson, Marxism and Form, S. 402. Jameson, Marxism and Form, S. 406f

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that sterile and static opposition between formalism and a sociological or historical use of literature which we have so often been asked to choose.51

Sebalds Werk als Literaturwissenschaftler könnte man ins Zeichen dieser Versöhnung stellen. Von seinem ersten literaturwissenschaftlichen Buch an, seiner überarbeiteten Magisterarbeit Carl Sternheim: Kritiker und Opfer der Wilheminischen Ära, die bei ihrer Veröffentlichung 1969 für einen gewissen kritischen Wirbel sorgte,52 versucht Sebald immer wieder, über den moralischen Standpunkt des Künstlers Klarheit zu gewinnen, indem er zwischen den beiden Extremen des „l’art pour l’art“ und des „engagement“ einen Mittelweg sucht: „In diesem wird nicht weniger als in jenem das in der Kunst konstitutive Verhältnis von Ethik und Ästhetik zur akuten Problematik, zur Frage nach dem Recht auf die eigene Existenz“ (CSt, 21). Immer wieder bedient sich Sebald in seiner Monografie des Adjektivs „ästhetisch-ethisch“, wenn er etwa Sternheim wegen seines „Mangels an ästhetisch-ethischer Bewältigung des Materials“ rügt (CSt, 107) oder von der „ästhetisch-ethische[n] Überwindung der eigenen Voraussetzungen“ spricht (CSt, 49). Auch in seinen späteren literaturwissenschaftlichen Essays konzentriert sich Sebald immer wieder auf die Schnittstelle zwischen Ästhetik und Ethik, häufig aus einer ähnlich negativen Perspektive: Ebenso wie Sternheim wirft er etwa Hermann Broch einen „Mangel an ästhetisch-ethischer Bewältigung des Materials“ vor, da bei Broch „das ästhetische Defizit [...] ein ethisches“ markiere (UH, 124).53 Für Sebald gelangt die Ästhetik der deutschsprachigen Nachkriegsprosa erst mit Bernhard wieder zu einer ethischen Dimension.54 Sebalds wiederholte Verschmelzung der beiden Begriffe wirft die Frage ihrer Korrelation auf: Inwieweit decken sich die beiden Adjektive? Wo liegt die Grenze zwischen ihnen? Mit welchen Methoden versucht Sebald, das Ästhetische mit dem Ethischen zu versöhnen? Die Antwort liegt vielleicht in einem Verständnis von Sebalds Stilbegriff. Stil bildet den Verknüpfungspunkt zwischen einer ästhetischen und einer ethischen Perspektive: Je künstlicher, je stilisierter der Stil, desto geprägter der moralische Standpunkt, und sei es nur in der Form eines Verzichts auf moralische Gesinnung (im Sinne etwa des „l’art pour l’art“). Denn ein höchst künstlicher Stil wird nur bewusst gewählt und kultiviert: Indem er die Aufmerk_____________ 51 52 53 54

Jameson, Marxism and Form, S. 330f Siehe hierzu die Dokumente zum Thema Sebald / Sternheim in Sebald. Lektüren, hrsg. Marcel Atze & Franz Loquai, Eggingen 2005, S. 39-64. „Una montagna bruna – Zum Bergroman Hermann Brochs“, in: W.G. Sebald, Unheimliche Heimat, Frankfurt a.M. 1995, S. 118-30, hier S. 124. Siehe das oben zitierte Interview: „Much of German prose fiction writing, of the fifties certainly, but of the sixties and seventies also, is severely compromised, morally compromised, and because of that, aesthetically frequently insufficient.“ Silverblatt, „A Poem of an Invisble Subject“, S. 82.

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samkeit des Lesers auf gewisse Ereignisse und Epochen in einer gewissen Weise lenkt, fällt der Autor nicht nur ästhetische, sondern schließlich auch ethische Entscheidungen. In einem späten Interview machte Sebald diesen Zusammenhang zwischen Ästhetik und Ethik in seinem Stil explizit: „[Sebald] prefers a more ,open’ form of prose fiction, in which the reader can rely on a certain continuity of voice and sensibility. ,It’s a moral thing.’“55 Stil lässt sich auch deswegen ethisch verstehen, weil er aus der gelebten Erfahrung des Schriftstellers schöpft, wie Roland Barthes in seiner Untersuchung des Stilbegriffs in Le degré zéro de l’écriture hervorhebt: „Le style [...] plonge dans le souvenir clos de la personne, il compose son opacité à partir d’une certaine expérience de la matière“.56 Andererseits ist es ein Charakteristikum der Sebaldschen Prosa, dass die Geschichten häufig aus zweiter oder dritter Hand erzählt werden, da der Erzähler selbst zu jung war, die schlimmsten Schrecken des Jahrhunderts persönlich miterlebt zu haben. Anstelle einer persönlichen „expérience de la matière“ treten also die geerbten bzw. gelernten Formen der dialektischen Wahrnehmung dieser Ereignisse. Gerade hier greifen viele Ansätze zum Thema des Holocausts in Sebalds Werk zu kurz, denn es geht nicht nur darum, dass er sich mit den Nachwirkungen der Shoa beschäftigt, sondern wie er diese Nachwirkungen darstellt, welche „historically conditioned form“57 er ihnen verleiht. Dies kann man vor allem in seiner Erzählform nachvollziehen. Es besteht eine „stylistic affinity“58 zwischen der Tatsache, dass die Shoa eine Medusa ist, die nur indirekt angeschaut werden darf (wie Sebald in Anlehnung an Primo Levi in einem englischen Interview meinte), und Sebalds entsprechend diskreter und indirekter Erzählform. Seine Technik der Rahmenerzählung beruht auf den unumgänglichen Schichten der Geschichte, auf der Tatsache, dass die Geschichte nur als Palimpsest der Vergangenheit berichtet bzw. rezipiert – und nicht angeeignet oder gar „nachempfunden“ – werden kann. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts lässt sich für Sebald nur „periskopisch“ erzählen, um mit Bernhard zu sprechen, nur „um ein, zwei Ecken herum“. Der englische Feuilletonist Boyd Tonkin fasst das Verhältnis zwischen Sebalds Grammatik und einer eventuellen ethischen Deutung folgendermaßen zusammen: „Even grammar – no, especially grammar – could become a vehicle of the highest ethical responsibility“.59 Sebald selbst hat die Literatur immer als ethische Sphäre verstanden, wie er im oben erwähnten Spiegel-Interview _____________ 55 56 57 58 59

„The significant Mr. Sebald“. Interview mit Maria Alvarez, Daily Telegraph 22/9/2001. Barthes, Le degré zéro de l’écriture, S. 16f Jameson, Marxism and Form, S. 358. Jameson, Marxism and Form, S. 377. Boyd Tonkin, Independent, 13/4/2007.

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erklärte: „Den Maßstab setzen für mich jene Autoren, die gewissermaßen von der anderen Seite her geschrieben haben, Autoren wie Peter Weiss, Améry oder Celan. Gerade der Fall Améry war für mich persönlich ein Wendepunkt“.60 Es ist daher auch für seine Geschichtsphilosophie von größtem Belang, dass man Sebald als Künstler – und nicht als verkappten Historiker – versteht: Denn dadurch, dass er Künstler war, vermochte er, den „performativen Widerspruch“ der Kritischen Theorie zu vermeiden. Jürgen Habermas hat bekanntlich gezeigt, dass Adorno und Horkheimer die Termini der Aufklärung gebrauchen, um die Aufklärung anzuprangern: Die Dialektik der Aufklärung beschreibe „die Selbstzerstörung des kritischen Vermögens auf paradoxe Weise, weil sie im Augenblick der Beschreibung noch von der totgesagten Kritik Gebrauch machen muß“.61 Als ästhetische, künstliche Inszenierung der Dialektik vermag jedoch Sebalds Stil, die Dialektik der Aufklärung zur Schau zu stellen, ohne in diese konzeptuelle Falle zu geraten. Denn syntaktische Strukturen, die die mit einer Dialektik der Aufklärung verbundene Fortschrittskritik performativ zum Ausdruck bringen, sind im Gegensatz zu begrifflichen Argumenten nicht auf die „totgesagte Kritik“ angewiesen. Dies entspricht einem Adorno’schen Kunstverständnis, wie Gerhard Schweppenhäuser erklärt: Kunstwerke seien für Adorno „die dialektische ‚Konfiguration von Mimesis und Rationalität’. Sie enthalten Erkenntnis, die nicht begrifflich fixiert ist, weil sie an Mimesis und Ausdruck gebunden ist“.62 Wenn Sebalds indirekte Erzählform und sein diskreter Stil sowohl ästhetisch als auch ethisch auszulegen sind, so lässt sich eine ähnliche Versöhnung des Ethischen mit dem Ästhetischen in seiner Verwendung der Intertextualität sehen. Das Einmontieren von Zitaten und Anspielungen (wobei Sebald oft ganze Sätze anderer Autoren wörtlich übernimmt) impliziert ein ethisches Verständnis der Kultur, das in gewisser Hinsicht der Struktur der Rahmenerzählungen ähnlich ist: Geschichte wird als Prozess des Erzählens und Rezipierens verstanden. Sebald selbst beschreibt die Wirkung des Zitierens folgendermaßen: Das in einen Text (oder in ein Bild) einmontierte Zitat zwingt uns [...] zur Durchsicht unserer Kenntnisse anderer Texte und Bilder und unserer Kenntnisse der Welt. Das wiederum erfordert Zeit. Indem wir sie aufwenden, treten wir ein in die erzählte Zeit und in die Zeit der Kultur. (Logis, 184).

Stilistisch gesehen beinhaltet diese Intertextualität nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine ethische Billigung des zitierten Autors: Die Kritik _____________ 60 61 62

Der Spiegel, 12/3/2001. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M. 1985, S. 144. Gerhard Schweppenhäuser, Theodor W. Adorno: Zur Einführung, Hamburg 1996, S. 68.

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an den Grundbedingungen der Modernität, die Sebald in seinen Lieblingsdichtern der Moderne vorfindet (wie z.B. Kafka, Nabokov, Walser oder Benjamin), gibt er stillschweigend weiter, indem er sie zitiert. Bernhard Asmuth und Luise Berg-Ehlers beschreiben das Prinzip der „moderne[n] Montage von Textteilen verschiedenen Stils“: „Die kontrastive Hervorhebung fremder Stile ist nicht nur ein Mittel indirekter Charakteristik und komischer Wirkung, sondern vielfach zugleich Ausdruck moralischer Kritik an der mit dem betreffenden Stil verbundenen Gesinnung.“63 Der Unterschied bei Sebald ist freilich, dass seine einmontierten Zitate eben nicht fremd wirken, sondern in seine eigene Prosa so unauffällig hineinpassen, dass sie vom Leser oft übersehen werden. Wenn die „kontrastive Hervorhebung fremder Stile“ als Prinzip der moralischen Kritik verstanden werden kann, so lässt sich mutatis mutandis die Aneignung fremder Stile als moralische Gutheißung verstehen. Der Ansatz der vorliegenden Studie beruht daher auf der Annahme, dass sich Sebalds ästhetische Technik und ethische Geschichtsperspektive gegenseitig prägen. Wie der englische Dichter Geoffrey Hill behauptet, „style marks the sucess an author may have in forging a personal utterance between the hammer of self-being and the anvil of those impersonal forces that a given time possesses.“64 Sebalds Stil kann man als die Verwirklichung dieser „forging“ verstehen, als den Versuch, mit der unpersönlichen Vergangenheit in Form der persönlichen literarischen Stilisierung fertig zu werden.

Eine Prosa der „Metaphorisierung“ Ist es allerdings überhaupt möglich, einen eigenständigen Sebald-Ton festzustellen, oder besteht er letztendlich nur aus Zitaten und Anspielungen? Hat Sebald schließlich seinen eigenen Stil, und inwiefern trifft dieser etwas altmodische Begriff zu? Wie verhilft er uns zu einem besseren Verständnis von Sebalds literarischen Leistungen? Inwieweit kann man schließlich den einzigartigen Charakter von Sebalds Werk seinem höchst idiosynkratischen Stil zuschreiben? Diese Studie geht von der Annahme aus, dass ein enges Verhältnis zwischen Stil und Thematik die treibende Kraft des Sebald’schen Schaffens bildet: Eine Analyse seines Stils kommt einer Analyse seines Inhalts gleich. Sebald bestand immer darauf, dass er nicht Romane, sondern _____________ 63 64

Asmuth und Berg-Ehlers, Stilistik, S. 152. Geoffrey Hill, „Tacit Pledges“, in: Collected Critical Writings, hrsg. von Kenneth Haynes, Oxford 2008, S. 407.

Eine Prosa der „Metaphorisierung“

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„Prosa“ schrieb – „Mein Medium ist die Prosa, nicht der Roman“65 –, was sein Werk, trotz des oft altmodischen Tonfalls seiner Sätze, fest ins Zeichen des zwanzigsten Jahrhunderts rückt. Seine Prosa verrät etwa Ähnlichkeiten mit der „intransitiven“ Prosa eines Samuel Becketts, die zum größten Teil auf „Handlung“ verzichtet, um sich auf den Rhythmus der Sätze bzw. Gedanken zu konzentrieren. Sebald sprach seinerseits von seinem Mißtrauen und seiner Ungeduld gegenüber den Konventionen der „Fiktion“ und verriet sogar in einem Interview, er hätte „einen Horror vor allen billigen Formen der Fiktionalisierung“.66 Bemerkenswert hier ist außerdem die gelegentliche kritische Verschränkung des Begriffs der „documentary fiction“ mit diesem Unterschied zwischen „Prosa“ und „Roman“: Mark McCulloh zum Beispiel zitiert Sebalds Behauptung, sein Medium sei die Prosa, nicht der Roman, als Beleg für die Bezeichnung seines Werkes als „documentary fiction“ bzw. „documentary novel“.67 Die obige Behauptung Sebalds stammt jedoch aus einem Interview, in dem er eben auf die notwendige Stilisierung bzw. „Metaphorisierung“ der Wirklichkeit besteht: Was die historische Monografie nicht leisten kann, ist, eine Metapher oder Allegorie eines kollektiven Geschichtsverlaufes zu produzieren. Aber erst in der Metaphorisierung wird uns Geschichte empathetisch zugänglich.68

Die Gleichsetzung von „documentary“ mit „Prosa“ und „fiction“ mit „Roman“ greift demzufolge zu kurz, denn indem Sebald auf den Begriff „Prosa“ besteht, will er einerseits auf die Konventionen der Fiktionalisierung verzichten, andererseits aber auch die „Metaphorisierung“ der Geschichte hervorheben: Erst in der stilisierten Syntax eines Dichters werde uns Geschichte „empathetisch zugänglich“. Die Bezeichnung „Prosa“ muss man daher stilistisch verstehen, und zwar als einen Begriff, der Sebalds Wurzeln in der Literatur der sechziger und siebziger Jahren veranschaulicht, in den Schriften von Samuel Beckett oder Thomas Bernhard ebenso wie in der „dokumentarischen“ Fiktion von Peter Weiss. In diesem Sinne lässt sich „Prosa“ nicht unbedingt als Verzicht auf „Fiktionalisierung“ charakterisieren, sondern als Verzicht auf die Konventionen der Fiktionalisierung – z. B. die romanhafte „Handlung“. Sebalds Prosa ist stets ihrer eigenen Technik bewusst, da sie schließlich einer Art „Übertrei_____________ 65

66 67 68

Sigrid Löffler, „‚Wildes Denken’. Gespräch mit W.G. Sebald“, in: Porträt 7: W.G. Sebald, hrsg. von Franz Loquai, Eggingen 1997, S. 137. Sebald beschrieb Austerltz als „a prose book of indefinite form“ (zitiert nach Ruth Franklin, „Rings of Smoke“, in: The Emergence of Memory. Conversations with W.G. Sebald, hrsg. von Lynne Sharon Schwarz, London 2007, S. 119-143, hier S. 123). Löffler, „Wildes Denken“, S. 137. Mark McCulloh, Understanding W.G. Sebald, South Carolina 2003, S. 10. Löffler, „Wildes Denken“, S. 137.

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Einleitung: Zur Ästhetik der Ethik

bungskunst“ gleichkommt, wie der Kritiker James Wood behauptet: „for all the apparent quietness of Sebald’s prose, exaggeration is its principal, an exaggeration he has undoubtedly learned in part from Thomas Bernhard“.69 „Prosa“ bedeutet für Sebald eine bewusste Stilisierung, die nicht auf eine „suspension of disbelief“ abzielt, sondern sich selbst als Ort des Geschehens versteht, die keine transparente Struktur für eine beliebige Handlung bilden will, sondern vielmehr versucht, im Duktus ihrer eigenen Rhythmen und Sätze eine historiografische Perspektive wiederzugeben. Eins der Nebenziele der vorliegenden Studie besteht also nicht zuletzt darin, den Spannungen zwischen dem neunzehnten und dem zwanzigsten Jahrhundert in Sebalds Werk nachzugehen – Spannungen, die sich sowohl intertextuell als auch stilistisch nachvollziehen lassen. Sebalds Poetik der Verlangsamung, die sich vor allem in seinen langen Sätzen und der Hypotaxis ausdrückt, speist sich ebenso aus den gemächlichen Wanderungen eines Stifter-Protagonisten wie aus der Post-Moderne; sein Verständnis der Geschichte als Verfallsprozess – als „Naturgeschichte“ – und seine Analyse der Dialektik eines zum Scheitern verurteilten „Fortschrittes“ gehen sowohl auf die Biedermeier-Epoche als auch auf Adorno, Horkheimer und Benjamin zurück.70 Man hat gelegentlich vermutet, das Geheimnis von Sebalds Werk liege darin, auf die Greuel des zwanzigsten Jahrhunderts den Stil des neunzehnten Jahrhunderts angewendet zu haben:71 Dieser Stil wurde aber ebenso grundsätzlich von den Dichtern und Denkern des zwanzigsten Jahrhunderts geprägt. Hier stößt man allerdings auf ein methodologisches Problem: Man kann leider nicht immer genau feststellen, zu welchem Zeitpunkt Sebald ein x-beliebiges Buch gelesen hat. Wo seine Anmerkungen in zwei oder mehr Farben gefasst sind, kann man darauf schließen, dass er das Buch mehr als einmal lesen konnte; ansonsten kann man bloß mit Sicherheit sagen, dass er ein Buch erst nach dem Erscheinungsdatum lesen konnte. Mit Sebalds Bibliothek muss man also vorsichtig umgehen: Dass er etwa einen gewissen Absatz bei Benjamin unterstrichen hat, bedeutet nicht unbedingt, dass die Passage von größtem Belang für sein eigenes Denken war. Andererseits sind gewisse Patterns in den Anstreichungen zu erken_____________ 69 70

71

James Wood, „W.G. Sebald’s Uncertainty“, in: The Broken Estate: Essays on Literature and Belief, London 1999, S. 278. Im Interview mit Michael Silverblatt erklärte Sebald, dass sein Stil tatsächlich von „nineteenth-century German prose writing“ geprägt wurde, und dass diese Vorliebe für die Biedermeier-Autoren auf ihrem Verzicht auf die Konventionen der Fiktionalisierung beruhte: „What they all have in common is this precedence of the carefully composed page of prose over the mechanisms of the novel such as dominated fiction elsewhere, in France and in England, notably, at that time“. Silverblatt, „A Poem of an Invisble Subject“, S. 77f Siehe zum Beispiel McCulloh, Understanding W.G. Sebald, S. 19: „Sebald restores a kind of nineteenth-century pithiness to life, refusing to accede to twentieth-century superficiality“.

„Sentimentalischer“ Stil

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nen, so dass sich ein globales Bild seiner Einflüsse und Vorlieben allmählich aus den Lesespuren erschließt. In der Regel versieht Sebald seine Bücher nicht mit allzu vielen Bemerkungen, sondern neigt eher dazu, Sätze, Wörter oder Passagen, die ihn interessieren, anzustreichen bzw. zu umkringeln. Wenn man anhand der in Marbach aufbewahrten Bibliothek urteilen darf, so ist Sebald kein Coleridge, kein Fetischist der „marginalia“72 – was jedoch bedeutet, dass seine gelegentlichen Bemerkungen und Anstreichungen umso wichtiger sind. „Since shorter notes entail less distraction from the text,“ schreibt H. J. Jackson in Marginalia: Readers Writing in Books, „they may be a more certain proof of engagement than longer, more reflective and wandering ones“.73 In der vorliegenden Studie lässt sich dies in dem der Fallstudie von Sebalds Lektüre von Giorgio Bassani gewidmeten zweiten Kapitel anschaulich nachvollziehen. Das Charakteristische an solchen Bemerkungen und Anstreichungen ist allerdings ihre unmittelbare persönliche Qualität. In seinen marginalia zu Schelling erklärt etwa Coleridge: „A book, I value, I reason & quarrel with as with myself when I am reasoning“.74 Jackson fasst den Ansatz folgendermaßen zusammen: „A marked or annotated book traces the development of the reader’s self-definition in and by relation to the text“.75 Eine solche Deutung der Randbemerkungen in Sebalds Bibliothek fördert einen stilistischen Ansatz zu seinem Werk: In Marginalia führt Jackson einen besonderen Grund an, warum die Anstreichungen in Sebalds Bibliothek für eine Untersuchung seines Stils von Interesse sein mögen: „marginal notes are particularly well calculated for minute criticism and close reading“, schreibt sie, da „author and reader act visually as checks on one another“.76 Bei einer Studie, die auf Sebalds Schreibweise fokussiert ist, ist ein solches close reading von Seiten des Autors selbst unerlässlich.

„Sentimentalischer“ Stil Dass Sebald einen sofort erkennbaren Stil hat, ist mittlerweile zum kritischen – wenn auch weitgehend unanalysierten – Gemeinplatz geworden. Dies lässt sich unter anderem daran ermessen, dass er in der „Diary“ Ko_____________ 72

73 74 75 76

November 1819 hat Coleridge seine „Marginalia“ zu Sir Thomas Brownes (auch von Sebald sehr geschätzten) Religio Medici in Blackwood’s Magazine veröffentlicht und somit das Wort in die englische Sprache eingeführt. Browne selbst bezeichnet sich außerdem als leidenschaftlichen „annotator“. H.J. Jackson, Marginalia: Readers Writing in Books, London 2001, S. 112. Zitiert nach Jackson, Marginalia, S. 82. Jackson, Marginalia, S. 87. Jackson, Marginalia, S. 42.

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Einleitung: Zur Ästhetik der Ethik

lumne der satirischen englischen Zeitschrift Private Eye parodiert wurde. Eine solche Parodie, obwohl auf Englisch verfasst, vermittelt eine aufschlussreiche (wenn auch naturgemäß nur sehr grobe und zugespitzte) Idee der wichtigsten Merkmale von Sebalds Prosastil und nimmt damit viele der zu besprechenden Idiosynkrasien dieses Stils vorweg. Der erste von vier ähnlichen Absätzen lautet folgendermaßen: It had grown uncommonly dark and sultry, the clouds painfully laden as though ready to sear the earth with their translucent acid, when I set out on my Summer holidays. Holidays! The word itself, a stifled and tortuous amalgam of „holly“, that fiercest and most spiteful of all trees, with its sharp, shiny, pox-green edges ready to strike out and pierce human skin, causing blood, a dark reddish-grey, greyish-red, to drop out, willy-nilly, onto the earth below, staining the soil in perpetuity, and „days“, with its dull echo of daze, in which I so often find myself after finishing these sentences, some of them as long and distracted as those sentences handed out with unnerving efficiency by the Guatemalan Lord Chief Justice to the Netherlandish invaders of the Indonesian island of Iwu-Miju in 1473, after the Brecon uprising commemorated in the poem by Swinburne after he had taken a cup of tea – a cup fatally calamitous for two pure white sugar lumps, who can have known little of their destruction but for those few dreadful seconds when they experienced the unsettling feeling, common to all human civilisation, of being dropped into hot, brown liquid with an abrupt flick of the wrist, there to disintegrate into nothingness, never to return – the entire and dreadful word, „holidays“, forcing one to attempt to suppress a mounting sense of dizziness in the face of looming catastrophe.77

Selbst solch eine humoristisch übertriebene Parodie enthält ein Körnchen Wahrheit. Was hier zu satirischen Zwecken zugespitzt wird, hat freilich nur eine oberflächliche Ähnlichkeit mit Sebalds eigenem Werk, dennoch zeugt es zumindest von der unübersehbaren Bedeutung seines Stils. „Imitation is the sincerest form of flattery“, lautet das Bonmot Oscar Wildes; Parodie gilt als Zeichen des Erfolgs, ist aber auch Zeichen eines unverkennbaren Stils, wie Richard Ohmann bemerkt: „Ein weiterer Beleg, falls noch nötig, für die Verläßlichkeit stilistischer Intuitionen stellt die Fähigkeit gewisser Autoren dar, überzeugende Parodien zu schreiben und die ihrer Leser, sie als solche zu erkennen“.78 Oder auch überzeugenden Parodien zum Opfer zu fallen, könnte man hinzufügen. Dass der Inhalt einer solchen Parodie keineswegs von seinem Stil zu trennen ist, ist die erste und grundlegendste Lektion des Unternehmens. Der Humor entsteht im Gegenteil genau aus der Diskrepanz zwischen Inhalt und Stil: Dass ein so langer, metaphysisch überlasteter Satz ins Schicksal der zwei Stück Zucker münden kann, erzeugt naturgemäß ein Báthos, das „dizziness“ kaum auslösen kann. Der Erfolg der ganzen Pa_____________ 77 78

Private Eye, No. 958, 4.9.1998. Ohmann, Word XX, S. 214.

„Sentimentalischer“ Stil

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rodie beruht auf dieser zugespitzten Diskrepanz zwischen einem hoch artifiziellen Stil (der auf Englisch freilich umso künstlicher klingt) und der Banalität der beschriebenen Gegenstände. Interessanterweise ist Sebald in der Tat ein solcher stilistischer Fehlgriff mehrmals vorgeworfen worden: Sein metaphysisch überladener Stil sei dem banalen Alltag nicht angemessen, so das Argument, ihm fehlten Ironie und Humor. Wenn man neben die Parodie etwa die folgende Passage aus Die Ringe des Saturn setzt, so könnte es einem tatsächlich schwer fallen, die beiden voneinander zu unterscheiden: Dieselbe verschreckte Person ist es auch gewesen, die später in dem großen Speisesaal, in dem ich an jenem Abend als einziger Gast saß, meine Bestellung entgegennahm und die mir bald darauf einen gewiß seit Jahren schon in der Kühltruhe vergrabenen Fisch brachte, an dessen paniertem, vom Grill stellenweise versengten Panzer ich dann die Zinken meiner Gabel verbog. Tatsächlich machte es mir solche Mühe, ins Innere des, wie es sich schließlich zeigte, aus nichts als seiner harten Umwandlung bestehenden Gegenstands vorzudringen, dass mein Teller nach dieser Operation einen furchtbaren Anblick bot. Die Sauce Tartare, die ich aus einem Plastiktütchen hatte herausquetschen müssen, war von den rußigen Semmelbröseln gräulich verfärbt, und der Fisch selber, oder das, was ihn vorstellen sollte, lag zur Hälfte zerstört unter den grasgrünen englischen Erbsen und den Überresten der fettig glänzenden Chips. (RS, 58)

Zweifellos besteht auch hier eine Diskrepanz zwischen dem übertrieben melancholischen Ton der Sätze und der Banalität des billigen Abendessens. Warum verdient ein tiefgekühlter Fisch solche Aufmerksamkeit? Erinnert sein Schicksal nicht an jene „two pure-white sugar lumps“ der englischen Parodie? Wenn eine oberflächliche Ähnlichkeit zwischen den beiden Passagen nicht zu leugnen ist, so ist es jedoch nicht wegen eines Mangels an Humor, sondern im Gegenteil, weil diese Szene auch gewissermaßen humoristisch gemeint ist. Das übertriebene Idiom des „versengten Panzers“, der die Zinken seiner Gabel verbiegt und „ins Innere“ dessen der Erzähler nicht „vorzudringen“ vermag, mündet schließlich in einen „furchtbaren Anblick“ nach der ganzen „Operation“, als wäre der Verzehr des Fisches eine militärische Übung. Die Sauce Tartare, die er „aus einem Plastiktütchen hatte herausquetschen müssen“, und die grellen Farben der „Semmelbröseln“, der „Erbsen“ und der „fettig glänzenden Chips“, suggerieren außerdem eine Art von blutigem Schlachtfeld, was seinerseits wie ein surrealistisches Gegenstück zu den von Sebald überall beschriebenen zerstörerischen Wirkungen der Menschheit erscheint (vor allem in Zusammenhang mit der kurz danach beschriebenen „Naturgeschichte des Herings“). Man möge vielleicht an seine Analyse einer ähnlichen Passage in Peter Handkes Langsame Heimkehr denken: Wo Handke einen toten Lachs be-

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Einleitung: Zur Ästhetik der Ethik

schreibt, „verquert aufgequollen auf der vom Tau schlammigen Sandbank liegend“, wittert Sebald „die Figur des Leibhaftigen, das negative Prinzip aller Metaphysik“ (BU, 177). In diesem Sinne fungiert auch sein verfehltes Abendessen in Lowestoft als Naturgeschichte: Mitten im Prozess des Sich-Ernährens, zeichnet sich schon die Zerstörung ab; mitten im Leben, der Tod. Um diese dialektische Wirkung hervorzurufen, betreibt Sebald eine stilistische Übertreibungskunst, wobei seine übliche metaphysische Melancholie auf einen banalen physischen Gegenstand angewendet wird. Wichtig ist aber auch, dass der Gegenstand organisch ist, dass der Fisch einmal lebte − sonst wäre eine solche Umschreibung des englischen Klischees des „fish and chips“ nur absurd und hätte in diesem Zusammenhang keine stilistische Resonanz. Die Beschreibung zeigt also nicht nur, dass Sebald doch einen gewissen (wenn auch bekanntlich melancholischen) Humor hat, sondern auch, dass er sich seines eigenen Stils bewusst ist, dass er über die Wirkung seines Stils und dessen Zusammenhang mit den erzählten Geschichten nachgedacht hat. Man kann ihm dementsprechend eine „sentimentalische“ Gesinnung im Schiller’schen Sinne des Wortes zuschreiben, wie Michael Niehaus gezeigt hat.79 Der sentimentalische Dichter, erinnert man sich noch einmal an Schillers berühmte Worte, reflektiere „über den Eindruck, den die Gegenstände auf ihn machen, und nur auf jene Reflexion ist die Rührung gegründet, in die er selbst versetzt wird und uns versetzt.“80 Sebald können wir nun dieser Tendenz zuordnen. Sein Prosastil und seine Erzähltechnik verwirklichen einen solchen Prozess der Reflexion: Die im ersten Kapitel der vorliegenden Studie besprochenen Schichten der Erzählperspektiven – erstens zwischen Autor und Ich-Erzähler, zweitens zwischen Ich-Erzähler und Protagonisten, drittens zwischen diesen Protagonisten und den im Laufe ihrer Geschichten vorgestellten Figuren – öffnen einen Raum der Selbstreflexivität, der genauso wie die an Bernhard geschulten „Schachtelsätze“ die erzählte Natur der Geschichte hervorhebt. Niehaus behauptet sogar, Sebald sei nur Melancholiker, „insofern er sich als solcher beobachtet. Sentimentalisch ist er als ‚Zuschauer seiner Rührung’“ (Hervorhebung Niehaus).81 Diese Deutung entspricht zudem einer von

_____________ 79 80 81

Michael Niehaus, „W.G. Sebalds sentimentalische Dichtung“, in: W.G. Sebald: Politische Archäologie und melancholische Bastelei, hrsg. von Michael Niehaus und Claudia Öhlschläger, Berlin 2006, S. 173-188. Friedrich Schiller, Über naïve und sentimentalische Dichtung, Stuttgart 1966, S. 40. Niehaus, W.G. Sebald: Politische Archäologie und melancholische Bastelei, S. 182.

„Sentimentalischer“ Stil

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Sebald angestrichenen Stelle in Adornos Aufsatz „Vers une musique informelle“: „Kein Bewusstsein kann naiver sich äußern, als es ist.“82 Die Perspektive aus der Entfernung, die in Sebalds Stil bzw. seinen Erzählstrukturen inszeniert wird, entspricht Schillers klassischer Definition des Unterschieds zwischen dem naiven und dem sentimentalischen Dichter: „Sie werden [...] entweder Natur sein, oder sie werden die verlorene suchen“.83 Sowohl das Verb „suchen“ als auch das Adjektiv „verloren“ kennzeichnen Sebalds poetologisches Verfahren als „sentimentalisch“. Das Verb bestimmt sein ganzes Unternehmen: Seine Bücher sind alle als Reisen konzipiert, und häufig auch als Reisen, bei denen er (oder ein stellvertretender Doppelgänger wie Austerlitz) nach seiner eigenen Vergangenheit sucht. Die Doppelstruktur von Schwindel. Gefühle zum Beispiel, wobei Sebald 1987 in seine eigenen Fußstapfen von 1980 tritt, entspricht Schillers Definition vom Geisteszustand des sentimentalischen Dichters: „Die Kunst trennt und entzweiet ihn“.84 Dass die Natur zudem „verloren“ sei – und zwar ohne Aussicht, dass sie „naiv“ wiedererlebt werden könne –, ist eine der Voraussetzungen von Sebalds Prosa. Seine Bücher verstehen sich als Versuche, der zerstörerischen Macht des technischen Zeitalters nachzukommen, als Versuche, nicht nur den Holocaust, sondern die ganze moderne Ära (ab Sebalds Popanz Napoleon) an den Pranger zu stellen. Daher übt die von Adorno und Horkheimer formulierte „Dialektik der Aufklärung“ einen so prägenden Einfluss auf seinen Prosastil aus, denn Sebalds sentimentalische Suche nach der verlorenen Zeit geht durchaus dialektisch vor, wie Michael Niehaus unterstellt: „Sentimentalisch ist [...] die Erfahrung des verlorenen Objekts, an dem gleichwohl festgehalten wird“ (seine Hervorhebung).85 Diese „Erfahrung des verlorenen Objekts“ könne jedoch, setzt Niehaus fort, „entweder satirisch oder elegisch bearbeitet werden“.86 Hier knüpft er an Schillers Unterschied zwischen den beiden Ausdrucksmöglichkeiten des sentimentalischen Dichters an: „Seine Darstellung wird [...] entweder satirisch, oder sie wird [...] elegisch sein“.87 Sebalds Beschreibung seines verfehlten Abendessens lässt sich in diesem Sinne als die satirische Kehrseite seiner sonst so elegischen Sentimentalität verstehen. Der Humor wird aber nicht wie üblich von einem auffällig geänderten Ton signalisiert, sondern von der Anwendung des gleichen stilisierten Tons auf einen un_____________ 82 83 84 85 86 87

Theodor W. Adorno, „Vers une musique informelle“, in: Quasi una Fantasia, Frankfurt a.M. 1963, S. 375. Schiller, Über naïve und sentimentalische Dichtung, S. 28. Schiller, Über naïve und sentimentalische Dichtung, S. 36f Niehaus, W.G. Sebald: Politische Archäologie und melancholische Bastelei, S. 174. Niehaus, W.G. Sebald: Politische Archäologie und melancholische Bastelei, S. 174. Schiller, Über naïve und sentimentalische Dichtung, S. 41.

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angemessenen Gegenstand. Sebalds Humor kann man also hier in einer bewusst inszenierten Aporie zwischen Stil und Substanz verorten. Nicht sein Stil ändert sich, sondern dessen Substanz: Weil er nicht die gewohnte „Metaphysik der Geschichte“, sondern sein unappetitliches Abendessen beschreibt, schlägt seine Melancholie ins Komisch-Absurde um. Die Kernfrage lautet daher, inwieweit Sebalds sentimentalische „Empfindungsweise“ erst in seinem Stil zum Ausdruck kommt. Für Schiller ist die Nachträglichkeit der künstlichen Rekonstruktion eine der Voraussetzungen des Sentimentalischen: „Die Übereinstimmung zwischen seinem Empfinden und Denken [...] existiert jetzt bloß idealisch; sie ist nicht mehr in ihm, sondern außer ihm, als ein Gedanke, der erst realisiert werden soll“.88 Sebalds Geschichtsphilosophie muss auch „erst realisiert werden“, denn sie existiert nicht in abstracto, wie manchmal suggeriert wird, sondern wird erst von seinem sorgfältig konzipierten Stil verwirklicht, indem sie aus dem Gefüge der einmontierten Zeitebenen und Zitate entsteht. Das ist vielleicht das erste Fazit einer Untersuchung seines Stils: Sebald ist kein Geschichtsphilosoph oder Soziologe, sondern ein Schriftsteller, dessen Kunst darin besteht, eine historische Perspektive in den Strukturen seiner Prosa zu entfalten. Seine wie in einem Palimpsest übereinandergelagerten Erzählschichten mögen eine Art von Naturgeschichte bilden – aber erst, indem sie übereinandergelagert werden. Zu dieser Kunst des Sentimentalischen gehört auch Sebalds Verwendung eines Ich-Erzählers. „Man darf es [...] als ausgezeichnetes Kennzeichen des Sentimentalischen auffassen, wenn der Dichter ‚ich’ sagt, um sich als denjenigen zu bezeichnen, der spricht“, schreibt Niehaus. „Genau dies ist die Voraussetzung, unter der der Gegenstand selbst für den Dichter wie für uns als verloren erscheint. Wer ‚ich’ sagt, unterscheidet sich dadurch, dass er sich bezeichnet“ (Hervorhebungen im Original).89 Indem er „sich bezeichnet“, entzweit sich Sebald von sich selbst: Er schreibt sich zwar in den Text ein, aber nur als quasi-autonomen Protagonisten, wobei er sich selbst als „Autor“ wieder in die Distanz rückt. Seine Melancholie entsteht also teilweise aus der Diskrepanz zwischen Autor und Erzähler: Die unabhängige Existenz des Ich-Erzählers zeugt von vergangener Zeit, von der unwiderrufbaren Vergangenheit, die dem Autor Sebald nicht mehr zugänglich ist. „Die melancholische Position ist als eine − rhythmisierte − Empfindungsweise definiert, die über ein ‚Ich’ im Text übertragen werden kann“, schreibt Niehaus (Hervorhebung im Original).90 Dass diese Empfin_____________ 88 89 90

Schiller, Über naïve und sentimentalische Dichtung, S. 35. Niehaus, W.G. Sebald: Politische Archäologie und melancholische Bastelei, S. 176. Niehaus, W.G. Sebald: Politische Archäologie und melancholische Bastelei, S. 182.

„Sentimentalischer“ Stil

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dungsweise „rhythmisiert“ sei, deutet auf die Wichtigkeit des zu untersuchenden Satzbaus in Sebalds Prosa hin. Die Kunst des Sentimentalischen ist jedoch nicht nur eine Frage der Syntax. Schiller zufolge weise sie über die Ästhetik in die Sphäre der Ethik hinaus: Ist der Mensch in den Stand der Kultur getreten und hat die Kunst ihre Hand an ihn gelegt, so ist jene sinnliche Harmonie [des Naiven] in ihm aufgehoben, und er kann nur noch als moralische Einheit, d.h. als nach Einheit strebend sich äußern.91

Sebald beschreibt sein eigenes Verfahren in ähnlichen Worten als „nach Einheit strebend“: „Ich saß an einem Tisch nahe der offenen Terrassentür,“ schreibt er in Schwindel. Gefühle, „hatte meine Papiere und Aufzeichnungen um mich her ausgebreitet und zog Verbindungslinien zwischen weit auseinanderliegenden Ereignissen, die mir derselben Ordnung anzugehören schienen“ (SG 107). Seine übertriebenen Beschreibungen von an sich völlig belanglosen Gegenständen, wie zum Beispiel dem unappetitlichen Fisch in Lowestoft oder dem sogenannten teas-maid, den ihm seine Wirtin bei seiner Ankunft in Manchester überreicht (in Die Ausgewanderten), dienen trotz ihrer Absurdität als Symbole dieser sentimentalischen Einheit. Genau deswegen werden solche bescheidenen Gegenstände oft mit einem Überfluss an affektiver Bedeutung aufgeladen, „als sei der [...] Teeapparat, dieses ebenso dienstfertige wie absonderliche Gerät, es gewesen, das mich durch sein nächtliches Leuchten, sein leises Sprudeln am Morgen und durch sein bloßes Dastehen untertags am Leben festhalten ließ damals, als ich mich, umfangen, wie ich war, von einem mir unbegreiflichen Gefühl der Unverbundenheit, sehr leicht aus dem Leben hätte entfernen können“ (Aus, 228). In dieser Hinsicht trifft die in Private Eye veröffentlichte Parodie das Wesentliche an Sebalds Stil, wenngleich in humoristisch zugespitzter Form: Das schillersche Streben nach moralischer Einheit äußert sich in Sebalds Prosa als das stetige Bedürfnis, „Verbindungslinien“ zu ziehen. Das Paradigma dieses Verfahrens bilden bekanntlich Die Ringe des Saturn; solche Zusammenhänge werden aber überall in seinem Werk hergestellt und schreiben sich wiederum in seine Syntax und seinen Satzbau ein, wie der Private Eye Parodist zu verstehen scheint: Aus dem einzigen, eher positiven Wort „holidays“ entwickelt er ein apokalyptisches Geschichtsbild, das sich über einen einzigen langen Satz und verschiedene historische Schichten vollstreckt bis zum reductio ad absurdum des Schicksals der „two pure white sugar lumps“. Die Rückkehr am Ende des Absatzes zum Wort „holidays“, zur Erfahrungsebene des Erzählers selbst, entspricht der _____________ 91

Schiller, Über naïve und sentimentalische Dichtung, S. 35.

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grundlegenden Subjektivität von Sebalds Prosa: Trotz seiner weitschweifenden Gedanken, die beinah die Totalität der neueren europäischen Geschichte umfassen wollen, beruht das Gefühl des „dizziness“, das charakteristische Schwindelgefühl, letztendlich auf dem subjektiven Erleben des Ich-Erzählers. Denn Geschichte wirkt im Rückblick erst beunruhigend, wenn sie wahrgenommen, wenn sie aus einer bestimmten Perspektive betrachtet wird − was letzten Endes der Zweck von Sebalds höchst künstlichem, idiosynkratischen Prosastil ist.

Kapitelübersicht In den ersten zwei Kapiteln der vorliegenden Studie werden der Standpunkt und Status des Sebald’schen „Erzählers“ überprüft. Angesichts der Rahmentechnik, deren er sich immer wieder bedient, ist die Rolle des Erzählers in Sebalds Werk von zentraler Bedeutung. Die Zeitverläufe, die damit verbunden sind, sind auch stilistisch zu verstehen: Kurze Phrasen wie „gleichzeitig“, „zugleich“ oder „im Laufe der Zeit“, die den Rythmus der Prosa unterstreichen, indizieren nicht nur das Vergehen der Zeit in der Gegenwart des Erzählers, sondern auch in der Vergangenheit der Geschichte. Was sind also die historiografischen Auswirkungen der Rahmentechnik und der Verbindungen, die sie zwischen den verschiedenen Zeitebenen herstellt? Inwieweit spiegeln sie Sebalds Geschichtsauffassung wider? Um diesen Fragen nachzugehen, nimmt das erste Kapitel Bezug auf Sebalds Randbemerkungen in seinem Exemplar von Walter Benjamins Aufsatz „Der Erzähler“, wo Sebald Benjamins Bemerkungen zur „Spur des Erzählenden“ bzw. zum Unterschied zwischen Geschichtsschreibung und Erzählung hervorhebt. Mithilfe dieser Anstreichungen lassen sich Sebalds Erzählstrukturen als eine Inszenierung der „Naturgeschichte“ interpretieren, sprich als eine ästhetische Antwort auf einen philosophischen Begriff: Sebalds Erzählungen werden durch ihr Bernhard’sches Beharren auf dem „Filter des Erzählers“ in die Naturgeschichte „eingebettet“ (um den Begriff Benjamins aufzugreifen), da sie nicht nur den Zeitverlauf der Erzählungen, sondern auch der Erzählenden wiedergeben. Die „vergangene“ Zeit der Geschichte rückt auch die Zeit der Gegenwart in die Naturgeschichte: „Sebald’s practice of ‚postmemory’ is at the same time a writing of the natural history of the present“, schreibt Eric Santner.92 Sebald selbst hat diese Struktur hervorgehoben: „Man kann – und das ist unter anderem eine der Ideen gewesen hinter der Strukturierung in den Ringen des Saturn – in konzentrischen Kreisen immer weiter nach außen _____________ 92

Eric Santner, On Creaturely Life, Chicago 2006, S. 164-167.

Kapitelübersicht

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gehen, und die äußeren Kreise determinieren immer die inneren“.93 Das Verhältnis zwischen den „äußeren Kreisen“ der Vergangenheit und den „inneren“ der Gegenwart inszeniert erzähltheoretisch Sebalds Verständnis der Naturgeschichte. Das zweite Kapitel untersucht Sebalds bisher unerforschtes Verhältnis zum italienischen Autor Giorgio Bassani. Das Kapitel versteht sich als Fallstudie zu Sebalds Anmerkungspraxis: Sebald hat Bassani als einen seiner wichtigsten Einflüsse hervorgehoben, und in seiner Bibliothek befindet sich, mehrfach angestrichen, fast die ganze Reihe der deutschen Übersetzungen seines Werkes. Die von Sebald hervorgehobenen Stellen in Bassanis Werk lassen sich in drei Gruppen gliedern: Landschaftsbeschreibungen, Bilder der Vergänglichkeit und Warnungen vor dem kommenden Faschismus. Vor allem aber interessiert sich Sebald für das „Handwerk“ Bassanis, für die Techniken, derer er sich bedient, um „l’effet de réel“ zu erzielen. Bassani ginge es einer von Sebald angestrichenen Stelle zufolge darum, „poetische Intuition und Dokument einander so anzunähern, daß das eine die Farbe des anderen annimmt“.94 Bassanis Realismus versteht Sebald nach Roland Barthes als den Schein des Realismus: Bassani wolle „plausibel und glaubwürdig wirken“, nicht sein. Durch eine Untersuchung der Rolle des Erzählers knüpft die Analyse von Sebalds Lektüre von Bassani an die Analyse von dessen Benjamin-Lektüre an: Inwiefern kann man auch den Sebald’schen Erzähler als einen Bassanischen „Schutzengel“ verstehen? Oder müsste man ihn vielmehr mit dem Benjaminischen „Engel der Geschichte“ vergleichen? Reagiert Sebald letztendlich gegen Bassani, indem er den Erzähler in seinem letzten Werk Austerlitz eine wichtigere Rolle im Leben des Protagonisten spielen lässt? Wo das erste Kapitel die Grundlagen einer Deutung von Sebalds Erzähltechnik legen will, untersucht das zweite Kapitel ihre spätere Entwicklung. Das dritte Kapitel geht dem Begriff der „Baugeschichte“ in Sebalds Prosa nach. Sebalds Interesse an der Baugeschichte der Moderne beruht auf seinem Interesse an der europäischen Kolonialgeschichte; immer wieder kritisiert er den „Monumentalismus“ und den Größenwahn der Architektur der Neuzeit. Ziel dieses Kapitels ist es, Sebalds Fortschrittskritik durch die Perspektive der Baugeschichte zu betrachten, einerseits als Deutung der Kolonialgeschichte, andererseits als Metapher der Machtstrukturen der Moderne, die sich als eine Art „Dialektik der Aufklärung“ lesen lassen. Vor allem die Tatsache, dass sein Protagonist Austerlitz Architekturhistoriker ist, erlaubt es Sebald, die Geschichte der Moderne als ein angespanntes Verhältnis zwischen der Baugeschichte und der Natur_____________ 93 94

Süddeutsche Zeitung, 22/3/2001. Giorgio Bassani, Erinnerungen des Herzens, hrsg. von Eberhard Schmidt, München 1991, S. 134.

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geschichte zu lesen. Methodologisch bleibt die stilistische Analyse im Zentrum der Diskussion: Die syntaktischen Strukturen, die Sebald verwendet, um solche „monströsen“ Gebäude zu beschreiben, lassen sich wiederum als Reaktion auf die Ansprüche der Moderne auf einen Fortschrittsbegriff lesen. In Anknüpfung an Canettis (von Sebald selbst hervorgehobene) Analyse der „Baulust und Zerstörung“ im dritten Reich wird dem Diskurs des „Bauens“ ein Diskurs des „Zerstörens“ entgegengesetzt, der dem Pol des „Fortschritts“ den Pol der „Regression“ gegenüberstellt. Nach der Untersuchung von Sebalds literarischer Deutung der Natursowie der Baugeschichte gilt es im vierten Kapitel, seinem Verständnis der Literaturgeschichte selbst nachzugehen. Die zentrale Frage betrifft wiederum den Schnittpunkt zwischen Literatur und Historiografie, diesmal allerdings weniger stilistisch als gattungsspezifisch: Inwieweit spielt sich eine Version der Fortschrittskritik nicht nur in seinem Stil, sondern auch in seinem ganzen Literaturverständnis ab? Sebald selbst spricht von dem „selbstzerstörerischen Geschäft des Schreibens“, und die vielen Künstlerfiguren, die in seinem Werk vorkommen, lassen sich als eine Art Selbstbildnis lesen. Der These des Kapitels zufolge weist sein Literaturverständnis (bzw. sein Selbstverständnis) frappierende Ähnlichkeiten mit seiner Fortschrittskritik auf. Nicht nur die frühe Studie zu Döblin, die in Logis in einem Landhaus gesammelten Aufsätze zu Hebel, Rousseau, Mörike, Keller und Walser oder die in Unheimliche Heimat gesammelten Studien zur österreichischen Literatur, sondern auch die in den Ringen des Saturn verstreuten Bemerkungen zu Thomas Bernhard, Sir Thomas Browne, Borges, Michael Hamburger, Lévi-Strauss, Conrad, Edward Fitzgerald, Swinburne und Chateaubriand werden unter dem Gesichtspunkt der Fortschrittskritik betrachtet. Wenn die (Natur)Geschichte für Sebald nicht als Prozess des Fortschrittes, sondern als Prozess des Verfalls zu verstehen wäre, dann müsste er sich auch in seiner Literaturwissenschaft bzw. in seinem Literaturverständnis nachvollziehen lassen. Das Kapitel knüpft an Sebalds im dritten Kapitel skizzierten Postkolonialismus an, vor allem in der Analyse seines Interesses an Lévi-Strauss und Conrad bzw. ihrer Kritik an den Machtstrukturen der modernen Gesellschaft. Inwieweit übernimmt Sebald ihre postkolonialistische Fortschrittskritik nicht nur in seine eigene Prosa, sondern auch in sein ganzes Literaturverständnis? Ziel des fünften Kapitels ist es schließlich, einen eventuellen Ausweg aus dem Geschichtspessimismus dieser Fortschrittskritik zu skizzieren – und nebenbei dem literaturkritischen Klischee des „Erzmelancholikers“ zu widerstehen. Der Einseitigkeit von Sebalds Rezeption als Melancholiker setzt das letzte Kapitel ein umfangreicheres Verständnis seines Tones entgegen, indem es die Möglichkeit des Glücks in seinem Werk analysiert.

Kapitelübersicht

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Zwei wiederkehrende Hauptbereiche dieses eventuellen Glücks werden skizziert: erstens eine metaphysische „Kunst der Levitation“, eine Leichtigkeit, die Sebald immer wieder hervorhebt und die sowohl in seinen kritischen Schriften als auch in seiner Prosa als das Ziel der „Überwindung der Gravitation“ erscheint; zweitens die mit der Levitation verbundene Möglichkeit des Glücks en miniature, der Topos verkleinerter Welten (den man im Gegensatz zu dem im dritten Kapitel untersuchten „Monumentalismus“ der neueren Baugeschichte verstehen kann). Diese beiden Glücksbereiche werden im Sinne der Studie als dialektische Prozesse verstanden, als Versuche, der Last der Geschichte zu entkommen, sowie gleichzeitig als Eingeständnis, dass dies wohl nicht möglich ist. Was sich bei den beiden überraschenderweise herausstellt, ist, dass Sebalds Werk nicht nur die Bedeutung des Erinnerns, wie häufig angenommen wird, sondern auch die nietzscheanische Notwendigkeit des Vergessens betont. Die vielbesprochene Melancholie seines Werkes besteht vielleicht nicht zuletzt aus der Tatsache, dass dieses Vergessen letztendlich unmöglich ist. Die Deutung von Sebalds Stil in dieser Studie bleibt also durchgehend dialektisch. Die Herangehensweise kommt schon im Titel zum Ausdruck, durch die Anspielung auf Martin Jays einflussreiche Geschichte der Frankfurter Schule The Dialectical Imagination (1973).95 Die vorliegende Studie ergab sich allerdings an erster Stelle aus dem unvoreingenommenen Wunsch, Sebalds Prosastil unter die Lupe zu nehmen – die Vermutung, er wäre dialektisch zu deuten, kam erst im Laufe der Analyse auf. Ziel der Studie ist also nicht, Sebalds Werk als systematische Auseinandersetzung mit der Frankfurter Schule zu verstehen, sondern vielmehr seinen Stil als ästhetische Fortsetzung ihrer Geschichtsphilosophie – ihrer Fortschrittskritik – zu erläutern. Seit seiner frühen Lektüre von Adorno, Benjamin und der ganzen „jüdische[n] Schule zur Erforschung der bürgerlichen Sozial- und Geistesgeschichte“ (Logis, 12) hat Sebald dialektisch gedacht – und dies wäre nun im Rhythmus seiner Prosa nachzuvollziehen. Hauptobjekt der Untersuchung soll daher immer Sebalds technē bleiben: Denn „der Schlüssel jeglichen Gehaltes von Kunst liegt in ihrer Technik“, um auf Adorno zurückzukommen.96 Die Bedeutung dieser Adorno’schen „Technik“ bringt schließlich eine von Sebald unterstrichene Passage in den Mythologies von Claude Lévi-Strauss auf den Punkt:

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Martin Jay, The Dialectical Imagination. A History of the Frankfurt School and the Institute of Social Research 1923-1950, London 1973. Op cit., S. 1.

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Einleitung: Zur Ästhetik der Ethik

So erzählt also [...] ein Kunstwerk, dessen Aufbau auf den ersten Blick so durchsichtig zu sein scheint, daß er keines Kommentars bedarf, auf mehreren Ebenen zugleich eine in Wahrheit äußerst komplizierte Geschichte, zu der es eine Lösung geben muß.97

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Claude Lévi-Strauss, Mythologies IV 2, Frankfurt a.M. 1975, S. 782.

Erzähltechnik I: „Seemann“ oder „Ackermann“?1 „Einen Lesskow als Erzähler darstellen, heißt nicht, ihn uns näher bringen, heißt vielmehr, den Abstand zu ihm vergrößern“.2 Walter Benjamins zu Beginn seines Essays „Der Erzähler“ geäußerte Meinung zu Nicolai Lesskow warnt vor der Gefahr einer pauschalen Identifizierung von Erzähler mit Autor. Mit solcher Vorsicht ist auch die Erzählhaltung von W.G. Sebald zu untersuchen.3 Eine Analyse von Sebalds Erzähltechnik bringt einem den Autor persönlich nicht näher, weil man sich der verschiedenen Schichten bewusst wird, die er zwischen dem Leser, dem Autor und der Vergangenheit so sorgfältig konstruiert. Wir kommen Sebald als Erzähler paradoxerweise erst näher, indem wir „den Abstand zu ihm vergrößern“: Geschichte lässt sich erst aus dem Zusammenhang von ihren verschiedenen übereinandergelagerten Schichten erschließen. Benjamin spricht in diesem Sinne von „jene[m] langsame[n] Einander-Überdecken dünner und transparenter Schichten [...], das das treffendste Bild von der Art und Weise abgibt, in der die vollkommene Erzählung aus der Schichtung vielfacher Nacherzählungen an den Tag tritt“.4 In Sebalds Arbeitsbibliothek befinden sich vierzehn Bücher von oder über Benjamin, die alle von einer intensiven Beschäftigung mit seinem Werk zeugen. Um die theoretischen Grundlagen einer Deutung von Sebalds Erzähltechnik zu legen, widmet sich dieses Kapitel zunächst Sebalds Lektüre von Benjamins Essay „Der Erzähler“, dem letzten im Band Illuminationen. Mithilfe seiner Anstreichungen werden Sebalds Erzählstrukturen als eine Inszenierung der „Naturgeschichte“ interpretiert, als eine ästhetische Antwort auf einen philosophischen Begriff. Anschließend wird versucht, aus dieser Perspektive zwei Grundprinzipien seiner Erzähltechnik zu erhellen: das Prinzip des „Einschachtelns“ und das Prinzip der „Montage“. Aus dem Verhältnis zwischen diesen _____________ 1 2 3 4

Eine Version von diesem Kapitel ist auch im Sammelband W. G. Sebald and Expatriate Writing, Amsterdam 2009, hrsg. von Gerhard Fischer, zu finden. Walter Benjamin, „Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows“, in: Illuminationen, Frankfurt a.M. 1961, S. 409. Siehe etwa Sigrid Löffler: „Das Erzähler-Ich [ist] mit W.G. Sebald nicht identisch. Es ist eine Kunstfigur, ein narratives Ich“. Sigrid Löffler, „Melancholie ist eine Form des Widerstands“, in: Text + Kritik 158/4 (2003), S. 107. Benjamin, „Der Erzähler“, S. 419.

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Erzähltechnik I. „Seemann“ oder „Ackermann“?

beiden Erzählprinzipien ergibt sich die ganze Spannbreite von Sebalds Prosastil. Die viel diskutierte Spannung zwischen Faktum und Fiktion in seinem Werk beruht letzten Endes auf einer stilistischen Dialektik: zwischen dem höchst künstlichen Stil seiner Prosa einerseits und ihrem scheinbar dokumentarischen Realismus andererseits.

„In die Naturgeschichte [ein]gebettet“ Rahmenerzählung als philosophisches Prinzip In „Der Erzähler“ unterscheidet Benjamin an erster Stelle zwischen zwei Gruppen von Erzählern: Die eine ist „im handeltreibenden Seemann“ verkörpert, die andere „im seßhaften Ackermann“. Benjamin begründet die Unterscheidung folgenderweise: „Wenn einer eine Reise tut, so kann er was erzählen“, sagt der Volksmund und denkt sich den Erzähler als einen, der von weither kommt. Aber nicht weniger gern hört man dem zu, der, redlich sich nährend, im Lande geblieben ist und dessen Geschichten und Überlieferungen kennt.5

Benjamin ist aber auf seine „Grundtypen“ nicht so versessen, dass er deren Überschneidung übersieht. Er zitiert das Beispiel des mittelalterlichen Meisters, der vorher „Wanderbursche“ gewesen war: In seiner „Handwerkstatt [...] verband sich die Kunde von der Ferne, wie der Vielgewanderte sie nach Hause bringt, mit der Kunde aus der Vergangenheit, wie sie am liebsten dem Seßhaften sich anvertraut“.6 Versuchen wir nun diese erzähltheoretische Typologie auf Sebald anzuwenden, so regt sich der Verdacht, dass sein Erzähler aus einer ähnlichen Dialektik aus „Seemann“ und „Ackermann“ besteht, einer idiosynkratischen Dialektik freilich,7 die sich eher in Sebalds Bild der „Ringe“ als in Benjamins linearer Chronologie der Vergangenheit bzw. Zukunft ausdrücken lässt. Wenn Sebalds Erzähler an erster Stelle als herumreisender „Seemann“ zu verstehen ist, als eine Art Gracchus etwa, der die Zwi_____________ 5 6 7

Benjamin, „Der Erzähler“, S. 410. Benjamin, „Der Erzähler“, S. 411. Die Unterscheidung lässt sich auch marxistisch bzw. sozio-ökonomisch auslegen, „as a model of Marxist literary criticism“, wie Fredric Jameson schreibt (Jameson, Marxism and Form, S. 80). „This correlation between the activity of storytelling and the concrete form of a certain historically determinate mode of production“ (ebd.) weist auf Sebalds Kritik der Konsumindustrie, die zum Beispiel bei den von J.J. Long identifizierten „anti-disciplinary and unsystematic“ Geisteswissenschaftlern in Die Ringe des Saturn zu sehen ist: „Sebald contrasts the serendipitous discoveries and unsystematic searching facilitated by walking with the systematic imperatives of academic research. The Rings of Saturn evinces an obsession with characters whose labour is totally unproductive in economic terms.“ Long, S. 147.

„In die Naturgeschichte [ein]gebettet“ Rahmenerzählung als philosophisches Prinzip

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schenräume zwischen Leben und Tod im 20. Jahrhundert auslotet, so schließen jedoch die Reisen des Erzählers eine genauere Auseinandersetzung mit den „Geschichten und Überlieferungen“ des jeweiligen Landes keineswegs aus. Im Gegenteil: Die gesuchten „Verbindungslinien“ (SG, 107), die ihre Apotheose im Bild der Ringe des Saturn finden, setzen tiefgehende Kenntnisse der europäischen Geschichte voraus oder versuchen zumindest, im Laufe der Erzählungen dieser Geschichte auf die Spur zu kommen. Eben deswegen ist das Bild der „Ringe“ so prägnant: Zwar bewegt sich der Erzähler insofern, als er, wie der Seemann, ständig herumreist – er dreht sich aber nur im Kreise, er dreht sich immer um einen „seßhaften“ Punkt. In Die Ringe des Saturn ist dieser Punkt die Grafschaft Suffolk, von deren Städten und Landhäusern aus sich die Erzählungen chronologisch bzw. topografisch immer wieder abspulen. Auf Sebalds ganzes Oeuvre übertragen, wäre wohl dieser Punkt die Massenvernichtung der Juden, der tote Winkel im Herzen des 20. Jahrhunderts. Martin Swales suggeriert, Sebald „offers us [...] the metonymy of melancholy, the adjacent, contiguous things of the pained condition, rather than the condition itself. He gives us the rings caused by the destruction and deprivation, rather than the haemorraging centre“.8 Sebalds idiosynkratisches Oszillieren zwischen Benjamins zwei erzähltheoretischen Grundtypen drückt sich in Swales’ Urteil aus: Durch sein ständiges Umkreisen dieser „pained condition“ vermag Sebald einerseits den Schmerz der Vergangenheit zutiefst auszuloten, andererseits aber die Unaussprechlichkeit eines solchen Schmerzes nicht direkt anzutasten. Diese „pained condition“ darf jedoch nicht auf den Holocaust reduziert werden, denn schon bei Sebalds Lektüre von Benjamins Essay leuchtet ein, inwieweit er die Perspektive des Erzählers als eine Art „Todesgedanken“ versteht. Sebald unterstreicht das Wort im zehnten Kapitel seiner Ausgabe, einem Kapitel, das sich fast wie Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge liest, so innig wirbt Benjamin um die Wiederaneignung des „eigenen Todes“.9 Er betont die Autorität, „die auch der ärmste Schächer im Sterben für die Lebenden um ihn her besitzt. Am Ursprung des Erzählten steht diese Autorität“.10 Sebald streicht nicht nur diesen letzten Satz, sondern auch den Anfang des nächsten Kapitels an: „Der Tod ist die Sanktion von allem, was der Erzähler berichten kann. Vom Tode hat er seine Autorität verliehen.“11 Hier trifft man auf eine Deutung der Erzähl_____________ 8 9 10 11

Martin Swales, „Intertextuality, Authenticity, Metonymy? On Reading W.G. Sebald“, in: The Anatomist of Melancholy, hrsg. von Rüdiger Görner, München 2003, S. 86. Benjamin, „Der Erzähler“, S. 420. Benjamin, „Der Erzähler“, S. 421. Benjamin, „Der Erzähler“, S. 421.

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Erzähltechnik I. „Seemann“ oder „Ackermann“?

kunst, die die Spezifizität des Holocausts schon vorwegnimmt: Das Leben gewinnt seinen Sinn erst im Tode, die Erzählung erst an ihrem Ende. Es überkreuzen sich die zwei Bedeutungen des Begriffs der „Geschichte“: Individuelle Geschichten, wie sie erzählt werden, ergeben Sinn erst als Geschichte. Benjamins nächster Satz hebt das Verhältnis hervor. „Mit anderen Worten“, schlussfolgert er: „es ist die Naturgeschichte, auf welche seine Geschichten zurückverweisen.“12 Was das Gesamtkonzept von Sebalds Schaffen angeht, muss der Holocaust daher eher als eine Zuspitzung eines grundlegenden Themas, nicht als das zentrale Thema per se verstanden werden. Diese Rolle fällt dem von Benjamin aufgeführten Begriff der Naturgeschichte zu. Sebald zufolge sei die Geschichte der Menschheit ein „Sonderfall der Naturgeschichte“; sie sei „nicht autonom und unabhängig von der Naturgeschichte“ zu denken.13 Er bedient sich des Begriffes dementsprechend als Leitmotiv seines ganzen Œuvres. Schon im „Elementargedicht“ Nach der Natur betreibt er Naturgeschichte auf zwei verschiedenen Ebenen, wie der Titel erahnen lässt: Schreibt er chronologisch nach der Natur – etwa in einem post-natürlichen Zeitalter – oder ahmt er die Natur nach wie ein Maler? Die Beschreibung der Natur ist auch die Beschreibung ihres Verfalls. „Seh ich aber die Nervatur | des vergangenen Lebens vor mir | in einem Bild, dann denke ich immer, | es hätte dies etwas mit der Wahrheit | zu tun“, schreibt Sebald am Anfang des dritten, persönlichsten Teils (NN, 71). Da das Gedicht als literarisches Gegenstück zu einer kunstgeschichtlichen Problematik konzipiert wurde (was nicht nur durch den Titel bzw. den Matthias Grünewald gewidmeten ersten Teil belegt wird, sondern auch durch die Tatsache, dass Sebald hier „die Nervatur des vergangenen Lebens […] in einem Bild“ verortet), wundert es nicht, dass die Sprache des Gedichts auf Beschreibung bedacht ist, auf eine Art enargeia (oder Anschaulichkeit), die „die sich überstürzende Zeit“ (NN, 26) zu bannen trachtet. Immer wieder thematisiert Sebalds Sprache den Fluchtpunkt ihrer eigenen Erfahrung: Die Grenzen seiner Beschreibungen sind die Grenzen seiner Welt. Der Ekphrasis des ersten Teils, in dem Grünewalds Leben und Werk beschrieben werden, entspricht die Nacherzählung des Lebens des Georg Wilhelm Steller im zweiten Teil: Nicht nur vermöge Steller an nichts anderes zu denken als „an die Formen der Fauna und Flora“ – er denke auch an „die Kunst | ihrer Beschreibung“ (NN, 38). Bezeichnenderweise stoßen die beiden Beschreibungen _____________ 12 13

Ebd. Zitiert nach Holger Schlodder, „Die Schrecken der Überlebenden. Eine Dialog-Collage über Die Ausgewanderten und Die Ringe des Saturn“, in: W.G. Sebald (Porträt 7), hrsg. von Franz Loquai, Eggingen 1997, S. 180.

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gleichsam gegen die Wand der letztendlich unermesslichen Natur. Auf Grünewalds Basler Kreuzigungsbild erstrecke sich „eine so weit in die Tiefe hineingehende Landschaft, | daß unser Auge nicht ausreicht, sie zu ergründen“ (NN, 26); als Steller vom „Licht der Natur“ redet, lässt Sebald darauf Theophon erzählen: „alles […] ändert sich in das Alter, | weniger wird das Leben, | alles nimmt ab, | die Proliferation | der Arten ist bloß | eine Illusion, und niemand | weiß, wo es hinausgeht“ (NN, 43). Alle drei Teile des Gedichts enden mit einem Bild des Schnees, das die zwei Hauptthemen der Naturgeschichte und des Sehens bzw. des Beschreibens aufhebt. Der Schnee verdeckt alles: Der Sprache des Sehens wird „im schwindenden Licht“ ein Ende gesetzt. „So wird, wenn der Sehnerv | zerreißt, im stillen Luftraum | es weiß wie der Schnee | auf den Alpen“ (NN, 33). Wir sind wie Baumstämme im Schnee, scheint Sebald mit Kafka sagen zu wollen. Der Begriff der „Naturgeschichte“ bezieht sich danach im Laufe seines Werkes sowohl auf das Organische als auch auf das Anorganische: Sebald spricht etwa wiederholt von der „Naturgeschichte des Herings“ im dritten Kapitel von Die Ringe des Saturn, aber auch vom Titel des von Lord Zuckermann verfassten Berichts „Über die Naturgeschichte der Zerstörung“ in Luftkrieg und Literatur (der bekanntlich als Titel für die englische Übersetzung der Vorlesungen diente). Der Begriff bildet also ein breiteres Verständnis des benjaminischen „Todesgedankens“, als die Reduzierung auf die spezifischen Umstände des Holocausts erahnen ließe: In der Zusammensetzung der animalischen „Natur“ (oder nature morte) und der menschlichen „Geschichte“ kommen sowohl ein barockes memento mori als auch eine implizite Kritik am Fortschrittsglauben der Aufklärung zum Ausdruck. Denn „Natur“ kann man sowohl physiologisch als auch psychologisch verstehen: Die Hoffnung auf „Fortschritt“ wird immer wieder von der „Natur“ des Menschen unterminiert, von seiner Sterblichkeit aber auch von seiner Bosheit, von seiner Neigung zur Selbstzerstörung. Der Begriff ist durchaus dialektisch, wie etwa ein von Sebald unterstrichener Satz in der Dialektik der Aufklärung belegt: „jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird, gerät nur umso tiefer in den Naturzwang hinein. So ist die Bahn der europäsichen Zivilisation verlaufen“.14 Diese Spannung zwischen Zerstörung und Rettung ist die treibende Kraft von Sebalds ganzem Werk, vielmehr als seine spezifische Auseinandersetzung mit dem Holocaust: Wie Anja K. Maier schreibt, ist

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Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1969, S. 19.

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„ein Ende des Widerstreits zwischen ‚natürlicher’ Zerstörung und der rettenden Archivierung [...] nicht absehbar“.15 Dass es ein von Benjamin angedeutetes Verhältnis zwischen Naturgeschichte und Erzählstruktur in Sebalds Prosa gibt, ist bisher nicht ausführlich hervorgehoben worden. Indem sie „(Natur)Geschichte“ zu „Geschichten“ verwandelt, zielt Sebalds Erzählstruktur darauf ab, “die übliche Antithesis von Natur und Geschichte aufzuheben”, wie Adorno das philosophische Ziel des Begriffs in seinem Aufsatz „Die Idee der Naturgeschichte“ formuliert.16 Die Naturgeschichte hebt die Vergänglichkeit hervor als Moment, in dem Geschichte und Natur konvergieren: „Auf Benjamins Trauerspiel-Buch rekurrierend,“ schreibt Anja K. Johannsen, „plädiert [Adorno] dafür, Natur als Vergänglichkeit zu denken“.17 Durch seine sorgfältig inszenierten Erzählungen vermag Sebald seinerseits, diese Vergänglichkeit der Naturgeschichte als ein ästhetisches Phänomen darzustellen. In einem Interview nach der Veröffentlichung der Ringe des Saturn ging Sebald auf diese Frage ein, indem er seinen Stil als Antwort auf den „Zivilisationsbruch“ der Moderne ausdeutet: Der Klang des neunzehnten Jahrhunderts [wird] nochmals evoziert [...] mit der Beschreibung der Katastrophen. Es ist so etwas wie eine leicht nachvollziehbare Repräsentation dieses Zivilisationsbruches, der ja wohl um 1900 eingetreten ist. [...] Es ist wahrscheinlich ein Versuch, diese zwei Jahrhunderte stilistisch und inhaltlich gegen- und miteinander zu konterkarieren.18

Sebalds Stil bildet demzufolge eine bewusst eingesetzte Technik, derer er sich bedient, um die Vergangenheit gegen die Gegenwart auszuspielen. Die unten analysierte Struktur seiner Erzählungen, die ineinander verschachtelten Schichten, die sich schlussendlich immer auf den Standpunkt des Erzählers beziehen, holen die erstarrte Vergangenheit „aus der unendlichen Ferne in die unendliche Nähe“, um wiederum mit Adorno zu sprechen.19 Sebald beschreibt die Erzählstruktur von den Ringen des Saturn mit ähnlichen Worten: „Man kann – und das ist unter anderem eine der Ideen gewesen hinter der Strukturierung in den Ringen des Saturn – in konzentrischen Kreisen immer weiter nach außen gehen, und die äußeren Kreise _____________ 15 16 17 18 19

Anja K. Maier, „‚Der panische Halsknick’. Organisches und Anorganisches in W.G. Sebalds Prosa“, in: W.G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei, hrsg. von Michael Niehaus, Claudia Öhlschläger, Berlin 2006, S. 123. Theodor W. Adorno, „Die Idee der Naturgeschichte“, in: Philosophische Frühschriften. hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1973, S. 345. Anja K. Johannsen, Kisten. Krypten. Labyrinthe. Raumfigurationen in der Gegenwartsliteratur: W.G. Sebald, Anne Duden, Herta Müller, Bielefeld 2008, S. 57. Neue Zürcher Zeitung, 22/11/1997. Adorno, „Die Idee der Naturgeschichte“, S. 357.

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determinieren immer die inneren“.20 Sebalds Rahmentechnik ist aber nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich zu verstehen: Die Tatsache, dass die individuellen Geschichten seiner Protagonisten immer von dieser gegenwärtigen Erzählperspektive abhängig sind, ermöglicht es ihm, die menschliche Sterblichkeit sowohl darzustellen (seine Geschichten spielen dementsprechend immer a priori in der Vergangenheit) als auch in die Gegenwart hinüberzuretten (sie werden aber nicht vergessen, sondern „archiviert“). „Being ‚in the midst’ of history“, schreibt Eric Santner in Bezug auf Sebald, „means, in large measure, being in the midst of the labor of reconstructing history.“ Was auch zwangsläufig heißt, dass dieser Prozess immer weiter geht, nie aufhört: „the larger history he is reconstructing has not ceased. […] Sebald’s practice of ‚postmemory’21 is at the same time a writing of the natural history of the present“.22 Als Exempel von dieser Erzählkunst und vom Verhältnis zwischen „Naturgeschichte“ und „Geschichten“ zitiert Benjamin Johann Peter Hebels berühmte Kurzgeschichte „Unverhofftes Wiedersehen“ (aus dem Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes). Am Vorabend seiner Hochzeit stürzt ein Bergmann in einem Stollen in seinen Tod; seine Braut hält ihm aber die Treue, bis sie eines Tages am Ende ihres Lebens in der Leiche eines aus dem Stollen wieder zu Tage geförderten Bergmanns ihren Bräutigam wiedererkennt. Was Benjamin aber interessiert, ist vielmehr die Art und Weise, wie Hebel „die lange Reihe von Jahren“ zwischen dem Tod des Bergmanns und seiner Wiederentdeckung „augenfällig zu machen“ vermag.23 In einem langen Absatz führt Hebel eine Vielzahl von Ereignissen auf, die sich in der Zwischenzeit begeben hatten, von dem Lissaboner Erdbeben bis zur französischen Eroberung von Preußen. Die anscheinende Willkürlichkeit der Ereignisse erinnert an Sebalds „Ringe“, die sich über verschiedene Orte und Zeiten abspulen, die aber letztendlich immer wieder zum Erzähler selbst zurückkommen. So beendet auch Hebel seine lange Liste mit der Rückkehr zum vermeintlichen Subjekt seiner Erzählung: „...und die Engländer bombadierten Kopenhagen, und die Ackerleute säten und schnitten. Der Müller mahlte, und die Schmiede hämmerten, und die Bergleute gruben nach den Metalladern in ihrer unterirdischen Werkstatt.“24 Die verschiedenen Schichten der Geschichte kommen hier _____________ 20 21

22 23 24

Süddeutsche Zeitung, 22/3/2001. Für eine Definition des Begriffs siehe Marianne Hirsch: Family Frames. Photography, Narrative and Postmemory, Cambridge, Massachusetts 1997, S. 22: „Postmemory is distinguished from memory by generational distance and from history by deep personal connection. [It is] mediated not through recollection but through an imaginative investment and creation“. Eric Santner, On Creaturely Life, Chicago 2006, S. 164-167. Benjamin, „Der Erzähler“, S. 421. Benjamin, „Der Erzähler“, S. 422.

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Erzähltechnik I. „Seemann“ oder „Ackermann“?

deutlich zum Ausdruck: Es gibt zwar die fortschrittliche Ebene der Politik, das große Welttheater – aber darunter fließt die Zeit dahin, als ob sich mittlerweile nichts geändert hätte. Dass Benjamin Hebels kurze Geschichte zitiert, ist für Sebalds Werk von besonderer Bedeutung angesichts der Tatsache, dass auch in Die Ausgewanderten auf Hebels Erzählung angespielt wird. Am Ende von „Dr. Henry Selwyn“ befindet sich der Erzähler zufällig in der Nähe von Genf, wo er in einer Zeitung einen Bericht über eine aus dem Oberaargletscher wieder zutage gekommene Leiche liest, die anscheinend die Leiche eines seit 72 Jahren vermissten Bergführers ist. Falls die Anspielung auf Hebel nicht auffällt, entscheidet Sebald die Sache durch seine Wortwahl: „Doch haben, wie mir in zunehmendem Maße auffällt, gewisse Dinge so eine Art, wiederzukehren, unverhofft und unvermutet, oft nach einer sehr langen Zeit der Abwesenheit“ (Aus, 36). Die Parallelen zwischen den beiden Geschichten liegen auf der Hand: Hebels „Unverhofftes Wiedersehen“ einerseits, Sebalds „Art, wiederzukehren, unverhofft“ andererseits. Benjamins Kommentar zu Hebels langer Liste von mittlerweile verstrichenen Ereignissen kann also auch für Sebald gelten: Tiefer hat nie ein Erzähler seinen Bericht in die Naturgeschichte gebettet, als Hebel es in dieser Chronologie vollzieht. Man lese sie nur genau: Der Tod tritt in ihr in so regelmäßigem Turnus auf wie der Sensenmann in den Prozessionen, die um Mittag um die Münsteruhr ihren Umzug halten.25

Indem sie „die Naturgeschichte der Zerstörung“ verfolgen, übertragen Sebalds Erzählungen das metaphorische Bild des sich um die Münsteruhr herumdrehenden Sensenmanns auf das 20. Jahrhundert: Der Tod tritt in ihm „in so regelmäßigem Turnus“ auf. Benjamins Verb „gebettet“ ist in dieser Hinsicht von besonderem Interesse, denn es verweist auf den Unterschied zwischen Erzähler und Historiker – zwischen „Geschichten“ und „Geschichte“ –, den Benjamin im zwölften Kapitel seines Essays hervorhebt. Den ersten Satz dieses Kapitels hat Sebald in große schwarze Klammern gesetzt: Jedwede Untersuchung einer bestimmten epischen Form hat es mit dem Verhältnis zu tun, in dem diese Form zur Geschichtsschreibung steht. Ja, man darf weitergehen und sich die Frage vorlegen, ob die Geschichtsschreibung nicht den Punkt schöpferischer Indifferenz zwischen allen Formen der Epik darstellt.26

Entscheidend für dieses Verhältnis zwischen Geschichtsschreibung und Erzählung sind laut Benjamin die Begriffe der „Information“ bzw. der „Chronik“. Das von Sebald wiederholt unterstrichene Wort „Informati_____________ 25 26

Benjamin, „Der Erzähler“, S. 422. Benjamin, „Der Erzähler“, S. 422.

„In die Naturgeschichte [ein]gebettet“ Rahmenerzählung als philosophisches Prinzip

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on“ bildet Benjamin zufolge den Gegensatz zum Begriff der „Erzählung“: Information setze eine totale Offenheit voraus, während es „nämlich schon die halbe Kunst des Erzählens [ist], eine Geschichte, indem man sie wiedergibt, von Erklärungen freizuhalten“.27 Diese Kunst sieht Benjamin auch in dem von Sebald ebenfalls angestrichenen Begriff der „Chronik“. „Der Chronist ist der Geschichts-Erzähler“, schreibt Benjamin, indem er auf den Unterschied zwischen „dem, der Geschichte schreibt, dem Historiker, und dem, der sie erzählt, dem Chronisten“, hinweist.28 Die Chronisten des Mittelalters etwa, die „ihrer Geschichtserzählung den göttlichen Heilsplan zugrunde legen, der unerforschlicher ist, haben [...] die Last beweisbarer Erklärung von vornherein von sich abgewälzt. An ihrer Stelle“, fährt Benjamin fort, „tritt die Auslegung, die es nicht mit einer genauen Verkettung von bestimmten Ereignissen, sondern mit der Art ihrer Einbettung in den großen unerforschlichen Weltlauf zu tun hat“ (Hervorhebung B.H).29 Da Sebald kein Glauben an einen „göttlichen Heilsplan“ zuzuschreiben wäre (trotz der zahlreichen „Koinzidenzen“ und zufälligen Schicksalswendungen in seinen Werken), ist er eher auf den Begriff der Naturgeschichte angewiesen als weltliches Gegenstück zum „großen unerforschlichen Weltlauf“: Seinen ineinander verschachtelten Erzählstrukturen ist ein ständiges Bewusstsein der verstrichenen bzw. verstreichenden Zeit eingebaut. In diesem Sinne ist Sebald ein „Geschichtserzähler“, der die Schichten der Vergangenheit nicht nur thematisch, sondern auch stilistisch wiedergibt. Vor allem ist es der Übergang von „betten“ zu „Einbettung“ in Benjamins Aufsatz, der dieses Verhältnis zwischen „Geschichtsschreibung“ und „Geschichtserzählung“ in Sebalds Prosa zu erläuten vermag. Denn seine Erzähltechnik beruht grundsätzlich auf einer Art kontinuierlicher Einbettung, beinahe ad absurdum will man sagen. Von der Perspektive des Erzählers aus wird eine Geschichte nach der anderen übereinandergelagert, ein „langsame(s) Einander-Überdecken“ in Benjamins Worten, das sich wie eine episch erweiterte Version von Hebels kurzer „Naturgeschichte“ liest. In Die Ausgewanderten oder Austerlitz werden die Geschichten der ausgewanderten Protagonisten oft durch mehrere Filter erzählt: Der Erzähler schildert etwa die ihm von Mme. Landau erzählte Geschichte des Lehrers Paul Bereyter oder ähnlicherweise die ihm von Austerlitz weitergegebene, ursprünglich aber von Věra erzählte Geschichte der verschollenen Eltern. Die Schichten der erzählten Geschichten sind also selbst gewissermaßen „ausgewandert“. _____________ 27 28 29

Benjamin, „Der Erzähler“, S. 415. Benjamin, „Der Erzähler“, S. 422. Benjamin, „Der Erzähler“, S. 423.

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Erzähltechnik I. „Seemann“ oder „Ackermann“?

In Die Ringe des Saturn wird diese Struktur des „ineinander Verschachtelns“ noch wichtiger. Die Art und Weise, wie die verschiedenen Geschichten ineinander „eingebettet“ werden, bildet das Gegenstück zu den Reisen des Erzählers und wird also gewissermaßen zum Thema sowie zum strukturierenden Prinzip des Werkes. Man denke nur an die Geschichte vom Dichter Swinburne, die erst über seine Tante bzw. deren Gast bzw. den Erzähler zum Leser gelangt, oder an die Geschichte der irischen Ashburys, die erst innerhalb der Geschichte von Edward Fitzgerald bzw. eines Traums erzählt wird. Diese Geschichten hängen zwar einerseits vom Wandern des Erzählers ab (die Geschichte Swinburnes wird von Dunwich ausgelöst, die Geschichte Fitzgeralds von Boulge Park), breiten sich aber gleichzeitig über ein „Verhältnis von Raum und Zeit“ (A, 18) aus. Das Verhältnis wird also nicht nur thematisch, sondern auch strukturell hergestellt, in den ineinander verschachtelten Schichten der Erzählungen, die als eine Art ästhetische Inszenierung der „Naturgeschichte der Zerstörung“ fungieren. Jeder Geschichte ist ihr eigenes Ende schon eingebaut. Wie Sebald Sir Thomas Browne zitiert: „Auf jeder neuen Form liegt schon der Schatten der Zerstörung“ (RS, 35).

Das Prinzip des „Einschachtelns“ Mit dem benjaminischen Begriff des „Einbettens“ ist der Sebald’sche Begriff des „ineinander Verschachtelns“ oder „Einschachtelns“ nahe verwandt. In einem Buch über Benjamin als „Sammler“ streicht Sebald das Wort sogar an, wobei er auch den folgenden Satz am Rande hervorhebt: „Das Wort Schachtelzustand umreißt nicht nur des Sammlers klaustrophobische Befindlichkeit, sondern die gramkonkave Räumlichkeit einer Schädelwelt, in der er haust und seinen Dingen sich anverwandelt“ (Hervorhebung im Original).30 Dass Sebald ein „Sammler“ im benjaminischen Sinne war, dass er zeit seines Lebens nicht nur alte Fotografien und Bücher sammelte, sondern auch vergessene Menschen und verschollene Lebensgeschichten in seine Prosa hinüberrettete − dass er vor allem „Verbindungslinien“, „Verhältnisse“ und „Zusammenhänge“ zu sammeln versuchte −, gilt mittlerweile als Gemeinplatz. Andrea Köhler sagte zum Beispiel in ihrer Laudatio bei der Verleihung des Joseph-Breitbach-Preises 2000: „W.G. Sebald ist ein Sammler, man könnte auch sagen: Archivar31 _____________ 30 31

Wolfgang Schlüter, Walter Benjamin. Der Sammler & das geschlossene Kästchen, Darmstadt 1993, S. 45. Obwohl Sebald häufig als „Archivar“ bezeichnet wird, ist es nicht immer klar, was darunter verstanden wird. Wichtig scheint es mir, den Begriff zumindest als durchaus subjektiv zu

Das Prinzip des „Einschachtelns“

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von Lebensgeschichten“.32 Dass Sebald diese Geschichten „sucht, aufliest, einheimst und dann verwandelt“,33 ließe sich aber auch in der Struktur seiner Erzählungen sowie seiner Sätze ablesen. Kann man seine Erzähltechnik als „Schachtelzustand“ bezeichnen? Angesichts Sebalds bekannter Vorliebe für die Literatur des 19. Jahrhunderts verwundert es nicht, dass er immer wieder auf eine Art „Rahmenerzählung“ zurückgreift. Am Anfang und am Ende steht immer der Erzähler: Erst im Laufe dessen eigener Geschichte kommen die Protagonisten bzw. die verschiedenen historischen Figuren zu Wort. Die Wirkung dieser Rahmentechnik wird zufälligerweise an einer von Sebald angestrichenen Stelle in Werner Fulds Biografie Walter Benjamin: Zwischen den Stühlen zusammengefasst, wo Fuld Das Festspiel von Gerhart Hauptmann beschreibt: „Am Ende kehrt das nun von den Figuren selbst gespielte Geschehen wieder in den Rahmen eines Puppenspiels zurück: der Direktor erscheint und packt alles in seinen Kasten“.34 Etwas puppenhaftes hat auch Sebalds Erzähltechnik: Die verschiedenen narrativen Schichten werden wie Puppen ineinander verschachtelt (Pierre Deshusses spricht von „poupées russes“)35 und sind also auf den guten Willen des „Direktors“ bzw. Erzählers angewiesen.36 Sebald lässt Austerlitz etwa an einer Stelle von den Motten reden, die vom Großonkel seines Schulfreundes Gerald in die Vertiefungen der „zu ihrem Schutz in einer Kiste ineinander verschachtelten Eierkartons“ eingepackt werden (A, 132). Seine Erzähltechnik beruht auf einem ähnlichen Prinzip, das er in Austerlitz wiederholt thematisiert, als versuche er, über diese im Laufe seines Werks entwickelte Technik des „Einschachtelns“ Rechenschaft abzulegen. Die Schlüsselsze_____________

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verstehen, im Sinne etwa der Beschreibung von Benjamin im Katalog der Ausstellung Walter Benjamins Archive, die vom 3. Oktober bis zum 19. November 2006 in der Akademie der Künste in Berlin gezeigt wurde: „Ordnung, Effizienz, Vollständigkeit, Objektivität sind Prinzipien archivischer Arbeit. Benjamins Archive offenbaren hingegen die Leidenschaften des Sammelns. In ihnen häufen sich Reste, die eiserne Reserven sind und darum gerettet werden müssen. Es sind Orte, an denen Aktualität aufblitzt, eigenwillige Registraturen eines Schriftstellers, subjektiv, lückenhaft, unamtlich.“ Walter Benjamins Archive. Bilder, Texte und Zeichen, Frankfurt a.M. 2006, S. 8f Zitiert auf dem Umschlag von Austerlitz. Zitiert auf dem Umschlag von Austerlitz. Werner Fuld, Walter Benjamin. Zwischen den Stühlen, München 1979, S. 50. Pierre Deshusses, „W.G. Sebald: La magie de la mélancholie“, in: Le Monde 19/12/2001, S. 33. Erzähltheoretisch könnte man die Schichten der Erzählung mit Genette als jeweils „extradiegetisch“ (der Autor Sebald), „intradiegetisch“ (der Erzähler „Sebald“) und „homodiegetisch“ (Austerlitz bzw. die jeweiligen Protagonisten) bezeichnen. Siehe Gerard Genette, Discours du récit, Paris 1972.

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Erzähltechnik I. „Seemann“ oder „Ackermann“?

ne findet im „Ladies Waiting Room“ von Liverpool Street Station statt, wo Austerlitz von Erinnerungen überrascht wird, Erinnerungen, hinter denen und in denen sich viel weiter noch zurückreichende Dinge verbargen, immer das eine im andern verschachtelt, gerade so wie die labyrinthischen Gewölbe, die ich in dem staubgrauen Licht zu erkennen glaubte, sich fortsetzten in unendlicher Folge. (A, 196)

Die Szene bildet in gewisser Hinsicht das Herzstück des Romans, denn beim Anblick eines mit einem Rucksack ausgestatteten Knaben fällt es Austerlitz plötzlich ein, dass er selbst als junger Flüchtling durch Liverpool Street Station gekommen war. Nicht nur dieser Satz, sondern die ganze Szene beschreibt sowohl die Architektur des Wartesaals als auch die Architektur von Austerlitzens bzw. Sebalds Erzählungen, d.h., die Art und Weise, wie diese „Erinnerungen“ inszeniert werden. Das Licht etwa, das im Wartesaal hängt, hat den Anschein, „als würde es von den Mauerflächen und den niedrigeren Regionen des Raumes aufgesogen, als vermehre es nur das Dunkel und verrinne in schwarzen Striemen“ (A, 194); von draußen hereindringende Sonnenstrahlen „beschrieben merkwürdige, gegen die Gesetze der Physik verstoßende Bahnen, gingen von der geraden Linie ab und drehten sich in Spiralen und Wirbeln um sich selber, ehe sie verschluckt wurden von den schwankenden Schatten“ (A, 194). Es bedarf nun nicht allzu starker Vorstellungskraft, um diese Beschreibung des Lichts als Metapher der Erzählperspektive zu verstehen. Sebalds Erzählungen vermitteln tatsächlich das seltsame Gefühl, sie würden „das Dunkel“ der Vergangenheit vertiefen, indem sie es zu erhellen versuchen, genauso wie die enigmatische Kerze „im Dom“ am Ende von Kafkas Prozeß. Der Erzähler wirkt – um einen anderen Sebald’schen Vergleich aufzugreifen – wie ein Bergmann, dessen Taschenlampe die Finsternis der Vergangenheit nur vermehrt. Diese Dialektik zeigt sich in den „ineinander verschachtelten“ Schichten von Sebalds Erzählungen, die einerseits die Vergangenheit in die Vertiefungen der „zu ihrem Schutz in einer Kiste ineinander verschachtelten Eierkartons“ einpacken, andererseits die unüberbrückbare Kluft zwischen Gegenwart und Vergangenheit durch eben diesen benjaminischen „Schachtelzustand“ darzustellen versuchen. Sebalds Präpositionen verraten die Technik: Er spricht von „Erinnerungen, hinter denen und in denen sich viel weiter noch zurückreichende Dinge verbargen, immer das eine im andern verschachtelt“. In einem von Sheila Stern verfassten Buch über Proust streicht er interessanterweise eine Stelle an, wo es darum geht, die Proust’ische Parataxe als Überwindung des „Nacheinander“ der normalen Syntax zu verstehen:

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What is seen, felt or imagined is modified in a rapid retouching of attendant and perhaps contradictory elements as though in defiance of the limitations of what can be done with language – what Lessing called the “Nacheinander”, […] the rule of one thing at a time, to which all writing is in thrall.37

Sebalds verschachtelte Sätze und Erzählschichten könnte man ebenso als Versuch deuten, das „Nacheinander“ der erzählten Zeit zu überwinden. Aufschlussreich ist zudem, dass Stern diese Technik als „the analogy, in stylistics, to those reevaluations in the moral sphere“38 versteht: Die ästhetische Struktur verweist auf die ethische. Genauso funktioniert Sebalds Rahmentechnik: Eine Geschichte verbirgt eine andere, eine Erzählperspektive beinhaltet eine andere. So meint Austerlitz zum Beispiel im Liverpool Street Station, das Entscheidende liege „in den Erinnerungsfetzen, die durch die Außenbezirke meines Bewußtseins zu treiben begannen“ (A, 195), wobei er anschließend die an sich völlig unverwandte Geschichte seiner Unbeholfenheit seiner ehemaligen Freundin Marie de Verneuil gegenüber erzählt. Indem die „Außenbezirke meines Bewußtseins“ die erstarrte Vergangenheit „aus der unendlichen Ferne in die unendliche Nähe“ holen, um wieder mit Adorno zu sprechen, kommt ihnen im Sinne von Sheila Stern auch eine ‚moralische’ Kraft zu; als kreisförmiges Bild des Erinnerungsprozesses, das sich auch in den Formen der Erzählungen abspielt, gleichen sie den Ringen des Saturn. Den Begriff des „ineinander Verschachtelns“ verwendet Austerlitz darüber hinaus auch im Zusammenhang mit seinen Prager Erinnerungen. Nachdem Věra Austerlitz die Aufnahme von ihm selbst im „schneeweißen Kostüm“ gezeigt hat – die Aufnahme, die den Umschlag des Buches ziert und die also gewissermaßen pars pro toto als repräsentativ gelten darf – wird Austerlitz in eine Art Erinnerungspanik versetzt: Es scheint mir nicht, sagte Austerlitz, daß wir die Gesetze verstehen, unter denen sich die Wiederkunft der Vergangenheit vollzieht, doch ist es mir immer mehr, als gäbe es überhaupt keine Zeit, sondern nur verschiedene, nach einer höheren Stereometrie ineinander verschachtelte Räume, zwischen denen die Lebendigen und die Toten, je nachdem es ihnen zumute ist, hin und her gehen können [...] (A, 265)

Dieser „Stereometrie“ entspricht Sebalds Rahmentechnik: Es sind genau die „ineinander verschachtelte[n] Räume“ der verschiedenen Erzählschichten, die diesen Zusammenhang zwischen „Lebendigen“ und „Toten“ entstehen lassen. Ob solche „Verhältnisse von Raum und Zeit“ allerdings prinzipiell möglich sind – ob es Sebald überhaupt gelingt, kraft seiner sorgfältig ent_____________ 37 38

Sheila Stern, Swann’s Way, Cambridge 1989, S. 95. Ebd.

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wickelten Erzähltechnik eine Art „Wiederkunft der Vergangenheit“ hervorzurufen –, bleibt fraglich. Es scheint mir vielmehr, als spiegele sich seine berühmte „Melancholie“ in der Tatsache wider, dass solche Erzählstrukturen letztendlich eine verlorene Vergangenheit zwar inszenieren, aber nicht ersetzen können. Sein „Beziehungswahn“ mache dementsprechend ein unhaltbares Versprechen, schreibt Mona Körte, was womöglich auch für seine Erzählstrategie des „ineinander Verschachtelns“ gilt: „Er fördert den Glauben, dass unendliche Aufmerksamkeit und der Zwang, über die Dinge eine plötzliche Nachbarschaft möglicher Beziehungen zu entdecken, ihm die fehlende Erinnerung ersetzen“.39 Dieser „fehlenden Erinnerung“ liegen bekanntlich die Shoa und die damit zusammenhängenden Traumatheorien zugrunde: „with Georges Perec and others new fictional modes are created“, schreibt etwa der bekannte TraumaTheoretiker Geoffrey Hartman, „not so much to fill a void as to make it visible, to ‚present memory as empty’“.40 Dass diese von Austerlitz besprochene „Stereometrie“ als „höher“ gilt, weist jedenfalls auf das Ziel seiner Erzählperspektiven hin, auch wenn dies zumeist unerreichbar bleibt. Sebald ist immer wieder bestrebt, sich den normalen Gesetzen der Schwerkraft zu entziehen, ihre melancholische historische Perspektive zu überwinden. Dies zeigt sich vor allem in seiner „Kunst der Levitation“,41 in seinen wiederholten (schließlich aber zum Scheitern verurteilten) Versuchen, die Geschichte aus der Vogelperspektive zu betrachten − was allerdings auch zu den berühmten „Schwindelgefühlen“ führen kann. Interessant ist hier vor allem die Tatsache, dass sich Austerlitz an den beiden angeführten Stellen explizit gegen die normalen menschlichen „Gesetze“ stellt. In Prag will er die Gesetze, „unter denen sich die Wiederkunft der Vergangenheit vollzieht“, nicht verstehen können; in Liverpool Street Station beschreibt er die „gegen die Gesetze der Physik verstoßende[n] Bahnen“ der Sonnenstrahlen. Kurz danach versucht er, seine Gefühle bei der Wahrnehmung des Wartesaals in Worte zu fassen: je länger ich, den Kopf schmerzhaft zurückgezwungen, in die Höhe hinaufstarrte, desto mehr kam es mir vor, als dehnte sich der Innenraum, in welchem ich mich befand, als setzte er in der unwahrscheinlichsten perspektivischen Verkürzung unendlich sich fort und beugte sich zugleich, wie das nur in einem derartigen falschen Universum möglich war, in sich selber zurück. (A, 195)

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Mona Körte, „‚Un petit sac’. W.G. Sebalds Figuren zwischen Sammeln und Vernichten“, in: Sebald. Lektüren, Eggingen 2005, hrsg. von Marcel Atze & Franz Loquai. S. 176-194. Hier S. 177. Geoffrey Hartman, „Intellektuelle Zeugenschaft und die Shoah“, in: Niemand zeugt für den Zeugen. Erinnerungskultur nach der Shoah. hrsg. von Ulrich Baer, Frankfurt a.M. 2000, S. 38. Zitiert nach Korte, S. 193. Siehe das fünfte Kapitel dieser Studie.

Das Prinzip der „Montage“

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Nicht nur die in sich zurückgebeugte, „verschachtelte“ Syntax ist kennzeichnend, sondern auch die implizite Kritik des eigenen Fortschrittes: Je länger Austerlitz bzw. Sebald irgend etwas macht, desto unklarer wird es ihm; je weiter er vorankommt, desto mehr bleibt er in der Vergangenheit stecken. Die „perspektivische Verkürzung“ gilt hier als Metapher der gegen die Gesetze der Naturgeschichte sich definierenden Erzähltechnik, derer sich Sebald mithilfe seiner ineinander verschachtelten Perspektiven immer wieder bedient. Dementsprechend versucht der Erzähler bzw. sein Stellvertreter Austerlitz der chronologischen Linearität der Geschichte zu entkommen, indem die narrativen Schichten seiner Prosa immer wieder „in sich selber zurück“ gebeugt werden. Dies ließe sich auch in seinen anderen Werken zeigen: In der Struktur von Schwindel. Gefühle, wo der Erzähler in seine eigenen Fußstapfen tritt; in der Verwendung von Luisa Lanzbergs Tagebuch als Zeitzeugenmaterial in Die Ausgewanderten; oder in den über weite Strecken der neueren Geschichte sich ausdehnenden Ringen des Saturn. Sebald entwickelt eine Art narrative Relativitätstheorie, wobei der Erzähler die Vergangenheit vorübergehend ‚ändert’, indem er sie erzählt, genauso wie der verstörte Austerlitz, der die Gesetze der Physik ebenso wie die Vergangenheit zu widerlegen scheint, indem er sie beobachtet.42 Essere est percipere, lautet das Sprichwort: Das Beobachten bzw. das Erzählen ändert die Vergangenheit insofern, als es die Naturgeschichte in die Kunst hinüberrettet.43 Auf die Ebene der Erzähltechnik übersetzt, erinnert das Verhältnis zwischen Erzähler und Erzählung wiederum an Sebalds Lektüre von Benjamin, an einen Satz, den er in „Der Erzähler“ in große schwarze Klammern gesetzt hat: „So haftet an der Erzählung die Spur des Erzählenden wie die Spur der Töpferhand an der Tonschale.“44

Das Prinzip der „Montage“ Diesem Satz in „Der Erzähler“ geht allerdings ein anderer, ebenso von Sebald angestrichener, voran: „Die Erzählung [...] ist selbst eine gleichsam handwerkliche Form der Mitteilung“. Die Deutung der Erzählung als _____________ 42

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„Die Vergangenheit wird gewissermaßen ,begehbar’“, schreibt Anja K. Johannsen nach Christopher Gregory-Guider. Siehe Anja K. Johannsen, Kisten. Krypten. Labyrinthe. Raumfigurationen in der Gegenwartsliteratur: W.G. Sebald, Anne Duden, Herta Müller, Bielefeld 2008, S. 32 bzw. Christopher Gregory-Guider, „The ‘Sixth Emigrant’. Travelling places in the Works of W.G. Sebald“, in: Contemporary Literature vol. 46/3, 2005, S. 422-449. Anja K. Johannsen behauptet zu Recht, Sebalds narrative Diskretion würde misslingen, da „derjenige, der spricht, [...] sich selbst nicht ganz zum Verschwinden bringen [kann].“ Siehe Johannsen, Kisten. Krypten. Labyrinthe, S. 38. Benjamin, „Der Erzähler“, S. 418.

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Erzähltechnik I. „Seemann“ oder „Ackermann“?

„Handwerk“ setzt eine Unterscheidung zwischen „Information“ (von Sebald zweimal unterstrichen)45 und „Erzählung“ voraus: Das Handwerk einer Erzählung, so fiktiv es auch sein mag, ist auf die darin enthaltene „Information“ angewiesen. Sebald selbst besteht in einem Interview auf einem ähnlichen Unterschied: Wo ziehen Sie die Grenze zwischen dem recherchierenden Reporter und dem fiktionalisierenden Schriftsteller? Man braucht möglichst genaues, möglichst authentisches Material, um eine gute Geschichte machen zu können. Ich sehe das fast wie das Schneidermetier. Das Fiktive ist der Schnitt des Kleides, aber der gute Schnitt nützt nichts, wenn der Stoff, das Material schäbig ist. Man kann nur mit solchem Material gut arbeiten, das selbst eine Legitimationsbasis hat. Das ästhetische Credo eines realistischen Schriftstellers? Ich weiß, daß man die Realisten heute mit scheelen Augen betrachtet. Realismus braucht Handwerk. Das Handwerk kann zwar ohne Kunst, die Kunst aber nicht ohne Handwerk auskommen.46

Die Kunst setzt Sebald zufolge Handwerk voraus, das Handwerk aber seinerseits das richtige Material. Wo Benjamin aus einem Brief Lesskows zitiert, dass „die Schreiberei keine freie Kunst, sondern ein Handwerk“ sei,47 schreibt Sebald an den Rand des Textes „Geduld & Atemlosigkeit“. Einerseits will Sebald also abwarten, um möglichst viel authentisches Material sammeln zu können; andererseits muss er sich aber zwingen, den Atem anzuhalten, da er nicht länger warten kann. Die viel diskutierte Spannung in Sebalds Werk zwischen Faktum und Fiktion läuft auf diesen Unterschied – zwischen der Authentizität des Materials einerseits und der Künstlichkeit des Zusammenschnitts andererseits – hinaus. Sebald schneidet das Thema in einem späteren Interview wieder an, wobei er diesmal die Metapher ändert: Ich glaube tatsächlich, daß in der Nachkriegsliteratur die Phase des dokumentarischen Schreibens von größter Bedeutung war. Man muß die Dokumente nicht unbedingt in Rohform präsentieren, man kann sie erzählend assimilieren. Es krankt ein Großteil der Schreiberei heutzutage daran, daß ohne reale Grundlage losgearbeitet wird, daß die Autoren in ihrem Zimmer vor dem leeren Blatt sitzen und aus dem eigenen Kopf heraus arbeiten wollen. Man kann nicht nur aus dem Kopf heraus arbeiten. Man braucht wie ein Schreiner Bretter, um daraus einen Kasten zu machen.48

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Benjamin, „Der Erzähler“, S. 415 und 416. Interview mit Sigrid Löffler, „,Wildes Denken’. Gespräch mit W.G. Sebald“, in: Porträt 7: W.G. Sebald. hrsg. von Franz Loquai, Eggingen 1997, S. 137. Benjamin, „Der Erzähler“, S. 418. „Volker Hage im Gespräch mit W.G. Sebald“, in: Akzente, February 2003, S. 39.

Das Prinzip der „Montage“

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Sebalds Prosastil schwebt also zwischen „Metaphorisierung“ und „Material“, zwischen künstlichen Erzähltechniken und anscheinend „reale[n] Grundlage[n]“. Wie soll man aber zwischen den beiden Polen vermitteln? Wie soll das künstliche Handwerk der angeblichen Authentizität des Materials gerecht werden? Dass eine solche Versöhnung zwischen Stilisierung und Realismus nötig ist, hebt Sebald in seinem Exemplar von Adornos Aufsatz „Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman“ hervor, wo er den folgenden Satz anstreicht: „Will der Roman seinem realistischen Erbe treu bleiben und sagen, wie es wirklich ist, so muß er auf einen Realismus verzichten, der, indem er die Fassade reproduziert, nur dieser bei ihrem Täuschungsgeschäfte hilft.“49 Stilisierung und Realismus schließen sich also nicht aus. Eine Lösung des Problems sah Sebald offenbar im Prinzip der Montage. Seine Anstreichungen in Benjamins kleinem Aufsatz zum wohl berühmtesten „Montage“-Roman der deutschen Literatur, Döblins Berlin Alexanderplatz, sind in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse. Benjamin unterscheidet in seiner Rezension zwischen dem Roman (oder dem roman pur, wie er nach Gide schreibt) und der Prosa (was Sebalds eigener Unterscheidung zwischen „Roman“ und „Prosa“ entspricht).50 Um diese Unterscheidung in Berlin Alexanderplatz zu begründen, stützt sich Benjamin auf eine kurze Analyse von Döblins Stil. „Stilprinzip dieses Buches ist die Montage“, behauptet er: Die Montage sprengt den „Roman“, sprengt ihn im Aufbau wie auch stilistisch, und eröffnet neue, sehr epische Möglichkeiten. Im Formalen vor allem. Das Material der Montage ist ja durchaus kein beliebiges. Echte Montage beruht auf dem Dokument.51

Dass Sebald diese Wörter in Klammern setzte (und das Wort „Montage“ sogar explizit unterstrich), ist angesichts seiner eigenen theoretischen Äußerungen nicht verwunderlich. „Echte Montage beruht auf dem Dokument“ genauso wie Holzwerk auf den Brettern, um auf Sebalds eigenen Vergleich zurückzukommen. Wenn sich Benjamins „Dokument“ mit Sebalds „Stoff“ oder „Brettern“ vergleichen lässt, so wäre das Prinzip der Montage mit Sebalds „Schnitt des Kleides“ oder „Holzwerk“ vergleichbar. Sebald verfolgt ein ähnliches Stilprinzip wie (Benjamins) Döblin, nicht nur in seiner wissenschaftlich schon ausführlich untersuchten Verwendung von anscheinend zuverlässigen Fotografien, von real aussehenden Dokumenten und von angeblich wahren historischen Ereignissen, sondern auch in seinen _____________ 49 50 51

Theodor W. Adorno, „Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman“, in: Noten zur Literatur I, Frankfurt a.M. 1963, S. 64. „Mein Medium ist die Prosa, nicht der Roman“. Siehe Löffler, „Wildes Denken“, S. 137. Walter Benjamin, „Krisis des Romans. Zu Döblins Berlin Alexanderplatz“, in: Angelus Novus, Frankfurt a.M. 1966, S. 439.

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Erzähltechnik I. „Seemann“ oder „Ackermann“?

Erzählstrukturen, in den verschiedenen Perspektiven, die in seine Texte „einmontiert“ werden. Die Technik der Montage setzt bekanntlich eine andere Technik voraus, wie Sebald im Interview mit Sigrid Löffler erklärte: Ich arbeite nach dem System der bricolage – im Sinne von Lévi-Strauss. Das ist eine Form von wildem Arbeiten, von vorrationalem Denken, wo man in zufällig akkumulierten Fundstücken so lange herumwühlt, bis sie sich irgendwie zusammenreimen.52

Sebald selbst scheint der Prozess nicht sehr klar zu sein, wie seine etwas vage Rhetorik verrät: Was soll „irgendwie“ in diesem Zusammenhang bedeuten? Die Reihenfolge des kreativen Prozesses ist allerdings dieser Beschreibung zufolge klar: Erst kommt die bricolage, dann die Montage, erst das „Herumwühlen“, dann das „Zusammenreimen“. Die Anstreichungen in Sebalds Exemplar von Claude Lévi-Strauss’ Das wilde Denken (La pensée sauvage) geben reichlich Auskunft über sein Verständnis des Begriffs der bricolage, die in der Regel als „Bastlerei“ übersetzt wird. Das Verb bricoler betone – so eine von Sebald angestrichene Stelle in Das wilde Denken – „eine nicht vorgezeichnete Bewegung“: „die des Balles, der zurückspringt, des Hundes, der Umwege macht, des Pferdes, das von der geraden Bahn abweicht, um einem Hindernis aus dem Weg zu gehen“.53 Dem Begriff der bricolage in Sebalds Werk − und dem verwandten Terminus des „Sammelns“ − ist schon viele kritische Aufmerksamkeit geschenkt worden, doch hat man bisher die Auswirkungen auf seine Erzähltechnik kaum bedacht. Wie Mattias Frey aber meint: “if Sebald commits to bricolage, it is a bricolage of forms and not only of elements.”54 Denn die zurückspringende und seine eigenen Spuren verfolgende Bewegung des Balles, Hundes und Pferdes entspricht der Struktur von Sebalds ineinander verschachtelten Erzählungen: In Schwindel. Gefühle tritt der Erzähler in seine eigenen Fußstapfen; in Die Ausgewanderten macht er mehrere Umwege in Zeit und Raum, um den Geschichten der Protagonisten auf die Spur zu kommen; in Die Ringe des Saturn weicht er wiederholt „von der geraden Bahn ab“; in Austerlitz muss der Held mehrmals zurückspringen bzw. Umwege machen oder „von der geraden Bahn abweichen“, um seine eigene Vergangenheit wiederherstellen zu können. Sebalds Beschreibung seiner Arbeitsmethode in einem Interview erinnert (vielleicht unbewußt) an Lévi-Strauss’ Beschreibung „des Hundes, der Umwege macht“: _____________ 52 53 54

Löffler, „Wildes Denken“. S. 137. Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken, Frankfurt a.M. 1973, S. 29. Mattias Frey, „Theorizing cinema in Sebald and Sebald with cinema“, in: Searching for Sebald, hrsg. von Lise Patt, Los Angeles 2007, S. 226-241, hier S. 236.

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I never liked doing things systematically. Not even my Ph.D. research was done systematically. It was always done in a random, haphazard fashion. And the more I got on, the more I felt that, really, one can find something only in that way, i.e., in the same way in which, say, a dog runs through a field. If you look at a dog following the advice of his nose, he traverses a patch of land in a completely unplottable manner. And he invariably finds what he’s looking for. I think that, as I’ve always had dogs, I’ve learned from them how to do this.55

Die vertraute dialektische Syntax („the more ... the more“) verrät die Bedeutung der Metapher des Hundes für die Sebald’sche Erzähltechnik. Der Begriff der bricolage lässt sich nicht nur thematisch in Sebalds Werken nachspüren, als „Zusammenreimen“ von verschiedenen historischen Ereignissen und „Fundstücken“, sondern auch auf formaler Ebene, als eine narrative Inszenierung der Zufälle und der verschiedenen Schichten der Vergangenheit. Lévi-Strauss’ von Sebald angestrichene Beschreibung des Begriffs lässt sich daher auch als Analyse von Sebalds Erzähltechnik lesen: Das wilde Denken ist seinem Wesen nach zeitlos: es will die Welt zugleich als synchronische und diachronische Totalität erfassen, und die Erkenntnis, die es daraus gewinnt, ähnelt derjenigen, wie sie Spiegel bieten, die an einander gegenüberliegenden Wänden hängen und sich gegenseitig widerspiegeln.56

Sebalds Erzähltechnik kann man in diesem Sinne als „strukturalistisch“ bezeichnen, insofern als er versucht, die Schichten der Geschichten „sich gegenseitig wider[zu]spiegeln“. Er versucht, sowohl das zeitlose Tohuwabohu der Geschichte bestehen zu lassen (man denke nur an die zahlreichen „Verhältnisse von Raum und Zeit“ in Die Ringe des Saturn) als auch durch seine Rahmentechnik und immerwährende Erzählerperspektive eine gewisse Ordnung entstehen zu lassen − oder zumindest einen gewissen Zusammenhang vorzutäuschen, der freilich wohl nur künstlich, im Kopf des Autors, existiert. Denn die Technik der bricolage beruht im Prinzip auf dem Zufall: Der Erzähler unterzieht sich keiner konsequenten Logik, er ist frei, sich „zeitlos“ den Zufällen der Geschichte hinzugeben, weil er weiss, dass er seine Erfahrungen danach zusammenschneiden und ordnen kann. „So ist das Dasein des Sammlers dialektisch gespannt zwischen den Polen der Unordnung und der Ordnung“, um wiederum mit Benjamin zu sprechen.57 Aus dem Zufall entsteht paradoxerweise eine „Art Metaphysik der Geschichte“ (A, 19), wie Sebald in seinen Randbemerkungen zu LéviStrauss verstehen lässt: In Das wilde Denken unterstreicht er die Wörter _____________ 55 56 57

Joseph Cuomo, „A Conversation with W.G. Sebald“, in: The Emergence of Memory. Conversations with W.G. Sebald, hrsg. von Lynne Sharon Schwartz, London 2007, S. 93-117, hier S. 94. Lévi-Strauss, Das wilde Denken, S. 302. Walter Benjamin, Gesammelte Schriften. hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. 7 Bände, Frankfurt a.M. 1972-1989, Bd. IV, S. 389.

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„objektiven Zufall“ (als surrealistische Beschreibung der bricolage) und schreibt an den Rand des Textes „Humor. Surprise. Komik/Trauer. Fragen. Neue Metaphysik“.58 Der Bastler bzw. bricoleur sammele – so Sebald – die zufälligen „Abfälle und Bruchstücke“ der Geschichte, um sie wieder neu zusammensetzen zu können. Die genaue Rolle des „Zufalls“ und der „Koinzidenz“ in Sebalds Werk ist allerdings eine komplizierte Frage. Einerseits übergibt sich der Erzähler dem Zufall, indem er herumreist und verschiedene völlig disparate Erfahrungen „sammelt“; andererseits behält aber der Autor immer die Kontrolle, als Herr seines Werkes hat er (zumindest beim Abschreiben seiner Erfahrungen) alle Fäden in der Hand. Der Autor kann dem Zufall erst offen sein, indem er sich entscheidet, sich zu einem gewissen Zeitpunkt an einen gewissen Ort zu begeben. „Der Bastler legt, ohne sein Projekt jemals auszufüllen, immer etwas von sich hinein“,59 hebt Sebald an anderer Stelle bei Lévi-Strauss hervor – denn zumindest die nachträgliche Zusammensetzung der „zufälligen“ Fundstücke hängt vom Bastler/Autor ab. Sebalds Erzähltechnik unterscheidet sich an dieser Stelle vom System der bricolage à la Lévi-Strauss. Sie lässt in der letzten Analyse nur ein gewisses Quantum an Zufall zu, da Sebald als Ich-Erzähler eines literarischen Textes (und nicht einer wissenschaftlichen Reportage, wie bei LéviStrauss) immer alles auf sich selbst zurückführt. Der Begriff des „Sammelns“ beruht auf einem eigenartigen Gleichgewicht zwischen Zufall und Willkür: Einerseits bildet er Sebalds Unterstreichungen bei Lévi-Strauss zufolge „das zufällige Ergebnis aller sich bietenden Gelegenheiten [...], den Vorrat zu erneuern oder zu bereichern oder ihn mit den Überbleibseln von früheren Konstruktionen oder Destruktionen zu versorgen“,60 andererseits setzt er aber voraus, dass der Sammler diese und nicht andere „Überbleibsel“ aufhebt, dass er a priori eine Wahl trifft. Der Bastler erstrebt zwar „eine Sammlung von Überbleibseln menschlicher Produkte“, wie Sebald bei Lévi-Strauss weiter hervorhebt –, indem er aber seine Sammlung aufbaut, schließt der Bastler zwangsläufig andere Überbleibsel aus. Lévi-Strauss selbst besteht darauf, dass „die Elemente, die der Bastler sammelt und verwendet, bereits von vornherein eingeschränkt“ sind.61 Dementsprechend kann man in sensu strictu nicht von „Zufall“ in Sebalds Prosa sprechen, nur von inszeniertem Zufall, denn an der Sammlung haftet _____________ 58 59 60 61

Lévi-Strauss, Das wilde Denken, S. 34. Lévi-Strauss, Das wilde Denken, S. 35. Lévi-Strauss, Das wilde Denken, S. 30. Lévi-Strauss, Das wilde Denken, S. 32.

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immer die Spur des Sammelnden, „wie die Spur der Töpferhand an der Tonschale“. Anne Fuchs spricht in diesem Sinne von Sebalds „Trödelladenprinzip“, das sie vor allem in der Szene im ANTIKOS BAZAR in Terezín analysiert. Sie zitiert dazu Sebalds eigenen Kommentar zur Poetik von Ernst Herbeck: „Die unter der Hand des Bastlers entstehenden Verschiebungen in den Strukturen der Wörter und Sätze sind das Mittel der lyrischen Weltbeschreibung, deren Kunst weniger im Entziffern als in der Chiffrierung der Wirklichkeit, auch der sprachlichen, besteht“.62 Sebald hebt hier die Rolle des Bastlers als Autor hervor, d.h. die Rolle des individuellen Künstlers, der dem Zufall und der Wirklichkeit nicht passiv untergeordnet ist („im Entziffern“), sondern vielmehr die zufälligen Ereignisse seiner Welt aktiv ordnet und gestaltet. Diese „Chiffrierung der Wirklichkeit“ erinnert an Sebalds Beschreibung der bricolage als „Metaphorisierung“ („erst in der Metaphorisierung wird uns Geschichte empathetisch zugänglich“)63 – eine Deutung, die mutatis mutandis einen „Metaphorisierer“, einen Bastler/Autor selbst voraussetzt. Die „zusammengereimten“ Erzählstrukturen fungieren damit als jene von Sebald gewünschte „Metapher oder Allegorie eines kollektiven Geschichtsverlaufes“.64 Sebalds Begriff der Naturgeschichte muss man dementsprechend nicht nur philosophisch, sondern auch ästhetisch verstehen. Er ergibt sich aus dem Widerspruch zwischen dem vermeintlichen Realismus der Montage einerseits und der kunstvollen Stilisierung seiner Technik des „ineinander Verschachtelns“ andererseits: „Natur“ und „Geschichte“ werden gleichsam versöhnt. Sebald entpuppt sich tatsächlich sowohl als „Seemann“ als auch als „Ackermann“: Er sammelt Erfahrungen von weither, um sie durch seine Erzählkunst in die Naturgeschichte wieder einzupflanzen. Seine Unterstreichungen in Benjamins Aufsätzen zu Lesskow und Döblin erhellen sein Verständnis nicht nur der Montage, sondern auch der in den „Einbettungen“ seiner Erzähltechnik inszenierten „Naturgeschichte“. Auch für Sebalds Prosa gilt, was Adorno über Schuberts Lieder schrieb: „der kreislaufhafte Umgang der Lieder ist der zeitlose zwischen Geburt und Tod, wie blinde Natur ihn diktiert.“ Dass Sebald diesen Satz Adornos anstreicht, wundert daher nicht – denn „nicht Geschichte kennen sie [Schuberts Themen]“, so Adorno, „sondern perspektivische Umgehung“.65 _____________ 62 63 64 65

W.G. Sebald, „Eine kleine Traverse: Das Poetische Werk Ernst Herbecks“, in: Die Beschreibung des Unglücks, Frankfurt a.M. 1994, S. 139. Zitiert nach Fuchs, Die Schmerzensspuren der Erinnerung, S. 61. Löffler,„Wildes Denken“, S. 137. Löffler,„Wildes Denken“, S. 137. Theodor W. Adorno, „Schubert“, in: Moments musicaux, Frankfurt a.M. 1964, S. 26f

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Erzähltechnik I. „Seemann“ oder „Ackermann“?

Diese „perspektivische Umgehung“ – die der von Austerlitz im Wartesaal des Liverpool St. Station empfundenen „perspektivischen Verkürzung“ ähnelt – erinnert schließlich an Benjamins berühmte Analyse des „Allegorischen“ in seinem Ursprung des deutschen Trauerspiels. „For Benjamin“, schreibt Eric Santner, „natural history ultimately names the ceaseless repetition of [...] cycles of emergence and decay of human orders of meaning“.66 Sebalds zyklische Erzähltechnik verfährt ihrerseits ähnlicherweise, als allegorischer Ausdruck dieser „cycles of emergence and decay“. „Allegorie [...] ist nicht spielerische Bildertechnik, sondern Ausdruck“, schreibt Benjamin;67 „mit einer sonderbaren Verschränkung von Natur und Geschichte tritt der allegorische Ausdruck in die Welt“.68 In ihrer „Verschränkung von Natur und Geschichte“ erweisen sich demzufolge die in diesem Kapitel skizzierten Erzählprinzipien Sebalds sowohl als Technik als auch als allegorisches Thema. Adornos von Sebald in Klammern gesetztes Verdikt zu Anton von Webern dürfte man letztendlich auch auf Sebald selbst anwenden: „Bei ihm will nicht Natur sich vergeistigen – am Ende seines Weges wird der Geist selber als kreatürlich, als Natur offenbar.“69

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Santner, On Creaturely Life, S. 17. Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, Frankfurt a.M. 1963, S. 178. Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 184. Theodor W. Adorno, „Anton von Webern“, in: Impromptus, Frankfurt a.M. 1968, S. 48.

Erzähltechnik II: „Der Erzähler als Schutzengel“ Sebalds Lektüre von Giorgio Bassani1 Es gibt einige Autoren, deren Einfluss überall in Sebalds Werk zu spüren ist, die jedoch beim Namen kaum erwähnt werden. Adorno und Benjamin sind naheliegende Beispiele: Ihr Duktus, ihre Ideen mögen zwar passim in Sebalds Prosa zu spüren sein, dennoch hat er ihnen keine selbstständigen Aufsätze gewidmet. Vielleicht lässt sich die Diskrepanz durch Sebalds Beruf als Literaturwissenschaftler erklären, wobei er sich naturgemäß eher für Dichter als für Denker interessierte. Es gibt jedoch auch literarische Aporien: Samuel Beckett zum Beispiel, den Sebald in seiner frühen Monografie über Sternheim wiederholt zitiert und zu dessen melancholischer Luzidität er offenbar eine gewisse Affinität spürte. Das auffallendste Versäumnis lässt sich jedoch aus Sebalds Antwort auf die Frage „Which writers have most influenced you?“ (bei einem englischen Interview aus Oktober 2001) erschließen: „Jean Paul Friedrich Richter, Gottfried Keller, Johann Peter Hebel, Adalbert Stifter, Robert Walser, Joseph Roth, Giorgio Bassani, Thomas Bernhard”.2 Ein Name sticht hier hervor, aus zweierlei Gründen: Giorgio Bassani ist der einzige, der nicht auf Deutsch schrieb, und der einzige, der sowohl in Sebalds wissenschaftlichen als auch in seinen literarischen Werken so gut wie nie vorkommt. Es kann daher kaum verwundern, dass Sebalds Verhältnis zu Bassani keine kritische Aufmerksamkeit bekommen hat und dass Bassani in der Liste seiner allgemein anerkannten Einflüsse kaum eine Rolle spielt. Wie soll man mit einem Dichter umgehen, dessen Einfluss Sebald selbst anerkannt hat, der aber in seinem Werk nie ausdrücklich vorkommt? Wie kann man Sebalds Behauptung überprüfen, wenn das textuelle Beweismaterial fehlt? Zum Glück kann man zu Sebalds Handbibliothek greifen, die unter anderem fünf Werke von Bassani enthält (Hinter der Tür [deutsch 1997], Die Brille mit dem Goldrand [deutsch 1997], Ferrareser Geschichten [deutsch 1996], Der Reiher [deutsch 1999] und Die Gärten der Finzi-Contini [deutsch 1996], alle von Herbert Schlüter übersetzt) sowie einen Essayband mit Aufsätzen von und über Bassani (Erinnerungen des _____________ 1 2

Eine englische Fassung dieses Kapitels erschien in Gegenwartsliteratur 6 (2007), S. 69-91. „Sebastian Shakespeare talks to W.G. Sebald“. Literary Review, no. 280, October 2001, S. 50.

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Herzens, 1991). Sebald hatte mit anderen Worten fast die ganze Reihe der beim Piper Verlag erschienenen Übersetzungen gelesen3 – und dazu so ausführlich, dass sie allerlei Randbemerkungen und Anstreichungen enthalten. Das vorliegende Kapitel will eine Lücke im kritischen Verständnis von Sebalds Einflüssen füllen, indem es seine Lektüre von Bassani unter die Lupe nimmt. Es versteht sich zudem als Fallstudie seiner Anmerkungspraxis: Welche Rückschlüsse lassen sich im Hinblick auf Sebalds eigene Interessen bzw. auf seinen Prosastil ziehen? Das Kapitel knüpft an das vorangehende Kapitel insbesondere durch die Hervorhebung der Rolle des Erzählers an: Sebalds Anmerkungen deuten auf ein Interesse am Barthes’eschen „effet de réel“, am „léger de main“, mit dem Bassani den Schein des Realismus vortäuscht. Sebald interessiert sich vor allem für das „Handwerk“ Bassanis, für die Techniken, die Bassani verwendet, um den „effet de réel“ zu erzielen. Als Paradebeispiel dient die in der Einleitung zitierte Phrase, die Sebald an den Rand der Ferrareser Geschichten schrieb: „der Erzähler als Schutzengel, der seinen Figuren nicht helfen kann, aber doch bei ihnen bleibt“. Lässt sich der Sebald’sche Erzähler als einen solchen „Schutzengel“ verstehen?

Bassani und die realistische Tradition Giorgio Bassani wurde 1916 in Bologna geboren und wuchs in Ferrara auf, der Kulisse all seiner Bücher. 1943 wurde er als „anti-Fascist“ verhaftet; nach dem Krieg begann er zu schreiben, und im Laufe der 1950er und 1960er Jahre gewann er eine Reihe von namhaften Preisen. Seine elegischen Romane, die das Vorkriegsleben der jüdischen Gemeinde Ferraras in lässiger, eleganter Prosa erkunden, haben Kritiker wahlweise mit Proust oder Henry James verglichen. Bassani selbst sah sich allerdings eher in der Tradition der Realisten des 19. Jahrhunderts. Die Anziehungskraft seiner Prosa für Sebald geht vermutlich auf diese gemeinsamen Vorfahren zurück: Trotz offensichtlicher Unterschiede in ihren Erzählperspektiven, führen Bassani und Sebald den Realismus des 19. Jahrhunderts ins 20. Jahrhundert. Das Auffallendste an Sebalds Lektüre von Bassani ist die Tatsache, dass sie offenbar innerhalb einer ziemlich kurzen Periode stattfand. Wenn man die Veröffentlichungsdaten der in seiner Bibliothek vorhandenen deutschen Ausgaben berücksichtigt, so gelangt man zum Schluss, dass er Bassani in einem Zug gegen Ende der 1990er Jahre gelesen hat. Darüber hinaus ist es gut möglich, dass die Lektüre genauer auf Oktober 1998 zu_____________ 3

Von der Piper-Reihe fehlt lediglich Bassanis Der Geruch von Heu.

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rückzudatieren sei, denn zwischen den Blättern von Die Gärten der FinziContini befindet sich eine Einladung auf eine Lesung aus Sebalds eigenem Werk am 28. Oktober 1998 in einer Düsseldorfer Buchhandlung. Die Brille mit dem Goldrand enthält zudem eine Postkarte (allerdings undatiert), die ein im Mainzer Gutenberg Museum aufbewahrtes, von Paradise Lost inspiriertes Gemälde schildert, während Der Reiher eine Bordkarte für einen Flug an einem unspezifizierten 31. Oktober von Frankfurt nach Amsterdam birgt. Man darf also annehmen, dass die Daten sich alle auf die gleiche Lesereise beziehen und dass er mehrere von Bassanis Werken dabei mitnahm.4 Obwohl ein direkter Einfluss auf Sebalds Frühwerk also nicht zu beweisen ist, sah jedoch die Periode gegen Ende 1998 die Genese von Austerlitz, wie einige von Sebalds Bemerkungen in Bassanis Romanen belegen (der Essayband Erinnerungen des Herzens, das meist angestrichene von Bassanis fünf Werken, erschien schon 1991). Vielleicht sollte man daher eher von einer Wahlverwandtschaft als von direktem Einfluss sprechen. Sebalds Anmerkungen zu Bassanis Werken laufen auf eine brüderliche Anerkennung seiner Erzähltechnik hinaus. In den Romanen Bassanis streicht Sebald drei Haupttopoi heraus: Landschaftsbeschreibungen; Beschreibungen eines elegischen Gefühls der Vergänglichkeit und Nostalgie; und Andeutungen des kommenden Antisemitismus. Die drei Topoi liegen dem melancholischen Gefühl der Vorkriegszeit zugrunde, die Bassanis Werke heraufbeschwören; es darf daher kaum verwundern, dass sie Sebald ansprachen, da seine eigene Prosa die gleiche Vorkriegszeit betrauert und auf einer ähnlichen metaphysischen Schwermut beruht. Sebald teilt mit Bassani das Interesse für das historiografische Verhältnis zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen: Peter Fritzsches Bemerkung, „there is an enduring tension in Sebald’s work between nature and history, between the generic and the particular, between catastrophe and the Holocaust, between the dispersed evidence of history and the specific disasters of the twentieth century“,5 könnte man ohne weiteres auch auf Bassani anwenden. _____________ 4

5

Sebald unternahm tatsächlich eine Lesereise gegen Ende Oktober 1998 mit folgenden Stationen: Luzern (26. Oktober), Zürich (27. Oktober), Düsseldorf (28. Oktober), Hamburg (29. Oktober), Frankfurt am Main (30. Oktober). Nach der Lesung in Frankfurt besuchte er das Gutenberg-Museum in Mainz; am 31. Oktober flog er nach Amsterdam, am 1. November von Amsterdam nach Norwich. Mein Dank gilt Richard Sheppard für die Information. Peter Fritzsche, „W.G. Sebald’s Twentieth-Century Histories“, in: W.G. Sebald: History Memory – Trauma, hrsg. von Scott Denham und Mark R. McCulloh, Berlin, New York 2006, S. 291-300.

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Besonders auffällig aus handwerklicher Sicht ist die Tatsache, dass die Bemerkungen, die Sebald an den Rand der Bücher schreibt (im Gegensatz zu den Stellen, die er nur unterstreicht), häufig den Anschein erwecken, als wollten sie den Text hinterfragen, indem sie die Erzähltechnik aus quasiauktorialer Sicht kommentieren. Es entsteht damit der Eindruck, dass ein Schriftsteller hier einen anderen liest, um seine eigene Technik an einer bewunderten Instanz zu überprüfen. Sebalds Eingriffe lassen sich im Hinblick auf sein eigenes Werk als Teil jenes „talking to oneself“ verstehen, das Edgar Allan Poe als Charakteristikum von „marginalia“ definiert.6 Sebalds Interesse gilt dem „Schein“ des Realismus, den narrativen Kunstgriffen, die den „effet de réel“ erzielen. Er gibt immerhin selbst zu, eine ähnliche Methode in seiner eigenen Prosa zu verfolgen: „Alles Wichtige entspricht der Wahrheit,“ wie er in einem Interview mit Carole Angier behauptete. „Die Erfindung kommt meist auf der Ebene kleiner Details ins Spiel, um l’effet du réel zu erzielen“.7 Sebalds charakteristische Verschmelzung der Grenzen zwischen Faktum und Fiktion und seine Verwendung von anscheinend zuverlässigen Fotografien und authentischen Dokumenten zielen in eine ähnliche Richtung, wie er in mehreren Interviews behauptete. Seine im ersten Kapitel schon zitierte Antwort auf Sigrid Löfflers Frage zum „Credo eines realistischen Schriftstellers“ ist typisch: Ich weiß, daß man die Realisten heute mit scheelen Augen betrachtet. Realismus braucht Handwerk. Das Handwerk kann zwar ohne Kunst, die Kunst aber nicht ohne Handwerk auskommen.8

Sebalds Anmerkungen zufolge ist es offenbar genau das „Handwerk“ von Bassanis Prosa, das ihn interessiert. Die im Essayband Erinnerungen des Herzens angestrichenen Stellen sind besonders aufschlussreich, da sie auf Bassanis eigenem Literaturverständnis beruhen und eindeutig poetologisch sind. Im ersten Essay des Bandes („Auskünfte über mich“) unterstreicht Sebald Bassanis Erinnerungen an seinen jugendlichen Ehrgeiz, als Realist betrachtet zu werden: Bassani erinnere sich etwa, dass „wir alle nach neuen Ausdrucksformen der realistischen Darstellung forschten“, dass er seine Heimatstadt Ferrara „noch nicht Ferrara, sondern F. [nannte] – als später Nachfahre des 19. Jahrhunderts wollte ich Realist, aber nicht _____________ 6 7 8

„In the marginalia […] we talk only to ourselves“, schreibt Poe, „we therefore talk freshly – boldly – originally“. Siehe Edgar Allan Poe, „Marginalia“, in: Democratic Review, November 1844. Carole Angier, „Wer ist W.G. Sebald? Ein Besuch beim Autor der Ausgewanderten“, in: Porträt 7: W.G. Sebald, hrsg. von Franz Loquai. Eggingen 1997, S. 43-50, hier S. 48. Sigrid Löffler, „‚Wildes Denken’. Gespräch mit W.G. Sebald“, in: Porträt 7: W.G. Sebald, hrsg. von Franz Loquai, Eggingen 1997“, S. 137.

Landschaftsbeschreibungen

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Regionalist sein“.9 Sebald sah sich bekanntlich auch in der Tradition der Realisten des 19. Jahrhunderts und hat seinerseits ebenso die Praxis der Abkürzung übernommen (in Schwindel. Gefühle wird sein Heimatdorf Wertach mit „W“ abgekürzt). Sebalds ganzes literarisches Projekt – den Versuch, indirekte Formen von Reportage, Fotografie und Fiktion zusammenzuschließen – könnte man tatsächlich als eine Suche „nach neuen Ausdrucksformen der realistischen Darstellung“ bezeichnen.10

Landschaftsbeschreibungen Sebalds Lektüre von Bassani scheint also seinen eigenen literarischen Zielen zu entsprechen. In einem Aufsatz von Eberhard Schmidt, dem Herausgeber der 1991 veröffentlichten Erinnerungen des Herzens, setzt Sebald zwei fette Linien neben eine Stelle, wo Schmidt Bassani zitiert, um dessen Poetologie zu definieren: „Ihm ginge es darum, hat der Autor einmal gesagt, ‚poetische Intuition und Dokument einander so anzunähern, daß das eine die Farbe des anderen annimmt’“.11 Eine der eventuellen Methoden, diese Lücke zwischen objektivem „Dokument“ und subjektiver „Intuition“ zu überbrücken, sind die langen Beschreibungen der Landschaft und der Witterungsverhältnisse, die Sebald in Bassanis Werk wiederholt anstreicht und die auf die von beiden Dichtern beanspruchte Tradition des Realismus des 19. Jahrhunderts zurückgehen (man denke etwa an ähnliche Stellen bei Flaubert oder Stifter). Immer wieder beschreibt Bassani eine Landschaft des Verfalls oder der Verwahrlosung, um die beiden Seiten der realistischen Medaille heraufzubeschwören: Solche Landschaften deuten zwar auf eine Aura von Faktizität, dienen aber zudem auch als Bild – als objektives Korrelat – für die (überwiegend melancholische) Gemütsverfassung der Protagonisten. Diese „realistischen“ Beschreibungspassagen sind der erste der drei Haupttopoi, die sich in Sebalds Anmerkungen zu Bassani identifizieren lassen. Seine in der Regel eher spärlichen Anstreichungen im Roman Der Reiher zum Beispiel gelten fast allesamt der Tatsache, dass der Protagonist Limentano sich zu Hause fühlt erst in der „verlassene[n] Landschaft der _____________ 9 10

11

Giorgio Bassani, Erinnerungen des Herzens, hrsg. von Eberhard Schmidt. München 1991, S. 17. Für eine kurze, aber prägnante Analyse der Instabilität der „neuen Ausdrucksformen“ des Realismus siehe Martin Swales, „Intertextuality, Authenticity, Metonymy? On Reading W.G. Sebald“, in: The Anatomist of Melancholy. hrsg. von Rüdiger Görner, München 2003, S. 81-87. Bassani, Erinnerungen des Herzens, S. 134.

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„Der Erzähler als Schutzengel“. Sebalds Lektüre von Giorgio Bassani

Niederung [...], nur unterbrochen von ausgedehnten Flächen scheinbar stehender Gewässer”.12 Sebald streicht immer wieder jene Bilder und Redewendungen an, die Limentanos Melancholie Ausdruck verleihen: „Alles […] war ihm zuwider“,13 hebt er etwa hervor, oder „[es] packte ihn plötzlich ein solches Gefühl der Niedergeschlagenheit, daß er versucht war, alles zu lassen“.14 Auf den Seiten 86 und 87 des Romans umkringelt Sebald die Adjektive „halbverfallen“ (mit Bezug auf ein kleines Dorf) und „unendlich“ (mit Bezug auf die Landschaft außerhalb des Dorfs); danach streicht er die Phrase „Reihen ärmlicher Häuser“ an.15 Die sich daraus ergebende melancholische Atmosphäre wird in einem Satz zusammengefasst, den Sebald gegen Ende des Romans herausstreicht: „Nur sie, die Toten, galten etwas, nur sie existierten in Wirklichkeit“.16 Bassanis doppelte Verwendung der Landschaftsbeschreibung in Der Reiher – als Indiz sowohl der inneren als auch der äußeren Welt, der Imagination sowie der Realität – ist für sein ganzes Werk charakteristisch, wie Sebald wiederholt hervorhebt. Eine in Hinter der Tür angestrichene Stelle darf als stellvertretend gelten: „wie plötzlich eingeblendete Szenen in einem Film“, schreibt Bassani, „gingen mir epische und melancholische Bilder durch den Sinn: von einsamen Strandlandschaften, über denen ein Unwetter tobte, von unerreichbar hohen Gipfeln im Gebirge, von Urwäldern und Wüsten.“17 Solche Landschaftsbeschreibungen kommen auch in Sebalds Werk so häufig vor, dass es sich erübrigt, Beispiele anzuführen.18 Interessanter ist vielmehr die Tatsache, dass dies auch den Einsatz von Fotografien in seiner Prosa bezeichnen könnte, „wie plötzlich eingeblendete Szenen“. Die Spannung zwischen dem Vergleich („wie […] in einem Film“) und dem mentalen Prozess, den er beschreibt („gingen mir epische und melancholische Bilder durch den Sinn”), sticht hervor: „Dokument“ _____________ 12 13 14 15 16 17 18

Giorgio Bassani, Der Reiher, München 1999, S. 43. Bassani, Der Reiher, S. 13. Bassani, Der Reiher, S. 12. Bassani, Der Reiher, S. 86f Bassani, Der Reiher, S. 205. Giorgio Bassani, Hinter der Tür, München 1997, S. 161. Die Sebald’sche Melancholie ist längst zum Gemeinplatz der Sekundärliteratur geworden. Siehe zum Beispiel: Sigrid Löffler, „Melancholie ist eine Form des Widerstands“, Text + Kritik 158 (April 2003), S. 103-111; The Anatomist of Melancholy, hrsg. von Rüdiger Görner, München 2003; Andreas Isenschmid, „Melencholia: W.G. Sebalds ‚Schwindel. Gefühle’“, in: Porträt: W.G. Sebald. Eggingen, 1997, S. 70-74; Andreas Isenschmid, „Melancholische Merkwürdigkeiten: W.G. Sebalds ‚englische Wallfahrt’ in leeren Landschaften mit den überraschendsten Funden“, in: Porträt: W.G. Sebald, Eggingen, 1997, S. 124-126; Pierre Deshusses, „W.G. Sebald: La magie de la mélancholie“, in: Le Monde 19/12/2001, S. 33. Für eine andere Perspektive siehe das letzte Kapitel der vorliegenden Studie.

Landschaftsbeschreibungen

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und „Intuition“ kreuzen sich in einem Paradebeispiel von Bassanis realistischem Manifest. Von besonderem Interesse ist in dieser Hinsicht die Kurzgeschichte „Der Spaziergang vor dem Abendessen“ aus den Ferrareser Geschichten. Die Geschichte ist als Rahmenerzählung konstruiert, wobei die Entdeckung einer alten, vergilbten Fotografie von Ferrara um die Jahrhundertwende als Rahmen fungiert. Das Bild – so Bassani – gebe „Auskunft […] über das Leben, wie es sich in dem Augenblick, als der Fotograf knipste, überall auf dem Corso abspielte”.19 Was aber Sebald offenbar interessierte (der fetten Linie am Rand des Textes zufolge), ist „eine geringfügige Figur im Bilde dieses Lebens, an das heute kaum eine Erinnerung geblieben ist“.20 Dies kann man nun im Sinne eines Barthes’eschen punctum lesen, als jenes Detail, das das studium übersteigt: „Das zweite Element [das punctum] durchbricht (oder skandiert) das studium. Diesmal bin nicht ich es, der es aufsucht, sondern das Element selbst schießt wie ein Pfeil aus dem Zusammenhang hervor, um mich zu durchbohren.“21 In seinem englischen Exemplar von Barthes Chambre Claire (Camera Lucida) streicht Sebald die Definition des punctum an: „A detail [which] overwhelms the entirety of my reading: it is an intense mutation of my interest, a fulguration“.22 Er umkringelt sogar das Wort „fulguration“, das Barthes als jenes „mark of something“ beschreibt, das das Bild zu „no longer [merely] ‚anything whatever’“ macht. Dass er den oben zitierten Satz über die „geringfügige Figur“ im „Spaziergang vor dem Abendessen“ anstreicht, kommt insofern einer Barthes’eschen Deutung von Bassanis Erzähltechnik gleich, als sich die ganze Geschichte danach mit dieser „Figur“ befasst. Hier ist weniger Sebalds vielfach erörterte Verwendung von Fotografien23 von Interesse als die Tatsache, dass Sebald Bassanis Verwendung von solchen Details anscheinend als Bestandteil seines Realismus versteht: Dass Sebald immer _____________ 19 20 21 22 23

Giorgio Bassani, Ferrareser Geschichten, München 1996, S. 56. Bassani, Ferrareser Geschichten, S. 56. Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Frankfurt a.M. 1985, übersetzt von Dietrich Leube (Originalausgabe: La chambre claire. Note sur la photographie, Paris 1980, S. 35). Roland Barthes, Camera Lucida, London 1984, S. 49. Siehe unter anderem: J.J. Long, „History, Narrative and Photography in W.G. Sebald’s Die Ausgewanderten“, The Modern Language Review 98 (2003), S. 117-137; Heiner Boehncke, „Clair obscur. W.G. Sebalds Bilder“, Text + Kritik 158 (April 2003), S. 43-62; Carolin Duttlinger, „Traumatic Photographs: Remembrance and the Technical Media in W.G. Sebald’s Austerlitz“, W.G. Sebald – A Critical Companion, hrsg. von J.J. Long und Anne Whitehead, Edinburgh 2004, S. 155-171; Elinor Schaffer, „W.G. Sebald’s Photographic Narrative“, in: The Anatomist of Melancholy, hrsg. von Rüdiger Görner, München 2003, S. 51-62; Torsten Hoffmann und Uwe Rose, „Quasi jenseits der Zeit: Zur Poetik der Fotografie bei W. G. Sebald“, Zeitschrift für deutsche Philologie, 125(4), (2006), S. 580–608.

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wieder atmosphärische oder sinnliche Beschreibungen in Bassanis Werk anstreicht, ist auf sein Interesse an dessen „Handwerk“ zurückzuführen, auf die evokativen Details, die Bassani einsetzt, um den gewünschten „effet de réel“ zu erzielen. In Die Brille mit dem Goldrand annotiert Sebald zum Beispiel zweimal innerhalb von zwei Seiten Stellen, die mit dem Geruchssinn zu tun haben: Zunächst unterstreicht er die Beschreibung von Padua „mit seinen melancholischen, dunklen Laubengängen und mit dem Geruch nach gekochtem Rindfleisch aus allen Wirtshäusern“, danach den nostalgischen Ausruf „Ach, wie gut roch der Mist!“24 Ein ‚realistisches’ (bzw. olfaktorisches) Detail ruft wiederum ein poetisches (bzw. melancholisches) Gefühl hervor. Sebald interessierte sich zudem auch für Beschreibungen von Licht und verwandten Phänomenen wie Sonne oder Nebel.25 Innerhalb von drei Seiten im „Spaziergang vor dem Abendessen“ streicht er etwa fünf verschiedene Beispiele des Motivs heraus, wobei das Wort „Licht“ jedesmal explizit vorkommt.26 Fünfzehn Seiten später am Ende der Geschichte streicht er ein letztes Mal den Begriff an, diesmal mit einem Ausrufezeichen, als ob er Bassanis wiederholte Verwendung des Wortes ironisch kommentieren wollte: Und wie er dort oben bemerkte, daß schon der Morgen graute (kein Laut mehr im Hause, die Stadt schlafend zu seinen Füßen, dann dieses rosafarbene Licht, das vom Osten her die Dächer streifte, und im Herzen der pochende Hochmut), beschloß er, diese Nacht ganz auf den Schlaf zu verzichten und sich lieber an seine Arbeit zu setzen.27

Dass Sebald sich für solche Details interessierte, deutet zwar auf seine Anerkennung von Bassanis ‚realistischer’ Technik hin, macht aber den Leser auch auf die Atmosphäre der Vergänglichkeit und Nostalgie aufmerksam, die Bassani durch den Rhythmus seiner Prosa heraufzubeschwören versucht. Dies kann man als den zweiten der drei Haupttopoi identifizieren, die Sebald in Bassanis Werk interessieren.

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Giorgio Bassani, Die Brille mit dem Goldrand, München 1997, S. 32-34. „Natural phenomena like fog, like mist, which render the environment and one’s ability to see it almost impossible, have always interested me greatly“, sagte Sebald 2001 in einem Interview (siehe Michael Silverblatt, „A Poem of an Invisble Subject“, in: The Emergence of Memory. Conversations with W.G. Sebald, hrsg. von Lynn Sharon Schwartz, London 2007, S. 77-86, hier S. 82). Bassani, Ferrareser Geschichten, S. 74-77. Bassani, Ferrareser Geschichten, S. 91.

Vergänglichkeit und Nostalgie

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Vergänglichkeit und Nostalgie Die von Sebald angestrichenen Stellen in einem Aufsatz von Giulio Cattaneo in Erinnerungen des Herzens veranschaulichen sein Interesse für den Duktus von Bassanis Prosa. Den Anfang der Geschichte „Der Spaziergang vor dem Abendessen“ bezeichnet Cattaneo als „ein Musterbeispiel für Bassanis Kunst“ –, seine Analyse dieser Kunst hat Sebald unterstrichen: Sie drückt sich zunächst einmal in der Rückgewinnung der Vergangenheit aus, die nach dem Empfinden des Autors „gleichsam das Durchschreiten eines sich ständig verlängernden Ganges“ ist, um „im fernen, sonnenbeschienenen Fluchtpunkt der schwarzen Seitenwände“ das Leben wiederzufinden, „so leibhaftig und pochend, wie es einmal war“. Des weiteren drückt sie sich aus in der Langsamkeit des Erzählens und in der Genauigkeit jeder Einzelheit, die beweist, daß Exaktheit viel mehr wert ist als die berühmte erzählerische „Gabe“.28

Was hier besonders hervorsticht, ist nicht nur Bassanis charakteristische – ja fotografische – Metapher des Lichts im Dunkel, sondern auch sein Bestehen auf der „Genauigkeit jeder Einzelheit“ bzw. der „Langsamkeit des Erzählens“. Kein Wunder, dass Bassani Sebald faszinierte: Mehrere seiner Lieblingsdichter beschreibt er mit ähnlichen Worten wie etwa Robert Walser, der Sebald zufolge auf „Elemente[n] der Elaboration“ bestehe, „weil er befürchtet, zu geschwind fertig zu werden” (Logis, 142). Außerdem sah Sebald Bassani als Wahlverwandter nicht nur wegen der bewusst erzielten „Langsamkeit des Erzählens“, sondern auch wegen der Langsamkeit seines Schreibprozesses, wegen der Schwierigkeiten, die ihm das Schreiben offenbar bereitete. Bezeichnenderweise unterstrich Sebald sowohl Bassanis Behauptung, sein Werk entwickele sich „aus langsamen Ansammlungen und allmählichen Schichtungen über dreißig Jahre hinweg“,29 als auch sein Zugeständnis, „die berühmte [erzählerische] ‚Gabe’ nicht zu besitzen und nur unter Schwierigkeiten zu schreiben“.30 Dies hätte Sebalds Feder entstammen können, so ähnlich sind seine eigenen Äußerungen zu den Schwierigkeiten des Schreibens: „Writing is, for me, an exacting and painstaking business“, sagte er etwa Sebastian Shakespeare im Oktober 2001 – „which, however, seems to get steadily harder as one goes along.“31 Für beide Schriftsteller wurde das Schreiben umso schwerer dadurch, dass sie nicht nur die Vergangenheit selbst heraufbeschwören, sondern _____________ 28 29 30 31

Bassani, Erinnerungen des Herzens, S. 179. Bassani, Erinnerungen des Herzens, S. 176. Bassani, Erinnerungen des Herzens, S. 192. „Sebastian Shakespeare talks to W.G. Sebald“. Literary Review, no. 280, October 2001, S. 50.

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„Der Erzähler als Schutzengel“. Sebalds Lektüre von Giorgio Bassani

auch den Prozess ihrer „Rückgewinnung“ problematisieren wollten. Mehrere der von Sebald angestrichenen Stellen in Bassanis Werk kreisen um die Frage der Darstellbarkeit der Vergangenheit. Das Muster solcher Passagen wiederholt sich immer wieder: Bassani beklagt sich zwar über die Vergänglichkeit der Zeit bzw. ihre Unwiederbringlichkeit – indem er aber dies tut, scheint er die Mechanismen der Erinnerung dem zu erinnernden Ereignis selbst vorzuziehen. In der ersten der Ferrareser Geschichten streicht Sebald zum Beispiel die Beschreibung des Geisteszustandes von Lida Mantovani an: Aber wenn sie sich auch keinen Illusionen hingeben konnte und sich der nicht wiedergutzumachenden Zerstörung bewußt war, die die Zeit, ihre Einsamkeit und Traurigkeit in ihrem Innern angerichtet hatten, so begriff sie doch, daß aller ihr noch verbliebener Lebenswille gerade auf diesen Verheißungen, an die sie nicht glaubte, diesen Phantasien, denen sie so viel innere Vorbehalte entgegenbrachte, auf diesen reinen Träumen beruhte.32

Der Erzähler von Die Gärten der Finzi-Contini analysiert die Denkprozesse der Protagonisten Micòl mit ähnlichen Worten: Kein Wunder also, dass Sebald solche Stellen – wo es um ihre Neigung zur Nostalgie und Erinnerung geht – wiederholt anstreicht: Für mich zählte nicht weniger als für sie nicht so sehr der Besitz der Dinge als die Erinnerung an sie, die Erinnerung, mit der verglichen der Besitz an und für sich nur enttäuschend, banal und unzulänglich erscheinen kann.33

Immer wieder in Bassanis Werk streicht Sebald Passagen heraus, die auf seine eigene Prosa rückschließen lassen: Der Erzähler der Gärten der FinziContini spricht etwa von seiner „Sehnsucht, die Gegenwart sofort zur Vergangenheit werden zu sehen, um sie dann mit aller Muße lieben und anschauen zu können”, oder von der Tatsache, dass für Micòl „die Zukunft an sich eine entsetzliche Vorstellung sei und sie ihr bei weitem le vierge, le vivace et le bel aujourd’hui vorziehe und mehr noch als alles andere die Vergangenheit“.34 Gilt die Vorliebe für Erinnerung anstatt Aneignung nicht auch Sebalds eigener Prosa? Sein Interesse scheint tatsächlich häufig den komplexen Mechanismen der Erinnerung – eher als der Vergangenheit selbst – zu gelten. Sebald hat kein Interesse an der Zukunft; er zieht ihr – wenn nicht die Mallarmé’sche Gegenwart des vierge, le vivace et le bel aujourd’hui – eine Proustische recherche du temps perdu vor. 35 _____________ 32 33 34 35

Bassani, Ferrareser Geschichten, S. 49. Giorgio Bassani, Die Gärten der Finzi-Contini, München 1995, S. 268. Bassani, Die Gärten der Finzi-Contini, S. 353. Der Band Sebald. Lektüren enthält einen Aufsatz von Franz Loquai über Sebalds Lektüre von Proust sowie einen Essay von Marcel Atze zu Sebalds Lektüre von Maurice Halbwachs und dessen Gedächtnistheorien (die vor allem in Sebalds in Marbach aufbewahrtem

Andeutungen des kommenden Antisemitismus

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Diese Dialektik – dass das Vergehen der Zeit sowohl zu bedauern als auch zu begrüßen sei – ist die treibende Kraft der Bassanischen Poetik. Aufs Äußerste zugespitzt, bildet sie das Grundmotiv des ganzen in Ferrara sich abspielenden Romanzyklus, wie Bassani in einer von Sebald angestrichenen Erklärung seines literarischen Ziels andeutet: „Die Erkundung des Todes, um auf seinem Grunde gerade sein Gegenteil zu finden (la ricerca della morte per trovare in fondo ad essa invece il suo contrario)” [sic].36 Sebalds Prosa haut trotz ihres pessimistischeren Duktus in die gleiche Kerbe: Sie versucht, durch die komplexen syntaktischen Konstruktionen ihrer Sätze der Vergänglichkeit der Zeit ein Denkmal zu setzen. „Dichter, falls sie wirklich welche sind, kommen immerzu aus dem Totenreich zurück“, schreibt Bassani an einer wiederum von Sebald angestrichenen Stelle. „Sie sind drüben gewesen, um Dichter zu werden, um sich von der Welt zu lösen, sie wären aber keine Dichter, versuchten sie nicht von dort zurückzukommen“.37

Andeutungen des kommenden Antisemitismus Das Verhältnis von beiden Dichtern zu diesem „Totenreich“ beruht außerdem auf einem gemeinsamen politischen und historischen Hintergrund, nämlich dem zweiten Weltkrieg. Der Vormarsch des Antisemitismus in den dreißiger Jahren verleiht den Romanen Bassanis ihr Pathos, während die Sebald’schen Protagonisten aus der Perspektive einer von den katastrophalen Auswirkungen des Krieges geplagten Gegenwart in die Vergangenheit zurückschauen. Bassanis Romane spielen nicht nur in einem spezifischen geografischen Kontext (Ferrara), sondern auch in einer spezifischen Epoche, nämlich der Zwischenkriegszeit. Seine Erkundung des jüdischen Lebens in Ferrara ist daher eine Erkundung einer vergangenen Welt: Die Finzi-Continis zum Beispiel werden am Ende des Romans in den Tod deportiert, und selbst jene Juden, die überleben, wie etwa Geo Josz in der Geschichte „Eine Gedenktafel in der Via Mazzini“, stellen bei ihrer Rückkehr fest, dass ihre Namen auf das Denkmal für die Toten geschrieben stehen. Sebald interessiert sich bekanntlich für die gleiche Epoche – allerdings aus der Gegenwart heraus, da seine Erzählungen nicht als eine Wiederherstellung der Vergangenheit (wie bei Bassani), sondern als _____________ 36 37

Exemplar von Halbwachs Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen nachzuvollziehen ist). Siehe Sebald. Lektüren, Atze, S. 195-211 und Loquai, S. 212-227. Bassani, Erinnerungen des Herzens, S. 46. Bassani, Erinnerungen des Herzens, S. 161.

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„Der Erzähler als Schutzengel“. Sebalds Lektüre von Giorgio Bassani

Prozess der Forschung in die Vergangenheit konstruiert werden. Die Erzählungen der Ausgewanderten (sowie Austerlitzens Erkundung seiner Kindheit vor dem Krieg in Prag) beruhen auf der Prämisse, dass die Vergangenheit nur als verloren gelten kann, da sie nicht wiederherstellbar ist. Dies ist der dritte der drei Haupttopoi, die Sebald in seiner Lektüre von Bassani wiederholt herausstreicht: Die Anspielungen auf den kommenden Antisemitismus, die Ahnungen, dass die liebevoll wiederhergestellte Vorkriegszeit dem Untergang geweiht ist. Die zahlreichen kleinen Anstreichungen im Aufsatz von Eberhard Schmidt über „Das Schicksal der italienischen Juden im Faschismus“ (in Erinnerungen des Herzens) deuten auf ein besonderes Interesse an Bassanis Darstellung des jüdischen Lebens. Wenn auch Sebalds eigene Versuche, eine idyllische, von späteren Ereignissen unbeschwerte Periode vor dem Krieg heraufzubeschwören, davon zeugen, dass sein Interesse an jüdischer Kultur nicht nur auf den Holocaust beschränkt war, entstammt ihr Pathos jedoch unzweifelhaft den späteren Entwicklungen. Eine weitere Ähnlichkeit zwischen der Darstellung des jüdischen Lebens der Vorkriegszeit im Werk Bassanis und Sebalds betrifft den Status der Homosexualität. Sowohl Bassani als auch Sebald unterstellen, dass der an den Rand gedrängte Status von Homosexuellen in der damaligen europäischen Gesellschaft in gewisser Hinsicht mit dem Status der zunehmend isolierten Juden vergleichbar war. Vor allem in Die Brille mit dem Goldrand – das Sebald als eins seiner „vierzehn Lieblingsbücher“ beanspruchte38 – schildert Bassani den Selbstmord des homosexuellen Arztes Fadigati als finsteres Vorzeichen des Schicksals der italienischen Juden. Sebald unterstellt auch seinerseits, dass mehrere seiner Protagonisten (Henry Selwyn, Paul Bereyter, Ambros Adelwarth oder auch sogar Austerlitz) von ihrer latenten Homosexualität ebenso isoliert wurden. Man darf sich daher fragen, inwieweit Bassanis Verschmelzung des Schicksals der Juden mit dem Status von Homosexuellen innerhalb einer überwiegend christlichen bzw. heterosexuellen Gesellschaft Sebalds Sicht der Dinge mitgeprägt hat. Jenseits der gesellschaftlichen Bedingungen der Vorkriegszeit lässt sich Bassanis Wiedergabe der genauen chronologischen und geografischen Angaben als realistisches Dogma verstehen. In einem in Erinnerungen des Herzens zitierten Interview definiert Bassani sein Schaffen als eine Reaktion gegen die „hermetische“ Literatur: Die Literatur, gegen die ich mich wandte, ist die Literatur der Hermetiker, die ihr Zentrum in Florenz hatte. Eine Literatur, in der man keine Zeit- und Ortsanga-

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Die Liste seiner Lieblingsbücher befindet sich in einem unveröffentlichten Brief an einen Freiburger Buchhändler (datiert am 28. März 2000). Mein Dank gilt Richard Sheppard für den Hinweis.

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ben machte, sich keinerlei Mühe gab, wahrheitsgetreu zu sein, wahr in einem absoluten Sinn.39

Diese von Sebald angestrichene Passage nimmt das ebenso in Erinnerungen des Herzens wiedergegebene realistische Credo Bassanis vorweg – das Sebald nicht nur unterstreicht, sondern mit zwei Ausrufezeichen versieht: Ich glaube bestimmt, daß ich einer der wenigen, verschwindend wenigen Schriftsteller von heute bin, die in das, was sie schreiben − seien es Erzählungen oder Gedichte −, die entsprechenden Daten einsetzen.40

Dass eine solche Einstellung Sebald gefallen würde, kann angesichts seines eigenen pseudo-biografischen Beharrens auf Zeit- und Ortsangaben kaum verwundern – im Umschlag der Ferrareser Geschichten stellt er sogar eine explizite Verbindung zu seinem Bemühen her, Austerlitz eine Aura der Faktizität zu verleihen, indem er bemerkt, „Auster. [sic] habe in Bildern nach Bauwerken gesucht, die den Faschismus anzeigten“. Bassanis darauf folgender Satz liefert jedoch den wahren Schlüssel zu seinem Realismus: „Meinen höchsten Ehrgeiz habe ich als Erzähler stets darin gesehen,“ behauptet er, „plausibel und glaubwürdig zu wirken“. Hier hat Sebald allerdings nur den letzten Gliedsatz unterstrichen: „plausibel und glaubwürdig zu wirken“. Urteilt man nach den Anmerkungen, so ist es gerade dieser Ehrgeiz, der Sebalds Interesse an Bassani letztendlich zugrunde liegt. Das Paradoxon hier im Credo des Realisten liegt auf der Hand: Bassani sagt nicht, er wolle plausibel und glaubwürdig sein, sondern wirken. Das Sein der Wahrheit bedarf des Scheins des Künstlers – was uns zu jenem „Handwerk“ zurückbringt, ohne welches die Kunst nicht „auskommen“ kann.

„Annäherung und Entfernung“ Dialektische Erzählprinzipien Da der auf diesem Handwerk basierende Realismus nicht die Wirklichkeit, sondern den Schein der Wirklichkeit („l’effet de réel“) zu erzielen versucht, ist er zwangsläufig auf schriftstellerische Technik – auf téchne – angewiesen. Sebalds Interesse an Bassanis Erzähltechnik bzw. an seinem Realismusbegriff fasst die drei oben besprochenen Haupttopoi zusammen. Sebalds Anmerkungen lassen auf sein Interesse an den Besonderheiten von Bassanis Technik als Realisten schließen, an der Art und Weise, wie Bassani die „Glaubwürdigkeit“ durch die Erschaffung eines spezifischen Kontextes erzielt. Man mag natürlich vermuten, dass sich Sebald einer _____________ 39 40

Bassani, Erinnerungen des Herzens, S. 154. Bassani, Erinnerungen des Herzens, S. 160.

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ähnlichen Technik in seiner eigenen Prosa bedient, wie seine theoretischen Äußerungen (sowohl zu Bassani als „Einfluss“ als auch zum „Handwerk“ des Realismus) nahelegen. Sebalds Erzähltechnik liegt bekanntlich der Ich-Erzähler zugrunde; dagegen schreibt Bassani häufig in der dritten Person.41 Trotzdem ist der Effekt sehr ähnlich, da beide Autoren großen Wert auf die narrative Diskretion legen. Giulio Cattaneo behauptet zum Beispiel, Bassanis neorealistische Objektivität bedeute „den unbedingten Verzicht auf die Erzählweise in erster Person zu dem Zweck, wie der Autor hervorhob, sich selbst ‚hinter den teils pathetischen und teils ironischen Künsten von Satzbau und Rhetorik wie hinter einem Schutzwall verborgen zu halten’”.42 Bassani verzichtet also auf die Ich-Erzählung, um sich hinter seiner Prosa zu verstecken. Interessanterweise streicht Sebald Bassanis eigene Worte im obigen Zitat an – „pathetischen und teils ironischen Künsten von Satzbau und Rhetorik“ – ein Zitat, das auch Sebalds hoch stilisierter Prosa gilt, deren Sätze sich stellenweise über mehrere Seiten hinweg ausdehnen und dazu konstruiert sind, die Schichten der Erzählung wiederzugeben.43 Bassanis Lavieren zwischen einer „pathetischen“ und einer „ironischen“ Kunst entspricht auch Sebalds Oszillieren zwischen „der romantischen und ironischen Geschichtsallegorese” (um mit Anne Fuchs zu sprechen).44 Man könnte also die erzähltechnische Dialektik folgendermaßen beschreiben: Einerseits will sich der Erzähler mit dem Protagonisten identifizieren, andererseits will er sich auf Distanz halten. Obwohl Sebalds Ich-Erzähler mehr als Bassanis auffällt, legt auch Sebald großen Wert auf die narrative Diskretion, wie er im Interview mit Marco Poltronieri betonte: „Ich glaube, daß man heute nicht mehr so schreiben kann, als sei der Erzähler eine wertfreie Instanz. Der Erzähler muß die Karten auf den Tisch legen, aber auf möglichst diskrete Art“.45 Sebald und Bassani nehmen insofern unterschiedliche Wege zum gleichen Ziel: Ihre Prosa wird zum „Schutzwall“ ihres eigenen Stoffes. Der Vorteil einer solchen Diskretion liegt darin, dass der Erzähler als eine Art Garant der Erzählungen fungieren kann. In Sebalds Ich_____________ 41 42 43

44 45

Dies gilt allerdings nicht immer: Hinter der Tür und Die Gärten der Finzi-Contini sind in der ersten Person geschrieben. Bassani, Erinnerungen des Herzens, S. 177. Für eine Analyse dieser Erzählschichten, siehe das erste Kapitel dieser Studie sowie Ben Hutchinson, „‚Egg boxes stacked in a crate’: Narrative status and its implications”, in: W.G. Sebald: History – Memory – Trauma, hrsg. von Scott Denham und Mark R. McCulloh, Berlin, New York 2006, S. 169-180. Fuchs, Die Schmerzensspuren der Geschichte, S. 20. Marco Poltronieri, „Wie kriegen die Deutschen das auf die Reihe?“ Ein Gespräch mit W.G. Sebald“, in: Porträt: W.G. Sebald, Eggingen 1997, S. 138-144. Hier S. 144.

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Narrativen fungiert der Erzähler oft als Zuhörer, als Ersatz-Leser, der die Monologe der Protagonisten im Stil eines Thomas Bernhard herauslockt; in den Er-Narrativen Bassanis steht er dagegen dem allwissenden Erzähler der realistischen Tradition viel näher. Sebalds Anmerkungen in „Der Spaziergang vor dem Abendessen“ zufolge stellt er zwar diese traditionelle, quasi-göttliche Allwissenheit des Erzählers in Frage, er rückt ihn aber trotzdem in eine Art von narrativer Erhabenheit. Als Bassani beschreibt, wie Gemma Brondis „zarter, fast schmächtiger Hals […] ihr gewiß ein unbestimmtes Gefühl von Verlegenheit und Scham“ bereite, schreibt Sebald an den Rand des Textes die folgende prägnante Phrase: „Der Erzähler als Schutzengel, der seinen Figuren nicht helfen kann, aber doch bei ihnen bleibt“.46 Auf der folgenden Seite streicht er die rhetorische Frage an: „und wer anders als diese beiden hätte sie aufnehmen und gar in der Erinnerung bewahren sollen?”, und schreibt dazu einen emphatischen „Erz!“. Auf der Seite danach unterstreicht er den Satz „doch nun wollen wir, im Fluge denselben Weg zurücklegend, [...] einen kleinen Ortswechsel vornehmen“, und umkreist vor allem die Wörter „im Fluge“.47 Was lässt sich nun aus diesen Anmerkungen schließen? Was bedeutet es, dass Sebald den Erzähler als „Schutzengel“ bezeichnet? Sebald deutet Bassanis narrative Perspektive einerseits als „von oben und gleichsam außerhalb der Zeit stehend“48 (um die Schlussworte der Erzählung aufzugreifen), andererseits versteht er sie jedoch als des bedeutsamen Eingreifens unfähig. Die Rolle des Erzählers wäre dieser Deutung zufolge eine Gratwanderung: Seine Position der privilegierten Erkenntnis begründet zwar den Übergang von objektiver Beschreibung („zarter, fast schmächtiger Hals“) in subjektive Intuition („ein unbestimmtes Gefühl von Verlegenheit und Scham““) – er könne jedoch bei den Protagonisten nicht eingreifen, so Sebald, sondern nur bei ihnen „bleiben“. Dass Sebald Bassanis rhetorische Frage „und wer anders als diese beiden hätte sie aufnehmen und gar in der Erinnerung bewahren sollen?” mit der abgekürzten Anmerkung „Erz!“ antwortet, suggeriert außerdem, dass er die Aufgabe des Erzählers bzw. Schutzengels darin sieht, der „Figuren“ zu gedenken, ihre weitere Existenz nach ihrem vermeintlichen Ableben zu sichern. Was hat nun Sebalds Erzählperspektive mit derjenigen Bassanis gemeinsam? Gilt die Metapher des Schutzengels auch seiner eigenen Prosa? Sebald hat wiederholt beteuert, er lehne die narrative Manipulation prinzipiell ab und interessiere sich nicht für die Konventionen der Fiktion, die _____________ 46 47 48

Bassani, Ferrareser Geschichten, S. 59. Bassani, Ferrareser Geschichten, S. 60f. Bassani, Ferrareser Geschichten, S. 91.

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nur dazu dienen würden, den Plot voranzubringen: „Ich habe einen Horror vor allen billigen Formen der Fiktionalisierung”, sagte er im Interview mit Sigrid Löffler.49 Seine gelegentliche Kritik an Bassanis Technik – wie zum Beispiel die Phrase „léger de main“, die er neben den Satz „Aber in Ferrara selbst scheinen sich nicht einmal die wenigen Juden, die die Israelitische Gemeinde heute noch zählt, daran erinnern zu können“ schreibt50 – lässt sich als Manifestation dieses „Horrors“ verstehen, da der besagte Satz nur dazu dient, von einer Geschichte in die nächste überzuleiten. Die von Sebald angestrichene Übergangsphrase, „nun wollen wir, im Fluge denselben Weg zurücklegend, [...] einen kleinen Ortswechsel vornehmen“, kann man ebenso kritisch darlegen: Der Erzähler mag als Schutzengel „im Fluge“ sein, er erfreut sich aber damit eines Überblicks, der für Sebald zu „fiktiv“ ist. Gerade an dieser Stelle weicht Sebalds Erzähler von dem Bassanis ab – ihrer gemeinsamen Schätzung der Diskretion zum Trotz. Wegen seines „Horrors vor [...] der Fiktionalisierung“ muss Sebald das Konstrukt des Schutzengels – der alles sehen, aber nicht eingreifen kann – als nur eine weitere Version des abwesenden, allwissenden Erzählers der realistischen Tradition ablehnen. Der Sebald’sche Ich-Erzähler ist hingegen am Leben der Protagonisten persönlich beteiligt. In Schwindel. Gefühle und Die Ringe des Saturn ist der Erzähler ohnehin auch der Protagonist – er mag noch so diskret sein, er rückt sich zwangsläufig ins Zentrum der Aufmerksamkeit des Lesers. In Die Ausgewanderten beschränkt sich seine Rolle hauptsächlich auf das Zuhören und Aufzeichnen („aufnehmen und [...] in der Erinnerung bewahren“, um mit Bassani zu sprechen): Er gibt die von ihm aufgenommenen Geschichten weiter, und zwar auf eine Art und Weise, die die Monologe der Protagonisten strukturiert, aber wenig ändert (vor allem weil zwei der Protagonisten, Paul Bereyter und Ambros Adelwarth, schon verstorben sind). In Austerlitz dagegen, dem Werk, das zur Zeit von Sebalds Lektüre von Bassani entstand, bringt der Erzähler den Protagonisten zum Reden und zum Erzählen, er bringt ihn aus sich heraus. Im Vergleich zum passiven und hilflosen „Schutzengel“, den Sebald bei Bassani identifiziert, muss daher der Erzähler in Austerlitz als aktiv gelten. Es kommt schließlich auf die Definition der Verben „helfen“ und „bleiben“ an: Sie unterscheiden sich durch ihre jeweilige Aktivität und Passivität. Der Erzähler in Austerlitz, obwohl einerseits passiv, wird andererseits dadurch aktiv, dass er sich immer wieder mit dem Protagonisten trifft: Indem der Erzähler _____________ 49 50

Löffler, „Wildes Denken“, S. 137. Bassani, Die Gärten der Finzi-Contini, S. 25.

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ihm zuhört, „hilft“ er Austerlitz. Das Verhältnis ist außerdem reziprok: Austerlitz bezeichnet den Erzähler zwar als „Zuhörer“ (A, 64), der Zuhörer wird aber auch seinerseits betroffen. Er ist nicht nur der passive Zuhörer, sondern wendet die von Austerlitz erfahrenen Erkenntnisse – und vor allem dessen dialektische Geschichtsperspektive – auf seine eigene Weltanschauung an (wie etwa bei seinem Besuch der Festung Breendonk, wo er das Fort auf genau die dialektische Art und Weise ausdeutet, die ihm Austerlitz beigebracht hat). Hingegen ähnelt der Bassani’sche Schutzengel vielmehr Benjamins „Engel der Geschichte“, der auf alles von oben herunterschaut, ohne in den Sturm der Geschichte eingreifen zu können. Der Hauptunterschied zwischen den beiden Erzählperspektiven liegt also in der Ich-Erzählung einerseits und der Er-Erzählung andererseits: Bei Sebald werden Autor und Erzähler mehr oder weniger verschmolzen; bei Bassani hingegen versteckt sich der Autor hinter dem „Schutzwall“ seines unpersönlichen Erzählers. Ironischerweise ist es jedoch das Motiv des Reisens, das die beiden Erzählstile verbindet. In Eberhard Schmidts Essay „Auf den Spuren der Finzi-Contini“ streicht Sebald die folgende Behauptung an: „Die Erzählungen und Romane, die im Romanzo di Ferrara zusammengefaßt sind, lesen sich genau genommen wie Beschreibungen von Reisen. Reisen, die sich von der Peripherie auf ein Zentrum bewegen“.51 Neben dem anschließenden Satz „Die Reisen nehmen ihren Ausgang bei Bassani nicht zufällig an Orten des Totengedenkens“ fügt Sebald zudem die Wörter „Annäherung und Entfernung“ hinzu.52 Die Dialektik, die Sebald in Bassanis Erzähltechnik identifiziert, lässt sich ohne weiteres auf Sebalds eigene Prosa anwenden, da eine von seinem ständigen Herumreisen getriebene „Annäherung und Entfernung“ die treibende Kraft seiner Syntax ist. Bassani beschreibt diese Reisen, „die sich von der Peripherie auf ein Zentrum bewegen“, folgendermaßen: Ich mußte von der Peripherie ausgehen, um dann nicht einmal im Zentrum anzukommen, sondern am inneren Rand der Stadt. [...] Der Roman [Die Gärten der Finzi-Contini] beginnt an den Rändern, er beginnt in Cerveteri, aber er beginnt auch an den Rändern der Stadt Ferrara. [...] Der Roman ist nichts anderes als die Geschichte dieses Ganges bis zu dieser Grenze...53

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Bassani, Erinnerungen des Herzens, S. 134. Man denke hier auch an Sebalds in der Einleitung zitierte Anmerkung in Bernhards Roman Verstörung: Bernhard spricht von der „ungeheuere[n] Entfernung und Entfremdung, die gleichzeitig die größtmögliche Nähe und Leidensgenossenschaft, aber keine Qualgenossenschaft gewesen ist“, worauf Sebald „pathologische Kontaktfreiheit“ an den Rand schreibt. Siehe Bernhard, Verstörung, S. 117. Bassani, Erinnerungen des Herzens, S. 134.

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Dass Sebald vor allem den letzten Satz angestrichen hat, mag kaum verwundern, denn auch seine Prosa kreist auf ähnliche Weise um sich selbst. In Schwindel. Gefühle tritt der Erzähler nicht nur in seine eigenen Fußstapfen von sieben Jahren vorher, er kehrt schließlich auch in sein Heimatdorf zurück, genauso wie Bassani in Ferrara – während der bloße Titel Die Ringe des Saturn die kreisartige „Geschichte dieses Ganges“ hervorruft. Sebalds Prosa geht zudem nicht nur geografisch, sondern häufig auch chronologisch im Kreis: Von der gegenwärtigen Perspektive des Erzählers geht es in die Vergangenheit zurück, um schließlich wieder in die Gegenwart zurückzugelangen. Dass sowohl Bassani als auch Sebald in ihren Erzählungen dazu neigen, sich im Kreis zu drehen, mag vielleicht eine Manifestation eines gemeinsamen historischen Pessimismus sein. Bassanis jüdische Protagonisten sind bekanntlich dem Untergang geweiht, und der Kontext des dämmernden Antisemitismus verleiht seiner Melancholie eine zeitgeschichtliche Resonanz. Sebald geht etwas subtiler vor: Aus der Sicht der Protagonisten bilden Holocaust und Krieg den gemeinsamen Hintergrund ihres jeweiligen Schicksals als Ausgewanderte; aus der Sicht des Erzählers ist es jedoch auch das frustrierte Reisen, das seinem Pessimismus zugrunde liegt. John Zilcosky schreibt von Sebalds „uncanny travels“: Sebald könne sich nicht verlieren, da er sich immer wieder – sowohl literaturgeschichtlich als auch geografisch – da finde, wo er angefangen habe.54 Für Bassani wurde zwar seine Heimat Ferrara durch den Aufstieg der Antisemiten „unheimlich“ – für Sebald gelte dies doch der ganzen Welt. Zilcoskys „impossibility of getting lost“ ließe sich damit auch geschichtsphilosophisch deuten, als eine Art von topografisch gefärbter Fortschrittskritik. Der traditionelle Held – wie etwa Odysseus oder Goethe auf seiner italienischen Reise – verirre sich nur, damit er wieder nach Hause zurückfinden könne, so Zilcosky: „Typically for the Romantic traveller, Goethe gave up control by deliberately losing his way because only by doing this could he eventually gain a new, more robust sense of self“.55 Der Sebald’sche Held – so Zilcosky – befinde sich hingegen immer wieder da, wo er angefangen hat, er begegne immer wieder den gleichen Leuten. Unheimliche Koinzidenzen beherrschen sein Leben. „Sebald tells stories in which subjects can never become sufficiently disoriented, can never really lose their way“.56 Demzufolge ist jeder bedeutsame Fortschritt unmöglich, da die Vergangenheit nicht loslässt. Man denke zum Beispiel _____________ 54 55 56

John Zilcosky, „Sebald's Uncanny Travels: The Impossibilty of Getting Lost“, in: W.G. Sebald – A Critical Companion, hrsg. von J.J. Long & Anne Whitehead, Edinburgh 2004, S. 102-120. Zilcosky, „Sebald’s Uncanny Travels“, S. 103. Zilcosky, „Sebald’s Uncanny Travels“, S. 103..

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an das Ende von Austerlitz, wo der Erzähler meint, die Geschichte von Austerlitz wolle ihm „nicht mehr aus dem Sinn“ (A, 412) – und vielleicht deshalb, fährt er fort, sei er nach Antwerpen zurückgekehrt, um sich das schon am Anfang des Buches beschriebene Nocturama bzw. Fort Breendonk wieder anzuschauen. Zilcoskys Analyse der kreisartigen Struktur von Sebalds Erzählungen lässt sich allerdings mit Carsten Strathausen differenzieren. Strathausen bezeichnet die Bewegungen des Sebald’schen Erzählers nicht als kreisartig, sondern als „rhyzomatisch“: Gilles Deleuze and Felix Guattari define the „rhizome“ as „directions in motion. It [the rhizome] has neither beginning nor end, but always a middle (milieu) from which it grows and which it overspills.“ „Made only of lines,“ such a rhizome establishes a „logic of the AND“ that connects everything in its path – an apt description of Sebald’s model. Rhizomatic writing is neither referential (to the outside world) nor self-referential, because it never finds its way back to the same point from where it started, but always takes flight into a different direction.57

Die jeweiligen Deutungen von Zilcosky und Strathausen ließen sich meines Erachtens durch Sebalds dialektischen Satzbau versöhnen. Zilcosky mag einerseits Recht haben, dass der Sebald’sche Held sich nur im Kreise drehen kann; Strathausen müsste man andererseits zustimmen, dass der Sebald’sche Held sensu stricto nicht zu seinem Ausgangspunkt zurückkehren kann, da sich dieser Ausgangspunkt inzwischen geändert hat. Dialektisch gesehen wäre damit Deleuzes und Guattaris „logic of the AND“, die Strathausen auf Sebalds Prosa anwenden möchte, vielmehr als eine „Logik des ZUGLEICH“ zu verstehen: Je mehr sich der Sebald’sche Erzähler vorwärts bewegt, desto weniger kommt er zugleich voran. Da der Fortschritt – sei er physischer oder metaphysischer Art – bei Sebald fast immer in die Regression umschlägt, ließen sich sowohl Zilcoskys „impossibilty of getting lost“ als auch Strathausens „rhizomatic writing“ dialektisch deuten, als Ausdruck einer stilistisch aufgeführten Fortschrittskritik. Denn die Dialektik, die Sebald in Bassanis Werk sieht, gilt schließlich umso mehr seiner eigenen Prosa. Sebalds in Hinblick auf Bassani formulierter Binarismus „Annäherung und Entfernung“ lässt sich mit Adorno und Horkheimers „Fortschritt und Regression“ vergleichen: Sebald nähert sich einer Geschichte oder einem Ort, nur um sich wieder zu entfernen – aber er entfernt sich ebenfalls, nur um sich wieder anzunähern. Die Dia_____________ 57

Carsten Strathausen, „Going Nowhere: Sebald’s Rhizomatic Travels“, in: Searching for Sebald, hrsg. von Lise Patt, Los Angeles 2007, S. 472-491. Strathausen zitiert hier aus Gilles Deleuze und Felix Guattari, A Thousand Plateaus: Capitalism and Schizophrenia, tr. Brian Massumi, Minneapolis 1987, S. 21 und 24.

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„Der Erzähler als Schutzengel“. Sebalds Lektüre von Giorgio Bassani

lektik wird nicht aufgehoben, sondern immer wieder in die Länge gezogen.58

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„I think double-binds govern to a greater or lesser extent nearly all lives“, sagte Sebald 1997 an Eleanor Wachtel (siehe Eleanor Wachtel, „Ghost Hunter“, in: The Emergence of Memory. Conversations with W.G. Sebald, hrsg. von Lynne Sharon Schwarz, London 2007, S. 37-61, hier S. 47). Für eine weitere Analyse dieses double-binds, siehe Ben Hutchinson, „‚Umgekehrt wird man leicht selbst zum Verfolgten’: The structure of the double-bind in W.G. Sebald“, in: Revista de Filología Alemana 14, 2006, S. 101-111.

„Baulust und Zerstörung“

Fortschrittskritik in der Baugeschichte Spätestens seit den achtziger Jahren hat sich Sebald für die Geschichte von Gebäuden interessiert. Sein jahrelanges Interesse gipfelt in der Figur von Austerlitz, einem Architekturhistoriker, durch dessen Augen Sebald es vermag, sich mit der Baugeschichte der Moderne auseinanderzusetzen. Das vorliegende Kapitel wird sich daher hauptsächlich auf Austerlitz konzentrieren, in dem das Thema wie ein Leitmotiv immer wieder vorkommt. Zunächst wird jedoch die Entwicklung des Themas im Laufe von Sebalds Werk nachvollzogen: Inwieweit ändert sich Sebalds Topografie? Wie stellt er Städte und Gebäude vor, wie beziehen sich seine Erzähler und Protagonisten auf bestimmte ausgewählte loci? Wenn das erste Kapitel dieser Studie das Zeitverhältnis untersuchte, das sich im Bild des „Einschachtelns“ bzw. in den Schichten der Erzählung – in den Schichten der (Natur)Geschichte – ausdrückt, so geht es in diesem Kapitel darum, das Raumverhältnis in Sebalds Prosa unter die Lupe zu nehmen.1 Das Verhältnis beruht im Grunde auf der gewohnten Beschäftigung mit den dialektischen Prozessen der Geschichte, Prozessen, die sich unter anderem im Leitmotiv des „Monumentalismus“ bzw. der „monströsen“ Gebäude der europäischen Moderne nachvollziehen lassen. In einem 1997 verfassten Aufsatz über Mörike beschreibt Sebald die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts vollziehende Dialektik in folgenden Worten: „Man mußte lernen, ins Große zu denken, und die Arbeit en miniature wurde aufgegeben zugunsten eines von Jahrzehnt zu Jahrzehnt rücksichtsloser sich inszenierenden Monumentalismus“ (Logis, 85). In Sebalds Prosa läuft diese Kritik des Monumentalismus auf eine immer wieder zum Ausdruck kommende Fortschrittskritik hinaus: Die syntaktischen Strukturen, deren er sich bedient, um solche monströsen Gebäude zu beschreiben, inszenieren seine Reaktion auf die Ansprüche der Moderne auf einen aufklärerischen Fortschrittsbegriff. In Anknüpfung an Elias Canettis von Sebald selbst hervorgehobene Analyse der „Baulust und Zerstörung“ im Dritten Reich wird in diesem Kapitel dem Diskurs des „Bauens“ bzw. der Baugeschichte _____________ 1

Die ausführlichste Studie zu diesem Thema ist Anja K. Johannsen, Kisten. Krypten. Labyrinthe. Raumfigurationen in der Gegenwartsliteratur: W.G. Sebald, Anne Duden, Herta Müller, Bielefeld 2008.

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„Baulust und Zerstörung“. Fortschrittskritik in der Baugeschichte

ein Diskurs des „Zerstörens“ bzw. der Verfallsgeschichte entgegengesetzt: Dem Pol des „Fortschritts“ wird der Pol der „Regression“ gegenübergestellt, um mit Adorno und Horkheimer zu sprechen. Sebald erwähnt an zwei verschiedenen Stellen Canettis „Essay über die architektonische Wunschwelt, die Speer für Hitler entwarf“. Zunächst zitiert er ihn im 1979 geschriebenen Essay „Summa Scientiae. System und Systemkritik bei Elias Canetti“: „‚Baulust und Zerstörung’ [sind] in der Vorstellung des Paranoikers ‚nebeneinander akut vorhanden und wirksam’“ (BU, 95). Danach entfaltet Sebald die Einsicht in einem 1981/2 geschriebenen Aufsatz mit dem Titel „Zwischen Geschichte und Naturgeschichte“, in dem er sich mit der „literarische[n] Beschreibung totaler Zerstörung“ auseinandersetzt: Elias Canetti [hat] später über die architektonischen Entwürfe Speers geschrieben, daß sie nämlich, ihrem Ewigkeitszug und ihrer Enormität zum Trotz, in ihrer Anlage schon die Idee eines erst im Zustand der Zerstörung seine volle Grandiosität entfaltenden Baustils beinhaltet hätten. (CS, 77f)

Bemerkenswert hier ist die im Rahmen der Naturgeschichte vorgestellte Dialektik des Bauens und Zerstörens. Canettis Analyse des Baustils des dritten Reichs lässt sich auf Sebalds Analyse des allgemeinen Baustils der Moderne anwenden: Schon im Entstehen stehen die von ihm analysierten Gebäude „im Schatten der Zerstörung“ (A, 28), sie seien „von Anfang an im Hinblick auf ihr nachmaliges Dasein als Ruinen“ konzipiert (RS, 35). Da solche Gebäude außerdem häufig auf das Zeitalter der Aufklärung zurückgehen, eignen sie sich vorbildlich zu einer Untersuchung der nicht nur in Austerlitz, sondern in Sebalds ganzem Werk immer wiederkehrenden Dialektik des Fortschritts.

Schwindel. Gefühle Schon die Bewegungen des herumreisenden Erzählers in Schwindel. Gefühle (1990) beruhen auf einer solchen Dialektik. Angespornt von Stendhal und Kafka, begibt er sich auf einen Ausflug „all’estero“ – der aber allmählich in einen „ritorno in patria“ umschlägt. Die Reise von der Vergangenheit wird zu einer Reise in die Vergangenheit, die Bewegung weg vom Ich kippt um in eine Bewegung zurück zum Ich. Gleich zu Anfang des Ausflugs bezeichnet der Erzähler die Reise als den Versuch, „durch eine Ortsveränderung über eine besonders ungute Zeit hinwegzukommen“

Schwindel. Gefühle

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(SG, 39).2 „Orte“ werden also auf Anhieb gegen „Zeit“ ausgespielt. Charakteristischerweise erweist sich jedoch die „Ortsveränderung“ als nutzlos: So einfach kann man der Melancholie nicht entkommen. Das Muster ist typisch für die Anfänge von Sebalds Werken: Man denke nur an die ersten Sätze von den Ringen des Saturn, wo der Erzähler sich in den „Hundstagen“ von August auf eine Fußreise begibt, „in der Hoffnung, der nach dem Abschluß einer größeren Arbeit in mir sich ausbreitenden Leere entkommen zu können“ (RS, 11), was ihm „bis zu einem gewissen Grad“ gelingt – allerdings nur bis zum nächsten Satz, wo er sich „andererseits“ fragt, „ob der alte Aberglaube, daß bestimmte Krankheiten des Gemüts und des Körpers sich mit Vorliebe unter dem Zeichen des Hundsterns in uns festsetzen“, nicht doch seine Berechtigung habe. Die Syntax bleibt weiterhin dialektisch: In der nachfolgenden Zeit beschäftige ihn „sowohl die Erinnerung an die schöne Freizügigkeit als auch die an das lähmende Grauen“ (meine Hervorhebung). Das Muster des Fortschritts, der zwangsläufig in die Regression umschlagen muss, wird damit schon in den Einleitungssätzen vorweggenommen. Der Versuch des Erzählers, sich durch Ortsveränderungen aufzumuntern, kippt in die titelgebenden Schwindelgefühle um. Indem er versucht, sich selbst zu entkommen, gerät er nur tiefer in Verwirrung: „das ständige Gehen“ (SG, 40) durch die Straßen Wiens bringt ihm nur „ein Gefühl der Übelkeit und des Schwindels“ (SG, 42). Das solvitur ambulando, mit dem der Erzähler versucht, sich die Innenstadt Wiens anzueignen bzw. die Stadt „einzugrenzen“, löst sich in Unwohlsein auf. Ähnliches geschieht, als er nach Venedig reist: Er meint, jemandem zu folgen, bekommt aber allmählich das Gefühl, verfolgt zu werden: Geht man in einer sonst so leeren Gasse hinter jemandem her, so bedarf es nur einer geringfügigen Beschleunigung der Schritte, um demjenigen, den man verfolgt, die Angst in den Nacken zu setzen. Umgekehrt wird man leicht selbst zum Verfolgten. (SG, 61)

In Venedig fühlt sich der Erzähler solchen Gefühlen besonders ausgesetzt, vermutlich wegen der labyrinthischen Gassen und der erdrückenden Last der Geschichte, die die Stadt beschwert. Er meint etwa zu dem Schluss gelangt zu sein, das aus dem Straßenlärm „das Leben entsteht, das nach uns kommt und das uns langsam zugrunde richten wird, so wie wir das langsam zugrunde richten, was da war lange vor uns“ (SG, 73). Die _____________ 2

Die ganze Einleitung des Kapitels lässt sich zudem als eine Parodie vom Anfang des Tod in Venedig verstehen, wo sich Aschenbach, „überreizt von der schwierigen und gefährlichen, eben jetzt eine höchste Behutsamkeit, Umsicht, Eindringlichkeit und Genauigkeit des Willens erfordernden Arbeit der Vormittagsstunden“, ebenfalls eine „Ortsveränderung“ wünscht.

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gelegentliche Stille über der Stadt scheine ihm „ganz und gar unwirklich, als müßte sie gleich zerrissen werden“ (SG, 73). Der Frieden droht in jeder Minute umzukippen, wie der „klare Verstand“, den Sebald – wie seinerzeit Casanova – mit einem Glas vergleiche, „das nicht zerbricht, wenn es nicht zerbrochen wird. Wie leicht ist es aber zerstört. Mit einer verkehrten Bewegung nur“ (SG, 65). Die Gedanken des Erzählers folgen immer wieder diesem doppelseitigen Rhythmus. Jedesmal, wenn er meint, Fortschritte zu erzielen, schlagen seine Gedanken sogleich wieder in die Regression um, wie wenn er zum Beispiel seinen Geisteszustand im Hotelzimmer beschreibt: „Mit gelegentlichen Aufzeichnungen, vor allem aber mit meinem teils immer weitere, teils immer engere Kreise ziehenden Nachdenken beschäftigt und bisweilen auch umfangen von einer vollkommen Leere“ (SG, 74). Seine Bemühungen, sich wieder Mut zu machen und aufzustehen, laufen bloß auf die gewohnte dialektische Syntax hinaus: „[ich] erwog, ob ich nicht wieder die Bar an der Riva aufsuchen solle, aber je mehr ich es bei mir erwog, desto weniger konnte ich mich von der Stelle rühren“ (SG, 76). Die Struktur des Ausflugs „all’estero“ bildet also einen Kreis zum Teil, weil sich die Reise als „ritorno in patria“ entpuppt, zum Teil aber auch, weil die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt ständig verschwimmen: Ist der Erzähler der Verfolger oder der Verfolgte? In Verona meint er, von denselben an die Bahrenträger von Kafkas Gracchus erinnernden jungen Männer verfolgt zu werden: „Mehr und mehr werde ich von einem Gefühl des Unwohlseins ergriffen“ (SG, 89). Das paranoide Verschwimmen der Grenzen wird dadurch verstärkt, dass der Erzähler in seine eigenen Fußstapfen tritt: Im Sommer 1987 begibt er sich auf die gleiche Reise, die er ursprünglich 1980 unternommen hatte – und noch einmal meint er, vom Kafka’schen cacciatore gejagt zu werden. Nachdem er seinen Paß verloren hat, muss er sich nach Mailand begeben, um einen neuen beim deutschen Konsulat abzuholen. Die Stadt fasst er in dem im Text wiedergegebenen „Abbild eines Labyrinths“ zusammen, das sich ironischerweise als „una guida sicura per l’organizzazione del vostro lavoro“ verkauft (SG, 122f). Die Ähnlichkeiten mit dem Bild der „Ringe des Saturn“ sind frappierend: Je mehr der Erzähler meint, voranzukommen, desto weniger kommt er eigentlich voran, da er nur im Kreis geht. Die Wiedergabe des Passes mit der durchgestrichenen Fotografie des Autors veranschaulicht das Versteckspiel mit der eigenen Identität: Der Erzähler hat zwar einen neuen Identitätsausweis, die Identität selber wird aber zurückgedrängt. Angesichts dieses ständigen Hin und Her zwischen Finden und Verlieren – zwischen Fortschritt und Regression – ist es ironisch, dass die Reise „all’estero“ in einer Besprechung der 1871 in Kairo stattgefundenen,

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vom Erzähler als „eine Feier des unaufhaltsamen Fortschrittes“ bezeichneten Uraufführung von Aida gipfelt (SG, 150). Sebalds Skepsis gegenüber dem Fortschrittsbegriff des 19. Jahrhunderts kommt damit sowohl auf der historischen als auch auf der persönlichen Ebene zum Ausdruck, wie sich bei dem „ritorno in patria“ zeigt. Der Erzähler kommt zu dem Schluss, daß sich mir im Kopf mit der Zeit vieles zusammengereimt habe, daß die Dinge aber dadurch nicht klarer, sondern rätselhafter geworden seien. Je mehr Bilder aus der Vergangenheit ich versammle, [...] desto unwahrscheinlicher wird es mir, daß die Vergangenheit auf diese Weise sich abgespielt haben soll. (SG, 231)

Solche Beispiele zeigen vor allem, dass die Topografie der Fortschrittskritik in Schwindel. Gefühle vom Erzähler selbst abhängt, von der subjektiven Gemütsverfassung des Protagonisten.

Die Ausgewanderten In den Ausgewanderten beruht diese Topografie an erster Stelle auf dem titelgebenden Motiv des Auswanderns. Das Motiv steht allerdings immer noch im Zeichen des Erzählers, da man im allerersten Satz erfährt, dass auch er 1970 in die ostenglische Kleinstadt Norwich gezogen war: Der Erzähler ist also auch als „ausgewandert“ zu verstehen. Das für die Anfänge von Sebalds Werken typische Gefühl der Melancholie findet auch hier seinen treffenden Ausdruck: Das Buch beginnt mit einer Fotografie eines Friedhofs, und das allererste Wort ist „Ende“. Das Schicksal der Ausgewanderten wird vorweggenommen; auch diese Geschichte wird eine im Tod endende Naturgeschichte sein. Die erste Erzählung führt ein enges Verhältnis zwischen Menschen und Gebäuden ein. Dass das Verhältnis zwischen Mensch und Ort (im breitesten Sinne) im Laufe der Ausgewanderten häufig ex negativo dargestellt wird, liegt auf der Hand: Die Ausgewanderten sehnen sich nach ihren verlorenen Kindheitsdörfern. Dr. Henry Selwyn steht aber auch in engem Zusammenhang mit seinem in der Nähe von Norwich gelegenen Landhaus. Seine sich dem Ende zuneigende Lebensgeschichte spiegelt sich im zerbröckelnden Haus wider, das auch seltsam leer wirkt: „Es war nicht, als ob jemand hier wohnte“, bemerkt der Erzähler (Aus, 9). Die „Unzahl von Puppen“ (Aus, 17), die er im Zimmer der Hausbediensteten sieht, verstärkt den Eindruck eines ausgeleerten, den zwischenmenschlichen Kontakt vermeidenden Lebens. Die Beschreibung des Tennisplatzes wirkt als eine mise-en-abyme des Protagonisten: „now the court has fallen into disrepair“, bemerkt Selwyn selbst, „like so much else around here“ (Aus, 13).

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Dass es hier um eine Art von Naturgeschichte geht, bestätigt der darauf folgende Satz, wo die Beschreibung des Verfalls auf die Natur selbst ausgeweitet wird: „auch die unbeaufsichtigte Natur, er spüre es mehr und mehr, stöhne und sinke in sich zusammen unter dem Gewicht dessen, was ihr aufgeladen werde von uns“ (Aus, 13). Auch die zweite Erzählung beginnt mit ihrem eigenen Ende, da die Geschichte „rückwärts“ erzählt wird, vom Tod des Paul Bereyters bis in sein Leben hinein. Ebenso wie das Leben Selwyns wird die Verfallsgeschichte von Bereyters Leben auf eine durch die Zerstörung von Gebäuden ausgedrückte Naturgeschichte bezogen. Sogar das bloße Wort „Stadt“ verbindet der gegen Ende des Kriegs aufgewachsene Erzähler mit Zerstörung und Tod: „nichts war für mich, seit ich einmal in München gewesen war, so eindeutig mit dem Wort Stadt verbunden wie Schutthalden, Brandmauern und Fensterlöcher, durch die man die leere Luft sehen konnte“ (Aus, 46). Anders gesagt, Gebäude und Ansammlungen von Gebäuden – Städte – dienen nicht dazu, dem Leben Struktur zu geben, sondern vielmehr den Tod vorwegzunehmen. Dass Bereyter schließlich wegen „Platzangst“ (Aus, 65) nicht mehr imstande war, Unterricht zu erteilen, passt in dieses Muster hinein. Dass die Erzählung „bei der Eisenbahn“ (Aus, 92) beginnt und endet, nimmt außerdem den Status des Bahnhofs in Austerlitz vorweg, denn die Bahn fungiert als eine Metapher einerseits des Fortschritts, andererseits des Todes und der Vernichtung (man denke an Bereyters Selbstmord sowie an die vielen mit der Bahn verbundenen Anspielungen auf den Holocaust). Bereyter selbst scheint die Dialektik verstanden zu haben, denn Mme Landau zufolge habe er „Verbindungslinien gezogen [...] zwischen dem bürgerlichen Utopie- und Ordnungskonzept [...] und der immer weiter fortschreitenden Vernichtung und Zerstörung des natürlichen Lebens“ (Aus, 67). Die Formulierung klingt Sebalds eigener Analyse der „Schrecken der Industrialiserung“ (in Logis in einem Landhaus) sehr ähnlich:3 Sowohl der Autor als auch seine Protagonisten unterziehen die „Baugeschichte“ der Moderne einer Fortschrittskritik. In der dritten Erzählung „Ambros Adelwarth“ ist die Struktur das Gegenteil von der von „Paul Bereyter“. Das Ende kommt nicht schon am Anfang, und die Erzählung involviert vielmehr ein klassisches Model von Aufstieg und Niedergang, da der Zusammenbruch von Ambros erst nach der Geschichte der Auswanderung in die USA erzählt wird. Baugeschichtlich betrachtet heißt dies, dass die vielen im Laufe der Erzählung wiedergegebenen Fotografien von Gebäuden in einem zunehmenden Span_____________ 3

Siehe das vierte Kapitel dieser Studie.

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nungsverhältnis zwischen äußerem Luxus und innerem Zerfall stehen. Am Anfang der Geschichte nimmt Onkel Kasimir persönlich am Entstehen der USA teil, indem er Kupferspitzhauben auf Wolkenkratzer in New York setzt. Die Bilder der Spitze des Chrysler Buildings bzw. der Kuppel der Augsburger Synagoge stehen im Gegensatz zu den zahlreichen Fotografien von großen Hotels und luxuriösen Palästen, in denen Cosmo und Ambros auf ihren Reisen übernachten. Allmählich dienen solche Prunkgebäude jedoch immer mehr dazu, den inneren Verfall von Cosmo und von Ambros in den Vordergrund zu rücken. Die Schilderung des Sanatoriums Samaria bringt diese Dialektik auf den Punkt. „Wahrscheinlich macht sich niemand einen zureichenden Begriff von dem in diesem extravaganten Bretterpalast angehäuften und nun allmählich mit seinem Zerfall, wie ich hoffe, zergehenden Schmerz und Unglück“, bemerkt der vom Erzähler aufgesuchte Dr. Abramsky (Aus, 161). Noch einmal ist eine Dialektik des Fortschritts bzw. Verfalls mit einem Gebäude verbunden: Einerseits spricht Abramsky von dem „an sich schon [...] beträchtlichen Fortschritt“ (Aus, 164), den er bei der Behandlung von Ambros zu beobachten glaubt, andererseits ist das Sanatorium für ihn längst zu einem sowohl symbolisch als auch buchstäblich zerfallenden Totenhaus geworden, wo er „ein ständiges Huschen und Rascheln durch das ausgetrocknete Gehäuse gehen“ hört. Seine Beschreibung des Gebäudes verdient, hier ausführlich zitiert zu werden: Bisweilen, wenn der volle Mond hinter den Bäumen heraufkommt, erhebt sich auch, wie mir dünkt, ein aus Tausenden von winzigen Kehlen gepreßter, pathetischer Gesang. Dem Mäusevolk gilt heute meine Hoffnung, und sie gilt den Holzbohrern, den Klopfkäfern und Totenuhren, die das ächzend zu einigen Stellen schon nachgebende Sanatorium über kurz oder lang zum Einsturz bringen werden. Ich habe von diesem Einsturz einen regelmäßig wiederkehrenden Traum [...] Ich sehe das Sanatorium auf seinem erhobenen Platz, sehe alles zugleich, das Gebäude in seiner Gesamtheit sowohl als jede kleinste Einzelheit, und ich weiß, daß das Fachwerk, das Dachstühlgebälk, die Türstöcke und Paneele, die Böden, Dielen und Stiegen, die Geländer und Balustraden, Rahmungen und Gesimse unter der Oberfläche restlos bereits ausgehöhlt sind und daß jeden Augenblick, wenn der aus der blinden Heerschar der Käfer auserwählte mit einem letzten Schaben seines Kieferrands den letzten, schon gar nicht mehr materiellen Widerstand durchbricht, alles in sich zusammensinken wird. (Aus, 165f)

Durch die Anspielung an Kafkas Josephine die Sängerin oder Das Volk der Mäuse vermag Sebald, das Physische und das Metaphysische in der Synthese einer halluzinatorischen Naturgeschichte aufzuheben. Dem „pathetische[n] Gesang“ der ehemaligen Patienten des Sanatoriums entsprechen die kleinen Insekten, die das Gebäude eines Tages zum Einsturz bringen werden. Die Liste der organischen Insekten („Holzbohrer, Klopfkäfer und Totenuhren“) steht der Liste der verschiedenen Teile des Gebäudes ge-

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genüber, die es zu zerstören gilt: Sie sind schon „unter der Oberfläche restlos bereits ausgehöhlt“, sie warten nur auf den „auserwählte[n]“ Käfer, der das Ganze zum „zusammensinken“ bringen wird. Der ersehnte messianische Moment kommt einer Adorno’schen Philosophie „vom Standpunkt der Erlösung” gleich: Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten. Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint [...] Perspektiven müßten hergestellt werden, in denen die Welt ähnlich sich versetzt, verfremdet, ihre Risse und Schründe offenbart, wie sie einmal als bedürftig und entstellt im messianischen Lichte daliegen wird.4

Adornos Schlussworte am Ende der Minima Moralia finden im einstürzenden Sanatorium einen resonanten Ausdruck. Hier kommen Naturgeschichte und Baugeschichte zusammen: Der organische „Käfer“ wird das Schicksal des unorganischen Gebäudes besiegeln. Die Verschmelzung der beiden Geschichtsperspektiven ist charakteristisch für Sebalds Werk: Immer wieder träumen die Sebald’schen Protagonisten von Zerstörung, Feuer und Apokalypse – als ob sie ihrer unausweichlichen Sterblichkeit vorbeugen möchten, indem sie ihren Verfall in ihren „Fortschritt“ mithineinbauen.5 Auch der Erzähler sieht sich vor der gleichen Dialektik. Als er gleich nach dem Besuch bei Dr. Abramsky nach Deauville fährt, findet er die einst so gefeierte Küstenstadt in einem Zustand der vollkommensten Verwahrlosung und Verfall: Was immer meine Vorstellungen gewesen sein mögen, es zeigte sich sogleich, daß dieses einst legendäre Seebad, genau wie jeder andere Ort, den man heute, ganz gleich, in welchem Land oder Weltteil, besucht, hoffnungslos heruntergekommen war und ruiniert vom Autoverkehr, vom Boutiquenkommerz und der auf jede Weise und immer weiter um sich greifenden Zerstörungssucht. (Aus, 171f)

Der vom „Autoverkehr“ symbolisierte Fortschritt schlägt sich zwangsläufig in die Regression um, in die „Zerstörungssucht“, die Sebald zufolge allgegenwärtig ist, „ganz gleich, in welchem Land oder Weltteil“. Alles, was von Menschen gebaut werden kann, wird wieder zu Staub: „Heute ist das ehemals luxuriöseste Hotel der normannischen Küste nur noch eine zur Hälfte bereits in den Sand gesunkene monumentale Monstrosität“ (Aus, 174). Anja K. Johannsen hat den Status von Hotels in Sebalds Prosa ausführlich untersucht, indem sie von den zwei von Ruth Klüger skizzier_____________ 4 5

Theodor W. Adorno, Minima Moralia, Frankfurt a.M. 1951, S. 283. Anja K. Johannsen deutet darauf hin, „inwiefern Sebalds Texte […] auf den einen erlösenden Punkt zustreben: auf die Ankündigung einer von Menschen befreiten Welt“. Johannsen, Kisten. Krypten. Labyrinthe, S. 56.

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ten Kategorien ausgeht, nämlich dem „Verfall der großen Hotels und [dem] Elend der kleinen, miserablen“.6 Hotels bilden für Johannsen die exemplarischen „psychotopisch lesbaren Räume“7 in Sebalds Werk: „unter psychotopisch lesbaren Räumen sind jene im Text beschriebenen konkreten Räume zu verstehen, deren Beschreibungen als metaphorische Schilderungen der psychischen Verfasstheit derjenigen Figuren entzifferbar sind, die mit diesen Räumen in Zusammenhang stehen.“8 Solche Räume bzw. Gebäude sind überall in Sebalds Werk zu finden, wie sie zeigt. Sie sind allerdings nicht nur psychologisch zu deuten, sondern auch geschichtsphilosophisch: Vor allem bei Klügers erster Gruppe der „großen Hotels“ wirkt ihr Verfall wie eine Strafe für ihre Hybris. Baugeschichte verfällt wieder in die Naturgeschichte; die „in den Sand gesunkene monumentale Monstrosität“ erinnert an das Schicksal von Shelleys „Ozymandias“: „My name is Ozymandias, king of kings: Look on my works, ye Mighty, and despair!” Nothing beside remains: round the decay Of that colossal wreck, boundless and bare, The lone and level sands stretch far away.9

Shelleys Gedicht könnte auch als Epigraph zur Darstellung von Manchester in der vierten Erzählung der Ausgewanderten dienen. Im 19. Jahrhundert galt Manchester „als ein an Unternehmergeist und Fortschrittlichkeit nicht zu überbietendes Industriejerusalem“ (Aus, 245), hatte jedoch bei Sebalds Ankunft in den 1960er Jahren seine Führungsposition längst eingebüßt. Die Struktur der Erzählung, die die Geschichte von Max Aurachs Kindheit und Familie erst nach der Ankunft des Erzählers in Manchester entfaltet, stellt den Ausgewanderten ins Zeichen einer von Verfall und Verwahrlosung gezeichneten Stadt. Selbst als der Erzähler sich an seinen ersten Anblick von Manchester erinnert, fällt der Duktus der Erzählung in die gewohnte Dialektik zurück: „jetzt hätte man Manchester in seiner ganzen Ausdehnung erkennen müssen. Es war aber nichts zu sehen als ein schwaches, wie von Asche nahezu schon ersticktes Glosen“ (Aus, 221). Seine an seiner verkehrten Vorstellung des industriellen Fortschritts verbundenen Hoffnungen werden im Keim erstickt – und zwar gleich bei seiner Ankunft in der Vision einer lodernden Apokalypse. _____________ 6 7 8 9

Johannsen, Kisten. Krypten. Labyrinthe, S. 51. Den Begriff entnimmt sie Elisabeth Bronfen, Der literarische Raum. Eine Untersuchung am Beispiel von Dorothy M. Richardsons Romanzyklus „Pilgrimage”, Tübingen 1986. Johannsen, Kisten. Krypten. Labyrinthe, S. 28f. Percy Bysshe Shelley, „Ozymandias“ (1818), in: Shelley. Poetical Works, Oxford 1970, S. 550.

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Am Beispiel von Manchester lässt sich für Sebald die Dialektik des Fortschrittes vorbildlich zeigen, da der Gegensatz zwischen der einstigen „Fortschrittlichkeit“ der Stadt und ihrer ‚jetztigen’ Verwahrlosung (bzw. ihrem damaligen Zustand in den 60er Jahren) so frappierend ist. Der Erzähler spricht etwa von der Rückhaltlosigkeit, mit der die anthrazitfarbene Stadt, von der aus das Programm der Industrialisierung über die ganze Welt sich ausgebreitet hat, die Spuren ihrer augenscheinlich chronisch gewordenen Verarmung und Degradiertheit dem Betrachter preisgab. (Aus, 231)

Die Bezeichnung von Manchester als die „beinahe restlos ausgehöhlte Wunderstadt aus dem letzten Jahrhundert“ (Aus, 222) erinnert darüber hinaus an die Beschreibung des Sanatoriums in „Ambros Adelwarth“ als „restlos bereits ausgehöhlt“, wobei der Begriff „ausgehöhlt“ darauf hinweist, dass der „Fortschritt“ sich selbst – sozusagen von innen heraus – zerstören muss. Als der Erzähler nach einem Jahr in der Schweiz nach Manchester zurückkehrt, fällt ihm der allgemeine Verfall der Stadt um so mehr auf: „Was man gebaut hatte, um den allgemeinen Zerfallsprozess aufzuhalten, war selbst schon von Zerfall bedroht, ja, sogar die sogenannten development zones [...] schienen schon wieder halb aufgegeben“ (Aus, 267). Aurach scheint seinerseits mit dem allgemeinen Verfall verbunden zu sein, denn er fühlt sich wohl auschließlich in Manchester und identifiziert sich offenbar mit der Stadt, ebenso wie Dr. Henry Selwyn sich seinerseits mit seinem heruntergekommenen Landhaus identifiziert. Der Erzähler spricht sogar von dem „unwiderruflich fortschreitenden Verfall [von Manchester], den Aurach als beruhigend empfand“ (Aus, 269). Ebenso wie Dr. Abramsky, der sich darauf freut, dass „alles in sich zusammensinken wird“, ersehnt auch Aurach die Zerstörung. Dies mag darauf zurückzuführen sein, dass er die „Einwandererstadt“ Manchester mit dem Ghetto in Verbindung bringt, das seine Eltern verschlungen hatte – eine Verbindung, die Sebald nahelegt, indem er gegen Ende der Erzählung die „polnische Industriemetropole Łódź erwähnt, die einmal polski Manczester geheißen hat“ (Aus, 352). Den Vergleich bekräftigt er dadurch, dass er eine Fotografie von den Schloten von Łódź in den Text einfügt, die den früher wiedergegebenen Bildern von Manchester sehr ähnlich ist. Die an der Baugeschichte ausgeübte Fortschrittskritik in den Ausgewanderten, der allgegenwärtige Zerfall, der als die Kehrseite des industriellen Fortschrittes aufzufassen ist, lässt sich also als verschlüsselte Anspielung auf den Holocaust lesen, als reductio ad absurdum der in der Shoa gipfelnden Dialektik der Aufklärung.

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Die Ringe des Saturn Wenn die an der Baugeschichte ausgeübte Fortschrittskritik in den Ausgewanderten grundsätzlich vom Titelmotiv des Auswanderns geprägt ist, so sind auch Saturns Ringe in Sebalds drittem Prosawerk als Leitmotiv zu lesen. Die Struktur des Werkes ist von Natur aus dialektisch, da jeder Schritt vorwärts gleichzeitig ein Schritt rückwärts ist. Claudia Albes bezeichnet das dominierende Erzählverfahren des Werkes als ein Oszillieren zwischen „Fortschritt“ und „Stagnation“,10 und schon in der Inhaltsgliederung der Kapitel kommt das Motiv des Zerfalls von Städten und Gebäuden wiederholt vor (sei es bei den „deutschen Städten in Flammen“, beim „Niedergang von Lowestoft“, bei der „Zerstörung des Gartens Yuan Ming Yuan“ oder bei den „Feuerbrände[n], [der] Verarmung und [dem] Zerfall“ vom irischen Landsitz der Ashburys). Auch die Epigraphe nehmen die dialektische Struktur des Werkes vorweg: Dass sie dies zudem in drei verschiedenen Sprachen machen, zeugt vom europaweiten Ausmaß der Sebald’schen Historiografie. Zunächst wird aus Paradise Lost zitiert, dessen bloßer Name programmatisch ist: „Good and evil we know in the field of this world grow up together almost inseparably“ (RS, 9). Nicht nur die gegenseitige Selbstdefinition von „good and evil“, sondern auch ihre Deutung als naturgeschichtlicher Wachstumsprozess fällt hier auf: Sebalds Buch wird sich mutatis mutandis mit der neuzeitlichen Geschichte dieses Prozesses beschäftigen. Der zweite Epigraph stammt von einem auf französisch verfassten Brief des für die „ethisch-ästhetische“ Einstellung des Buches sehr wichtigen Josef Conrad: „Il faut surtout pardonner à ses âmes malheureuses qui ont élu de faire le pèlerinage à pied, qui côtoient le rivage et regardent sans comprendre l’horreur de la lutte et le profond désespoir des vaincus“ (RS, 9). Aufschlussreich hier ist die Tatsache, dass Conrad den Pilgern Verständnis verschaffen möchte, nicht den „vaincus“ selbst. Indem er dies zitiert, stellt sich auch Sebald in die Reihen der Beobachter, der „âmes malheureuses“, die die „lutte“ bzw. die „vaincus“ zu verstehen versuchen – er selber ist aber nicht unbedingt ein „vaincu“.11 Seine Melancholie entsteht vielmehr aus einer gewissen historiografischen Distanz, aus der Perspektive eines empathischen Zuschauers. Schon in seinem frühesten wissenschaftlichen Buch Carl Sternheim: Kritiker und Opfer der Wilhelminischen Ära _____________ 10 11

Claudia Albes, „Die Erkundung der Leere. Anmerkungen zu W.G. Sebalds englischer Wallfahrt Die Ringe des Saturn“, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 46 (2002), S. 279305, hier S. 284. Hier knüpft er wohl auch an Benjamins Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ an.

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(1969) begreift sich sein Engagement im „être du coté des vaincus“ (CSt, 11). Der dritte und letzte Epigraph stellt die Weichen für die Rezeption des Titels und a fortiori des ganzen Werkes: Die Ringe des Saturn bestehen aus Eiskristallen und vermutlich meteoritischen Staubteilchen, die den Planeten in dessen Äquatorebene in kreisförmigen Bahnen umlaufen. Wahrscheinlich handelt es sich um die Bruchstücke eines früheren Mondes, der, dem Planeten zu nahe, von dessen Gezeitenwirkung zerstört wurde. (RS, 9)

Sebald stellt damit die Landhäuser und Gebäude von East Anglia als „Bruchstücke eines früheren Mondes“ dar. Anders als in Austerlitz, wo die Geschichten der verschiedenen Gebäude eine nach der anderen, diachronisch erzählt werden, geht Sebald in den Ringen des Saturn die Baugeschichte eher synchronisch an: Durch die Struktur der konzentrischen „Ringe“ ruft die Analyse von einem Gebäude Querverweise auf andere, verwandte Gebäude hervor, und die physischen Schilderungen solcher Gebäude gleiten dann häufig ins Metaphysische hinüber. Die Spannung des Buches ergibt sich aus dem Wechselverhältnis zwischen der Baugeschichte und der Naturgeschichte, dem Entstehen und dem Untergang; das ganze Werk lässt sich als eine dialektische Deutung der Entwicklungsgeschichte Europas verstehen, wo jeder Fortschritt zwangsläufig seine regressive Kehrseite hat. Da das Muster im Grunde über die zehn Kapitel das gleiche bleibt, wird hier eine Analyse des zweiten Kapitels – des ersten, das eigentlich der „Fußreise“ gewidmet ist – stellvertretend vorgestellt.12 Die Küstenlandschaft zwischen Norwich und Lowestoft steht im besagten Kapitel vom Anfang an im Zeichen des Zerfalls: Die erste Fotografie des Kapitels zeigt „zerfallende, wie Mahnmale einer zugrundegegangenen Zivilisation sich ausnehmende Ziegelkegel“, die Überreste der Windmühlen, die einst die Gegend ausgezeichnet haben. „Als diese Glanzlichter verblaßten“, meint der Erzähler, „verblaßte mit ihnen gewissermaßen die gesamte Gegend. Manchmal meine ich, wenn ich hinschaue, es sei alles schon tot“ (RS, 42f). Die Regression wird hier also hervorgehoben, nicht der Fortschritt: Die Ziegelkegel sind „Mahnmale“, sie erinnern an den Tod. „Auklärung und Fortschritt [werden] am Maßstab des durch sie in Gang gesetzten Zerstörungspotentials bemessen“, schreibt Öhlschläger. „Zerstörung wird zum Argument einer Lesbarkeit der Welt“.13 _____________ 12 13

Claudia Öhlschläger hat darüber hinaus diesen Aspekt des Werkes schon behandelt. Siehe Claudia Öhlschläger, „Der Saturnring oder Etwas vom Eisenbau“, in: W.G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei, Berlin 2006, S. 189-204. Öhlschläger, W.G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei, S. 195.

Die Ringe des Saturn

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Als der Erzähler danach sein Ziel, das Landhaus Somerleyton, erreicht, bedient er sich einer Variation der rhetorischen Figur der occupatio, um den verlorengegangen Fortschritt heraufzubeschwören. In der klassichen Rhetorik beschreibt der Begriff eine Passage, wo der Dichter erklärt, er werde über etwas nicht reden: Indem er dies aber erklärt, redet er tatsächlich darüber. Sebald verwendet häufig eine ähnliche Technik: Er malt ausführlich aus, wie es „damals“ gewesen sein muss, damit er den Verlust solcher Schätze um so stärker hervorheben kann. Hier entfaltet er eine lange Liste der exotischen „Ausstattungsgegenstände“, die im 19. Jahrhundert nach Somerleyton geliefert wurden, um sich das Haus am Höhepunkt seines Ruhms vorzustellen. Schnell schlägt die Vision aber wieder in den Untergang um: „Eine Schrecksekunde, denke ich oft, und ein ganzes Zeitalter ist vorbei“ (RS, 44). Die Ironie seiner Ankunft an einer ausgedienten Bahnstation vorbei entgeht ihm nicht: Es berührte mich wie eine seltsame Lektion aus der Entwicklungsgeschichte, die ja gelegentlich ihre zurückliegenden Stadien mit einer gewissen Selbstironie rekapituliert, daß ich, sowie ich aus den Bäumen hervortrat, ein Miniaturbähnchen durch die Felder dahindampfen sah... (RS, 44)

Dass die Bemerkung außerdem von der Bahn veranlasst ist, nimmt ihre Wiederkehr in Sebalds Werk als Motiv einer historischen Dialektik vorweg: „Der Zugverkehr wird zum Signum einer verkehrten Welt“, wie Claudia Öhlschläger bemerkt.14 Die Beschreibung vom Landhaus selbst vollzieht seinen Aufstieg und Untergang nach. Nach der Erinnerung an seine Glanzzeit folgt eine Beschreibung seiner jetzigen Verwahrlosung, die offenbar dem Geschmack des Erzählers viel mehr entspricht: „wie schön dünkte das Herrenhaus mich jetzt, da es unmerklich dem Rand der Auflösung sich näherte und dem stillen Ruin“ (RS, 50). Für Öhlschläger erinnert „die in künstlichem Licht erstrahlende Residenz von Somerleyton an die von Benjamin beschriebenen Luxusetablissments aus Eisen und Glas des 19. Jahrhunderts“: Sebald greife auf die Motive zurück, die im Benjaminischen Fragment „Der Saturnring oder Etwas vom Eisenbau“ (aus dem Passagen-Werk) vorgestellt werden – „Eisen, Glas und künstliche Beleuchtung [...], um die Verfallsgeschichte der Moderne vom Ursprung ihres Fortschrittsversprechens her zu lesen“.15 Die „Ringe“ der Zeit, die Schichten der Geschichte, die sich in Somerleyton angesammelt haben, lassen sich dementsprechend als Dialektik des Fortschritts und der Regression verstehen, „denn viele Zeiten haben sich hier überlagert und bestehen nebeneinander fort“ (RS, 49). Der Begriff der „Überlagerung“ ist ein _____________ 14 15

Öhlschläger, W.G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei, S. 193. Öhlschläger, W.G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei, S. 191.

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wichtiges Leitmotiv; Sebald lässt auch Michael Hamburger zum Beispiel von den „Ablagerungen und Moränen“ seiner Erinnerungen sprechen (RS, 211). Syntaktisch entspricht dem Begriff die immer wiederkehrende Konjunktion „im Verlauf (bzw. im Laufe) der Jahrhunderte“, die die verschiedenen Schichten der Erzählung „überlagert“: Der im ersten Kapitel dieser Studie analysierte „Schachtelzustand“ der Erzählschichten beruht ja auf solchen kleinen, unauffälligen Konjunktionen. Bemerkenswert ist außerdem, dass Natur und Gebäude, Naturgeschichte und Baugeschichte ebenso „überlagert“ werden: In Somerleyton bemerkt der Erzähler etwa, „daß sich die Übergänge zwischen Interieur und Außenwelt so gut wie unmerklich vollzogen“ (RS, 46). Einer der Ringe, die von Somerleyton ausgeht, ist die „Zerstörung der deutschen Städte“ durch den Luftkrieg. Die vom Gärtner William Hazel erzählte Geschichte der Bombardierung Deutschlands erlaubt es Sebald, die mittlerweile bekannt gewordene Hauptthese von Luftkrieg und Literatur auszuprobieren, derzufolge niemand „etwas [vom Luftkrieg] aufgeschrieben oder erinnert zu haben“ scheine (RS, 54). Vielleicht erklärt die These die Vorliebe, die sowohl Sebald als auch seine Protagonisten für den Zerfall haben: Sie fungiert eventuell als eine Art „kompensatorisches Gedächtnis“ (A, 202), als psychologische Wiedergutmachung der angeblich verdrängten Zerstörungsgeschichte. Zerfall ist jedenfalls das Motiv, das Somerleyton mit Lowestoft verbindet, der nächsten Station seiner Reise. Die Dialektik der Geschichte des einst berühmten Seebades – dessen Glanzzeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lag – die „Hoffnungen, die sich dann in der dem realen Kapitalismus verschriebenen Ära der Baronin Thatcher immer mehr aufblähten, bis sie zuletzt im Spekulationsfieber überschlugen und zusammensanken in nichts“ (RS, 56) – findet ihren entsprechenden Ausdruck in der vertrauten Syntax des Fußgängers: „je mehr ich dem Zentrum [von Lowestoft] mich näherte, desto mehr bedrückte mich, was ich sah“ (RS, 56). Die Stadt ist dem Erzähler zufolge dermaßen heruntergekommen, dass der Zerfallsprozess ironischerweise die einzige Sache ist, die als „fortschreitend“ bezeichnet werden kann: „ein Ende der stetig fortschreitenden Verelendung ist nirgends abzusehen“ (RS, 57), bemerkt der Erzähler. Lowestoft hat außerdem sein metaphysisches Pendant, genauso wie Somerleyton den anschließenden „Ring“ des Luftkriegs hatte: Hebels Erzählung „Kannitverstan“ fungiert wiederum als eine Art memento mori, als Warnung vor der Hybris des Reichen in seinem großen Palast. Als Hebels Held den Leichenwagen vorbeiziehen sieht, denkt er „an sein großes Haus, an sein reiches Schiff und an sein enges Grab“ (RS, 61). Mit dieser Geschichte im Kopf verlässt der Erzähler Lowestoft – die Lektion

Austerlitz

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ließe sich aber immer wieder auf die Landhäuser und Paläste anwenden, die er im Laufe seiner Reise besichtigt. Die Baugeschichte lässt sich für Sebald nur dialektisch verstehen, als die „Sichtbarmachung einer historischen Konstellation, in der die Dialektik von Fortschritt und Zerstörung wirkt“.16 Diese Konstellation tritt außerdem immer wieder in Form einer Kolonialismuskritik auf. Da das Muster im nächsten Kapitel dieser Studie untersucht wird, genügt es hier zu konstatieren, dass die ehemalige Pracht von Palästen wie Somerleyton zwangsläufig auf der Ausbeutung beruht und dass Sebald, indem er die Extravaganz dieser Gebäude beschreibt, zugleich den hinter der Vortäuschung der christlichen Pietät vom Kapitalismus betriebenen Kolonialismus anprangert. Sebald interessiert sich im Grunde für die „Effekte imperialistischer Machtpolitik“,17 wie Öhlschläger schreibt, für die Kosten des von ihm ironisierten „Fortschrittes“: Im Namen der Ausbreitung des christlichen Glaubens und des als Grundvoraussetzung für jeden zivilisatorischen Fortschritt geltenden freien Handels demonstrierte man die Überlegenheit der westlichen Geschütze, stürmte eine Reihe von Städten und erpreßte sodann einen Frieden, zu dessen Bedingungen bestimmte Garantien für die britischen Faktorien an der Küste, die Abtretung von Hong Kong sowie, nicht zuletzt, wahrhaft schwindelerregende Reparationszahlungen gehörten. (RS, 170)

Die Baugeschichte in den Ringen des Saturn ist also einerseits philosophisch zu verstehen – als eine Art verdrehte Naturgeschichte, als die Kehrseite einer Verfallsgeschichte –, andererseits aber auch als historisch bedingt, als die Dialektik einer Aufklärung, die zur „wahrhaft schwindelerregende[n]“ Ausbeutung des Kolonialismus führen konnte. „An die Stelle des Glaubens an historischen Fortschritt tritt für den Ironiker damit die Figur der Gefangenschaft im Zirkel der Destruktivität“, können wir mit Anne Fuchs zusammenfassen.18

Austerlitz Vom Anfang an wird Austerlitz in Verbindung mit großen öffentlichen Gebäuden gebracht. Er doziert über den ihn seit seiner Studienzeit beschäftigenden Baustil der kapitalistischen Ära [...], insbesondere über den Ordnungszwang und den Zug ins Monumentale, der sich manifestierte in Gerichtshöfen und Strafanstalten, in Bahnhofs- und

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Öhlschläger, W.G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei, S. 194. Öhlschläger, W.G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei, S. 193. Fuchs, Die Schmerzensspuren der Geschichte, S. 191.

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„Baulust und Zerstörung“. Fortschrittskritik in der Baugeschichte

Börsengebäuden, in Opern- und Irrenhäusern [...] Seine Recherchen [...] seien ihm unter der Hand ausgeufert in endlose Vorarbeiten zu einer ganz aus seine eigenen Anschauungen sich stützenden Studie über die Familienähnlichkeiten, die zwischen all diesen Gebäuden bestünden. (A, 48)

Der Begriff der „Familienähnlichkeiten“ „establishes metaphorical relations between these various architectural structures“,19 und erlaubt uns, die verschiedenen Gebäude im Buch zusammenzubringen.

Antwerpen Der Erzähler lernt Austerlitz zum ersten Mal in der sogenannten Salle des pas perdus in der Antwerpener Centraal Station kennen; danach kreuzen sich ihre Wege immer wieder in den großen Bahnhöfen Europas. Wessen pas sind aber perdus? Obwohl der Erzähler und Austerlitz als unterschiedliche Persönlichkeiten zu verstehen sind, häufen sich im Laufe des Werkes Indizien, dass der Protagonist als eine Art von Doppelgänger des Erzählers zu verstehen ist (etwa auf die gleiche Art und Weise, wie Sebald in Schwindel. Gefühle in die Fußstapfen Kafkas tritt): Immer wieder wird Austerlitz mit Eigenschaften des Sebald’schen Erzählers ausgestattet, mit seinem Rucksack, seinem Gesicht20 oder – was wichtiger ist – dem gleichen wissensbegierigen Temperament eines Forschers. Mir geht es hier nicht darum, zu zeigen, dass Austerlitz als „Projektion“ des Erzählers zu deuten wäre, sondern nur im Voraus klarzustellen, inwieweit sich das Interesse des Protagonisten an der Architekturgeschichte auch beim Erzähler vorhanden ist. Zunächst ist bemerkenswert, dass die beiden zwar das rationale Temperament eines Forschers besitzen – sie werden aber trotzdem vom Irrationalen getrieben. Die Dialektik lässt sich gleich im ersten Satz des Werkes nachweisen, wo der Erzähler seine eigenen Erfahrungen beschreibt: In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre bin ich, teilweise zu Studienzwecken, teilweise aus anderen, mir selber nicht recht erfindlichen Gründen, von England aus wiederholt nach Belgien gefahren.. (A, 5)

Die Bernhard’sche Syntax des ersten Satzes lässt sich mit einer späteren Bemerkung von Austerlitz vergleichen, wo sich der Protagonist an seine Teilnahme an den Ausgrabungen unter einem Londoner Bahnhof erinnert: _____________ 19 20

J.J. Long, W.G. Sebald – Image, Archive, Modernity, New York 2007, S. 153. Man denke an die Fotografie von „Austerlitz“ im Schaufenster vom Antikos Bazaar in Terézin, wo der Autor selber zu sehen ist.

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Ich bin damals des öfteren gewesen, sagte Austerlitz, teilweise wegen meiner baugeschichtlichen Interessen, teilweise auch aus anderen, mir unverständlichen Gründen.. (A, 188)

Der Erzähler wird von den gleichen Impulsen getrieben wie der Protagonist, denn beide verspüren den gleichen Drang, die Geschichte zu erforschen. Trotzdem bleibt es sowohl dem Erzähler als auch dem Protagonisten ein Rätsel, woher dieses Interesse kommt. Gleich am Anfang von Austerlitz geben die wiederholten Reisen des Erzählers nach Belgien einen zögerlichen Ton an. Der Stil schwebt zwischen einer physischen, ‚realistischen’ Genauigkeit auf der einen Seite (in den Orts- und Zeitangaben) und einer metaphysischen, subjektiven Ungenauigkeit auf der anderen (in den „mir selber nicht recht erfindlichen Gründen” bzw. in der eingeschobenen Phrase „wie es mir schien“, die den Status der Realität zu bezweifeln scheint). „Gleich bei der Ankunft“, so der Erzähler, „war ich ergriffen worden von einem Gefühl des Unwohlseins“; nach einem ziellosen Spaziergang durch die Stadt begibt er sich in den Tiergarten, um sich „von Kopfschmerzen und unguten Gedanken“ zu befreien. (Der Leser mag hier auch an die Ankunft des Erzählers in Wien in Schwindel. Gefühle denken). Die Art und Weise, wie er die Gesichtsausdrücke der Tiere anthropomorphisch deutet, lässt auf sein eigenes „Unwohlsein“ zurückschließen, im Sinne einer von Sebald herausgestrichenen Stelle in Adornos Studie zu Mahler: „An den Tieren wird Menschheit ihrer selbst als befangener Natur inne und ihrer Tätigkeit als verblendeter Naturgeschichte.“21 Da der Erzähler nicht wissen kann, was ein Tier denkt oder fühlt, entspricht seine Beschreibung ihrer mutmaßlichen Stimmung vielmehr seinem eigenen geistigen Zustand:22 Wirklich gegenwärtig geblieben ist mir eigentlich nur der Waschbär, den ich lange beobachtete, wie er mit ernstem Gesicht bei einem Bächlein saß und immer wieder denselben Apfelschnitz wusch, als hoffe er, durch dieses, weit über jede vernünftige Gründlichkeit hinausgehende Waschen entkommen zu können aus der falschen Welt, in die er gewissermaßen ohne sein eigenes Zutun geraten war. Von den in dem Nocturama behausten Tieren ist mir sonst nur in Erinnerung geblieben, daß etliche von ihnen auffallend große Augen hatten und jenen unverwandt forschenden Blick, wie man ihn findet bei bestimmten Malern und Philosophen, die vermittels der reinen Anschauung und des reinen Denkens versuchen, das Dunkel zu durchdringen, das uns umgibt. (A, 6f)

Die zwischen den Text eingeschobenen Bilder von Augenpaaren streichen die Signifikanz der Wörter heraus: Zwei Eulen zwischen „unver_____________ 21 22

Theodor W. Adorno, Mahler, Frankfurt a.M. 1960, S. 17. Diese Technik verwendet er auch anderswo, etwa bei der in Somerleyton eingesperrten Wachtel, die „den Kopf schüttelte, als begreife sie nicht, wie sie in diese aussichtslose Lage geraten sei“ (RS, 50).

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wandt / forschenden“, zwei menschliche Augenpaare (Jan Peter Tripp und Wittgenstein) zwischen „rei- / nen Anschauung“, als ob die Bilder die Reinigkeit des Anschauens verkörperten. Man denke hier an Hegels Bild der Philosophie als die Eule Minervas, die erst in der Abenddämmerung ausfliegt, um das Geschehene in Begriffe zu fassen: So verfährt auch Sebald, indem er die Geschichte Austerlitzens – und damit auch pars pro toto die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts – mit der Perspektive der „dichter werdenden Düsternis“ (A, 10) umhüllt.23 Dies gilt umsomehr für den Bahnhof, den der Erzähler sogleich betritt: „die Sonne [senkte] sich hinter die Dächer der Stadt [...], als ich den Wartesaal betrat“, es begegne ihm „ein unterweltliches Dämmer“ (A, 9). Sebald stellt dadurch die Historiografie – sowie die zentrale Metapher – der „Aufklärung“ auf den Kopf: Sie führe nicht zum Licht, sondern zum Dunkel der hereinbrechenden Nacht. Diese „Dialektik der Aufklärung“ kommt auch in seiner letzten Bemerkung über das Nocturama zum Ausdruck, wo er sich fragt, „ob man bei Einbruch der wirklichen Nacht [...] das elektrische Licht andreht, damit sie [die Tiere] beim Aufgehen des Tages über ihrem verkehrten Miniaturuniversum einigermaßen beruhigt in den Schlaf sinken können“ (A, 8). Sebald knüpft hier an den ganzen Diskurs der Aufklärungskritik an. In seiner Geschichte des Motivs des Sehens in der Moderne fasst Martin Jay die Entwicklung der zentralen Metapher des Lichts bzw. des Sehens folgendermaßen zusammen (bezeichnenderweise in einem Kapitel namens „Dialectic of EnLIGHTenment“): „By the nineteenth century, what many have called the hegemonic scopic regime of the modern era, Cartesian perspectivalism, was beginning to waver as never before.“24 Die Erklärung für diese zunehmende Infragestellung der aufklärerischen Metapher der lumières liege Jay zufolge an „the extraordinary changes in our capacity to see wrought by technology [...] The progressive perfection of artificial illumination allowed virtually everyone to transcend the natural rhythms of light and dark“.25 Jay weist zudem auf Hans Blumenbergs Argument, dass die Sterne wegen der künstlichen Strassenbeleuchtung in der modernen Großstadt nicht mehr zu sehen seien: _____________ 23

24 25

Die im Nocturama eingesperrten Tiere lassen sich auch als Bild der von Adorno und Horkheimer analysierten Entfremdung des Menschen von der Natur lesen. Martin Jay fasst die Dialektik der Aufklärung etwa folgendermaßen zusammen: „The alienation of man from nature so central to the current crisis of Western civilization seemed [to Adorno and Horkheimer] an almost irreversible trend.“ Jay, The dialectical Imagination, S. 266. Martin Jay, Downcast Eyes: The Denigration of Vision in Twentieth-Century French Thought, Berkeley 1993, S. 113. Jay, Downcast Eyes, S. 123.

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The planetarium was invented as a kind of compensation, but it served more as a „mausoleum of the starry heavens as the ideal of pure intuition“. It also contributed, according to Blumenberg, to the confusion of real and simulacrum that is so much a part of contemporary visual experience.26

Das „verkehrte Miniaturuniversum“ des Nocturamas, als erstes Gebäude, das im einem Architekturhistoriker der Moderne gewidmeten Werk beschrieben wird, fungiert ähnlicherweise als symbolträchtiger Ort der Infragestellung des zweischneidigen Erbes der Aufklärung. Bemerkenswert im oben zitierten längeren Auszug aus Austerlitz ist vor allem die Struktur des Erinnerns bzw. des Vergessens, kraft derer Sebald vermag, die Aufmerksamkeit des Lesers auf die zwei von ihm bestimmten Eigenschaften der Tiere zu lenken: das Adorno’sche Gefühl, in die „falsche Welt“ geraten zu sein, und „jenen unverwandt forschenden Blick“, den er in ihren Augen erkennen will. Sebalds vermeintliche Gedächtnisprobleme fungieren als eine Art Filter, die nicht nur gewisse thematische Motive hervorheben, sondern auch verschiedene Orte – die verschiedenen Schichten der Geschichte – miteinander verbinden. Unmittelbar nach der Beschreibung des Nocturamas fährt der Erzähler folgendermaßen fort: Die Bilder aus dem Inneren des Nocturamas sind in meinem Gedächtnis im Laufe der Jahre durcheinandergeraten mit denjenigen, die ich bewahrt habe von der sogenannten Salle des pas perdus in der Antwerpener Centraal Station. (A, 8)

Sebalds Gedächtnis fungiert hier als ein bewusst eingesetzes künstliches Instrument, das ihm den Übergang vom Nocturama in den Bahnhof – und dabei auch in die erste Begegnung mit Austerlitz – ermöglicht. Wichtig ist aber auch, dass er solche Gedächtnisverbindungen erst durch das Vergessen herstellen kann, indem er die „wahren“, getrennten Erinnerungen vergisst, damit die Bilder aus den zwei Orten (dem Nocturama bzw. dem Bahnhof) „durcheinander geraten“ können.27

Die Antwerpener Centraal Station Die Verschmelzung der Erinnerungen hat zur Folge, dass der Bahnhof ins Zeichen des Nocturama gestellt wird, sodass die Verbindung vom „Unwohlsein“ mit „jenem [...] forschenden Blick“ auch für den Bahnhof _____________ 26 27

Jay, Downcast Eyes, S. 123 Für eine weitere Analyse dieser an Nietzsche und Sir Thomas Browne geschulten Problematik des Erinnerns / Vergessens siehe Ben Hutchinson, „,Ein Penelopewerk des Vergessens’? W.G. Sebald’s Nietzschean Poetics of Forgetting“, Forum for Modern Language Studies 45/3 (2009), S. 325-336.

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gilt („versuche ich diesen Wartesaal heute mir vorzustellen, sehe ich sogleich das Nocturama, und denke ich an das Nocturama, dann kommt mir der Wartesaal in den Sinn“). Zwei Seiten widmet Sebald der „Überblendung“ der zwei Gebäude: Löwen und Leoparden, Haifische, Kraken und Krokodile meint er im Bahnhof sehen zu können, der Wartesaal kommt ihm „wie ein zweites Nocturama“ vor. Bemerkenswert ist außerdem, dass der Erzähler sich den Bahnhof, den er am Morgen bei seiner Ankunft „nur undeutlich wahrgenommen hatte“, hier schon zum zweiten Mal anschaut. Dass er das Gebäude erst bei seinem zweiten Besuch näher betrachtet, entspricht der Dialektik seiner Geschichtsperspektive: Erst bei dieser zweiten Analyse dämmert es ihm, inwiefern die Entwicklung der europäischen Baugeschichte auf Ausbeutung, Zerstörung und „Größenwahnsinn“ beruht. Was sieht der Erzähler beim näheren Betrachten des Bahnhofs? Zunächst bemerkt er, „wie weit der unter dem Patronat des Königs Leopold errichtete Bau über das bloß Zweckmäßige hinausreichte“ (A, 8). Dies dürfte man vielleicht als positive Bemerkung verstehen, als Anerkennung der ästhetischen Eigenschaften des Gebäudes, würde nicht sofort auf das „Patronat des Königs Leopold“ verwiesen. Die spätere Schilderung des Brüsseler Justizpalasts – sowie die Nacherzählung von der mit Joseph Conrads Heart of Darkness in Zusammenhang gebrachten belgischen Ausbeutung des Kongo28 in Die Ringe des Saturn – lassen keinen Zweifel daran, dass Sebald Leopold und das damalige Belgien als Vertreter der europäischen Kolonialgeschichte versteht. Der Antwerpener Bahnhof – sowie auch das Nocturama, dessen exotische Tiere an die Einsperrung und Ausschiffung der afrikanischen Tierwelt im Zeitalter des Kolonialismus erinnert – wird dadurch sofort ins Zeichen einer dialektischen Historiografie gestellt: Der „unter dem Patronat des Königs Leopold errichtete Bau“ beruht auf Ausbeutung und Zerstörung. Dass der Erzähler dem Protagonisten Austerlitz zum ersten Mal in diesem Bahnhof begegnet, ist daher konsequent. Austerlitz scheint „jenen [...] forschenden Blick“ der Eulen bzw. der „Maler und Philosophen“ zu haben: „er unterschied [...] sich von den übrigen Reisenden dadurch, dass er als einziger nicht teilnahmslos vor sich hin starrte, sondern beschäftigt war mit dem Anfertigen von Aufzeichnungen und Skizzen“ (A, 10f). Austerlitz entspricht dem Vorbild des Bernhard’schen Helden, dem melancholischen, wissensbegierigen Einzelgänger, der sein Leben der Forschung und Wissenschaft widmet. _____________ 28

Siehe das vierte Kapitel dieser Studie.

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Bei der ersten Begegnung erzählt Austerlitz allerdings so gut wie nichts von seinem eigenen Leben; das Gespräch dreht sich vielmehr „um baugeschichtliche Dinge“. Die Tatsache, dass Austerlitz Architekturhistoriker ist, erlaubt es Sebald, die neuere europäische Geschichte durch die Lupe der Baugeschichte zu betrachten, wobei die Beschreibung des Antwerpener Bahnhofs den Ton sogleich angibt. Zunächst stellt Austerlitz die Entstehungsgeschichte des Bahnhofs ins Zeichen der vergangenen Zeit. Die „Buffetdame“ erinnert ihn an „die Göttin der vergangenen Zeit“, sagt er beiläufig; die „mächtige Uhr“, deren Zifferblatt einst vergoldet war, sei mittlerweile von „Eisenbahnruß und Tabaksqualm“ eingeschwärzt. „Das Vorrücken [des] einem Richtschwert gleichenden Zeigers“ trenne die vergangene Stunde „mit einem derart bedrohlichen Nachzittern“ von der Zukunft ab, „dass einem beinahe das Herz aussetzte“ (A, 13). Dieser Exkurs über die Zeit, die der Entstehungsgeschichte des Bahnhofs unmittelbar vorangeht, bringt die Baugeschichte in Verbindung mit der Naturgeschichte: Einerseits wird der Bahnhof gebaut, andererseits schreitet die Zeit immer weiter voran. Mitten im „Fortschritt“ lauert schon die „Regression“. Die Entstehungsgeschichte des Bahnhofs liest sich als Palimpsest der Sebald’schen Weltanschauung. Der Bahnhof beruht auf den „Kapitalmärkten und Rohstoffbörsen von Brüssel, [wo] die schwindelerregendsten Geschäfte“ gemacht wurden (A, 13); dass dies „in jener weit schon zurückliegenden und doch unser Leben bis heute bestimmenden Zeit“ geschehen ist, erinnert an die Struktur der Ringe des Saturn, wo „die äußeren Kreise [...] immer die inneren determinieren“, wie Sebald selbst gesagt hat.29 Sebald inszeniert die Geschichte des Bahnhofs als einen Kontrast zwischen Damals und Jetzt, zwischen dem damaligen „grenzenlose[n] Optimismus“ und einer heutigen postkolonialistischen Perspektive. Der „anscheinend unaufhaltsame Fortschritt“ (A, 14) von damals ist nach Sebalds Auffassung weder unaufhaltsam (vgl. die Zerstörung des Bahnhofs) noch des Namens „Fortschritt“ würdig (da er auf „Ausbeutung“ [A, 13] beruht). Gerade an dieser Stelle stellt Sebald Canettis Paar „Baulust und Zerstörung“ direkt nebeneinander. Die Fotografie der Kuppel des Bahnhofs unterbricht den Text genau mitten im Wort „Kon-struktion“, als ob der Bahnhof für den Protagonisten Austerlitz erst im Prozess der Konstruktion wäre. Der Erzähler30 stellt dieser Entstehungsgeschichte eine Verfalls_____________ 29 30

Interview: Süddeutsche Zeitung, 22/3/2001. Diese Bezeichnung ist allerdings problematisch: Ist der Verfasser der Fußnote als Erzähler oder als Autor zu verstehen? Steht er innerhalb oder außerhalb des Textes? Sebald spielt wiederum mit dem Status der „Erzählers“ als Zwischenraum zwischen Autor und Protagonisten.

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geschichte gegenüber, indem er den Haupttext mit einer Fußnote buchstäblich untergräbt. Er erinnert sich an einen Aufenthalt in Luzern, wo er einem „mit großer Geschwindigkeit sich ausbreitende[n] und den Kuppelbau gänzlich zerstörende[n] Feuer“ beigewohnt habe. Da dieses Ereignis, trotz der mit der Antwerpener Kuppel kontrastierenden Fotografie, im Grunde so gut wie nichts mit dem Antwerpener Bahnof zu tun hat, kann man nur davon ausgehen, dass Sebald der Entstehungsgeschichte bzw. dem „Fortschritt“ eine Verfallsgeschichte bzw. die „Regression“ entgegensetzen wollte. Die Tatsache, dass sich der Erzähler darüber hinaus als „Mitschuldiger“ fühlt, lässt sich vielleicht durch das obige Spannungsverhältnis verstehen. Hier entwickelt Sebald eine Art Übertreibungskunst des Kapitalismus: Der „Eklektizismus“ (A, 16) des Bahnhofs, den Sebald als „das konsequente Stilmittel der neuen Epoche“ (17) bezeichnet, beruht auf dem „Prinzip der Kapitalakkumulation“ (A, 17). Sebalds Prosa verfolgt an dieser Stelle ein ähnliches Prinzip der Akkumulation, indem die „hierarchische Anordnung der Gottheiten des 19. Jahrhunderts“ vorgeführt wird: „der Bergbau, die Industrie, der Verkehr, der Handel und das Kapital“ (A, 17). Die Symbole der Industrie versinnbildlichen weder die „Natur“, so Austerlitz, noch den menschlichen Fleiß, sondern das besagte Prinzip der Kapitalakkumulation: Der Mensch existiert bloß als Rädchen in der Maschine. Sebald behauptet an dieser Stelle zwar nicht, dass der „anscheinend unaufhaltsame Fortschritt“ in die Regression umkippen wird, er lässt aber Austerlitz über mehrere Seiten hinweg von dieser „dem Welthandel und Weltverkehr geweihten Kathedrale“ (A, 16) dermaßen ins Detail gehen, dass man den Eindruck hat, das „Prinzip der Kapitalakkumulation“ (A, 17) müsse demnächst umschlagen, da es nichts mehr zu akkumulieren gibt. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass die Erzählung der Entstehungsgeschichte des Bahnhofs von Metaphern der Zeit umrahmt ist. Vor seiner Erzählung spricht Austerlitz von der „Göttin der vergangenen Zeit“ (A, 12); nachher greift er wieder auf die Zeit als wichtigstes Symbol der Epoche zurück. Die Zeit, die „erst seit der um die Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgten Gleichschaltung [...] unbestrittenermaßen die Welt“ beherrscht (A, 18), stellt Sebald als barocke vanitas dar: Die Uhr befindet sich über der Treppe – „dem einzigen barocken Element in dem gesamten Ensemble“ (A, 17), wie Austerlitz erklärt – und „als Stadthalterin der neuen Omnipotenz rangiere sie noch über dem Wappen des Königs“, genau als ob sie dem König nach dem alten Gebrauch „memento mori“ ins Ohr flüstern würde. Die Entstehungsgeschichte des Bahnhofs wird also noch einmal vom Schatten der Naturgeschichte begleitet.

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Aus erzähltechnischer Perspektive ist es zudem bemerkenswert, dass der Erzähler den Protagonisten selbst als Erzähler stilisiert: Es war für mich von Anfang an erstaunlich, wie Austerlitz seine Gedanken beim Reden verfertigte, wie er sozusagen aus der Zerstreutheit heraus die ausgewogensten Sätze entwickeln konnte, und wie für ihn die erzählerische Vermittlung seiner Sachkenntnisse die schrittweise Annäherung an eine Art Metaphysik der Geschichte gewesen ist, in der das Erinnerte noch einmal lebendig wurde. (A, 18)

Diese „Metaphysik der Geschichte“ wird oft als Grundlage der Sebald’schen Weltanschauung zitiert. Ohne aber den genaueren Kontext mitzuzitieren, wird man Sebalds Verständnis des Begriffs nicht gerecht: Es ist eben „die erzählerische Vermittlung“, die die Metaphysik der Geschichte zu erschließen vermag, und die seinem ganzen literarischen Unternehmen zugrunde liegt. Sebald mag zwar auf die Kleist’sche „allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ verweisen: Trotzdem konstruiert er seine Sätze nur mit äußerster Sorgfalt.31 Die ganze Baugeschichte – und die damit verbundene Fortschrittskritik – in Austerlitz wird um mindestens „zwei Ecken herum“ erzählt (um auf Sebalds Analyse von Thomas Bernhards Erzähltechnik zurückzukommen): Die Entstehungsgeschichte des Antwerpener Bahnhofs zum Beispiel erreicht den Leser erst über Austerlitz bzw. den Erzähler bzw. den Autor. Diese „Filter des Erzählers“ kommen auch in der Syntax zum Ausdruck: Die Geschichte wird im Konjunktiv, in der indirekten Rede erzählt. Wenn der Erzähler den Protagonisten gelegentlich explizit zitiert, erhält der Text eine Unmittelbarkeit, die umso direkter wirkt, da das Gespräch auf Französisch geführt wird. Der Erzähler meint zum Beispiel, es sei für ihn „unvergesslich geblieben, [wie Austerlitz] sich selber die Frage stellte, combien des ouvriers perirent, lors de la manufacture de telles miroirs, de malignes et funestes affectations à la suite de l’inhalation des vapeurs de mercure et de cyanide“ (A, 19) – wobei die besagte Unvergesslichkeit im Wechsel in die neue Sprache ausgedrückt wird. Solche Passagen bilden jedoch die Ausnahmen, die die Regel bestätigen. In seinem ganzen Werk verzichtet Sebald kein einziges Mal auf die erzählerische Vermittlung: Nie zitiert er direkt Dialog. Erst durch „die erzählerische Vermittlung“ lässt sich die „Metaphysik der Geschichte“ erschliessen.

_____________ 31

„Writing is, for me, an exacting and painstaking business which, however, seems to get steadily harder as one goes along,“ sagte Sebald in einem Interview („Sebastian Shakespeare talks to W.G. Sebald“, Literary Review, no. 280, October 2001, S. 50.)

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Fort Breendonk Das Gespräch über „baugeschichtliche Dinge“ (A, 12) gleitet bald zu einem anderen, ebenfalls problematischen Gebäude hinüber, nämlich dem Fort Breendonk. Ehe Austerlitz aber explizit auf das Fort zu sprechen kommt, hält er eine Art von Vorlesung über „die Entwicklung des Festungsbaus“ (A, 21) bzw. „die Fortifications- und Belagerungskunst“ (A, 22), deren Thema im Grunde die Zweischneidigkeit der menschlichen Geschichte ist. Die Begriffe der „Entwicklung“ und der „Entstehungsgeschichte“ versteht Austerlitz grundsätzlich dialektisch: Ihr Ergebnis besteht aus den berühmten „Schmerzenspuren“ der Geschichte (A, 20). Den Ton seines Vortrags gibt Austerlitz gleich an: Freilich verrieten unsere gewaltigsten Pläne nicht selten am deutlichsten den Grad unserer Verunsicherung. So ließe sich etwa am Festungsbau [...] gut zeigen, wie wir, um gegen jeden Einbruch der Feindesmächte Vorkehrungen zu treffen, gezwungen seien, in sukzessiven Phasen uns stets weiter mit Schutzwerken zu umgeben, so lange, bis die Idee der nach außen sich verschiebenden konzentrischen Ringe an ihre natürlichen Grenzen stoße. (A, 21)

Dass jede Bewegung vorwärts letztendlich einer Bewegung rückwärts gleichkomme, beruht hier zwar auf dem Beispiel der Baugeschichte, knüpft aber auch an grundlegendere Interessen Sebalds an: Die „nach außen sich verschiebenden konzentrischen Ringe“ entsprechen den Ringen des Saturn, wo bekanntlich „die äußeren Kreise [...] immer die inneren determinieren“. Dass wir uns „stets weiter“ mit Schutzwerken umgeben, lässt auf die „innneren“ Kreise – sprich, auf uns, auf den Menschen mitten im Festungsbau – zurückschließen: Je weiter wir uns nach „außen“ entwickeln, desto unsicherer fühlen wir uns nach „innen“. Und noch schlimmer: Der „ganze Wahnsinn“ kann sich Sebald zufolge nur wiederholen. Die einzige Lektion, die man aus der im Jahre 1832 drei Wochen dauernden Belagerung Antwerpen zog, war, „daß man nämlich die Ringanlagen um die Stadt um vieles mächtiger wieder aufbauen und weiter nach draußen verschieben mußte“ (A, 25). Die Geschichte mag also lehren, sie hat aber keine Schüler. Dieser „von Grund auf verkehrte Gedanke“ – dass man sich sichern kann, indem man immer weiter ausbaut – zeichnet nach Austerlitzens Auffassung die ganze Geschichte der Fortifikationskunst aus. Er drückt sich im Übergang im Text vom Bild der Ringe ins Bild des Sterns aus: Gegen Ende des 17. Jahrhunderts habe sich „das sternartige Zwölfeck mit Vorgraben als der bevorzugte Grundriss“ etabliert (22). Eine die Festungsanlage von Vauban im Jahre 1680 darstellende Zeichnung unterbricht das Wort „stern-artig“, genauso wie die Fotografie des Antwerpe-

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ner Bahnhofs das Wort „Kon-struktion“ in zwei bricht. Sebald geht es offenbar darum, den Bildern einen performativen Rahmen der wichtigsten Begriffe zu geben: Indem er den Text genau an solchen Stellen unterbricht, gelingt es ihm, die Aufmerksamkeit des Lesers auf die unterbrochenen Wörter zu lenken: „Kon-struktion“ wird dekonstruiert, „das sternartige Zwölfeck mit Vorgraben“ wird untergraben. Das Motiv des Sterns kehrt im Laufe des Werks immer wieder zurück. Im Museum von Terezín sieht der Erzähler „das gerahmte Grundschema der sternförmigen Festung“, die er bezeichnenderweise als „das Modell einer von der Vernunft erschlossenen, bis ins geringste geregelten Welt“ beschreibt (A, 284). Die Bezeichnung der Festung als den Gipfel der Vernunft ist als Kritik am rationalen Fortschrittsglauben der Aufklärung zu verstehen, zumal das Ghetto von Theresienstadt nach genau einem solchen Modell konzipiert wurde. Der Schilderung des Ghettos, die einen einzigen, sich über zehn Seiten hinziehenden Satz beansprucht, geht eine über zwei Seiten ausgebreitete Skizze der Stadt voraus (A, 332f), die man nur als „sternförmig“ beschreiben kann. Das Verhältnis zwischen Breendonk und Theresienstadt stellt Sebald damit nicht nur thematisch (durch das Dritte Reich), sondern auch stilistisch und baugeschichtlich dar: Die Baukunst der Aufklärung, so Sebald, gipfelt unweigerlich in solchen sternförmigen, „krebsartigen“ (A, 32) Monstrositäten. Bevor sich der Erzähler aber das Fort Breendonk persönlich anschauen kann, fährt Austerlitz zunächst mit seinem Vortrag fort, der die Weichen für Sebalds Deutung der Baugeschichte stellt. Austerlitz liest die „Sternfestungen“ einerseits als Foucault’sche Machtsymbole, als „Emblem der absoluten Gewalt“ (A, 23), andererseits als Symbole der Blindheit der Aufklärung, die schon den Keim ihrer eigenen Selbstzerstörung in sich trug: In der Praxis der Kriegsführung [...] hätten [...] die Sternfestungen, die im Lauf des 18. Jahrhunderts überall gebaut und vervollkommnet wurden, ihren Zweck nicht erfüllt, denn fixiert, wie man auf dieses Schema war, habe man außer acht gelassen, daß die größten Festungen naturgemäß auch die größte Feindesmacht anziehen, daß man sich, in eben dem Maß, in dem man sich verschanzt, tiefer und tiefer in die Defensive begibt.. (A, 23)

Stilistisch gesehen sind an dieser Passage zwei Eigenschaften hervorzuheben: das Adverb „naturgemäß“ und die dialektische Syntax. Die zwei Merkmale passen in Sebalds Prosa häufig zusammen, da sie auf syntaktischer Ebene sein Interesse an der Naturgeschichte und der Dialektik zusammenbringen. Das Adverb „naturgemäß“ entnimmt Sebald dem Werk Thomas Bernhards, der bekanntlich ein Faible für das Wort hatte: In seinem Exemplar der Novelle Ja umkringelt Sebald das Wort wieder-

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holt.32 Die charakteristische Wiederholung des Adverbs in Bernhards Werk bildet nicht nur eine stilistische Idiosynkrasie, sondern auch eine Art von Kommentar zur condition humaine: Keiner entkommt seiner eigenen Natur oder Herkunft; wir sind alle der Naturgeschichte ausgeliefert.33 Am Rand der Novelle schreibt Sebald sogar die Gleichung „naturgemäß = Fatalität“. Stilistischer Einfluss verbirgt damit thematische Ähnlichkeiten. Was heißt hier „naturgemäß“? Spezifisch betrachtet, bezieht sich das Wort auf die „Festungen“, die, obwohl gebaut, vor Feinden zu schützen, eben diese Feinde anziehen. Im breiteren Kontext bezieht sich das Adverb auf die ganze Entwicklung der Aufklärung, auf den „Lauf des 18. Jahrhunderts“, dem eine in der Syntax inhärente Dialektik zugrunde liegt. Genau wie die Festungen im Grunde ihre eigene Zerstörung vorbereiteten (indem sie immer weiter ausgebaut wurden), so enthielt auch die Moderne den Keim ihrer eigenen Zerstörung. Die Entwicklungsgeschichte der Festungen ist als Metapher bzw. als mise-en-abyme des Fortschrittsglaubens der Aufklärung zu lesen, eine Schlussfolgerung, die sich vor allem durch Sebalds Syntax belegen lässt, durch die Partizipien, die den Prozess der Entwicklung bzw. der Zerstörung beschreiben. Austerlitz behauptet etwa daß man sich gerade durch das Ergreifen von Befestigungsmaßnahmen [...] die entscheidende, dem Feind Tür und Tor öffnende Blöße gegeben habe, ganz zu schweigen von der Tatsache, daß mit den immer komplizierter werdenden Bauplänen auch die Zeit ihrer Realisierung und somit die Wahrscheinlichkeit zunahm, daß die Festungen bereits bei ihrer Fertigstellung, wenn nicht schon zuvor, überholt waren durch die inzwischen erfolgte Weiterentwicklung der Artillerie und der strategischen Konzepte, die der wachsenden Einsicht Rechnung trugen, daß alles sich in der Bewegung entschied und nicht im Stillstand. (A, 23f)

Die „immer komplizierter werdenden Baupläne“ bezeichnen den Fortschritt nicht als lineare Teleologie, sondern als dialektisches Gegenstück zur „wachsenden Einsicht [...], „daß alles sich in der Bewegung entschied und nicht im Stillstand.“ Die Festungen können mit der „Weiterentwicklung der Artillerie“ nicht Schritt halten, sie sind schon „bei ihrer Fertigstellung [...] überholt“. Diese ständige Weiterentwicklung hätte bald ins Absurde ausufern können: Austerlitz fragt den Erzähler etwa, „ob nicht das durch die rapide industrielle und kommerzielle Entwicklung eingeleitete _____________ 32 33

Siehe Ordnung. Eine unendliche Geschichte, Marbacherkatalog 61 (2007), S. 195. Das Adverb lässt sich auch als gezielte Betonung des Organischen verstehen. Im Laufe des Romans wendet Sebald wiederholt ein organisches Idiom auf die anorganische Welt von Gebäuden und Städten, als er z.B. den Eindruck habe, „dass der Körper der Stadt befallen sei von einer obskuren, unterirdisch fortwuchernden Krankheit“ (A, 405). Johannsen schreibt:: „Durch den Gebrauch biomorpher Metaphern, die Beschreibung der Metropole als Geschwüre und krankhafte Auswüchse und die Bezugnahme zum Sumpf und den Gesteinsschichten wird das Verhältnis von Geschichte und Natur berührt“ (Johannsen, Kisten. Krypten. Labyrinthe, S. 70).

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Wachstum Antwerpen über das alte Stadtgebiet hinaus es erfordere, die Linie der Forts um drei Meilen weiter noch hinauszulegen, wodurch sie freilich mehr als dreißig Meilen lang geworden [...] wäre, mit der Folge, daß die gesamte belgische Armee nicht ausgereicht hätte, um eine adäquate Besatzung für diese Anlage zu stellen“ (A, 26). Unter dem Druck der ständigen industriellen Weiterentwicklung hat der Mensch immer mehr das Nachsehen: Dies ist auch eine der Hauptlektionen von Luftkrieg und Literatur, wo Sebald von der Überhandnahme der allierten Kriegsmaschine spricht, die dazu führte, dass es letztendlich einfacher war, teure Bomben unnötigerweise über Deutschland hinauszuwerfen, als sie nach England zurückzufliegen. Man bombte sich in die Naturgeschichte zurück: [Der amerikanische Brigadier] Andersons Erklärungen gipfeln in einer Aussage, in der die notorisch irrationale Spitze aller rationalistischen Argumentation sichtbar wird. Er verweist darauf, daß es sich bei den mitgeführten Bomben letztlich um „teure Ware“ handelt. „Man kann das praktisch auch nicht auf die Berge oder das freie Feld hinschmeißen, nachdem es mit viel Arbeitskraft zu Hause hergestellt ist.“ Die Konsequenz der übergeordneten Produktionszwänge, denen sich – selbst bei bestem Willen – weder verantwortliche einzelne noch Gruppen zu entziehen vermögen, ist die ruinierte Stadt [...] Aus unserer, wie wir so lange meinten, autonomen Geschichte [...] sinken [wir] in die Geschichte der Natur zurück. (LL, 71f)

Dass der vermeintliche Fortschritt durch die Überhandnahme der Technologie in die Regression umschlägt, wobei die Geschichte in die Naturgeschichte zurücksinkt, entspricht einer der von Sebald angestrichenen Grundthesen der aus dem Geist des zweiten Weltkriegs geborenen Dialektik der Aufklärung: „Jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, gerät nur um so tiefer in den Naturzwang hinein. So ist die Bahn der europäischen Zivilisation gelaufen.“34 Die Dialektik zieht sich wie ein roter Faden durch Austerlitz: Austerlitzens Interesse an der Architekturgeschichte beruht letzten Endes auf ihrem Status als Metapher dieser Dialektik: Für mich war die Welt mit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts zu Ende. Darüber wagte ich mich nicht hinaus, trotzdem ja eigentlich die ganze Bau- und Zivilisationsgeschichte des bürgerlichen Zeitalters, die ich erforschte, in die Richtung der damals bereits sich abzeichnenden Katastrophe drängte. (A, 201)

Gipfel und letztes Sinnbild dieser Katastrophe ist für Austerlitz das Fort Breendonk. Solche Riesengebäude (und hier führt er auch den Brüsseler Justizpalast zum ersten Mal an) können niemandem gefallen, meint er. „Man staune [sie] bestenfalls an, und dieses Staunen sei bereits eine Vorform des Entsetzens, denn irgendwo wüßten wir natürlich, daß die ins _____________ 34

Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, S. 18.

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Überdimensionale hinausgewachsenen Bauwerke schon den Schatten ihrer Zerstörung vorauswerfen und konzipiert sind von Anfang an im Hinblick auf ihr nachmaliges Dasein als Ruinen“ (A, 27f). Hier knüpft Sebald wieder an Sir Thomas Browne an, dessen Wörter er in seiner Ausgabe von der Religio Medici anstreicht, um sie dann in den Ringen des Saturn zu zitieren: Auf jeder neuen Form liegt schon der Schatten der Zerstörung. Es verläuft nämlich der Geschichte jedes einzelnen, die jedes Gemeinwesens und die der ganzen Welt nicht auf einem stets weiter und schöner sich aufschwingenden Bogen, sondern auf einer Bahn, die, nachdem der Meridian erreicht ist, hinunterführt in die Dunkelheit (A, 35f).

Es haftet etwas Allegorisches an Breendonk bzw. dem Brüsseler Justizpalast, das einem erlaubt, solche Bauwerke als mises-en-abyme des ganzes Buches zu lesen: Dass sie „von Anfang an im Hinblick auf ihr nachmaliges Dasein als Ruinen“ konzipiert seien, erinnert an Walter Benjamins berühmte Gleichsetzung von Ruinen mit Allegorien: „Allegorien sind im Reiche der Gedanken was Ruinen sind im Reiche der Dinge“.35 Dass das Schicksal solcher Bauwerke als Ruinen schon in ihrer Natur liegt, dass es ihnen sozusagen naturgemäß anhaftet, bezeichnet sie im Benjaminischen Sinne als Allegorien der Naturgeschichte. Benjamin spricht von der „Wendung von Geschichte in Natur, die Allegorischem zugrunde liegt“, von der „sonderbaren Verschränkung von Natur und Geschichte“, die den „allegorischen Ausdruck“ bezeichnet. „Naturgeschichte“ ist also der gemeinsame Nenner: Das Allegorische an Sebalds Bauwerken bzw. Ruinen ist die Tatsache, dass sie schon bei ihrer Konstruktion „den Schatten der Zerstörung“ in sich tragen, dass sie zu organischen Wesen werden, die einem organischen Todesurteil unterliegen. Sebald geht dementsprechend weiter als Browne: J.J. Long suggeriert, dass „the idea of a pathological nature that has become autonomous from God” darauf hindeutet, dass Sebald Browne verfälscht habe: Sebald „transfigur[es] [...] Browne’s cosmology into a negative secular metaphysics that is more in tune with the philosophy of history that emerges as Sebald’s text progresses“.36 Hauptträger dieser Geschichtsphilosophie ist nach wie vor Sebalds Syntax. Den Übergang von Vernunft in Unvernunft drückt der Erzähler in seiner ersten Reaktion auf die Festung aus: „je länger ich meinen Blick auf sie gerichtet hielt und je öfter ich mich, wie ich spürte, zwang, ihn vor _____________ 35 36

Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, Frankfurt a.M. 1972, S. 197. Long, W.G. Sebald – Image, Archive, Modernity, S. 37f. Auch Holger Steinmann suggeriert, dass Sebald die Zitate aus Brownes Werk verfälscht hat (siehe Holger Steinmann, „Zitatruinen unterm Hundsstern“, in: W.G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei, S. 145-56).

Fort Breendonk

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ihr zu senken, desto unbegreiflicher wurde sie mir“ (A, 30). Als er weiter in die Festung eindrängt, bedient er sich einer ähnlichen dialektischen Struktur, als er beschreibt, wie „mit jedem Schritt, den ich mache, die Atemluft weniger und das Gewicht über mir größer wird“ (A, 35f). Zudem verwendet er noch einmal eine Version der rhetorischen Figur der occupatio. Dem Erzähler fällt es schwer, sich den Umgang der Häftlinge mit den „von einer gewiß auch in der damaligen Zeit furchterregenden Primitivität“ gekennzeichneten Schubkarren vorzustellen: Es war mir undenkbar, wie die Häftlinge, die wohl in den seltensten Fällen nur vor ihrer Verhaftung und Internierung je eine körperliche Arbeit geleistet hatten, diesen Karren, angefüllt mit dem schweren Abraum, über den von der Sonne verbrannten, von steinbaren Furchen durchzogenen Lehmboden schieben konnten oder durch den nach einem Regentag bereits sich bildenden Morast, undenkbar, wie sie gegen die Last sich stemmten, bis ihnen beinah das Herz zersprang... (A, 33)

Es mag ihm zwar „undenkbar“ sein, wie er wiederholt beteuert, er stellt sich die Szene trotzdem in genauestem Detail vor. Ein ähnliches Paradoxon ergibt sich kurz danach, als er sich über die bestürzende Schnelligkeit des Vergessens beklagt. Der Satz ist ein Musterbeispiel des Sebald’schen Prosastils und verdient als solches, ausführlich zitiert zu werden: Selbst jetzt, wo ich mich mühe, mich zu erinnern, [...] löst sich das Dunkel nicht auf, sondern verdichtet sich bei dem Gedanken, wie wenig wir festhalten können, was alles und wieviel ständig in Vergessenheit gerät, mit jedem ausgelöschten Leben, wie die Welt sich sozusagen von selber ausleert, indem die Geschichten, die an den ungezählten Orten und Gegenständen haften, welche selbst keine Fähigkeit zur Erinnerung haben, von niemandem je gehört, aufgezeichnet oder weitererzählt werden, Geschichten zum Beispiel, das kommt mir jetzt beim Schreiben zum erstenmal seit jener Zeit wieder in den Sinn, wie von den Strohsäcken, die schattenhaft auf den übereinandergestockten Holzpritschen lagen und die, weil die Spreu in ihnen über die Jahre zerfiel, schmäler und kürzer geworden waren, zusammengeschrumpft, als seien sie die sterblichen Hüllen derjenigen, so erinnere ich mich jetzt, dachte ich damals, die hier einst gelegen hatten in dieser Finsternis. (A, 34f)

Bezeichnend für Sebalds Stil ist die Tatsache, dass er sich zwar über die Schnelligkeit des Vergessens beklagt, dadurch aber der Vergangenheit wieder zur Erinnerung verhilft. Der Satz pendelt in einer ständigen Dialektik zwischen den zwei Polen des Erinnerns und des Vergessens: Der Rhythmus des einen langen Satzes erlaubt es Sebald, das Erinnern bzw. das Vergessen als dialektisch bedingt, als voneinander abhängig darzustellen. Indem er sich bemüht, sich zu erinnern, verdichtet sich „das Dunkel“; indem er sich über die in Vergessenheit gefallene Vergangenheit beklagt, erinnert er sich zwangsläufig wieder. Die Struktur des Satzes beruht auf

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„Baulust und Zerstörung“. Fortschrittskritik in der Baugeschichte

Konjunktion wie „indem“, „wie“ und „zum Beispiel“, die es dem Erzähler erlauben, die zwei Seiten der Dialektik darzustellen. Charakteristisch für Sebalds Prosastil sind außerdem die kurzen eingeschobenen Phrasen „das kommt mir jetzt beim Schreiben zum erstenmal seit jener Zeit wieder in den Sinn“ und „so erinnere ich mich jetzt, dachte ich damals“. Solche Phrasen dienen nicht nur dazu, den Erzähler selbst als Protagonisten zu bezeichnen, sie definieren den Akt des Erzählens als Ort der Erinnerung: Erst beim Schreiben kommt die Geschichte von den Strohsäcken zum Ausdruck, erst durch „die erzählerische Vermittlung“ lässt sich die „Metaphysik der Geschichte“ erschließen. Sebalds allmähliche Erinnerung der Gedanken beim Schreiben mag einerseits auf den Schichten der Geschichte, auf der Vergangenheit des Ereignisses und ihrer nachträglichen Rezeption beim Erzählen bestehen, andererseits legt sie Vergangenheit und Gegenwart zusammen, indem sie das damalige Denken und das gegenwärtige Erinnern („so erinnere ich mich jetzt, dachte ich damals“) übereinanderlagert.

Der Brüsseler Justizpalast Kurz nach der ersten Begegnung in Antwerpen begegnen sich Austerlitz und der Erzähler in der Nähe von Lüttich. Im ironisch genannten Café des espérances fährt Austerlitz mit seinem „Diskurs“ sogleich fort. Genau wie die Beschreibung des Fort Breendonk von Austerlitzens Sätzen über „den Schatten ihrer Zerstörung“ vorweggenommen wurde, so wird der Brüsseler Justizpalast ins Zeichen einer dialektischen Historiografie gestellt, als Austerlitz dem Erzähler erklärt, wie im Verlauf des 19. Jahrhunderts die in den Köpfen philanthropischer Unternehmer entstandene Vision einer idealen Arbeiterstadt unversehens übergegangen war in die Praxis der Kasernierung, wie ja immer, so erinnere ich mich, sagte Austerlitz, unsere besten Pläne im Zuge ihrer Verwirklichung sich verkehrten in ihr genaues Gegenteil. (A, 41f)

Die Beschreibung der „Arbeiterstadt“ Lüttich fungiert als Übergang zwischen Breendonk und Brüssel. Die Syntax ist wiederum typisch: Die Konjunktion „im Verlauf“ erlaubt es Sebald, den Umschlag des vermeintlichen Fortschrittes (die „Vision einer idealen Arbeiterstadt“) in die eigentliche Regression (die „Praxis der Kasernierung“) im Zeitrahmen der Moderne zu verorten. Wie Breendonk verkörpert auch der Justizpalast das Muster. Austerlitz stellt ihn als monströsen Auswuchs der belgischen Bourgeoisie dar, als Sinnbild der ins Absurde übertriebenen „Rationalisierung“ des 19. Jahrhunderts: Der Erzähler berichtet etwa, dass es Austerlitz zufolge „Korridore und Treppen gäbe, die nirgendwo hinführten, und türlose

Die Bibliothèque Nationale

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Räume und Hallen, die von niemandem je zu betreten seien und deren ummauerte Leere das innerste Geheimnis sei aller sanktionierten Gewalt“ (A, 43). Vernunft schlägt – auch wenn solche Geschichten apokryph seien – in „sanktionierte Gewalt“ um. Austerlitzens in langen verschachtelten Sätzen beschriebene Versuche, in die inneren Gemächer des Palastes vorzudringen, erinnern unweigerlich an Kafkas K. in Das Schloss, wo das Gebäude ähnlicherweise als Allegorie einer in die Irre gegangenen Rationalisierung der Gewalt fungiert.

Die Bibliothèque Nationale Inbegriff dieser Irrationalität in der zweiten Hälfte des Buches ist die neue Pariser Bibliothèque Nationale. Austerlitz prangert ihren „Monumentalismus“ an, er beschreibt sie als ein „menschenabweisende[s] und den Bedürfnissen jedes wahren Lesers von vornherein kompromißslos entgegengesetzte[s] Gebäude“ (A, 388). Nach seinen offenbar höchst unbefriedigenden Erfahrungen in der neuen Bibliothek gelangt Austerlitz zu dem Schluss, daß in jedem von uns entworfenen und entwickelten Projekt die Größendimensionierung und der Grad der Komplexität der ihm einbeschriebenen Informationsund Steuersysteme die ausschlaggebenden Faktoren sind und daß demzufolge die allumfassende, absolute Perfektion des Konzepts in der Praxis durchaus zusammenfallen kann, ja letztlich zusammenfallen muß mit einer chronischen Dysfunktion und mit konstitutioneller Labilität. (A, 394f)

Je größer der Fortschritt, desto ungeheuerer die „Dysfunktion“, lässt Sebald Austerlitz unterstellen. Als Austerlitz ins Gespräch mit einem Bibliotheksangestellten kommt, ist das Gesprächsthema wiederum eine Variation der gleichen Dialektik, „die im Gleichmaß mit der Proliferation des Informationswesens fortschreitende Auflösung unserer Erinnerungsfähigkeit [...] und den bereits sich vollziehenden Zusammenbruch [...] de la bibliothèque nationale“ (A, 400). Das neue Bibliotheksgebäude versuche, „den Leser als einen potentiellen Feind auszuschließen“ (A, 400): Gegen den Fortschritt der Technologie hat der Mensch noch einmal das Nachsehen.37 Die „fortschreitende Auflösung unserer Erinnerungsfähigkeit“ lässt sich darüber hinaus nicht nur bei solchen „Riesengebäuden“, sondern _____________ 37

J.J. Long weist darauf hin, dass das „Förderband“, das die Besucher ins Untergeschoss der Bibliothek transportiert, „demonstrat[es] by its proximity to Fließband [...] the similarity of the library to processes of industrial production“. Long, W.G. Sebald – Image, Archive, Modernity, S. 10.

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„Baulust und Zerstörung“. Fortschrittskritik in der Baugeschichte

auch in der Person des Protagonisten nachvollziehen. Einerseits begibt er sich auf der Suche nach seiner eigenen Vergangenheit, nach dem Schicksal seiner Eltern; andererseits zweifelt er immer wieder am Erfolg seines Unternehmens, an der Möglichkeit einer solchen Rekonstruktion. Seine Zweifel manifestieren sich vor allem in einer Art Sprachskepsis, einem Unbehagen mit seiner eigenen Forschung, das sich in der vertrauten dialektischen Syntax ausdrückt: Je größer die Mühe, die ich über Monate hinweg an dieses Vorhaben wandte, desto kläglicher dünkten mich die Ergebnisse und desto mehr ergriff mich, schon beim bloßen Öffnen der Konvolute und Umwenden der im Laufe der Zeit von mir beschriebenen ungezählten Blätter, ein Gefühl des Widerwillens und des Ekels, sagte Austerlitz. (A, 176)

Selbst wenn er mit seinen Forschungen allmählich vorankommt, schwingt der gleiche dialektische Rhythmus immer mit: Er erinnert sich zum Beispiel daran, dass er sich immer wieder in der alten Bibliothèque Nationale in den Fußnoten der zu studierenden Werke verlor, „sowie in deren Anmerkungen und so immer weiter zurück, aus der wissenschaftlichen Beschreibung der Wirklichkeit bis in die absonderlichsten Einzelheiten, in einer Art von ständiger Regression, die sich in der bald vollkommen unübersichtlichen Form meiner immer mehr sich verzweigenden und auseinanderlaufenden Aufzeichnungen niederschlug“ (A, 367).

Das architektonische Idiom der Sprachskepsis Sebald selbst hat seine eigenen „schriftstellerischen Skrupel“ dermaßen ähnlich beschrieben, dass man in der Annahme, er bezieht sich in solchen Passagen auch auf sich selbst, wohl nicht fehl geht. Diese Dialektik kennzeichnet außerdem nicht nur das Schreiben bzw. die Literatur, sondern auch die Geschichte bzw. die Historiografie, wie der Geschichtslehrer Hilary behauptet: Wir versuchen die Wirklichkeit wiederzugeben, aber je angestrengter wir es versuchen, desto mehr drängt sich uns das auf, was auf dem historischen Theater von jeher zu sehen war: der gefallene Trommler, der Infanterist, der gerade einen anderen niedersticht [...] Unsere Beschäftigung mit der Geschichte [...] sei eine Beschäftigung mit immer schon vorgefertigten, in das Innere unserer Köpfe gravierten Bildern, auf die wir andauern starrten, während die Wahrheit irgendwoanders, in einem von keinem Menschen noch entdeckten Abseits liegt (A, 105).

Man vergleiche eine solche Passage mit Sebalds schon zitierten eigenen Zweifeln: „Je mehr Bilder aus der Vergangenheit ich versammle, [...] desto unwahrscheinlicher wird es mir, daß die Vergangenheit auf diese Weise sich abgespielt haben soll“ (SG, 231). Historiografische Bedenken werden

Das architektonische Idiom der Sprachskepsis

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a fortiori auf das literarische Schreiben angewandt: Je mehr er nach der Wahrheit greift, desto weniger lässt sie sich ergreifen. Die Sprachkrise, an der Austerlitz gelegentlich leidet, muss man allerdings nicht nur im Kontext der Geschichte, sondern spezifisch der Architekturgeschichte verstehen. Dass er die Sprache mit einer Stadt vergleicht, ist auf seinen Beruf als Architekturhistoriker zurückzuführen: Wenn man die Sprache ansehen kann als eine alte Stadt, mit einem Gewinkel von Gassen und Plätzen, mit Quartieren, die weit zurückreichen in die Zeit, mit abgerissenen, assanierten und neuerbauten Vierteln und immer weiter ins Vorfeld hinauswachsenden Außenbezirken, so glich ich selbst einem Menschen, der sich, aufgrund einer langen Abwesenheit, in dieser Agglomeration nicht mehr zurechtfindet (A, 179)

Das Idiom seiner Sprachkrise knüpft an die Beschreibung von Gebäuden und Städten in Die Ausgewanderten an: Dass Austerlitz sich „kein Wort, das nicht ausgehöhlt klang“ vorstellen könne, erinnert an das von Ambros bewohnte, „unter der Oberfläche restlos bereits ausgehöhlt[e]“ Sanatorium, oder an die Bezeichnung von Manchester als die „beinahe restlos ausgehöhlte Wunderstadt aus dem letzten Jahrhundert“. Austerlitz behauptet, dass er außerstande war, [einen Gedanken] festzuhalten, denn sowie ich nur den Bleistift ergriff, schrumpften die unendlichen Möglichkeiten der Sprache [...] zu einem Sammelsurium der abgeschmacktesten Phrasen zusammen. Keine Wendung im Satz, die sich dann nicht als eine jämmerliche Krücke erwies, kein Wort, das nicht ausgehöhlt klang und verlogen. (A, 177)

Er vergleicht sich mit einem „Hochseilartisten“, der der Verlockung, sich in die Tiefe zu stürzen, kaum widerstehen kann: Er spricht von einem „Persönlichkeitsverfall“, einem „Panikgefühl“, einer „in mir bereits fortwirkende[n] Krankheit“ – Begriffe, die unweigerlich an Hofmannsthals Chandos erinnern. Man vergleiche die folgenden berühmten Sätze aus dem Chandos-Brief mit Sebalds Prosa: „Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen”, behauptet Chandos. „Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen, die mich anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muß: Wirbel sind sie, in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt.”38 Sebald schreibt seinerseits: _____________ 38

Hugo v. Hofmannsthal, „Ein Brief“, in: Der Brief des Lord Chandos: Schriften zur Literatur, Kunst und Geschichte, Ditzingen 2000, S. 52. Auch in Die Ringe des Saturn verweist Sebald direkt auf den Chandos-Brief: Am Ende des siebten Kapitels beschreibt er „ein[en]

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„Baulust und Zerstörung“. Fortschrittskritik in der Baugeschichte

Nirgends sah ich mehr einen Zusammenhang, die Sätze lösten sich auf in lauter einzelne Worte, die Worte in eine willkürliche Folge von Buchstaben, die Buchstaben in zerbrochene Zeichen und diese in eine bleigraue, da und dort silbrig glänzende Spur, die irgendein kriechendes Wesen abgesondert und hinter sich hergezogen hatte und deren Anblick mich in zunehmenden Maße erfüllte mit Gefühlen des Grauens und der Scham. (A, 180)

Die Verortung der Sprachkrise im Bild einer selbstständigen Stadt hat schließlich ihre Schattenseite im Ghetto von Theresienstadt. Sprache und Baugeschichte werden hier aufs Engste verbunden: Dem sich über zehn Seiten ausdehnenden Satz, der das Ghetto beschreibt, schickt Austerlitz seine Verwunderung über den Jargon der Nazis voraus: Silbenweise mußte ich die in meinem Lexikon nicht aufgeführten, vielfach zusammengesetzten Komposita enträtseln, die von der in Theresienstadt alles beherrschenden Fach- und Verwaltungssprache der Deutschen offenbar fortlaufend hervorgebracht wurden. (A, 334)

Nachdem er die Bedeutung von Begriffen wie „Reinlichkeitsreihenuntersuchung oder Entwesungsübersiedlung“ herausbekommen hat, so bleibt er bei dem gleichen Problem des „Zusammenhangs“ hängen: So mußte ich [...] mit ebensolcher Anstrengung versuchen, den von mir rekonstruierten präsumtiven Sinn einzuordnen in die jeweiligen Sätze und in den weiteren Zusammenhang, der mir wieder zu entgleiten drohte, [...] weil das Ghettosystem in seiner gewissermaßen futuristischen Verformung des gesellschaftlichen Lebens für mich den Charakter des Irrealen behielt, trotzdem es Adler ja beschreibt bis in das letzte Detail und in seiner ganzen Tatsächlichkeit. (A, 334f)

Seine Sprachkrise lässt sich damit als eine Variation des Problems des jüdischen Nachkriegsdichters lesen: Wie schreibt man in der kontaminierten Sprache der Nazis weiter? Die Dialektik der Baugeschichte, die wie das Motiv der Seide in Die Ringe des Saturn das ganze Werk zusammenwebt, vermittelt hier zwischen Faktum und Fiktion: Die Vergangenheit ist eine „futuristische Verformung“, die „Tatsächlichkeit“ hat „den Charakter des Irrealen“. Die Brutalität solcher Fakten kann man nur als Fiktion verstehen: Indem sie die Vorstellungskraft sprengt, kippt die Baugeschichte in die Surrealität um. Solche Reaktionen auf die Baugeschichte der Moderne – vonseiten des Erzählers sowie des Protagonisten – veranschaulichen auf konkrete Weise die Fortschrittskritik, die in Sebalds Werk auch syntaktisch nachzuvollziehen ist. „Zerstörung“, um mit Canetti zu sprechen, ist die unausweichliche Kehrseite der „Baulust“. Die Tatsache, dass die von Sebald vorgestellten Gebäude und Städte schon bei der Konstruktion „im Schat_____________ Schwimmkäfer [der] auf dem Spiegel des Wassers ruderte von einem dunklen Ufer zum andern“ (RS, 228). Chandos schreibt seinerseits von „ein[em] Schwimmkäfer, der auf dem Spiegel dieses Wassers von einem dunklen Ufer zum andern rudert“ (Hofmannsthal, S. 53).

Das architektonische Idiom der Sprachskepsis

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ten der Zerstörung“ stehen, bildet schließlich das Gegenstück zum Protagonisten Austerlitz, dessen Leben ebenso auf falschen Fundamenten beruht. Wenn Austerlitzens wiederholte Behauptung, er sei in ein falsches Leben geraten (siehe S. 7, S. 302 und S. 357), als versteckte Anspielung auf Adornos Minima Moralia zu erkennen ist,39 so zeigt auch Sebalds Schilderung der Baugeschichte der Moderne, dass es kein richtiges Leben im falschen gibt.40

_____________ 39 40

Siehe Long, W.G. Sebald – Image, Archive, Modernity, S. 158. „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“. Theodor W. Adorno, Minima Moralia, Frankfurt a.M. 1951, S. 43.

Das „selbstzerstörerische Geschäft des Schreibens“ Fortschrittskritik in der Literaturgeschichte Nach der Untersuchung von Sebalds literarischer Deutung der Natursowie der Baugeschichte gilt es in diesem Kapitel, seinem Verständnis der Literaturgeschichte selbst nachzugehen. Dies setzt voraus, dass man auch seine eigene Selbstwahrnehmung als Schriftsteller unter die Lupe nimmt: Immer wieder wird in seinen Schriftstellerporträts sein eigenes Schicksal als Dichter und Gelehrter widerspiegelt. Sebalds Verständnis des Schreibens erweist sich als zweischneidiges Schwert, das Ähnlichkeiten – sowohl stilistisch als auch thematisch – mit einer postkolonialistischen Fortschrittskritik aufweist. Die verschiedenen Schriftsteller, die im Laufe seines literarischen und literaturwissenschaftlichen Werkes angeführt werden, werden alle der gleichen Fortschrittskritik unterzogen wie die moderne Kolonialgeschichte: Die von Adorno und Horkheimer entliehenen Begriffe „Fortschritt“ und „Regression“ bleiben weiterhin die zwei Pole von Sebalds Stil.

Die „Kunst des Schreibens“ Die Ringe des Saturn liefert bekanntlich das Paradebeispiel einer kreisartigen Bewegung. Das Bild der „Ringe“ suggeriert genau den Kreislauf, dem der Erzähler ausgesetzt ist: Wenn man in Ringen geht, wie er es in Suffolk tut, dann ist jeder Schritt vorwärts buchstäblich auch ein Schritt rückwärts. Adornos Beschreibung von Schuberts Winterreise, die Sebald in seinem Exemplar von Moments Musicaux anstreicht, bringt die Dialektik auf den Punkt: Der exzentrische Bau jener Landschaft, darin jeder Punkt dem Mittelpunkt gleich nah liegt, offenbart sich dem Wanderer, der sie durchkreist, ohne fortzuschreiten: alle Entwicklung ist ihr vollkommenes Widerspiel, der erste Schritt liegt so nahe beim Tod wie der letzte, und kreisend werden die dissoziierten Punkte der Landschaft abgesucht, nicht sie selber verlassen.1

_____________ 1

Theodor W. Adorno: „Schubert“, in: Moments musicaux, Frankfurt a.M. 1964, S. 26.

Die „Kunst des Schreibens“

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Die Dialektik lässt sich außerdem auch an den von ihm vorgestellten Protagonisten erblicken. Man muss die Protagonisten nicht unbedingt als mises-en-abyme von Sebald selbst lesen, um das Muster erkennen zu können. Sebalds Beschreibung des Malers Max Aurach, dessen Stil sowohl auf Aufbewahrung als auch auf Auslöschung der Vergangenheit zielt, veranschaulicht beispielsweise die „schriftstellerischen Skrupel“, die Sebald später Flaubert zuschreibt (RS, 16). Zunächst beschreibt er Aurachs Atelier: Das in den Ecken angesammelte Dunkel, der salzfleckige, aufgequollene Kalkputz und der abblätternde Anstrich der Wände, die mit Büchern und Stapeln von Zeitungen überfrachteten Stellagen, die Kästen, Werkbänke und Beistelltische, der Ohrensessel, der Gasherd, das Matratzenlager, die ineinander verschobenen Papier-, Geschirr- und Materialberge, die karminrot, blattgrün und bleiweiß in der Düsterkeit glänzende Farbtöpfe, die blauen Flammen der beiden Paraffinöfen, das gesamte Mobiliar bewegt sich Millimeter um Millimeter auf den zentralen Bereich zu, wo Aurach in dem grauen Schein, der durch das hohe, mit dem Staub von Jahrzehnten überzogene Nordfenster einfällt, seine Staffelei aufgestellt hat. (Aus, 237)

Die Beschreibung von Aurachs Atelier nimmt die Beschreibung seines Stils vorweg. Die „Vermehrung des Staubs“ und das Idiom des Verbrennens bzw. der „Einäscherung“ (Aus, 238f) lassen sich ohne Schwierigkeiten als Anspielung auf den Holocaust lesen. Die Bedingungen, unter denen das Werk geschaffen wird, erinnern ihrerseits an die Großindustrie, an die zum Holocaust führende Dialektik der Aufklärung. Dies ließe sich auch stilistisch lesen, in dem einzigen langen Satz, der den Menschen erst am Ende, nach einer langen Reihe von unpersönlichen, verfallenen Gegenständen erwähnt. Besonders bemerkenswert sind die Adjektive – nicht nur die düsteren Farben, sondern auch die Partizipien, mit deren Hilfe Sebald den Eindruck vermittelt, Aurach scheitere genau in dem Maß, indem er am eigenen Werk fortbaue: Das Dunkel ist „angesammelt“, der Kalkstein „aufgequollen“, der Anstrich der Wände „abblätternd“; die Stellagen sind „überfrachtet“ und die Papier-, Geschirr- und Materialberge „ineinander verschoben“. Aurach ist zum Opfer seines eigenen Erfolgs geworden: Ähnlich der Entwicklung der Aufklärung habe er zu viel gesammelt, seine Kunst muss daher in Zerfall umschlagen. Aurachs Stil, so der Erzähler, schwebt dementsprechend in einer ständigen Dialektik zwischen Fortschritt und Regression. Nach der Beschreibung des Ateliers fährt er unmittelbar fort: Da er die Farben in großen Mengen aufträgt und sie im Fortgang der Arbeit immer wieder von der Leinwand herunterkratzt, ist der Bodenbelag bedeckt von einer im Zentrum mehrere Zoll dicken, nach außen allmählich flächer werdenden, mit Kohlenstaub untermischten, weitgehend bereits verhärteten und verkrusteten

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Fortschrittskritik in der Literaturgeschichte

Masse, die stellenweise einem Lavaausfluß gleicht und von der Aurach behauptet, daß sie das wahre Ergebnis darstelle seiner fortwährenden Bemühung und den offenkundigsten Beweis für sein Scheitern. (Aus, 237f)

Je mehr Aurach am eigenen Werk fortbaut, desto schneller zerfällt es wieder zu Staub – was seiner Meinung nach ohnehin „das wahre Ergebnis“ seiner Bemühungen und der Beweis seines Scheiterns ist. Seine Arbeit wird als eine Art selbstfördernde Maschine dargestellt, „eine einzige, nur in der Nacht zum Stillstand kommende Staubproduktion“ (Aus, 239), die sich immer „wieder auslöscht, um aus dem durch die fortgesetzten Zerstörungen bereits stark beeinträchtigten Hintergrund von neuem“ wieder zu beginnen. „Fortschritt“ wird nur dialektisch, durch die Regression, erkauft – wenn hier von Fortschritt überhaupt die Rede sein kann. Sebalds Protagonisten stehen immer wieder im Zeichen dieser Dialektik, im Zeichen einer im zweiten Kapitel der vorliegenden Studie besprochenen ‚Logik des Zugleich’. Je mehr sie vorankommen, desto weniger haben sie das Gefühl, irgendwelche ‚Fortschritte’ gemacht zu haben. „Das Erzählen ist [...] für ihn eine Qual sowohl als ein Versuch der Selbstbefreiung gewesen, eine Art von Errettung und zugleich ein unbarmherziges Sichzugrunde-Richten“, sagt Tante Fini von Ambros Adelwarth (Aus, 146). Sebalds Beschreibung seines eigenen Schreibprozesses ist entsprechend dialektisch („Das Schreibpapier | riecht | wie die Hobelspäne | im Sarg“, schreibt er im Gedichtband Unerzählt),2 wie beispielsweise aus seinem Versuch, die Geschichte Aurachs zu erzählen, hervorgeht: Es war ein äußerst mühevolles, oft stunden- und tagelang nicht vom Fleck kommendes und nicht selten sogar rückläufiges Unternehmen, bei dem ich fortwährend geplagt wurde von einem immer nachhaltiger sich bemerkbar machenden und mehr und mehr mich lähmenden Skrupulantismus. Dieser Skrupulantismus bezog sich sowohl auf den Gegenstand meiner Erzählung [...] als auch auf die Fragwürdigkeit der Schriftstellerei überhaupt. Hunderte von Seiten hatte ich bedeckt mit meinem Bleistift- und Kugelschreibergekritzel. Weitaus das meiste davon war durchgestrichen, verworfen oder bis zur Unleserlichkeit mit Zusätzen überschmiert. (Aus, 344f)

Dass der hier beschriebene Schreibprozess nicht nur an die im vorangehenden Kapitel besprochene Sprachkrise Austerlitzens erinnert, sondern auch dem Malprozess Aurachs ähnelt, ist keineswegs zufällig: Wie so oft in Sebalds Werk nimmt der Erzähler Züge des Protagonisten an. Die dialektische Verfahrensweise geht aber über die Schaffensprozesse und Erzählstrukturen hinaus, denn auch in seinen literaturkritischen Schriften beschäftigt sich Sebald immer wieder mit Dichtern, die ihre eigene Produktion in Frage stellen und die das Gefühl haben, sich in ihre eigene _____________ 2

W.G. Sebald / Jan Peter Tripp, Unerzählt, München 2003, S. 63.

Die „Kunst des Schreibens“

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Arbeit zu verlaufen. Kafka, Améry, Mörike, Keller, Walser: Am Ende zweifeln sie alle am Zweck ihres „Kritzelwerks“, als ob sie sich nur dem Tod um so näher bringen würden, je mehr sie schreiben. In seinem Aufsatz über Mörike ist die Rede von dem Schreiben als einer „Gauklergeschäft, [...] diesem ein wenig ersatzweisen Laster, von dem, wer einmal angefangen hat damit, meist nicht mehr loskommt“ (Logis, 93), und in einem Essay über Keller beschreibt Sebald den Prozess des Schreibens folgendermaßen: Die Kunst des Schreibens ist der Versuch, das schwarze Gewusel, das überhand zu nehmen droht, zu bannen im Interesse der Erhaltung einer halbwegs praktikablen Persönlichkeit. Lange Jahre hat Keller sich dieser schweren Bemühung unterzogen, obwohl er früh schon wußte, daß sie letztendlich nichts verschlug. [...] Seine Laufbahn überblickend fühlt er, daß dies alles kein „Leben hieß und so nicht fortgehen könne“. Er spricht von einer neuen Gefangenschaft des Geistes, in die er geraten sei. (Logis, 125f)

Wiederum gerät ein Idiom des ‚Fortgehens’ ins Stocken. Man denke an Kafkas Katz und Maus: Der Schriftsteller müsste nur die Laufrichtung ändern – aber dann wäre er ohnehin gefressen. In seinem Exemplar von Thomas Bernhards Novelle Ja setzt Sebald einen Satz in Klammern, der die „doppelte Gebundenheit“, das double bind, genau auf den Punkt bringt: Aber alles zu Schreibende muß immer wieder von vorne angefangen und immer wieder aufs neue versucht werden, bis es wenigstens einmal annähernd, wenn auch niemals zufriedenstellend, glückt. Und ist es noch so aussichtslos und ist es noch so hoffnungslos, es sollte doch immer wieder, wenn wir einen Gegenstand haben, der uns immer wieder und immer wieder mit der größten Hartnäckigkeit peinigt und nicht mehr in Ruhe lässt, probiert werden.3

Die für Bernhard typischen syntaktischen Übertreibungen (etwa die fünffache Wiederholung von „immer wieder“) entsprechen der Aussichtslosigkeit des Schreibens: Dennoch schreibt der Schriftsteller weiter. Dass Sebald außerdem am Rande des Textes „naturgemäß = Fatalität“ geschrieben hat, zeugt von seiner (Selbst-)Wahrnehmung der Aktivität des Schreibens: Der Schriftsteller ist von Natur aus zum Scheitern verurteilt, schreibt aber ebenso sehr von Natur aus immer weiter.

_____________ 3

Thomas Bernhard, Ja, Frankfurt a.M. 1978, S. 43.

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Fortschrittskritik in der Literaturgeschichte

„Die zunehmende Schwierigkeit der Artikulation“ Sebalds Literaturwissenschaft Sebalds wissenschaftliche Schriften, die häufig von einem biografischen Ansatz ausgehen,4 versuchen immer wieder, diese Dialektik zu veranschaulichen, indem sie die ambivalenten Verhältnisse so vieler Schriftsteller zu ihrer Arbeit hervorheben. In seiner „Vorbemerkung“ zum Essayband Logis in einem Landhaus, der neben dem Aufsatz über Keller auch Beiträge zu Hebel, Rousseau, Mörike und Robert Walser enthält, erklärt Sebald, dass der Umschlag in eine „Gefangenschaft des Geistes“, den man ja als eine ‚Dialektik des Schreibens’ bezeichnen könnte, den Angelpunkt des Bandes bildet. „Es scheint kein Kraut gewachsen gegen das Laster der Schriftstellerei“, schreibt Sebald; „die ihm Verfallenen fahren in ihm fort, sogar wenn ihnen die Lust am Schreiben schon längst vergangen ist“ (Logis, 6). Die Unerbittlichkeit dieser Regel zeigt sich bei jedem seiner ausgewählten Schriftsteller: Rousseau möchte etwa „bereits aufhören [...] mit dem ewigen Nachdenken, schreibt dennoch weiter bis in den Tod“, Walser „kann sich vom Schreibzwang nur befreien, indem er sich sozusagen selber entmündigt“ (ebd.). In der Vorbemerkung nimmt Sebald seine Befunde vorweg: „Das Schriftstellern ist offenbar ein Geschäft, von dem man sich, selbst wenn es einem zuwider oder unmöglich geworden ist, nicht ohne weiteres befreit“ (Logis, 7). Die dialektische Syntax („dennoch“, „indem“, „selbst wenn“) entspricht Sebalds Verständnis seiner eigenen schriftstellerischen Tätigkeit, die er in Interviews immer wieder als äußerst langsam und quälend bezeichnet.5 Die Schriftstellerporträts in Logis in einem Landhaus verraten nicht nur seine dialektische Auffassung des „selbstzerstörerischen Geschäft[s] des Schreibens“ (Logis, 64), sondern auch die Gründe für sein _____________ 4

5

Ulrich Simon versteht Sebalds „Biografismus“ als Reaktion auf die Debatte um den Tod des Autors und die allgemeine Verpönung der Biografie in den Jahren zwischen 1970-2000: „Ruth Klüger befindet, Sebald durchbreche das Tabu gegen den Biografismus, den wir Germanisten als naiv zu verachten gelernt haben“, schreibt Simon. [...] „Die Konstante der biografischen Argumentation lässt sich insofern als Reaktion auf die vor allem in den vergangenen Jahren aufgekommenen hochdifferenzierten, poststrukturalistischen literaturwissenschaftlichen Modelle mit eigenen Metasprachen sehen“. Ulrich Simon, „Der Provokateur als Literaturhistoriker. Anmerkungen zu Literaturbegriff und Argumentationsverfahren in W. G. Sebalds essayistischen Schriften“, in: Sebald. Lektüren, S. 78-104, hier 85f Seine schon zitierte Behauptung, dass „writing is, for me, an exacting and painstaking business, which, however, seems to get steadily harder as one goes along“ (Literary Review, 280, October 2001, S. 50) ist auch deswegen bemerkenswert, da sie auf der typisch dialektischen Syntax beruht: Das Schreiben werde „immer schwieriger“, je weiter Sebald vorankomme.

„Die zunehmende Schwierigkeit der Artikulation“ Sebalds Literaturwissenschaft

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Interesse am 19. Jahrhundert. Das Hauptthema, wie Sebald in der Vorbemerkung erklärt, ist „die schreckliche Ausdauer der Literaten“: Eine langjährige Beschäftigung mit dem Schreiben wirke sich in der letzten Analyse immer dialektisch aus. Wenn Rousseau „dennoch am Schreiben festhielt“, zitiert Sebald zum Beispiel Jean Starobinski, „dann nur, [...] um den Augenblick herbeizuführen, da ihm die Feder aus der Hand fallen und das Wesentliche in der stummen Umarmung der Versöhnung und Rückkehr gesagt sein würde“ (Logis, 61). Dass das Schreiben hier in die im Konjunktiv ersehnte, von Sebald kursiv hervorgehobene Verstummung umschlagen möchte, es aber noch nicht kann, ist für den ganzen Essayband charakteristisch, für die „meist doppelte Gebundenheit der Schriftsteller an ihr Métier“ (Logis, 151), die Sebald später auch bei Walser diagnostiziert. Dadurch, dass die ausgewählten Schriftsteller alle im 19. Jahrhundert tätig waren, gewinnt der Band außerdem an zeitgeschichtlicher Resonanz. Sebalds Vorliebe für die Literatur des 19. Jahrhunderts lässt sich auch ihrerseits dialektisch erklären: Einerseits interessiert sich Sebald für die soziohistorischen Prozesse, die zum katastrophalen 20. Jahrhundert führen werden, andererseits möchte er diesen Katastrophen entkommen bzw. in der „imaginierten Welt des Biedermeier“ sein „Glück im Winkel“ finden. „Die stille Provinz des Biedermeier glich einem gegen die Entwicklung sich richtenden Wunschtraum“ (Logis, 84), schreibt er im Essay über Mörike. Auf den dialektischen Grundton dieser Entwicklung, auf die drohende Katastrophe, weist er immer wieder hin. In der gleichen Passage spricht er etwa von den „Schrecken der Industrialisierung“, von der ständig im Hintergrund lauernden „Angst vor dem Chaos der nun schneller und schneller sich überschlagenden Zeit“. „Böse Abgründe“ sehe er überall in der Literatur des 19. Jahrhunderts, er wisse, „wie prekär das Leben war in der bürgerlichen Sozietät“. Mörikes „schwäbische[n] Quietismus“ deutet Sebald entsprechend dialektisch, als „eine[n] von der Vorahnung des bösen Endes ausgelöste[n] Totstellreflex“. Der auf den Kopf gestellte Messianismus wirkt noch einmal wie eine Anspielung auf die berühmten Schlusswörter von Adornos Minima Moralia, wo Philosophie bekanntlich als den „Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten“ definiert wird. Wenn das in Die Ausgewanderten beschriebene Sanatorium auf den messianischen, „auserwählte[n]“ Käfer wartet, der das Ganze zum „zusammensinken“ bringen wird, so lässt sich auch Sebalds Biedermeierbegriff als Versuch verstehen, den Standpunkt der Erlösung vorwegzunehmen. Dass Sebald wiederholt von der „bürgerlichen Sozietät“ bzw. von den „Verhältnisse[n] der Menschen zu einander“ (Logis, 104) redet, veranschaulicht, inwiefern sein Literaturverständnis tatsächlich von der „jüdische[n] Schule zur Erforschung der bürgerlichen Sozial- und Geistesge-

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schichte“ geprägt wurde. Er beschreibt etwa den „pathologischen Aspekt des Denkens in der Ära, als das Bürgertum mit einem enormen philosophischen und literarischen Aufwand seinen Emanzipationsanspruch verkündete“ (Logis, 61); er erkennt die „irreparablen Schäden [...], die die Proliferation des Kapitals zwangsläufig auslöst in der Natur, in der Gesellschaft und im Gefühlsleben der Menschen“ (Logis, 104).6 Hier denke man allerdings nicht nur an Adorno, Horkheimer und die Frankfurter Schule, sondern auch an die von Michel Foucault analysierten Machtverhältnisse, die in der anfangenden Neuzeit herrschten. In seinem Exemplar von Wahnsinn und Gesellschaft streicht Sebald mehrmals solche Passagen an, Sätze wie zum Beispiel: „sie [die bürgerliche Wirtschaft] produziert, indem sie zerstört – die für die Gesellschaft notwendige Arbeit entsteht durch den Tod des ihr unerwünschten Arbeiters“.7 Die dialektische Syntax, der man in Sebalds eigener Prosa immer wieder begegnet, wird zum Kennzeichen der Selbstzerstörung, wie Sebald in Wahnsinn und Gesellschaft zwei Seiten später wiederum hervorhebt: In dem Augenblick, in dem die bürgerliche Gesellschaft die Nutzlosigkeit der Internierung wahrnimmt [...], beginnt sie von einer reinen Arbeit zu träumen, die für sie nur Profit, für die anderen nur Tod und moralische Unterwerfung wäre, in der alles Fremde im Menschen erstickt und zum Schweigen gebracht würde.8

Die dialektische Entwicklung der „bürgerliche[n] Gesellschaft“, die hier bei Foucault exemplarisch zum Ausdruck kommt,9 beschäftigte Sebald schon in seinen frühesten wissenschaftlichen Schriften. Seine zweite, 1980 veröffentlichte Monografie Der Mythos der Zerstörung im Werk Döblins kreist immer wieder um eine dialektische Deutung der Entwicklung der Moderne. Schon der Titel der Studie spielt darauf an, dass Sebald zufolge Döblin „das Prinzip der Zerstörung selbst als die Agentur der Erlösung beschrieb“ (MZ, 61). Die Dialektik der Aufklärung wird im Laufe der Monografie nicht nur mehrmals zitiert, sie liegt ihrem ganzen methodologischen Ansatz zugrunde. Selbst die Überschriften der Kapitel zeugen von Sebalds intensiver Beschäftigung mit dem Jargon „Benjamins und der Frankfurter Schule“: Die vier Teile der Studie heißen „Eschatologie der Gesellschaft“, _____________ 6

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Auch in einem Essay über Charles Sealsfield erwähnt er das „antagonistische [...] Verhältnis zwischen Mensch und Natur, dessen zerstörende Dynamik durch die kapitalistische Warenwirtschaft erst wirklich virulent wurde.“ Siehe W.G. Sebald, „Ansichten aus der Neuen Welt – Über Charles Sealsfield“, in: Unheimliche Heimat, S. 17-39, hier 35. Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1973, S. 445. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, S. 447. Für eine Foucault’sche Deutung von Sebalds Werk siehe: J.J. Long, „Disziplin und Geständnis. Ansätze zu einer Foucaultschen Sebald-Lektüre“, in: W.G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei, hrsg. von Michael Niehaus und Claudia Öhlschläger, Berlin 2006, S. 219-240.

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„Religion des Exils“, „Philosophie der Natur“ und „Radikalität der Kunst“. „Das erste Kapitel“, so Sebald, „versucht der Tatsache Rechnung zu tragen, daß Gesellschaft im Werk Döblins im Stadium ihrer eigenen Endzeit erscheint“ (MZ, 11); im dritten Kapitel soll wiederum „in der Philosophie der Natur ein weiterer Sinnzusammenhang gefunden werden, dem das Scheitern des Menschen und der menschlichen Gesellschaft einzuordnen wäre“ (MZ, 12). Sebald sieht das literarische Werk Döblins als Teil „eines sehr viel weiter verbreiteten Kulturpessimismus“ (MZ, 13): Dementsprechend versucht er, „die apokalyptische Dimension der Döblinschen Bücher zu messen an den Möglichkeiten der Zeit, in der sie entstanden sind“ (MZ, 10). Die ganze Monografie liest sich als „eine genaue Illustration des Geschichtsbegriffs der neuen Zeit, der nicht mehr wie der bürgerliche auf dem Fortschritt, sondern auf der sich perpetuierenden Katastrophe beruht“ (MZ, 58). Interessant an Sebalds Deutung von Döblins Werk ist allerdings, dass er ihm einen Mangel am dialektischen Denken vorwirft. In einer Besprechung vom Begriff der ‚Mimesis’ als Stilprinzip gelangt Sebald zu dem Schluss, dass sie „der dialektischen Reflexion [bedarf], der Döblin [...] kaum je gewachsen scheint“ (MZ, 116). Wie dies hätte aussehen können, fährt Sebald fort, ließe sich der Dialektik der Aufklärung entnehmen, wobei er darauf aus dem Kapitel „Elemente des Antisemitismus“ zitiert: Indem [...] das Bewegte dem Unbewegten, das entfaltete Leben bloßer Natur sich nähert, entfremdet es sich ihr zugleich, denn unbewegte Natur, zu der, wie Daphne, Lebendiges in höchster Erregung zu werden trachtet, ist einzig der äußerlichsten, der räumlichen Beziehung fähig. Der Raum ist die absolute Entfremdung. Wo Menschliches werden will wie Natur, verhärtet es sich zugleich gegen sie. Schutz als Schrecken ist eine Form der Mimikry. Jene Erstarrungreaktionen am Menschen sind archaische Schemata der Selbsterhaltung: das Leben zahlt den Zoll für seinen Fortbestand durch Angleichung ans Tote. (MZ, 116)10

Anschließend erklärt Sebald, wie gelungene moderne Kunst seines Erachtens auszusehen hätte: Wie Kafka oder Beckett etwa, sprich, mit ihrer eigenen „Hypostasierung“ schon eingebaut. „To decompose is to live too“, zitiert Sebald Beckett (MZ, 116).11 Immer wieder wird bei der Lektüre von Sebalds Döblin-Buch deutlich, inwieweit er schon dialektisch denkt. Bei seiner Besprechung von Döblins Science-Fiction Schriften beschreibt er etwa, wie „die Dinge nun allmählich den Aspekt des Totalitären an[nehmen], den ja jede planmäßige Utopie als Keim schon in sich trägt“ (MZ, 42); bei seiner Analyse des _____________ 10 11

Zitiert nach Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1969, S. 189. Der junge Sebald scheint hier dem Geschmack von Adorno zu folgen, dessen Spätwerk Kafka und Beckett als Gipfel der gleichen Tradition des modernen Nihilismus sieht.

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Messianismus in seinem Werk betont er, dass „die Idee des Messianismus, [...] wie Gershom Scholem erinnert, in seinem Ursprung und Wesen eine Katastrophentheorie ist“ (MZ, 60). Dazu zitiert er auch Döblin selbst, der im Jahr seiner Exilierung 1933 zu dem Schluss gekommen war, dass „die kapitalistische Wirtschaft [...] nicht die Ordnung, sondern die Katastrophe in sich“ hatte (MZ, 47). Trotzdem bleibt Sebald bei seiner Ansicht, Döblin habe nicht dialektisch genug gedacht, sondern nur den „Mythos der Zerstörung“ kultiviert, ohne ihn in Frage zu stellen: In seinen literarischen Schöpfungen [...] hatte die Antizipation der Katastrophe von Anfang an weniger diesen kritischen bzw. ironischen Stellenwert; vielmehr hat man den Eindruck, als sei ihr Autor hypnotisiert von der eigenen Beschreibung des Endes... (MZ, 48)

Die zwei Essaybände, die Sebald der österreichischen Literatur widmete, zeugen ebenso deutlich von seiner dialektischen Denkweise. Die Beschreibung des Unglücks (1985) und Unheimliche Heimat (1991) sammeln Aufsätze, die einen großen Bogen von Stifter und Sealsfield bis Bernhard und Handke schlagen. Beide Bände werden in ihrem jeweiligen Vorwort dialektisch vorgestellt, in Sätzen, die sich spezifisch auf die Titel der Bände beziehen, als ob Sebald betonen wollte, dass die Dialektik seinem ganzen Literaturverständnis zugrunde liegt. Genau wie im Vorwort zu Logis in einem Landhaus nimmt er die Befunde seiner Untersuchungen vorweg, indem er sich einer klassisch dialektischen Syntax bedient. „Die Beschreibung des Unglücks schließt in sich die Möglichkeit zu seiner Überwindung ein“, schreibt er im ersten Band (BU,12), wobei er seinen Titel damit als Prozess deutet, als Versuch, das Unglück durch seine eigene Analyse abzuwenden. Ähnlich verfährt er mit dem Begriff der Heimat im späteren Band – dessen Titel schon auf seine dialektische Denkweise hindeutet, indem er die Heimat durch ihre Negation definiert. „Der Begriff steht somit, wie das ja nicht selten der Fall ist, im reziproken Verhältnis zu dem, worauf er sich bezieht,“ schreibt Sebald. „Je mehr von der Heimat die Rede ist, desto weniger gibt es sie“ (UH, 12), behauptet er in Anlehnung an Jean Amérys Essay „Wieviel Heimat braucht der Mensch?“. Die von Adorno und Horkheimer hergeleitete syntaktische Struktur ‚je mehr ... desto weniger’ inszeniert den unerlässlichen Prozess einer Negation, den Sebald danach explizit zusammenfasst: „Die Ideologisierung der Heimat, die in Österreich in den dreißiger Jahren sich durchgesetzt hatte, lief letztlich auf ihre Zerstörung hinaus“ (UH, 14). Die dialektische Methodologie bleibt also eine Konstante der beiden Bände: Unterschiedlich sind nur die Schwerpunkte, die jeweils den beiden schon identifizierten Bereichen der Dialektik des Schreibens bzw. der „bürgerlichen Sozial- und Geistesgeschichte“ entsprechen, wie Sebald selbst im Vorwort zu Unheimliche Heimat erklärt: „Standen damals [in Die

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Beschreibung des Unglücks] die psychischen Determinanten des Schreibens mehr im Vordergrund, so geht es diesmal eher um die gesellschaftliche Bedingtheit der literarischen Weltsicht, obschon natürlich das eine vom anderen nicht ohne weiteres zu trennen ist“ (UH, 9). Die Unzertrennlichkeit der beiden Bereiche hebt Sebald in der Tat immer wieder hervor: Laut Sebald schreiben all die von ihm ausgewählten Schriftsteller – allen voran Stifter, Kafka, Bernhard und Handke – gegen die gesellschaftliche Entwicklung bzw. den natürlichen Zerfall. Sowohl die „psychischen Determinanten des Schreibens“ als auch seine „gesellschaftliche Bedingtheit“ kommen somit zum Ausdruck. „Stifter schrieb schon in dem Bewußtsein, daß die Identifizierung der Schönheit der Natur den ersten Schritt nicht sowohl zu ihrer Errettung als zu ihrer Expropriation darstellt“, meint Sebald im ersten Aufsatz der Beschreibung des Unglücks (BU, 25). „Die Beschreibung der Natur, auch die literarische, entwickelte sich erst mit der kommerziellen Erschließung der Welt“, schreibt er in Anlehnung an die Kulturkritik der Frankfurter Schule. In seinem im gleichen Band enthaltenen Essay über Bernhard differenziert Sebald freilich seine Position, indem er behauptet, dass „die bei Marx wie bei Stifter ausgeführte Idee einer Humanisierung der Natur [bei Bernhard] durchschaut wird, als das ideologische Korrelat einer Zeit, in der die Natur de facto nur mehr unter dem Aspekt ihrer wirksamsten Ausbeutung erschien“ (BU, 108). Der Preis für diese „Steigerung der Sensibilität“ sei die „zunehmende Schwierigkeit der Artikulation“ (BU, 110). Dass die Schwierigkeiten des Schreibens letztendlich Ausdruck des Verfallsprozesses der Naturgeschichte sind, gehört offenbar zu den Grundgedanken von Sebalds Literaturverständnis: Man geht gewiß nicht fehl in der Annahme, daß der immer höhere Grad künstlich verwirklichter Ordnung trostloserweise nicht einer sukzessiven Überwindung der Blitzangst gleichzusetzen ist, sondern vielmehr der auch mit der Strukturierung der Welt zunehmenden Antizipation des jederzeit zu gewärtigenden Einbruchs der Zerstörung. (BU, 166)

Thomas Bernhard und „die Geschichte eines naturhistorischen Prozesses“ Diese wissenschaftliche Diagnose einer Dialektik des Schreibens wendet Sebald auch auf seine eigene Prosa an. Immer wieder sind seine Protagonisten Schriftsteller, Künstler oder Geisteswissenschaftler, die dem gleichen Rhythmus, dem gleichen Oszillieren zwischen Fortschritt und Regression ausgeliefert sind. Hier ist vor allem der Einfluss von Thomas

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Bernhard zu spüren, dessen Romane unzählige an ihrer Geistesarbeit zugrunde gehende Einzelgänger enthalten: Man denke etwa an Roithamer in Korrektur, an Konrad in Das Kalkwerk, an Rudolf in Beton. In seiner Bibliothek hebt Sebald selbst diesen Aspekt des Bernhard’schen Stils hervor, wie wir am Beispiel der Novelle Ja schon gesehen haben. In Das Kalkwerk unterstreicht er in ähnlicher Weise die Klage des an einer Studie über das Hören verzweifelt arbeitenden Konrad: „Alles sei eine einzige Verschwörung gegen einen und das heiße, gegen die Geistesarbeit, die man verrichte“.12 Bernhards Werk versteht Sebald vor allem als einen „mit erschreckender Konsequenz fortschreitenden Zerfallsprozeß der natürlichen Welt“, wie er in seinem Essay über Bernhard formuliert.13 Die Überschrift des Essays – „Wo die Dunkelheit den Strick zuzieht“ – ist programmatisch, ein Zitat aus Bernhards erstem Roman Frost, dessen melancholische Vision „auf die graduelle Verdunkelung der Welt“ hinauslaufe.14 „Die Welt ist ein stufenweiser Abbau des Lichts“, zitiert Sebald. Der Naturbegriff, wie ihn vorab die Literatur des 19. Jahrhunderts kultivierte, ist für Bernhard eine Fiktion. [...] In Wirklichkeit [....] ist die Natur ein noch größeres Narrenhaus als die Gesellschaft. [...] Was auf dem Land deutlich wird, ist das „systematische Absterben“ der Natur, ihr Kannibalismus, der unabwendbar um sich greifende Fäulnis- und Zersetzungsprozess, von dem Bernhard fortwährend spricht.15

Eine Randbemerkung in seinem Exemplar von der Novelle Ungenach fasst Sebalds Deutung dieser Bernhard’schen Weltanschauung folgendermaßen zusammen: „die Geschichte eines naturhistorischen Prozesses: so erscheint sie unterm Aspekt des Todes und der Vernichtung, auf die alles abzielt“.16 Dieser Naturgeschichte liegt nicht nur eine Thematik, sondern auch eine Grammatik zugrunde, die Sebald seinerseits auf seine an ihrer Geistesarbeit leidenden Protagonisten anwendet. Vor allem Die Ringe des Saturn,17 die durch ihre vielen Schriftstellerporträts eine gewisse Ähnlichkeit mit Logis in einem Landhaus vorweisen, sind besonders reich an solchen ambivalenten Schriftstellerfiguren, deren Musterbeispiel Sir Thomas Browne schon im ersten Kapitel den Ton angibt. Sein Auftritt wird aller_____________ 12 13 14 15 16 17

Thomas Bernhard, Das Kalkwerk, Frankfurt a.M. 1970, S. 53. W.G. Sebald, „Wo die Dunkelheit den Strick zuzieht“, Die Beschreibung des Unglücks, S. 107. Sebald, Die Beschreibung des Unglücks, S. 107. Sebald, Die Beschreibung des Unglücks, S. 108f Geschrieben in Thomas Bernhard, Ungenach, Frankfurt a.M. 1968, S. 13. J.J. Long fasst diesen Aspekt der Ringe des Saturn folgendermaßen zusammen: „The Rings of Saturn evinces an obsession with characters whose labour is totally unproductive in economic terms: Swinburne […], Michael Hamburger […], the Ashburys […], Michael Parkinson […]“. J.J. Long, W.G. Sebald – Image, Archive, Modernity, New York 2007, S. 147, Fn. 12.

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dings von Flaubert und den an seinen Werken arbeitenden Wissenschaftlern Michael Parkinson und Janine Dakyns vorweggenommen: Michaels bescheidenes „Glück“ (RS, 15) wird von seinem plötzlichen, rätselhaften Tod in Trauer umgewandelt, Janine folgt ihm ein Paar Monate später nach. Sebalds Beschreibung ihrer langjährigen – allerdings letztendlich unergiebigen – Arbeit über Flaubert ist nur die erste von vielen ähnlichen Passagen im Laufe des Werkes: Janine behauptete, die Skrupel Flauberts seien zurückzuführen auf die von ihm beobachtete, unaufhaltsam fortschreitende und, wie er glaubte, bereits auf seinen eigenen Kopf übergreifende Verdummung. Es sei, soll er einmal gesagt haben, als versinke man in Sand (RS, 17).

Der unaufhaltsame Verfallsprozess, den Sebald hier beschreibt, steht im Zeichen einer barocken Naturgeschichte, die in der Fotografie von Brownes Schädel einige Seiten später ihren entsprechenden Ausdruck finden wird. „Der Sand erober[t] alles“ (RS, 17), schreibt Sebald lapidar. Die Dialektik des Prozesses, die schon von Benjamin anerkannt wurde (die „barocke Apotheose [ist] dialektisch“, schreibt er im von Sebald angestrichenen Ursprung des deutschen Trauerspiels),18 inszeniert Sebald dadurch, dass er immer wieder nach naturhistorischen Metaphern greift. Auf Janines Schreibtisch sei „eine richtige Papierlandschaft mit Bergen und Tälern entstanden, die inzwischen an den Rändern, so wie ein Gletscher, wenn er das Meer erreicht, abbrach und auf dem Fußboden neue, ihrerseits unmerklich gegen die Mitte des Raumes sich bewegende Ablagerungen bildete“ (RS, 17f); die anderen Tische, an welche sie seit langem gezwungen sei auszuweichen, „repräsentierten sozusagen spätere Zeitalter in der Entwicklung des Papieruniversums Janines“ (RS, 18). Dass diese Naturgeschichte – „the concept of historical life that Benjamin elaborated in his study of baroque drama and that no doubt influenced Sebald in his choice of the English title of his last [sic] published work, ‚natural history’“19 – darüber hinaus in Sebalds Syntax zum Ausdruck kommt, lässt sich gleich in diesen ersten Seiten der Ringe des Saturn sehen. Sebald verwendet immer wieder Präpositionen, Konjunktionen, Adverbien und Verbformen wie das Partizip Präsens, um das Vergehen der Zeit zu betonen, das als dialektisches Pendant zu den geisteswissenschaftlichen Konstruktionen der Literaturwissenschaftlerin zu verstehen ist: Je mehr sie ihre Forschungen fortsetzt, desto mehr schreitet die Zeit voran. Das barocke memento mori, in der Form von Sir Thomas Brownes Schädel, wartet nur zwei Seiten später. Sebalds Syntax erinnert hier an diejenige Bernhards: Flauberts „unaufhaltsam fortschreitende [...] Ver_____________ 18 19

Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, Frankfurt a.M. 1963, S. 175. Eric Santner, On Creaturely Life, Chicago 2006, S. 63.

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dummung“ erinnert etwa an die „graduelle Verdunkelung der Welt“ in Frost, Sebalds wiederholte Verwendung des Ausdrucks „im Verlaufe der Zeit“ an Bernhards „stufenweise[n] Abbau der Welt“. Bei den beiden, bei Sebald ebenso wie bei Bernhard, dient diese charakteristische Syntax der Inszenierung der Naturgeschichte (naturgemäß, will man im Sinne Bernhards sagen): Janines „immer wachsende Papiermassen“ sind Teil der „Akkumulationsprozesse“, denen sie sich „im Verlauf ihres Lebens“ gewidmet hat. Der Hauch des Todes weht über Sebalds Beschreibung, und nicht nur weil wir schon wissen, dass Janine inzwischen verstorben ist: Sebald vergleicht sie zum Schluss mit „dem bewegungslos unter den Werkzeugen der Zerstörung verharrenden Engel der Dürerschen Melancholie“ (RS, 18f). Dadurch, dass die Kehrseite der „Akkumulation“ zwangsläufig der Verfall sei, bildet Sebalds naturhistorische Beschreibung von Janine und ihrer Arbeit eine Art von stillschweigender Dialektik: Je mehr sie sammelt und an ihrer Forschung weiterarbeitet, desto näher rückt der Tod.

Sir Thomas Browne Bezeichnend ist daher, dass es dieselbe Janine ist, die Sebald zu seinen Forschungen über Thomas Browne anleitet. Sein Engagement mit Browne steht insofern von Anfang an im Zeichen der saturnischen Melancholie, als Brownes Tod in Sebalds Beschreibung vor seiner Geburt eintritt: Der klassische biografische Anfangssatz („Thomas Browne kam am 19. Oktober 1605 in London als Sohn eines Seidenhändlers zur Welt“ [RS, 21]) folgt erst nach der Geschichte bzw. dem Abbild seines Schädels, ebenso wie das erste Wort der Ausgewanderten „Ende“ ist. Sebalds lange Beschreibung der öffentlichen Obduktion eines gewissen Aris Kindt, die von Rembrandt in seinem Gemälde des Dr. Nicolaas Tulp abgebildet wurde, knüpft an diese auf den Kopf gestellte Weltordnung an. Die Tatsache, dass Sebald ohne ausschlaggebenden Beweis spekuliert, Browne hätte vermutlich der Prosektur beigewohnt, erweckt den Verdacht, dass Sebald darauf abzielt, eine Verbindung zwischen der Sezierung und dem Schriftsteller herzustellen. Kindts anatomisch verkehrte Hand, die Sebald als eine Art Punktum im Sinne von Roland Barthes identifiziert, liefert vielleicht den Hinweis. Rembrandt, so Sebald, identifiziert sich „mit dem Opfer, und nicht mit der Gilde, die ihm den Auftrag gab“ (RS, 27); dabei unterstellt Sebald mutatis mutandis, dass Browne ein ähnliches Mitleid verspürte. Vor dem Hintergrund seiner Besprechung der umfangreichen Schriften Brownes über den Tod und seine Rituale ist anzunehmen, dass Browne

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nach Sebalds Ansicht ebenso „du coté des vaincus“ ist. Der Protest gegen die Hinrichtung bzw. den Tod, den die umgekehrte Hand in Rembrandts Bild unterstellt, ließe sich daher auch aus der Perspektive Brownes sehen, als Akt des Widerstands gegen das menschliche Eingreifen in die Natur. Menschen haben die Naturgeschichte zu respektieren, scheint die Passage unterstellen zu wollen, denn „am Tag der Auferstehung, wenn, so wie auf einem Theater, die letzten Revolutionen vollendet sind, [werden] die Schauspieler alle noch einmal auf der Bühne erscheinen“, zitiert Sebald Browne, „to complete and make up the catastrophe of this great piece“ (RS, 36, Hervorhebung im Original). Bezeichnend ist ferner die Unauffälligkeit, mit der sich Sebald in seine Erzählung von dem Leben Brownes inseriert, mit der er sich selbst (als Erzähler) dem barocken Engländer gleichstellt. Die Ringe des Saturn beruht grundsätzlich auf dieser Struktur, auf der stillschweigenden Parallelsetzung von Erzähler und dem jeweiligen Protagonisten. Die dialektische Struktur des Buches wird damit gewährleistet: Je mehr die Ringe über Raum und Zeit hinausspulen, desto glänzender kommen sie zum Erzähler zurück, gleichsam wie die Ringe seines eigenen Geistes. Gleich einem Zauberer benutzt Sebald etwa den von Browne beschriebenen „weißen Dunst“ (RS, 27), der „zu unseren Lebzeiten unser Gehirn umwolke“, um von seinem Mangel an Beweisen für Brownes Anwesenheit bei der besagten Obduktion abzulenken. „Ich entsinne mich deutlich, wie mein eigenes Bewußtsein von solchen Dunstschleiern verhangen gewesen ist“ (RS, 28), schreibt Sebald weiter, um den Übergang in die Beschreibung seiner eigenen Erfahrung vorzubereiten. Danach kehrt er aber die Perspektive um: Indem er zunächst sich selbst als „Ballonreisende[n]“ bezeichnet, nimmt er die darauf folgende Beschreibung des von Browne ersehnten „Gefühl[s] der Levitation“ vorweg (RS, 31). Daraus entsteht der Eindruck, dass Browne dem Erzähler folgt und nicht umgekehrt (eine Technik, die Sebald auch in Schwindel. Gefühle verwendet, wo Kafka teilweise in die Fußstapfen Sebalds zu treten scheint). Allerdings kommt es nicht von ungefähr, dass Browne gleich im ersten Kapitel so ausführlich geschildert wird, denn das ganze Buch steht im Zeichen seiner (selektiv dargestellten) Weltanschauung, wie die frappierenden Ähnlichkeiten zwischen Sebalds Stil und dem von Browne indizieren.20 Die Sehnsucht nach einem „Höhenflug der Sprache“ sowie die „labyrinthische[n] [...] Satzgebilde, die Prozessionen oder Trauerzügen gleichen“ (RS, 30), könnten ebenso deutlich Sebald als Browne zuge_____________ 20

Neuesten Forschungen zufolge erfindet Sebald die Mehrzahl der ‚Zitate’ aus Brownes Werk. Siehe Long, W.G. Sebald – Image, Archive, Modernity, S. 32-39, und Holger Steinmann, „Zitatruinen unterm Hundsstern“, in: W.G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei, S. 149-56.

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schrieben werden (siehe das fünfte Kapitel der vorliegenden Studie). Sebalds Beschreibung von Brownes naturhistorischen Untersuchungen erweckt tatsächlich den Verdacht, dass er den Engländer bewusst als mise-enabyme ausgesucht hat: Überall an der lebendigen und toten Materie entdeckt Browne diese Struktur, in gewissen kristallinischen Formen, an Seesternen und Seeigeln, an den Wirbelknochen der Säugetiere [...] und in den Kunstwerken der Menschen, in den ägyptischen Pyramiden und im Mausoleum des Augustus ebenso wie in dem mit Granatapfelbäumen und weißen Lilien nach der Richtschnur bestückten Garten des Königs Salomon. Endlos viel ließe sich hier zusammentragen, sagt Browne. (RS, 31f)

Die Passage kommt einer Beschreibung von Sebalds eigener Methodologie gleich, vor allem wegen der „kristallinischen Formen“, die zwangsläufig an die wirklichen Ringe des Saturn erinnern, an die als Epigraph zitierte Definition („Eiskristalle und vermutlich meteoritische Staubteilchen“, „Bruchstücke eines früheren Mondes“). Dass Browne einen Sonderstatus in Die Ringe des Saturn genießt, dass er als eine Art Schutzheiliger fungiert, bedarf daher keiner weiteren Erklärung; dass er zum Schluss des Buches wieder ins Zentrum rückt, veranschaulicht zudem die kreisförmige Struktur des Werkes. Nur indem er am Ende zu seinem Ausgangspunkt zurückkehrt, kann Sebald es sich erlauben, seine Untersuchungen der neuzeitlichen Geistesgeschichte so breit zu fächern. Sebalds Interesse für Brownes naturhistorische Arbeit an „singuläre[n] Phänomene[n]“ bzw. „an einer umfassenden Pathologie“ (RS, 33) führt ihn zu Jorge Luis Borges und seinem 1967 erschienenen Libro de los seres imaginarios, unter dessen Phantasiewesen der „dem Simplicius Simplicissimus im sechsten Buch seiner Lebensgeschichte begegnende“ Baldanders sich befindet. Dieser Baldanders verwandelt sich vor den Augen des Simplicius zunächst in einen Schreiber, der bemerkt: „Ich bin der Anfang und das Ende und gelte an allen Orten“ (RS, 35). Sebald vergleicht darauf den sich fortsetzenden Verwandlungsprozess des Baldanders mit Browne: Ähnlich wie in diesem fortwährenden Prozeß des Fressens und des Gefressenwerdens hat auch für Thomas Browne nichts Bestand. Auf jeder neuen Form liegt schon der Schatten der Zerstörung. Es verläuft nämlich die Geschichte jedes einzelnen, die jedes Gemeinwesens und die der ganzen Welt nicht auf einem stets weiter und schöner sich aufschwingenden Bogen, sondern auf einer Bahn, die, nachdem der Meridian erreicht ist, hinunterführt in die Dunkelheit. (RS, 35f)

Diese melancholische Weltanschauung entnimmt Sebald direkt dem Religio Medici, das er in seiner Bibliothek an der betreffenden Stelle angestrichen hat; die Passage gibt er fast wörtlich wieder. Die barocke Dialektik dieser Überlegungen kommt vor allem im Bild der nach ihrem Meridian wieder herunterfallenden „Bahn“ zum Ausdruck: In dem Maß, in dem wir hin-

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aufwachsen, werden wir wieder zur Erde fallen. „Gegen das Opium der verstreichenden Zeit“, zitiert Sebald Browne, „ist kein Kraut gewachsen“ (RS, 36).

Michael Hamburger Nirgends kommt diese Dialektik klarer zum Vorschein als im dem Dichter und Übersetzer Michael Hamburger gewidmeten siebten Kapitel. Nach seinen an den König Lear erinnernden „Irrgängen auf der Heide“ erreicht Sebald das Haus seines Freundes, wo die beiden Schriftsteller zusammen im Garten Tee trinken und sich über „den leeren und lautlosen Monat August“ unterhalten. „It is as if everything was somehow hollowed out“, meint Hamburger (RS, 216). Das Wort „hollowed out“ knüpft an die wiederholte Verwendung des Begriffes „ausgehöhlt“ in Die Ausgewanderten und Austerlitz an: Das von Ambros bewohnte Sanatorium sei „unter der Oberfläche restlos bereits ausgehöhlt“ (Aus, 166), Manchester wird als die „beinahe restlos ausgehöhlte Wunderstadt aus dem letzten Jahrhundert“ (Aus, 222) bezeichnet, Austerlitz könne sich „kein Wort, das nicht ausgehöhlt klang“ vorstellen (A, 177). Das Idiom des „aushöhlens“ beruht auf einem dialektischen Umschlag, indem es eine (inzwischen ausgeleerte) Fülle voraussetzt. Die Bemerkungen über „den leeren und lautlosen Monat August“ (RS, 216) erinnern darüber hinaus an die ersten Wörter des Buchs, wo Sebald den Zeitrahmen seiner Reise absteckt: „Im August 1992, als die Hundstage ihrem Ende zugingen, machte ich mich auf eine Fußreise durch die ostenglische Grafschaft Suffolk in der Hoffnung, der nach dem Abschluß einer größeren Arbeit in mir sich ausbreitenden Leere entkommen zu können“ (RS, 11). Damit wird sogar der Zeitraum des Buchs dialektisch verortet: Der Höhepunkt des Sommers wird durch die Anspielung auf den Hund als Symbol der Melancholie ins Zeichen des Saturn gerückt, und die vermeintliche Fülle des Sommers schlägt zweimal in die „Leere“ um. Entsprechend betont die an Browne erinnernde Bemerkung Hamburgers einen auf den Kopf gestellten Wachstumsprozess: „Alles ist kurz vor dem Niedersinken, nur das Unkraut wächst weiter“ (RS, 216). Vor diesem Hintergrund geht das Gespräch zwischen Sebald und Hamburger unmittelbar in Überlegungen zur Dialektik des Schreibens über. Hamburger, der jetzt durch Sebald spricht, führt eine lange Liste der eventuellen Motive zum Schreiben an,21 die darin gipfelt, dass man letzt_____________ 21

Die Liste ist eventuell eine Anspielung auf Primo Levis Other People’s Trades, das sich in englischer Übersetzung in Sebalds Bibliothek befindet. Levis Essaysammlung enthält unter

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endlich nicht zu sagen vermöge, „ob man durch das Schreiben klüger oder verrückter wird“ (RS, 217).

Edward Fitzgerald Ein besonders interessantes Beispiel des leidenden Schriftstellers im Zeitalter des Fortschrittsglaubens findet Sebald in Edward Fitzgerald. Da Fitzgerald, im Gegensatz etwa zu Browne und Hamburger, in der viktorianischen Ära „der mit unerhörter Geschwindigkeit aufstrebenden Industrie“ lebte (RS, 234) und da er, im Gegensatz zu Conrad, von Geburt an zu der von der Ausbeutung profitierenden Gesellschaftsschicht gehörte, passt Sebalds Nacherzählung seines Lebens in den Rahmen des von Adorno und Horkheimer problematisierten Zeitalters der Industrialisierung. Fitzgeralds exzentrisches Schriftstellerleben beschreibt Sebald „vor dem Hintergrund einer Zeit, in der der Reichtum der obersten Gesellschaftsschicht jedes herkömmliche Maß zu sprengen begann“ (RS, 233f); Fitzgeralds Entscheidung, sich der Literatur zu widmen, müsse daher, so Sebald, als Reaktion auf die Exzesse seiner Zeit verstanden werden: So groß ist [...] Fitzgeralds Horror vor dem mit schweren Teppichen ausgelegten und mit vergoldeten Möbelstücken, Kunstwerken und Reisetrophäen vollgeräumten Haus seiner Familie gewesen, daß er sich weigerte, es je wieder zu betreten, und daß er, statt dort standesgemäß Wohnung zu nehmen, ein winziges zweizimmriges Cottage am Rande des Parks bezog, in dem er die nächsten fünfzehn Jahre, von 1837 bis 1853, eine seine späteren exzentrischen Gewohnheiten in vielem schon vorwegnehmende Junggesellenwirtschaft führte. (RS, 236f)

Sebald lässt keinen Zweifel daran, dass er Fitzgeralds „exzentrische Gewohnheiten“ als Widerstand gegen seine eigene Klasse versteht: ‚naturgemäß’ reagiere Fitzgerald auf die Tatsache, dass es von ihm „standesgemäß“ erwartet wird, im heiligen Namen des Fortschrittes zu der „Ausbeutung des Landes“ beizutragen. Der Widerstand Fitzgeralds schlägt sich in seinen literarischen Tätigkeiten nieder, vor allem in seiner Übersetzung des Rubaiyat des persischen Dichters Omar Khayyam, die er Sebald zufolge als „ein Kolloquium mit dem Toten“ betrachtet. Ansonsten hat er keine seiner literarischen Projekte zu Ende gebracht, „wahrscheinlich auch gar nicht zu Ende bringen wollen“, wie Sebald vermutet (RS, 238). Fitzgerald macht sich offenbar _____________ anderem den von Sebald angestrichenen Aufsatz „Why does one write?“ über die möglichen Gründe des Schreibens, die eine frappierende Ähnlichkeit mit den von Sebald bzw. Hamburger angeführten Gründen aufweisen. Siehe Primo Levi, „Why does one write?“, Other People’s Trades, London 1989, S. 63-66.

Edward Fitzgerald

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keine großen Illusionen über die Lebenserwartungen sowohl seiner Werke als auch seiner Liebe: Sein beliebter Freund William Browne – dessen prägnanter Nachname nicht zu übersehen ist – erscheint ihm „von Anfang an unter dem Schatten der Vergänglichkeit“. „For there are,“ so zitiert Sebald, „signs of decay about him“ (RS, 240), Zeichen der Naturgeschichte, die Sebald durch die ständige Wiederholung der Strukturen „im Laufe der Zeit“ bzw. „im Verlauf der Geschichte“ syntaktisch hervorhebt.22 Selbst das Leben eines Dichters und Ästheten, dem sich Fitzgerald in der Hoffnung, dem Zeitalter der fortschreitenden Ausbeutung entkommen zu können, so vollständig widmet, verhilft ihm also nicht dazu, diesen verkehrten Fortschrittsbegriff umzukehren: Er schreibt sich nur immer tiefer in die Depression und Melancholie. Die verschiedenen Geschichten, die dieser Erzählung angeschlossen sind, dienen als objektive Korrelate zu Fitzgeralds fruchtlosen Versuchen, der Dialektik des Fortschritts/Verfalls zu entkommen. Das Leben bei den Ashburys wird etwa als das eines „schleichenden, gewissermaßen zur Lebensnormalität gewordenen, kaum mehr registrierbaren Zerfalls“ beschrieben, das nur gelegentlich von „katastrophenartigen Einbrüchen“ unterbrochen wird (RS, 260). Ähnlicherweise ist das friedliche Zusammenleben der deutschen und englischen Aristokratie an den Badeorten der englischen Ostküste illusorisch: „Der reale Verlauf der Geschichte ist dann natürlich ein ganz anderer gewesen, weil es ja immer, wenn man gerade die schönste Zukunft sich ausmalt, bereits auf die nächste Katastrophe zugeht“ (RS, 270). Sebalds Besuch bei der Forschungsstätte auf Orfordness vollbringt schließlich die Poetik des „Katastrophalen“, die sich in diesem ursprünglich dem Leben des Edward Fitzgerald gewidmeten Kapitel niederschlägt: Je näher ich aber den Ruinen kam, desto mehr verflüchtigte sich die Vorstellung von einer geheimnisvollen Insel der Toten und wähnte ich mich unter den Überresten unserer eigenen, in einer zukünftigen Katastrophe zugrundegegangenen Zivilisation. (RS, 282)

Noch einmal wird man an das Diktum Benjamins erinnert: „Allegorien sind im Bereich der Gedanken, was Ruinen sind im Bereich der Dinge“. Die charakteristische Sebald’sche Syntax drückt die negative Dialektik des Fortschritts/Verfalls auf der Ebene des Individuellen aus: Je mehr der Einzelne sich bemüht, desto weniger gelingt es ihm, der zugrundegehenden Zivilisation zu entkommen. Fitzgeralds Versuch, dem Zeitalter der Ausbeutung die Stirn zu bieten, ihr das Alternative eines Dichterlebens gegenüberzustellen, erweist sich als ebenso selbstzerstörerisch. _____________ 22

Siehe etwa S. 238, 243, 245, 248, 250, 256, 270.

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Fortschrittskritik in der Literaturgeschichte

Algernon Swinburne Das Leben des Dichters Algernon Swinburne liefert ein weiteres Beispiel für die verschiedenen Methoden, mit Hilfe derer Schriftsteller sich zugrunderichten können. Sebald beschreibt Swinburne in Anschluss an die Geschichte des Untergangs der Stadt Dunwich, die im Laufe der Zeit immer wieder von verheerenden Überflutungen heimgesucht wurde. „Wahrscheinlich ist Dunwich deshalb,“ so Sebald, „schon in der viktorianischen Zeit, eine Art Wallfahrtsort für schwermütige Schriftsteller geworden“ (RS, 192). Swinburnes Werk und Leben sind im Zeichen dieser Schwermut zu verstehen, legt Sebald nahe: Ein langes, By the North Sea überschriebenes Gedicht sei beispielsweise „sein Tribut an die allmähliche Selbstauflösung des Lebens“ (RS, 193). Swinburnes von Sebald beschriebener Lebensstil erinnert an den Fitzgeralds und war das Produkt behüteter, aristokratischer Verhältnisse: Swinburne lehnte die üblichen Aktivitäten seiner Klasse ab und widmete sich stattdessen der Literatur. Sebald zufolge sei diese Entscheidung auf Swinburnes romantischen Traum eines Heldentodes zurückzuführen: Erst als die Hoffnung auf einen Heldentod endgültig an seinem unterentwickelten Körper gescheitert war, warf er sich rückhaltlos in die Literatur und damit in eine vielleicht nicht minder radikale Form der Selbstzerstörung. (RS, 196)

Noch einmal schlägt also die literarische Selbstbehauptung in „Selbstzerstörung“ um. Man denke wieder an Adornos von Sebald unterstrichene Analyse der „universale[n[ Verstricktheit, in der das Individuum desto weniger vermag, je rücksichtsloser es sich selbst setzt“.23 Die literarische „Selbstzerstörung“, die Sebald mit militärischen Heldentaten gleichsetzt bzw. als eine Art von Ersatz-Tod darstellt, kommt allerdings erst am Ende eines hauptsächlich der erstaunlichen kollektiven „Selbstzerstörung der Taiping“ gewidmeten Kapitels. Aus Furcht vor der Rache der chinesischen Truppen töteten sich im Sommer 1864 – nach siebenjähriger Belagerung ihrer zur unabhängigen Provinz erklärten Stadt Nanking – zunächst der Himmelskönig selbst und danach Hunderttausende seiner Anhänger. „Auf jede denkbare Weise rotteten sie sich selber aus“, so Sebald (RS, 169). Diesen kolossalen Akt der Selbstzerstörung rückt er wiederum in den Kontext des europäischen Kolonialismus, indem er erklärt, dass die Belagerung nicht möglich gewesen wäre ohne die Hilfe der britischen Kolonialtruppen. „Im Namen der Ausbreitung des christlichen Glaubens und des als Grundvoraussetzung für jeden zivilisatorischen Fortschritt geltenden freien Handels demonstrierte man die Überlegenheit _____________ 23

Theodor W. Adorno, Verusch über Wagner, München 1964, S. 125.

Algernon Swinburne

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der westlichen Geschütze“, notiert Sebald ironisch (RS, 170). Gleich danach erzählt er die Geschichte des chinesischen Seidenanbaus im neunzehnten Jahrhundert und der verheerenden Auswirkungen der Rücksichtslosigkeit, mit der die „Kaiserinwitwe“ Tz’u-hsi ihre Interessen verteidigte. Das von ihr ausgelöste Unglück fasst Sebald zusammen, indem er sie auf ihrem Sterbebett zu Wort kommen lässt: Sie sehe jetzt, sagte sie, indem sie zurückblicke, wie die Geschichte aus nichts bestehe als aus dem Unglück und den Anfechtungen, die über uns hereinbrechen, Welle und Welle wie über das Ufer des Meers, so daß wir, sagte sie, im Verlauf all unserer Erdentage auch nicht einen Augenblick erleben, der wirklich frei ist von Angst. (RS, 185)

Benjamins Engel der Geschichte ist nur einen Flügelschlag entfernt: „das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm“, hätte Sebald die Kaiserin sagen lassen können. Die hier beschriebenen „Wellen“ entsprechen den „Ringen“ des Saturn, aus denen nicht nur die Geschichte, sondern auch die vergehende Zeit der Gegenwart besteht, wie Sebald anschließend beteuert. „Im Verlauf all unserer Erdentage“ ist die charakteristische Sebald’sche Konstruktion der Naturgeschichte: Wir glauben, unser Leben auf eine gewisse Weise zu führen, aber in der Wirklichkeit spielen sich die Dinge auf eine ganz andere Weise ab. „Sicher ist nur, daß die Nacht weitaus länger währt als der Tag“, zitiert Sebald Browne (RS, 186). Dass seine Darstellung von Swinburnes Leben in diesem Kontext zu verstehen sei, behauptet der Erzähler selber in der Passage zu seinem Aufenthalt in Dunwich, dessen Schilderung einen naturhistorischen Übergang zwischen der Geschichte der Ausbeutung des Seidengeschäfts und dem Leben Swinburnes bildet. Die Seide fungiert – wie so oft in Die Ringe des Saturn – als ein Motiv der Verkettung zwischen den Ausbeutungen des industriellen Zeitalters und dem „selbstzerstörerischen“ Schicksal des Schriftstellers. Die verheerenden Stürme, die im Laufe der Zeit Dunwich immer wieder heimgesucht haben, bilden ein naturhistorisches Gegenstück zu den von der sterbenden chinesischen Kaiserinwitwe beschriebenen metaphorischen „Wellen“ der Geschichte. „Wie in einem Mahlwerk der Zerstörung“ befand sich Dunwich etwa bei einem 1328 ausgebrochenen Orkan. „Stets von neuem kam es in den nachfolgenden Jahrhunderten zu solch katastrophalen Einbrüchen der See in das Land“, so Sebald weiter, „und naturgemäß schritt auch in den ruhigen Zwischenzeiten die Erosion der Küste immer weiter voran“ (RS, 191). Noch einmal werden der Zerfall und die Zerstörung „naturgemäß“ als konstitutives Element der Naturgeschichte dargestellt. Die unmittelbar darauf folgende Biografie Swinburnes wird dementsprechend durch die Geschichte der Stadt Dunwich, die als eine Inszenierung von Sebalds pessimistischer Geschichtsphilosophie fungiert, mit der Geschichte der Ausbeutung Chinas verbunden.

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Fortschrittskritik in der Literaturgeschichte

Dabei bleibt das Muster dasselbe wie in den vorherigen Kapiteln: Ob bei den kolonialen Kreuzzügen im Namen der „Zivilisation“ oder bei den Aufklärungsversuchen der Literatur – der Fortschritt schlägt unwiderstehlich in die „Selbstzerstörung“ um.

Chateaubriand Der Strategie der vergleichenden Historiografie bedient sich Sebald auch im neunten Kapitel, wo er das Leben des französischen Memoiristen Chateaubriand erst vorstellt, nachdem er zunächst den Modellbauer Alec Garrard besucht hat, der „seit gut zwei Jahrzehnten an einem Modell des Tempels von Jersualem baut“ (RS, 286). Die Konstruktion dieses Modells geht so langsam vonstatten, „daß man von einem Jahr auf das andere kaum einen Fortschritt erkennen kann“ (RS, 288), bemerkt Sebald. Je weiter Garrard mit seiner Arbeit vorankommt, desto schwerer fällt es ihm, sie zu vollenden: „man könnte sagen“, meint er, „daß sie mir heute, aufgrund meiner immer genauer werdenden Kenntnisse, in jeder Hinsicht schwerer zu bewältigen scheint als vor zehn oder fünfzehn Jahren“ (RS, 290). Garrard plagen offenbar die gleichen Zweifel wie Sebald: Einerseits hat er bei dem Betrachten seines Tempels gelegentlich den Eindruck, „als sei alles bereits vollendet und als schaute ich hinein in die Gefilde der Ewigkeit“ (RS, 294), andererseits fragt er sich manchmal, „ob [er] den Bau jemals zu Ende führen werde und ob nicht alles, was [er] bislang geschaffen habe, bloß ein elendes Machwerk ist“ (RS, 294). Die „immer weiter ausufernde und immer gründlicher werdende Arbeit“ des Geisteswissenschaftlers bzw. die Dialektik der Forschung – wonach man, je weiter man arbeitet, desto weniger Fortschritte macht – werden hier gleichsam in einem Mikrokosmus zusammengefasst. Derlei Fragen stellt sich auch Sebalds Chateaubriand, dessen Aufenthalt in einem kleinen englischen Dorf dem Erzähler als Verknüpfungspunkt mit der Geschichte von Alec Garrard dient. Chateaubriands monumentales Lebenswerk Mémoires de l’outre-tombe deutet Sebald als eine Reaktion auf den Lauf seines Lebens: Was wäre geschehen, fragt sich Chateaubriand, wenn er den Heiratsantrag der Pfarrerstochter Charlotte Ives angenommen hätte und in England geblieben wäre? Wieviel würde Frankreich verloren haben? Wäre es nicht am Ende ein besseres Leben gewesen? Sebalds Darstellung von Chateaubriands Psychologie erinnert an die „Beschreibung des Unglücks“, die er im gleichnamigen Essayband unternimmt. Die Schwermut des Schriftstellers ziele darauf ab, sich selbst zu überwinden: Das Schreiben werde dabei zu einer Art Therapie, mit

Seide

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deren Hilfe der Schriftsteller versucht, sich seiner Erinnerungen zu erwehren: „Blieben sie verschlossen in meinem Gedächtnis, sie würden schwerer und schwerer wiegen im Laufe der Zeit, so daß ich wohl zuletzt zusammenbrechen müßte unter ihrer ständig zunehmenden Last“ (RS, 302). Andererseits bleibt das Schreiben ein double-bind, da selbst der Akt des Niederschreibens immer wieder als wertlos empfunden wird: „Wie oft habe ich [...] meine Erinnerungen und die Übertragung der Erinnerung in die Schrift als ein erniedrigendes, im Grunde verdammenswertes Geschäft empfunden!“ (RS, 303).24 Sebalds Beschreibung von Chateaubriands Selbstwahrnehmung als Schriftsteller holt ihn ins zwanzigste Jahrhundert, durch eine Anspielung auf Kafkas In der Strafkolonie: Der Chronist, der dabei gewesen ist und der sich noch einmal vergegenwärtigt, was er gesehen hat, schreibt sich seine Erfahrungen in einem Akt der Selbstverstümmelung auf den eigenen Leib. Durch solche Beschriftung zum exemplarischen Märtyrer dessen geworden, was die Vorsehung über uns verhängt, liegt er zu Lebzeiten schon in dem Grab, das sein Memoirenwerk vorstellt. (RS, 305)

Hier wird die „Selbstzerstörung“ des Schreibens zur „Selbstverstümmelung“, die der Schriftsteller am eigenen Leib erfährt. Indem er weiterschreibt, gräbt er sein eigenes Grab – was wiederum ans Motiv der Seide erinnert, an Sebalds Beschreibung der Arbeitsweise der Raupen: Am ersten Arbeitstag spinnt die Raupe ein weitläufiges, unordentliches, unzusammenhängendes Gewebe, das dem Cocon zur Befestigung dient. Und dann baut sie, indem sie immerfort den Kopf hin und her bewegt und so einen ununterbrochenen, nahezu tausend Fuß langen Faden aus sich heraushaspelt, die eigentliche eiförmige Hülle um sich herum. (RS, 326)

In beiden Fällen – sowohl bei den Schriftstellern, die nur an ihren eigenen Gräbern arbeiten, als auch bei den Seidenraupen, die sich dem symbolischen Tod der Verwandlung unterziehen müssen – versteht Sebald ihre Arbeit grundsätzlich dialektisch: „Das Werk ist die Totenmaske der Konzeption“, könnte man mit Benjamin sagen.

Seide Sowohl das erste als auch das letzte Kapitel des Buchs schließt mit dem von Sebald sorgfältig in Szene gesetzten Detail des „Fetzchens Seide“ ab. Das Motiv durchzieht das Buch wie ein rotes Fetzchen: Es fungiert sowohl als naturhistorisches Emblem als auch als Symbol der Künstlichkeit, _____________ 24

Bei Sebald sind es daher oft vielmehr Momente des Vergessens, die das größte Glück hervorrufen, wie im nächsten Kapitel dieser Studie zu zeigen sein wird.

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Fortschrittskritik in der Literaturgeschichte

als Symbol der in der Ära der Industrialisierung zunehmenden Ausbeutung der Natur. Am Zusammenspiel zwischen den letzten Sätzen des ersten Kapitels und dem Grundton des letzten Kapitels kann man die Entwicklung der soziohistorischen Kritik des Buches verfolgen. Am Ende des ersten Kapitels bleibt die Seide als Hoffnungsträger der möglichen Verwandlung, als utopisches Moment der „Transmigration“ nach dem Tod, das in der Struktur der abschließenden rhetorischen Frage zum Ausdruck kommt: Und weil der schwerste Stein der Melancholie die Angst ist vor dem aussichtslosen Ende unserer Natur, sucht Browne unter dem, was der Vernichtung entging, nach den Spuren der geheimnisvollen Fähigkeit zur Transmigration, die er an den Raupen und Faltern so oft studiert hat. Das purpurfarbene Fetzchen Seide aus der Urne des Patroklus, von dem er berichtet, was also bedeutet es wohl? (RS, 39)

Im letzten Kapitel des Buches ist hingegen die Produktion der Seide zum Paradebeispiel der Dialektik der Aufklärung geworden; der Hauch des Optimismus, so dünn er auch gewesen sein mag, ist inzwischen völlig verschwunden. Sebald spannt den Bogen der Seidenproduktion bis nach seinem heimischen Norwich, wo er den Alltag eines Seidenwebers im 18. Jahrhundert beschreibt. Die ganze Beschreibung scheint buchstäblich eine Art Dialektik der Aufklärung zu skizzieren, da Sebald explizit auf den Zusammenhang zwischen „Licht“ und „Arbeit“ im siècle des lumières verweist: „Die Vermehrung des Lichts und die Vermehrung der Arbeit, das sind ja Entwicklungslinien, die parallel zueinander verlaufen“ (RS, 333). Die darauf folgende Beschreibung der „Symbiose“ zwischen Menschen und Technologie hätten ja Adorno und Horkheimer schreiben können, so sehr beruht Sebalds Argument auf ihrem soziologischen Ansatz. Sebald zufolge seien die Menschen bereits in der Zeit vor der Industrialisierung mit ihren armen Körpern fast ein Leben lang eingeschirrt gewesen [...] in die aus hölzernen Rahmen und Leisten zusammengesetzten, mit Gewichten behangenen und an Foltergestelle oder Käfige erinnernden Webstühle in einer eigenartigen Symbiose, die vielleicht gerade aufgrund ihrer vergleichsweisen Primitivität besser als jede spätere Ausformung unserer Industrie verdeutlicht, daß wir uns nur eingespannt in die von uns erfundenen Maschinen auf der Erde zu erhalten vermögen. (RS, 334)

Dass die Beschreibung (mitsamt dem Abbild eines an seiner Maschine sitzenden Webers) so stark an die Folterungstechnik in Kafkas „In der Strafkolonie“ erinnert, ist ein typisches Beispiel für Sebalds Methode, soziohistorische Betrachtungen mit literarischen Anspielungen zu verquicken.25 Charakteristisch ist zudem, dass er den Beruf des Webers mit dem _____________ 25

Hier mag man auch an Sebalds Auslegung von Kafkas „Bericht an eine Akademie“ denken, wo er die Menschwerdung Rotpeters als „Paradigma eines uns Menschen noch bevorste-

Claude Lévi-Strauss

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des Schriftstellers vergleicht, als er von den „Weber[n] und [den] mit ihnen in manchem vergleichbaren Gelehrten und sonstigen Schreiber[n]“ redet (RS, 334). Als dialektisches Motiv verbindet die Seide all die Schilderungen von Schriftstellern, die im Laufe des Buchs vorkommen. Dass das Schreiben ein „selbstzerstörerisches Geschäft“ sei, wird durch den Vergleich mit der Seidenproduktion umso deutlicher. Am Schluss des Werkes wird Sir Thomas Browne wiederum mit dem Seidenmotiv in Verbindung gebracht, diesmal allerdings ohne die „geheimnisvolle [...] Fähigkeit zur Transmigration“, sondern vielmehr als Ausdruck der Trauer um die menschliche Vergänglichkeit. Dass es in Holland einst Sitte war, die Spiegel und Bilder im Hause eines Verstorbenen „mit seidenem Trauerflor zu verhängen“ (RS, 350), dass „einst für die Damen der gehobenen Stände das Tragen schwerer Roben aus schwarzem Seidentaft [...] als der einzige angemessene Ausdruck der tiefsten Trauer gegolten“ habe (RS, 350), ist offenbar für Sebald der angemessenste Ausdruck „unsere[r] beinahe nur aus Kalamitäten bestehende[n] Geschichte“ (RS, 350). Mit Hilfe des Seidenmotivs kommt Sebald also wieder auf Sir Thomas Browne zurück, der somit der Erste und Letzte einer langen Reihe von Dichtern und Wissenschaftlern ist, die im Laufe der Ringe des Saturn als „selbstzerstörerisch“ vorgestellt werden. Bei jedem wird eine Dialektik des „Fortschritts“ unterstellt, die nicht nur an die Fortschrittskritik der Frankfurter Schule, sondern auch an die Kolonialismuskritik der modernen Anthropologie anknüpft.

Claude Lévi-Strauss Die Ähnlichkeiten zwischen den „selbstzerstörerischen“ Tendenzen von Schriftstellern einerseits und der anthropologischen Kolonialismuskritik andererseits sind vor allem in Sebalds Lektüre von Claude Lévi-Strauss nachzuvollziehen. Dass beiden Tendenzen eine Art von Fortschrittskritik zugrunde liegt, lässt sich zunächst anhand von Sebalds in der Einleitung zitierten Überlegungen zur „Komplexität unserer Geisteskonstruktionen“ belegen: _____________ henden Evolutionsschrittes“ (Schütte) liest: „Wenn uns, vermittels unerer Kommunikation mit den Maschinen [...] die Vervollkommnung der instrumentellen Vernunft gelungen sein wird, dann wird uns unsere menschliche vie antérieure wohl ebensowenig erinnerlich sein wie dem Affen sein animalisches Vorleben.“ W.G. Sebald, „Tiere, Menschen, Maschinen – Zu Kafkas Evolutionsgeschichten“, in: Literatur & Kritik 2006/06. Zitiert nach Uwe Schütte, „W.G. Sebalds Essays über die österreichische Literatur“, in: The Anatomist of Melancholy, München 2003, S. 63-74, hier S. 73.

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Fortschrittskritik in der Literaturgeschichte

Vielleicht verliert ein jeder von uns den Überblick genau in dem Maß, in dem er fortbaut am eigenen Werk, und vielleicht neigen wir aus diesem Grund dazu, die zunehmende Komplexität unserer Geisteskonstruktionen zu verwechseln mit einem Fortschritt an Erkenntnis, während wir zugleich schon ahnen, daß wir die Unwägbarkeiten, die in Wahrheit unsere Laufbahn bestimmen, nie werden begreifen können. (RS, 217)

Neben der Anprangerung der Selbsttäuschung der Geisteswissenschaftler hat die Passage auch eine andere, verkappte Resonanz, die dieser Fortschrittskritik einen durchaus spezifischeren Rahmen verleiht. Sebalds Wortwahl verweist unmissverständlich auf einen Satz in Claude LéviStrauss’ Tristes tropiques, den Sebald in der deutschen Übersetzung Traurige Tropen anstreicht: „Eine noch ernstere Gefahr sehe ich darin“, schreibt dort Lévi-Strauss, „den Fortschritt der Erkenntnis mit der wachsenden Komplexität der Geisteskonstruktionen zu verwechseln“.26 Das ganze siebte Kapitel der Ringe des Saturn wird damit ins Zeichen der Anthropologie gestellt: Ohne dass Lévi-Strauss in propria persona herangeführt wird, bilden die ersten drei Seiten des Kapitels eine unverkennbare Aneignung der Tristes Tropiques – vor allem des vierten Kapitels, dessen Überschrift sogar ein Echo des Sebald’schen Projekts aufweist. „Das Ringen um die Macht“ hätte ja ein alternativer Titel der Ringe des Saturn sein können, da sich Sebald im Grunde für die Voraussetzungen der modernen Machtverhältnisse interessiert. Das kurze Kapitel ist in Sebalds Exemplar mit kleinen Anstreichungen gespickt, mehr als jedes andere Kapitel. Unter anderem streicht Sebald die Bemerkung an, dass der Name „Brésil, Brasilie“ aus dem französischen Wort für „Holzkohle (bois de braise)“ stammt.27 Diese Bemerkung gibt er dann am Anfang des siebten Kapitels der Ringe des Saturn wieder („Nicht umsonst verdankt das kaum zu ermessende Land Brasilien seinen Namen dem französischen Wort für Holzkohle“, RS 202) – wohl als Indiz dafür, dass er sich hier tatsächlich auf Lévi-Strauss bezieht. Der im Namen „Brésil“ angedeutete Prozess der Verbrennung wird dialektisch verstanden, als die Triebkraft der menschlichen „Entwicklung“: „Die Verkohlung der höheren Pflanzenarten, die unaufhörliche Verbrennung aller brennbaren Substanz ist der Antrieb für unsere Verbreitung über die Erde“, schreibt er. „Verbrennung ist das innerste Prinzip eines jeden von uns hergestellten Gegenstandes“ (RS, 202). Eine spürbare Spannung zwischen Kulturgeschichte einerseits und Naturgeschichte andererseits durchläuft Sebalds Analyse, die sich also nicht nur im Sinne von Lévi-Strauss’ Kritik am Kolonialismus, sondern auch an Hand einer an Adorno und Horkheimer _____________ 26 27

Claude Lévi-Strauss, Traurige Tropen, Frankfurt a.M. 1978, S. 44. Lévi-Strauss, Traurige Tropen, S. 31.

Claude Lévi-Strauss

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geschulten Dialektik der Industrialisierung lesen lässt. „Die Anfertigung eines Angelhakens, die Manufaktur einer Porzellantasse und die Produktion eines Fernsehprogramms beruhen letzten Endes auf dem gleichen Vorgang der Verbrennung“, schreibt Sebald. „Die von uns ersonnenen Maschinen haben wie unsere Körper und wie unsere Sehnsucht ein langsam zerglühendes Herz“ (RS, 202f). Gleichzeitig aber schlägt unsere immer weiter fortschreitende Technik unerbittlich in die Selbstzerstörung um: Die ganze Menschheitszivilisation war von Anfang an nichts als ein von Stunde zu Stunde intensiver werdendes Glosen, von dem niemand weiß, bis auf welchen Grad es zunehmen und wann es allmählich sterben wird. (RS, 203)

In der Form des Partizip Präsens – „werdendes“ – fördert die Syntax die Einsicht, dass die Dialektik als unaufhörlicher Prozess zu verstehen ist: Je weiter die „Zivilisation“ voranschreitet, desto intensiver wird das „Glosen“ ihrer (Selbst-)Verbrennung. „Zivilisation“ wird wiederum als Selbstzerstörung definiert. Sebalds naturhistorisches Idiom am Anfang des siebten Kapitels erinnert an seine Beschreibung von Janine Dakyns’ Büro im ersten Kapitel. Dort sprach er von „Akkumulationsprozessen“ und der „Entwicklung des Papieruniversums Janines“ (RS, 18); hier räumt er der Entwicklung keine Chance ein, indem er sie von Anfang an als einen allmählichen Prozess der Zerstörung interpretiert: Die Entstehungsgeschichte dieser traurigen Gegend ist eng verbunden nicht nur mit der Bodenbeschaffenheit und den Einflüssen des ozeanischen Klimas, sondern, in weit entscheidenderem Maße, mit der über viele Jahrhunderte, ja über Millennien fortschreitenden Zurückdrängung und Zerstörung der dichten Wälder, die nach der letzten Eiszeit sich ausgebreitet haben über das gesamte Gebiet der britischen Inseln. (RS, 201)

Die „Entstehungsgeschichte“ wird damit als ein Prozess der „Zurückdrängung und Zerstörung“ definiert: Das Partizip „fortschreitenden“ wird der Zerstörung zugeschrieben, nicht der Entstehungsgeschichte selbst, die Sebald bestenfalls als „rückläufige Entwicklung“ bezeichnen kann. Worauf beruht dieses dialektische Idiom? Den Indiz liefert Sebalds Lektüre von Lévi-Strauss, die nicht nur diesem Kapitel, sondern gewissermaßen Sebalds ganzem Werk zugrunde liegt. Die in Tristes Tropiques entwickelte Kritik an den Auswirkungen des Kolonialismus kommt nicht nur in der besagten Spannung zwischen Naturgeschichte und menschlicher Produktion, sondern auch in Sebalds Wortwahl zum Ausdruck: Wie zuvor die Wälder in unregelmäßigen Mustern den Erdboden kolonisiert hatten und allmählich zusammenwuchsen, so fraßen sich jetzt in ähnlich unregelmä-

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Fortschrittskritik in der Literaturgeschichte

ßiger Weise immer weiter sich ausdehnende Aschenfelder in die grüne Laubwelt hinein. (RS, 201f)

Dass Sebald das Verb „kolonisiert“ verwendet, um den Prozess des Wachsens zu bezeichnen, lässt sich als eine Ironisierung der Gründe hinter den „sich ausdehnenden Aschenfeldern“ deuten. Im Grunde besteht das ganze Lebenswerk von Lévi-Strauss aus einem über Jahrzehnte wiederholten Versuch, die Aus- und Nebenwirkungen des Kolonialismus und der eurozentrischen Arroganz anzuprangern und zu revidieren, „die Haltungen des modernen Abendländers in die richtige Perspektive zu rücken“, wie Jean Duvignaud das Ziel des Anthropologen zusammenfasst.28 Lévi-Strauss interpretiert die Entwicklung der Geschichte zwar dialektisch, aber nur indem er sie durch die jeweiligen Schicksale von individuellen Menschen liest: Er verzichtet auf den ehrgeizigen Versuch, die Gesamtheit der Geschichte zu erläutern, zugunsten einer bescheideneren, an individuellen Geschichten geschulten Historiografie. Dies erklärt er im Laufe seines Zwists mit Sartre im letzten Kapitel von Das wilde Denken („Geschichte und Dialektik“). „Ethnologie“, wie Sartre sie für sich in Anspruch nimmt, sei nichts mehr als die „dialektische Vernunft“ unter einem anderen Namen: Diese Methode könnte auch den Namen „progressiv-regressiv“ für sich beanspruchen; in der Tat ist diejenige, die Sartre unter diesem Begriff beschreibt, keine andere als die ethnologische Methode, wie die Ethnologen sie schon seit vielen Jahren praktizieren.29

Die Bezeichnung seiner Methode als „progressiv-regressiv“ mag zwar an Sebalds Rezeption von Adorno und Horkheimer erinnern, dennoch geht Lévi-Strauss weiter, indem er behauptet, seine Methode sei „nicht einfach progressiv-regressiv“, sondern „zweifach“ (291): In einer ersten Etappe beobachten wir die erlebte Gegenwart, wir analysieren sie in der Gegenwart, suchen ihre Vorgeschichte zu erfassen, so tief wir in die Vergangenheit dringen können, und holen diese Tatsachen an die Oberfläche, um sie einer signifikanten Totalität zu integrieren. Dann beginnt die zweite Etappe, die die erste auf einem anderen Gebiet wiederholt: diese interiorisierte menschliche Sache [...] zeigt der analytischen Vernunft lediglich den zu überwindenden Abstand.30

Dieser zweifachen Methodologie folgt Sebald dadurch, dass er die geschichtsphilosophische „Totalität“ der Dialektik auf die verschiedenen Geschichten seiner Protagonisten anwendet: Die zweite Etappe der „interiorisierte[n] menschliche[n] Sache“ vollzieht er, indem er immer wieder _____________ 28 29 30

Jean Duvignaud, „Claude Lévi-Strauss“, in Schriftsteller der Gegenwart: Französische Literatur, hrsg. von Bernard Pingaud, Breisgau 1965, S. 139. Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken, Frankfurt a.M. 1968, S. 291. Lévi-Strauss, Das wilde Denken, S. 291.

Claude Lévi-Strauss

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all die in seinen Büchern auftretenden Schriftsteller, Forscher und Ausgewanderten vor der Kulisse des in die Regression umschlagenden gesellschaftlichen Fortschrittes zu Wort kommen lässt. „Das wilde Denken“ impliziert also nicht nur die bekannte Technik des bricolage, sondern auch eine Empathie mit den „Wilden“, mit den kulturellen „Anderen“, die einer eurozentrischen, am Kolonialismus geschulten Mentalität wesentlich fremd ist. Diese Empathie – oder „Leidensgenossenschaft“, um mit Bernhard zu sprechen – wendet Sebald seinerseits auf seine Protagonisten an, als eine Art literarische Verarbeitung des ethnologischen Prinzips. Die von Sebald angestrichenen Passagen im besagten Kapitel von Traurige Tropen („Das Ringen um die Macht“) lesen sich wie eine Blaupause der Ringe des Saturn. Zwei Absätze, die Sebald fast durchgehend am Rande der Seite angestrichen hat, seien hier stellvertretend zitiert: Nie wieder werden uns die Reisen, Zaubertruhen voll traumhafter Versprechen, ihre Schätze unberührt enthüllen. Eine wuchernde, überreizte Zivilisation stört für immer die Stille der Meere. Eine Gärung von zweifelhaftem Geruch verdirbt die Düfte der Tropen und die Frische der Lebewesen, tötet unsere Wünsche und verurteilt uns dazu, halb verfaulte Erinnerungen zu sammeln. Heute, da die polynesischen Inseln in Beton ersticken und sich in schwerfällige, in den Meeren des Südens verankerte Flugblasen verwandeln, da ganz Asien das Gesicht eines verseuchten Elendsgebiets annimmt, Afrika von Barackenvierteln zerfressen wird, Passagier- und Militärflugzeuge die Reinheit des amerikanischen oder melanischen Urwalds beflecken, noch bevor sie ihre Jungfräulichkeit zu zerstören vermögen, – was kann die angebliche Flucht einer Reise da anderes bedeuten, als uns mit den unglücklichsten Formen unserer historischen Existenz zu konfrontieren? Denn der westlichen Kultur, der großen Schöpferin all der Wunder, an denen wir uns erfreuen, ist es nicht gelungen, diese Wunder ohne ihre Kehrseiten hervorzubringen. Und ihr berühmtestes Werk, der Pfeiler, auf dem sich Architekturen von ungeahnter Komplexität erheben: die Ordnung und Harmonie des Abendlands, verlangt, daß eine Flut schädlicher Nebenprodukte ausgemerzt wird, die heute die Erde vergiften. Was uns die Reisen in erster Linie zeigen, ist der Schmutz, mit dem wir das Antlitz der Menschheit besudelt haben.31

Bemerkenswert ist nicht nur der elegische Tonfall, den Sebald ohne weiteres in Die Ringe des Saturn übernimmt, sondern auch die bewusst dialektische Interpretation der Geschichte: „der westlichen Kultur [...] ist es nicht gelungen, diese Wunder ohne ihre Kehrseiten hervorzubringen“. Das Verhältnis zwischen Kultur und Natur, die dialektische Spannung zwischen Kulturgeschichte und Naturgeschichte, bildet damit den Kern von Sebalds Lektüre von Lévi-Strauss: _____________ 31

Lévi-Strauss, Traurige Tropen, S. 31.

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Fortschrittskritik in der Literaturgeschichte

Indem die Kultur die Natur verwirft und zerstückelt, stellt sie sich zunächst die Aufgabe, mit der Fülle Leere zu machen. Und wenn sie sich dem Werden öffnet, gibt sie sich die komplementäre Möglichkeit, mit der Leere Fülle zu machen; doch dann muß sie sich unvermeidlich damit abfinden, sich bei ihren Unternehmen Kräfte dienstbar zu machen, die sie einst verdammte, da die Geschichte, die ihr das Mittel für diese Kehrtwendung liefert, als zweite Natur in sie eingreift: diejenige, die die Menschheit, dem historischen Werden unterworfen, aussondert, indem sie ihre Vergangenheit mit immer neuen Schichten umgibt und die anderen in die Tiefe verweist, – wie um die unüberbrückbare Distanz auszufüllen, die sie von der Welt trennt, die eine geplünderte und versklavte Natur zu verlassen droht.32

Diese von Sebald zweimal angestrichene Passage am Schluss des sechsten Teils des dritten Bandes der Mythologica („Der Ursprung der Tischsitten“) nimmt den Terminus der Leere vorweg, dessen sich Sebald sowohl im Gespräch mit Michael Hamburger als auch im allerersten Satz des Buches bedient (wo er seine Hoffnung beschreibt, „der nach dem Abschluß einer größeren Arbeit in mir sich ausbreitenden Leere entkommen zu können“ [RS, 11]). Wie hier bei Lévi-Strauss setzt ein Idiom der Leere die Möglichkeit seines Umschlags in die Fülle voraus, da diese „Leere“ nur im Gegensatz zur „Fülle“ definiert werden kann. Manchmal scheint es sogar, als bestünde für Sebald das Ziel des Buchs darin, „mit der Fülle Leere zu machen“, indem er die im Laufe der Jahrhunderte angehäufte Kultur nicht aufbewahrt – wie von manchen Kritikern vermutet wird33 – sondern schlichtweg über Bord wirft, in einem vergeblichen Versuch, die westliche Kultur vor sich selbst zu retten.34 Immer wieder im Laufe der Ringe des Saturn betont Sebald die Zerstörung, sei es in Form der Verbrennung, der Vernichtung oder des Verfalls: In jedem der zehn Teile steht der Prozess des Untergangs, des Sterbens oder des Zerfalls im Mittelpunkt. Es scheint, als ob Sebald die mörderische Zerstörungswut der abendländischen Kultur gegen sie selbst wenden möchte, ganz im Sinne von Lévi-Strauss’ Kritik an der Arroganz der europäischen Selbstliebe, die er in der Sartre’schen Formel „die Hölle, das sind die Anderen“, verkörpert sieht: Wenn hingegen die wilden Völker die Formel „die Hölle, das sind wir selbst“, verkünden, so erteilen sie eine Lektion an Bescheidenheit, von der wir wünschten, wir seien noch fähig, sie zu vernehmen. In diesem Jahrhundert, in dem der Mensch danach trachtet, zahllose lebendige Formen zu zerstören – nach so vielen

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Claude Lévi-Strauss, Mythologica Bd. 3, „Der Ursprung der Tischsitten“, Frankfurt a.M. 1973, S. 461. Anne Fuchs spricht zum Beispiel von einer „Zivilisationskritik“, die „die vergessenen Dinge der Geschichte zu Tage befördert“ (Fuchs, Die Schmerzensspuren der Geschichte, S. 192). Vielleicht wäre die Zweideutigkeit der Hegel’schen Formel der dialektischen „Aufhebung“ angebracht. Sebald will sammeln und zerstören, aufbewahren und auslöschen.

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Gesellschaften, deren Reichtum und Vielfalt seit undenklichen Zeiten sein deutlichstes Erbe bildeten –, ist es notwendiger denn je zu sagen, wie die Mythen es tun, daß eine wohl geordnete Humanität nicht mit sich selbst beginnt, sondern die Welt vor das Leben setzt, das Leben vor die Menschen und die Achtung der anderen Wesen vor die Selbstliebe; und daß selbst ein Aufenthalt von ein oder zwei Millionen Jahren auf dieser Erde, da er auf alle Fälle ein Ende haben wird, nicht irgendeiner Rasse, und sei es auch der unseren, als Entschuldigung dafür dienen kann, sie sich gleich einem Ding anzueignen und sich darin schamlos und rücksichtslos zu verhalten.35

Dass Sebald diesen Absatz, den Schluss des dritten Bandes der Mythologica, mehrmals anstreicht, dürfte daher wenig überraschen: „Die Hölle, das sind wir selbst“, wäre ja ein treffender Untertitel nicht nur für Die Ringe des Saturn, sondern für Sebalds gesamtes Werk.

Joseph Conrad Lévi-Strauss’ Umformulierung der berühmten Sartre’schen Formel von Huis Clos erinnert an Joseph Conrads Heart of Darkness, eine Erzählung, die eine Art von literarischem Gegenstück zu den wissenschaftlichen Untersuchungen von Tristes Tropiques bildet. Im fünften Teil der Ringe des Saturn beschäftigt sich Sebald mit der „größtenteils noch ungeschriebenen Geschichte des Kolonialismus“ (RS, 143), die er durch die Augen nicht nur Conrads, sondern auch des irischen Diplomaten Roger Casement wahrnimmt. Das, was Sebald als „den Wahnwitz des ganzen kolonialen Unternehmens“ bezeichnet (RS, 142), kommt durch ihre Augen exemplarisch zum Ausdruck. Casements Geschichte wird als Rahmen für die viel längere Nacherzählung von Conrads Leben verwendet, dessen Umrisse Sebald mit der fiktiven Handlung von Heart of Darkness verschmilzt,36 um seine Kolonialismuskritik besser in Szene setzen zu können. Anne Fuchs hat gezeigt, inwiefern diese Technik problematisch ist, da Sebald vorgibt, Conrads Leben biografisch und nüchtern nachzuvollziehen, während er sich eigentlich an seine Stelle setzt und kleine, aber wichtige Bemerkungen hinzufügt. Fuchs hat beispielweise darauf hingewiesen, dass Sebald mit Conrads Biografie A Personal Record kreativ umgeht, dass er etwa Conrads Leben mit seinen Erzählungen verschmilzt, um, wie sie behauptet, „die romantisie_____________ 35 36

Lévi-Strauss, Mythologica Bd. 3, S. 546. Die jeweiligen Lebenswege von Casement und Conrad werden von Sebald ohnehin verschmolzen: Holger Steinmann suggeriert, dass das angeblich Casements Tagebuch entstammende Textbild in Wirklichkeit von Conrad stammt. Siehe Steinmann, W.G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei, S. 155.

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rende Tendenz der Conrad-Biografik“ bewusst zu verstärken.37 Fuchs hat zweifellos recht, sich kritisch zu Sebalds Stilisierung von Conrad „zum ersten Dekonstruktivisten des kolonialen Unterfangens“ zu verhalten: Vielleicht übertreibt sie jedoch, wenn sie behauptet, diese Stilisierung laufe auf „eine hagiografische Verklärung der Kongo-Erfahrung als eines Leidenswegs“ hinaus.38 Im Kontext einer Analyse von Sebalds Lektüre von Lévi-Strauss und Adorno bzw. seiner stilistischen Abhängigkeit von ihrer dialektischen Deutung der Geschichtsentwicklung erweist sich seine literarisch bearbeitete Darstellung von Conrads Leben nicht als „romantisierende“ Hagiografik, sondern als eine konsequente Veranschaulichung seiner Fortschrittskritik. Marlowes Kongo-Erfahrungen werden in die Schale von Conrads schriftstellerischen Tätigkeiten geworfen, die ihrerseits von Casements kolonialen Erlebnissen umrahmt werden – womit veranschaulicht wird, inwiefern die Aktivität des Schreibens ebenso wenig als der Kolonialismus zum Fortschritt beizutragen vermag. Indem der Schriftsteller Conrad der gleichen negativen Vision des Fortschrittes unterworfen wird wie sein von den Auswirkungen des Kolonialismus angeekelter Protagonist Marlowe, findet Sebalds oben besprochene Übertragung von Lévi-Strauss’ ursprünglich gegen den Kolonialismus gerichteten Wörtern auf den Kontext des Schreibens – „Vielleicht verliert ein jeder von uns den Überblick genau in dem Maß, in dem er fortbaut am eigenen Werk” – ihren treffenden Ausdruck. Sebalds Wortwahl lässt jedenfalls keinen Zweifel daran, dass er die koloniale Aneignung des Fortschrittsbegriffes anprangern will: Es ginge darum, sagte König Leopold, die Finsternis zu durchbrechen, in der heute noch ganze Völkerschaften befangen seien, ja es ginge um einen Kreuzzug, der wie kein anderes Vorhaben angetan sei, das Jahrhundert des Fortschritts seiner Vollendung entgegenzuführen. Naturgemäß verflüchtigte sich in der Folge der hohe, in dieser Deklaration zum Ausdruck gebrachte Sinn. (RS, 144)

Der Scheinheiligkeit der königlichen Behauptung, dass es darum ginge, „Völkerschaften“ zu befreien, dass es ja sogar um einen „Kreuzzug“ im Namen des „Fortschrittes“ ginge, setzt Sebald lapidar das Bernhard’sche Adverb „naturgemäß“ entgegen. Genau wie der von Benjamin und Adorno hergeleitete Begriff der Naturgeschichte als unaufhaltsamer Prozess der Verwesung und Zerstörung verstanden wird, so unterstellt das Adverb „naturgemäß“ eine „Fatalität“, die die Eitelkeit des „Fortschrittes“ verspottet. Dialektisch gesehen treibt es damit einen Keil zwischen den von der Aufklärung angekündigten Begriff des Fortschritts einerseits und dessen unabwendbaren Umschlag andererseits, denn gemäß Sebald liege es in _____________ 37 38

Fuchs, Die Schmerzensspuren der Geschichte, S. 197. Fuchs, Die Schmerzensspuren der Geschichte, S. 199.

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der Natur des Fortschritts, dass sich sein „hohe[r] Sinn“ im Laufe der Zeit verflüchtigen müsse. Sebald sieht Brüssel also als das dialektische Pendant zum Kongo, als die Kehrseite und den Nutznießer seiner Ausbeutung. Korzeniowski bzw. Conrad erlebt „die Hauptstadt des Königreichs Belgien mit ihren immer bombastischer werdenden Gebäuden [als] ein über einer Hekatombe von schwarzen Leibern sich erhebendes Grabmal, und die Passanten auf den Straßen kommen ihm vor, als trügen sie allesamt das dunkle kongolesische Geheimnis in sich“ (RS, 149).39 Sebalds Einstellung zu Belgien mag zwar etwas bizarr klingen – als er etwa behauptet, es gäbe in Belgien „bis auf den heutigen Tag eine besondere, von der Zeit der ungehemmten Ausbeutung der Kongokolonie geprägte, in der makabren Atmosphäre gewisser Salons und einer auffallenden Verkrüppelung der Bevölkerung sich manifestierende Häßlichkeit“ (RS, 149) –, dennoch zeugt sie von seinem dialektischen Verständnis der Geschichte, die auch hier bis in seine Syntax hineinreicht: Die heutige „Häßlichkeit“ Belgiens kann erst durch die verschachtelten Nebensätze ihrer kolonialen Vergangenheit verstanden werden. Ebenso interessant ist zudem die Tatsache, dass Sebalds Kriterien der Hässlichkeit keineswegs ausschließlich ästhetisch sind, sondern vielmehr auf einer „ästhetisch-ethischen“ Verschränkung beruhen. „Hässlichkeit“ wird hier nicht nur als ästhetisch unbefriedigend, sondern als historisch verfälschend bzw. romantisierend empfunden. Sebalds Ablehnung der „ganze[n] sogenannte[n] historische[n] Gedenkstätte“ erinnert zwar stilistisch an die Bernhard’sche Rhetorik des „sogenannten“ (mit der Bernhard immer wieder sozio-historische Gemeinplätze anprangert), sie suggeriert aber auch die wahren historischen Verbindungen, die Sebald mitklingen lassen will: Zwischen dem Kongo und Brüssel, zwischen Waterloo und dem nahe gelegenen Fort Breendonk. Dass er an solche Verbindungen denkt, unterstellt Sebald mit seiner historiografischen Behauptung, „man befindet sich sozusagen am imaginären Mittelpunkt der Ereignisse“ (RS, 151). Und dennoch könne man die Vergangenheit nie richtig verstehen, da „die Kunst der Repräsentation der Geschichte [...] auf einer Fälschung der Perspektive [beruht]. Wir, die Überlebenden, sehen alles von oben herunter, sehen alles zugleich und wissen dennoch nicht, wie es war“ (RS, 152). Wenn es also ein Fehler wäre, „alles von oben herunter“ zu betrachten, so hieße vielleicht die Antwort, die Geschichte eher dialektisch auszulegen, ihre Entwicklung zu verfolgen statt ihre Ergebnisse zu monumentalisieren. _____________ 39

Conrad nimmt hier Sebalds Kritik des Brüsseler Justizpalasts in Austerlitz vorweg.

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Fortschrittskritik in der Literaturgeschichte

Sebalds Interesse an den Lebenswegen von Conrad und Casement steht daher zum einen im Zeichen seiner Aneignung der LéviStrauss’schen Kolonialismuskritik als Teil seiner breiteren Auseinandersetzung mit den Nebenwirkungen des „Fortschrittes“: Zum anderen knüpft es an seine lebenslange Analyse der Bedingungen des Schreibens an. Conrad der Kolonialismus-Kritiker ist auch Conrad der weltberühmte Schriftsteller. Sebalds Zweifel am Fortschrittsbegriff, den er „naturgemäß“ als dialektisch bedingt betrachtet, gilt für die Möglichkeit des Weiterschreibens ebenso wie für die Weiterentwicklung der vom Kolonialismus geplagten Geschichte.

Die Leichtigkeit der Schwermut Sebalds „Kunst der Levitation“ 1

Im Laufe dieser Studie zu Sebalds dialektischem Stil ist das weit verbreitete Klischee des „Melancholikers“ stets unterschwellig mitgeschwungen. Da Sebalds Fortschrittskritik auf einen historischen Pessimismus hinausläuft, scheint es auf der Hand zu liegen, dass eine solche „negative Dialektik“ melancholisch gefärbt sein muss: Dass sein Werk „im Zeichen Saturns“ steht, ist längst zum Gemeinplatz der Sekundärliteratur geworden.2 Man könnte zahlreiche Beispiele der Rezeption Sebalds als „SchwermutKünstler“ (Sigrid Löffler) anführen: Sebald ist ja zeitweise fast nur als Melancholiker rezipiert worden.3 „Die deutsche Kritik [...] hat bislang an Sebald stets das ‚Saturnische’ gefeiert [...] oder ihm ‚schwarzen Narzissimus’ und allzu ungebrochene Larmoyanz vorgeworfen“, so Oliver Pfohlmann.4 Die grundlegende Melancholie der Prosa Sebalds ist tatsächlich nicht wegzudenken, denn Sebald stellt unleugbar ein Musterbeispiel des benjaminischen Melancholikers des späten 20. Jahrhunderts dar – und zwar in zunehmendem Maße während des letzten Jahrzehnts seines Lebens, wie Richard Sheppard dargelegt hat.5 Jedoch schreibt Sebald selbst in seinem Döblin-Buch, die Melancholie sei „nicht nur eine Krankheit, sondern auch die Patronin der Kreativität“ (MZ, 112). Sebalds Auffassung der Melancholie ließe sich daher dialektisch verstehen. In diesem letzten Kapitel soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern die Melancholie in Sebalds _____________ 1 2 3

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Eine frühere Fassung dieses Kapitels erschien im Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 50 (2006), S. 457-477. Siehe zum Beispiel Renate Just, „Im Zeichen des Saturn. Ein Besuch bei W.G. Sebald“, in: Porträt: W.G. Sebald, Eggingen 1997, S. 37-42. Sigrid Löffler, „Melancholie ist eine Form des Widerstands“, Text + Kritik 158 (April 2003), S. 103-111. Siehe unter anderem auch The Anatomist of Melancholy, hrsg. von Rüdiger Görner, München 2003; Andreas Isenschmid, „Melencholia: W.G. Sebalds ‚Schwindel. Gefühle’“, Porträt: W.G. Sebald, Eggingen 1997, S. 70-74; Andreas Isenschmid, „Melancholische Merkwürdigkeiten: W.G. Sebalds ‚englische Wallfahrt’ in leeren Landschaften mit den überraschendsten Funden“, Porträt: W.G. Sebald, S. 124-126; Pierre Deshusses, „W.G. Sebald: La magie de la mélancholie“, Le Monde 19/12/2001, S. 33. Oliver Pfohlmann, „Das Lächeln nach Innen“, Tageszeitung, 7/6/2003, S. 14. Richard Sheppard, „Dexter – Sinister“, Journal of European Studies 35/4 (2006), S. 419-463.

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Die Leichtigkeit der Schwermut

Werk überwunden werden kann. Schließt eine melancholische Gemütsverfassung die Möglichkeit der Freude völlig aus? Oder bleiben vielleicht idyllische Momente, Schlupflöcher, in die der Melancholiker sich retten kann? Sebald besteht selber darauf, dass sein literarisches Schaffen nicht nur „ungebrochene Larmoyanz“ zum Ausdruck bringt, sondern dass gerade der Prozess des Schreibens die Überwindung dieser Larmoyanz ermöglicht: „Die Beschreibung des Unglücks schließt in sich die Möglichkeit zu seiner Überwindung ein“, so heißt es bekanntlich im Vorwort zu Die Beschreibung des Unglücks (BU, 12). Was bedeutet aber hier Überwindung? Was kennzeichnet diese glücklicheren Augenblicke, und in welchem Verhältnis stehen sie zu der in Sebalds Texten sonst so bedrückenden Melancholie? Lässt sich vielleicht sogar behaupten, dass solche positiven Momente der Melancholie dialektisch bedürfen – und sie dadurch rechtfertigen? Wären die „epiphanies“, die Sebald in seinem Exemplar einer englischsprachigen Monografie über Kafka als die positive Umkehrung des Schwindelgefühls hervorhebt, ohne den Rahmen der Melancholie überhaupt möglich?6 Zur Beantwortung dieser Fragen werden hier zwei in Sebalds Werk wiederkehrende Möglichkeiten der Überwindung der Melancholie untersucht. Zunächst werden die Begriffe der „Levitation“ und der „Leichtigkeit“ durch seine Schriften hindurch verfolgt, wobei darauf zu achten wäre, dass die Levitation in Sebalds Werk sowohl Thema als auch Technik, sowohl Motiv als auch Ziel des Schreibens ist. Danach wird die mit Levitation verbundene Möglichkeit des Glücks en miniature, das Motiv verkleinerter Welten, unter die Lupe genommen. Der überraschende Befund der Analyse ist die Einsicht, dass Sebalds Werk nicht nur die Bedeutung des Erinnerns, sondern auch die Notwendigkeit des Vergessens betont: Gegen Nietzsches „Last des Vergangenen“ setzt Sebald die Leichtigkeit, gegen Benjamins „Engel der Geschichte“ die zeitlosen „Jetztzeiten“ der Levitation. Sebalds „Kunst der Levitation“ bleibt damit durchaus im Bereich des Dialektischen, indem sie die positive Kehrseite des historischen Pessimismus bildet.

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Franz Kuna, Kafka: Literature as Corrective Punishment, London 1974, S. 27. Die betreffende Passage bezieht sich auf Hofmannsthals „Chandos Brief“: Kuna stellt die „epiphanies“ von Proust oder Joyce als Pendant zu den Schwindelgefühlen von Chandos vor.

Leichtigkeit als Ziel

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Leichtigkeit als Ziel Wenn wir durch Sebalds eigene Worte schon von der „Beschreibung des Unglücks“ als von einem Prozess der Überwindung sprechen können, sehen wir uns dazu zusätzlich autorisiert angesichts der Tatsache, dass Sebald sowohl in seinen Prosawerken als auch in seinen literaturkritischen Schriften die Möglichkeit von Momenten des Glücks immer wieder reflektiert. Der Schwermut seiner Erzähler bzw. Protagonisten setzt er wiederholt die „Idee der Schwerelosigkeit“ entgegen (BU, 181). Verfolgt man das Motiv durch sein ganzes Werk hindurch, so leuchtet ein, dass dieses „Gefühl der Levitation“ (RS, 30) immer wichtiger wird: In den späteren Texten Die Ringe des Saturn und Austerlitz sowie in den Fragmenten aus dem „Korsika-Projekt“ wiederholt es sich auffallend und scheint somit in einem Wechselverhältnis zur ebenfalls zunehmenden Melancholie in Sebalds Schriften zu stehen. Sollte man also die Momente der Levitation auch als anders explizierte Entsprechungen der berühmten „Schwindelgefühle“ aus Sebalds erstem Buch verstehen? Ehe wir diese Frage beantworten können, wollen wir zunächst den theoretischen Hintergrund des Motivs der Levitation abstecken, indem wir uns auf Sebalds Exemplar von Italo Calvinos Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend beziehen. In Calvinos Vorlesungen ist es vor allem das erste Kapitel – „Leichtigkeit“ – das Sebald mit vielen Unterstreichungen und Randbemerkungen versehen hat. Diese Bemerkungen sind insofern äußerst aufschlussreich, als sie uns eine Einsicht in seine Beschäftigung mit Calvinos Thema vermitteln. Wiederholt unterstreicht Sebald Calvinos Definitionsversuche, was der Italiener zum Beispiel „das Problem der universalen Gravitation [...], oder besser gesagt, das Problem, sich der Schwerkraft zu entziehen“, nennt.7 Später definiert Calvino „die Literatur als existentielle Aufgabe, die Suche nach Leichtigkeit als Reaktion auf die Schwere des Lebens“.8 Es bliebe aber nur eine Suche, moniert er, denn der „Zusammenhang von ersehnter Levitation und erlittener Privation ist eine anthropologische Konstante“.9 Anders gesagt, die Levitation – so Calvino – findet nur sehr selten statt, und wenn schon, dann nur als vorübergehendes Moment, denn sie entspringt eben der dialektischen Natur „de[s] eigentümlichen Zusammenhang[s] von Melancholie und Humor“.10 _____________ 7 8 9 10

Italo Calvino, Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend, übersetzt von Burkhart Kroeber, München 1991, S. 40. Calvino, Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend, S. 45. Calvino, Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend, S. 46. Calvino, Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend, S. 37.

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Die Leichtigkeit der Schwermut

Die wohl interessanteste Anmerkung Sebalds betrifft aber die Geschichte von Perseus und Medusa. „Um den Kopf der Medusa abzuschlagen“, schreibt Calvino, „hält Perseus sich an das Allerleichteste, an die Winde und Wolken; und er richtet seinen Blick auf das, was sich ihm nur in einer indirekten Sicht enthüllen kann, als Bild in einem Spiegel“.11 Neben diesem Satz hat Sebald „die Schrecken der Wirklichkeit“ geschrieben, eine Anmerkung, die uns auf Sebalds eigene Methode verweist, sich mit diesen Schrecken zu beschäftigen, denn sein diskreter Umgang mit den Schrecken der Shoa scheint eben dieser Methode zu entsprechen. „Immer ist es eine Ablehnung des direkten Anblicks, aus der Perseus seine Kraft bezieht,“ notiert Calvino, „nicht aber eine Ablehnung der Realität der Monsterwelt, in der zu leben ihm beschieden ist, einer Realität, die er mit sich herumträgt, die er als seine Bürde annimmt“.12 Ähnlich versucht Sebald der Bürde der NS-Verbrechen die „Leichtigkeit“ seiner Erzählweise entgegenzusetzen: Er nähert sich der Vergangenheit indirekt, indem er Geschichten erzählt, die von Episoden einzelner Randfiguren angereichert und mit seiner im ersten Kapitel dieser Studie analysierten „verschachtelten“ Rahmentechnik versehen sind, wodurch der Verlauf immer wieder unterbrochen und erneut in die Ferne gerückt wird. Dass Sebald erzähltechnisch so verfährt, wird noch deutlicher dadurch, dass er das Bild der Medusa verwendet, um die Shoa sprachlich zu fassen: Die Shoa sei eine Medusa, die nur indirekt angeschaut werden darf, äußerte er in einem englischen Interview. Das Bild der Medusa entnimmt er dabei wohl der Gedankenwelt von Primo Levi, dessen I sommersi e i salvati Sebald in englischer Sprache besaß und bei dem er eine Stelle unterstrich, an der auch Levi die Gorgo als Bild des Holocausts verwendet.13 Die Unterstreichungen Sebalds bei Calvino weisen darauf hin, dass ihm die Suche nach der „Leichtigkeit“ als Ziel des (Be)Schreibens wichtig war, sowohl was den Umgang mit dem Holocaust als auch was die Möglichkeit des persönlichen Glücks anging. Leichtigkeit bildet nicht nur ein wiederkehrendes Motiv in Sebalds Werk, sondern stellt darüber hinaus eine poetische Methodologie dar. In einem Interview mit Sven Siedenberg aus dem Jahr 1996 legt Sebald sein literarisches Ziel folgendermaßen dar: Das ist mein schriftstellerischer Ehrgeiz: die schweren Dinge so zu schreiben, dass sie ihr Gewicht verlieren. Ich glaube, dass nur durch Leichtigkeit Dinge vermittelbar sind und dass alles, was dieses Bleigewicht hat, auch den Leser in einer Form belastet, die ihn blind macht. Wir deutschen Autoren haben kein be-

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Calvino, Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend, S. 17. Calvino, Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend, S. 18. Primo Levi, The Drowned and the Saved, London 1988, S. 64.

Leichtigkeit als Ziel

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sonders ausgeprägtes Talent für diese gemischten Gefühle, die die Literatur am Leben erhalten.14

Es mag sein, dass solche Leichtigkeit tatsächlich kein deutsches Talent ist; Sebald selbst stützt sich aber immer wieder auf deutschsprachige Vorgänger, wie etwa auf den von ihm als wichtigen Einfluss benannten Jean Paul,15 dessen Vorschule der Ästhetik an einer Stelle an Sebalds eigenen „schriftstellerischen Ehrgeiz“ erinnert: „Der rechte Dichter wird [...] begrenzte Natur mit der Unendlichkeit der Idee umgeben und jene wie auf einer Himmelfahrt in diese verschwinden lassen“.16 Dass das Bild der Levitation nicht nur in der Literatur der Romantik wurzelt, sondern auf Dante und christliche Darstellungen der Himmelfahrt zurückgreift, wurde schon von Karl Pestalozzi in seinem Die Entstehung des lyrischen Ich. Studien zum Motiv der Erhebung in der Lyrik erarbeitet.17 Bei Sebald wäre das Motiv vor allem auf sein Interesse an der Biedermeierepoche und dem späten 19. Jahrhundert zurückzuführen. Levitation als Ziel des Schreibens ist Sebald offenbar so wichtig, dass er nicht nur sein Schreiben darauf ausrichtet, sondern die Leichtigkeit – die man als Voraussetzung für die Levitation verstehen kann – durch sein gesamtes literarisches Oeuvre hindurch thematisiert. Schon das Gedicht Nach der Natur gipfelt in einem Flugtraum, „hoch über die Erde hin“: Ich weiß jetzt, wie mit dem Aug eines Kranichs überblickt man sein weites Gebiet, wahrhaftig ein asiatisches Schauspiel, und lernt langsam an der Winzigkeit der Figuren und der unbegreiflichen Schönheit der Natur, die sie überwölbt, jene Seite des Lebens zu sehen, die man vorher nicht sah. (NN, 98)

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Sven Siedenberg, „Anatomie der Schwermut: Interview mit W.G. Sebald“, Porträt: W.G. Sebald hrsg. von Franz Loquai, Eggingen 1997, S. 147. Es sei noch einmal auf die Liste seiner Einflüsse verwiesen: „Jean Paul Friedrich Richter, Gottfried Keller, Johann Peter Hebel, Adalbert Stifter, Robert Walser, Joseph Roth, Giorgio Bassani, Thomas Bernhard“ (Interview mit Sebastian Shakespeare, Literary Review, Oktober 2001, S. 50). Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, Werke Bd. V, München 1963, S. 43. Sebald war offenbar mit der Vorschule der Ästhetik vertraut, denn er zitiert aus ihr mehrmals in einem Aufsatz über Gerhard Roth (Unheimliche Heimat, S. 145-61) und verwendet sogar ein Zitat als Epigraph für „Paul Bereyter“ in Die Ausgewanderten: „Manche Nebelflecken löset kein Auge aus“ (Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, Werke Bd. V, München 1963, S. 64). Siehe Karl Pestalozzi, Die Entstehung des lyrischen Ich. Studien zum Motiv der Erhebung in der Lyrik, Berlin 1970, für eine ausführliche Untersuchung des Themas von Dante bis zu George und Mallarmé.

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Die Leichtigkeit der Schwermut

Dies ist das erste Beispiel einer Betrachtungsweise, die Sebald später als den „synoptischen Blick“ bezeichnen wird. In Frage kommt hier die Perspektive eines Künstlers, der erst mittels der Levitation lernt, „jene Seite des Lebens zu sehen, | die man vorher nicht sah“. Dabei ist das Sehen der wichtigste Sinn: Aus der Vogelperspektive schaut der Erzähler hinab, von dieser Höhe kann er ja viel weiter sehen (was durch die Versverschleifung am Ende der ersten drei Zeilen suggeriert wird). Bemerkenswert ist zudem, dass der ganze Satz bzw. das ganze Gedicht als ein Traum vorgestellt wird: „Herr, mir hat es geträumt“, beginnt das Gedicht (NN, 96). So möchte Sebald auf die Welt hinabblicken können, so sollte uns die Literatur zu einer erhöhten Pespektive verhelfen. Das Leben ist jedoch nicht so – scheint er unterstellen zu wollen –, und eben deswegen brauchen wir die Kunst. Die Augenblicke der Levitation in Sebalds Werk lassen sich daher als utopisch bezeichnen. Seinem griechischen Ursprung gemäß bedeutet Utopie bekanntlich „nirgendwo“: Da die Momente von Levitation beinahe immer im Bereich des Hypothetischen bleiben und vom weitergehenden Verlauf der Geschichte begrenzt sind, kann man mit Recht von der utopischen Natur dieser Momente sprechen. Auffällig ist zudem, dass die glücklicheren Momente in Sebalds Werk fast immer von einem Gefühl der Zeitlosigkeit begleitet sind, als wäre ein solches Glück in Zeitgebundenheit unmöglich.18 Hier nähert sich Sebald einer Art von „Dialektik im Stillstand“, wo der dialektische Verlauf der Geschichte in Momenten der Zeitlosigkeit aufgehoben ist. Als Beispiel hierfür kann ein Ausschnitt aus Ambros’ Tagebuch aus Die Ausgewanderten angeführt werden, wo Ambros am Ende seiner Erzählung die glückliche Zeit des Reisens mit Cosmo beschreibt. Dreimal innerhalb von dreizehn Seiten wiederholt sich die Formulierung (jedesmal mit einem Seufzer der Zufriedenheit): „Einen Tag lang außer der Zeit“ (Aus, 189).19 Auch die Biedermeierwelt Mörikes schildert Sebald bekanntlich als beinahe zeitlos: „Blickt man in diesen sicher umgrenzten Orbis Pictus eine Zeitlang hinein, dann könnte man meinen, hier habe einer das Uhrwerk angehalten und gesagt: so soll es jetzt bleiben für immer“ (Logis, 81).

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Auch Pestalozzi zufolge ist die Zeitlosigkeit ein Kennzeichen des „lyrischen Ich“ in der Erhebung (Pestalozzi, Die Entstehung des lyrischen Ich. Studien zum Motiv der Erhebung in der Lyrik, S. 345). Siehe auch: „Oder sind wir nicht mehr in der Zeit?“ (S. 196); „Man weiß nicht, in welcher Zeit oder Weltgegend man sich befindet.“ (S. 203).

Nietzsche und „das Vergessen-Können“

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Nietzsche und „das Vergessen-Können“ All diese Momente der Gewichtslosigkeit ließen sich auch als Momente des Vergessens bezeichnen, denn sie lösen sich von der Vergangenheit gerade durch ihre Zeitlosigkeit ab, als hätten sie die von Nietzsche als Last empfundene Geschichte abgeworfen, um höher steigen zu können. Sebald zitiert aus Nietzsches Zur Genealogie der Moral, wenn er behauptet, die Vergesslichkeit sei „die Thürwärterin der seelischen Ruhe und Ordnung“: „Vielleicht“, schreibt Nietzsche in Zur Genealogie der Moral, „ist nichts furchtbarer und unheimlicher an der ganzen Vorgeschichte des Menschen als seine Mnemotechnik. Man brennt etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtnis.“ (CS, 140)

Im Laufe von Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben spricht Nietzsche immer wieder von der „große[n] und immer größere[n] Last des Vergangenen“: Sie „drückt ihn nieder oder beugt ihn seitwärts“, sie “beschwert seinen Gang“.20 Der „kritische“ Historiker, im Gegensatz zum monumentalen oder antiquarischen, wüsste jedoch diese Last abzuwerfen. Dass Sebald den folgenden Satz in seinem Exemplar von Nietzsches Essay markierte, mag daher nicht überraschen: „nur dem, dem eine gegenwärtige Not die Brust beklemmt und der um jeden Preis die Last von sich abwerfen will, hat ein Bedürfnis zur kritischen, das heißt richtenden und verurteilenden Historie“.21 Sebald scheint damit eine „kritische“ Historiografie gutzuheißen, die nicht das Erinnern, sondern das Vergessen in den Vordergrund rückt: Er streicht zudem heraus, „wodurch Glück zum Glücke wird: das Vergessen-Können oder, gelehrter ausgedrückt, das Vermögen, während seiner Dauer unhistorisch zu empfinden“.22 Das Motiv der Levitation in Sebalds Werk lässt sich dementsprechend als Gegensatz zum Nietzscheanischen Begriff der Last deuten. Wo das Erinnern die Geschichte beschwert, fördert das Vergessen die in der Levitation gipfelnde Leichtigkeit. Die Levitation zielt in Sebalds Prosa nicht nur auf die Überwindung der Gravitation ab, sondern auch auf die Überwindung der melancholischen Erinnerung. Es scheint in diesem Zusammenhang bezeichnend zu sein, dass Nietzsche im gleichen Essay meinte, der Historiker müsse „ohne Schwindel und Furcht zu stehen“ vermögen. Die Sebald’schen „Schwindelgefühle“ entstammen zwar der „Last des

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Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, Stuttgart 1964, Bd. 2, S. 102. Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, S. 119. Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, S. 103.

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Die Leichtigkeit der Schwermut

Vergangenen“:23 Jedoch vermag die vom Vergessen beflügelte Levitation gelegentlich, ihr zu entkommen. Auch in seinem Exemplar von Sir Thomas Brownes Hydriotaphia hebt Sebald die Betäubungskraft des Vergessens hervor: To be ignorant of evils to come, and forgetful of evils past, is merciful provision in nature, whereby we digest the mixture of our few and evil dayes, and our delivered senses not relapsing into cutting remembrances, our sorrows are not kept raw by the edge of repetitions.24

In einem Aufsatz über Gerhard Roth verbindet Sebald diese „merciful provision in nature“ mit der Pespektive aus der elevatio: Sowohl das Vergessen als auch die Levitation seien Versuche, die Kunst von dem historischen Pessimismus zu befreien. Sebald fasst die Wirkungen der Levitation folgendermaßen zusammen: Der metaphysische Augen- und Überblick entspringt einer profunden Faszination, in welcher sich eine Zeitlang unser Verhältnis zur Welt verkehrt. Im Schauen spüren wir, wie die Dinge uns ansehn, verstehen, dass wir nicht da sind, um das Universum zu durchdringen, sondern um von ihm durchdrungen zu sein [...] Zu den Voraussetzungen einer solchen Erfahrung gehört [...] die Fähigkeit, sich selbst und gar alles vergessen zu können, die Entfernung des Subjekts also, im Schauen, aus der Welt, denn wenn man nur einen genügenden Abstand nimmt, dann erscheint, nach einer These von Lévi-Strauss, das mythische Feld, über dessen verwirrende und verstörende Einzelheiten man sich den Kopf zerbricht, vollständig leer und kann alles beliebige bedeuten. (UH, 158)

Der Melancholie der vergehenden Zeit setzt Sebald den „Übergang in den Bereich des Transzendenten“ entgegen, „den die großen Augenblicke der Literatur – und vielleicht auch des Lebens – ins Werk setzen“, wie er in einem Essay über Hermann Broch schreibt (UH, 126). „Nur durchs Vergessen hindurch, nicht unverwandelt überlebt irgend etwas“, lautet ein von Sebald in Klammern gesetzter Satz von Adorno (wobei Sebald das Wort „Vergessen“ zusätzlich unterstreicht).25 Solche Momente des Vergessens sind aber schließlich nur „Augen- und Überblick[e]“: Sie kehren zwangsläufig wieder in die Zeit zurück, denn die zeitgebundene Dialektik des Fortschrittes und der Regression kann nur momentan aufgehalten werden. 26 _____________ 23 24 25 26

Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, S. 102. Sir Thomas Browne, The Works of Sir Thomas Browne in 3 volumes, Edinburgh 1927, Bd. 3, S. 140. Theodor W. Adorno, „Zur Schlußszene des Faust“, Noten zur Literatur II, Frankfurt a.M. 1961, S. 17. Für eine weitere Analyse dieses Nietscheanischen Vergessens siehe Ben Hutchinson, „,Ein Penelopewerk des Vergessens’? W.G. Sebald’s Nietzschean Poetics of Forgetting“, in: Forum for Modern Language Studies, 45/3 (2009), S. 325-336.

„Höhenflug der Sprache“ Levitation als stilistisches Prinzip

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„Höhenflug der Sprache“ Levitation als stilistisches Prinzip Dass die „Kunst der Levitation“ (CS, 21), wie sie Sebald selbst bezeichnet, ihren Höhepunkt in Die Ringe des Saturn erreicht, mag daran liegen, dass Sebald das Buch nach einem Bandscheibenvorfall schrieb, „in einem Zustand nahezu gänzlicher Unbeweglichkeit“ (RS, 12), „bäuchlings quer über dem Bett, mit der Stirn auf einem beigestellten Stuhl“, wie er sich später erinnert.27 (Am Anfang des Textes vergleicht er sich sogar mit „dem armen Gregor“, der sich in Kafkas Erzählung „mit zitternden Beinchen“ an die Sessellehne klammert [RS, 13]). Das Verhältnis leuchtet ein: Der Text entsteht dialektisch aus einem Gefühl des Eingeengtseins heraus, das für ein Ausbrechen aus oder Abheben von diesem Zustand ursächlich ist und gewissermaßen die ganze Reise des Werkes hervorruft. Dieses Verhältnis tritt noch deutlicher an den Stellen zu Tage, wo Momente der Levitation im Text thematisiert werden. Schon im ersten Kapitel trifft man z. B. auf Beschreibungen, die einen direkten Gegensatz zum Gefühl der „Unbeweglichkeit“ im Krankenhaus bilden. Hier beschreibt Sebald die Wirkungen seiner Schmerzmittel: Er fühlt sich in seinem eisernen Gitterbett „wie ein Ballonreisender, der schwerelos dahingleitet durch das rings um ihn her sich auftürmende Wolkengebirge“ (RS, 28). Zwei Seiten später kommt er zum ersten Mal zu Sir Thomas Browne, dessen Prosastil, wie Sebald ihn beschreibt, auffällig an seinen eigenen erinnert: [Er] baut labyrinthische, bisweilen über ein, zwei Seiten sich hinziehende Satzgebilde, die Prozessionen oder Trauerzügen gleichen in ihrer schieren Aufwendigkeit. Zwar gelingt es ihm, unter anderem wegen dieser enormen Belastung, nicht immer, von der Erde abzuheben, aber wenn er, mitsamt seiner Fracht, auf den Kreisen seiner Prosa höher und höher getragen wird wie ein Segler auf den warmen Strömungen der Luft, dann ergreift selbst den heutigen Leser noch ein Gefühl der Levitation. Je mehr die Entfernung wächst, desto klarer wird die Sicht. Mit der größtmöglichen Deutlichkeit erblickt man die winzigsten Details. Es ist, als schaute man zugleich durch ein umgekehrtes Fernrohr und durch ein Mikroskop. (RS, 30)

Die Ähnlichkeit ist augenfällig, vor allem im Zusammenhang mit dem Vergleich mit dem „Ballonreisenden“, den der Erzähler kurz zuvor gemacht hat. Noch einmal wird die Suche nach schriftstellerischer Luzidität als Prozess des Sehens konzipiert. Neu ist aber hier die Verbindung des „Gefühls der Levitation“ mit Stilelementen des Schreibens. „Und um den dafür notwendigen Grad von Erhabenheit zu erreichen“, fährt Sebald in _____________ 27

Siedenberg, Porträt: W.G. Sebald, S. 146.

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Die Leichtigkeit der Schwermut

seinen Überlegungen zu Sir Thomas Browne fort, „gab es für ihn nur das einzige Mittel eines gefahrvollen Höhenfluges der Sprache“ (RS, 30). Das Schreiben selbst hat also das Ziel, „von der Erde abzuheben“, obwohl es Browne wegen seiner langen Sätze nicht immer gelingt – was natürlich auch für Sebald gilt. Jedoch sind es gerade diese Sätze, die „Kreise seiner Prosa“, die seiner Sprache die Levitation ermöglichen, indem sie vermögen, durch ihre im Bild des „Kreises“ ausgedrückte Endlosigkeit ein Gefühl der Zeitlosigkeit hervorzurufen.28 Bei Sebalds Beschreibung von Brownes Stil fällt vor allem die dialektische Natur der Levitation auf, und zwar nicht nur in Sebalds Gegensatzpaaren „Boden“ und „Luft“, „Last“ und „Leichtigkeit“, sondern auch in der Entwicklung dieser Gegensätze in seiner syntaktischen Struktur. Das Abheben wird als ein prozessualer Vorgang konzipiert, das heißt, das „Gefühl der Levitation“ kann nur erlangt werden. Dass man nicht immer in der Luft schwebt, sondern zunächst hinaufsteigen muss, wird syntaktisch in den komparativen Steigerungen „höher und höher“ ausgedrückt. Charakteristisch für Sebalds Protagonisten ist übrigens, dass sie immer auf der Suche nach solchen Momenten der Levitation sind, dass sie alle „Jäger“ sind: Gracchus in Schwindel. Gefühle, der Schmetterlingsfänger in Die Ausgewanderten, der Erzähler selbst in Die Ringe des Saturn oder auch Austerlitz im letzten Werk, der den Spuren seiner verlorenen Kindheit nachpirscht. Alle sehnen sich nach dieser Leichtigkeit, alle wollen „von der Erde abheben“. Was die Syntax in Sebalds Schilderung von Brownes Stil angeht, fällt vor allem die vertraute syntaktische Figur „je mehr ... desto klarer“ auf, da sie wegen ihrer schon angedeuteten Wurzeln in der Dialektik der Frankfurter Schule von zentraler Bedeutung in Sebalds Werk ist. Die in der Einleitung dieser Studie erörterte „negative“ Version dieser Struktur – „Je mehr ... desto weniger“ – bildet wie gezeigt die syntaktische Figur par excellence der Dialektik der Aufklärung. Vor diesem Hintergrund kann hier in Sebalds Beschreibung der Levitation bei Browne die syntaktische Figur „je mehr ... desto klarer“ insofern als Ausdruck einer Gegenposition aufgefasst werden, als sie ausnahmsweise eine positive Aussage beinhaltet: „Je mehr die Entfernung wächst, desto klarer wird die Sicht“. Diese Variation der syntaktischen Figur ist daher ein seltenes Beispiel für die von Sebald zugelassene Möglichkeit des erfolgreichen Fortschritts. Solche Momente der Levitation erreichen somit – ob stilistisch oder thematisch betrachtet – nicht nur die vorübergehende Überwindung der Melancholie, _____________ 28

Man denke hier an Wittgensteins Tractatus: „Wenn man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht, dann lebt der ewig, der in der Gegenwart lebt“. Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt a.M. 1984, S. 84.

„Höhenflug der Sprache“ Levitation als stilistisches Prinzip

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sondern auch die Überwindung von Sebalds sonst so pessimistischer historischer Perspektive. Ein zusätzliches Beispiel von Sebalds Verwendung des Motivs der Levitation liefern die 2008 im Katalog der Marbacher Ausstellung Wandernde Schatten. W.G. Sebalds Unterwelt erschienenen Fragmente „Aufzeichnungen aus Korsika. Zur Natur- und Menschenkunde“.29 Schon 2003 waren Fragmente aus diesem sogenannten „Korsika-Projekt“ in dem von Sven Meyer herausgegebenen Band Campo Santo erschienen: Der Ausstellungskatalog hat nun die unveröffentlichten Kapitel gesammelt. Die viel längere, durchaus interessantere „zweite Fassung“ des 1995 begonnenen Reiseberichts fungierte offenbar als Steinbruch für Austerlitz, denn hier kommen Figuren und Episoden vor, die im späteren Werk wiederkehren – allen voran die Figur des Piloten Gerald Ashman bzw. Douglas X. Der Erzähler fliegt mit dem Piloten von England nach Korsika und lässt sich dabei von dessen fast monomanischer Flugleidenschaft anstecken: „Was mich betrifft“, sagt Douglas dem Erzähler, „so lebe ich nur, um von der Erde abheben zu können“ (AK, 173). Douglas verkörpert die nach Levitation strebenden Tendenzen, die sich durch Sebalds ganzes Schaffen latent hindurchziehen: Besonders fasziniert habe ihn schon als Kind „die von Lindbergh bis auf die Spitze getriebene Idee, das Gewicht möglichst gering zu halten“ (AK, 172). Vor allem liebt er es, nachts zu fliegen, denn es sei „in der Nacht, besonders wenn man vergleichsweise leere Landstriche, die offene See oder gar Teile des Ozeans überquert, sehr leicht zu glauben, man sei mitten im Flug zum Stillstand gekommen“ (AK, 169). Hier kann noch einmal von einer „Dialektik im Stillstand“ die Rede sein: Der Pilot versucht, nicht nur von der Erde, sondern auch vom schmerzhaften Verlauf der Geschichte abzuheben. Douglas wünscht sich, im Gegensatz zu Ambros Adelwarth (Aus, 189), eine Nacht lang „außer der Zeit“. Der Wunsch nach Levitation ist mit der qualvollen Naturgeschichte insofern dialektisch verbunden, als er danach trachtet, ihr zu entkommen. Douglas sitzt „mit starren bis an die Flügelspitzen ausgespannten Armen in seinem Kabinengehäuse, während das Bewusstsein oder die Seele oder was immer das auch sein mag, das einen so oft bewegt, irgendwo außerhalb ist, erfüllt von unbegreiflicher Hoffnung und Glück“ (AK, 169f). Der Pilot versucht, die eigene Mortalität zu vergessen, indem er seinen ins Weltall emporstrebenden Geist von seinem im Flugzeug eingesperrten Körper trennt. Sebald versteht diesen Wunsch nach Levitation als unmittelbare Antwort auf die von Menschen verursachte Zerstörung der Erde: _____________ 29

W.G. Sebald, „Aufzeichnungen aus Korsika. Zur Natur- und Menschenkunde“, in: Wandernde Schatten. W.G. Sebalds Unterwelt. Marbacher Katalog 62, Marbach 2008, hrsg. von Ulrich von Bülow, Heike Gfereis, Ellen Strittmatter.

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Die Leichtigkeit der Schwermut

Bei dem Gedanken an die Zerbrechlichkeit der menschlichen Zivilisation, deren schwacher Goldglanz nie etwas anderes war als die Kehrseite endloser Mühe und Plagen, ist mir wiederholt schon der Wunsch gekommen, diesen Planeten für immer zu verlassen, höher und höher hinaufzusteigen, so wie es einige der früheren Aeronauten versuchten, die dann, vom Höhenrausch erfaßt, spurlos verschwunden sind. (AK, 170)30

Dass der Wunsch nach Levitation als „Dialektik im Stillstand“ auch als Todestrieb zu verstehen wäre, liegt bei solchen Passagen auf der Hand. Die Syntax erinnert an die Beschreibung von Brownes Prosastil: Nicht nur der Pilot, sondern auch der Schriftsteller versucht gleichsam wie Ikarus „höher und höher hinaufzusteigen“. Auch für den Autor Sebald stellt die Levitation die „Kehrseite endloser Mühe und Plagen“ dar. Nach dieser Passage kehrt sich die Erzählperspektive indes kurz um: Der Erzähler selbst beginnt zu sprechen (wobei die jeweiligen Perspektiven nur bei sehr genauem Lesen voneinander zu unterscheiden sind). Dass die Ansichten des Piloten auch vom Erzähler übernommen werden, veranschaulicht, inwiefern die Figur des Douglas X. als Projektionsfläche für Sebalds eigene Meinungen dient. „Wer weiß“, sagt der Erzähler, nachdem Douglas die Geschichte der in seinen Träumen immer wieder vorkommenden, mitten im Pazifik abgestürzten Amelia Earheart erzählt hat, „vielleicht gleitet Amelia auf ihren Gespensterflügeln tatsächlich noch durch die dünnen Schichten der Atmosphäre, eine Luftjungfrau sozusagen, die uns verlockt, von unserem viel zu schweren Leben zu lassen.“ Dass der Wunsch nach Levitation häufig im Rahmen eines Traumes vorkommt, verwundert also nicht. Ohne hier auf die psychoanalytischen Aspekte des Todestriebes bzw. Träumens eingehen zu wollen, leuchtet es auf Anhieb ein, dass der Akt des Träumens selbst eine Art von Levitation ist, da er ein Abheben vom täglichen Leben bildet. Später im Fragment zum Beispiel beschreibt der Erzähler einen Traum, in dem er beobachtet, wie der Zirkus aus der Stadt fortzieht: Wie meistens in meinen Träumen ging alles, selbst das Abfeuern der Gewehrsalven, lautlos vor sich, so als wäre man eingetreten in die Taubstummenwelt. Dafür aber konnte ich sehen mit einer im Wachzustand unerreichbaren Deutlichkeit, als habe der Schleier der Atmosphäre sich gehoben oder als sei mir der Star gestochen worden. Die Umrisse waren von einer beinahe schmerzhaften Schärfe. (AK, 188)

Die Durchbrechung des „Schleier[s] der Atmosphäre“ sowie die plötzliche Klarheit, mit der er im Traum sehen kann, erinnern wieder einmal an die Beschreibung von Brownes Prosastil als eine durch die Levitation ermöglichte Klarsichtigkeit. Es bleibt allerdings noch ein weiterer dialektischer _____________ 30

„Für die Details des Nachtflugs dienten Sebald die Bücher von Antoine de Saint-Exupéry“, bemerkt der Herausgeber Ulrich von Bülow (Wandernde Schatten, S. 215).

Levitation in Sebalds literaturwissenschaftlichem Werk

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Umschlag: Kurz nach diesem Traum befindet sich der Erzähler hoch in den Bergen Korsikas, wo er sich plötzlich wie ein Taucher [vorkommt], der sich mit halb schwebenden Schritten bewegt über den Boden des Meers [...] Von einem seltsamen Fließen umgeben war ich in einer anderen, gewissermaßen submarinen Zeit, in der alles viel langsamer sich abspielte, ohne Anstrengung, mit einer im wirklichen Leben nie zu erreichenden Leichtigkeit. (AK, 192)

Das Hochland Korsikas schlägt plötzlich in eine an die „Taubstummenwelt“ des Traumes erinnernde Unterwasserwelt um. Diese erweist sich jedoch als nichts anderes als eine Variation der auf den Kopf gestellten „Kunst des Fliegens“ – um den Titel eines frühen Prosastücks von Sebald zu zitieren31 –, denn die beinahe einem Gefühl der Zeitlosigkeit gleichkommende Langsamkeit sowie die „im wirklichen Leben nie zu erreichende Leichtigkeit“ sind die Merkmale der Levitation.

Levitation in Sebalds literaturwissenschaftlichem Werk Auch in Sebalds literaturkritischen Schriften kehrt das „Gefühl der Levitation“ sowohl als Ziel als auch als Motiv immer wieder zurück. Sie scheint sogar manchmal ein entscheidendes Kriterium für Sebalds literarischen Geschmack zu sein. Bei Nabokov zum Beispiel interessiert er sich vor allem für die „zahlreichen Passagen, die aus einer Art Vogelperspektive geschrieben sind“, und als Beispiel dafür zitiert er die sehr schöne, von ihm als „Himmelfahrtsbild“ bezeichnete Szene am Ende des ersten Kapitels von Erinnerung, sprich, wo sich Nabokovs Vater als Zeichen der Zufriedenheit mit seinen Bauern dreimal hoch in die Luft werfen lässt. „Ein wunderbarer Fall von Levitation“, zitiert Sebald aus Erinnerung, sprich (CS, 192). Wie in Nach der Natur verwendet Sebald wieder einmal das Bild einer „Welt im Auge des Kranichs, mit dem manchmal die holländischen Maler [...] sich über das flache Panorama erhoben, das sie drunten auf der Erde umgab.“ „Analog wird das Schreiben“, fährt er fort, „in die Höhe getragen von der Hoffnung, dass sich, bei genügender Konzentration, die hinter den Horizont schon hinabgesunkenen Landschaften der Zeit in einem synoptischen Blick noch einmal könnten erfassen lassen“ (CS, 188). Hier _____________ 31

W.G. Sebald, „Die Kunst des Fliegens“, in: Träume. Literaturalmanach, Salzburg 1987, hrsg. von Jochen Jung, S. 134-38. Dieses frühe Prosastück nimmt schon viele der hier besprochenen Elemente von Sebalds Interesse an der „Levitation“ vorweg: Der Erzähler bzw. der Träumer spürt „eine Erleichterung des Körpers, ein Schwebezustand tritt ein, eine schmerzlose Levitation“ [137], und beim Aufsetzen auf dem Boden am Ende der Erzählung ergreift ihn ein „Schwindelgefühl“ [138].

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Die Leichtigkeit der Schwermut

handelt es sich also noch einmal um den „synoptischen Blick“, den Sebald als Ziel seines Schreibens wiederholt bezeichnet. An Hand von diesem Beispiel leuchtet ein, wie eng verwandt Sebalds literaturkritische und literarische Schriften sind, denn auch in Die Ringe des Saturn findet man einen ähnlichen, von der Levitation geförderten Übergang von der Perspektive eines Malers in die Perspektive eines Schriftstellers. Zuerst stellt sich der Erzähler vor, wie Jacob van Ruisdael beim Malen „auf einem künstlichen, ein Stück über der Welt imaginierten Punkt“ gestanden hat, denn „nur so konnte er alles zugleich sehen“ (RS, 103). Eine Seite später zitiert er dann Diderot, also einen Schreibenden, der in seinem holländischen Reisebericht schrieb, „die geringste Erhöhung verhelfe einem in diesem wunderbaren Land zum größten Gefühl der Erhabenheit“ (RS, 104). Sowohl in Sebalds literaturkritischen als auch in seinen literarischen Schriften bilden also die erweiterten Perspektiven der Levitation eine der Hauptmöglichkeiten der Transzendenz. Auch bei Robert Walser will Sebald diese Sehnsucht nach Levitation entdeckt haben: „Sein Ideal war die Überwindung der Gravitation, die Verwandlung von etwas sehr Schwerem in etwas beinahe Gewichtsloses“ (Logis, 141). Genau wie er den Aufsatz über Nabokov mit dem „Fall von Levitation“ beschließt, beendet Sebald auch den Aufsatz über Walser mit der Beschreibung einer Ballonfahrt als Metapher für Walsers Schreibstil: „Immer, in all seinen Prosastücken“, schreibt Sebald, „will er über das schwere Erdenleben hinaus, will sacht und leise entschweben in ein freieres Reich“ (Logis, 166). Ob dieses „freiere Reich“ als christlicher „Himmel“ zu verstehen wäre, ist nicht sicher: Solche Passagen lassen aber vermuten, dass Sebald der Kunst eine quasi-erlösende Kraft zuschrieb.

„Ein Hellseher im Kleinen“ Minimalisierung und Elaboration Nicht nur die ersehnte Leichtigkeit findet Sebald jedoch bei Walser: Auch seine Wendung gegen Größenwahn scheint Sebald zu schätzen. „Er ist kein expressionistischer Visionär, der den Weltuntergang prophezeit, sondern [...] ein Hellseher im Kleinen“, schreibt Sebald. „Von seinen ersten Versuchen an steht ihm der Sinn nach einer möglichst radikalen Minimalisierung und Abbreviatur“ (Logis, 142). Sebald verbindet diese Minimalisierung mit Walsers Schreibstil, indem er paradoxerweise die „Elemente der Elaboration“ betont, „deren Walser sich befleißigt, weil er befürchtet, zu geschwind fertig zu werden.“ Minimalisierung und Elaboration sind insofern verbindbar, als beide bis ins kleinste Detail gehen wollen: Hier muss man natürlich auch an Sebalds eigenen Stil denken, an die langen rhyzo-

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matischen Sätze,32 an die Anhäufung von Episoden, Einzelheiten und Fotografien, die den Verlauf der Geschichte verlangsamen. In Austerlitz zum Beispiel beschreibt der Erzähler „wie sich die Strömung der Zeit im Gravitationsfeld der vergessenen Dinge verlangsamt“ (A, 363). Trotz seiner oft epischen Breite bei der Darstellung historischer Sachverhalte könnte man daher Sebald selbst als „Hellseher im Kleinen“ bezeichnen, denn die Geschichte wird aus der die Levitation ermöglichenden Vogelperspektive nicht nur klarer, sondern auch kleiner. Das Verhältnis zwischen Klarheit und Verkleinerung drückt Sebald mit der Gleichsetzung des „umgekehrten Fernrohrs“ mit dem „Mikroskop“ aus, wobei er auf Distanz und Nähe zugleich besteht. Die Vergangenheit wirkt gleichzeitig sehr fern und sehr nah, so dass die Winzigkeit der Details paradoxerweise die Deutlichkeit befördert. Das Motiv der „Winzigkeit“ kommt auch im zitierten Ausschnitt von Nach der Natur vor und steht in beiden Passagen im Verhältnis zur Bewegung der Levitation: Je mehr die Entfernung wächst, desto erkennbarer werden die immer winziger werdenden Dinge am Boden. Der Hang zum Kleinen gehört jedoch auch zu Sebalds Schwermut. Die Kunst der Levitation muss als widersprüchlich gelten, denn sie kann auch bis zum Punkt des Verschwindens und des Verrücktwerdens getrieben werden. Die Überlegungen des Modellbauers Alec Garrard in Die Ringe des Saturn liefern ein einschlägiges Beispiel für die Zweideutigkeit der Minimalisierung, denn obwohl Garrard sein Leben einem aus kleinen Holzstückchen gebastelten Modell des Tempels von Jerusalem gewidmet hat, leuchtet ihm ein, „wie leicht man einen Menschen für verrückt halten könne, der sich Jahr für Jahr weiter in seine Hirngespinste verstricke und der sich in einem ungeheizten Stadel mit einer jeden normalen Rahmen sprengenden, letztlich sinn- und zwecklosen Bastelarbeit beschäftige“ (RS, 290).33 Die Minimalisierung fördert zwar die Klarheit, hat aber auch ihren Preis. Dieses Verhältnis lässt sich immer wieder in Sebalds literaturkritischen Schriften erkennen. Er interessiert sich zum Beispiel für die Gedichte Ernst Herbecks, weil sie laut Sebald „ein Gefühl der Levitation in uns auszulösen“ vermögen, da sie uns „die Welt durch ein umgekehrtes Perspektiv“ zeigen. „In einem winzigen Kreisbild ist alles beschlossen“, resümiert Sebald (CS, 172). Herbeck war aber als schizophren diagnostiziert worden und wohnte viele Jahre in einer „Anstalt“, was ja bekanntlich auch bei Walser der Fall war. Die Wirkung des Schreibens stellt Sebald damit _____________ 32 33

Carsten Strathausen hat Sebalds Stil – in Anlehnung an Deleuze und Guattari – als „rhyzomatisch“ bezeichnet. Siehe Carsten Strathausen, „Going Nowhere: Sebald’s Rhizomatic Travels“, in: Searching for Sebald, hrsg. von Lise Patt, Los Angeles 2007, S. 472-491. Siehe das vorangehende Kapitel für weitere Beispiele dieser Dialektik der Geistesarbeit.

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als äußerst fragwürdig vor: Die Klarheit des Kleinen bzw. der Levitation wird mitunter nur auf Kosten der geistigen Krankheit gewonnen. Abgesehen von den oben genannten Autoren war es vor allem Sebalds Vorliebe für die Literatur des 19. Jahrhunderts, die dieses Motiv der Verkleinerung für ihn so wichtig machte. Die Essaysammlung Logis in einem Landhaus bezieht sich hauptsächlich auf schweizerische Autoren des 19. Jahrhunderts (mitsamt einem Aufsatz über Mörike und einem über Sebalds Freund Jan Peter Tripp), und wenn man dazu auch Sebalds verschiedene Aufsätze über Stifter hinzufügt,34 wird das Ausmaß von Sebalds Interesse an der Literatur des 19. Jahrhunderts deutlich. Sebald entwickelt aus dieser Literatur ein „sanftes Gesetz“, mit dem er sich gegen den Strom der Zeit stellt: Obwohl ihm bewusst ist, dass die Stifter’sche Idylle von allen Seiten bedroht und eingeengt war, meint er dennoch, wir könnten von dessen vermeintlicher Bescheidenheit etwas lernen. Der Essay über Mörike fällt in dieser Hinsicht besonders auf. „Die imaginierte Welt des Biedermeier ist ein unter einen Glassturz gerücktes, vollendetes Miniaturarrangement“, schreibt Sebald. „Alles in ihr hält den Atem an“ (Logis, 82). Richard Sheppard äußert die These, „a part of [Sebald] would have liked nothing better than to live in the Biedermeier world that he evokes in his late essay on Mörike“, wobei Sheppard erwähnt, dass Sebalds eigenes Haus – ein großes altes Pfarrhaus – ihn an genau diesen Biedermeier-Stil erinnerte.35 Jedesmal aber, wenn Sebald Mörikes „Glück im Winkel“ beschreibt, sagt er zugleich, dass er diese verkleinerte Welt nicht lange aushalten könnte. „Die stille Provinz der Biedermeier glich einem gegen die Entwicklung sich richtenden Wunschtraum“, bedauert er. „Das württembergische Königreich wurde zu einem Anachronismus“, setzt er fort, „man musste lernen, ins Große zu denken, und die Arbeit en miniature wurde aufgegeben zugunsten eines von Jahrzehnt zu Jahrzehnt rücksichtsloser sich inszenierenden Monumentalismus“ (Logis, 85). Was Sebald sowohl für den Stil Mörikes als auch für den Kellers so charakteristisch findet, ist eben, dass sie gleichsam zum Scheitern verurteilte Hochseilartisten sind, denn sie werden von „beiden Seiten“ von der sich immer schleuniger entwickelnden Modernität bedroht. Bei Mörike „gibt es zu beiden Seiten dieses anscheinend ewigen Friedens die Angst vor dem Chaos“ (Logis, 82); bei Kellers Prosa spüre man „immer wieder mit Erschauern, wie abgrundtief es zu beiden Seiten hinuntergeht“ (Logis, 141). Diese Zweischneidigkeit macht Sebalds Aufsätze über die Literatur des Biedermeiers sowie des neunzehnten Jahrhunderts im Allgemeinen zu _____________ 34 35

In diesem Kontext darf man natürlich auch an Stifters Erzählung „Der Condor“ denken (die sich auch in Sebalds Bibliothek befindet), in der der Erzähler eine höchst ambivalente Ballonfahrt erlebt. Sheppard, „Dexter-Sinister“, S. 440.

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Gefechten in einem schon verlorenen Krieg. Dennoch meint er, „eine Lehre der Bescheidenheit“ eruieren zu können, die „diametral entgegengesetzt derjenigen [ist], die unsere Kultur sich vorgesetzt hat“ (UH, 160): Er setzt seine Hoffnungen in die „Fähigkeit, kleiner werden zu können“. Manchmal könnte man sogar meinen, Sebald möchte William Blakes „Auguries of Innocence“ rivalisieren, wenn er etwa schreibt, „in einem Sandkorn im Saum eines Winterkleides der Emma Bovary [...] hat Flaubert die ganze Sahara gesehen, und jedes Stäubchen wog für ihn soviel wie das Atlasgebirge“ (RS, 170). Hier muss man an die Verse Blakes denken: To see a World in a grain of sand, And a Heaven in a wild flower, Hold Infinity in the palm of your hand And Eternity in an hour.36

Dass sich Sebald auch für die psychologischen Ursachen der Wendung zum Verkleinerten und zur Levitation interessierte, können wir aus seinem Exemplar von Freuds Aufsätzen zur Bildenden Kunst und Literatur schließen. In Freuds 1910 geschriebenem Aufsatz über Leonardo da Vinci setzt Sebald zwei lange Absätze in Klammern, die diesbezüglich bedeutsam sind. Zunächst markiert er Freuds Bemerkung über eine „Welt, in welcher das Kleine doch nicht minder wunderbar und bedeutsam ist als das Große“;37 später hebt er Freuds Frage, „Warum träumen aber so viele Menschen vom Fliegenkönnen?“, hervor. Nach Freuds Dafürhalten bedeutet dieser Traum „nichts anderes [...] als die Sehnsucht, geschlechtlicher Leistungen fähig zu sein“.38 Sebalds Anstreichungen in seinem Exemplar von Nabokovs Erinnerung, sprich mögen etwas Licht auf seine Haltung zu dieser Freud’schen Deutung werfen, denn er unterstreicht Nabokovs herablassendes Urteil über das „Viennese Quack“ und scheint Freuds Deutung damit in Frage zu stellen: „We will leave him and his fellow travellers to jog on, in their third-class carriage of thought, through the police state of sexual myth“.39 Darauf hebt Sebald im gleichen Absatz den folgenden Satz hervor: Innermost in man is the spiritual pleasure derivable from the possibilities of outtugging and outrunning gravity, of overcoming or re-enacting the earth’s pull.40

Neben „gravity, of overcoming“ hat Sebald als einzige Anmerkung das Wort „Levitation“ geschrieben. Sebald scheint somit Nabokovs Begriff _____________ 36 37 38 39 40

William Blake, „Auguries of Innocence“, Poems and Prophecies, hrsg. von Max Plowman, London 1927, S. 333. Sigmund Freud, „Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci“, in: Bildende Kunst und Literatur, Studienausgabe Bd. X, Frankfurt a.M. 1969, S. 102. Freud, Bildende Kunst und Literatur, Studienausgabe, S. 148. Vladimir Nabokov, Speak, Memory, London 1969, S. 230. Nabokov, Speak, Memory,

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„overcoming“ – der mit Sebalds eigenem Begriff der „Überwindung“ direkt zu vergleichen wäre – der Freud’schen Reduktion auf die Sexualität vorzuziehen.

„Beatific moments“ Benjaminische Geschichtsphilosophie Die Kehrseite von Sebalds Vorliebe für das Kleine ist seine Kritik am Größenwahn, die er in einem Interview folgendermaßen formulierte: I don’t like large-scale things, not in architecture or evolutionary leaps. I think it’s an aberration. This notion of something that is small and self-contained is for me both an aesthetic and moral ideal. 41

In Austerlitz gipfelt diese Abneigung gegen „large-scale things“ in der im dritten Kapitel dieser Studie analysierten Kritik an der „Größendimensionierung“ der Moderne. Diesem im Laufe des Werkes immer wieder zum Ausdruck kommenden Pessimismus setzt Sebald in Austerlitz allerdings eine Episode entgegen, die man die „walisische Idylle“ nennen könnte. Während der Schulferien besucht der junge Austerlitz mehrmals seinen Schulfreund Gerald Fitzpatrick. In direktem Gegensatz zu Austerlitzens eigener Kindheit bei den Zieheltern herrscht bei Gerald eine Atmosphäre der Harmonie und utopischer Zeitlosigkeit. Die Idylle wird durch eine Mischung der beiden Motive der Verkleinerung und des Fliegens gekennzeichnet, vereint vor allem in den Motten, Schmetterlingen und Vögeln, die von Geralds Familie gesammelt werden.42 Später im Buch wird Gerald eine Flugleidenschaft entwickeln, die nicht nur auf die in den Aufzeichnungen aus Korsika geschilderte Figur des Gerald Ashman zurückgeht, sondern auch auf einen gewissen Gerald Aylmer, den Sebald an einem Tag der offenen Tür bei einem Amateurflugverein in der Nähe von Norwich kennenlernte. Einem Bericht Sebalds zufolge machte Aylmer „die längsten Ausflüge durch die Luft, [...] voller Verwunderung über die den Menschenverstand übersteigende Möglichkeit, das Antlitz der Erde aus der Höhe zu sehen“.43 Im Text selbst kommt die Flugleidenschaft in der charakteristischen Syntax Sebalds zum Ausdruck, wenn etwa Geralds „Gefühl der Befreiung“, jedesmal wenn er „über die ganze Misere hinwegfliegen _____________ 41 42 43

Zitiert in Arthur Lubow, „Crossing Boundaries“, in: The Emergence of Memory. Conversations with W.G. Sebald, hrsg. von Lynne Sharon Schwarz, London 2007, S. 159-173, hier S. 168. Motten und Schmetterlinge haben ihren eigenen Symbolismus in Sebalds Prosa, nicht zuletzt, weil sie uralte Symbole der Metamorphose sind, die sich von hässlichen Insekten des Bodens in prächtige Kreaturen der Luft verwandeln. W.G. Sebald, „Feuer und Rauch“, Frankfurter Rundschau 29/11/1997.

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konnte“, beschrieben wird: „Je weiter man von der Erde abhebe, desto besser“, schreibt Sebald (A, 160). Noch einmal bildet das Leitmotiv der Levitation in der syntaktischen Figur des positiven Fortschritts eine Widerstandsmöglichkeit gegen die in Sebalds Werken sonst überwiegend pessimistische Historiografie. Allerdings führt Geralds Flugleidenschaft auch in den Tod, denn eines Tages stürzt er mit seinem Flugzeug über den Alpen ab. Flugzeuge deuten in Sebalds Werk nicht nur auf das im Korsika-Fragment geschilderte Gefühl des Erhabenen, sondern auch auf die gleichsam apokalyptische Kehrseite der Kunst der Levitation: Man denke vor allem an Luftkrieg und Literatur, wo die aus dem Himmel hinunterregnenden Bomben erst durch diese Kunst ermöglicht werden. Bemerkenswert ist daher, dass man erst in Luftkrieg und Literatur einer Figur begegnet, deren Schatten über allen Schriften Sebalds schwebt: Walter Benjamin. Zwar ist Benjamins Engel der Geschichte überall in Sebalds Prosa zu spüren, dennoch wird er erst in diesen Vorlesungen in propria persona angeführt. Sebald beendet die gedruckten Vorlesungen mit einem langen Zitat aus Benjamins Geschichtsphilosophischen Thesen: da sieht er [der Engel] eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir Fortschritt nennen, ist dieser Sturm. (LL, 73f)

Benjamins Engel der Geschichte bleibt dem wachsenden Trümmerhaufen der Vergangenheit zugewandt: Die Entwicklung der Geschichte wird nicht als „Fortschritt“, sondern als „Sturm“ vorgestellt, der den Engel mit dem Rücken voraus in die Zukunft treibt. Der Engel mag in die Zukunft getrieben werden, er blickt aber in die Vergangenheit zurück. Der Sturm besteht in einem Übermaß an Erinnerung, das offenbar nur durch das von der Levitation hervorgebrachte Vergessen ausgeglichen werden kann. Die Szene bildet einen Gegensatz zum sonstigen „Gefühl der Levitation“ insofern, als sie einen historischen Pessimismus verkörpert. Keine „Leichtigkeit“ treibt den Engel in die Höhe: Je weiter er rückwärts in die Zukunft getrieben wird, desto größer wird der sich vor ihm ausstreckende Trümmerhaufen der Vergangenheit. Zudem schwebt er nicht in der Luft, sondern wird vom Sturm in die Höhe gerissen. Auch dadurch, dass der Engel hier „passiv“ und dem Sturm völlig ausgeliefert ist, unterscheidet sich die Szene vom Erlebnis der Levitation, denn Sebalds „Kunst der Levitation“ heißt, „die schweren Dinge“ so zu beschreiben, „dass sie ihr

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Die Leichtigkeit der Schwermut

Gewicht verlieren“.44 Man mag an Sebalds im zweiten Kapitel besprochene Bemerkung zum „Erzähler als Schutzengel“ denken: Im Gegensatz zum Bassanischen Erzähler (der „seinen Figuren nicht helfen kann, aber doch bei ihnen bleibt“) wollen Sebalds Momente der Levitation aktiv sein, sie wollen ihren ‚Figuren’ bzw. ‚Dinge[n]’ helfen, ihr „Gewicht“ zu verlieren. Die Momente der Levitation in Sebalds Werk ließen sich daher im Gegensatz zum Engel der Geschichte als dessen positive Kehrseite bezeichnen. In der Sprache Benjamins wären sie als „Jetztzeiten“ zu beschreiben. Im Gegensatz zur „homogene[n] und leere[n] Zeit“ des normalen Verlaufs der Geschichte45 besteht Sebald wiederholt auf dem Zeitwort „jetzt“: als er etwa von Mörikes Biedermeierwelt schreibt, „so soll[e] es jetzt bleiben für immer“, oder als Austerlitz in Bezug auf die walisische Idylle dem Erzähler mitteilt, er habe „das Gefühl, man sei jetzt in einer anderen Welt“ (A, 118). In einem kurz vor seinem Tod geführten Interview rekurrierte Sebald explizit auf Benjamin, um diese Dialektik in Worte zu fassen: I think Benjamin says at one point that there is no point in exaggerating that which is already horrific. And from that, by extrapolation, one could conclude that perhaps in order to get the full measure of the horrific, one needs to remind the reader of beatific moments of life, because if you existed solely with your imagination in le monde concentrationnaire, then you would somehow not be able to sense it. And so it requires that contrast. 46

Schon in der Beschreibung des Unglücks beschreibt Sebald den Zwischenbereich der Kunst mit benjaminischen Worten, wenn er „das von der Kunst imaginierte, über das Profane erhabene Niemandsland zwischen Leben und Tod“ heraufbeschwört (BU, 184). Damit setzt er die Zeit in der Kunst dem normalen Verlauf der Zeit entgegen, was jenen „beatific moments“ auch einen proustischen Beigeschmack der wiedergefundenen Zeit verleiht. Das Gefühl der Leichtigkeit ähnelt tatsächlich manchmal der mémoire involontaire, die Sebald gelegentlich auch als adorno’sche moments musicaux bezeichnet. In einem Aufsatz mit gerade diesem Titel beschreibt Sebald das Gefühl, als er eines Tages zufällig ein ihm aus seiner Kindheit bekanntes Klarinettenquintett Mozarts im Radio hört: „Da wurde ich in diesem Moment des Wiedererkennens gestreift von der in unserem Gefühlsleben so seltenen Sensation einer fast vollkommenen Gewichtslosig_____________ 44 45 46

Siedenberg, S. 147. In seinem Exemplar von Benjamins Illuminationen hat Sebald die hier zitierte vierzehnte „Geschichtsphilosophische These“ hervorgehoben (Walter Benjamin, Illuminationen, Frankfurt a.M. 1961, S. 276). Michael Silverblatt, „A Poem of an Invisble Subject“, in: The Emergence of Memory. Conversations with W.G. Sebald, hrsg. von Lynn Sharon Schwartz, London 2007, S. 77-86, hier S. 86.

„Beatific moments“ Benjaminische Geschichtsphilosophie

165

keit“ (CS, 226). Hier kommt Sebald der benjaminischen Deutung von A la recherche du temps perdu als ein „Penelopewerk des Vergessens“ nahe,47 denn das Erinnern des Klarinettenquintetts aus seiner Kindheit setzt das plötzliche Vergessen der inzwischen verstrichenen Jahrzehnte voraus. Problematisch an dieser gelegentlichen Zeitlosigkeit bleibt jedoch nach wie vor ihre Unfähigkeit zu dauern, weil die Zeit eben nicht angehalten werden kann. Zwar kann die Kunst nach solchen „Jetztzeiten“ streben, sie kann aber den Verlauf der Zeit nicht aufhalten, wie Sebald im Umschlag seines Exemplars von A la recherche du temps perdu notiert: „Der Augenblick der Ruhe in der Vollendung der Zeit kann nicht bleiben; es geht weiter“.48 Das ist also die Schwere der Levitation: Man hat die Zeit nur momentan verlassen und muss wieder in sie zurückkehren. Die Momente von Levitation in Sebalds Prosa sind also letztendlich dialektisch zu verstehen – sie können nur das bieten, was Sebald in seinem Exemplar von Adornos Studie Mahler hervorhebt: „Glück am Rand der Katastrophe“.49

_____________ 47 48 49

Sebald streicht die Phrase in seinem Exemplar von Illuminationen heraus. Siehe Walter Benjamin, Illuminationen, Frankfurt: 1961, S. 355. Marcel Proust, A la recherche du temps perdu, übersetzt von Eva Rechel-Mertens, Frankfurt a.M. 1964, Bd. 8. Theodor W. Adorno, Mahler, Frankfurt a.M. 1960, S. 97.

Schlussbemerkungen Dass der Benjaminische Begriff des Sammelns nicht nur ein thematisches Leitmotiv in Sebalds Prosa, sondern auch eine stilistische Technik des „Einschachtelns“ bildet, die die verlorenen Kleinigkeiten der Geschichte in den Duktus seiner mäandernden Sätze hineinwebt, bedarf mittlerweile keiner weiteren Erklärung.1 Durch die eingeschachtelten Sätzen und Erzählperspektiven wird suggeriert, dass die Shoa eine Medusa sei, die nur indirekt angeschaut werden dürfe: Geschichte – so Sebald – könne nur berichtet und rezipiert werden, nicht aber angeeignet oder nachempfunden. Daher ist Sebalds Satzbau von größtem Belang, denn der Prozeß des Rezipierens der Geschichte kommt erst in seiner Syntax zum vollen Ausdruck. Diese „Sammlertätigkeit“ wäre allerdings auch dialektisch zu verstehen. Das Sammeln richtet sich immer gegen den Tod: Man sammelt, um sich selbst abzustützen – die Welt, die man sammelt, ist aber stets dabei zu verschwinden, vor allem weil die Diskrepanz zwischen Imagination und ‚Realität‛ immer größer wird. „Je mehr Bilder aus der Vergangenheit ich versammle“, lautet die Devise, „desto unwahrscheinlicher wird es mir, daß die Vergangenheit auf diese Weise sich abgespielt haben soll“ (SG, 231). Diese Dialektik des Sammelns kommt am klarsten in Sebalds Essay über Gerhard Roth zum Ausdruck: Das mythopoetische Verfahren Roths hat schon insofern einen Zug ins Archaische, als es offensichtlich von einer Sammlertätigkeit bestimmt wird, die jedes gefundene Objekt, jedes Fragment der Natur und jedes Bruchstück zertrümmerter Geschichte, das dem Autor unter die Hände kommt, als Baumaterial in den Prozess der Rekonstruktion eines in zunehmendem Maße im Verschwinden begriffenen Lebens einbringt.2

Das Sammeln versteht sich einerseits als „Prozess der Rekonstruktion“, der sich der „Fragment[e]“ der Geschichte als Baumaterial bedient, um die erstarrte Vergangenheit „aus der unendlichen Ferne in die unendliche Nähe“ zu holen, um die Adorno’sche Formulierung aufzugreifen: Ande_____________ 1 2

Siehe etwa Anja K. Johannsen, Kisten. Krypten. Labyrinthe. Raumfigurationen in der Gegenwartsliteratur: W.G. Sebald, Anne Duden, Herta Müller, Bielefeld 2008, S. 91-102. „In einer wildfremden Gegend – zu Gerhard Roths Romanwerk Landläufiger Tod“, in: W.G. Sebald, Unheimliche Heimat, Frankfurt a.M. 1995, S. 145-61, hier S. 149.

Schlussbemerkungen

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rerseits wird aber dieser Prozess nicht als Fortschritt, sondern als Regression vorgestellt – das Leben sei „in zunehmendem Maße im Verschwinden begriffen“. Dass dies buchstäblich der Fall ist, schwingt stets in Sebalds Prosa mit. Seinem Mitgefühl für die „spurlos Verschwundenen“ entspricht ein ausgeprägtes Umweltverständnis, das seinen Höhepunkt Mitte der 1990er Jahre in Die Ringe des Saturn und den Korsika-Fragmenten erreicht. Dass der Fluch des unaufhaltsamen Fortschrittes die unaufhaltsame Regression ist, liegt auch daran, dass der Fortschritt in seinem eigenen Abfall ertrinkt. Zahlreich sind die Hinweise in Die Ringe des Saturn auf den „Schmutz, mit dem wir das Antlitz der Menschheit besudelt haben“, um auf eine von Sebald herausgestrichene Stelle bei Lévi-Strauss zurückzukommen.3 Die zweite Fassung des Korsika-Fragments steigert sich seinerseits zu einer Klimax der Pyromanie, die als exemplarisches Beispiel der Umweltzerstörung zu verstehen ist. Die Beschreibung des „inzwischen katastrophale[n] Ausmaß[es] der jeden Sommer ausbrechenden Wald- und Buschfeuer“ (AK, 208) nimmt Sebald zunächst durch seine Schilderung der korsischen Felsen vorweg: „die monströsen Felsformationen der Calanches leuchteten in feurigem Kupferrot, als stünde das Gestein selber in Flammen & gloste aus seinem Innersten heraus. [...] Sogar das Wasser drunten im Golf schien zu brennen“ (AK, 205) Das Schiff, das der Erzähler auf sich zukommen sieht – nicht allerdings aus der Mitte des Meers, sondern aus der „Mitte des Brandes“ – fungiert als Metapher einer zwischen Wasser und Feuer angesiedelten Dialektik im Stillstand: Es war eine weiße Yacht mit fünf Masten, die nicht die geringste Spur auf dem reglosen Wasser hinterließ, knapp an der Grenze zum Stillstand aber dennoch so unaufhaltsam fortrückte wie der Stundenzeiger der Uhr. Das Schiff fuhr, sozusagen, entlang der Linie, die das, was wir wahrnehmen können, trennt von dem, was noch keiner gesehen hat. (AK, 205)

Die Yacht ist allerdings nicht als Anspielung auf die Barke des von Sebald so geliebten Jägers Gracchus zu deuten, sondern als Übergang zur Geschichte des „ancient mariners“, die Sebald als Allegorie der von Menschen verursachten Zerstörung versteht. „Während meines Aufenthaltes auf Korsika brachte ich diese Verse [d.h. Coleridges Gedicht] nicht aus dem Sinn, denn überall stieß ich auf die Zeichen der von einem zerstörerischen Affekt ausgelösten Verderbnis des natürlichen Lebens“ (AK, 207). Inbegriff dieser Zerstörungswut ist die schon in Die Ringe des Saturn angedeutete „Verbrennung aller brennbaren Substanzen“ (RS, 202). „Bezeichnender als jede andere Eigenschaft ist für unsere Art von Anfang an _____________ 3

Claude Lévi-Strauss, Traurige Tropen, Frankfurt a.M. 1978, S. 31.

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Schlussbemerkungen

die Pyromanie“, schreibt Sebald gegen Ende des Korsika-Fragments. „Wir verbrennen alles vom schwersten Metall bis zu den Abfällen, die wir zeit unseres Lebens in einer unser eigenes Körpergewicht weit mehr als tausendfach übersteigenden Menge hinterlassen“ (AK, 209). Jeder Versuch, dieser Dialektik der Selbstzerstörung Einhalt zu bieten, ist naturgemäß zum Scheitern verurteilt: Wie bei jedem Entwicklungsmodell sind auch hier die Versuche, dem in seinem Endstadium mit zunehmender Geschwindigkeit ablaufenden Auflösungsprozess Einhalt zu bieten, von vornherein zum Scheitern verurteilt, ja sie sind, wenn man es genau betrachtet, selber Symptome des Zerfalls. (AK, 208)

Außerdem verwendet Sebald eine ähnliche dialektische Syntax, um zwei zusätzliche Bereiche der von Menschen verursachten Zerstörung auf Korsika zu kennzeichnen: das Holzfällen und die Jagd. Schon im 19. Jahrhundert habe ein gewisser Etienne de la Tour „die bereits damals sich abzeichnende Zerstörung der korsischen Wälder par des exploitations mal conduites“ beschrieben, so Sebald. „Der Degradationsprozess der am höchsten entwickelten Pflanzenarten begann bekanntlich im Umkreis der sogenannten Wiege unserer Zivilisation“ (AK, 198). Sebalds Bernhard’sches Idiom stellt den üblichen Begriff der „Zivilisation“ in Frage: Der „sogenannte“ Fortschritt entpuppt sich wiederum als glatte Regression. „Prozess“ lässt sich nur als „Degradationsprozess“ verstehen. Ähnliches gilt für Sebalds Schilderung der örtlichen Jagdgebräuche: „Auf meinen Exkursionen ins Innere der Insel schien es mir immer wieder, als sei die gesamte männliche Bevölkerung beteiligt an einem inzwischen ins Stadium des Leerlaufs eingetretenen Zerstörungsritual“ (AK, 200). Der Kontrast zu der in Die Ausgewanderten vorgestellten Figur des „Schmetterlingsjägers“ leuchtet ein: Wo dieser – als Stellvertreter des Schriftstellers – nach Leichtigkeit und Schönheit jagt, wollen die korsischen Jäger ihrerseits nur töten und zerstören. Dass die dialektische Konstruktion par excellence in diesem Zusammenhang wiederkehrt, mag daher nicht verwundern: „Je weiter nun die Geschichte sich entfaltet,“ bemerkt Sebald, „desto weiter breitet das Blut sich aus“ (AK, 203). Die Sebalds Werk zugrundeliegende Dialektik lässt sich letztendlich aus zwei Perspektiven verstehen: Einerseits aus der Perspektive der Geschichtsentwicklung, als eine in die Regression umschlagende historische Entwicklung; andererseits aus der Perspektive des einzelnen Subjekts, als ein sich zerstörender Erinnerungsprozess. Denn im Rückblick sieht der Sebald’sche Erzähler – wie Benjamins Engel der Geschichte – nur „eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft“. Je mehr er sich erinnert, desto beunruhigter wird er. Eine von Sebald mit der Schreibmaschine notierte und zweimal angestrichene Stelle in Hannelore

Schlussbemerkungen

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und Heinz Schlaffers Studien zum ästhetischen Historismus fasst diese Dialektik des Erinnerns zusammen: „Glück und Gedächtnis verhalten sich umgekehrt proportional zueinander. Je stärker die Gabe des Erinnerns, deßto größer die metaphysische Unruhe.“4 Sebalds Geschichtsperspektive beruht schließlich auf einer Doppelbewegung, wie er in einem kurz nach seinem Tod veröffentlichten Interview bekanntgab: Ich sehe die von den Deutschen angerichtete Katastrophe, grauenvoll wie sie war, durchaus nicht als ein Unikum an – sie hat sich mit einer gewissen Folgerichtigkeit herausentwickelt aus der europäischen Geschichte und sich dann, aus diesem Grunde auch, hineingefressen in die europäische Geschichte. Deshalb sind die Spuren dieser Katastrophe in ganz Europa ablesbar..5

Einerseits habe sich die Katastrophe aus der europäischen Geschichte „herausentwickelt“, andererseits habe sie sich aber wieder „hineingefressen“. „Es gibt schließlich keine dialektische Versöhnung,“ schreibt J.J. Long, „sondern eine fortwährende Inkommensurabilität zwischen den Machtdispositiven und dem humanistischen Subjektsbegriff, den Sebald in die Moderne hinüberretten will“.6 Diese „Inkommensurabilität“ bezeichnet Sebalds Stil schließlich als einen „Spätstil“ im Sinne Adornos. In seinem letzten Buch On Late Style skizzierte Edward Saïd die Grundrisse eines an Adorno geschulten Spätstils, in Worten, die an jene J.J. Longs stark erinnern. Saïd bezieht sich vor allem auf Adornos Aufsatz „Spätstil Beethovens“; für den späten Beethoven, zitiert Saïd Rose Subotnik, sei „no synthesis [...] conceivable, [but only] the remains of a synthesis, the vestige of an individual human subject sorely aware of the wholeness, and consequently the survival, that has eluded it forever.“7 „For Adorno,“ schreibt Saïd selbst, „lateness is the idea of surviving beyond what is acceptable and normal; in addition, lateness includes the idea that one cannot really go beyond lateness at all, cannot transcend or lift oneself out of lateness, but can only deepen the late-

_____________ 4

5 6 7

Hannelore und Heinz Schlaffer, Studien zum ästhetischen Historismus, Frankfurt a.M. 1975. Zitiert nach Heike Gfrereis, „Sebald aus dem Nachlass gelesen“, in: Wandernde Schatten. W.G. Sebalds Unterwelt. Marbacher Katalog 62, hrsg. von Ulrich von Bülow, Heike Gfereis, Ellen Strittmatter, S. 232. Uwe Pralle, „Mit einem kleinen Strandspaten. Abschied von Deutschland nehmen“. Süddeutsche Zeitung, 22.12.2001. J.J. Long, „Disziplin und Geständnis. Ansätze zu einer Foucaultschen Sebald-Lektüre“, in: W.G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei, hrsg. von Michael Niehaus, Claudia Öhlschläger, Berlin 2006, S. 239. Edward W. Saïd, On Late Style, London 2006, S. 11.

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Schlussbemerkungen

ness.“8 Saïd zitiert dazu die letzten Sätze von Adornos Aufsatz, wo er vom „Widersinn“ spricht, dass der letzte Beethoven zugleich subjektiv und objektiv genannt wird. Objektiv ist die brüchige Landschaft, subjektiv das Licht, darin einzig sie erglüht. Er bewirkt nicht deren harmonische Synthese. Er reißt sie, als Macht der Dissoziation, in der Zeit auseinander, um vielleicht fürs Ewige sie zu bewahren. In der Geschichte von Kunst sind Spätwerke die Katastrophen.9

Die Analyse leuchtet nun auch bei Sebalds Prosa ein. Die Verschmelzung der „brüchige[n] Landschaft“ des Objektiven mit dem „Licht“ des Subjektiven entspricht dem an Bassani geschulten Lavieren zwischen „Dokument“ und „poetische[r] Intuition“: Dass eine „Synthese“ letztendlich nie erreicht, sondern immer wieder hinausgeschoben wird, entspricht dem dialektischen Duktus von Sebalds Sätzen. Wo er von den „Spuren dieser Katastrophe“ spricht, bezeichnet Adorno seinerseits die Spätwerke selbst als die Katastrophen. Adornos Idiom in diesem Aufsatz erinnert zudem an das von Sebalds Werk: Immer wieder ist die Rede von „Trümmern“, „Spuren“ oder „Splittern“. Zweimal in dem nur vierseitigen Essay spricht Adorno vor allem von „Hohlstellen“ bzw. einer „Höhlung nach außen“, was an Sebalds wiederholte Verwendung des Adjektivs „ausgehöhlt“ erinnert. „Spätstil“ ist von Natur aus dialektisch – auch wenn er keine Synthese erreichen kann. Damit sei aber nicht behauptet, dass Sebald einen Spätstil hatte – dass etwa eine klare Linie zwischen seinem Frühwerk und seinem Spätwerk zu ziehen wäre -, sondern dass seine Prosa gleichsam ein Spätstil ist, dass sein ganzes Werk als einen „Spätstil“ im Adornoschen Sinne zu bezeichnen wäre. Saïd spricht von dem „always-late style“10 von Konstantine Kavafy – ein Terminus, den man auch auf Sebald anwenden könnte: „Lateness is being at the end, fully conscious, full of memory, and also very (even preternaturally) aware of the present“.11 Sebalds Stil verortet ihn “nach der Natur“. Er leidet „an einem verzehrenden historischen Fieber“, um mit Nietzsche zu reden.12 Denn der Stil eines Künstlers ist schließlich immer an sein Zeitalter gebunden, wie Saïd betont: Any style involves first of all the artist’s connection to his or her own time, or historical period, society, and antecedents; the aesthetic work, for all its irreduci-

_____________ 8 9 10 11 12

Saïd, On Late Style, S. 13. Theodor W. Adorno, „Spätstil Beethovens“, in: Gesammelte Schriften, Bd 17: Musikalische Schriften IV, Frankfurt a.M. 1982, S. 13-17. Saïd zitiert Adorno auf Englisch. Saïd, On Late Style, S. 147. Saïd, On Late Style, S. 14. Friedrich Nietzsche, Unzeitgemässe Betrachtungen, Stuttgart 1964, S. 101.

Schlussbemerkungen

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ble individuality, is nevertheless a part – or paradoxically, not a part – of the era in which it was produced and appeared. This is not simply a matter of sociological or political synchrony but more interestingly has to do with rhetorical or formal style.13

Sebalds Prosa mag zwar die Anzeichen eines Spätstils aufweisen – dass sie aber als dialektisch zu bezeichnen sei, liegt daran, dass sein Werk ein Produkt seiner Zeit war, der Nachkriegsära „in which it was produced and appeared“. Sosehr die gewollte Langsamkeit seines Stils an die Biedermeier-Epoche erinnern mag – Sebalds Prosa wurzelt auch nachweislich im 20. Jahrhundert der Frankfurter Schule. Dass dies in den „rhetorischen und formalen“ Aspekten seines Stils nachzuvollziehen ist, hat die vorliegende Studie gezeigt. Wenn „der Schlüssel jeglichen Gehaltes von Kunst“ tatsächlich „in ihrer Technik“ liegt,14 so können „die Spuren [der] Katastrophe“, die Sebalds Werk untersucht, erst im Kontext seines Stils verstanden werden: Seine sorgfältig konstruierten Sätze entsprechen einer „Dialektik, die aus der Mitte der Sprache gedacht ist“, um mit Gadamer zu sprechen.15 Dass Sebalds Prosa eine „tendency to counter-flow / and double-exposure“ zeige,16 wie es der Dichter George Szirtes in seiner Elegie für seinen Freund formulierte, ist letztendlich der Schlüssel seiner Kunst.

_____________ 13 14 15 16

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Literatur über W.G. Sebald

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Sheppard, Richard, „Woods, trees and the spaces inbetween. A report on work published on W.G. Sebald 2005-2008“, Journal of European Studies 39 (2009), S. 79-128 Siedenberg, Sven, „Anatomie der Schwermut: Interview mit W.G. Sebald“, Porträt 7: W.G. Sebald hrsg. von Franz Loquai, Eggingen: Isele, 1997 Silverblatt, Michael, The Emergence of Memory. Conversations with W.G. Sebald, hrsg. von Lynne Sharon Schwartz, London: Seven Stories Press, 2007, S. 77- 86 Simon, Ulrich, „Der Provokateur als Literaturhistoriker. Anmerkungen zu Literaturbegriff und Argumentationsverfahren in W. G. Sebalds essayistischen Schriften“, in: Sebald. Lektüren, hrsg. von Marcel Atze / Franz Loquai, Eggingen: Isele, 2005, S. 78-104 Sontag, Susan, „A Mind in Mourning: W.G. Sebald’s Travels in Search of Some Remnant of the Past“, Times Literary Supplement, 25/2/2000 Steinmann, Holger, „Zitatruinen unterm Hundsstern“, in: W.G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei, hrsg. von Michael Niehaus, Claudia Öhlschläger, Berlin: Erich Schmidt, 2006, S. 149-56 Strathausen, Carsten, „Going Nowhere: Sebald’s Rhizomatic Travels“, in: Searching for Sebald, hrsg. von Lise Patt, Los Angeles: The Institute of Cultural Inquiry, 2007, S. 472- 91 Swales, Martin, „Intertexuality, Authenticity, Metonymy? On Reading W.G. Sebald“, in: The Anatomist of Melancholy. hrsg. von Rüdiger Görner, München: Iudicium, 2003, S. 81-8 Szirtes, George, „Meeting Austerlitz“, in: W.G. Sebald – A Critical Companion, hrsg. von J.J. Long / Anne Whitehead, Edinburgh: Edinburgh University Press, 2004, S. 16-22 Tonkin, Boyd, Independent, 13/4/2007 Wachtel, Eleanor, „Ghost Hunter“, in: The Emergence of Memory. Conversations with W.G. Sebald, hrsg. von Lynne Sharon Schwarz, London: Seven Stories Press, 2007, S. 37-61 Wohlleben, Doren, „Effet de flou“, in: W.G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei, hrsg. von Michael Niehaus / Claudia Öhlschläger, Berlin: Erich Schmidt, 2006, S. 127-44 Wood, James, „W.G. Sebald’s Uncertainty“, in: The Broken Estate: Essays on Literature and Belief, London: Modern Library, 1999 Zilcosky, John, „Sebald’s Uncanny Travels: The Impossibility of Getting Lost“, in: W.G. Sebald – A Critical Companion, hrsg. von J.J. Long / Anne Whitehead, Edinburgh: Edinburgh University Press, 2004, S. 102-120

178

Literaturverzeichnis

Sonstige Literatur Adorno, Theodor W., Minima Moralia, Frankfurt: Suhrkamp, 1951 Adorno, Theodor W , Mahler, Frankfurt: Suhrkamp, 1960 Adorno, Theodor W., „Zur Schlußszene des Faust“, Noten zur Literatur II, Frankfurt: Suhrkamp, 1961 Adorno, Theodor W., „Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman“, in: Noten zur Literatur I, Frankfurt: Suhrkamp, 1963 Adorno, Theodor W., „Vers une musique informelle“, in: Quasi una Fantasia, Frankfurt: Suhrkamp, 1963 Adorno, Theodor W., Versuch über Wagner, München 1964 Adorno, Theodor W., „Schubert“, in: Moments Musicaux, Frankfurt: Suhrkamp, 1964 Adorno, Theodor W., „Anton von Webern“, in: Impromptus, Frankfurt: Suhrkamp, 1968 Adorno, Theodor W. / Horkheimer, Max, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt 1969 Adorno, Theodor W., „Die Idee der Naturgeschichte“, in: Philosophische Frühschriften. hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt: Suhrkamp, 1973 Adorno, Theodor W., „Spätstil Beethovens“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 17: Musikalische Schriften IV, Frankfurt 1982, S. 13-17 Améry, Jean, Jenseits von Schuld und Sühne, Stuttgart: Klett-Cotta, 1966 Arendt, Hannah, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt: Suhrkamp, 1966 Asmuth, Bernhard / Berg-Ehlers, Luise, Stilistik, Düsseldorf: Bertelsmann Universitätsverlag, 1974 Austin, J.L., How to do things with words, Oxford: Oxford University Press, 1971 Barthes, Roland, Le degré zéro de l’écriture, Paris: Seuil, 1953 Barthes, Roland, La chambre claire. Note sur la photographie, Paris: Seuil, 1980 Barthes, Roland, Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Frankfurt: Suhrkamp, 1985 (übersetzt von Dietrich Leube) Barthes, Roland, Camera Lucida, London: Fontana, 1984 Bassani, Giorgio, Erinnerungen des Herzens, hrsg. von Eberhard Schmidt, München: Piper, 1991 Bassani, Giorgio, Die Gärten der Finzi-Contini, München: Piper, 1995 Bassani, Giorgio, Ferrareser Geschichten, München: Piper, 1996 Bassani, Giorgio, Hinter der Tür, München: Piper, 1997 Bassani, Giorgio, Die Brille mit dem Goldrand, München: Piper, 1997

Sonstige Literatur

179

Bassani, Giorgio, Der Reiher, München: Piper, 1999 Benjamin, Walter, „Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows“, in: Illuminationen, Frankfurt: Suhrkamp, 1961 Benjamin, Walter, Ursprung des deutschen Trauerspiels, Frankfurt: Suhrkamp, 1963 Benjamin, Walter, „Krisis des Romans. Zu Döblins Berlin Alexanderplatz“, in: Angelus Novus, Frankfurt: Suhrkamp, 1966 Benjamin, Walter, Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann / Hermann Schweppenhäuser. 7 Bände, Frankfurt: Suhrkamp, 1972-1989 Bernhard, Thomas, Frost, Frankfurt: Suhrkamp, 1963 Bernhard, Thomas, Verstörung, Frankfurt: Suhrkamp, 1967 Bernhard, Thomas, Ungenach, Frankfurt: Suhrkamp, 1968 Bernhard, Thomas, Das Kalkwerk, Frankfurt: Suhrkamp, 1970 Bernhard, Thomas, Ja, Frankfurt: Suhrkamp, 1978 Blake, William, Poems and Prophecies (hrsg. von Max Plowman), London: Dent, 1927 Bronfen, Elisabeth, Der literarische Raum. Eine Untersuchung am Beispiel von Dorothy M. Richardsons Romanzyklus „Pilgrimage”, Tübingen: Niemeyer, 1986 Browne, Sir Thomas, The Works of Sir Thomas Browne in 3 volumes, Edinburgh: John Grant, 1927 Calvino, Italo, Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend, München: Hanser, 1991 (übersetzt von Burkhart Kroeber) Canetti, Elias, Die gespaltene Zukunft. Aufsätze und Gespräche, München: Hanser, 1984 Derrida, Jacques, „An Interview with Jacques Derrida“, in: Acts of Literature, London 1992, S. 33-75 Deutsches Literaturarchiv Marbach (Hrsg.), Ordnung. Eine unendliche Geschichte, Marbacherkatalog 61 (2007) Duvignaud, Jean, „Claude Lévi-Strauss“, in Schriftsteller der Gegenwart: Französische Literatur, hrsg. von Bernard Pingaud, Breisgau 1965 Foucault, Michel, Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt: Suhrkamp, 1973 Freud, Sigmund, „Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci“, in: Bildende Kunst und Literatur, Studienausgabe Bd. X , Frankfurt: Suhrkamp, 1969 Fuld, Werner, Walter Benjamin. Zwischen den Stühlen, München: Hanser, 1979 Gadamer, Hans-Georg, Wahrheit und Methode, Tübingen: Mohr, 1960/1990 Genette, Gerard, Discours du récit, Paris: Seuil, 1972

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Sonstige Literatur

181

Ohmann, Richard, „Generative grammars and the concept of literary style“, Word XX (1964), S. 423-39 (übersetzt von Heinz Blumensath) Pestalozzi, Karl, Die Entstehung des lyrischen Ich. Studien zum Motiv der Erhebung in der Lyrik, Berlin: de Gruyter, 1970 Poe, Edgar Allan, „Marginalia“, in: Democratic Review, November 1844 Proust, Marcel, A la recherche du temps perdu, Bd. 8, Frankfurt: Suhrkamp, 1964 (übersetzt von Eva Rechel-Mertens) Saïd, Edward W., On Late Style, London: Bloomsbury, 2006 Schiller, Friedrich, Über naïve und sentimentalische Dichtung, Stuttgart: Reclam, 1966 Schlaffer, Hannelore & Heinz, Studien zum ästhetischen Historismus, Frankfurt: Suhrkamp, 1975 Schlüter, Wolfgang, Walter Benjamin. Der Sammler & Das geschlossene Kästchen, Darmstadt: Häusser, 1993 Schweppenhäuser, Gerhard, Theodor W. Adorno: Zur Einführung, Hamburg: Junius, 1996 Shelley, Percy Bysshe, Poetical Works, Oxford: Oxford University Press, 1970 Simon, Claude, Le jardin des plantes, Paris: Editions de Minuit, 1997 Sontag, Susan, Against Interpretation, New York: Farrar, Strauss & Giroux, 1966 Sontag, Susan, On Photography, New York: Farrar, Strauss & Giroux, 1977 Sontag, Susan, Under the Sign of Saturn, New York: Picador, 1980 Sontag, Susan, „A mind in mourning“, in: Where the Stress Falls, New York: Farrar, Strauss & Giroux, 2001, S. 41-48 Stern, Sheila, Swann’s Way, Cambridge: Cambridge University Press, 1989 Walter Benjamin Archiv (Hrsg.), Walter Benjamins Archive. Bilder, Texte und Zeichen, Frankfurt: Suhrkamp, 2006 Werle, Dirk, „Stil, Denkstil und Stilisierung der Stile. Vorschläge zur Bestimmung und Verwendung eines Begriffs in der Wissenschaftsgeschichte der Geistes- und Kulturwissenschaften“, in: Stil, Schule, Disziplin, hrsg. von Lutz Danneberg, Wolfgang Höppner, Ralf Klausnitzer, Frankfurt: Peter Lang, 2005 Wittgenstein, Ludwig, Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt: Suhrkamp, 1984

Register Adorno, T.W. „Anton von Webern“ 56 Dialektik der Aufklärung 4-8, 19, 39, 104, 118-119, 134, 137 „Die Idee der Naturgeschichte“ 40 Mahler 93, 165 Minima Moralia 84, 111, 117 Quasi una fantasia 27 „Schubert“ 55, 112 „Spätstil Beethovens“ 169 „Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman“ 51 Versuch über Wagner 1, 7 „Zur Schlußszene des Faust “ 152 Albes, Claudia 87 Angier, Carole 60 Arendt, Hannah 7 Asmuth, Bernhard 13, 20 Austin, J.L. 7 Barthes, Roland 12, 18 Chambre Claire 63 Bassani, Giorgio 10, 31, 57-76, 164 Leben und Werk 58 Erinnerungen des Herzens 61, 69

Der Reiher 62 Die Brille mit dem Goldrand 64, 68 Die Gärten der Finzi-Contini 66, 72 Ferrareser Geschichten 6364, 66, 69, 71 Hinter der Tür 62 Beckett, Samuel 21, 119 Benjamin, Walter 3, 30, 133, 163-166 als Sammler 44-45 „Der Erzähler“ 35-56 „Der Saturnring“ 89 ‚Engel der Geschichte’ 73, 131, 163-164, 168 über Döblin 51 „Über den Begriff der Geschichte“ 87, 164 Ursprung des deutschen Trauerspiels 56, 104, 123 Berg-Ehlers, Louise 12, 20 Bernhard, Thomas 8-12, 22, 102, 115, 121-124, 143 Blake, William 161 Blumenberg, Hans 95 Borges, Jorge Luis 126 Browne, Sir Thomas 104, 123-127, 135, 154-155 Hydriotaphia 152 Religio Medici 126

Register

Calvino, Italo 147-148 Canetti, Elias 32, 78, 97, 110 Cattaneo, Giulio 65, 70 Chateaubriand 132134 Coetzee, J.M. 4 Coleridge, S.T. 23, 167 Conrad, Joseph 32, 87, 141-144 Cuomo, Joseph 8, 53 Deleuze, Gilles 75 Deshusses, Pierre 45 Derrida, Jacques 16 Duvignaud, Jean 138 Fitzgerald, Edward 128130 Flaubert, Gustave 113, 123 Foucault, Michel 118 ‚Frankfurter Schule’ 5, 7, 33 Freud, Sigmund 161 Frey, Mattias 52 Fritzsche, Peter 59 Fuchs, Anne 2, 4, 55, 70, 91, 140-142 Fuld, Werner 45 Gadamer, Hans-Georg 171 Genette, Gerard 45 Goethe, J.W. 13 Görner, Rüdiger 3 Guattari, Felix (siehe Deleuze) Habermas, Jürgen 19 Halbwachs, Maurice 67 Hamburger, Michael 8, 127, 140 Hartmann, Geoffrey 48

183

Hebel, Johann Peter Unverhofftes Wiedersehen 41-42 Kannitverstan 90 Hill, Geoffrey 20 Hirsch, Marianne 41 Hofmannsthal, Hugo von 109 Höller, Hans 11 Horkheimer, Max (siehe Dialektik der Aufklärung) Jackson, H.J. 23 Jameson, Fredric 16, 17, 36 Jay, Martin The dialectial Imagination 33, 94 Downcast Eyes 95 Jean Paul 149 Johannsen, Anja K. 40, 84-85, 102 Kafka, Franz 39, 46, 83, 107, 125, 133, 135, 146, 153 Kavafy, Konstantine 170 Klüger, Ruth 85 Köhler, Andrea 44 Körte, Mona 48 Kuna, Franz 146 Lesskow, Nicolai 35 Levi, Primo 18, 128, 148 Lévi-Strauss, Claude 3234, 135-142 La pensée sauvage 5255, 139 Mythologica 140142 Tristes Tropiques 136140, 167 Löffler, Sigrid 35, 50, 52, 55, 60, 145 Long, J.J. 3, 36, 92, 104, 107, 122, 169

184

Lukàcs, Georg 15 Maier, Anja K. (siehe Johannsen, Anja K.) McCulloh, Mark 21 Milton, John, Paradise Lost 87 Nabokov, Vladimir 159, 161 Niehaus, Michael 27-29 Nietzsche, Friedrich 151152, 170 Öhlschläger, Claudia 4, 8891 Ohmann, Richard 1214, 24 Parry, Anne 2 Pestalozzi, Karl 149 Pfohlmann, Oliver 145 Poe, Edgar Allan 60 Poltonieri, Marco 71 Private Eye 24 Proust, Marcel 46, 66, 165 Roth, Gerhard 152 Saïd, Edward 169171 Santner, Eric 30, 41, 56, 123 Sartre, Jean Paul 138, 141 Schedel, Susanne 3 Schiller, Friedrich Über naive und sentimentalische Dichtung 27-29 Schlaffer, Heinz / Hannelore 169 Schlüter, Wolfgang 44 Schmidt, Eberhard 61, 68, 73 Schütte, Uwe 135 Schweppenhäuser, Gerhard 19

Register

Sebald, W.G. „Aufzeichnungen aus Korsika“ 155157, 167-168 Austerlitz 11, 46-49, 75, 92-111, 155, 159, 162 Campo Santo 155 Carl Sternheim 17, 87 Der Mythos der Zerstörung im Werk Döblins 118120, 145 Die Ausgewanderten 29, 42, 81-87, 113-114, 150 Die Beschreibung des Ungücks 120-121, 146 Die Ringe des Saturn 8, 25, 37, 79, 87-92, 123-145, 153, 158, 159 Logis in einem Landhaus 5, 20, 65, 77, 115-118, 150, 158, 160 Luftkrieg und Literatur 90, 103, 163 Nach der Natur 38, 149-150 Schwindel. Gefühle 7, 29, 78-81 Unheimliche Heimat 120121 über Jean Améry 19 über Hermann Broch 17, 152 über Elias Canetti 78 über Peter Handke 25 über Ernst Herbeck 55, 159 über Gottfried Keller 115, 160 über Eduard Mörike 115, 117, 150, 160-161

185

Register

über Vladimir Nabokov 157 über Gerhard Roth 166 über J-J. Rousseau 116-117 über Adalbert Stifter 121 über Robert Walser 65, 116-117, 158-159 Shakespeare, Sebastian 65 Shelley, P.B. 85 Sheppard, Richard 2, 59, 145, 160 Siedenberg, Sven 148 Silverblatt, Michael 12, 22 Simon, Ulrich 116 Sontag, Susan 2, 14-16

Starobinski, Jean Stern, Sheila Stifter, Adalbert Strathausen, Carsten Swales, Martin Swinburne, Algernon Szirtes, George Tonkin, Boyd Wachtel, Eleanor Werle, Dirk Wilde, Oscar Wittgenstein, Ludwig Wohlleben, Doren Wood, James Zilcosky, John

117 47 22, 160 75-76 37 130-132 171 18 76 13-16 24 154 3 22 74-76