Stoizismus in der europaischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik: Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Moderne - Band 1 German 3110204053 [PDF]

Starting from the position of the ancient Stoa, these two interdisciplinary collections examine the influence of Stoic t

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Stoizismus in der europaischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik: Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Moderne - Band 1  German
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Zitiervorschau

Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik Band 1



Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Moderne Herausgegeben von

Barbara Neymeyr, Jochen Schmidt und Bernhard Zimmermann

Band 1

Walter de Gruyter · Berlin · New York

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-020405-6 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Martin Zech, Bremen Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen

Vorwort Die europäische Wirkungsgeschichte der Stoa reicht von der Antike bis in die Gegenwart. Trotz wertvoller früherer Forschungsarbeiten ist sie erst partiell erkundet. Auf der Basis doxographischer und traditionsgeschichtlicher Untersuchungen werden in diesem Werk die Problemstrukturen, die Kontinuitäten und Adaptationen sowie die vielfältigen epochentypischen Transformationen auf ihren jeweiligen historischen Aussagewert hin befragt und funktionsgeschichtlich charakterisiert. Nicht nur das weite zeitliche Spektrum galt es zu erforschen. Darüberhinaus war das kaum überblickbare Feld zu vermessen, in dem sich die kulturelle Prägekraft des Stoizismus manifestiert. Vor allem Philosophie und Literatur zeugen von der intensiven Auseinandersetzung mit der Anthropologie der Stoa, aber auch auf Theologie, Psychologie, Kunst, Politik, Recht, auf ökonomische Theorie und medizinische Vorstellungen wirkte sie ein. Die historische und systematische Spannweite des Projekts machte ein interdisziplinäres Vorgehen notwendig. Die Herausforderung bestand darin, von der Antike bis in die Moderne Themen, Paradigmen, Epochen, Autoren und Werke in ihren jeweiligen diskursiven Zusammenhängen zu erschließen, zugleich aber auch in ihren spezifischen Konturen erkennbar werden zu lassen. Die Ethik, die schon im Zentrum der antiken Stoa stand, blieb auch für den späteren Stoizismus maßgebend. Anders als das modische Interesse an der ,Lebenskunst‘ ist die Praxisorientierung der stoischen Philosophie von einem markanten ethischen Anspruch getragen: von der Frage nach der rechten Lebensführung. Der Thyssen-Stiftung gilt unser Dank für die Förderung des Projekts. Für die gute redaktionelle Betreuung danken wir Anne Schlichtmann. Die Herausgeber

Inhalt

ERSTER BAND I. Überblick und Basiskonzepte Jochen Schmidt Grundlagen, Kontinuität und geschichtlicher Wandel des Stoizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

Dorothea Frede Determinismus in der Stoa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

135

Maximilian Forschner Oikeiosis. Die stoische Theorie der Selbstaneignung . . . . . . . .

169

Bernhard Zimmermann Philosophie als Psychotherapie. Die griechisch-römische Consolationsliteratur . . . . . . . . . . . . .

193

Jochen Schmidt Stoische Naturphilosophie und ihre Psychologisierung: Feuer als Prinzip des Schaffens und Zerstörens von der Antike bis zu Goethe und Hölderlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

215

Sebastian Kaufmann Die stoisch-ciceronische Naturrechtslehre und ihre Rezeption bis Rousseau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

229

II. Mythologische und historische Paradigmata Jochen Schmidt Herakles als Ideal stoischer Virtus. Antike Tradition und neuzeitliche Inszenierung von der Renaissance bis 1800. . . . . .

295

VIII

Inhalt

Barbara Neymeyr Laokoon als Prototyp stoischer Schmerzbewältigung? Winckelmanns Deutung im Kontext ästhetischer Kontroversen

343

Barbara Beßlich Cato als Repräsentant stoisch formierten Republikanertums von der Antike bis zur Französischen Revolution . . . . . . . . . .

365

Bernhard Zimmermann Der Tod des Philosophen Seneca. Stoische probatio in Literatur, Kunst und Musik . . . . . . . . . . .

393

III. Humanismus und Stoa Marlene Meuer Petrarcas Begründung der humanistischen Moralphilosophie: Rezeption und Relativierung der stoischen Tradition . . . . . . .

425

Klaus Mönig Kritische Reflexionen über die Stoa: Leon Battista Albertis Profugiorum ab aerumna libri III . . . . . . . .

453

Klaus Mönig Zenons glücklicher Schiffbruch am Felsen der Weisheit: Eine stoische Allegorie im Dom zu Siena . . . . . . . . . . . . . . . . .

487

Peter Walter „Nihil enim huius praeceptis sanctius“ Das Seneca-Bild des Erasmus von Rotterdam . . . . . . . . . . . . .

501

Hugo Friedrich Montaignes skeptische Stoa-Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

525

Günter Frank Stoa und frühneuzeitliche Rationalität: Philipp Melanchthons Konzept der Geistphilosophie . . . . . . . .

549

Gerhard Oestreich Justus Lipsius und der politische Neustoizismus in Europa . . . .

575

Andreas Urs Sommer Das Leben als Krieg. Eine Leitmetapher bei Seneca und Lipsius

631

Inhalt

Klaus Mönig Peter Paul Rubens und die stoische Philosophie des Justus Lipsius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IX

655

ZWEITER BAND IV. Stoizismus in der Literatur des 17. Jahrhunderts Paul Goetsch Shakespeare und die englische Rezeption des Stoizismus . . . . .

673

Achim Aurnhammer Martin Opitz’ Trost-Getichte: ein Gründungstext der deutschen Nationalliteratur aus dem Geist des Stoizismus .

711

Katharina Grätz Seneca christianus. Transformationen stoischer Vorstellungen in Andreas Gryphius’ Märtyrerdramen Catharina von Georgien und Papinian . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

731

Jochen Schmidt Petrarkismus und Stoizismus: Die Kreuzung konträrer Diskurse in Paul Flemings Liebeslyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

771

Barbara Neymeyr Das autonome Subjekt in der Auseinandersetzung mit Fatum und Fortuna. Zum stoischen Ethos in Paul Flemings Sonett An sich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

787

Jochen Schmidt Eine stoische meditatio mortis: Paul Flemings Grabschrift auf sich selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

807

Thorsten Fitzon Von müßigen Geschäften und freiheitlichem Stand. Stoische Tradition in der Landlebendichtung des 17. und 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

833

X

Inhalt

V. Stoische Konzepte in der deutschen Literatur von der Aufklärung bis zur Romantik Dieter Martin Wielands Auseinandersetzung mit dem Stoizismus aus dem Geist skeptischer Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

855

Barbara Neymeyr Navigation mit Virtus und Fortuna. Goethes Gedicht Seefahrt und seine stoische Grundkonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

875

Barbara Neymeyr „Seelenstärke“ und „Gemütsfreiheit“. Stoisches Ethos in Schillers ästhetischen Schriften und in seinem Drama Maria Stuart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

897

Jochen Schmidt Stoischer Pantheismus als Medium des Säkularisierungsprozesses und als Psychotherapeutikum um 1800: Hölderlins Hyperion . .

927

Jochen Schmidt Die poetologische Transformation der stoischen Euthymie: Marc Aurel und Hölderlins Ode Dichtermut . . . . . . . . . . . . . . .

951

Jochen Schmidt Die Aktualisierung des preußisch-stoischen Erbes: Kleists Prinz Friedrich von Homburg als patriotischer Appell am Vorabend der Befreiungskriege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

963

VI. Der Stoizismus in der philosophischen Diskussion vom 17. bis zum 19. Jahrhundert Wilhelm Dilthey Die Autonomie des Denkens im 17. Jahrhundert . . . . . . . . . . .

977

Hanna Klessinger Spinozas Stoizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

997

Lothar Willms Pascals Auseinandersetzung mit der Stoa. Zwischen Paradox und Dialektik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1017

XI

Inhalt

Friedrich A. Uehlein „Stoisch, wahrhaft sokratisch“. Epiktet und Marc Aurel in der Philosophie Shaftesburys . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1047

Sabine Föllinger Der Einfluß der stoischen Philosophie auf die Grundlagen der modernen Wirtschaftstheorie bei Adam Smith . . . . . . . . . .

1063

Christoph Horn Kant und die Stoiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1081

Maximilian Forschner Die Synthese epikureischer und stoischer Elemente in John Stuart Mills Utilitarianism . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1105

Barbara Neymeyr Ataraxie und Rigorismus. Schopenhauers ambivalentes Verhältnis zur stoischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1141

Barbara Neymeyr „Selbst-Tyrannei“ und „Bildsäulenkälte“. Nietzsches kritische Auseinandersetzung mit der stoischen Moral . . . . . . . . . . . . . .

1165

VII. Stoische Anthropologie im kulturellen Spektrum des 20. Jahrhunderts Frank Pauly Vom Überleben in heillosen Zeiten. Stoizismus in der Weltliteratur vom Fin de siècle bis zur Gegenwart . . . . . . . . .

1201

Frank Pauly Der Stoiker als komischer Typus. Stoa-Parodien in Literatur und Film . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1267

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1297

I. Überblick und Basiskonzepte

Grundlagen, Kontinuität und geschichtlicher Wandel des Stoizismus von Jochen Schmidt Vorbemerkung. Zur Hinführung und Ergänzung stellt der folgende Überblick zuerst die wesentlichen Zusammenhänge von der Antike bis zum Ausgang des Mittelalters dar, um dann eine übergreifende historische Orientierung zu den Stationen des neuzeitlichen Stoizismus zu geben. I. Anfang in Athen. Ausbreitung. Theoretische Grundlagen und gesellschaftliche Bedingungen S. 4 – 13. – Überlieferung, Eigenart und spätere Funktionen der antiken Quellen S. 13 – 22. – Das soziale Spektrum: Marc Aurel – ein Kaiser als Stoiker. Stoische Popularphilosophie S. 22 – 25. – Philosophische Schulen und Diskursformationen. Die traditionbildende Konfrontation von Stoa und Epikureismus S. 26 – 33. – Die Bedeutung stoischer Moral und Askese für das frühe Christentum und das Mittelalter. Seneca- und Epiktet-Rezeption. Aspekte einer heidnisch-christlichen Mischkultur. Neuplatonische Überformung stoischer Vorstellungen bei Boethius. Dessen tausendjährige Wirkung S. 33 – 46. – Eine zeitübergreifende Debatte: ,Vorsehung‘ und schicksalhafte Determination in der Stoa und bei christlichen Autoren von der Antike bis in die Neuzeit S. 46 – 53. – Augustinus und die Stoa im Medium des Frühhumanismus: Petrarcas Secretum S. 53 – 65. II. Historisch-anthropologische Konturen des Neustoizismus. Justus Lipsius und die „niederländische Bewegung“ in Europa. S. 65 – 76. – Ein zentrales Thema: Weisheit. Die stoische Idealfigur des Weisen von der Antike bis in die Neuzeit. Christlich-antistoische Kritik: Bidermanns Cenodoxus als literarisches Paradigma S. 76 – 98. – Stoische Prägungen der deutschen Literatur im 17. Jahrhundert: Opitz, Fleming und Gryphius S. 98 – 101. – Die moderne Neubelebung des stoisch-pantheistischen Monismus als weltanschauliche Wende: Spinozas Ethik S. 102 – 106. III. Überkreuzung epikureischer und stoischer Strömungen im 18. Jahrhundert. Revolutionäre und religionskritische Paradigmatisierung stoischer Leitfiguren S. 107 – 111. – Kants Stoa-Kritik im zeitgenössischen Kontext. Seine Affinität zur stoischen Auffassung des ,Mitleids‘ und der ,Pflicht‘ S. 112 – 121. – Strukturbildende Aufnahme stoischer Grundgedanken in Werken Goethes, Schillers, Hölderlins und Kleists S. 121 – 129. – Schopenhauers und Nietzsches Auseinandersetzung mit der stoischen Moral. Ausblick auf das 20. Jahrhundert S. 129 – 133.

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Jochen Schmidt

I Anfang in Athen. Ausbreitung. Theoretische Grundlagen und gesellschaftliche Bedingungen Die Stoa gehört zu den großen philosophischen Schulen der Antike, die bis weit in die Moderne hinein wirkten.1 Zwar erhielt sie ihren Namen von einem räumlich fixierten Ort, einer mit Bildern ausgestatteten, 1

Überblick, Forschungsberichte, umfassende bibliographische Information sowie Sach- und Personenregister in: Grundriss der Philosophie der Antike. Begründet von Friedrich Ueberweg. Band 4. Herausgegeben von Hellmut Flashar. Zweiter Halbband. Basel 1994. Darin insbesondere die Darstellungen von Peter Steinmetz: Die Stoa (S. 495 – 716) sowie von Günter Gawlick und Woldemar Görler: Cicero (S. 995 – 1168). – Trotz gelegentlicher ideologischer Spuren der Hitlerzeit immer noch ein Standardwerk: Max Pohlenz: Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung. 1. Band: Text, 1. Auflage Göttingen 1948, 4. Auflage 1971. 2. Band: Erläuterungen, 1. Auflage Göttingen 1949, 2. Auflage 1972 (mit Zitatkorrekturen, bibliographischen Nachträgen und Stellenregister von H.–Th. Johann). John M. Rist: Stoic Philosophy. Cambridge 1969. Im Hinblick auf die besondere Bedeutung Senecas für die Wirkungsgeschichte ist zu beachten, daß Seneca in den genannten Darstellungen (mit Ausnahme eines Kapitels bei Pohlenz, Bd. 1, S. 303 – 327) nicht vorkommt und auch nur ausnahmsweise in den Quellensammlungen berücksichtigt ist. Eine ausführliche Behandlung ist für Band 5 von Ueberwegs Grundriss angekündigt. Die grundlegende Quellensammlung: Stoicorum Veterum Fragmenta. Collegit Ioannes ab Arnim. 4 Bde. Bd. I-III Stuttgart 1903 – 1905 (Teubner), Bd. IV: Indices zu Bd. I-III, von Maximilian Adler (Stuttgart 1924). Alle Texte stehen hier in der griechischen und lateinischen Originalform ohne Übersetzung. Der angesichts der zersplitterten Überlieferung sehr nützliche Index-Band umfaßt zur Hauptsache einen griechischen Index der stoischen Worte, Begriffe und ,Sachen‘ und stellt sie in den näheren Kontext, darauf folgt ein knapper lateinischer Index der stoischen Termini, die von den römischen Schriftstellern vom Griechischen ins Lateinische übertragen wurden, sowie ein Namens- und Quellen-Index. Neudruck Stuttgart 1978 und 1979. – Neuere Quellensammlungen: A. A. Long/D.N. Sedley: The Hellenistic philosophers, 2 Bde, Cambridge 1987. Der erste Band enthält die englische Übersetzung der im 2. Band gebotenen Originaltexte sowie kurze Kommentare und KontextHinweise. Dieses Werk versammelt ausgewählte Texte zur Stoa, zur Skepsis und zum Epikureismus. Der 2. Band enthält eine ausführliche, durchgegliederte Bibliographie. Dem ersten Band entspricht die deutsche Version in: A. A. Long/D. N. Sedley: Die hellenistischen Philosophen. Texte und Kommentare. Übersetzt von Karlheinz Hülser. Stuttgart/Weimar 2000. Dieser – manchmal problematischen – deutschen Version ist kein zweiter Band mit den Originaltexten beigegeben, so daß die wissenschaftliche Benutzbarkeit eingeschränkt ist.

Grundlagen, Kontinuität und geschichtlicher Wandel des Stoizismus

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„bunten“ Säulenhalle (Stoá poikíle) in Athen; ähnlich wie Platonismus, Aristotelismus und Epikureismus beschränkte sich aber auch die Stoa schon bald nicht mehr auf ihren athenischen Ursprung. In einem durch theoretische Schriften bewahrten Kontinuum der Grundgedanken und zugleich in historisch bedingten Transformationen breitete sich ihre Lehre während der Zeit des Hellenismus und des römischen Kaiserreichs über den ganzen Mittelmeerraum aus. Die Einschränkungen und Reduktionen, welche die antike philosophische Tradition nach dem Sieg des Christentums und dem Untergang Roms in den Jahrhunderten des Mittelalters erfuhr, ohne daß sie je ganz abgebrochen wäre, dauerten bis zur Wiedererweckung der antiken Kultur, die mit Renaissance und Humanismus begann. Diese Kultur prägte Europa bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Aber auch später und bis in die Gegenwart hinein strahlte die von ihr mitgetragene philosophische Tradition aus, und dies nicht nur in einer mehr oder weniger gelehrten Erinnerungskultur, sondern in vielerlei lebendigen Wandlungen. Immer allerdings blieb eine Grundeigenschaft des Stoizismus maßgebend: Sein Hauptinteresse gewann er als praktische Philosophie, als Anleitung zur richtigen Lebenseinstellung und zu einer Lebensführung, die mit dem allgemein gültigen Gesetz der Natur übereinstimmen sollte. Deshalb stand stets die Ethik im Mittelpunkt.2 Einen besonderen Rang im ethischen System der Stoa und auch in ihrer Wirkungsgeschichte hat die Lehre von den Affekten,3 deren Überwindung durch die Vernunft 2

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Hierzu das Standardwerk von Maximilian Forschner: Die stoische Ethik. ber den Zusammenhang von Natur-, Sprach- und Moralphilosophie im altstoischen System. Stuttgart 1981. 2., durchgesehene und um ein Nachwort und einen Literaturnachtrag erweiterte Auflage. Darmstadt 1995. Otto Rieth: Grundbegriffe der stoischen Ethik. Berlin 1933. Vgl. auch Nicholas P. White: The basis of Stoic Ethics, in: Harvard Studies in Classical Philology 83, 1979, S. 143 – 178; Malcolm Schofield: Stoic Ethics, in: The Cambridge Companion to the Stoics, ed. by Brad Inwood, Cambridge 2003, S. 233 – 256. Die stoischen Zeugnisse bei Hans von Arnim: SVF III (wie Anm. 1) in dem Kapitel Ethica VII: De affectibus, Nr. 377-Nr. 490. Dieser dritte Band ist insgesamt der stoischen Ethik gewidmet. Vgl. Max Pohlenz (wie Anm. 1), S. 141 – 153. Maximilian Forschner (wie Anm. 2), S. 114 – 141: Die Lehre von den Affekten. Michael Frede: The Stoic Doctrine of the Affections of the Soul, in: The Norms of Nature. Studies in Hellenistic Ethics, ed. Malcolm Schofield and Gisela Striker, Cambridge 1986, S. 93 – 110. Martha C. Nussbaum: The Therapy of Desire: Theory and Practice in Hellenistic Ethics. Princeton 1994. Gisela Striker: Ataraxia: Happiness as Tranquillity, in: Essays on Hellenistic Epistemology and Ethics, ed. Gisela Striker, Cambridge 1996, S. 183 – 195. The Emotions in Hel-

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Jochen Schmidt

(ratio) sowie die Bewährung der Tugend (virtus). Ziel dieser ethischen Aufgabe ist die Seelenruhe (Ataraxie, tranquillitas animi). Nur durch sie kann der Mensch das „Glück“ der Vollendung erreichen. Obwohl die griechische Stoa wichtige Elemente aus der Naturphilosophie, insbesondere aus derjenigen Heraklits und des Peripatos aufnahm und eine kosmologische Grundlage hatte,4 obwohl sie gegen die sophistische Trennung von Nomos und Physis an Platons ontologischer Verankerung der Ethik festhielt und aus dem Timaios die Vorstellung einer Weltseele adaptierte5, und obwohl sie sogar eine eigene Erkenntnistheorie6, Logik7, Dialektik8 und Sprachphilosophie ausbildete, wurde die durch Sokrates vollzogene Wendung von naturphilosophischen und im engeren Sinn ,theoretischen‘ Grundfragen zur Anthropologie, vor allem zur Sorge um die seelische Befindlichkeit zum Hauptanliegen der Stoa. Dem entsprach eine Tendenz zur Verinnerlichung. Sie ließ die

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lenistic Philosophy, ed. Troels Engberg-Pedersen and Juha Sihvola. Dordrecht 1998. John M. Cooper: Reason and Emotion: Essays on Ancient Moral Psychology and Ethical Theory. Princeton 1999. Hierzu Samuel Sambursky: The physics of the Stoics. London 1959. Anthony A. Long: Heraclitus and Stoicism, in: Philosophia 5 – 6, 1975 – 1976, S. 133 – 156. Michael Lapidge: Stoic cosmology, in: The Stoics, hg. von John M. Rist, Berkeley, Los Angeles, London 1978, S. 161 – 185. Michael J. White: Stoic natural Philosophy (Physics and Cosmology), in: The Cambridge Companion to the Stoics, ed. by Brad Inwood, Cambridge 2003, S. 124 – 152. Vgl. Joseph Moreau: L’me du monde de Platon aux Stociens. Paris 1939. Nachdruck Hildesheim 1965. Hans Joachim Krämer: Platonismus und hellenistische Philosophie. Berlin 1971. Vgl. Max Pohlenz (wie Anm. 1), S. 54 – 63. Gerard Watson: The Stoic Theory of Knowledge. Belfast 1966. Francis H. Sandbach: 7Emmoia and Pqºkgxir in the Stoic Theory of Knowledge, in: CQ 24, 1930, S. 44 – 51. Vgl. Mariano Baldassarri: La logica stoica. Testimonianze e frammenti. Testi originali con introduzione e traduzione commentata. 8 Bände. Como 1984 – 1987. Vgl. Benson Mates: Stoic Logic. Berkeley, 2. Auflage 1961 (grundlegend, konzentriert sich auf die Aussagenlogik). Jürgen Mau: Stoische Logik. Ihre Stellung gegenber der Aristotelischen Syllogistik und dem modernen Aussagenkalkl, in: Hermes 85, 1957, S. 147 – 158. Maria Mignucci: Il significato della logica stoica. Bologna 1965. Ian Mueller: Stoic and Peripatetic logic, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 51, 1969, S. 173 – 187. Michael Frede: Die stoische Logik. Göttingen 1974. Ian Mueller: The completeness of stoic logic. Stoic propositional Logic?, in: Notre Dame Journal of Formal Logic 20, 1979, S. 201 – 215. Susanne Bobzien: Die stoische Modallogik. Würzburg 1986. Charles H. Kahn: Stoic logic and stoic KOCOS in: Archiv für Geschichte der Philosophie 51, 1969, S. 158 – 172. Hierzu: Karlheinz Hülser: Die Fragmente zur Dialektik der Stoiker. Neue Sammlung der Texte mit deutscher bersetzung und Kommentaren. 4 Bände. Stuttgart 1987.

Grundlagen, Kontinuität und geschichtlicher Wandel des Stoizismus

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monistische Stoa, in der sich zwei Prinzipien ( !qwa¸), Materie (vkg) und naturgesetzlicher Logos (kºcor), zu einer untrennbaren Einheit verbinden, trotz des gerade in diesem Monismus liegenden wesentlichen Unterschieds zum dualistischen Christentum manchen christlichen Vorstellungen und Haltungen verwandt erscheinen. Dazu trugen auch gewisse semantische Eigenheiten der Stoa bei, etwa daß der immanente Logos als Gott (heºr) bezeichnet wurde. Von Anfang an prägte sich die stoische Philosophie in einzelnen Disziplinen und Lehrsätzen aus, wie es der schulmäßigen Organisation in Athen entsprach. Schon der Begründer der stoischen Schule, Zenon (335 – 262 v. Chr.), unterschied klar drei Hauptgebiete der Stoa:9 die Physik (d. h. die Naturlehre), die Ethik und die Logik; die Dialektik formte dann vor allem Chrysipp (3. Jh. v. Chr.) aus. Doch betonten die Stoiker trotz der Aufspaltung der Philosophie in verschiedene Disziplinen die enge Verbindung zwischen ihnen. Die innere Einheit des stoischen Philosophierens ergibt sich aus der Grundthese vom alles bestimmenden Logos. Er durchwaltet die Natur (Physik), legt ein ihm gemäßes Verhalten nahe (Ethik), erfordert ein ihm entsprechendes Denken (Logik) und eine ihm folgende sprachliche Organisation und Kommunikationsstruktur (Dialektik), aus der auch die besondere Bedeutung der Sprachtheorie10 und der Rhetorik resultiert.11 Dieser einheitstiftende Bezug auf den Logos begründet nicht nur den Zusammenhang der stoischen Philosophie. Er erhält auch eine legitimatorische Funktion als Letztbegründung, wie schon aus den Fundamentalsätzen Zenons hervorgeht. Einer der wichtigsten spricht vom „gemeinsamen Gesetz, welches der richtige Logos ist, der durch alles hindurchgeht“.12 Besonders relevant ist diese Legitimation für die theoretische Sicherung der Ethik. Sie steht in einer eigentümlichen Spannung zwischen Sein und Sollen, zwischen dem Apriori des alles seit jeher bestimmenden Logos und einem Endziel (Telos), das es gleichwohl für den einzelnen Menschen erst zu erreichen gilt. Da unsere individuelle 9 Diogenes Laërtios VII 39. Analog Seneca, Epist. 89, 9: „Philosophiae tres partes dixerunt et maximi et plurimi auctores: moralem, naturalem, rationalem“. 10 Vgl. Max Pohlenz (wie Anm. 1), S. 37 – 54. Ders.: Die Begrndung der abendlndischen Sprachlehre durch die Stoa, in: NAG, phil. hist. Kl. I 3.6, 1939, S. 151 – 198. 11 Definitorisch, sogar mit den griechischen Termini, hierzu wieder Seneca, Epist. 89, 17. 12 Diogenes Laërtios VII 88 (= SVF I, Nr. 162): b mºlor b joimºr, fspeq 1st· b aqh¹r kºcor, di± p²mtym 1qwºlemor.

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Jochen Schmidt

Natur, so die Argumentation, Teil der Allnatur ist, muß das Endziel das der Natur gemäße und das heißt: das der eigenen Natur wie der Natur des Alls gemäße Leben sein.13 Die stoische Telosformel „naturgemäß leben“ ist eine explizierende Version der ursprünglichen Telosformel „übereinstimmend leben“, die im Griechischen ihre Aussagekraft dadurch erhält, daß sie in dem prägnanten Gebrauch des Wortes „übereinstimmend“ als zentrales Element den Logos enthält: blo-kocou-l´myr. Dem Logos gemäß leben heißt demnach insofern ,naturgemäß leben‘, als der Logos als das der Natur zugrundeliegende und in ihr zu erkennende Gesetz aufgefaßt wird: als Nomos. Diese physikalische und kosmologische Verankerung der stoischen Philosophie ergibt ihre prinzipiell monistische Weltanschauung und macht ihre fundamentale Stärke aus. Zugleich aber resultieren daraus die Probleme ihrer Ethik, also gerade desjenigen Bereichs, der im Zentrum ihres anthropologischen Interesses steht und auch für die Wirkungsgeschichte maßgebend blieb: Wie kann es noch ethische Ziele und Aufgaben geben, wenn doch immer schon alles durch den naturgesetzlich wirkenden Logos determiniert ist und demnach der freie Wille als Grundlage ethischen Handelns in Zweifel gezogen werden muß? Und kann die Telosformel „naturgemäß leben“ als ethisches Postulat, ja überhaupt als Postulat gelten, wenn das Naturgesetz ohnehin schon alles bestimmt? Die Stoiker selbst provozieren geradezu diese Problemdiskussion, indem sie das Naturgesetz als Schicksal (eRlaql´mg) inthronisieren. Die Lösungen oder mindestens Vermittlungen, welche die stoische Philosophie entwirft, gehen von einer gradualistischen Durchstrukturierung ihres Logos-Denkens aus: Zwar bestimmt der Logos grundsätzlich alles, aber in unterschiedlicher Intensität. Allein der Mensch vermag ihn zu erkennen und sein Leben und sein Verhalten entsprechend auszurichten, weil der universelle Logos in ihm seine höchste Intensität als individuelle Ratio gewinnt. Als „recta ratio“ wird sie zum Kompaß für sein Handeln. Schon hier kommt das Bewußtsein (sume¸dgsir) ins Spiel, auch das Selbstbewußtsein. Den Idealfall einer vollkommenen Repräsentation, Erkenntnis und Verwirklichung des Logos im Leben 13 Diogenes Laërtios VII 87 (= SVF III, Nr. 4): p²kim d’ Usom 1st· t¹ jat’ !qetµm f/m t` jat’ 1lpeiq¸am t_m v¼sei sulbaimºmtym f/m, ¦r vgsi Wq¼sippor 1m t` pq¾t\ peq· Tek_m. l´qg c²q eQsim aR Bl´teqai v¼seir t/r toO fkou. diºpeq t´kor c¸metai t¹ !joko¼hyr t0 v¼sei f/m. fpeq 1st· jat² te tµm artoO ja· jat± tµm t_m fkym.

Grundlagen, Kontinuität und geschichtlicher Wandel des Stoizismus

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verkörpert der Typus des „Weisen“. Der reale Normalfall ist derjenige, der zu solcher Vollendung noch unterwegs ist: der pqojºptym (procedens). Er bedarf der Selbstformierung durch Übung (Askesis, exercitatio14) und Lernen (Mathesis, institutio) sowie der Formierung durch andere mittels Ermahnung (admonitio) 15 und Erziehung. Daher das ausgeprägt pädagogische Engagement der Stoa, ihr Interesse auch an einer psychologisch organisierten Methode der Seelenleitung. Trotz mancher suggestiv-rhetorischer Strategien, die auch dem hohen Rang der Rhetorik im antiken Bildungswesen geschuldet sind, bleibt die Orientierung auf den Logos und die entsprechende Bevorzugung der Ratio maßgebend. Aufgrund solcher Vorgaben entfaltet die stoische Ethik ihre wesentlichen Positionen. Markant heben sich einige Hauptthemen ab. Erstens die Lehre von den Affekten, den ,Leidenschaften‘. Weil sie die recta ratio irritieren, sollen sie, obwohl sie doch auch naturgegeben sind, möglichst ausgeschaltet werden. Darin unterscheiden sich die Stoiker strenger Observanz von den Peripatetikern, welche die Affekte grundsätzlich als naturhaft anerkennen und lediglich mäßigen wollen, so daß sie statt der stoischen ,Apatheia‘ eine ,Metriopatheia‘ anstreben. Den Unterschied zu den Peripatetikern markiert Seneca, Epist. 116, 1: „Utrum satius sit modicos habere adfectus an nullos, saepe quaesitum est: nostri illos expellunt, Peripatetici temperant“ – „Ob es besser ist, gemäßigte Affekte oder gar keine zu haben, ist oft gefragt worden: Die unseren [d.h.: wir Stoiker] beseitigen sie, die Peripatetiker mäßigen 14 Epiktets Lehrgespräche widmen diesem Thema ein eigenes Kapitel (3, 12). 15 Eine klassische Stelle bietet Seneca in seinen Epistulae morales ad Lucilium (künftig: Epist.) 94, 45 – 46: „In duas partes virtus dividitur, in contemplationem veri et actionem: contemplationem institutio tradit, actionem admonitio. Virtutem et exercet et ostendit recta actio: acturo autem si prodest qui suadet, et qui monet proderit. Ergo si recta actio virtuti necessaria est, rectas autem actiones admonitio demonstrat, et admonitio necessaria est. Duae res plurimum roboris animo dant, fides veri et fiducia:utramque admonitio facit.“ – „In zwei Teile gliedert sich die Virtus auf: in die Betrachtung des Wahren und in das Handeln: die Unterweisung vermittelt die Betrachtung, die Ermahnung das Handeln. Das rechte Handeln übt die Virtus ein und zugleich macht es sie offenbar: wenn aber einer jemandem, der handeln will, mit einem Rat nützt, wird ihm auch derjenige nützen, der ihn ermahnt. Wenn also das rechte Handeln für die Virtus notwendig ist, rechte Handlungen aber die Ermahnung zeigt, ist auch Ermahnung notwendig. Zwei Dinge verleihen der Seele am meisten Kraft: das Vertrauen auf das Wahre und das Selbstvertrauen; Ermahnung bewirkt beides“.

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sie“. In einer eigenen Schrift ber die Affekte (peq· pah_m) statuierte Zenon vier Hauptgattungen: den Schmerz, die Furcht, die Begierde und die Lust. Die stoische Ethik entwirft ganze Kataloge von Affekten, die sie klassifizierend-systematisch gliedert. Ebenso verfuhren die Stoiker mit dem zweiten großen Bereich: mit dem der Tugenden, deren entschiedene Wahrnehmung dazu helfen sollte, eine feste Wertorientierung zu gewinnen und ein insgesamt tugendhaftes Leben zu führen, wozu als wesentliche Voraussetzung die Freiheit von Affekten gehört. Ein drittes Hauptthema ist die Pflicht. Der Begriff der Pflicht, des jah/jom, von den Römern nach der programmatischen Vorgabe Ciceros in den Terminus ,officium‘ übertragen, wurde ebenfalls schon von Zenon als ein Grundanliegen der stoischen Ethik formuliert.16 Die Pflicht bezieht sich auf naturgemäßes Verhalten und Handeln gegenüber anderen Menschen: gegenüber Eltern, Geschwistern, Kindern wie auch gegenüber der naturgegebenen menschlichen Gemeinschaft, dem „Vaterland“, das die Stoiker aber keineswegs restriktiv definieren. Sie verstehen sich vielmehr schon deshalb als Kosmopoliten, weil der Logos die ganze Welt durchwaltet und zu einem großen Zusammenhang macht. Wie für die Definition von Affekten und Tugenden gibt es auch im Hinblick auf die Pflichten den doppelten Parameter der Naturgemäßheit und der ihr entsprechenden Vernunftgemäßheit: Aufgrund der Lehre vom alles durchdringenden Logos interpretieren ja die Stoiker die Natur als letztlich vernünftige, weil naturgesetzlich organisierte Weltordnung. Die gleiche vorgängige und dann konsequent entfaltete Übereinstimmung von Natur und Vernunft zeigt sich in einem der interessantesten Theoreme der stoischen Ethik: in der Lehre von der Oikeiosis. Wirkungsgeschichtlich war sie weniger folgenreich als die oft ins platt Moralische übersetzte Lehre von den Affekten, den Tugenden und Pflichten. Doch kommt ihr eine tiefreichende Begründungsfunktion zu, ähnlich wie der Logoslehre, nur unter einem anderen Aspekt. Zielt die Logoslehre auf den naturgesetzlich garantierten OrdnungsCharakter des Daseins, so erfaßt die Vorstellung der Oikeiosis dessen dynamische Entfaltung im Lebensprozeß. Das Wortverständnis geht auf Oikos, Haus, und auf das davon abgeleitete Verbum oQjeioOm zurück: „zum Hause gehörig machen“, in übertragener Bedeutung: vertraut, zum Freunde machen. Die Form oQjeioOshai dieses Wortes hat die für den Begriff der Oikeiosis wichtigste Bedeutung: „sich aneignen“. Der 16 Diogenes Laërtios VII 108.

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Vorstellung der Oikeiosis liegt die von den Stoikern ausdrücklich formulierte Erkenntnis zugrunde, daß jedes lebende Wesen von Natur aus den Trieb zur Selbsterhaltung hat. Zuallererst richtet er sich auf die kreatürliche, instinktgesteuerte Selbsterhaltung, dann auf die Selbstwahrnehmung und schließlich, beim Menschen, auf erkennende und bewußte Selbstaneignung. Sie führt zur Selbstbefreundung, zu einem stufenweise sich aufbauenden Selbstbewußtsein und damit zur Identitätskonstitution. In besonderer Weise eignete sich die Oikeiosislehre – deutlich zeigt sich dies vor allem bei Seneca – zur Selbstbefestigung, auf welche die Stoa von Anfang an angesichts wechselhafter äußerer Umstände ihre Ethik ausrichtete. Psychologisch unterstützte die Lehre von der Oikeiosis auch das Streben nach Selbstbefriedung bis hin zur „tranquillitas animi“. Dennoch überschreitet die Oikeiosis das eigene Ich, da sie als ein der Selbsterhaltung und Selbstkonstitution dienendes Vertrautwerden des Individuums mit sich selbst auch mit dem Heimisch-Werden in der Umwelt zusammenhängt. Deren angemessene Wahrnehmung und Einbeziehung – die moderne Soziologie setzt gewissermaßen vom anderen Ende her mit dem Sozialisationsprozeß an – trägt schon zur elementaren Selbsterhaltung bei, und dies sowohl instinktiv und emotional wie rational. Die Stoa konzipiert die Oikeiosis als einen natürlichen, zuerst vom Selbsterhaltungstrieb instinktiv gesteuerten und dann immer mehr auch vernunftbestimmten Entwicklungsprozeß, der in gleichsam konzentrischen Kreisen, ausgehend von der Aneignung des Ichs, zur Weltaneignung führt. Analog zum aristotelischen Konnex von positiv verstandener Selbstliebe, vikaut¸a, und Freundschaft, vik¸a, zeichnet sich hier auch der tiefere Zusammenhang der „Selbstbefreundung“ mit der in der Stoa so auffällig hochgehaltenen „Freundschaft“ ab. Prinzipiell liegt er schon darin begründet, daß jedes einzelne Wesen als Teil der Allnatur mit dieser und den anderen Teilen verbunden ist, wie die Stoiker immer wieder betonen.17 Aus solchem Grundverhältnis entwickelt sich aber auch die Spannung zwischen befriedender Selbstbefreundung (oQje¸ysir, conciliatio), die notwendig eine gewisse Abgrenzung von Anderem voraussetzt, und Entgrenzungstendenzen, die bis zur Selbstentfremdung ( !kkotq¸ysir, alienatio) und sogar bis zum Selbstverlust führen können. Diese Spannung hat 17 Senecas klassische Formulierung: „Consortium rerum omnium inter nos facit amicitia[m]“ – „Die Zusammengehörigkeit aller Dinge bewirkt zwischen uns die Freundschaft“ (Epist. 48, 2).

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eine soziale, aber auch eine psychische Valenz und fordert die Vermittlung zwischen zentripetalen und zentrifugalen Kräften. Auch hier erhält die Ratio als steuernde „recta ratio“, soweit diese als vermittlungsfähig gedacht wird, eine wichtige regulative Funktion. So sehr die Ethik der Stoa in einem denkerischen Zusammenhang entstand, der über die Ethik im engeren Sinn hinausreicht, so sehr steht sie auch in historischen Kontexten, die schon in der Antike ihr Profil mitbestimmen. In besonderer Weise gilt dies gerade für die wirkungsgeschichtlich entscheidende Ausprägung des Stoizismus in Rom. Wie zum Aufschwung des Christentums trug zur Konjunktur der Stoa im römischen Reich und damit im lateinischen Schrifttum, das für die weitere Wirkungsgeschichte maßgeblich war, der Rückstoß einer sich immer mehr veräußerlichenden, ja verrohenden Massenzivilisation bei. Zu ihren Hauptunterhaltungen gehörten blutige Gladiatorenkämpfe und Tierhetzen. Auch der Abscheu vor einer in exzessivem Wohlleben ausartenden Luxusgesellschaft trug zu diesem Rückstoß bei, schließlich der Hedonismus einer schamlos ihre Privilegien zelebrierenden Oberschicht, zu dem die oft entwürdigende Behandlung der Sklaven einen grellen Kontrast bildete. Eine farbige Vorstellung davon gibt, wenn auch in satirischer Übertreibung, der um 60 n. Chr., also zur Zeit Senecas entstandene Sittenroman des Petronius (Satyrica). In dessen Zentrum steht die Darstellung eines von dem neureichen Trimalchio veranstalteten Gelages (cena Trimalchionis). Mindestens ebenso stark waren die Rückwirkungen der chaotischen Verhältnisse in der späten römischen Republik des 1. Jahrhunderts v. Chr., als mörderische Bürgerkriege das Leben der Menschen erschütterten, und ein Jahrhundert später, in der Zeit Neros, als die Greuel hemmungsloser Willkürherrschaft viele nach Zuflucht und Halt in einem festen Ethos mit stabilen inneren Werten und hoher Abhärtungsqualität suchen ließen. Wie sehr gerade solche schlimmen Zeitumstände auch literarische Gegenreaktionen hervorriefen, bezeugen mehrere stoisch ausgerichtete Schriften Ciceros, wirkungsreich vor allem De officiis (ber die Pflichten) und die Tusculanae disputationes (Gesprche in Tusculum), dann nahezu alle Werke Senecas und die Lehrvorträge Epiktets. Der stoische Schutz-Reflex, insbesondere das Streben nach Ataraxie und Autarkie, zeigte sich erneut eineinhalb Jahrtausende später in der größten neuzeitlichen Manifestation des Stoizismus. Die sich über mehrere Menschenalter hinweg ziehenden Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts, die sich im Gefolge der Reformation über weite Teile Europas ausbreiteten und schließlich in den Dreißigjährigen

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Krieg mündeten, begünstigten das Wiederaufleben des Stoizismus. Zuerst in Frankreich und in den Niederlanden entstanden große Programmschriften, die schon im Titel den Wert stoischer Ethik „angesichts öffentlicher Übel“ („in publicis malis“) priesen. Hier ist vor allem Lipsius zu nennen, die Zentralfigur des Neustoizismus. Mit zahlreichen Auflagen und durch Übersetzungen in alle europäischen Sprachen18 gewannen seine Werke vom Ende des 16. Jahrhunderts ab und noch bis ins 18. Jahrhundert hinein überragende Bedeutung nicht nur für Literatur und Philosophie, sondern auch in Politik, Rechts- und Militärwesen. Die Universität Leiden, an der Lipsius wirkte, war gegen Ende des 16. Jahrhunderts zur führenden europäischen Universität in den ohnehin als moderner Musterstaat geltenden Niederlanden aufgestiegen. Aus allen Ländern zog sie Studenten an, und ihre Hauptattraktion war Lipsius. Von hier ging die sogenannte „Niederländische Bewegung“ aus, die das kulturelle und politische Leben tiefgreifend formieren sollte, am meisten in Brandenburg-Preußen. Das in der stoischen Naturrechtslehre verankerte moderne Völkerrecht fand durch den Niederländer Hugo Grotius seine europäische Schlüsselfigur (der Internationale Gerichtshof im Haag erinnert noch heute daran). Fast alle großen Schriftsteller, zahlreiche Gelehrte, Juristen und angehende Staatsmänner, so der spätere Große Kurfürst, studierten in Leiden und übertrugen das stoische Ethos samt seinem Wertekanon und Reformpotential in ihre Heimatländer.

Überlieferung, Eigenart und spätere Funktionen der antiken Quellen Die Wirkungsgeschichte der Stoa, so sehr sie von den jeweiligen zeitgenössischen Verhältnissen mitbestimmt ist, hängt eng auch mit ihrer Überlieferungsgeschichte19 zusammen. Kein einziges Werk der grie18 Vgl. Ferdinand van der Haeghen: Bibliographie Lipsienne. Oeuvres de Juste Lipse. 3 Bde, Gent 1886 – 1888. 19 Vgl. hierzu den knappen Überblick bei Pohlenz (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 9 – 12, zur Überlieferung der ,alten‘ Stoa. Zur Überlieferung der für die europäische Wirkungsgeschichte insgesamt viel wichtigeren Autoren Cicero, Seneca, Epiktet und Marc Aurel ist zwischen der nur sehr lückenhaften oder fragmentierten Überlieferung bis zum Ausgang des Mittelalters und der seit dem Humanismus neu geschaffenen Grundlage zu unterscheiden. Zahlreiche ErstEditionen stellten nun die Texte zur Verfügung und der neu erfundene Buchdruck verbreitete sie.

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chischen Stoiker ist vollständig erhalten, sieht man von den 39 Versen des Zeus-Hymnos des Kleanthes einmal ab.20 Sonst blieben von den drei Gründern der „alten“ Stoa, Zenon, Kleanthes und Chrysipp, dem mit Abstand bedeutendsten Denker, nur Fragmente in späteren Referaten und Zitaten sowie katalogartige Aufzählungen mit den Titeln der von ihnen verfaßten Werke.21 Auch von den beiden Hauptvertretern der „mittleren“, weniger strengen Stoa, von Panaitios (etwa 185 – 98 v. Chr.) und Poseidonios (etwa 135 – 51 v. Chr.), wissen wir nur durch spätere Zeugnisse.22 Alle sind zerstreut in Schriften von Anhängern oder Gegnern der Stoa, in kompilatorischen Werken, die ausdrücklich die Stoiker vorstellen, namentlich nennen und zitieren, aber auch in Schriften von Autoren, die nicht genau unterscheiden, sondern Verschiedenes zusammenbringen, um daraus entweder ihre eigene stoizistische Position zu synthetisieren oder einen gemeinsamen Nenner für Zustimmung oder Ablehnung zu finden. Manches wurde auch mißverständlich aus dem Zusammenhang gerissen oder tendenziös überformt. Alle modernen Fragment-Sammlungen gleichen deshalb einem Puzzle und sind mit Unsicherheiten behaftet. Von herausragender Bedeutung für die spätere Wirkungsgeschichte sind zwei römische Autoren: Cicero,23 der trotz seiner akademisch-skeptischen Grundhaltung vornehmlich in seinen letzten Werken die Stoa intensiv zur Geltung bringt, und Seneca, dessen gesamtes Oeuvre stoisch geprägt ist. Beide Autoren gehören zur dominierenden lateinischen Tradition in Europa, beide sind seit der Antike und besonders seit dem Humanismus fest im 20 Überliefert durch Stobaios, Ecl. I 1, 12. Abdruck in SVF I, Nr. 537. 21 Letztere bei Diogenes Laërtios VII 174 (Kleanthes), VII 189 (ein Teilverzeichnis der immensen Schriftenfülle des Chrysipp). Vgl. SVF I, Nr. 481 und SVF II, Nr. 13. 22 Gesammelt von Modestus van Straaten: Panaetii Rhodii fragmenta. 3. Auflage Leiden 1962, und Ludwig Edelstein and Ian G. Kidd: Posidonius. Bd. 1: The fragments. Cambridge, 2. Auflage 1989. Modestus van Straaten: Pantius, sa vie, ses crits, et sa doctrine. Amsterdam 1946. Grundlegend: August Schmekel: Die Philosophie der mittleren Stoa in ihrem geschichtlichen Zusammenhange dargestellt. Berlin 1892. Vgl. Max Pohlenz (wie Anm. 1), S. 191 – 247. John M. Rist (wie Anm. 1), S. 173 – 218. Robert Philippson: Panaetiana, in: Rheinisches Museum 78, 1929, S. 337 – 360. Ders.: Das Sittlich-Schçne bei Panaitios, in: Philologus 85, 1930, S. 357 – 413. 23 Grundlegend immer noch: Rudolf Hirzel: Untersuchungen zu Ciceros philosophischen Schriften, 3 Bde, Leipzig 1877 – 1883. Zur Wirkungsgeschichte Ciceros: Thaddäus Zielinski: Cicero im Wandel der Jahrhunderte. Leipzig 1897. 5. Auflage 1967.

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Bildungssystem verankert, die Schriften beider blieben zu einem großen Teil erhalten. Vollständige Werke griechisch schreibender Stoiker sind vor allem aus der Spätphase der Stoa in der römischen Kaiserzeit auf uns gekommen: von Epiktet, dessen nur mündlichen Vortrag einer seiner Schüler, der Geschichtsschreiber Arrian, aufgezeichnet und schriftlich überliefert hat, und von Kaiser Marc Aurel. Mehr als in ihrer griechischen Form wirkten sie in lateinischen und später dann in modernen muttersprachlichen Übersetzungen. Schon antike Kompilatoren und Doxographen,24 so der im Original verlorene, aber Jahrhunderte später in das Florilegium des Stobaios25 eingegangene Areios Didymos und Diogenes Laërtios,26 hatten einen 24 Zu den Doxographien grundlegend: Hermann Diels: Doxographi graeci. Berlin 1879. 25 Johannes Stobaios (5. Jahrhundert n. Chr.): Ekloga – eine griechisch verfaßte, umfangreiche Anthologie aus den Werken von etwa 500 griechischen Dichtern und Prosaautoren. Zum Überlieferungsverhältnis Areios Didymos (1. Jh. v. Chr./1. Jh. n. Chr.) – Stobaios vgl. S. 20. 26 Im siebten Buch seines Werks Vikosºvym b¸ym ja· docl²tym sumacyc¶ (,Sammlung der Lebensläufe und Meinungen der Philosophen‘) behandelt Diogenes Laërtios die stoischen Philosophen. Zur Vorgeschichte und zur Verwandtschaft mit den Kynikern ist auch das 6. Buch heranzuziehen. Die verschiedenen Philosophenschulen folgen aufeinander, nach ,Büchern‘ geordnet, innerhalb der ,Bücher‘ werden die einzelnen Philosophen mit – oftmals anekdotischen – Nachrichten zu ihrem Leben und mit Referaten und Zitaten aus ihren Lehren dargestellt. Das Material stammt vor allem aus Handbüchern der hellenistischen Zeit. Das gilt auch für die zahlreichen Zitate, die in der Regel aus dritter oder vierter Hand übernommen, aber von kaum zu überschätzendem Wert sind. Ausgaben: Diogenes Laertius: Lives of eminent philosophers, ed. R. D. Hicks, 2 Bde London/Cambridge, Mass. 1925, 7. Auflage 1972. Vitae philosophorum, ed. H. S. Long, 2 Bde Oxford 1964. London/ Cambridge, Mass. 1925 (griech.–engl.). Diogenis Laertii Vitae philosophorum, ed. Miroslav Markovich. 2 Bde Stuttgart/Leipzig 1998. Griechisch-Deutsch: Rainer Nickel. Zürich/München 1998. Deutsch: Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berhmter Philosophen. Aus dem Griechischen übersetzt von Otto Apelt (Philosophische Bibliothek Band 53/54). Hamburg 1998. Für die Wirkungsgeschichte wichtig ist der Traditionsprozeß. Am Anfang steht die einflußreiche lateinische Übersetzung des Ambrosius Traversari (vor 1433). In z. T. überarbeiteter Form ist sie den ersten Ausgaben beigefügt: Ioannes Sambucus: Laertii Diogenis de vita et moribus philosophorum libri decem opera Ioannes Sambuci Tirnaviensis Pannonii. Antwerpen 1566. – Marcus Meibomius: Diogenis Laertii De vitis, dogmatibus et apophtegmatibus clarorum philosophorum libri X, graece et latine, cum subiunctis integris annotationibus Is. Casauboni, Th. Aldobrandini et Mer. Casauboni. Latinam Ambrosii versionem complevit et emendavit Marcus Meibomius. Seorsum excusas Aeg. Menagii in Diogenem observationes auctiores habet vol II.

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philosophiegeschichtlichen Überblick mit zahlreichen Zitaten und Referaten geboten. Die Darstellung des Diogenes Laërtios zeichnet sich nicht nur durch die Fülle der Belege zu den wichtigsten griechischen Stoikern aus, sondern auch dadurch, daß er in dem umfangreichen Anfangskapitel über den Begründer der Stoa, über Zenon, die Grundgedanken der stoischen Schule insgesamt versammelt und in eine Ordnung zu bringen versucht, welche die charakteristischen Züge hervortreten läßt. Erst die moderne wissenschaftliche Forschung sammelte systematisch die Zeugnisse vor allem der „alten“ griechischen Stoa und rekonstruierte damit – bruchstückhaft – das Fundament. Zu nennen ist hier an erster Stelle das immer noch grundlegende Werk von Hans von Arnim: Stoicorum Veterum Fragmenta. 27 Eine übergreifende Darstellung der Rezeption liegt in einem französischen Werk vor, das mit überwiegend doxographischem Interesse eine wertvolle Materialsammlung zur Kontinuität stoischer Vorstellungen bis in die Moderne bietet.28 In der griechischen und römischen Antike und auch noch bis weit in den Humanismus hinein dominierte ein lehrhaftes stoisches Schrifttum: Traktate, dialogisch aufgebaute fiktionale Gespräche und ebenso fiktional konzipierte Selbstgespräche. Charakteristisch für die Haltung der griechischen Stoiker ist ihr Verzicht auf formalen Aufwand. Quintilian, die größte rhetorische Autorität von der Antike bis in die Neuzeit, urteilt in seiner Institutio oratoria (Ausbildung des Redners, 96 n. Chr.), nachdem er den glanzvollen Stil früherer Philosophen, insbesondere Platons gewürdigt hat: „Weniger Mühe auf die Kunst ihrer Beredsamkeit verwendet haben die Stoiker der alten Zeit“ – ihre Morallehren seien wirksamer gewesen als die Pracht ihrer Rede, nach Ut et eiusdem Syntagma de mulieribus philosophis et Joachim Khnii ad Diogenem notas … Amsterdam 1692. Die moderne Paragrapheneinteilung folgt dieser Ausgabe. 27 Vgl. Anm. 1. 28 Michel Spanneut: Permanence du Stocisme de Znon Malraux. Gembloux 1973. Vgl. auch vom selben Autor das für die Traditionsbildung wichtige Werk: Le Stocisme des P res de l’ glise de Clment de Rome Clment d’Alexandrie (Patristica Sorbonensia, N8 1), nouvelle édition revue et augmentée, Paris 1969. Eine in manchem bahnbrechende Überblicksdarstellung zum Neustoizismus mit Traditionsbezügen zur antik-frühchristlichen und mittelalterlichen Stoa-Rezeption sowie großen Kapiteln zu Justus Lipsius und Guillaume du Vair gab schon Léontine Zanta: La Renaissance du Stocisme au XVIe si cle. Paris 1914, Reprint Genf 1975 (Bibliothèque littéraire de la Renaissance NS 5). Vgl. auch André Bridoux: Le stocisme et son influence. Paris 1966.

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der sie auch gar nicht gestrebt hätten.29 Indem Quintilian von den „alten Stoikern“ spricht, meint er die griechische Stoa, nicht die römische. Ciceros stoische Spätschriften und dann Senecas Werke sind entschieden rhetorisch formiert, und auch dies hat zu ihrer besonderen Wirkung beigetragen, denn die Rhetorik spielte im antiken wie im neuzeitlichhumanistischen Bildungswesen eine zentrale Rolle. In der Dichtung finden sich nur sporadische Reflexe der Stoa, etwa bei Vergil und in Senecas Dramen, in der Neuzeit dann in größerem Maße bei den Schriftstellern der elisabethanischen Epoche, nicht zuletzt bei Shakespeare; erst seit 1600 beginnt der Stoizismus die lyrische und dramatische Dichtung, schließlich auch die erzählende Literatur zu erobern, besonders in Deutschland. Die poetische Anverwandlung reicht von Opitz, Fleming und Gryphius bis zu Wieland, Goethe, Schiller, Hölderlin und Kleist. Im zwanzigsten Jahrhundert greifen Schriftsteller vieler Nationen und sogar Filmemacher stoische Denkmuster zustimmend oder kritisch auf.30 Immer mischt sich Rezeption im engeren Sinn mit zeitgemäßer Aktualisierung und Umbildung. Kritisch setzen sich schon manche antike Schriften mit der Stoa auseinander: in speziell philosophischen Argumentationen Karneades, der radikal skeptische Begründer der Neuen Akademie (214 – 129 v. Chr.),31 und der Peripatetiker Alexander von Aphrodisias mit seinem scharfsinnigen Traktat über das Fatum (2./3. Jahrhundert n. Chr.) 32 und 29 Institutio oratoria X 1, 84: „minus indulsere eloquentiae Stoici veteres, sed cum honesta suaserunt […] rebus tamen acuti magis quam, id quod sane non adfectaverunt, oratione magnifici“. 30 Hierzu die beiden abschließenden Beiträge von Frank Pauly im vorliegenden Werk. 31 Vgl. die gute Überblicksdarstellung in Ueberwegs Grundriss (wie Anm. 1), S. 849 – 897. Pieri S. Nonvel: Carneade. Padova 1978. Anthony Arthur Long: Carneades and the Stoic Telos, in: Phronesis 12, 1967, S. 59 – 90. Intensiv und aufschlußreich geht schon August Schmekel auf die Kritik des Karneades, insbesondere auf ihre Bedeutung für die Weiterentwicklung der Stoa in seinem Standardwerk ein: Die Philosophie der mittleren Stoa in ihrem Zusammenhange dargestellt. Berlin 1892, 3. Auflage (Reprint) Hildesheim 1989. 32 Vgl. Gérard Verbeke: Stocisme et Aristotlisme dans le De Fato d’Alexandre d’Aphrodise, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 50, 1968, S. 78 – 100. Paul Moraux: Der Aristotelismus bei den Griechen. Von Andronikos bis Alexander von Aphrodisias. 1. Bd. Berlin 1973. 2. Bd. Berlin 1984. Anthony Arthur Long: Stoic Determinism and Alexander of Aphrodisias, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 52, 1970, S. 247 – 268. Robert Sharples: Alexander of Aphrodisias On Fate. London 1983. Andreas Zierl: Alexander von Aphrodisias, ber das Schicksal. Berlin 1995.

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anderen Schriften, die wir nur aus der Schultradition kennen; aus eher weltanschaulichen Motiven Platoniker wie der seit dem Humanismus vielgelesene Plutarch sowie frühchristliche Schriftsteller. Diese Auseinandersetzungen reichen manchmal bis zu entschiedener Abgrenzung. Das gilt auch, wenngleich aus ganz unterschiedlichen Gründen für die Neuzeit, so für Pascal und Nietzsche, während andere, etwa Kant und Schopenhauer, zwar bestimmte stoische Grundpositionen ablehnten, darunter die These, daß Tugend (virtus) und Glück einen festen Zusammenhang bilden, sonst aber dem stoischen Ethos in Vielem zustimmten. Im neuzeitlichen Säkularisierungsprozeß und in der fortschreitenden Aufklärung fungierte ein revitalisierter Stoizismus als Medium der allmählichen Ablösung vom christlichen Welt- und Menschenbild: Das stoische Autarkie- und Autonomie-Konzept, das im idealen Leitbild des stoischen „Weisen“ seine scharf umrissene Kontur erhielt, konvergierte mit der sich verstärkenden Tendenz zum autonomen Denken und zur Statuierung einer autonomen, in einer eigenen „Humanität“ zentrierten Menschenwürde. Schon der Humanismus baute das im Christentum wesentlich heteronome Verständnis des Menschen ein Stück weit ab, indem er die geistig-kulturelle Selbstformung betonte. Hinzukam der Schönheitskult der Renaissance, der oft die in sich vollendete und erfüllte Diesseitigkeit vor Augen stellte. Von großer Tragweite war es auch, daß der seit seinen griechischen Ursprüngen zum Fundament der stoischen Philosophie gehörende monistische Pantheismus immer mehr das christlich-dualistische Weltverständnis ersetzte. Vom entschieden stoisch geprägten Pantheismus in Spinozas rational organisierter Ethik ausgehend und befördert vom empfindsam aufgeladenen Spinozismus in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, erreichte dieser Vorgang eine aufsehenerregende Aktualität im Spinozismus-Streit des 18. Jahrhunderts, in den auch Lessing und Goethe verwickelt waren. Seine höchste Intensität gewann er in einem prominenten literarischen Werk: in Hölderlins Hyperion. Der Säkularisierungsprozeß ist hier selbst schon geschichtlich reflektiert und paradigmatisch im Erfahrungsgang und Bewußtseinsfortschritt der Hauptfigur gestaltet. Geradezu programmatisch löst Hölderlin das christlich-dualistische Weltbild durch ein pantheistisch-monistisches ab. In zeitgenössischer Anverwandlung wählt er dafür das Medium stoischer Denkmuster. Den Beitrag des Stoizismus zum neuzeitlichen Säkularisierungsprozeß begleiteten Auseinandersetzungen vor allem zwischen christlicher Orthodoxie und stoischer Philosophie, soweit sie nicht in chris-

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tianisierter Form auftrat, doch wirkten auch die Frontbildungen zwischen verschiedenen philosophischen Schulen fort, die in der Antike begonnen hatten. Sie schärften gegenseitig ihr Profil. In der Antike bereits war ihre Konkurrenz nicht nur abstrakt von den zugrundeliegenden divergierenden Konzepten, sondern auch durch ihre Ausprägung und Verfestigung in unterschiedlichen „Schulen“ bestimmt,33 die einen entsprechenden Schulbetrieb als Hintergrund hatten. Wie die anderen Philosophenschulen war das stoische Lehrsystem durch eigene Lehrstühle in Athen institutionalisiert; in der Kaiserzeit gehörte es zur gehobenen Ausbildung, so daß stoische Vorstellungen und Begriffe bis in Lehrbücher hinein Verbreitung fanden. Es kam sogar zur Gründung von Filialen der stoischen Schule, so in Rhodos, in Pergamon (durch Krates aus Mallos) und in Seleukeia am Tigris (durch Archedemos). Besonders wichtige Zentren waren Rom und Alexandreia – nach Athen, das die ,Hauptstadt‘ der Philosophie blieb und Lehrende und Lernende aus dem ganzen Mittelmeerraum anzog. Die Schriften des berühmtesten Redners, Ciceros, hatten die griechische Stoa nach Rom vermittelt,34 obwohl er eher der Skepsis der jüngeren Akademie zuneigte; neben der inhaltlichen Wiedergabe stoischer Lehren legte er besonderen Wert auf eine der griechischen Begrifflichkeit entsprechende lateinische Terminologie.35 Sie wirkte im kaiserzeitlichen Rom, teilweise auch im Mittelalter und dann seit der frühen Neuzeit in entscheidender Weise weiter.

33 Zur stoischen „Schule“ vgl. David Sedley: The School, from Zeno to Arius Didymus, in: The Cambridge Companion to the Stoics, ed. by Brad Inwood, Cambridge 2003, S. 7 – 32, sowie Christopher Gill: The School in the Roman Imperial Period, in: The Cambridge Companion to the Stoics, ed. by Brad Inwood, Cambridge 2003, S. 33 – 58. 34 Vgl. Milton Valente: L’thique stocienne chez Cicron. Paris 1956. Vgl. auch Maximilian Schäfer: Ein frhmittelstoisches System der Ethik bei Cicero. München 1934. Hans Armin Gärtner: Cicero und Panaitios. SB der Heidelberger Akad. d. Wiss. Phil.–hist. Kl. 1974, 5. Abh. Heidelberg 1974. Karl Hans Abel: Die kulturelle Mission des Panaitios, in: Antike und Abendland 17, 1971, S. 119 – 143. Vgl. auch das grundlegende Werk von Rudolf Hirzel: Untersuchungen zu Ciceros philosophischen Schriften, 3 Bde, Leipzig 1877 – 1883. 35 Vgl. Georg Kilb: Ethische Grundbegriffe der alten Stoa und ihre bertragung durch Cicero im dritten Buch De Finibus Bonorum et Malorum. Diss. Freiburg i. Br. 1939. Vgl. auch: Ulrich Knoche: Cicero, ein Mittler griechischer Geisteskultur, in: Hermes 87, 1959, S. 57 – 74. Neudruck in: Rçmische Philosophie, hg. von Gregor Maurach, Darmstadt 1976 (Wege der Forschung 193), S. 118 – 141.

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Daß die verschiedenen Philosophenschulen schon in der Antike manchmal geradezu als sich gegenseitig dementierende Sekten wahrgenommen wurden, zeigt die Satire des Spötters Lukian in seinem Verkauf der philosophischen Sekten. 36 Das Spektrum der Möglichkeiten war weit: Es reichte von Versuchen, die philosophischen Schulen gegeneinander auszuspielen, bis zur Strategie, sie durch Auswahl miteinander kompatibler Aussagen zu harmonisieren, von der Absicht, einen Beitrag zur philosophischen Diskussionskultur zu leisten, bis zur historisierenden Darstellung. So verfuhr im Übergang vom ersten Jahrhundert v. Chr. zum ersten Jahrhundert n. Chr. Areios Didymos in seinen 1pitola¸ (Auszgen), die mit dem – schon gattungsmäßig etablierten – Titel peq· aRq´seym (ber die Philosophenschulen) eine präzisere Definition erhielten.37 Sie gingen fragmentarisch in einen der wichtigsten Überlieferungsträger stoischer Zeugnisse ein, in die 1jkoca¸ (Auswahl) des bereits genannten Stobaios (5. Jahrhundert n. Chr.). Auch der ebenfalls für die Wirkungsgeschichte wichtige Kirchenvater Eusebios zitierte in seiner zwischen 315 und 320 entstandenen Praeparatio evangelica (Eqaccekijµ pqopaqasjeu¶) zahlreiche stoische Lehrmeinungen aus dem von Areios Didymos zusammengetragenen Material.38 Dessen Schrift bot Auszüge aus den ethischen und naturphilosophischen Lehren Platons, des Aristoteles und der Stoa. Letztere berücksichtigte sie vom Schulgründer Zenon bis zu Poseidonios. Der größere Teil der Darstellung gilt der Ethik. Zwar markierte Areios bei der Lehre von den Affekten und vom Lebensziel (vom „Telos“) die Besonderheiten der Philosophenschulen, aber er perspektivierte sie doch auf den gemeinsamen Nenner einer mehr oder weniger idealistischen Ethik. Daß er Epikur nicht miteinbezieht, liegt an der Unvereinbarkeit seiner entschieden nicht-idealistischen Lehre mit derjenigen der anderen Schulen. 36 Vgl. Wielands Übersetzung, die erstmals in seiner Übersetzung von Lucians von Samosata Smtlichen Werken erschien (6 Theile, Leipzig 1788/89). Neudruck des Verkaufs der Philosophischen Secten in: Lukian von Samosata, Lgengeschichten und Dialoge. Aus dem Griechischen bersetzt und mit Anmerkungen versehen von Christoph Martin Wieland, Nördlingen 1985, S. 327 – 365. Der griechische Originaltitel lautet: BIYM PQASIS. Vgl. die Edition: Luciani Opera, hg. von M. D. Macleod, Tomus II, Oxford 1974, S. 24 – 50. 37 Unter diesem Titel steht bereits eine Darstellung des Panaitios, der später noch andere folgten. 38 Vgl. Ioannis Stobaei Anthologium recensuerunt Curtius Wachsmuth et Otto Hense. 5 Bde Leipzig 1884 – 1923. Nachdr. Hildesheim 1999. Systematische Berücksichtigung der stoischen Zeugnisse in SVF.

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Für die Wirkungsgeschichte relevant wurde die Überlieferung durch Stobaios auch, weil man im Mittelalter sein Werk in zwei Teile zerlegte und den zweiten als Florilegium gestaltete – durch das ganze Mittelalter und die frühe Neuzeit hindurch waren derartige Florilegien beliebt und sorgten für eine zwar wenig anspruchsvolle, aber umso einfachere Verbreitung insbesondere der stoischen Ethik, in der ohnehin bündige Lehrsprüche seit jeher zur Strategie einprägsamer Vermittlung gehörten. Immer hat man auch mit Zurechtstutzungen durch philosophisch nicht kompetente Dilettanten zu rechnen. Die Florilegien erfüllten die Funktion schlichter Doxographien und dienten zugleich als literarischphilosophische Apotheken für schnell Verwendbares. Wenn eine Sammlung wie die des Stobaios und auch schon die von Diogenes Laërtios (3. Jahrhundert n. Chr.) zusammengestellte, besonders reichhaltige und wertvolle Schrift Leben und Meinungen der Philosophen ganz verschiedene philosophische Richtungen und Schulen vereinigte, bildete sie zudem ein ideales Reservoir für den bereits seit dem Hellenismus florierenden Eklektizismus. Ähnliches gilt für den Epikureer Philodemos von Gadara (ca. 110 bis 40 v. Chr.), dessen zahlreiche Schriften sich auf Herculanenser Papyrusrollen nur fragmentarisch erhalten haben. Der antiken Philosophiegeschichte wandte sich seine Schrift S¼mtanir t_m vikosºvym (Systematische Zusammenstellung der Philosophen) in vermutlich zehn Büchern zu. Philodem verfaßte auch eine eigene Schrift Peq· t_m Stoij_m (ber die Stoiker).39 Schon im 1. Jahrhundert n. Chr. und dann immer mehr während der folgenden Jahrhunderte färbte sich der von solchen Zusammenstellungen beförderte Eklektizismus in der griechisch-römischen Koiné universalistisch ein. Umso leichter konnte der Stoizismus in andere Weltanschauungen diffundieren, vor allem in die neuplatonische und christliche, zumal er nach der Zeitenwende selbst von der immer stärkeren religiösen Grundströmung erfaßt wurde. Er gewann eine fluidale, die verschiedensten Diskurse mitbestimmende Präsenz. Auch wirkte er, besonders mit seinen naturrechtlichen Vorstellungen, stark auf das bis in die Neuzeit folgenreiche römische Recht ein. Bereits Cicero, selbst ein prominenter Anwalt, hatte in seiner Schrift ber die Gesetze (de legibus) 39 Zur Orientierung: Tiziano Dorandi: Filodemo. Gli orientamenti della ricerca attuale, in: ANRW (Aufstieg und Niedergang der rçmischen Welt), hg. von Hildegard Temporini, Wolfgang Haase, Berlin/New York, II 36, 4 (1990) S. 2328 – 2368, sowie ders.: Filodemo storico del pensiero antico, in: ANRW II (1990), S. 2407 – 2423.

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Bestandteile der stoischen Lehre vom Naturgesetz mit dem praktischen Sinn des Römers in die Terminologie des römischen Rechts übertragen und zur ideellen Basis eines konservativen Gesetzgebungsentwurfs gemacht.40 Selbst in der Medizingeschichte hinterließ der Stoizismus deutliche Spuren. Der berühmte Arzt Galenos aus Pergamon (um 130 – 199 n. Chr.), der Leibarzt Marc Aurels und bis in die Neuzeit hinein eine medizinische Autorität allerersten Ranges, hatte unter seinen 153 Werken eine Schrift ber die Lehren des Hippokrates und Platons (peq· t_m gIppojq²tour ja· Pk²tymor docl²tym) verfaßt, in der er auch auf die Affektenlehre der Stoiker Chrysipp und Poseidonios genau eingeht. Aufgrund der zahlreichen Exzerpte aus deren verlorenen Werken ber die Affekte (peq· pah_m) ist diese Schrift eine wichtige Quelle. Darüberhinaus läßt sie erkennen, wie sehr Galen, der besonderen Wert auf die philosophische Bildung des Arztes legte, den engen Zusammenhang der stoischen Lehre von den Affekten mit medizinischen Belangen sah.41 Trotz der weitreichenden Diffusions-, Anpassungs- und Transformationsprozesse aber bestand die Stoa in ihrer eigenen fest konturierten Form fort. Durch die einflußreichen Autoren Cicero, Seneca und Epiktet blieb sie zeitüberdauernd stabilisiert für den europäischen Traditionsprozeß.

Das soziale Spektrum: Marc Aurel – ein Kaiser als Stoiker. Stoische Popularphilosophie Einen Höhepunkt öffentlicher Bestätigung erreichte die Stoa im römischen Reich durch Marc Aurel, den Stoiker auf dem Kaiserthron. Er regierte von 161 – 180, aber schon seit dem Jahr 145 hatte er stoische Vorstellungen intensiv aufgenommen, unter anderem durch einen sei40 Hierzu die durchgreifende Darstellung von Sebastian Kaufmann im vorliegenden Band. 41 Vgl. die Gesamtausgabe durch Karl Gottlob Kühn: Claudii Galeni opera omnia. 20 Bde. Leipzig 1821 – 1833 (griechisch-lateinisch). Nachdruck Hildesheim 1997. Einzelausgabe der Schrift ber die Lehren des Hippokrates und Platons unter dem lateinischen Titel De placitis Hippocratis et Platonis, hg. und übersetzt von Phillip de Lacy, Berlin 1978 – 1980. Corpus medicorum Graecorum (CMG) V 4, 1 – 2, sowie die alte Ausgabe von I. Müller, Leipzig 1874. Die einschlägigen Partien zur stoischen Affektenlehre in: SVF III, Nr. 457 – 481. Vgl. seine Schrift Daß der beste Arzt auch ein Philosoph ist (fti b %qistor Qatq¹r ja· vikºsovor) und seine Hinfhrung zur Heilkunde (pqotqeptij¹r 1p’ Qatqij¶m).

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ner Lehrer, den Stoiker Apollonios von Chalkis. Marc Aurels zwischen 170 und 178 während des Krieges gegen Markomannen und Quaden verfaßte Selbstgesprche (t± eQr 2autºm) 42 gehören allerdings erst sehr viel später zu den bekannten stoischen Werken, denn er schrieb sie in griechischer Sprache als eine persönlich gehaltene, manchmal geradezu privat anmutende und nur stichwortartig fixierte Selbstermahnung und Selbstermutigung. Die Verbreitung setzte erst in der Neuzeit ein, nachdem 1559 die Erstausgabe erschienen war – die bis zu diesem Zeitpunkt faßbare handschriftliche Überlieferung ist sehr schmal. Seit dem 18. Jahrhundert mit seinem Sinn für das Empfindsame, für alles, was subjektiv-erlebnishaft legitimiert war und vorzugsweise in den Formen von Tagebuch und Briefromanen Ausdruck fand, wuchs die Aufmerksamkeit. Seither sind die Selbstgesprche eine beliebte Weltanschauungslektüre, wie die vielen Auflagen bis zur Gegenwart zeigen. Für so unterschiedliche Autoren wie Hölderlin und Turgenjew gewann Marc Aurel maßgebliche Bedeutung. Bei allem ethischen Ernst ging in seine Aufzeichnungen nichts von der moralischen Härte und Rigorosität der altstoischen Tradition ein. Die Selbstgesprche sind auf den Ton einer meditativ verinnerlichten Lebensweisheit gestimmt. Marc Aurels Hauptgedanken verraten die Inspiration durch die mittlere Stoa. Vor allem wirkte Poseidonios auf ihn ein, der zusammen mit seinem Lehrer Panaitios – einem Hauptgewährsmann Ciceros – diese kultiviert gemilderte und zugleich universell verbindende Form der Stoa vertrat.43 Eine kosmologisch begründete All-„Sympathie“44 ersetzt das alte (oft im modernen Sinn dieses Wortes mißverstandene) „Apathie“-Ideal. Ausgehend von der seit den Anfängen der Stoa zentralen Vorstellung der Allnatur, der v¼sir t_m fkym, psychologisiert45 42 Griechisch-Deutsch: Kaiser Marc Aurel: Wege zu sich selbst. Herausgegeben und übertragen von Willy Theiler. Zürich 1951 u. ö. Vgl. die Edition von Arthur S. L. Farquharson, Oxford/New York 1989. 43 Immer noch grundlegend: August Schmekel: Die Philosophie der mittleren Stoa in ihrem geschichtlichen Zusammenhange dargestellt. Berlin 1892. Nachdruck Hildesheim/New York 1974. Zu Panaitios: Modestus van Straaten: Pantius, sa vie, ses crits et sa doctrine. Amsterdam 1946. 44 Vgl. Karl Reinhardt: Poseidonios. München 1921. Ders.: Kosmos und Sympathie. München 1926. Ludwig Edelstein: The Philosophical System of Posidonius, in: American Journal of Philology 57, 1936, S. 286 – 325. Marie Laffranque: Posidonios d’Apame. Paris 1964. Ian G. Kidd: Poseidonios, in: Philosophen der Antike, Bd. II, hg. von Friedo Ricken, Stuttgart 1996, S. 61 – 82. 45 Vgl. Ludwig Stein: Die Psychologie der Stoa. Berlin 1886 (Berliner Studien für classische Philologie und Archaeologie 3, 1). Max Pohlenz: Poseidonios’ Affek-

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Marc Aurel die stoische Kosmologie hin zu einem Kosmosvertrauen, das Lebenshilfe und Trost vor allem angesichts von Sterben und Tod vermitteln soll. Als Teil des kosmischen Ganzen kehrt der Einzelne, so die beherrschende Vorstellung, ja nur in dieses Ganze der Allnatur zurück. Doch vermag dieses Kosmosvertrauen kaum die melancholische Grunderfahrung der Vergänglichkeit menschlichen Daseins aufzuhellen. Die Selbstgesprche, die auffallend oft Tod und Vergänglichkeit umkreisen, zeugen auch von einer ihrer selbst allmählich müde werdenden, von Untergangsahnungen umschatteten Zivilisation. Während seiner ganzen Regierungszeit mußte der Kaiser an fast allen Reichsgrenzen bedrohliche Kriege führen. Nur mit Mühe konnte er das Imperium noch zusammenhalten, in dem auch die Pest wütete. Das Christentum erstarkte so sehr, daß zudem die kultisch-religiöse Identität zu zerbrechen drohte. Das stoische Ethos Marc Aurels geht über in eine resignative und sich dennoch zur aktiven Verantwortung für das Gemeinwesen verpflichtende staatsmännische Haltung. Sie ist, dem stoischen Erbe entsprechend und dem Herrscher eines Weltreichs angemessen, kosmopolitisch.46 Friedrich der Große, der sich selbst als „philosophe stoïcien“ bezeichnete, berief sich mit Vorliebe auf sein Vorbild Marc Aurel, besonders in der Zeit des Siebenjährigen Krieges, als er mehr als einmal am Rand der Katastrophe stand. Auf einem ganz anderen Niveau bewegte sich in der griechischrömischen Zivilisation der Stoizismus als Popularphilosophie. Gerne berief man sich auf Sokrates als legitimierendes Vorbild.47 Bis ins dritte Jahrhundert hinein verkündeten die Popularphilosophen, die oft als arme, ihre Aussteiger-Existenz zur Schau stellende Wanderprediger auftraten, eine rigorose kynisch-stoische Moralbotschaft. Innere Freiheit, Seelenruhe und Seelenstärke, „Tugend“ und, besonders wenn das kynische Element der Stoa durchschlug, Bedürfnislosigkeit, ja welttenlehre und Psychologie, in: Nachr. d. Ges. d. Wiss. Phil.–hist. Kl. Göttingen 1922, S. 163 – 194. Annelise Modrze: Zur Ethik und Psychologie des Poseidonius, in: Philologus 87, 1933, S. 300 – 331. Robert Philippson: Zur Psychologie der Stoa, in: Rheinisches Museum 86, 1937, S. 140 – 179. 46 Hierzu Greg R. Stanton: The cosmopolitan Ideas of Epictetus and Marc Aurelius, in: Phronesis 13, 1968, S. 183 – 195. 47 Vgl. Klaus Döring: Exemplum Socratis: Studien zur Sokratesnachwirkung in der kynisch-stoischen Popularphilosophie der frhen Kaiserzeit und im frhen Christentum. Wiesbaden 1979 (Hermes, Zeitschrift für klassische Philologie, Einzelschriften 42). Anthony A. Long: Socrates in Hellenistic Philosophy, in: Classical Quarterly 38, 1988, S. 150 – 171, sowie in: Anthony A. Long: Stoic Studies, Cambridge 1996, S. 1 – 34.

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verachtende Askese – das waren die von ihnen propagierten Lebensziele. Das berühmte, oft beschworene Muster für eine solche weit über das sokratische Erbe hinausgehende Lebenseinstellung war Diogenes, der durch Anekdoten sinnfällig vergegenwärtigte Kyniker.48 Hier zeigen sich zukunftweisende Affinitäten zu der sich im dritten Jahrhundert anbahnenden und im vierten Jahrhundert um sich greifenden asketischen Bewegung, die das christliche Anachoretentum und schließlich das Mönchtum hervorbrachte.49 Es waren die Jahrhunderte, in denen sich die alte griechische Askesis – das Wort bedeutete bei Platon und Aristoteles schlicht „Übung“ – im Sinne rigoros „asketischer“ Sinnenfeindschaft veränderte.50 Jesus selbst erscheint schon in den Evangelien nicht nur in auffallender Nähe zu dem im Orient verbreiteten Typus des Wundermannes, sondern auch zum Typus des charismatischen Wanderpredigers mit entsprechend radikaler Lebenseinstellung.51 48 Vgl. Diogenes Laërtios VI, 19 – 81. Vgl. Les Cyniques grecs. Fragments et tmoignages par Lonce Paquet. Édition revue, correctée et augmentée. Ottawa 1990. Donald R. Dudley: A history of cynicism. From Diogenes to the 6th century A. D. London 1937. Reprint Hildesheim 1967. Das Kapitel Cynicism and Stoicism bei John M. Rist (wie Anm. 1), S. 54 – 80. Die Kyniker in der modernen Forschung. Aufstze mit Einfhrung und Bibliographie, hg. von Margarethe Billerbeck (Bochumer Studien zur Philosophie 15). Amsterdam 1991. Marie-Odile GouletCazé: Le cynisme l’poque impriale, in: Aufstieg und Niedergang der rçmischen Welt (ANRW), hg. von Hildegard Temporini und Wolfgang Haase, II 36.4, Berlin/ New York 1990, S. 2720 – 2833. Zur Wirkungsgeschichte bis in die Moderne: Le Cynisme ancien et ses prolongements. Actes du colloque international du CNRS (Paris, 22 – 25 juillet 1991), hg. von Marie-Odile Goulet-Cazé/Richard Goulet. Paris 1993. Heinrich Niehues-Pröbsting: Der Kynismus des Diogenes und der Begriff des Zynismus. München 1979. Audrey N. M. Rich: The cynic concept of autarkeia, in: Mnemosyne 9, 1956, S. 23 – 29. Ragnar Hoïstad: Cynic hero and cynic King. Studies in the cynic conception of man. Uppsala 1948. 49 Eine gute Kurzinformation gibt Karl Suso Frank: Grundzge der Geschichte der Alten Kirche, Darmstadt 1984, S. 166 – 183. Vgl. auch Karl Heussi: Der Ursprung des Mçnchtums. Tübingen 1936, sowie die Quellensammlung von Hugo Koch: Quellen zur Geschichte der Askese und des Mçnchtums in der Alten Kirche. Tübingen 1933. Vgl. auch Ernst Bickel: Das asketische Ideal bei Ambrosius, Hieronymus und Augustin. Eine kulturgeschichtliche Studie. Neue Jahrbücher für das klassische Altertum 37, 1916, S. 437 – 474. 50 Vgl. Eric Robertson Dodds: Heiden und Christen in einem Zeitalter der Angst, Frankfurt 1985 (Pagan and Christian in an Age of Anxiety, Cambridge 1965), S. 39 – 43. 51 Die moderne Theologie hat dafür den Terminus „Wanderradikalismus“ vorgeschlagen und weist auf das „Ethos der Heimatlosigkeit, Familiendistanz, Besitzkritik und Gewaltlosigkeit“ hin (Gerd Theißen: Die Entstehung des Neuen

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Philosophische Schulen und Diskursformationen. Die traditionbildende Konfrontation von Stoa und Epikureismus Das Spektrum der Möglichkeiten im Verhältnis der einzelnen philosophischen Schulen zueinander reicht noch in der Neuzeit von der polemischen Auseinandersetzung, ja Diffamierung über abwägende partielle Kritik und relativierendes Geltenlassen bis hin zu ausgleichenden Synthese-Versuchen, Synkretismen und vereinnahmenden Überformungen. Nicht selten gingen die frühneuzeitlichen Autoren mit der antik-philosophischen Tradition metonymisch um: Wollte man etwa seine Rechtgläubigkeit demonstrieren, so polemisierte man gegen den angeblich sittenlosen Epikur und beschimpfte Andersdenkende, namentlich die konfessionellen Gegner als Epikureer; wollte man sich von der Orthodoxie distanzieren, was bei direktem Vorgehen kirchliche Verfolgungsmaßnahmen und sogar den Tod auf dem Scheiterhaufen nach sich ziehen konnte, so kritisierte man gut maskiert die Rigorosität der stoischen Moral oder disqualifizierte die Stoiker als „Devote“ – jeder wußte dann, was in Wahrheit gemeint war. Im übrigen bestand ein beliebtes gelehrtes Spiel der humanistisch Gebildeten darin, das Für und Wider der verschiedenen philosophischen Schulen gegeneinander abzuwägen, sei es um Partei zu ergreifen, sei es um allseitig skeptische – und zugleich adelnde – Distanz zu wahren, wie dies schon Cicero vorgeführt hatte: Die „disputatio in utramque partem“ war seine skeptisch grundierte Methode. Ihr folgte noch Montaigne, obwohl er Cicero aus Abneigung gegen dessen rhetorisch aufgeladenen Stil „trop de vent“ bescheinigte. Vom Standpunkt der christlichen Lehre aus erschienen die aus der nicht-christlichen antiken Tradition stammenden philosophischen Lehren entweder wie der Epikureismus gar nicht oder wie die Stoa immerhin teilweise akzeptabel. Weil die nichtchristlichen Lehren seit Testaments als literaturgeschichtliches Problem, Heidelberg 2007, S. 49 (Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Bd. 40). Der Evangelist Lukas, ein griechischer Arzt, der mit Stoa und Kynismus vertraut gewesen sein dürfte, betont diese Züge an Jesus: „Der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann“ (Lk 9, 58); „Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern, ja sogar sein Leben gering achtet, dann kann er nicht mein Jünger sein“ (Lk 14, 26); sogar der Krieg in den Familien ist angesagt (Lk 12, 51 – 53); „das Begräbnis des Vaters soll man den Toten überlassen“ (Lk 9, 60 f.) und am besten „wie die Vögel unter dem Himmel“ leben (Lk 12, 22 ff.).

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der neuen Hochschätzung der antiken Tradition durch Renaissance und Humanismus in ganz neuer Weise herausforderten, gewann die Auseinandersetzung mit ihnen Aktualität. Dies umso mehr, als sich mit ihnen säkulare, nicht auf ein „Jenseits“ gerichtete Grundannahmen verbanden. Zusammen mit gesellschaftlichen Neuerungen bei der Herausbildung des Absolutismus, zusammen auch mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und dem Fortschritt rationaler Methoden depotenzierten diese Grundannahmen allmählich die alte Glaubenswelt. Der Streit der philosophischen Schulen selbst war schon in der Antike vor der Ausbreitung des Christentums entbrannt. Insbesondere trat der Gegensatz von Epikureern und Stoikern hervor.52 Er sollte ein Dauerthema bis in die Neuzeit werden. Die Kirchenväter griffen die kategorialen Einstufungen sowie manche Argumentationsmuster und Urteile der vorchristlichen Antike auf, um sie aus christlicher Optik zu adaptieren oder zu verschärfen. Schließlich gedieh die Opposition von Epikureismus und Stoizismus zu einem stereotypen Vorstellungsmuster bis hin zu Georg Büchners Revolutionsdrama Dantons Tod – dem einzigen Werk, in dem der Gegensatz, der sonst nur in gelehrten oder religiös motivierten Traktaten abgehandelt wurde, eine literarisch bedeutende Gestaltung fand. Danton, der Protagonist, verkörpert ein sensualistisches Epikureertum, das Büchner auf die zeitgenössische, insbesondere von Heine provokativ verkündete „Emanzipation des Fleisches“ münzte. Sein Gegenspieler Robespierre ist das Schreckbild eines zum Tugend-Terrorismus entstellten Stoizismus, mit dem Büchner zugleich Konsequenzen einer abstrakten und deshalb unmenschlich werdenden Ideologisierung im Visier hatte. Nicht nur aktualisierend, sondern auch experimentierend treibt Büchner die epikureische wie die stoische Lebenshaltung bis zu aporetischen und zerstörerischen, ja selbstzerstörerischen Grenzwerten. Obwohl Epikureer und Stoiker nach dem Niedergang der griechischen Polis und dem Schwund ihrer gesellschaftlichen Integrationskraft das gemeinsame Ziel des individuellen Glücks (Eudämonie) und einer unabhängig machenden persönlichen Lebensgestaltung hatten, waren doch die Unterschiede markant. Stimmte die Lehre Epikurs (341 – 270 v. Chr.), niemand könne glücklich leben, ohne vernünftig, edel und gerecht zu leben, und die ebenfalls in seinem Lehrbrief an 52 Vgl. Robert D. Hicks: Stoic and Epicurean. London 1910. Reprint New York 1960.

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Menoikeus53 vermittelte Botschaft, daß der wahrhaft Weise im Bewußtsein innerer Freiheit der Vernunft folge, mit stoischen Grundsätzen noch überein, so zeigte sich eine deutliche Diskrepanz in einem anderen Bereich: Sowohl im Gegensatz zur platonisch-idealistischen Tradition54 als auch zur Stoa wertete Epikur die Sinnlichkeit und den sinnlichen Genuß nicht ab, denn „Lust“ (Bdom¶) erhob er zu einem hohen Wert. Schrankenlose und leere Genußsucht allerdings lehnte er ab, ebenso aber die dann besonders im kynischen Ursprungsbereich der Stoa – bei dem Sokrates-Schüler Antisthenes55 – ausgeprägte Rigorosität und Askese, die später noch oft die Stoa bestimmte. Am höchsten wertete Epikur die Selbstgenügsamkeit: die „Autarkie“ (aqt²qjeia) eines zurückgezogenen einfachen Lebens in Freiheit und im Kreise gleichgesinnter Freunde. Das ist wahre „Lust“. Im besonderen noch definierte er „Lust“ (Bdom¶) als Freiheit von Schmerz, so daß man eigentlich besser von ,Wohlbefinden‘ als von ,Lust‘ oder gar ,Wollust‘ sprechen sollte. Schon Cicero hatte dies festgestellt: „[…] Daher kann man erkennen, was ,Lust‘ ist: ohne Schmerzen sein“ – „Eoque intellegi potest, quanta voluptas sit, non dolere“ (De finibus I 17, 56). Bald aber verzerrte die Sinnenfeindschaft der Stoiker und die noch weitergehende des Christentums Epikurs Lehre und unterstellte ihm ein Plädoyer für ausschweifende Wollust, wozu die gängige Übersetzung des griechischen Begriffs Bdom¶ in den lateinischen Begriff „voluptas“ beitrug. Die Kirchenväter prangerten Epikurs angeblich verwerfliche Hingabe an die Lust an.56 Für Ambrosius etwa, den Bischof von Mailand (339 – 397 n. Chr.), der sich in seiner Schrift De officiis ministrorum 53 Überliefert bei Diogenes Laërtios X, 122 – 135. Epikur-Ausgaben: Hermann Usener: Epicurea. Leipzig 1887. Nachdr. Rom 1963. Epicurus. The Extant Remains. With short critical apparatus, translation and notes by Cyril Bailey, Oxford 1926. 2. Nachdruck Hildesheim/Zürich/New York 1989 (griech.engl.). Peter von der Mühll: Epicuri epistulae tres et ratae sententiae a Laertio Diogene servatae. Leipzig 1922. Nachdr. 1966. Griech.–deutsch: Epikur. Briefe, Sprche, Werkfragmente. Übersetzt und herausgegeben von Hans-Wolfgang Krautz, 2. Auflage Stuttgart 1985; Epikur. Wege zum Glck, herausgegeben und übersetzt von Rainer Nickel, Düsseldorf/Zürich 2003. 54 Vgl. Hans Joachim Krämer: Platonismus und hellenistische Philosophie. Berlin 1971. Der Schwerpunkt der Darlegungen liegt auf Epikur. 55 Vgl. Diogenes Laërtios VI, 1 – 19, besonders 14 – 15. 56 Grundlegend: Hermann Usener: Epicurea. Leipzig 1887; sowie der ausgezeichnete Artikel von Wolfgang Schmid: Artikel Epikur, in: Reallexikon fr Antike und Christentum, Bd. 5, 1962, Sp. 681 – 819 (mit umfassenden Literaturangaben).

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libri III von Ciceros De officiis, seinem am meisten stoisch geprägten Werk, inspirieren ließ,57 ist er geradezu ein Trunkenbold und Patron der Wollust: „magister … ebrius et voluptatis patronus“.58 Derartige Polemik, die teilweise auf stoisch-rigoristische Positionen zurückgeht (Horaz ironisierte sie, indem er sich „ein Schweinchen aus der Herde Epikurs“ nannte), gipfelte schließlich in der Wiederaufnahme des schon tradierten Schimpfnamens „Porcus“. Ein „Schwein“ ist Epikur im Psalmenkommentar des Augustinus, bei Isidor von Sevilla und bei Hieronymus. Das eigentliche Motiv dieser Diffamierung, die sich in der christlichen Tradition bis weit in die Neuzeit fortsetzte, war aber nicht moralischer, sondern religiöser Art. Denn Epikurs Lehre lief der christlichen im Wesentlichen zuwider. Er lehnte den Glauben an eine göttliche Vorsehung und an göttliches Eingreifen in die Welt ab, desgleichen den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele und an ein Jenseits, in dem mit Göttern und Dämonen zu rechnen sei. Frei zu sein von der Gottes- und Dämonenfurcht, die später, nicht zuletzt im christlichen Teufelsglauben, noch einmal gewaltige Ausmaße annahm und Spätmittelalter und frühe Neuzeit – man denke nur an Luthers Teufelsfurcht – geradezu beherrschte, galt ihm als Voraussetzung für ein autonomes, von der Vernunft bestimmtes Dasein. Hier lagen die von den Kirchenschriftstellern auch immer wieder zum Ausdruck gebrachten wahren Gründe für die scharfe Ablehnung Epikurs, und dies umso mehr, als im 1. Jahrhundert v. Chr. Lukrez in seiner Lehrdichtung De rerum natura Epikurs Lehre wirkungsvoll ausgestaltet und dabei den Kampf gegen die traditionelle Religion in den Mittelpunkt gerückt hatte. Er kritisierte sie als Aberglauben, als Ursache vieler Übel und entwürdigender Abhängigkeitsgefühle. Schon einer der frühen Kirchenväter, Clemens von Alexandrien (etwa 150 – 215 n. Chr.), der in seinen Stromateis („Bunte Teppiche“) sonst die griechische Philosophie durchaus hochhält und den christlichen Glauben sogar durch den Logos der Philosophie vorbereitet sieht, lehnt Epikur ab: Er bezeichnet ihn als „Bahnbrecher der Gottlosigkeit“.59 Im lateinischen Westen setzte sich Lactanz (um 300 n. Chr.) 57 Vgl. Otto Hiltbrunner: Die Schrift De officiis ministrorum des hl. Ambrosius und ihr ciceronisches Vorbild, in: Gymnasium 71, 1964, S. 174 – 189 (mit Literatur-Liste). Vgl. auch die gute Übersicht bei Marcia Colish (wie Anm. 74), Bd. 2, S. 58 – 70 (mit ausführlichen Literaturangaben in Anm. 27 – 30). 58 Off. 1, 13. PL (Migne: Patrologia Latina) 16, 38 A. 59 Stromateis 1, 1.

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hauptsächlich mit dem großen Lehrgedicht des Lukrez auseinander und bekämpfte Epikur mit deutlichen Anleihen bei den Stoikern als den großen Zerstörer von Religion und Tradition60. Epikurs Bestreitung der unsterblichen Seele versucht er durch die Versicherung abzuqualifizieren, Epikur sei lasterhaft: „Verum ille fortasse inpunitatem vitiis suis spopondit: fuit enim turpissimae voluptatis assertor“,61 ja er ist für ihn ein „Erzpirat und Räuberhauptmann“.62 Augustinus schlug in die gleiche Kerbe, und so setzten sich die christliche Abwertung Epikurs und der Antiepikureismus mit ganz vereinzelten Ausnahmen bis zum Beginn der Neuzeit fort. Die kirchliche Frontstellung verband sich sogar mit der Bekämpfung von Häresien: Auf Ketzer wurde der Name Epikurs als Schimpfname angewendet. Die ,Wiederentdeckung‘ von Lukrez’ Werk De rerum natura, in dem Epikur eine begeisterte Würdigung erfährt, durch Poggio Bracciolini und Bartolomeo da Montepulciano im Jahre 1417 und die wenig später folgende lateinische Übersetzung der Vitae philosophorum des Diogenes Laërtios durch Ambrogio Traversari – das zehnte und letzte Buch enthält wichtige Originaltexte Epikurs und eine zustimmende Darstellung – leitete die Wende ein. Schon bald berufen sich, seit Lorenzo Vallas programmatischer Schrift De voluptate (1431), zahlreiche Autoren der Renaissance63 auf den wahren, bisher immer nur verleumdeten Epikur. Immer wieder kommen dabei die Stoiker als die Gegner mit ins Spiel, aber auch Plutarch, der doch andererseits wegen seiner Angriffe auf die Stoiker getadelt wird – so auch in einer Abhandlung des bedeutenden spanischen Autors Francisco de Quevédo. Sie fügt einer Übersetzung von Epiktets Encheiridion und des Pseudo-Phocylides Schriften über den Ursprung der Stoiker und eine Verteidigung Epikurs an: Epicteto y Phoclides en espaÇol con consonantes. Con el origin de los Estoicos, y su defensa contra Plutarco, y la defensa de Epicuro contra la comffln opini n (1635). Bereits zweihundert Jahre früher hatte Lorenzo Valla in seiner schon genannten Schrift De voluptate (1431) eine klare Stellung bezogen: Er lehnt die 60 Divinarum Institutionum libri VII 2, 8, 50.CSEL (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum) 19, 138, 13. 61 Inst. 3, 17, 35. CSEL 19, 234, 18. 62 Inst. 3, 17, 41. 63 De voluptate, 1431. Vgl. Eugenio Garin: Ricerche sull epicureismo del Quattrocento, in: Epicurea in memoriam Bignone, Genua 1959, S. 217 – 237. Vgl. auch: D. C. Allen: The Rehabilitation of Epicurus and his Theory of Pleasure in Early Renaissance, in: SPh 41, 1944, S. 1 – 15.

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stoische Position zugunsten der epikureischen ab. Heikel blieb aber bei jedem Bekenntnis zu Epikur dessen Verdammung durch das Christentum. Valla läßt daher einen christlichen Gesprächspartner in seinem Dialog die Überhöhung der epikureischen „Lust“ zu einer ,himmlischen‘ Lust und damit eine Spiritualisierung fordern.64 Auch andere Autoren, so Gassendi, versuchten in ähnlicher Weise mindestens ein Stück weit epikureische mit christlichen Vorstellungen zu versöhnen, wie man dies schon lange mit den stoischen gewohnt war. Epoche machte Epikurs Rehabilitierung in der 1647 in Lyon erschienenen Schrift De Vita et Moribus Epicuri des Petrus Gassendi (Pierre Gassend) und in seinem 1658 posthum erschienenen Werk Syntagma philosophicum. An der Schwelle zur Aufklärung des 18. Jahrhunderts schließlich zog Pierre Bayle die Summe in dem gründlichen und ausführlichen Artikel Epicure seines europäisch wirkungsreichen Dictionnaire historique et critique, den Gottsched ins Deutsche übersetzte.65 Anschließend an Gassendi stellt er kritisch die traditionelle Diffamierung Epikurs dar. Zugleich analysiert er die stoische Vorurteilsbildung gegen Epikur und setzt die Stoiker den „dévots“ seiner eigenen Zeit gleich! 66 Diese trieben nicht zuletzt am Hofe Ludwigs XIV. ihr Unwesen. Dennoch lebte in der Aufklärung, zu deren Hauptanliegen auch die „Botschaft der Tugend“ gehörte, der Stoizismus intensiv fort. Für manche religionskritisch und emanzipatorisch gesinnten Aufklärer aber rückte Epikur, besonders der durch Lukrez vermittelte, zu einer geistigen Orientierungsinstanz auf. Ein markantes literarisches Beispiel für die Umkehrung des Kräfteverhältnisses in der Konfrontation von Stoizismus und Epikureismus ist Wieland mit seinem Roman Aristipp. Im Kampf gegen den Epikureismus bediente man sich der schon von der platonischen und der stoischen Tradition bereitgestellten Ge64 Aufschlußreich: Hans Joachim Krämer: Epikur und die hedonistische Tradition, in: Gymnasium 87 (1980), S. 294 – 326. 65 Pierre Bayle: Dictionnaire historique et critique. Troisieme edition. A laquelle on a ajoûté la Vie de l’Auteur, & mis ses Additions & Corrections à leur place. Rotterdam MDCCXV [= 1715]. Pierre Bayle: Dictionnaire historique et critique. Nachdruck Genf 1969, Bd. VI, S. 167 ff. Pierre Bayle: Historisches und kritisches Wçrterbuch. Eine Auswahl. Übersetzt und hg. von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl. Darmstadt 2003. Vgl. Die Philosophie in Pierre Bayles Dictionnaire historique et critique, hg. von Lothar Kreimendahl = Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte. Bd. 16, 2004. Hamburg 2004 (mit guter Forschungsübersicht). 66 S. 188 des Nachdrucks.

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genargumente, so der relativ kultivierten stoischen Epikur-Kritik in Ciceros Schrift De finibus und der von Plutarch – er war ApollonPriester in Delphi – um 100 n. Chr. scharf formulierten Kritik an Epikurs Ablehnung der Vorsehung und der Unsterblichkeit der Seele.67 In nicht weniger als drei antiepikureischen Schriften68 stellte der seit Beginn der Neuzeit vielgelesene Plutarch das Repertoire bereit, das sich in der Tradition der platonischen Akademie herausgebildet hatte. Die Stoa hingegen konnte trotz der grundlegenden Differenz zwischen ihrem auf Immanenz angelegten Monismus und dem auf ein Jenseits ausgerichteten christlichen Dualismus dem Christentum in manchem assimilierbar erscheinen, so in ihrer Sinnenfeindschaft und asketischen Moral, aber auch durch die Vorstellung einer, wenn auch letztlich anders gedachten, göttlichen Vorsehung. Schließlich lag der schon im frühen Christentum stark ausgeprägten Sozialethik die insbesondere von der römischen Stoa betonte sittliche Verpflichtung auf das Gemeinwesen69 nahe, im Gegensatz zu dem von Epikur favorisierten Rückzug in den „Garten“ nach der Devise „Lebe im Verborgenen“. Bereits Plutarch, der trotz mancher aus der Stoa übernommener Begriffe nicht vom stoischen, sondern vom platonischen Standpunkt aus schrieb und 67 Vgl. Plutarch’s Theological Writings and Early Christian Literature, ed. by Hans Dieter Betz. Leiden 1975. 68 Non posse suaviter vivi secundum Epicurum. Adversus Colotem. An recte dictum sit latenter esse vivendum. In: Plutarch’s Moralia in 15 [später 17] volumes. Bd. 14. With an English translation by B. Einarson and Phillip de Lacy. Cambridge, Mass., London 1967 (Loeb Classical Library). Vgl. auch die deutsche Übersetzung in: Plutarch: Moralische Schriften. Erstes Bändchen: Streitschriften wider die Epikureer. Übersetzt, mit Einleitungen und Anmerkungen versehen von Otto Apelt. Leipzig 1926 (Der Philosophischen Bibliothek Band 198). Zu Plutarchs Epikur-Kritik: Tiziano Dorandi: Gli scritti antiepicurei di Plutarco, in: Syzetesis. Studi sull’ epicureismo greco e latino offerti a Marcello Gigante, 2 Bde, Neapel 1983, S. 679 – 695 (Kommentierende Bibliographie). Jackson P. Hershbell: Plutarch and Epicureanism, in: ANRW II 36, 5, 1992, S. 3351 – 3383. Vgl. John Ferguson: Epicureanism under the Roman Empire, in: ANRW II 36, 4, 1990, S. 2257 – 2327. 69 Vgl. Franz Hampl: Stoische Staatsethik und frhes Rom, in: Historische Zeitschrift 184, 1957, S. 249 – 271. Arthur Bodson: La Morale sociale des derniers Stociens, Sn que, pict te et Marc Aur le. Paris 1967. Vgl. ferner: Margaret E. Reesor: The Political Theory of the Old and Middle Stoa. New York 1951. Eleuterio Elorduy: Die Sozialphilosophie der Stoa, in: Philologus Suppl. XXVIII, 3, 1936. Jürgen Sprute: Rechts- und Staatsphilosophie bei Cicero, in: Phronesis 28, 1983, S. 150 – 176. Andrew Erskine: The Hellenistic Stoa: Political Thought and Action. London 1990.

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auch gegen die Stoiker polemisierte,70 hatte einen Traktat gegen diese epikureische Losung verfaßt.71 Die urbanen römischen Vermittlungen zwischen Stoizismus und Epikureismus, wie sie vor allem Seneca in seinem Hauptwerk, in den Briefen an Lucilius bot, blieben bezeichnenderweise lange unwirksam – zu den Ausnahmen gehört Descartes.72 Und bis zum Beginn der humanistischen Rehabilitation Epikurs fast ganz vernachlässigt wurde in der sich verschärfenden weltanschaulichen Frontstellung, daß bereits Seneca – der Stoiker! – die klischeehaft verfälschende Festlegung Epikurs auf eine ausschweifende Lebensweise in seiner Schrift De vita beata 73 zurückgewiesen hatte.

Die Bedeutung stoischer Moral und Askese für das frühe Christentum und das Mittelalter. Seneca- und Epiktet-Rezeption. Aspekte einer heidnisch-christlichen Mischkultur Wesentlich anders als das strikt negative Urteil über Epikur war das Verhältnis des Christentums zur Stoa. Die von den Stoikern ausgehende Faszination reichte schon im frühen Christentum bis zu markanten Teilidentifikationen.74 Obwohl Tertullian (ca. 150 – 220 n. Chr.) in 70 In den Schriften De Stoicorum repugnantiis. Compendium argumenti Stoicos absurdiora poetis dicere. De communibus notitiis adversus Stoicos. In: Plutarch’s Moralia in 15 [später 17] volumes. Bd. 13/2. With an English translation bei H. F. Cherniss. Cambridge, Mass., London 1976 (Loeb Classical Library). Mit vorzüglichem Kommentar. Vgl. auch Max Pohlenz: Plutarchs Schriften gegen die Stoiker, in: Hermes 74, 1939, S. 1 – 33 (Kleine Schriften Bd. I). Jackson P. Hershbell: Plutarch and Stoicism, in: ANRW II 36, 5 (1992), S. 3336 – 3352, sowie Daniel Babut: Plutarque et le stocisme. Paris 1969. 71 An recte dictum sit latenter esse vivendum (EI JAKYS EIQGTAI TO KAHE BIYSAS). Vgl. Anm. 68. Eine kommentierte Edition und Übersetzung dieser kleinen Schrift erschien mit dem griechischen Titel und dem deutschen: Ist „Lebe im Verborgenen“ eine gute Lebensregel? Eingeleitet, übersetzt und mit interpretierenden Essays versehen von Ulrich Berner, Reinhard Feldmeier, Bernhard Heininger und Rainer Hirsch-Luipold. Darmstadt 2000 (Reihe SAPERE). 72 Belege bei Michel Spanneut: Permanence du Stocisme de Znon Malraux, Gembloux 1973, S. 290. 73 Kap. XII. 74 Eine Übersicht bietet der 2. Band des Werks von Marcia L. Colish: The Stoic tradition from antiquity to the early Middle Ages. Vol. 1: Stoicism in classical Latin literature. Vol. 2: Stoicism in christian Latin thought through the sixth century. Leiden 1985. (Studies in the History of Christian Thought 34 – 35). Vgl. Michel Spanneut: Le stocisme des P res de l’ glise de Clment de Rome Clment

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seinem Hauptwerk, dem Apologeticum, in dem er angesichts der Verfolgungen das Christentum verteidigt, alle griechischen Philosophenschulen radikal abwertet und sie in prinzipiellen Gegensatz zum Christentum rückt („philosophi enim, non Christiani cognominantur“; 46, 5), nennt er Seneca „einen, der oft zu uns gehört“: „saepe noster“.75 Emphatisch stimmte Laktanz der stoischen Moral-Lehre und ihrem Leitbegriff Virtus zu: „Die Tugend allein, sagen die Stoiker, vermag das Leben glücklich zu machen. Nichts kann wahrer sein“.76 Augustinus bekennt in seinen Confessiones, er sei eine Zeit lang der stoischen Weltanschauung verfallen gewesen, insbesondere der nun vom Standpunkt des Christentums aus als irrig erkannten Vorstellung von einem göttlich belebten Kosmos.77 Vor allem gewann Seneca große Bedeutung schon während des Mittelalters78 in fast allen Ländern Europas aufgrund seiner in Florilegien verbreiteten stoischen Moralphilosophie. Dante nennt ihn geradezu „Seneca morale“ (Inferno IV 141) und schon im 12. Jahrhundert bezeichnete ihn Abaelard als größten Begründer der Sittlichkeit unter den Philosophen.79 Seit dem Humanismus steigerte

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d’Alexandrie. 2. Auflage Paris 1969. Johannes Stelzenberger: Die Beziehungen der frhchristlichen Sittenlehre zur Ethik der Stoa. München 1933. De anima 20, 1. Inst. III 27, 4. CSEL (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum)19, 261, 18 – 20. Conf. VII, 1, 1 – 2. CSEL 33/1, 141, 6 – 142, 11. Zur Rezeption Senecas im Mittelalter vgl. Dictionnaire de Spiritualit, Asctique et Mystique, Paris 1932 ff., Bd. XIV, Paris 1990, Artikel Sn que von Michel Spanneut, Sp. 570 – 598; Verfasser-Lexikon des Mittelalters, 2. Auflage, Bd. 8, Berlin/New York 1992, Artikel Seneca von Nikolaus Henkel, S. 1080 – 1099 (mit Editionen und Literaturangaben). Leighton D. Reynolds: The Medieval Tradition of Seneca’s Letters. Oxford 1965. Ders.: Medieval Tradition of Seneca’s Dialogues, in: Classical Quarterly 18, 1968, S. 355 – 372. Birger Munk Olsen: L’ tude des auteurs classiques latins aux XIe et XIIe si cles, 4 Bde, Paris 1982 – 1989, Bd. 2, 1985, S. 365 – 473. Klaus-Dieter Nothdurft: Studien zum Einfluß Senecas auf die Philosophie und Theologie des 12. Jahrhunderts, Leiden/Köln 1963 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters, Bd. 7) [dazu: Michel Spanneut in: RTh 31, 1964, S. 32 – 42]. Zur Auseinandersetzung mit Senecas Tugendlehre bei Johannes Buridan: James J. Walsh: Buridan and Seneca, in: Journal of the History of Ideas 27, 1966, S. 23 – 40. Zur spanischen SenecaRezeption: Karl Alfred Blüher: Seneca in Spanien. Untersuchungen zur Geschichte der Seneca-Rezeption in Spanien vom 13. bis 17. Jahrhundert. München 1969. Gérard Verbeke: The Presence of Stoicism in Medieval Thought, Washington D. C. 1983. Michael Lapidge: The stoic Inheritance, in: A History of 12th Century Western Philosophy, hg. von Peter Dronke, Cambridge 1988, S. 81 – 112. Abaelard, Epist. 8, in: PL 178, 297 B.

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sich diese Bedeutung aufgrund seiner integralen Texte, aus denen man aber auch weiterhin Florilegien zusammenstellte.80 Vom Mittelalter bis weit in die Neuzeit hinein konstatierte man immer wieder seine Nähe zur christlichen Botschaft,81 wozu ein in der Spätantike fingierter, wohl Ende des 4. Jahrhunderts entstandener und noch bis um 1500 für authentisch gehaltener Briefwechsel zwischen Seneca und dem Apostel Paulus beitrug:82 ein nur wenige Seiten umfassendes, armseliges Elaborat, in dem Seneca dem Paulus versichert, er habe eine „für das sittliche Leben wunderbare Ermahnung“ zu bieten, er bringe „ehrwürdige Gedanken“ zum Ausdruck, und ihm mehr Rhetorik nahelegt. Der Briefwechsel veranlaßte schon den Kirchenvater Hieronymus (etwa 350 – 420 n. Chr.) dazu, Seneca sogar unter die Heiligen zu versetzen.83 80 Paul Faider: tudes sur Sn que, Gent 1921, gibt S. 5 – 152 einen Überblick über die Bedeutung Senecas vom 1. bis zum 20. Jahrhundert, wobei die Zeit vom 16. bis zum 20. Jahrhundert nur sehr knapp berücksichtigt wird. Winfried Trillitzsch: Seneca im literarischen Urteil der Antike. 2 Bde. Amsterdam 1971 (Darstellung und Sammlung der Zeugnisse. In Bd. 2, S. 251 – 265 Darstellung zu den Stationen der Seneca-Rezeption von der Antike bis zu Erasmus). 81 Hierzu: Arnaldo Momigliano: Note sulla leggenda del cristianesimo di Seneca, in: Rivista storica italiana 62, 1950, S. 325 – 344. Vgl. Peter Walter: Senecabild und Senecarezeption vom spten Mittelalter bis in die frhe Neuzeit, in: Der apokryphe Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus, eingeleitet, übersetzt und mit interpretierenden Essays versehen von Alfons Fürst, Therese Fuhrer, Folker Siegert und Peter Walter, Tübingen 2006, S. 126 – 146 (SAPERE 11). Vgl. Jan. N. Sevenster: Paul and Seneca. Leiden 1961. Vgl. auch Anm. 80. Die ,Christianisierung‘ antiker Philosophen drückt sich schon in Werktiteln aus: The Christian Seneca von Joseph Hall, 1605, ins Französische übersetzt von Théodore Jaquemot als Le Sn que chrtien, Genf 1628. Socrate chrtien (von Guez de Balzac, Paris 1661). 82 Ausgaben: Epistolae Senecae ad Paulum et Pauli ad Senecam (quae vocantur), ed. Claude W. Barlow, Rom 1938 (Papers and Monographs of the American Academy in Rome, vol. 10; mit englischer Übersetzung), S. 139 – 149. Laura Bocciolini Palagi: Il carteggio apocrifo di Seneca e San Paolo. Firenze 1978 (mit Kommentar; verbesserter Nachdruck Florenz 1985. Biblioteca patristica). Deutsche Übersetzung: Wilhelm Schneemelcher: Neutestamentliche Apokryphen, 5. Auflage, Bd. 2, Tübingen 1989, S. 44 – 50 (mit Literaturangaben). Wichtig für das Fortleben seit dem Mittelalter wurde die Ausgabe des Alkuin. In zahlreichen Handschriften sind die Briefe seit dem 9. Jahrhundert erhalten, wenn auch mit schlimmen Textverderbnissen. Petrus Cluniacensis: Tractatus adversus Petrobrusianos, PL 189, 737 C, Petrus Abaelardus: Introductio ad Theologiam I, 34 und Sermo XXIV: Expositio in epistolam Pauli ad Romanos I, 1, sowie Petrarcas Epistola ad Senecam zeugen von der Kenntnis dieses Briefwechsels, dessen Editio princeps von Erasmus stammt (Basel 1515). 83 Hieronymus: De viris illustribus, cap. 12: „quem [Senecam] non ponerem in catalogo sanctorum, nisi me illae epistolae provocarent quae leguntur a plurimis,

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Eine symptomatische, wenn auch nicht auf so breiter Überlieferung beruhende und so intensive Wirkungsgeschichte wie Seneca hatte Epiktet84 im patristischen Schrifttum und im Mittelalter, wiederum aufgrund der stoischen Morallehre. Sie hatte bei ihm eine kynisch gehärtete Form angenommen und entsprach der christlichen Asketik vor allem des mittelalterlichen Mönchtums. Durch die mit besonderer Entschiedenheit vorgetragene stoische Absage an alle äußeren Lebensgüter wurde Epiktet zur Berufungsinstanz. Im Zentrum seiner Darlegungen steht die „Dihaíresis“: die Unterscheidung zwischen den Adiáphora, den ,unwesentlichen‘ äußeren Lebensgütern, und einer geistigseelischen inneren Welt, in der die wesentlichen Werte liegen. Diese ,Unterscheidung‘ führte zu einer klaren ,Entscheidung‘. Auf ihr beruhte auch, wenngleich in metaphysisch begründeter Radikalisierung, die christliche Asketik und das Mönchtum. Und während sich Seneca, der als reichster Mann des römischen Imperiums im 90. Brief an Lucilius das Ideal der Eigentumslosigkeit verkündete, nur durch seinen stoischphilosophischen Tod als Paradigma eignete, konnte Epiktet, der Sklave gewesen war und wußte, wovon er sprach, wenn er in einer ebenso

Pauli ad Senecam et Senecae ad Paulum“ – „Ich würde ihn nicht in das Verzeichnis der Heiligen aufnehmen, wenn mich nicht jene vielgelesenen Briefe dazu veranlaßten: die des Paulus an Seneca und Senecas an Paulus“. 84 Editionen: Epictetus: The discourses as reported by Arrian, the Manual and Fragments. Ed. with an English translation by William Abbott Oldfather. 2 Bde, London/Cambridge, Mass. 1925 – 1928. 5. Auflage 1967 (griechisch-englisch). Epictetus: Entretiens, hg. von Joseph Souilhé. 4 Bde, Paris 1943 – 1965 (griechisch-französisch). Die maßgebende Edition: Epicteti Dissertationes ab Arriano digestae ad fidem cod. Bodleiani iterum recensuit Henricus Schenkl. Accedunt Fragmenta. Enchiridion ex rec. Schweighaeuseri Gnomologiorum Epicteteorum. Reliquae. Indices. – Ed. maior. – (Bibliotheca Scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana). Leipzig 1916. Nachdruck Stuttgart 1965. Eine Pionierleistung auch für die Wirkungsgeschichte: Johannes Schweighäuser: Epicteteae philosophiae monumenta. 5 Bde, Leipzig: Weidmann 1799 – 1800. Nachdruck 5 Bde in 3 Bänden. Hildesheim 1977. Epiktet, Teles Musonius: Wege zum Glck. Auf der Grundlage der Übertragung von Wilhelm Capelle [Zürich 1948] neu übersetzt, mit Anmerkungen versehen und eingeleitet von Rainer Nickel. Zürich und München 1987. Epictetus: Encheiridion, ed. Gerard J. Boter. Berlin 2007 (Bibliotheca Scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana). – Grundlegende Darstellung: Adolf Bonhoeffer: Epictet und die Stoa. Stuttgart 1890. Nachdruck Stuttgart 1968. Adolf Bonhoeffer: Die Ethik des Stoikers Epictet. Stuttgart 1894. Nachdruck Stuttgart 1968.

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programmatischen wie emphatischen Diatribe85 von der „Freiheit“ handelte,86 auch als Paradigma eines glaubwürdigen stoisch-asketischen Lebens dienen. Obwohl Augustinus Epiktets Schriften wohl nur indirekt kannte und ihn lediglich sporadisch erwähnt, trug eine dieser Erwähnungen in seinem Hauptwerk De civitate dei, einem Lieblingsbuch des ganzen Mittelalters, im Wortsinn zur Nobilitierung Epiktets bei: Augustinus beruft sich auf Epiktet mit den Worten „Ut docuit liber Epicteti nobilissimi stoici ex decretis Zenonis et Chrysippi, qui huius sectae primas habuerunt“.87 Epiktets Bedeutung für das mittelalterliche Mönchtum geht aus mehreren Zeugnissen hervor.88 Am Beginn steht ein wahrscheinlich noch aus der Spätphase des antiken Stoizismus stammender Traktat, der bezeichnenderweise unter dem Namen des Urvaters des Mönchtums, des Antonius firmierte.89 Derart christlich drapiert ging er in ein weitverbreitetes Werk für die geistliche Lektüre ein, in die Philokalia. So gewann er Autorität im griechisch-byzantinischen Mönchtum. Ebenfalls nur leicht verchristlicht diente eine Version von Epiktets Encheiridion (Handbuch) den Mönchen des Mittelalters zur geistlich-moralischen Erbauung: die dem Asketen Nilus von Ankyra 85 Diatribe (,Dissertatio‘) 4, 1. Zum Begriff ,Diatribe‘ vgl. den Artikel von Wilhelm Capelle und Henri-Irénée Marrou in: Reallexikon fr Antike und Christentum (RAC), Bd. 3, Stuttgart 1957, Sp. 990 – 1009. 86 Vgl. Joseph Moreau: pict te ou le secret de la libert. Paris 1964. Vgl. auch Hans Joachim Krämer: Die Grundlegung des Freiheitsbegriffs in der Antike, in: Freiheit. Theoretische und praktische Aspekte des Problems, hg. von Josef Simon. Freiburg/ München 1977, S. 239 – 270. Vgl. auch: Epiktet: Vom Kynismus, hg. und übersetzt mit einem Kommentar von Margarethe Billerbeck. Leiden 1978. 87 Civit. 9, 5; PL 41, 261. „Wie das Buch Epiktets, des edelsten Stoikers, gelehrt hat nach den Maßgaben Zenons und Chrysipps, die am Anfang dieser Schule standen“. 88 Zum Folgenden vgl. den Artikel Epiktet von Michel Spanneut in: Reallexikon fr Antike und Christentum (RAC), Bd. 5, 1962, Sp. 599 – 681 (mit ausführlichen Literaturangaben). 89 Die Vita Sancti Antonii, von Athanasios aus Alexandria um 370 n. Chr. verfaßt, ist eine legendenhafte Biographie in Form eines Briefes, der an die Mönche im Ausland gerichtet war. Sie sollte ihnen am Beispiel des koptischen Einsiedlers Antonius (gest. 357) darstellen, wie der Asket mit den Dämonen ringt, um schließlich zur Vollkommenheit zu gelangen. Adolf von Harnack schrieb, „daß kein Schriftwerk verdummender auf Ägypten, Westasien und Europa gewirkt hat“, und stellt fest, daß es „neben dem Reliquienkult die Hauptschuld an dem Einzug der Dämonen, der Mirakel und allen Spuks in die Kirche“ hat (Adolf Harnack: Das Leben Cyprians von Pontus. Die erste christliche Biographie, Leipzig 1913, S. 81, Anm. 2).

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zugeschriebene Version des Handbuchs ist in einer ganzen Reihe von mittelalterlichen Handschriften überliefert, ein Zeichen für ihre Beliebtheit. Das Gleiche gilt für eine stärker verchristlichte Version, die sogenannte ,christliche Paraphrase‘, die alles nicht mit der christlichen Orthodoxie Übereinstimmende eliminierte, Bibelzitate einflocht und mönchische Lebensformen zur Geltung brachte – wo Epiktet vom „Philosophen“ spricht, ist nun vom „Anachoreten“ die Rede, die „Freuden der Liebe“ werden zu „Dingen des Leibes“ neutralisiert und die „Frau“, die bei Epiktet immerhin noch vorkommt, wird gerne ausgelassen. Neben den mehr oder weniger christlich überformten Versionen des Encheiridions waren im Mittelalter Florilegien verbreitet, die einzelne markante Aussagen Epiktets sammelten. Ähnlich verfuhren die SenecaFlorilegien.90 Sogar im Gewand von Florilegien auftretende Spruchsammlungen und Anweisungen anderer Autoren wurden Seneca zugeschrieben. Dazu gehört die in über 600 Handschriften überlieferte, seit dem 10. Jahrhundert mit dem Namen Senecas etikettierte, außerordentlich wirkungsreiche kleine Schrift De quattuor virtutibus cardinalibus (,Formula honestae vitae‘),91 die in ihren Abschnitten über die Kardinaltugenden prudentia, magnanimitas, continentia und iustitia eine knappe Alltagsethik mit wörtlichen Seneca-Anleihen bietet. Daß sie ohne die asketische Härte der alten Stoa auskam und eine eher urbane Lebensklugheit empfahl, machte sie zu einem der meistgelesenen Bücher des späten Mittelalters. Von einem anderen Autor stammt die Sammlung der sogenannten Proverbia Senecae. 92 Schon im dritten oder vierten Jahrhundert n. Chr. entstanden die in karolingischer Zeit durch „breves sententiae“ erweiterten, im Mittelalter sogar als Schullektüre beliebten, 90 Zu den Seneca-Florilegien des Mittelalters: Birger Munk Olsen: Les classiques latins dans les floril ges mdivaux antrieurs au XIIIe si cle, in: Revue d’histoire des textes 9, 1979, S. 47 – 121; 10, 1980, S. 115 – 164. 91 Der Verfasser ist Martin, Erzbischof von Braga (Portugal), der in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts lebte. Ausgabe: Claude W. Barlow: Martini episcopi Bracarensis opera omnia, New Haven 1950, S. 236 – 250 (mit wertvoller Einleitung). Zu diesem ganzen Genre vgl. E. Matthews Sanford: The Use of Classical Latin Authors in the Libri Manuales, in: Transactions and Proceedings of the American Philological Association 55, 1924, S. 190 – 248, sowie Günter Glauche: Schullektre im Mittelalter. Entstehung und Wandlungen des Lektrekanons bis 1200 nach den Quellen dargestellt. München 1970. 92 Es handelt sich um Sprüche des römischen Mimendichters Publilius Syrus (1. Jahrhundert v. Chr.). Erst Erasmus erkannte, daß die Sammlung von diesem Autor stammt. Ausgabe: Wilhelm Meyer: Publilii Syri sententiae. Leipzig 1880.

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bis in die Renaissance hinein vielgelesenen und noch von Opitz aufgegriffenen Dicta Catonis 93 – der stoischen Exempelfigur Cato zugeschriebene Sprüche trivialen Inhalts und in schlichter Sprache, die meistens nur durch die Zuschreibung an Cato erinnern. Hauptsächlich auf diesem Niveau vermochten sich mehr oder weniger stoische Vorstellungen im Mittelalter weit zu verbreiten. Das Gefälle läßt sich auch daran erkennen, daß nicht die anspruchsvolleren, von dem Geschichtsschreiber und Epiktet-Schüler Arrian aufgezeichneten Gesprche (,Diatriben‘, ,dissertationes‘) Epiktets, sondern das knappe und einfach formulierte Handbuch (Encheiridion) mehr zur Geltung kam, und daß dieses auch nicht mehr auf dem Niveau kommentiert wurde, das in der Endphase der heidnischen griechischen Philosophie der Platoniker und bedeutende Aristoteles-Kommentator Simplikios (ca. 500 – 560 n. Chr.) mit seinem Kommentar zum Encheiridion erreicht hatte. Obwohl später die Humanisten erstmals die antiken und so auch die stoischen Texte durch philologische Editionen zugänglich machten, unter denen die großen Seneca-Ausgaben des Erasmus von Rotterdam (1515; eine zweite, wesentlich verbesserte Auflage erschien 1529) 94 und des Justus 93 Ausgaben: Marcus Boas: Disticha Catonis. Amsterdam 1952; John Wight Duff/ Arnold M. Duff: Minor Latin Poets, London 1935, S. 583 – 629 (lat.–engl.). Vgl. Marcus Boas: Die Epistola Catonis. Amsterdam 1934; Richard Hazelton: The Christianization of Cato. The ,Disticha Catonis‘ in the Light of Mediaeval Commentaries, in: Mediaeval Studies 19, 1957, S. 157 – 173; Fidel Rädle: ‘Disticha Catonis‘ – eine Schulfibel des Abendlandes, in: Altsprachlicher Unterricht 38, 6, 1995, S. 45 – 48. 94 Die Ausgabe von 1529 erfuhr im 16. Jahrhundert eine ganze Reihe von Neuauflagen: Basel 1537, 1541, Lyon 1555, Paris 1580. Zum ersten Mal trennte sie auch mehrere unechte Seneca-Schriften von den echten. So sonderte Erasmus aus dem mittelalterlichen Seneca-Corpus die Formula vitae honestae, De moribus und die sogen. Proverbia Senecae aus, vor allem aber erklärte er den überlieferten Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus für gefälscht. Dennoch druckte er diese apokryphen Schriften auch in seiner kritischen Edition ab. Folgenreich war auch die umfassende Würdigung von Senecas Werk und Persönlichkeit, die Erasmus seiner Ausgabe voranstellte. Den Ethiker Seneca schätzt er hoch, einschränkend fügt er aber hinzu, daß einige seiner stoischen Hauptlehren im Widerspruch zur „Christiana philosophia“ stehen, so seine Vorstellung von einer immanenten Gottheit, das Fehlen des Unsterblichkeitsglaubens und die stoische Lehre von der Gottgleichheit des Weisen. Und als entschiedener Bewunderer von Ciceros Stil lehnt er Senecas „grandiloquentia“ und „declamatoria affectatio“ ab – wie schon Quintilian in seiner berühmten, von einem klassizistischen Stilideal ausgehenden Seneca-Kritik in der Institutio oratoria (X, I, 128 – 130).

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Lipsius (1605) hervorragen, blieben für die Nachwirkung Senecas wie Epiktets derartige Florilegien weiterhin über Jahrhunderte wichtig. Beliebt waren nicht zuletzt Seneca-Florilegien unter christlichem Vorzeichen, so die anonym erschienene, von dem Jesuiten Johann Baptist Schellenberg (1586 – 1645) auf dem Höhepunkt des Neustoizismus zusammengestellte Blütenlese Seneca christianus id est Flores christiani ex L. Ann. Senecae Epistolis collecti (Augsburg 1637) – ein Bestseller bis ins 18. Jahrhundert, auch in deutscher Übersetzung.95 Für Epiktets Werke selbst fiel erst im Humanismus eine so bei Seneca nicht vorhandene sprachliche Barriere. Erst jetzt wurden sie aus dem griechischen Original ins Lateinische übersetzt.96 Von der Spätantike über das Mittelalter hinaus bis in die Zeit der Renaissance und des Barock, also bis zur großen frühneuzeitlichen, in einem eigenen ,Neustoizismus‘ sich entfaltenden Blüte der stoischen Ethik im 16. und 17. Jahrhundert läßt sich von einer heidnisch-christlichen Mischtradition sprechen. Sie prägte sich in einem breiten Spektrum unterschiedlicher, jeweils historisch bedingter Möglichkeiten aus. In der Phase des frühen Christentums hatten die Kirchenväter, die mit ihren Schriften bis ins 17. Jahrhundert hinein Autoritäten allerersten Ranges blieben,97 das vorchristliche antike Erbe, sei es platonisch, neuplatonisch oder stoisch, teils assimiliert, teils in den offenkundig nicht kompatiblen Teilen weggelassen, zurückgewiesen oder uminterpretiert. Sie lebten selbst im Fluidum einer auch schon für die nichtchristliche Spätantike charakteristischen synkretistischen Mischkultur, die in der hellenistisch-römischen Universalzivilisation vom Orient über Griechenland bis in den Westen reichte. Schon das Neue Testament 95 Vgl. Carlos Sommervogel: Biblioth que de la Compagnie de Jsus, 12 Bde, Brüssel/ Paris 1890 – 1932, Bd. 7, S. 741 f. 96 Unmittelbar vor der Eroberung Konstantinopels (1453) durch die Türken, die der griechisch-byzantinischen Welt einen entscheidenden Schlag versetzte, übersetzte Nicolaus Perotti (1450) Epiktets Handbuch, etwas später Angelo Poliziano, dessen Text 1497 im Druck erschien; im 16. Jahrhundert folgte die lateinische Übersetzung der Gesprche durch Jacob Schegkius (1554). 97 Bezeichnenderweise hatte Papst Leo der Große, die Schlüsselfigur für die Formierung der kirchlich organisierten Orthodoxie, unmittelbar nach der Fixierung der zentralen Dogmen im Credo die Statuten des Konzils von Chalzedon (451) als streng verpflichtend festgeschrieben und in diesen Statuten an erster Stelle die kanonische Geltung der Kirchenväter: „Canones, qui a sanctis Patribus usque ad hanc synodum tenuerunt, teneri justum diximus“ (Sancti Leonis Magni Romani Pontificis opera omnia. Tomus tertius, Paris 1865, S. 856 (PL 56).

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zeugt ja nicht nur von Spuren, sondern von fundamentalen Vorstellungsformen der antik-philosophischen Tradition, insbesondere gilt das bereits für Paulus, wie zahlreiche Forschungen nachgewiesen haben.98 Einer der berühmtesten Evangelientexte, der Beginn des wohl um 100 n. Chr. im griechischen Kleinasien entstandenen Johannes-Evangeliums, der vom göttlichen Logos als dem Grund von allem spricht, ist ohne die griechische Logos-Philosophie, die in der Stoa ihre entschiedenste Ausprägung fand, ebensowenig denkbar wie die im gleichen Evangelium Jesus selbst in den Mund gelegte universalistische Pneuma-Lehre ohne diejenige der Stoa.99 Sogar der aus der jüdischen Religion hervorgegangene Monotheismus, der Juden wie Christen in schwere Auseinandersetzungen mit dem im römischen Staatskult verankerten antiken Polytheismus verwickelte, konnte in mancherlei Weise mit der griechisch-philosophischen Tradition vereinbar erscheinen. Dies gilt nicht nur für den Platonismus, sondern auch für die Stoa. Weil die stoische Logoslehre auf ein alles bestimmendes Prinzip hinauslief, das mythologisierend als „Zeus“ bezeichnet wurde, konnte sie monotheistisch verstanden werden. Im Kapitel über Zenon und die grundlegenden Lehren der Stoa spricht Diogenes Laërtios vom „gemeinsamen Nomos, welcher der richtige Logos ist, der alles durchwaltet, identisch mit Zeus, dem Herrscher über die Ordnung des Seienden“.100 In dem einzigen Text 98 Max Pohlenz: Paulus und die Stoa, in: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft 42, 1949, S. 69 – 104. Abraham J. Malherbe: Paul and the Thessalonians: The Philosophic Tradition of Pastoral Care. Philadelphia 1987. Ders.: Paul and the Popular Philosophers. Minneapolis 1989. Ders.: Hellenistic Moralists and the New Testament, in: Aufstieg und Niedergang der rçmischen Welt, hg. von Hildegard Temporini und Wolfgang Haase (ANRW) II 2. 16. 1, 1992, S. 268 – 333. Vgl. auch Abraham J. Malherbe: Moral Exhortation: A Greco-Roman Sourcebook. Ed. Wayne A. Meeks. Philadelphia 1986 (Library of Early Christianity 4). Troels Engberg-Pedersen: Paul and the Stoics. Edinburgh/Louisville 2000. Ders.: Stoicism in the Apostle Paul: A Philosophical Reading, in: Stoicism. Traditions and Transformations, Edited by Steven K. Strange. Cambridge 2004, S. 52 – 75. 99 Joh. 4, 24: „Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit (1m pme¼lati ja· !kghe¸ô) anbeten“. Vgl. SVF II 112, 31: b he¹r pmeOla moeq¹m ja· !¸diom– „Gott ist Pneuma, geistig und unsichtbar“. Vgl. Gérard Verbeke: L’volution de la doctrine du pneuma du stocisme St. Augustin. Paris 1945. 2. Auflage 1951. 100 b mºlor b joimºr, fspeq 1st· b aqh¹r kºcor, di± p²mtym 1qwºlemor b aqt¹r £m t` Di¸, jahgcelºmi to¼t\ t/r t_m emtym dioij¶seyr emti. Diogenes Laërtios VII 88 (SVF I, Nr. 162).

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der alten griechischen Stoa, der vollständig erhalten ist, im Zeushymnos des Kleanthes,101 zeichnet sich die monotheistische Lesart besonders deutlich ab. Obwohl solche Vorstellungen anders als der christliche Monotheismus in einem innerweltlichen, pantheistischen Denken aufgingen102 und das monistisch-pantheistische Denken der Stoa eine unaufhebbare Differenz zum Dualismus des Christentums bedeutete, spielte bei Seneca und noch deutlicher bei Epiktet gelegentlich die Vorstellung eines persönlichen Gottes herein. Zwar handelte es sich hier um eher punktuelle Affinitäten, aber sie ließen die Stoa manchen christlichen Schriftstellern doch bis zu einem gewissen Grade assimilierbar erscheinen. Eine besondere Rolle für viele spätere Vermittlungsversuche zwischen dem nichtchristlichen philosophischen Monotheismus der Antike und dem christlichen Monotheismus spielte das von Marcus Minucius Felix um 200 n. Chr. unter dem Titel Octavius verfaßte Streitgespräch zwischen einem Christen und einem Nichtchristen.103 Der christliche Verfasser, als bedeutender Anwalt ein Angehöriger der römischen Oberschicht, wollte die gebildeten Römer für das Christentum gewinnen, indem er die heidnischen Philosophen, unter ihnen auch die Stoiker (in Kap. 19, 10 – 11), als Verbündete darstellte und die Verwandtschaft des stoischen und des christlichen Gottesbegriffs hervorhob. Viele seiner Formulierungen stammen aus Ciceros Schrift De natura deorum, aus anderen Schriften Ciceros sowie von Seneca, insbesondere aus dem Traktat De providentia. Mit diesem Versuch, die Übereinstimmung des philosophischen und des christlichen Monotheismus nachzuweisen, trug Minucius Felix zur Akzeptanz des von den gebildeten Römern bisher verachteten Christentums erheblich bei – Tacitus hatte 101 SVF I, Nr. 537 (überliefert bei Stobaios Ecl. I 2, 12 p. 25, 3). Deutsche Übersetzung in Ueberwegs Grundriss (wie Anm. 1), S. 577 f. (mit Kommentar). 102 Besonders deutlich ist die Verbindung einer quasi monotheistischen Vorstellung mit einem monistisch-immanenten Konzept in einer prägnanten Formulierung Marc Aurels: „Denn es gibt eine Welt aus allem, und einen Gott durch alles und eine Substanz und ein Gesetz, den Logos, der allen geistigen Wesen gemeinsam ist“ – jºslor te c±q eXr 1n "p²mtym ja· he¹r eXr di’ "p²mtym ja· oqs¸a l¸a ja· mºlor eXr, kºcor joim¹r p²mtym t_m moeq_m f]ym (Selbstgesprche VII 9). 103 Vgl. die lateinisch-deutsche Ausgabe von Bernhard Kytzler: M. Minucius Felix: Octavius. München 1965 und Darmstadt 1993. Vgl. Carl Becker: Der ,Octavius‘ des Minucius Felix. Heidnische Philosophie und frhchristliche Apologetik. München 1967 (Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse. 2).

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es noch als einen aus dem Weg zu räumenden Aberglauben („superstitio exitiabilis“) verabscheut. Die Kirchenväter, so Laktanz und Hieronymus, schätzten dieses Werk, Augustinus zog es für seine Confessiones heran. Wirkungsgeschichtlich fungierte es als eine der frühen Weichenstellungen für stoisch-christliche Synthese-Versuche. Auf die ersten Ausgaben durch Humanisten des 16. Jahrhunderts folgten zahlreiche Editionen, auch aufgrund der eleganten und lebendigen Darstellungsweise. Wie sehr es gerade im Hinblick auf den Monotheismus den frühchristlichen Schriftstellern darauf ankam, auch Vorstellungen nichtchristlicher Philosophen, insbesondere der Stoiker zu assimilieren, zeigt eine Anweisung Augustins in seiner Schrift De doctrina christiana. Wie das Volk Israel bei seinem Auszug aus Ägypten Gold und Silber mitnahm, so müsse der Christ den Heiden ihre „äußerst nützlichen Moralvorstellungen (morum praecepta utilissima), ja in betreff der Verehrung des einen Gottes (deque ipso uno Deo colendo) […] einiges entwenden, um es in der Verkündigung des Evangeliums auf richtige Weise zu verwenden“.104

Neuplatonische Überformung stoischer Vorstellungen bei Boethius. Dessen tausendjährige Wirkung Das Denken des Göttlich-Einen, das alles aus sich hervorbringt und wieder in sich zurücknimmt, erreichte einen Höhepunkt im Neuplatonismus. Von Plotin (ca. 205 – 270 n. Chr.) begründet und von Proklos (ca. 410 – 485 n. Chr.) systematisiert, wurde er schließlich von PseudoDionysius Areopagita (5. Jh. n. Chr.) christlich formiert und immens wirkungsreich in die Mystik und in mystische Strömungen vermittelt. Er nahm wesentliche Momente der Stoa in sich auf,105 soweit sie mit der platonischen Tradition harmonisierbar erschienen – und mit der neuplatonischen Einschmelzung stoischer Vorstellungen war eine weitere Transformationsstufe eines Stoizismus erreicht, den das vom Neuplatonismus stark geprägte Christentum zu amalgamieren vermochte. Daß aber auch eine manchmal verwirrende Gemengelage aus Stoizismus und Neuplatonismus im frühen Christentum entstehen 104 De doctrina christiana II, XL 60. CSEL 80, 6, 6, 1963, S. 75 f.. 105 Willy Theiler: Plotin zwischen Platon und Stoa, in: Les Sources de Plotin (Entretiens sur l’Antiquité Classique V). Vandoeuvres-Genève 1957. Andreas Graeser: Plotinus and the Stoics. A preliminary study. Leiden 1972.

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konnte, bezeugt ein literarisches Werk, das im Mittelalter zu den am meisten rezipierten Texten gehörte, wie über 400 noch erhaltene Handschriften und sein großer Einfluß auf die mittelalterliche Bildung zeigen: die Schrift De consolatione philosophiae des Boethius (523/24). Sie überformt neuplatonisch die alte und später vor allem von Seneca gepflegte und spezifisch stoisch geprägte Form der literarischen consolatio. Zugleich schließt sie die stoisch-„philosophische“ Überwindung der Fortuna ein, weil, wie es in einer ganz von stoischen Argumenten bestimmten Partie heißt (II, 4), das wahre Glück von äußeren Gütern unabhängig ist. Obwohl Boethius paradoxerweise nichts mit der Stoa zu tun haben will (I, 3), empfiehlt die visionär personifizierte Gestalt der Philosophia, die ihm im Gefängnis erscheint, ganz stoisch schon im 1. Buch als Seelentherapie die Beseitigung des Schmerzes. Dafür gelte es die Ataraxie, d. h. die Freiheit von den Affekten zu erlangen. Das höchste Gut ist für Boethius allerdings nicht mehr wie in der Stoa der auf Vernunft gegründete autonome sittliche Wille, in dem sich die stoische Tugend – die Virtus – vollendet, sondern Gott. Im Gegensatz zu den trügerischen Gütern der Fortuna106 liegt bei ihm das wahre Glück, wie der erste Teil (Buch 1 – 3) ausführt. Doch bekennt sich Boethius immer wieder auch zu einem vernunftbestimmten Leben, und am Ende des vierten Buches erscheint, ganz nach der zum stoischen Musterbeispiel avancierten Fabel des Prodikos,107 Herkules als leuchtendes Vorbild der Virtus: Schon längst hatten die Stoiker die von Xenophon in seinen Erinnerungen an Sokrates erzählte und dann auch von Cicero weitergetragene Fabel des Sophisten Prodikos kanonisiert. In ihr entscheidet sich der größte Held der antiken Mythologie am Scheidewege zwischen Lust (hedoné) und Tugend (virtus) für die Tugend. Das Werk des Boethius, „the best seller for a thousand years or so“,108 verbreitete sich im Mittelalter auch mit zahlreichen Kommentaren. Den ersten schrieb Scottus Eriugena, ein besonders einflußreicher 106 Hierzu Pierre Courcelle: La consolation de Philosophie dans la tradition littraire. Teil II: Le personnage de Fortune et ses biens, Paris 1967, S. 103 – 158 (mit großer Bilddokumentation vor allem aus alten Handschriften). Vgl. auch das gut bebilderte und darstellende Werk von Ehrengard Meyer-Landrut: Fortuna. Die Gçttin des Glcks im Wandel der Zeiten. München/Berlin 1997 (mit Bibliographie). 107 Zur immensen Wirkungsgeschichte vgl. S. 297 – 302, 320 – 329. 108 Howard Rollin Patch: The Tradition of Boethius: A study of his importance in medieval culture, New York 1935, S. 1.

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stammt von Wilhelm von Conches (1080 – 1145). Mindestens so wichtig waren Übersetzungen, die bereits mit der frühesten Literatur der Volkssprachen entstanden.109 Bis in die Renaissance hinein wurden sie immer wieder von Königen und großen Dichtern als eine auszeichnende Herausforderung empfunden. In besonderem Maße galt dies für England. Angelsächsisch ist schon die älteste Übersetzung von König Alfred dem Großen (848 – 900), die oft paraphrasierend und über das Original hinausgehend die Untertanen christlich erbauen sollte. Ein Markstein war die mit Erläuterungen versehene Übersetzung von Chaucer (1340 – 1400). Bezeichnenderweise in der Zeit, in der sich der Neustoizismus formierte, übersetzte Königin Elisabeth (1533 – 1603), die Gegenspielerin der Maria Stuart, das Werk des Boethius fast wörtlich. Ebenso charakteristisch ist es, daß auch bedeutende niederländische Übersetzungen gerade erschienen, als der Neustoizismus seine Hochkonjunktur hatte: 1585, ein Jahr nach der Erstauflage des von Justus Lipsius verfaßten neustoischen Standardwerks De constantia und an dem Ort, an dem diese Leitfigur des europäischen Neustoizismus wirkte, in Leiden, veröffentlichte der niederländische Dichter Coornhert (1522 – 1590) seine neue Übersetzung der Consolatio. Er stand eine zeitlang als Staatssekretär von Holland im Dienst Wilhelms von Oranien und hatte eine vernunftbasierte Ethik aus stoischem Geist entworfen. Ein Gesamtüberblick über die immense Wirkungsgeschichte zeigt, daß das Werk des Boethius nicht nur in den Klöstern – Notker Labeo (ca. 950 – 1022) schuf in St. Gallen die erste deutsche Übersetzung von Rang – sondern auch an den Königshöfen hochgeschätzt wurde, daß es schon lange vor der Editio princeps des Originals (Savigliano 1471) eine europäische Verbreitung fand, daß schließlich in diesem Medium ein platonisch, neuplatonisch und stoisch imprägniertes und gerade in dieser Mischung auch christlich zu vermittelndes Denken eine besondere Attraktion gewann – umso mehr, als der auf einer ähnlichen Mischtradition basierende Augustinismus die bestmögliche Legitimation bot.110 Selbst in großen Bildprogrammen wirkte die christlich überformte Mischung von Stoizismus und Neuplatonismus fort: Die umfangreichen Bodenintarsien des Domes von Siena stellen Figuren be109 Hierzu: Ferdinand Sassen: Boethius – Lehrmeister des Mittelalters, in: Boethius, hg. von Manfred Fuhrmann und Joachim Gruber, Darmstadt 1984 (Wege der Forschung Bd. 483), S. 82 – 124. 110 Zur Bedeutung Augustins für Boethius selbst vgl. Raoul Carton: Le christianisme et l’augustinisme de Bo ce, in: Revue de Philosophie 30, 1930, S. 573 – 659.

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rühmter antiker Stoiker zusammen mit neuplatonisch konzipierten Bildkompositionen dar111 – buchstäblich unter dem „Dach“ der christlichen Kirche. Eine zeitübergreifende Debatte: ,Vorsehung‘ und schicksalhafte Determination in der Stoa und bei christlichen Autoren von der Antike bis in die Neuzeit Einen Anknüpfungspunkt besonderer Art bot für die christlichen Schriftsteller und die von ihnen ausgehende tausendjährige Tradition der von der Stoa entfaltete, auch von Boethius (IV, 6) intensiv behandelte Gedanke der Vorsehung (pqºmoia). Er hängt eng mit der für die Philosophie der Stoa grundlegenden Problematik des Determinismus zusammen.112 „Vorsehung“ war schon in der griechischen Stoa ein wichtiges Thema – Chrysipp verfaßte darüber eine eigene Abhandlung (peq· pqomo¸ar), ebenso Panaitios und Philon von Alexandria. Seine spätere Wirkungsgeschichte ging hauptsächlich von der lateinischen Überlieferung aus, besonders vom Panaitios-Referat in Ciceros Schrift De natura deorum (II 145 – 153) und von Senecas Traktat De providentia. Die stoische Vorstellung von einer Vorsehung hängt eng mit der naturphilosophisch verankerten stoischen Theorie vom alles regierenden und durchdringenden Logos zusammen. Da der Logos, der aufgrund seiner universell gültigen und durchgreifenden Gestaltungskraft vergöttlicht wurde, in einem konsequenten Ursache-Wirkungs-Zusam111 Vgl. hierzu den Beitrag von Klaus Mönig im vorliegenden Werk, S. XXX. 112 Vgl. SVF II, Nr. 1106 – 1186. Vgl. den Artikel Vorsehung II: Religionsgeschichtlich (griechisch und rçmisch) von Hildegard Cancik-Lindemaier, in: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG), 4. Auflage, Bd. 8, Sp. 1213 – 1214; den Artikel Vorsehung von Johannes Köhler im Historischen Wçrterbuch der Philosophie, Bd. 11, Sp. 1206 – 1218. Zur Patristik: Silke-Petra Bergjan: Der frsorgende Gott. Der Begriff der PQOMOIA Gottes in der apologetischen Literatur der Alten Kirche. Berlin/New York 2002. Zu den wirkungsgeschichtlich wichtigsten antiken Quellentexten gehören Ciceros Schrift De fato und Alexanders von Aphrodisias gleichnamiger (Stoa-kritischer) Traktat. Vgl. Susanne Bobzien: Determinism and Freedom in Stoic Philosophy. Oxford 1998. Dies.: The inadvertent conception and late birth of the free-will problem, in: Phronesis 43, 1998, S. 133 – 175. Einen Überblick bietet James Hankinson in: The Cambridge History of Hellenistic Philosophy, hg. von Keimpe Algra, Jonathan Barnes und Malcolm Schofield, Cambridge 1999, Kap. 14 und 15. Dorothea Frede: Stoic Determinism, in: The Cambridge Companion to the Stoics, hg. von Brad Inwood, Cambridge 2003, S. 179 – 205 (überarbeitete deutsche Fassung im vorliegenden Band).

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menhang von Anfang an alles zukünftige Geschehen schon in sich trägt und sich in der Ursachenkette, in der „series causarum“ entfaltet, wurde ihm Intentionalität zugeschrieben. Sofern sich eine positive Gottesvorstellung mit ihm verband, ergab sich daraus die Annahme einer „Vorsehung“ und sogar einer planvollen „Vorsorge“. Chrysipp, der produktivste Hauptvertreter der alten griechischen Stoa, hatte das Thema der Vorsehung noch auf die Natur und den in ihr wirkenden Logos bezogen. Den kosmischen, als Schicksal (Heimarmene) und Naturgesetz wirkenden Logos verband er mit dem Begriff der Vorsehung. Laut Stobaios, der wesentliche Aussagen aus den verlorenen Schriften der alten Stoa sammelte und insofern eine wichtige Überlieferungsinstanz ist, gab Chrysipp in seiner Schrift ber das Schicksal (peq· t/r eRlaql´mgr) folgende Definition: „Das Schicksal ist der Logos des Kosmos“, und zwar als „Logos der durch Vorsehung (pqºmoia) im Kosmos geordneten Verhältnisse“. Er ist ein „Logos, durch den das schon Entstandene entstanden ist, das gegenwärtig Entstehende entsteht und das in Zukunft Entstehende entstehen wird“.113 Analog formulierte Cicero in De divinatione,114 daß die Griechen das, was er als Fatum bezeichne, Heimarmene nennen, „d. h. die Ordnung und Aufeinanderfolge der Ursachen, indem eine Ursache, die ihrerseits mit einer Ursache zusammenhängt, etwas hervorbringt […] woraus erhellt, daß Fatum nicht das ist, was darunter in abergläubischer Weise, sondern in physikalischem Verständnis so genannt wird: die ewige Ursache der Dinge, aus der sowohl das Vergangene entstanden ist als auch das Gegenwärtige entsteht und dasjenige folgt, was in Zukunft sein wird“.115 Doch verschiebt sich der als physikalischer Kausalnexus aufgefaßte Schicksalsbegriff und der mit ihm gegebene Begriff der pqºmoia in die Richtung einer diesem innerweltlichen Fatum vorgeordneten göttlichen Vorsehung so weit, daß vom Hauptvertreter der mittleren Stoa, von Panaitios in seiner Schrift ber die Vorsehung (peq· pqomo¸ar) und dann von Seneca in dem Traktat De providentia im Kern schon das Theodizee-Problem aufgeworfen wird.116 Hier ist einer der markanten 113 SVF II, Nr. 913. 114 I 55, 125. SVF II, Nr. 125. 115 […] „id est ordinem seriemque causarum, cum causa causae nexa rem ex se gignat […] Ex quo intellegitur ut fatum sit non id quod superstitiose, sed id quod physice dicitur, causa aeterna rerum, cur et ea quae praeterierunt facta sint, et quae instant fiant, et quae sequentur futura sint“. 116 Zum Problem der stoischen Theodizee vgl. Dorothea Frede: Theodicy and Providential Care in Stoicism, in: Traditions of Theology. Studies in Hellenistic

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Fälle, in denen sich manche christlichen Schriftsteller, für welche die „Vorsehung“ ebenfalls ein großes Thema war, mit den Stoikern im Bunde gegen die Epikureer glaubten, die den Gedanken der Vorsehung strikt ablehnten. Beispielhaft wird aber auch erkennbar, wo der entscheidende Unterschied liegt: Während die Stoiker kaum mehr als eine welt-immanente „Vorsehung“ statuieren, schreibt die christliche Orthodoxie die Vorsehung einem transzendenten, personalen Gott zu, der nicht nur einfach ,voraussieht‘, was geschehen wird, sondern aus eigener freier Willensvollkommenheit disponiert, so daß sich die Kongruenz mit einem naturgesetzlichen Fatum nicht oder nur mit einem erheblichen Aufwand von Sophisterei ergibt. Augustinus, noch beeindruckt durch die Vorstellungen der Stoiker, die er referiert, läßt in seinem Hauptwerk De civitate dei 117 den Übergang in die christliche Anschauung erkennen. Thomas von Aquin setzte sich in mehreren Werken mit der stoischen Lehre vom Fatum auseinander, so in der Schrift Peri hermeneias,118 in der Summa Theologiae, in der er ausführt, daß alles der göttlichen Vorsehung unterworfen ist: das Zufällige, das im vordergründigen Erfahrungsbereich als solches wahrgenommen wird, und die höhere Ursache, das Fatum.119 Dennoch, so statuiert er in der Summa contra gentiles, schließe dies die Willensfreiheit nicht aus.120 Auch die Reformatoren führen den Diskurs über das stoische Fatum und die christliche Auffassung der

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Theology, its Background and Aftermath, hg. von Dorothea Frede & André Laks, Leiden 2002, S. 85 – 117. V 8. SVF II, Nr. 932. „[…] omnium conexionem seriemque causarum, qua fit omne quod fit, fati nomine appellant: non multum cum eis de verbi controversia laborandum atque certandum est, quandoquidem ipsum causarum ordinem et quandam conexionem Dei summi tribuunt voluntati et potestati, qui optime et veracissime creditur et cuncta scire, antequam fiant, et nihil inordinatum relinquere […]“ – „[…] den Zusammenhang von allem und die Abfolge der Ursachen, wodurch alles entsteht, was geschieht, bezeichnen sie als Fatum: man sollte sich mit ihnen nicht in der Kontroverse um dieses Wort abmühen und darüber streiten, denn in gewisser Weise schreiben sie die Ordnung der Ursachen und ihre Verbindung dem Willen und der Verfügungsmacht des höchsten Gottes zu, von dem geglaubt wird, daß er am besten und wahrhaftesten alles weiß, bevor es geschieht, und daß er nichts ungeordnet läßt […].“ Sancti Thomae de Aquino Opera omnia iussu Leonis XIII P. M. edita (= Editio Leonina), Bd. 1: In libros Peri hermeneias expositio, 1983, 1, 14. Editio Leonina, Bde. 4 – 12: Summa theologiae cum Supplemento et commentariis Caietani, 1888 – 1906, I q. 116 a I. Editio Leonina, Bde. 13 – 15: Summa contra Gentiles cum commentariis Ferrariensis, 1918 – 1930, 3, 73.

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Vorsehung fort. Zwingli zeigt sich in seiner Schrift Sermonis de providentia dei anamnema 121 (1530) bewandert in den stoischen Vorstellungen, denn er greift die stoische Lehre von der All-Natur auf und schreibt, Plinius „habe dasjenige als Kraft der Natur bezeichnet, was wir Gott nennen“, und zwar weil er den antiken Polytheismus verabscheute und an eine einzige göttliche Macht glaubte („Tum postremo C. Plinium, quod naturae potentiam esse dixit, quod deum vocemus. Abhorrebat enim doctissimus vir a deorum vulgo […] hinc fiebat, quod deos negaret esse, numen autem revera non negaret“).122 Ausführlich zitiert Zwingli die gegen die Annahme einer Vielzahl von Ursachen bei Platon und Aristoteles gerichtete stoische Position, die Seneca in einer der Epistulae morales ad Lucilium formuliert.123 Seneca unterscheidet zwischen der allein wirkungsmächtigen primären Ursache („causa efficiens“),124 die zugleich die generelle Ursache ist („nos de causa generali quaerimus“), und einer sekundären Ursachenvielfalt, die er unter dem Oberbegriff „causa […] superveniens“ ebenso abwertet wie ihre Pluralität: „Hae autem innumerabiles sunt“. Zwinglis Version lautet: „Weil aus Einem und in Einem alles ist, besteht, lebt, sich bewegt und wirkt, ist jenes Eine die alleinige und wahre Ursache der gesamten Dinge“; die Zweitursachen sind keine wirklichen Ursachen, „sondern Hände und Werkzeuge [Seneca hatte sich gegen den Demiurgenmythos in Platons Timaios gewandt], mit denen der ewige Geist arbeitet“; und nun schlägt er doch noch die Brücke zum christlichen Vorsehungsglauben mit der teleologisierenden Formulierung: „nichts geschieht zufällig und planlos […], weil jener gebietende Intellekt die Haare unseres Hauptes gezählt hat (Mt 10, 30)“.125 121 Sermonis de providentia dei anamnema. In: Corpus Reformatorum, Bd. 93/3 = Huldreich Zwinglis Smtliche Werke, Bd. VI, III. Teil, Zürich 1983 (mit aufschlußreichem Kommentar). Der Titel (,Erinnerung an die Predigt von der Vorsehung Gottes‘) erklärt sich aus dem Wunsch des Landgrafen Philipp, Zwingli möge die von ihm anläßlich des berühmten Marburger Gesprächs in der Marburger Schloßkirche am 29. September 1529 frei gehaltene Rede über die Vorsehung schriftlich herausbringen. 122 S. 97. Die Bezugsstelle bei Plinius, naturalis historia, II 14 f. 27. Vgl. naturalis historia XXXVII 205: „Salve, parens rerum omnium Natura“. 123 Epist. 65, 12 ff. Zwingli S. 107 ff. 124 Zur stoischen Kausalitätsvorstellung und zum Begriff der causa efficiens vgl. Michael Frede: The original notion of cause, in: Doubt and Dogmatism, hg. von Jonathan Barnes, Myles Burnyeat und Malcolm Schofield, Oxford 1980, S. 217 – 249. 125 Ebda. 22. 114.

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Entschieden kritisch dagegen argumentiert Melanchthon, der „praeceptor Germaniae“, der am markantesten das Bündnis von Reformation und christlichem Humanismus verkörperte, die protestantische Gelehrtenschule begründete und für Jahrhunderte auf das humanistische Schulwesen wirkte. Melanchthon übernahm gerade nicht Senecas Abwertung der Zweitursachen innerhalb des stoisch-monistischen Horizonts. Im Hinblick auf die pantheistische Immanenzlehre der Stoa deklarierte er vom Standpunkt christlich-dualistischer Orthodoxie die stoische Immanenz an sich schon zur Sphäre bloßer Zweitursachen: Die Stoiker wollten als die entschiedensten Verfechter der Vorsehung gelten. Aber sie legen Gott Fesseln an, welche die Vorsehung zum größten Teil unbrauchbar machen. Sie binden Gott nämlich an die Zweitursachen und denken, er könne nur so handeln oder bewegen, wie die Zweitursachen wirken. Damit machen sie Gott zugleich zur Ursache der guten und schlechten Dinge und Handlungen. Solcher Unfug ist zu verdammen und zu verabscheuen. Denn welchen Sinn hat eine Anrufung [im Gebet], wenn man meint, Gott könne nicht in die Zweitursachen eingreifen? 126

Ein charakteristischer Unterschied zwischen der christlichen und der stoischen Konzeption der Vorsehung zeichnet sich auch in der aus der jüdisch-christlichen Eschatologie kommenden radikalen Teleologisierung des Vorsehungsdiskurses ab. Die Stoa hatte im Rahmen ihres zyklischen Immanenz-Denkens und eines entsprechenden zyklischen Geschichtsbildes vornehmlich Binnen-Teleologien etwa im Sinne von Zweckmäßigkeiten eines regulativen Naturprozesses angenommen, die nicht sofort und im Einzelnen, sondern erst im übergeordneten geschichtlichen Geschehen und „im Ganzen“ erkennbar seien. Im christlichen Vorsehungsdiskurs wird daraus etwas ganz anderes: ,Gottes unerforschlicher Ratschluß‘, der auf ein heilsgeschichtlich begriffenes Eschaton zielt. Der schon bei den antiken Stoikern selbst problembeladenen und dann vollends seit Boethius von unklaren Grenzziehungen gekenn126 Philipp Melanchthon: Initia doctrinae phisicae (1549). In: Corpus Reformatorum, Bd. 13, hg. von Karl Gottlieb Bretschneider, Halle 1846 (Reprint New York/ London/Frankfurt a.M. 1963), Sp. 205 f.: „Stoici videri volebant acerrimi propugnatores providentiae. Sed hi vincula iniiciunt Deo, quae providentiam magna ex parte inutilem faciunt. Alligant enim Deum ad causas secundas, et fingunt eum aliter agere, aut movere non posse, nisi sicut cient causae secundae. Inde extruunt Deum pariter causam esse bonarum et malarum rerum et actionum. Hi furores damnandi et execrandi sunt. Qualis enim erit invocatio, si mens existimet Deum non posse impedire causas secundas?“

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zeichneten Diskussion über Schicksal, Gott und Vorsehung widmet Justus Lipsius in seinem europaweit ausstrahlenden Werk De constantia (1584) eine intensive Diskussion. Er ist sich bewußt, daß er sich hier an der „Charybdis“ der stoischen Philosophie, „an der viele ihre Geister gelassen haben“,127 aber auch in einem zentralen Spannungsfeld zwischen Stoa und Christentum befindet. Seine Darstellung ist nicht nur deshalb aufschlußreich, weil Lipsius die Leitfigur des Neustoizismus ist, sondern vor allem weil er hier die christliche Position von der stoischen klar abgrenzt. Da in der dialogischen Disposition dieser Schrift Lipsius selbst nur den Part des lernenden Zuhörers spielt, während sein Freund Langius die Rolle des Unterweisenden übernimmt, bleibt es allerdings unsicher, ob er hier seine eigene Meinung äußert. Langius selbst formuliert sein entscheidendes Resumée pluralisch in der „Wir“-Form, womit er die Christen generell meint. Ja, indem Langius Formulierungen verwendet wie „nach unserer Auffassung“, „wir aber sagen“, indem er also nicht argumentiert, sondern eher nur doxographisch verfährt, muß es dahingestellt bleiben, ob Lipsius hier die von den stoischen abweichenden christlichen Positionen vertritt – darunter sogar die Annahme von „Wundern“, die Gott gegen die Naturordnung wirkt. Der zentrale Passus markiert vier Divergenzen: – Die Stoiker unterwerfen auch Gott dem Fatum. Und wenn beim Homer der Jupiter selbst so sehr er auch wollte, seine Sarpedonen aus den Banden des Fatums nicht befreien konnte, so sagen wir dagegen, daß das Fatum Gott zu unterstehen hat, weil er nach unserer Auffassung aus freiem Willen alles geschaffen hat und erhält und wann immer es ihm beliebt, die verwirrten Scharen und Windungen des Fatums überschreiten und zerreißen kann. – Außerdem stellen sie eine von Ewigkeit her folgende Reihe natürlicher Ursachen auf. Wir aber sagen, daß die natürlichen Ursachen nicht immer aneinander hängen (denn Gott hat bisweilen in seinen Vorzeichen und Wundern ohne, ja sogar gegen die Natur gehandelt) und daß sie auch nicht von Ewigkeit her aufeinanderfolgen, denn die zweiten Ursachen sind nicht ewig, weil es sie wahrhaftig erst seit Erschaffung der Welt gibt. – Drittens haben sie wohl den Dingen auch die eigenständige Entwicklungsmöglichkeit genommen. Wir dagegen sagen, daß auch et-

127 Vgl. S. 157 der in Anm. 128 genannten Ausgabe.

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liche Dinge, nachdem es sich mit den zweiten Ursachen so verhält, so und anders geschehen oder nicht geschehen können. – Schließlich scheint es, daß die Stoiker dem freien Willen Gewalt angetan haben […] Es gibt zwar ein Fatum, aber es ist nur die erste Ursache, die die zweiten und mittleren Ursachen nicht wegnimmt […] Aber unter den zweiten Ursachen ist auch dein freier Wille […] 128 Diesem vierten und letzten Einwand, auf den schon Chrysipp eingeht und den Cicero in seinem Traktat De fato erörtert,129 läßt Lipsius noch einen geradezu sophistisch eleganten Vorschlag zur Problematik des Verhältnisses von Fatum und Vorsehung folgen: „Aber er [Gott] hat es nur gesehen und niemanden dazu gezwungen; er hat es gewußt, aber nicht festgesetzt; er hat es vorhergesagt, aber es niemandem vorgeschrieben“.130 Erst Spinoza bereinigte in seiner Ethik diese Problematik, indem er strikt entteleologisierend feststellte, es gebe keine „causae finales“,131 weil die – von ihm mit Gott gleichgesetzte und insofern als immanente Totalität verstandene – Natur (deus sive natura) im Gegensatz zu den Menschen, die „alles um eines Zweckes willen tun“ 128 Justus Lipsius: De constantia – Von der Standhaftigkeit. Lateinisch-Deutsch. Übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort von Florian Neumann, Mainz 1998, S. 148 – 150. „Illi deum Fato subijciunt, nec Iupiter ipse apud Homerum, cum maxime vellet, Sarpedonem suum eripuit eius vinculis: at nos Fatum deo, quem liberrimum omnium rerum auctorem & actorem esse volumus & transscendere cum libuit ac rumpere implexa illa agmina & volumina Fati. Item illi ab aeterno fluentem seriem caussarum naturalium constituunt. nos nec naturalium caussarum semper, (deus enim prodigij aut miraculi caussa, saepe citra, imo contra naturam egit:) nec ab aeterno; quia secundae caussae non aeternae. Origo enim ijs certe cum mundo. Tertio, illi t¹ 1mdewºlemom sustulisse videntur e rebus: nos id reddimus, & quoties secundae caussae tales sunt, Contingens fortuitumque admittimus in eventis. Postremo, voluntati vim illi intulisse visi violentam. abest hoc a nobis, qui & Fatum ponimus, & in gratiam tamen reducimus cum arbitrij libertate. Ita enim Fortunae & Casus fallacem ventum fugimus, ut navim hanc ad Necessitatis scopulum non allidamus. Fatum est? sed prima nempe caussa. quae adeo secundas mediasque non tollit, ut non nisi (ordinatim quidem & ¢r 1st· t¹ pke?stom) per eas agat. At inter secundas, etiam Voluntas tua est […]“. 129 SVF II, Nr. 957, Nr. 958, Nr. 998. Cicero: De fato, cap. 30. 130 S. 150: „sed vidit, non coëgit; scivit, non sanxit; praedixit, non praescripsit“. 131 „[…] Omnes causas finales nihil, nisi humana esse figmenta“ (Spinoza: Opera/ Werke, Lateinisch und Deutsch, hg. von Konrad Blumenstock, 4 Bde, Bd. 2: Tractatus de Intellectus Emendatione, Ethica, Darmstadt 1967, S. 150).

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(„omnia propter finem agere“), keine Zwecke kenne. Nietzsche machte dies trotz all seiner Kritik an der Stoa, die vornehmlich deren Fixierung auf die „Moral“ galt, zu einem Angelpunkt seines Denkens in den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts.

Augustinus und die Stoa im Medium des Frühhumanismus: Petrarcas Secretum Die frühchristlichen Schriftsteller, d. h. vor allem die Kirchenväter mit ihrem teils assimilierenden, teils kritisch ablehnenden Verhältnis zur Stoa, bestimmten für mehr als ein Jahrtausend sehr weitgehend die Rezeption und die Transformation der Stoa, den selektiven Umgang und die Auseinandersetzung mit ihr. Denn in einer seit der Aufklärung für das moderne Bewußtsein nur noch schwer nachzuvollziehenden Weise galt bis ins 17. Jahrhundert hinein das Prinzip der auf Tradition beruhenden Autorität. Und die Kirchenväter, die nicht umsonst „Väter“ genannt wurden, verkörperten in besonderer Weise solche Autorität, seit sich im Prozeß der Dogmatisierung und Institutionalisierung die kirchliche Orthodoxie ausgeformt hatte – sie bildeten selbst einen wesentlichen Bestandteil dieser Orthodoxie.132 Von besonderer Bedeutung war Augustinus: zuerst im Mittelalter und darüber hinaus von Petrarca bis zu Pascal. Die Intensität der Augustinus-Rezeption reicht von Spurenelementen in reformatorisch inspirierten Florilegien und massenhaft verbreiteter geistlicher Erbauungsliteratur bis zu problembewußter Kenntnis und eigener Profilbildung, wie bei Luther, Melanchthon und in den Dramen des Andreas Gryphius, der die stoisch-patristische Überlieferung in seine augustinisch-reformatorische Vorstellungswelt einbezog.133 Dabei wurden auch innertheologische und schließlich konfessionelle Differenzen im Medium der Stoa-Rezeption ausgetragen. Schon im Ausgang des Mittelalters und vollends dann seit dem Humanismus gewann allerdings das durch Editionen neuerschlossene und nach der ungefähr gleichzeitigen Erfindung des Buchdrucks sofort weit verbreitete Originalschrifttum der Antike schnell an Bedeutung, und dies umso mehr, als die Renaissance der 132 Vgl. Anm. 97. 133 Hierzu grundlegend: Hans-Jürgen Schings: Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius. Untersuchungen zu den Dissertationes funebres und Trauerspielen. Köln/Graz 1966.

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Antike eine eigene Dignität und Autorität verlieh. Damit war eine neuartige Möglichkeit der Fundierung und Präzisierung, aber auch eine neuartige Konkurrenzsituation entstanden, die Spannungen erzeugte. Cicero vor allem in seinen späten Schriften, Seneca mit seinem Gesamtwerk und Epiktet sind nun voll präsente stoische Quellen. Im frühneuzeitlichen Säkularisierungsprozeß löste das in paradoxer Weise durch Rückgriff auf antike Traditionen bestärkte Neue die alten Glaubensvorstellungen nicht geradlinig ab. Es fand ein Übergang voller Verwerfungen und Überlagerungen statt, nicht selten verbanden sich, wie schon bisher, Bemühungen um Synthese mit Uminterpretationen, es gab artistisch inszenierte Ambivalenzen ebenso wie auf Trennschärfe bedachte orthodoxe Abgrenzungen, die meistens den schon in der Spätantike von den Kirchenvätern etablierten Argumentationsmustern folgten. In das Gesamtspektrum gehört aber auch immer wieder eine so bisher nicht erreichte Nähe zu der durch den Humanismus neu validierten antik-stoischen Ethik in ihrer authentischen Form. Daß es sich um kein homogenes und ungebrochen-lineares Geschehen handelt, läßt prototypisch schon an der Schwelle vom Spätmittelalter zur Frührenaissance Petrarcas „studium humanitatis“ erkennen.134 Es bezog intensiv die stoische Überlieferung ein, wie vor allem Petrarcas umfangreiche Abhandlung De remediis utriusque fortunae zeigt, die heute nur noch schwer genießbar ist, aber über Jahrhunderte am weitesten verbreitet war.135 Sie geht von Senecas fragmentarisch überliefertem 134 Hierzu grundlegend: Pierre de Nolhac: Ptrarque et l’humanisme. 2 Bde. Paris 1907. Nouvelle édition remaniée et augmentée, Paris 1965. Remigio Sabbadini: Le scoperte dei codici latini e greci ne’ secoli XIV e XV. Bd. 1. Firenze 1905. 135 Erstdruck und frühe Drucke in: Opera, Basel 1496; Venedig 1501, Venedig 1503, Basel 1554 (Nachdruck Ridgewood NI 1965); Basel 1581. Frühe Einzelausgaben und Übersetzungen: Lyon 1577, Bern 1595 u. ö. Erste italienische Übersetzung von R. Nannini, Venedig 1549. Erste deutsche, sehr bedeutend illustrierte Übersetzung von Peter Stahel (1. Teil) und Georg Spalatin (2. Teil): Franciscus Petrarcha. Von der Artzney bayder Glck, des guten und widerwertigen. Unnd wesz sich ain yeder inn Ge- / lck und unglck halten sol. Ausz dem Lateinischen in das Tetsch gezogen. Mit knstlichen fyguren / durch- / ausz, gantz lustig und schçn gezyeret. Gedruckt zu Augspurg durch Heynrich Steyner. MDXXXII. (Zahlreiche Nachdrucke, zuletzt: hg. und kommentiert von Manfred Lemmer, Hamburg 1984). Auswahlausgabe mit moderner deutscher Übersetzung: Francesco Petrarca: Heilmittel gegen Glck und Unglck. De remediis utriusque fortunae. Lateinisch-deutsche Ausgabe in Auswahl übersetzt und kommentiert von Rudolf Schottlaender. Herausgegeben von Eckhard Keßler (Humanistische Bibliothek. Reihe II: Texte. Band 18), München 1988. Vgl. die luzide Analyse von Marlene Meuer im vorliegenden Werk.

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Traktat De remediis fortuitorum aus und zeigt deutliche Spuren auch der auf das ganze Mittelalter ausstrahlenden Fortuna-Allegorie des Boethius. Schon wenige Jahrzehnte nach Petrarca, von 1396 bis 1399, verfaßte der Florentinische Kanzler Coluccio Salutati, ein hochgebildeter Humanist, die Schrift De fato et fortuna,136 in der die stoische Lehre vom Fatum mit der Gegenmacht der Fortuna systematisch und schon aus einem historischen Bewußtsein abgehandelt wird, unter Einbeziehung auch der epikureischen Gegenposition, der peripatetischen Lehre und des christlichen Providenz-Glaubens.137 Bereits für Petrarca spielten neben dem allgegenwärtigen Augustinus die für die stoische Überlieferung im Mittelalter und bis in die Neuzeit hinein maßgebenden, weil lateinisch schreibenden Autoren Cicero und Seneca eine herausragende Rolle.138 Auch für seine Epistolae familiares sind sie deshalb die prominentesten unter seinen fingierten Adressaten. In ,Briefen‘ an sie versucht er die Kluft zwischen der Antike und seiner eigenen Zeit zu überbrücken, indem er einen geistigen Austausch inszeniert. Generell aufschlußreich ist die Fülle der Zitate aus ihren Werken, die ihm nicht nur als gelehrte Garnierung dienen. Ihnen kommt begründende und legitimierende Funktion zu. Mit diesen stoischen Autoritäten der römischen Antike verquickt Petrarca als christliche Hauptautorität Augustinus teils wegen der Übereinstimmungen mit den vorchristlichen Stoikern, teils in deutlicher Wahrnehmung der Divergenzen, die er aber höchstens indirekt und so zur Sprache bringt, daß sich die christliche Lehre als Überbietung des stoischen Erbes ausnimmt. Ein Schlüsseltext für die Bedeutung der stoischen Ethik an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit ist Petrarcas postum erschienene Schrift Secretum,139 die er wahrscheinlich zwischen 1347 und 1353 136 Vgl. die mustergültige und mit einer großen, sehr gut fundierenden Einleitung versehene Ausgabe: Coluccio Salutati: De fato et fortuna. A cura di Concetta Bianca. Firenze 1985. Vgl. auch Berthold L. Ullman: The humanism of Coluccio Salutati. Padua 1963. 137 Vgl. besonders De fato et fortuna III, 5. S. 150 f. 138 Giuseppe Billanovich: Petrarca e Cicerone, in: Miscellanea Giovanni Mercati, IV, Città del Vaticano, Bibl. Apost. Vat., 1946. Ders.: Petrarca letterato. Rom 1947. Zu Seneca vgl. Aurelia Bobbio: Seneca e la formazione spirituale e culturale del Petrarca, in: La Bibliofilia 43, 1941, S. 224 – 291. 139 Im Folgenden zitiere ich (mit Einfügung eigener Übersetzungen) nach der Ausgabe: Francesco Petrarca: Secretum meum / Mein Geheimnis. LateinischDeutsch. Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort von Gerhard Regn und Bernhard Huss. Mainz 2004. Diese Ausgabe führt die lateinisch-

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verfaßte. In der Form persönlicher Rechenschaft erinnert sie in Vielem an Augustins Confessiones. 140 Diese Rechenschaft ist zeitlich und zugleich inhaltlich als ein sich über drei Tage hinziehendes fiktives Gespräch zwischen F (= Franciscus = Francesco Petrarca) und A (= Augustinus) disponiert. A, ein abgespaltener Teil Petrarcas selbst, die Stimme der Innerlichkeit, setzt sich mit der durch F repräsentierten Stimme weltgebundenen Daseins auseinander. Um es mit einem Wort Augustins aus den Confessiones zu formulieren: Es handelt sich um einen Kampf „zwischen mir selbst und mir selbst“: „de me ipso adversus me ipsum“.141 Das Leitmotiv, das dieses Gespräch durchzieht, könnte nicht stoischer sein. Es gilt die Krankheiten der Seele zu heilen. Wie schon in der vorchristlich-antiken Stoa erscheinen als Hauptursache für die Krankheiten der Seele, ja als diese Krankheiten selbst die Affekte, die „Leidenschaften“. Durch Festigung der Vernunft, der „recta ratio“ der Stoiker, und durch das stoische Streben nach „Tugend“ (virtus) sollen sie therapiert werden bis die stoische Ataraxie – die „tranquillitas animi“ – erreicht ist und sich das wahre innere „Glück“ im Gegensatz zu dem trügerischen im Reich der Fortuna einstellt. Zwar spielen immer wieder neuplatonische Vorstellungen herein, vor allem die schon von Plotin geforderte Orientierung auf das Göttlich-„Eine“ (das 6m), das A der weltlichen Zerstreuung im „Vielen“ mahnend entgegensetzt. Trotz einer gewissen Verschiebung der Gewichte gegen Ende dieses Zwiegespräches dominieren aber von Anfang an bis zu den letzten Worten stoische Vorstellungen und Wertungen. Programmatisch berufen sich sogleich am Beginn des ersten Tags beide Gesprächspartner mehrmals auf die „Stoiker“. Indem A, das andere Ich von F, ihnen in seiner moralischen Ermahnung eine Schlüsselposition zuweist, demonstriert Petrarca, der Humanist, wie sehr er den Kirchenvater und sein eigenes augustinisch-mittelalterliches Erbe in der stoischen Vorstellungswelt verwurzelt sieht. „Denn wenn“, läßt er A sagen, „allein Tugend den Geist glücklich macht – und das haben Cicero und viele andere oft und mit den stärksten Gründen erwiesen –, italienischen Editionen an (S. 489 f.), enthält einen gründlichen Kommentar auf neuem Forschungsstand, ein eingehendes Nachwort sowie eine Bibliographie der Spezialliteratur, auf die hier deshalb summarisch hingewiesen sei. 140 Vgl. Pierre Courcelle: Ptrarque lecteur des Confessions, in: Rivista di cultura classica e medievale, Bd. 1, 1959, S. 26 – 43; Carlo Segre: ‘Il mio segreto‘ del Petrarca e le ‘Confessioni‘ di Sant’ Agostino, in: C.S.: Studi petrarcheschi, Firenze 1911, S. 1 – 127. 141 Conf. VIII 11, 27.

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dann ist es völlig unausweichlich, daß auch nichts außer dem Gegenteil der Tugend vom Glück abbringen kann […]“. Darauf entgegnet F in der typischen Rolle des noch zu Unterweisenden, der trotz gewisser Kenntnisse noch nicht zur vollkommenen Einsicht gelangt ist (dem gleichen, schon in der Antike beliebten Schema folgt später Lipsius in seinem Traktat De constantia): „Natürlich erinnere ich mich daran. Du bringst mich auf die Lehren der Stoiker, die den allgemein verbreiteten Ansichten fernstehen und der Wahrheit näher sind als dem praktischen Leben“142 – eine Anspielung auf Ciceros Schrift Paradoxa Stoicorum, in der die Lehren der Stoiker als im Wortsinn „paradox“ (parà dóxan: „entgegen der gängigen Meinung“) vorgestellt werden. Doch versichert F nach einer erneuten Mahnung von A: „Ich zweifle nicht, daß die Sätze der Stoiker den Irrtümern des Volkes vorzuziehen sind“.143 In einem so hohen Maße wissen sich A und F in der stoischen Tradition und in ihrer Bedeutung für die Lebensführung bewandert, daß A zu F, der die stoische Ruhe des Gemüts, die tranquillitas animi, noch nicht erreicht hat, sagen kann: Wenn sich jedoch einmal der Tumult in deinem Inneren gelegt hat, dann wird, glaub mir, der dich umgebende Lärm zwar deine Sinne treffen, nicht aber deinen Geist bewegen. Und um nicht längst Bekanntes deinen Ohren zuzumuten: Du hast zu diesem Thema einen Brief Senecas, der nicht ohne Nutzen ist [gemeint ist der 56. der Briefe an Lucilius], und hast dessen Schrift De tranquillitate animi, auch hast du zur Heilung dieser ganzen seelischen Krankheit das vorzügliche dritte Buch von Ciceros Tusculanae Disputationes, die er Brutus widmete.144

Daß Petrarca gerade den in der christlichen Welt mit besonderer Autorität ausgestatteten Kirchenvater stoische Rezepte empfehlen läßt, zeugt erstens von seinem Wissen, welche große Bedeutung die Stoa für 142 S. 34: „Nam si sola virtus animum felicitat, quod et a Marco Tullio et a multis sepe validissimis rationibus demonstratum est, consequentissimum est ut nichil quoque nisi virtutis oppositum a felicitate dimoveat […] Recordor equidem; ad stoicorum precepta me revocas, populorum opinionibus aversa et veritati propinquiora quam usui.“ 143 S. 34: „[…] stoicorum sententias publicis erroribus preferendas esse non dubito“. 144 S. 208 f.: „Quod si unquam intestinus tumultus tue mentis conquiesceret, fragor iste circumtonans, michi crede, sensus quidem pulsaret, sed animum non moveret. Ac ne nota pridem auribus tuis ingeram, Senece de hac re non inutilem epystolam habes et librum eiusdem De Tranquillitate animi; habes et de tota hac mentis egritudine tollenda librum M. Ciceronis egregium, quem ex tertie diei disputationibus in Tusculano suo habitis ad Brutum scripsit.“

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Augustinus hatte,145 zweitens von seiner Absicht, die eigene Hochschätzung der nichtchristlichen Autoren christlich zu legitimieren, drittens von dem schon auf ältere Tradition zurückgehenden und noch bis ins 17. Jahrhundert oft unternommenen Versuch, die nichtchristliche Antike mit der christlichen Lehrtradition in Einklang zu bringen. Zwar zitiert Petrarca zustimmend die Rezepte, welche die Stoa seit ihren griechischen Anfängen besonders im Hinblick auf die Affekttherapie empfohlen hatte. Aber er kennt aus seiner Cicero-Lektüre auch die ernstzunehmenden Einwände gegen die Auswüchse und Einseitigkeiten der Stoa. Er kennt auch die Regulative, vor allem aus der peripatetischen Philosophie. Die Kritiker der Stoa wandten sich gegen die rigorose Bekämpfung der Affekte und vollends gegen das stoische Ideal der Apathie vorzugsweise mit dem Argument, daß die Affekte von Natur aus vorhanden sind und die Stoiker deshalb, wie Cicero einmal pointiert feststellt, in Widerspruch zu ihrer eigenen Forderung des naturgemäßen Lebens („secundum naturam vivere“) geraten – eine Kritik, die bis in die Neuzeit ungezählte Male wiederholt wurde, so von Descartes in seinem Trait des passions, von Molière und dem Fabeldichter La Fontaine.146 Während die Stoiker strenger Observanz die Affekte radikal bekämpfen und das extreme Ideal der Apathie propagieren, setzen die Peripatetiker auf die Metriopatheia: auf die Mäßigung der Affekte zu einem Mittelwert hin, der sie weder strikt verneint noch ihnen freien Lauf läßt. Diese Strategie orientiert sich an der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, die als „Tugend“, d. h. als das zu erstrebende Beste ( !qet¶) immer den Mittelwert zwischen den Extremen definiert. Dem entsprechend und auch in Übereinstimmung mit der gemäßigten sogenannten mittleren Stoa, auf deren Hauptvertreter Panaitios sich Cicero bezog, läßt Petrarca seinen fiktiven Augustinus sagen: „Ich meine, man muß in jeder Lage einen Mittelweg anstreben“, und er wendet sich sogar gegen den sonst hochgehaltenen, aber doch 145 Hierzu Gérard Verbeke: Augustin et le stocisme, in: Recherches Augustiniennes, Bd. 1, Paris 1958, S. 67 – 89. Ragnar Holte: Batitude et sagesse: Saint Augustin et le probl me de la fin de l’homme dans la philosophie ancienne. Paris 1962. Charles Baguette: Le Stocisme dans la formation de saint Augustin (Univ. de Louvain Ph. Diss. 1968). Michel Spanneut: Le Stocisme et Saint Augustin, in: Forma Futuri: Studi in onore del Cardinale Michele Pellegrino, Torino 1975, S. 896 – 914 (mit Literatur-Übersicht). Marcia Colish (wie Anm. 74), Bd. 2, S. 142 – 238. 146 Vgl. die Belege bei Michel Spanneut: Permanence du stocisme de Znon Malraux, Gembloux 1973, S. 283 f.

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auch oft zur Härte der alten Stoa tendierenden Seneca, indem er direkt aus den Briefen an Lucilius zitiert:147 Deshalb fordere ich nicht von dir, dich an den Maßgaben jener zu orientieren, die sagen: „Für das Leben der Menschen reicht Wasser und Brot. Dafür ist niemand zu arm. Wer damit seine Bedürfnisse stillt, kann sich an Glück sogar mit Jupiter selbst messen […]“. Solche Sprüche klingen nämlich ebenso großartig wie sie den Ohren der Menschen seit jeher lästig und verhaßt sind. Um deiner Seelenkrankheit beizukommen, lehre ich dich deshalb nicht, deine Natur abzulegen, sondern sie zu beherrschen.148

Um die peripatetische Metriopatheia149 zu exemplifizieren, wählt Petrarca den Zorn-Affekt. Nachdem sich F über seine gelegentlichen Zorn-Anfälle ausgelassen hat, belehrt ihn A: Weil ich von solchen Sturmböen weder für dich noch für sonst jemanden einen Schiffbruch fürchte, kann ich es ohne weiteres akzeptieren, daß du dich hier mit der Mäßigung der Peripatetiker begnügst, falls du nicht die Vorschriften der Stoiker zu erfüllen vermagst, die meinen, die Krankheiten der Seele mit der Wurzel ausreißen zu müssen.150

Der Zorn galt den Stoikern so sehr als ein affektives Hauptübel,151 daß Seneca eine Schrift De ira verfaßte152 und Lactanz, der den stoischen Lehren am stärksten verpflichtete Kirchenvater, erhebliche Mühe hatte, in einer eigenen kleinen Schrift De ira dei 153 die im Alten Testament

147 Epist. Nr. 25, 4. 148 S. 144: „Mediocritatem sane in omni statu expetendam censeo. Non igitur ad illorum statuta te revoco, qui aiunt: ,Satis est vite hominum panis et aqua; nemo ad hec pauper est, intra que quisquis desiderium suum clausit, cum ipso Iove de felicitate contendit […]‘. Sunt enim ut magnifice sic auribus hominum importune pridem odioseque sententie. Itaque, ut infirmitati tue morem geram, exinanire naturam non doceo, sed frenare“. 149 Zu deren medizinisch-therapeutischem Aspekt vgl. Fritz Wehrli: Ethik und Medizin. Zur Vorgeschichte der aristotelischen Mesonlehre, in: Museum Helveticum 8, 1951, S. 36 – 62. 150 S. 164: „At quia nullum ex huiusce flatibus aut tibi aut alteri vereor naufragium, facile patiar, ut si stoicorum promissa non attingis, qui morbos animorum radicitus se vulsuros spondent, sis in hac re perypateticorum mitigatione contentus.“ 151 Vgl. Paul Rabbow: Antike Schriften ber Seelenheilung und Seelenleitung auf ihre Quellen untersucht. I: Die Therapie des Zorns. Leipzig-Berlin 1914. 152 Vgl. Janine Fillion-Lahille: Le De Ira de Sn que et la philosophie stocienne des passions. Paris 1984. 153 CSEL 27, 1. Vgl. die Ausgabe: Laktanz: Vom Zorne Gottes. Eingeleitet, herausgegeben, übertragen und erläutert von H. Kraft und A. Wlosok, 4. Auflage

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zentrale Vorstellung vom zornigen Gott zu verteidigen. Petrarca kann nicht umhin, sein gelehrtes Wissen über die Stoa und namentlich über deren Lehre von den Affekten – den leitmotivisch hervorgehobenen „Krankheiten der Seele“ – zugleich mit dem psychagogischen Verfahren der Stoiker voll zur Geltung zu bringen. Exemplarisch zeigt sich Augustinus in der für den stoischen Psychotherapeuten seit der Antike festgeschriebenen Rolle des Leitenden und Mahnenden, der den noch von Affekten beunruhigten Adepten in freundschaftlich besorgter Zuwendung, d. h. mehr mit Zureden und praktischen Ratschlägen als mit abstrakten Argumenten auf die richtige Bahn der „Vernunft“ und damit zur stoischen „Ruhe des Gemüts“ zu bringen versucht. „Consilium“ ist ein von Seneca bevorzugtes und empfohlenes Verfahren.154 Augustinus leitet sein „consilium“ zum paradigmatischen Affekt des Zorns mit Worten ein, welche die schon in der antiken Stoa und dann in den mittelalterlichen Sentenzensammlungen, schließlich weit in den Humanismus hinein beliebte Methode zeigen, die stoische Lebenshaltung in Merksätzen einzuprägen: Sooft dir deine Lektüre nützliche Sätze bietet, von denen du deinen Geist angeregt oder gezügelt fühlst, sollst du dich nicht auf deine Geisteskraft verlassen, sondern sie dir tief ins Gedächtnis einprägen und sie dir mit großem Eifer vertraut machen: damit du wie erfahrene Ärzte, wo und wann auch immer eine Krankheit auftritt, die keinen Aufschub verträgt, die Heilmittel kennst, als wären sie in deinem Geist aufgezeichnet. Denn wie im menschlichen Körper, so gibt es auch in der Seele gewisse Leiden, die so schnell zum Tode führen, daß keine Hoffnung auf Rettung besteht, wenn die heilende Behandlung aufgeschoben wird.155 Darmstadt 1983 (Texte zur Forschung. Bd. 4). Die Auseinandersetzung mit den Stoikern in Kap. 5. Vgl. ferner Kap. 13. 154 Eine Schlüsselstelle in Senecas Epistulae ad Lucilium lautet (38, 1): „Am meisten bringt ein Gespräch voran, weil es in kleinen Abschnitten eindringt in die Seele: Vorträge, ausgearbeitet und vorgetragen, wenn eine Menge zuhört, bieten mehr Getön, weniger Vertrautheit. Die Philosophie ist ein guter Rat: einen guten Rat gibt niemand mit lauter Stimme“ („Philosophia bonum consilium est: consilium nemo clare dat“). Ähnlich heißt es in Epist. 48, 6: „Vis scire, quid philosophia promittat generi humano? Consilium“. 155 S. 210 f.: „Quotiens legenti salutares se se offerunt sententie, quibus vel excitari sentis animum vel frenari, noli viribus ingenii fidere, sed illas in memorie penetralibus absconde multoque studio tibi familiares effice; ut, quod experti solent medici, quocunque loco vel tempore dilationis impatiens morbus invaserit, habeas velut in animo conscripta remedia. Sunt enim quedam sicut in corporibus humanis sic in animis passiones, in quibus tam mortifera mora est ut, qui distulerit medelam, spem salutis abstulerit.“

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Obwohl A an der schon angeführten früheren Stelle gerade für seinen Gesprächspartner F vom Zorn keinen „Schiffbruch“ befürchtete, rechnet er nun zu den gefährlichsten, weil plötzlichen Emotionen den Zorn: „Zu diesen [Emotionen] gehört meiner Meinung nach an erster Stelle der Zorn. Nicht umsonst ordnen diejenigen, die die Seele in drei Teile eingeteilt haben, den Platz über ihm der Vernunft zu, wobei sie die Vernunft wie in einer Burg im Kopf ansiedeln, den Zorn in der Brust und die Begierde in der Gegend unter dem Zwerchfell“.156 Das Secretum ist nicht nur in seiner Grundkonzeption stoisch, sondern auch im Repertoire seiner Gleichnisse. Schon im Schrifttum der antiken Stoa kehren sie stereotyp wieder.157 Sie erhalten geradezu eine Kennungsfunktion. Dazu gehört eine ausgeprägte nautische Metaphorik, etwa der Vergleich der durch Affekte in Turbulenzen gerissenen Psyche mit einem Schiff, das von stürmischen Winden auf hoher See hin- und her geschleudert wird. Die zusätzlich gern verwendete Metapher des Steuermanns – des „gubernators“ – meint die in allen Stürmen der Affekte (und auch der wetterwendischen Fortuna) sich souverän behauptende ratio und die Willenskraft. Der kämpferischen Bemühung um die „Tugend“ gilt eine – Petrarcas Temperament nicht entsprechende, aber später von Justus Lipsius systematisch bevorzugte – militärische Metaphorik. Nicht zuletzt wählen die Stoiker im Hinblick auf ihr intensives therapeutisches Engagement eine dem Verfasser des Secretum umso sympathischere medizinische Terminologie. Diese geht von der sokratischen „Seelentherapie“ (heqape¸a xuw/r) aus und ist allen philosophischen Schulen der Antike einschließlich der epikureischen gemeinsam, doch erhält sie in der Stoa die größte Bedeutung. Schon von der Hauptinstanz der alten Stoa, von Chrysipp, ist eine Schrift ber die Heilung der Seele (heqapeutijºr) bezeugt. Der berühmte Arzt Galen berichtet von dieser Schrift Chrysipps und nennt sie ein „therapeutisches Büchlein“ (heqapeutij¹m bibk¸om) für die „Leiden der Seele“.158 Cicero erklärt in seinen ganz stoisch geprägten Gesprchen in Tusculum: „Est enim animi medicina philosophia“.159 Epiktet vergleicht 156 S. 212: „In quibus primum obtinere locum reor iram, cui non frustra rationis sedem superpositam esse diffiniunt hi, qui in tres partes animam diviserunt: rationem in capite velut in arce, iram in pectore, concupiscentiam subter precordia collocantes.“ 157 Zu diesem Thema vgl. Karl-Hermann Rolke: Bildhafte Vergleiche bei den Stoikern. Hildesheim 1975. 158 SVF III, Nr. 457. 159 Cicero: Tusculanae disputationes III 3, 6.

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seinen Hörsaal mit einer ärztlichen Ambulanz: mit einem Qatqe?om,160 Seneca nennt den Philosophen gerne einen Arzt (medicus) und läßt ihn heilsame Medizin verabreichen (medicina). Petrarca nahm in seinem Studium der stoischen Texte mit wachem Interesse auch solche stoischen Topoi wahr, um sie dann zu reinszenieren. Ein anderer, von ihm ebenso gern aufgegriffener Topos ist der Vergleich des Vernunftsitzes mit einer festen Burg, von der aus die Affekte entweder beherrscht oder, wenn sie wie ein feindliches Heer heranstürmen, zurückgeschlagen werden. Kaum hat A in der zitierten Stelle den Sitz der Vernunft mit einer „Burg“ verglichen, nimmt F das Stichwort auf und spricht von der „Burg des Kopfes“ und der „Vernunft, die dort wohnt“.161 Analog beruft er sich bald auf „die Festung der Vernunft“ („arcem rationis“),162 bald greift A wieder ein mit den Worten: „Jetzt aber, so sollst du wissen, wirst du zu jener Festung gerufen, in der allein du vor den Angriffen der Leidenschaften sicher sein kannst“,163 und noch eindringlicher gegen Ende des Werks: „Der Feind bedrängt dich von hinten und attackiert dich von vorn; die Mauern beben, in denen du belagert sitzt“.164 Es ist aufschlußreich, daß Petrarca die typisch stoische Suprematie der Vernunft, der Ratio, trotz der primär nicht auf Vernunft gegründeten, sondern transzendent in göttlichen Geboten verankerten Ethik des Christentums gerade durch den von ihm fingierten Kirchenvater Augustinus so entschieden vertreten läßt. Hier scheint eine von mehreren Bruchstellen zu liegen, an denen die Synthese von stoischer und christlicher Ethik ihre Grenze findet. Der versierte Cicero-Kenner Petrarca muß auch gewußt haben, daß die Vorstellung von der Burg, die gegen den Ansturm der Affekte schützt, auf die Stoiker selbst bezogen wurde: In Ciceros Traktat De divinatione (I 10) sagt einer der Gesprächspartner: „du verteidigst die Burg der Stoiker“ – „arcem Stoicorum defendis“. Mehr noch: An exponierter Stelle, in der Vorrede zum 1. Teil seiner in der Tradition Senecas stehenden und bis in die frühe Neuzeit hinein außerordentlich wirkungsreichen stoischen Schrift De remediis utriusque fortunae greift Epiktet: Diss. 3, 23, 30. S. 214 f.: „[…] capitis arcem et rationem […], qui illic inhabitat.“ S. 182. S. 338: „Nunc autem ad illam arcem te vocari noveris, in qua sola tutus esse potes ab incursibus passionum“ 164 S. 394: „hostis instat a tergo et in faciem insultat; parietes tremunt in quibus obsessus es.“ 160 161 162 163

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Petrarca nicht nur einfach diese Vorstellung auf; vielmehr geht aus dem Kontext hervor, welche identifikatorische Bedeutung sie für ihn selbst besitzt. Ähnlich wie er im Canzoniere (Rerum vulgarium fragmenta) mit dem Namen Laura beziehungsreich spielt, tut er dies hier mit seinem eigenen Namen und gibt zugleich zu erkennen, warum er seinen ursprünglichen Familiennamen Petracco (es sind noch andere, ähnliche Namensformen überliefert) in Petrarca umwandelte. Der zweite Teil des gewählten Namens enthält die „Burg“ – arx, arcis! Im Secretum nimmt sich Petrarca die typisch stoische Ermahnung (admonitio), die er durch seinen Seelenarzt Augustinus erfährt und die er auch immer wieder eigens thematisiert, zwar zu Herzen, sein Widerstand aber wächst, als Augustinus seinen beiden stärksten „Leidenschaften“ mit dem Appell an die stoische Vernunft beizukommen sucht: der Liebe und dem Verlangen nach Ruhm, der sich für Petrarca mit dem unstillbaren Drang zum Lesen und Schreiben von Büchern verbindet. Und schließlich endet das Gespräch mit innerer Notwendigkeit asymptotisch, als Augustinus die wiederum typisch stoische, aber zugleich auch christliche meditatio mortis bemüht, um alles, was den Menschen an das Irdische fesselt, als vergänglich zu entwerten. Denn Augustinus beteiligt sich an diesem Gespräch ja nur als imaginierter geistiger Gesprächspartner und wohnt mitsamt der „Wahrheit“, die ihn begleitet, schon „im Himmel“.165 Damit entrückt das stoische Ethos samt dem christlichen, sofern es wie von dem Gesprächspartner Augustinus zu einer unbedingten Forderung an das real zu führende Leben und an den notwendigerweise im Leben stehenden Menschen erhoben wird, ins Utopische. „Doch jetzt, während wir sprechen“, sagt F gegen Ende, „warten auf mich viele und große, freilich noch irdische Aufgaben“;166 und obwohl er den „Weg“, den A ihm gewiesen hat – den Weg zur stoischen „Tugend“, der zugleich an das christliche „itinerarium mentis in deum“ erinnert – durchaus anerkennt, muß er gestehen: „Aber ich kann mein Verlangen nicht zügeln“, nämlich das Verlangen, die irdischen Möglichkeiten wahrzunehmen. Und mit seinen letzten Worten bedauert er die Unmöglichkeit der stoischen tranquillitas animi wie die Unerreichbarkeit eines Weltzustands jenseits der Fortuna, an deren Bannung den Stoikern so sehr gelegen war: „Oh möchten sich mir […] 165 S. 396. 166 S. 398: „Sane nunc, dum loquimur, multa me magnaque, quamvis adhuc mortalia, negotia expectant“.

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die Wogen der Seele glätten, möchte doch Stille in der Welt herrschen und nicht Fortuna feindlich lärmen“.167 Erstaunlich und aufschlußreich ist es, daß Petrarca aus der Argumentation seiner Augustinus-Figur gerade das Zentrum der Augustinischen Theologie fast ganz ausspart. Augustinus preist schon im Vorwort zu De civitate dei als wichtigste christliche Tugend die Demut („virtus humilitatis“) gegenüber der „superbia“ der Heiden. Deren „Tugenden“, heißt es später, seien nur selbstbezüglich „aufgeblasene“ (inflatae) und der superbia zuzurechnende – also eigentlich „Laster“, vitia.168 Hier gibt es keine stoische Virtus mehr. Auch übergeht Petrarca fast ganz den problematischsten Teil der Augustinischen Theologie, die Gnadenlehre, die alle – durch die Erbsünde immer schon unterminierte – menschliche Leistung im Bereich der „Tugenden“ zugunsten der Gnade entwertet. Augustinus geht so weit, an die Stelle der menschlichen Freiheit das Schrecknis der Prädestination zu setzen. Diese läßt weniger an das Fatum der Stoiker denken als an eine aufgrund der Entscheidungsmacht eines persönlichen Gottes absolutistisch ausphantasierte Fortuna. Gerade die Gnadenlehre Augustins, die bereits im Kampf der alten Kirche gegen den Pelagianismus durch ein Konzil sanktioniert worden war,169 greift Luther später auf und Pascal macht sie zu einem Haupteinwand gegen das Autonomie- und Autarkie-Postulat der Stoiker. Die zugrundeliegende pessimistische Anthropologie, die mit Berufung auf die Erbsünde die Unfähigkeit des Menschen zur Tugend: das „non posse non peccare“ betont, rückt die Stoa ins Licht eines falschen und noch dazu hybriden Optimismus.170 Petrarca nennt 167 S. 398 f.: „Sed desiderium frenare non valeo […] O utinam […] subsidantque fluctus animi, sileat mundus et fortuna non obstrepat“ 168 civit. XIX 25: „Nam licet a quibusdam tunc verae et honestae putentur esse virtutes, cum ad se ipsas referuntur, nec propter aliud expetuntur; etiam tunc inflatae ac superbae sunt: et ideo non virtutes, sed vitia judicanda sunt“ (PL XLI, 656). 169 Das Konzil von Orange (Aurasiacum) entschied im Jahre 529 den Streit um die Gnadenlehre gegen den britischen Mönch Pelagius (gestorben etwa 420), der den Menschen für frei und imstande hielt, das Gute von sich aus zu tun. Die Kirche schloß sich Augustinus an, der den Menschen aufgrund des Sündenfalls und der daraus resultierenden Erbsünde diese Fähigkeit absprach. Nur aufgrund gnadenhafter Prädestination kann er nach Augustinus und der entsprechenden Konzilsentscheidung zum Guten finden. 170 Zum modernen Niedergang der christlichen Erbsündenanthropologie vgl. Anselm Schubert: Das Ende der Snde. Anthropologie und Erbsnde zwischen Reformation und Aufklrung. Göttingen 2002.

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im Zwiegespräch des Secretum zwar Augustins De civitate dei ausdrücklich als eine seinem alter ego F vertraute Lektüre,171 läßt seine AugustinusFigur aber nur beiläufig von Demut und Gnade sprechen. Als wüßte er nichts vom Übel der Erbsünde, das alles schon uranfänglich verdirbt und deshalb Gnade und Erlösung notwendig macht, fordert A die stoische virtus und appelliert an die autonome stoische „Vernunft“, welche die Affekte beherrschen soll. Mehr noch: Indem F am Ende zu verstehen gibt, daß er die „civitas dei“ zugunsten der „civitas terrena“ vorerst dahingestellt sein lassen will und außerdem das stoische Tugendideal als eine, wenn auch schöne Illusion erkennt, gewinnt er skeptische Distanz. Die fixierenden Diskurse weichen einer human einsichtsvollen, weil alles undogmatisch offen lassenden Lebenshaltung.

II Historisch-anthropologische Konturen des Neustoizismus. Justus Lipsius und die ,niederländische Bewegung‘ in Europa. Der Neustoizismus172 ist trotz seiner Eigendynamik so wenig wie die antike Stoa eindimensional geistesgeschichtlich und philosophischproblemgeschichtlich zu verstehen. Er bildete sich in einem komplexen 171 S. 372. 172 Vgl. Léontine Zanta: La Renaissance du Stocisme au XVIe si cle. Paris 1914 (Reprint Genf 1975). Gerhard Oestreich: Antiker Geist und moderner Staat bei Justus Lipsius. 1954. Neudruck 1989. Das zentrale Kapitel dieses grundlegenden Werks ist hier auf S. 575 – 628 wieder abgedruckt. Die entsprechenden Kapitel bei Michel Spanneut: Permanence du Stocisme de Znon Malraux. Gembloux 1973. Julien Eymard d’Angers: Recherches sur le stocisme aux XVIe et XVIIe si cles. Hildesheim/New York 1976 (Sammlung früher erschienener Artikel). Günter Abel: Stoizismus und Frhe Neuzeit. Zur Entstehungsgeschichte modernen Denkens im Felde von Ethik und Politik. Berlin/New York 1978. Jacqueline Lagrée: Juste Lipse et la restauration du Stocisme. Paris 1994. Einen Überblick bieten auch neuere Tagungsbände: Juste Lipse (1547 – 1606). Colloque international en mars 1987, hg. von Aloïs Gerlo. Brüssel 1988 (darin der Forschungsbericht von Gerlo, S. 9 – 24); Juste Lipse (1547 – 1606) en son temps. Actes du colloque de Strasbourg 1994, hg. von Christian Mouchel. Paris 1996; The World of Justus Lipsius. A Contribution towards His Intellectual Biography. Proceedings of a Colloquium Held under the Auspices of the Belgian Historical Institute in Rome (Rome, 22 – 24 May 1997) = Bulletin de l’Institut historique de Rome 68, hg. von Marc Laureys. Brüssel/Rom 1998 (darin der Forschungsbericht von Rudolf De Smet, S. 15 – 42); Justus Lipsius, Europae lumen et columen. Proceedings of the In-

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Wirkungsgefüge heraus, das zu einer neuen Anthropologie führte, denn gleichzeitig erzielten die modernen Naturwissenschaften und die Medizin große Durchbrüche, ohne sich noch auf eine religiöse oder philosophische (etwa die immer noch dominante Aristotelische) Autorität zu stützen, ja im Widerspruch zu derartigen Autoritäten. Aus den durch Erfahrung, Experiment und rationaler Methode, nicht zuletzt durch die Anwendung neuerfundener Instrumente (Fernrohr, Mikroskop) zustandegekommenen Erkenntnissen und Entdeckungen entstand ein neues Selbstbewußtsein. Ähnlich wirkte die durch Renaissance und Humanismus nobilitierte antike Originalüberlieferung mit ihrer weltlicheren Geistesart. Infolge der Erfindung des Buchdrucks und der zahlreichen Universitätsgründungen wurde sie zu einem Maßstab des immer einflußreicheren neuen Gelehrtenstandes. Obwohl mystifizierende Strömungen wie der von Marsilio Ficino initiierte und neuplatonisch überformte Florentiner Platonismus und eine teilweise hermetisch vermittelte Naturphilosophie sich ebenfalls ausbreiteten, erhielt die Stoa, die von der Ratio – dem Logos – einer gleichermaßen naturhaft wie vernünftig organisierten Weltordnung ausging und ein autonom zu gestaltendes menschliches Dasein propagierte, im größeren geschichtlichen Zusammenhang ihre besondere mentalitätsbildende Bedeutung. Statt auf den heteronomen, aufgrund des Sündenfalls der Gnade und der Erlösung bedürftigen Menschen zielte sie auf Autonomie und Autarkie, insbesondere auf eine autonome Sittlichkeit (virtus) und menschliche Würde (dignitas). Programmatisch hatte Seneca in seinem Hauptwerk, in den Briefen an Lucilius, die Virtus dem rationalen Vermögen des Menschen zugeordnet und dies ausdrücklich als weiterzuvermittelnde stoische Lehre bezeichnet: „Schnell und mit sehr wenigen Worten kann Folgendes überliefert werden: ein einzigartiges Gut sei die virtus, keines existiere mit Sicherheit ohne die virtus, und die virtus selbst sei in unserem besseren Teil, dem rationalen, angesiedelt“ – „Cito hoc potest tradi et paucissimis verbis: unum bonum esse virtutem, nullum certe sine virtute et ipsam virtutem in parte nostri meliore, id est rationali, positam“.173 Die Stoa kultivierte nicht das Ideal demütiger Frömmigkeit, sondern das des Weisen, der seine Weisheit nicht von der Gottesfurcht („timor domini initium saternational Colloquium Leuven 17 – 19 September 1997, hg. von Gilbert Tournoy, Jeanine de Landtsheer, Jean Papy. Leuven 1999. 173 Seneca: Epist. 71, 32.

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pientiae“174) herleitet, sondern aus eigener rationaler Kraft anstrebt, um sie als höchste Form menschlicher Selbstvollendung zu erringen. Er erreicht sie nicht vorrangig in theoretischen Kenntnissen, sondern im konkreten Verhalten und im politischen Handeln. Solche Weisheit sollte die stoische Autarkie und die stoische „Beständigkeit“ (constantia) garantieren: eine existentielle Selbststabilisierung, wie sie, zahlreichen griechischen Vorgängern folgend, Seneca in seinem Traktat De constantia sapientis dargelegt hatte. Der Begründer des Neustoizismus im 16. Jahrhundert, Justus Lipsius (1547 – 1606), verlieh diesem Programm neue Aktualität durch seine über Generationen hinweg in mehr als achtzig Auflagen und Übersetzungen verbreitete Schrift De constantia libri duo, qui alloquium praecipue continent in publicis malis, Leiden 1584 (5. Auflage 1591; ultima editio castigata, Antwerpen 1599 u. ö.).175 Zu dem komplexen Geschehen, in dem der Neustoizismus seine Konturen gewann, gehört auch der politische Veränderungsprozeß. Nach den lockeren und uneinheitlichen, weitgehend noch vorstaatlichen Herrschaftsverhältnissen des Mittelalters bildete sich der frühneuzeitliche Staat heraus – eine durchorganisierte, Partikularstrukturen einebnende, auf Sozialdisziplinierung und Gewaltmonopol angelegte, schließlich zum Absolutismus überleitende Machtformation, die sich in der Reaktion auf die chaotischen Erschütterungen während der Zeit der europäischen Religionskriege aushärtete. Im gleichen Reaktionszusammenhang entstand der Neustoizismus. Er wollte die Menschen individuell härten und festigen. Sogar eine epochenübergreifende Gesetzlichkeit zeichnet sich ab. Sie macht die „Renaissance“ des Stoizismus vollends individualpsychologisch und sozialpsychologisch verständlich. Denn wie schon im ersten Jahrhundert v. Chr. die Bürgerkriegsgreuel der späten römischen Republik und im ersten Jahrhundert n. Chr. die cäsarische Willkürherrschaft eines Caligula, eines Claudius und Nero die soziale Ordnung zerrütteten, die Menschen extremer Unsicherheit aussetzten und sie der Orientierung beraubten, so auch die im Gefolge der Reformation ausgebrochenen Religionskriege. Im 16. Jahrhundert zogen sie zuerst Frankreich schwer in Mitleidenschaft. 174 Sprche Salomonis 9, 10; vgl. Hiob 28, 28: „die Furcht des Herrn, das ist Weisheit“. 175 Vgl. Ferdinand van der Haeghen: Bibliographie Lipsienne. Oeuvres de Juste Lipse. 3 Bde, Gent 1886 – 1888. Im Folgenden wird die Schrift trotz einiger Defizite in der Präsentation des lateinischen Textes nach der Ausgabe zitiert: Justus Lipsius: De constantia. Von der Standhaftigkeit. Lateinisch-Deutsch. bersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort von Florian Neumann. Mainz 1998.

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Im Dreißigjährigen Krieg verwüsteten sie Deutschland. Die Stoa bot zunächst individuell inneren Halt und Zuflucht. Die Leitfiguren des Neustoizismus, in Frankreich Du Vair, in den ebenfalls von schweren kriegerischen Auseinandersetzungen erschütterten Niederlanden Lipsius, brachten dies in ihren wichtigsten Schriften zum Ausdruck. Nachdem Kaiser Karl V. den burgundischen Herrschaftsbereich, zu dem damals die Niederlande zählten, bereits im Jahr 1551 der spanischen Linie des Hauses Habsburg zugeteilt hatte, betrieb sein Nachfolger Philipp II. eine rigorose Rekatholisierung der zu erheblichen Teilen protestantischen Niederlande. Er führte die Inquisition ein und beraubte die Niederländer ihrer alten Rechte und Freiheiten, um seine königliche Zentralgewalt voll auszubauen. Es kam zu schweren Unruhen. Als der von Philipp II. nach den Niederlanden entsandte Herzog Alba mit brutaler Härte vorging, durch Sondergerichte zahlreiche Bluturteile fällen ließ, auch gegen Provinzstatthalter, die sich den Protestanten gegenüber tolerant gezeigt hatten, brach 1568 der Freiheitskampf der Niederländer gegen Spanien aus, der stufenweise bis zur endgültigen Eigenstaatlichkeit der Niederlande im Westfälischen Frieden von 1648 führte. Zugleich kam es zu konfessionell bedingten inneren Wirren. Es waren gerade die Jahre, in denen sich auch in Frankreich die Lage bis zur Pariser ,Bluthochzeit‘ in der Bartholomäusnacht 1572 zuspitzte. Im gleichen Jahr entschloß sich Lipsius, dem niederländischen Chaos zu entfliehen – diesen Fluchtreflex verarbeitete er später stoisch in der Eingangspartie seiner Schrift De constantia. Constantia, eine seit Seneca kanonisierte stoische Tugend, zeigt sich hier zunächst durchaus konkret als ,Beständigkeit‘ im Ausharren und Ertragen vor Ort. Möglich wird dies aber nur demjenigen, der eine innere, seelische Beständigkeit ausbildet. Diesen Ansatz der ,Constantia‘ überformt Lipsius noch dialektisch, indem er gerade aus der immer wieder betonten extremen „Unbeständigkeit“ der äußeren Verhältnisse die Notwendigkeit herleitet, die innere „Beständigkeit“ zu erreichen.176 Er untermauert diese Argumentation durch Zitate aus seinem LieblingsAutor Seneca, der in den Briefen an Lucilius das extrovertierte und nur Unruhe erzeugende „Reisen“ als nutzlos darstellt.177 Das auf innere 176 De constantia, 1. Buch, 17. Kapitel: „Constantiam animo imprime, ex hac inconstanti & desulteriora levitate omnium rerum“ (S. 118): „Die Beständigkeit präge deinem Geist ein angesichts der unbeständigen und haltlosen Flüchtigkeit aller Dinge“. 177 Seneca: Epist. 28, 1 – 3; 104, 13 – 20.

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Autonomie und Autarkie konzentrierte Ethos der Stoa bot einen Rettungsanker in den fast ganz Europa aufrührenden politischen Stürmen. So erklärt sich der enorme europäische Erfolg der Schrift De constantia. Sie traf den Nerv der Zeit. In sozialer und politischer Hinsicht war das stoische Ethos allerdings mindestens ambivalent. Es konnte zu einer individualistischen Rückzugsmentalität führen, die sich auf bloße Selbstbewahrung konzentrierte und die Welt ihrem Lauf überließ oder im Absolutismus sogar systemstabilisierend wirkte. Doch war speziell die für die stoische Tradition maßgebende römische Stoa auch auf das Handeln (actio), nicht zuletzt auf politisch aktive Gestaltung ausgerichtet. Seneca betont, daß auf Worte die Taten folgen müssen, auf die Theorie die Praxis.178 Die stoische Zentraltugend, die virtus, meinte wie schon das von „vir“ abgeleitete Wort selbst sagt, auch männliche Tüchtigkeit und Tatkraft, und die stoische Grundsituation der „probatio“ zielte nicht bloß auf passive Bewährung im Hinnehmen von Schicksalsschlägen, sondern ebensosehr auf die Bewährung aktiver virtus. Mit beidem verbindet sich „fortitudo“.179 Die von Cicero in stoischen Kontexten nachdrücklich geforderte „dignitas“ war zwar zunächst als persönlich-humane „Würde“ definiert, aber auch als Lebenshaltung, die sich auf soziale Wirkung und Anerkennung bezog. Noch mehr gilt dies für die ebenfalls von Cicero betonte „honestas“.180 Schon Xenophon (etwa 430 – 355 v. Chr.) hatte in der stoisch kanonisierten Fabel des Prodikos, die er in seinen Memorabilien (Erinnerungen an Sokrates) erzählte, die durch stoische !qet¶ (virtus) zu erlangende til¶ (honor, honestas) als eine im Vaterland öffentlich zuerkannte „Ehre“ mit höchster Wertschätzung bedacht.181 178 Seneca: Epist. 108, 35: „[…] ut quae fuerint verba, sint opera“; 108, 38: „faciant quae dixerint“. Noch weitergehend Epist. 108, 37: „Non est loquendum, sed gubernandum“. 179 Vgl. Ciceros Definition der Fortitudo mit ausdrücklicher Berufung auf Chrysipp in: Tusc. disput. IV 24, 53 (= SVF III, Nr. 285). 180 Zur stoischen Fundierung dieses Begriffs mit ausdrücklicher Berufung auf den Begründer der Stoa, auf Zenon: Cicero, Acad. Pr. II 131 (= SVF I, Nr. 181) sowie Cicero, Acad. Post. I 35 (= SVF I, Nr. 188). Aufschlußreich auch die christliche Polemik gegen diesen weltlichen Wertbegriff der stoischen Ethik bei Augustinus, ebenfalls mit Hinweis auf Zenon und die „gesamte Stoa“ („tota illa porticus“): Contra Acad. III 7, 16 (= SVF I, Nr. 186). 181 Xenophon: Erinnerungen an Sokrates. Griechisch-deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Peter Jaerisch mit Literaturhinweisen von Rainer Nickel. Düsseldorf 2003 (Tusculum Studienausgaben). Die Fabel des Prodikos erzählt

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Schließlich reichten die stoischen Ideale der constantia und der disciplina aus dem individuellen Tugendkanon in den politischen und militärischen Wertekanon hinein. Constantia bedeutete nicht bloß persönliche Beständigkeit, sondern auch das Standhalten in öffentlichen Herausforderungen. Und disciplina war nicht nur die durch Selbstdisziplinierung zu erringende Affektkontrolle, sondern auch gesellschaftliche und militärische Disziplin. Niemand hat dies konsequenter und wirkungsreicher propagiert als Justus Lipsius in seinen aus kurzen Sentenzen und Weisungen zusammengestellten, den einschlägigen antiken Zitaten-Vorrat griffig mobilisierenden und auf praktische Anwendung in der zeitgenössischen Gegenwart konzentrierten Politicorum sive civilis doctrinae libri sex, die europaweit zahlreiche Auflagen erlebten,182 und in seinem militärwissenschaftlichen Werk. Beides wurde für das moderne europäische Staatswesen, so für die Oranische Heeresreform und für Brandenburg-Preußen maßgebend, wie der Historiker Gerhard Oestreich nachgewiesen hat. In geistesgeschichtlicher Perspektivierung hatte bereits Wilhelm Dilthey in seinen Studien das Fortwirken der Stoa im Denken der Neuzeit als Ferment und zugleich als Ausdruck des beginnenden Säkularisierungsprozesses dargestellt. Ebenso aktuell aber blieb der Versuch, die stoische Moralphilosophie mit dem Christentum zu harmonisieren. Das gilt auch, obwohl in unterschiedlichem Maße, für die Hauptautoritäten des Neustoizismus: für Justus Lipsius und Du Vair. Justus Lipsius selbst betonte immer wieder, auch in seinen Briefen, es gehe ihm um die Übereinstimmung zwischen der „alten Philosophie“ der Stoa und der „christlichen Wahrheit“. Inwiefern solche Aussagen dem Selbstschutz vor religiösen Anschuldigungen dienen sollten oder schlicht Ausdruck einer auch sonst zu beobachtenden Anpassungsbereitschaft sind (Lipsius wurde sogar Hofhistoriograph Philipps II.), läßt sich schwer abschätzen. Für manche Ausgaben seiner Werke, besonders diejenigen, die in katholischen Ländern erschienen, mußte er ,gereinigte’ Fassungen herstellen. Aus welchen Gründen auch immer: Lipsius versuchte die Harmonisierung, indem er nach einer schon lange approbierten Methode vor allem Vorstellungen Senecas mit christlichen Glaubenslehren analogisierte. Xenophon in Buch II, 1 (S. 90 – 99). Darin sagt die als allegorische Figur dargestellte Areté abschließend zu Herakles, daß durch sie, die „Tugend“, ihre Freunde „in ihrem Vaterlande geehrt werden“ (t¸lioi d³ patq¸sim). 182 Vgl. die mit Übersetzung und Kommentar versehene Edition: Justus Lipsius: Politica. Six books of Politics or Political Instruction, ed. with translation and introduction by Jan Waszink. Assen 2004.

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Aber auch die Unterschiede markiert er, so etwa, wie schon dargelegt, hinsichtlich der Problematik von Fatum und Vorsehung. Neben Seneca, dessen Werk er zu einem Mittelpunkt seines humanistischen Interesses machte, gehören Cicero und Epiktet zu den stoischen Quellen in seinem 1584 erstmals erschienenen und bald europaweit verbreiteten Erfolgsbuch De constantia. Darin überträgt er das alte, besonders von Seneca gepflegte Genre der Konsolationsliteratur von der privaten auf die öffentlich-politische Sphäre. Ausdrücklich betont er dies als seine Neuerung: „Trost suchte ich angesichts öffentlicher Übel; wer vor mir?“ – „Solatia malis publicis quaesivi, quis ante me?“ Zu einem Markstein in der gesamten Geschichte des Stoizismus und zu einem Schlüsselwerk wurde De constantia aber, weil hier erstmals Hauptthemen der stoischen Philosophie in zusammenhängender Folge und mit einem aktuellen Geltungsanspruch vorgetragen wurden. In zwei weiteren großen Studien nennt Justus Lipsius die Stoa und das zentrale Paradigma Seneca als Hauptgegenstand schon im Titel: Manuductionis ad Stoicam philosophiam libri III: L. Annaeo Senecae aliisque scriptoribus illustrandis und Physiologiae Stoicorum libri III, L. Annaeo Senecae aliisque scriptoribus illustrandis. Beide Werke erschienen erstmals in Antwerpen1604.183 In der Manuductio stellt Lipsius umfassend, immer wieder auch um die Affinitäten zum Christentum bemüht, die stoische Morallehre dar, in der Physiologia sehr detailliert die naturphilosophischen Positionen der Stoa, deren monistisch-pantheistischen Grund er indessen christlich zu retuschieren sucht. Für seine Zeitgenossen etablierte er so ein Denk- und Werte-System, an dem Maß zu nehmen war. Dies umso mehr, als er mit seinen erstmals im Jahr 1589 erschienenen Politicorum sive civilis doctrinae libri sex und seinen militärwissenschaftlichen Werken schon einen öffentlichen, auf aktive Gestaltung des Staatswesens zielenden Anspruch erhoben hatte. Zwar spricht er in der Abhandlung De constantia bereits von den „öffentlichen Übeln“, aber angesichts dieser öffentlichen Übel („in publicis malis“) legt er hier doch noch eher auf individuelle Selbstrettung des von ihnen bedrohten Einzelnen Wert. Mit der stoischen Besiegung der Affekte, die der Selbststabilisierung und Unabhängigkeit – der „Autarkie“ – dienen soll, inszeniert er in den Anfangskapiteln des zweiten Buches sogar den Rückzug in den „Garten“ als eine dem „Philosophen und Weisen“ 183 Vgl. die immer noch maßgebende Edition: Justus Lipsius: Opera omnia, postremum ab ipso aucta et recensita: nunc primum copioso rerum indice illustrata. 4 Bde Wesel 1675.

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angemessene Möglichkeit. Diese mehr mit dem Namen Epikurs verbundene Rückzugsphilosophie war durchaus auch in Senecas Preis des kontemplativen Aufenthalts im „Garten“ und bei Cicero greifbar („Si hortum et bibliothecam habes, nil deerit“) und die Berufung auf sie lag umso näher, als der Freund Langius, der Dialogpartner in De constantia, ein berühmter Blumenzüchter war. Wie sehr sich dieses Vorstellungsmuster mit dem Namen des Lipsius verband, zeigt das Bild von Rubens,184 auf dem Lipsius in Gesellschaft stoisch Gleichgesinnter und mit einem auf den „Garten“ anspielenden Strauß von Tulpen zu sehen ist – den berühmten holländischen Tulpen. Bei Lipsius jedoch erscheint der gemeinsame Gang mit Langius in dessen Garten alsbald als Versuchung. Legte am Beginn des ersten Buches die Wahrnehmung „öffentlicher Übel“ die Flucht aus dem von Kämpfen zerrissenen Vaterland nahe, so erscheint am Beginn des zweiten Buches der Rückzug in den „Garten“ als Form der inneren Emigration, die sowenig wie die äußere Emigration eine Alternative im Sinne der Stoa bildet – nur zur Entspannung darf der „Garten“ gelegentlich dienen. Rückzug aus dem politischöffentlichen Leben in ein beschauliches Dasein ist nicht grundsätzlich als Lebensform zu bejahen. Später wandte sich Lipsius denn auch umso entschiedener der aktiven Gestaltung des Gemeinwesens zu. Dafür konnte er sich auf die römisch-stoische Tradition berufen. Schon Cicero hatte ja das stoische virtus-Ideal in diesem Sinne formiert und angesichts der katastrophalen Bürgerkriege in der Endphase der römischen Republik für ein entsprechendes Engagement im Gemeinwesen plädiert. Und obwohl bei Seneca, dem entschiedensten Vertreter des stoischen Wertesystems, die individuelle ,Seelsorge‘ überwiegt, setzte er doch auch diese typisch römisch-politische Richtung der Stoa fort. Eigentlich steht das Programm aktiver politischer Verantwortung und Gestaltung im Widerspruch zu der für die Stoa grundlegenden Lehre vom Fatum (Heimarmene). Ihr zufolge und auch in der von christlichen Autoritäten wie Augustinus weiter ausgebauten Konzeption der Vorsehung ist alles schicksalhaft vorherbestimmt. Diese schon in der römischen Antike, insbesondere in Ciceros Schrift De divinatione erörterte Schwierigkeit führte bis weit in die Moderne hinein zu der großen Debatte über die Möglichkeit des freien Willens und eines entsprechenden Handlungsspielraums trotz des fatalistisch-deterministischen Weltverständnisses. Dem weiteren stoischen Problem, wie das auf dem immanenten Kausalnexus beruhende Fatum mit einer übergeordneten 184 Hierzu der Beitrag von Klaus Mönig im vorliegenden Werk.

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Vorsehung in einen widerspruchsfreien, auch mit dem Christentum einigermaßen konformen Zusammenhang zu bringen sei, begegnet Lipsius mit der traditionellen, auch schon von Boethius (V, 1 ff.) verwendeten Auskunft, die Vorsehung sei „in Gott“, während das Fatum zwar von Gott herkomme, aber „in den Dingen“, also weltimmanent walte.185 Daß dies allerdings nicht der biblischen Lehre vom wunderbaren Eingreifen eines jenseitigen Gottes in das Weltgeschehen kompatibel ist, bringt er ausdrücklich zur Sprache.186 Insbesondere die politischen Schriften des Lipsius sind durch eine rationalisierende Grundtendenz bestimmt. Inwiefern sie sich der Orientierung an der stoischen Lehre vom alles bestimmenden Logos verdankt, läßt sich angesichts der übergreifenden neuzeitlichen Entwicklung hin zu einer durchrationalisierten Zivilisation schwer beurteilen. Mindestens war eine solche Philosophie geeignet, diese Entwicklung zu befördern und zu legitimieren, umso mehr, als sie mit entschiedenen Wertvorstellungen in Gestalt stoischer „Moral“ einen Anspruch auf Verbindlichkeit erhob. Diese Moral ist jedoch doppelgesichtig. Einerseits soll sie zur Sozialdisziplinierung der Menschen beitragen, bei Lipsius bis hin zur politischen und militärischen Disziplin – „disciplina“ ist schon ein stoisch-römisches Schlagwort bei Cicero, der den menschlichen Wert „in voluntate, studio, disciplina“ sieht (De fato V 11); andererseits arbeitet sie auf die Autonomie des Individuums hin, das unabhängig von allen Wirren, aber auch von allen Anforderungen der Zeit durch Selbstdisziplinierung für sich bestehen soll. Wie schillernd und ambivalent diese Berufung auf den Logos, auf die „recta ratio“ ist, zeigt nahezu die gesamte Geschichte der Stoa. Und wie das geschichtlich überaus wirksame Beispiel des Lipsius demonstriert, erhält der Stoizismus seine lebendige Physiognomie erst aus der jeweiligen historischen Situation. Hatte Justus Lipsius seinen Neustoizismus auf Seneca gegründet, so ging Guillaume du Vair (1556 – 1621), der sich mit seiner Schrift Trait de la Constance et Consolation s calamits publiques (1594) ganz offenkundig schon im Titel an Lipsius’ Bestseller De constantia anschloß, philologisch von Epiktet aus, dessen Encheiridion er auch übersetzte. Die eigentliche Motivation für seine Hinwendung zum Stoizismus lag wie für Lipsius in der Erfahrung der Religions- und Bürgerkriege. Zwar 185 De constantia, 1. Buch, 19. Kapitel (S. 140): „Itaque illa in deo est, & ei soli tribuitur: hoc in rebus, & ijs adscribitur“. 186 Vgl. das ausführliche Zitat S. 51.

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hatte Frankreich in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine kulturelle Blüte erlebt. Die Renaissance erreichte von Italien her das Land in der Regierungszeit Franz’ I. Der führende Humanist Georges Budé (1467 – 1540) gründete das Collège de France und die Bibliothèque Nationale; großartige Schloßbauten entstanden, darunter der Louvre und Fontainebleau. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts aber brachen die Religionskriege zwischen der katholischen Partei und den protestantischen, zunehmend calvinisierten Hugenotten aus. Die konfessionellen Kämpfe verbanden sich mit dem innenpolitischen Konflikt zwischen den adelig-ständischen Machtinteressen und den absolutistischen Tendenzen der Krone. In der Regierungszeit von Katharina von Medici (seit 1559) bildete die Bartholomäus-Nacht im Jahre 1572 einen blutigen Höhepunkt. Bei der Vermählung ihrer Tochter Margarete mit König Heinrich von Navarra ließ die Königin den Führer der Hugenotten und Tausende seiner Anhänger in der Nacht des hl. Bartholomäus (24. August) ermorden – die berüchtigte Pariser „Bluthochzeit“. Nach dem erneuten Ausbruch des Bürgerkriegs zwischen den Religionsparteien unter Heinrich III. (1574 – 1589) gewährte dessen Nachfolger Heinrich IV. 1598 im Toleranz-Edikt von Nantes Religionsfreiheit und förderte den Wiederaufbau des vom Bürgerkrieg schwer getroffenen Landes. Es ist aufschlußreich, daß du Vairs stoisch inspirierte Werke187 gerade in den Jahrzehnten entstanden, in denen das Unheil voll hereinbrach. Und ebenso aufschlußreich ist es, daß sein Zeitgenosse Jean Bodin angesichts des vom Religionskrieg zerrissenen Landes in seinem vier Jahre nach der Bartholomäusnacht erschienenen Werk Les six livres de la Rpublique für die unbedingte Autorität eines souveränen Königtums plädiert, das nur der Moral und den Naturgesetzen verpflichtet ist. Das ist die auf die Neutralisierung der Religionsstreitigkeiten angelegte politische Antwort auf das Zeitgeschehen. Du Vairs neustoische Schriften geben die philosophische Antwort. Er fordert ein von raison und volonté gesteuertes Handeln. Als Geistlicher – er wurde sogar Bischof von Lisieux – christianisiert er allerdings die stoische Gedankenwelt entschieden im Sinne der Orthodoxie, und er spiritualisiert sie mit neuplatonischen Vorstellungen, vor allem in seinem Traktat De la Sainte Philosophie. In dieser Hinsicht geht er deutlich weiter als Lipsius, obwohl er sich in seinem Werk La philosophie morale des Stoiques (1585) 187 Vgl. Guillaume du Vair: Oeuvres. Paris 1641. Reprint in 2 Bänden, Genf 1970 (mit Korrekturen und Beigaben).

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ausgiebig auf Epiktet beruft und an dem stoischen Grundsatz festhält, recht leben heiße naturgemäß leben. Er fügt hinzu: dies bedeute, sich nicht von den „passions“ hinreißen zu lassen,188 sondern der „droite raison“ (der „recta ratio“ der Stoiker) zu folgen. Vor dem Hintergrund eines naturwidrigen Bruder- und Bürgerkriegs gewann die Losung „naturgemäß leben“ ebenso einen historisch-konkreten Appellcharakter wie die stoische Bekämpfung der Leidenschaften durch die Vernunft angesichts eines von vernunftwidrigem Fanatismus zerstörten Gemeinwesens. Du Vairs Schriften erreichten zahlreiche Auflagen und auch durch Übersetzungen fanden sie weite Verbreitung, vor allem in England. Zwar bildete sich in den Niederlanden und in Frankreich der Neustoizismus besonders intensiv aus, aber er verbreitete sich auch durch die anderen Länder Europas nicht nur in Übersetzungen und literarischen Werken. Der deutsche Humanist Kaspar Schoppe (Gaspar Scioppius, 1576 – 1649) systematisierte in seiner Schrift Elementa philosophiae stoicae moralis (Mainz 1606) die stoische Ethik, wobei er hauptsächlich Seneca zugrundelegte, in Spanien verfaßte der bedeutende Autor Francisco de Quevedo sogar mehrere stoische Traktate: La cuna y la sepultura para el conocimiento propio y desengaÇo de las cosas ajenas (1634) und Nombre, origen, intento, recomendaci n y descendencia de la dotrina estoica (1635).189 Auch mehrere englische Autoren publizierten neustoische 188 Zum Hintergrund und zum Kontext dieses Themas gehören die zeitgenössischen französischen Moralisten. Vgl. Anthony Levi: French Moralists. The Theory of the Passions 1585 to 1649. Oxford 1964. 189 In: Obras completas, ed. Felicidad Buendía, Madrid 1958, S. 1190 – 1226 und S. 970 – 991. Nur die Zeit bis 1612 behandelt die fundierte Darstellung von Arnold Rothe: Quevedo und Seneca. Untersuchungen zu den Frhschriften Quevedos. Genf/Paris 1965 (Kölner Romanistische Arbeiten, N.F. 31). Karl Alfred Blüher: Seneca in Spanien. Untersuchungen zur Geschichte der Seneca-Rezeption in Spanien vom 13. bis zum 17. Jahrhundert. München 1969. Zu Quevedo als dem bedeutendsten Repräsentanten des spanischen Neustoizismus: S. 326 – 370. Blüher gibt einen umfassenden, sorgfältig belegten Überblick über alle Stationen der spanischen Seneca-Rezeption und bezieht auch wichtige Handschriften, frühe Drucke, Seneca-Übersetzungen, Seneca-Kommentare und SenecaBiographien sowie Epiktet mit ein, insbesondere das weitverbreitete Werk von Francisco Sanchez de las Brozas: Dotrina del estoico fil sopho Epicteto. Salamanca 1600 (Barcelona 1612, Pamplona 1612, Madrid 1614 und 1632; Ausgabe in: Opera omnia, 4 Bde, Genf 1766, Bd. III, S. 499 – 592). An Baltasar Graciáns Seneca-Rezeption (S. 371 – 447) demonstriert Blüher die – auch schon früher zu beobachtende – Umkodierung der ethischen Affektenlehre der Stoa in lebenstaktische Verhaltensregeln und in eine praktische Kunst der Lebensklug-

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Schriften, so der Bischof Joseph Hall, der Seneca entschieden christianisierte, und Thomas Gataker, der eine Abhandlung De disciplina Stoica (1652) seiner Ausgabe von Marc Aurels Selbstbetrachtungen beifügte; nicht zuletzt breitete sich der politische Lipsianismus in England aus.190 Ein zentrales Thema: Weisheit. Die stoische Idealfigur des Weisen von der Antike bis in die Neuzeit. Christlich-antistoische Kritik: Bidermanns ,Cenodoxus‘ als literarisches Paradigma Ein Zeitgenosse von Lipsius und Du Vair, Pierre Charron191 (1541 – 1603), hatte ebenfalls wesentlichen Anteil an der Hochkonjunktur des Neustoizismus, besonders natürlich in Frankreich, aber auch in Übersetzungen. Sein Erfolgsbuch Les trois livres de la sagesse erschien 1601 und erreichte bis 1672 neununddreißig Auflagen. Deutsch erschien es unter dem Titel Das Liecht der Weißheit (Ulm 1668) und sogar zwei Jahrhunderte nach der Erstausgabe unter dem Titel Drei Bcher von der Weisheit (Frankfurt 1801). Daß dieses Werk auf den Index gesetzt wurde, obwohl Charron Theologe war, verrät bereits, daß er sich relativ weit von der kirchlichen Orthodoxie unabhängig macht, um menschliche Autonomie, insbesondere auf den Gebieten der Moral und der „Weisheit“ zu fordern – Weisheit war seit der Antike und ganz besonders in der Stoa ein Leitbegriff. Schon in der stoischen Tradition, zuerst in der alten griechischen Stoa und dann in der römischen Stoa hat er eine große Spannweite.192 Sein historisches und wirkungsgeschichtliches Profil gewinnt der stoische Weisheitsdiskurs vor dem Hinterheit. Henry Ettinghausen: Francisco de Quevedo and the Neostoic movement. Oxford 1972. 190 Hierzu: Audrey Chew: Joseph Hall and Neo-Stoicism, in: Publications of modern Language Association 65, 1950, S. 1130 – 1145. Vgl. R. M. Wenley: Stoicism and its influence. London/Calcutta/Sidney 1925. Adriana A. McCrea: Constant Minds. Political Virtue and the Lipsian Paradigm in England. Toronto/Buffalo/ London 1997. Vgl. auch Robert C. Evans: Jonson, Lipsius and the Politics of Renaissance Stoicism. Durango, Colorado 1992. Im vorliegenden Werk ist die Abhandlung von Paul Goetsch über Shakespeare hinaus einschlägig. 191 Vgl. Pierre Charron: Les trois vrits (1595); Discours (1600); De la sagesse (1601, 1604). Reprint Paris 1986 (Corpus des oeuvres de philosophie en langue française). Vgl. auch: Pierre Charron: Toutes les oeuvres. Paris 1635. Nachdruck in zwei Bänden Genf 1970. 192 Vgl. die zahlreichen Zeugnisse in SVF III, Nr. 544 – 684.

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grund und in Konkurrenz mit anderen Weisheitskonzeptionen, die deshalb im folgenden kurz zu skizzieren sind.193 Platon orientiert seine Vorstellung von Weisheit am Reich der Ideen: am Guten und Schönen in seiner höchsten Form. Folglich kann vollkommene Weisheit nicht innerweltlich vom Menschen realisiert werden, sondern bleibt Gott vorbehalten – ein der christlichen Weisheitslehre sehr ähnliches Weisheitskonzept, wie zu sehen sein wird. Im Phaidros sagt Sokrates zu seinem Gesprächspartner, es sei etwas (unangemessen) Großes, selbst einen herausragenden Menschen wie Homer oder Solon einen Weisen zu nennen, denn dies, so meine er, komme eigentlich allein Gott zu (he` lºm\ pq´peim ; Phaidros 278 d); was die Menschen anbetreffe, so könne man sie allenfalls Philosophen, d. h. Weisheitsfreunde nennen. Die Philo-sophia schlägt kraft der durch den Eros ermöglichten Teilhabe (l´henir) lediglich eine Brücke zum Reich der Sophia. Während Sophia die (Gott vorbehaltene) Kenntnis der Ideen, der ontologischen Urverhältnisse (t_m !e· emtym) ist, kann Philosophia nur das Streben nach dieser Kenntnis sein (Platon, Def. 414 b). Aristoteles lehnte die platonische Lehre von der Teilhabe (l´henir) ab, da sie für ihn eine Überschreitung der Grenze (wyqislºr) darstellt. Daher nähert Aristoteles die Sophia der Philosophia an, und zwar beschränkt auf den innerweltlichen Bereich. Sie ist ein besonderes (,fachspezifisches‘) Wissen, das immerhin die ursächlichen Zusammenhänge kennt. Sophia im strengen Sinn ist sogar erst dasjenige Wissen, das die „ersten Ursachen und Anfänge“ kennt, die pq_tai aQt¸ai ja· !qwa¸.194 Dieses Wissen hebt die Weisen über die anderen Menschen hinaus. Ihre „Philosophie“ unterscheidet sich einerseits von der Art der „Theologie“, die Aristoteles als das vorwissenschaftliche Bemühen der

193 Zur riesigen Spezialliteratur müssen hier wenige Hinweise genügen: Hans Leisegang, Artikel Logos, in: RE XIII/1, 1926, Sp. 1035 – 1081; ders.: Artikel Sophia, in: RE III A/1, 1927, Sp. 1019 – 1039. Vor allem Ulrich Wilckens, Artikel Sophia, in: Theologisches Wçrterbuch zum Neuen Testament (ThWNT) VII, 1966, S. 465 – 475 und S. 497 – 529; ebda der Artikel Sophia von Georg Fohrer, S. 476 – 496. Ursula Klima: Untersuchungen zu dem Begriff Sapientia von der republikanischen Zeit bis Tacitus. Bonn 1971. Hermann von Lips: Weisheitliche Traditionen im Neuen Testament. Neukirchen 1990 (Umfangreiche Bibliographie, die sich sowohl auf das Alte Testament wie auf das Neue Testament bezieht). 194 Aristoteles, Metaphysik 1, 2 p 982 b 8 f.; vgl. 1, 1981 b 28; 1, 9 p 992 a 24 f..

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Mythologen versteht,195 andererseits von den Sophisten. Im Unterschied zu Platon ist Weisheit für Aristoteles eine rein theoretische, „dianoëtische“,196 keine praktische Tugend. Das stoische Weisheitsideal prägte sich am markantesten in Senecas Traktat De constantia sapientis aus197 und Diogenes Laërtios würdigte es umfassend: Er präsentierte alle Qualitäten des Weisen doxographisch.198 Über viele Jahrhunderte hinweg hatte dieses Weisheitskonzept schon in der Antike und auch in der Neuzeit die größte Breitenwirkung, weil die Stoiker es entschieden anthropologisch ausformten, indem sie das Ideal des „Weisen“ entwarfen. Weisheit, Sophia, ist für sie eine Grundtugend, die Theorie und Praxis in sich vereinigt, weil sie dem Logos entspricht, der die Einheit des Kosmos konstituiert. Der Weise stimmt mit diesem Logos geistig-erkenntnishaft überein und zugleich befindet er sich auch praktisch-ethisch mit der kosmischen Gesetzlichkeit, mit dem Logos in Übereinstimmung. Die Weisheit des Weisen ergibt sich aus der Kongruenz mit dem Logos des Weltganzen, in das er, der monistischen Immanenzlehre der Stoa zufolge, nicht bloß wie die anderen Wesen einbezogen ist: Der Logos des Weltganzen repräsentiert sich in ihm. Daher gewinnt der Weise in der stoischen Lehre eine Allheitskompetenz, er kann nicht irren, er hat alle Tugenden und kann im pantheistischen Horizont der Stoa sogar als „göttlich“ bezeichnet werden. Obwohl die Weisheit des stoischen Weisen einer di²hesir, einer auf den Logos bezogenen unveränderlichen Grundhaltung entspringt,199 ist die Vorstellung vom „Weisen“ letztlich ein stoischer Idealentwurf, der dem nach solcher Vollkommenheit Strebenden, dem pqojºptym, als Orientierung dienen soll. Erst Kant hat in der Kritik der reinen Vernunft diesen oft mißverstandenen und zu Unrecht ridikülisierten Idealentwurf des stoischen Weisen zutreffend charakterisiert.200 Nur als Stimulans erhält dieser seine Bedeutung, als – wie auch immer utopisches – Vorbild in der ausgeprägt pädagogischen und psychagogischen Lehre der Stoa. 195 Vgl. Werner Jaeger: Die Theologie der frhen griechischen Denker, Stuttgart 1953, S. 13 f., Belege in Anm. 15. 196 Nikomachische Ethik VI 3 p 1139 b 17. 197 Hierzu: Wilhelm Ganss: Das Bild des Weisen bei Seneca. Diss. Freiburg (Schweiz) 1952. 198 Diogenes Laërtios VII 117 – 125 und passim. 199 Zur di²hesir besonders aufschlußreich sind die differenzierten Darlegungen Plutarchs in seiner Schrift De virtute morali, cap. 3 (= SVF III, Nr. 459). 200 Vgl. die Ausführungen zu Kant S. 113 f.

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Eine ganz andere Valenz kommt der Weisheit im hellenistischen Judentum und im Christentum zu, und daraus resultieren bis weit in die Neuzeit hinein charakteristische Spannungen zum stoischen Weisheitskonzept, immer wieder auch entschiedene Auseinandersetzungen und Gegenprofilierungen. Übereinstimmung herrscht nur in einer Hinsicht: Die Weisheit nimmt einen sehr hohen Rang ein. Während im Alten Testament die in der Tora vorliegende Jahweweisung Weisheit ist und sonst meistens eine eher lebenspraktische und schlicht auf Frömmigkeit, auf der „Furcht des Herrn“ beruhende ,Weisheit‘ dominiert,201 stellt das Sirachbuch202 die Weisheit als eine nahezu unzugängliche himmlische Person dar. Sie wird nur durch eine besondere himmlische Gnade geoffenbart. Ja, die Weisheit gehört zu Gott selbst, der sie „vor allem andern“ (pqot´qa p²mtym) geschaffen hat. Im Weisheitslied (Sir 24) berichtet sie selbst von ihrer Präexistenz. In der sogenannten Weisheit Salomonis, einem aus Ägypten stammenden jüdisch-hellenistischen Text, erscheint die Weisheit ebenfalls als himmlische Person, sie lebt nun sogar in einer ,Symbiose‘ mit Gott203 und wird dem Menschen, der erst durch sie zum Weisen wird, nur durch Offenbarung zuteil. Sie ist demnach unverfügbar, man kann um sie nur beten (7, 7; 9, 1 – 18) und sie kommt als Pneuma (7, 7: pmeOla sov¸ar) über den Menschen. Obwohl hier teilweise sogar stoische Vorstellungen einfließen, so die Pneumalehre, zeichnet sich doch auch schon der später für das Christentum maßgebende und deshalb häufig zu antistoischer Polemik veranlassende Unterschied zur stoischen Weisheitskonzeption ab: Die Weisheit ist nun nicht mehr primär eine menschliche, sondern eine göttliche Qualität. Sie stammt nicht mehr aus dem immanenten Logos des Naturzusammenhangs, sondern wird von einer transzendenten Gottheit hergeleitet, bei der sie ihren „jenseitigen“ Sitz 201 Vgl. den Artikel Weisheit von H. Irsigler in: Neues Bibel-Lexikon. Bd. III, hg. von Manfred Görg und Bernhard Lang, Düsseldorf/Zürich 2001, Sp. 1076 – 1086 (mit umfassendem Literaturverzeichnis). Vgl. auch Horst Dietrich Preuß: Einfhrung in die alttestamentliche Weisheitsliteratur. Stuttgart 1987. Donn F. Morgan: Wisdom in the Old Testament Traditions. Oxford 1981. 202 Vgl. Eckhard J. Schnabel: Law and Wisdom from Ben Sira to Paul. A traditional historical enquiry into the relation of law, wisdom, and ethics. Tübingen 1985. Vgl. auch Hans Heinrich Schmid: Wesen und Geschichte der Weisheit. Eine Untersuchung zur altorientalischen und israelitischen Weisheitsliteratur. Berlin 1966. Johannes Marböck: Weisheit im Wandel. Untersuchungen zur Weisheitstheologie bei Ben Sira. Bonn 1971. 203 Sap. 8, 3 f.: sulb¸ysim heoO 5wousa.

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hat. Deshalb kann sie lediglich sekundär dem Menschen zuteilwerden. Von der christlichen Sakralisierung der Weisheit zeugt bis heute am eindruckvollsten, bezeichnenderweise im griechisch geprägten Ostrom, die Hagia Sophia als zentrales Heiligtum der einstigen Kaiserstadt Konstantinopel. Eine für den Diffusionsprozeß der Stoa und zugleich für den zeitgenössischen Synkretismus aufschlußreiche – durch die Rezeption im Christentum auch einflußreiche – Weisheitslehre bietet der jüdischhellenistische Religionsphilosoph Philon von Alexandria (1. Jahrhundert n. Chr.), die geistige Leitfigur der alexandrinischen Juden. Philon, der stark von der stoischen Tugend-, Affekten- und Logoslehre geprägt ist,204 unterhielt Beziehungen zum römischen Kaiserhof. Im Jahre 39/40 führte er als schon älterer Mann eine Gesandtschaft dorthin. Seine Lebenszeit fällt also zum großen Teil mit der unmittelbaren Vorgeschichte und dann der Lebenszeit von Jesus zusammen. Philon bezeichnete Griechisch als seine Muttersprache und konnte kein Hebräisch. Seinem Hauptwerk, einem großen Kommentar zur Genesis, in dem er die stoische Methode der Mythenallegorese übernahm, um die alttestamentliche Ethik mit der griechisch-philosophischen zu verschmelzen, konnte er die griechische Übersetzung des Alten Testaments, die Septuaginta zugrundelegen. Seine Weisheitslehre entwickelt er, wiederum als Allegorese biblischer Texte, vor allem in einer Schrift, welche die Editionen mit dem lateinischen Titel De migratione Abrahami versehen.205 Er entspricht nicht dem Sinn des griechischen Original-Titels Peq· !poij¸ar (etwa: ,Über das Weggehen‘, d. h. den Abschied von allen weltlichen Bindungen). Philon entwirft darin das Bild des Weisen nach dem Muster der Stoa, wenn auch mystisch radikalisierend, und er exponiert zugleich das aus Platons Symposion stammende Motiv der durch den Eros vermittelten Weisheit. Wesentlich aber im Hinblick auf die Rezeption und Transformation der stoischen Weisheitslehre, auch auf die in der Spätantike einsetzende mächtige asketische Bewegung, in der 204 Vgl. Edmund Turowski: Die Widerspiegelung des stoischen Systems bei Philon von Alexandreia. Leipzig 1927. Harry Austryn Wolfson: Philo. Cambridge/Mass. 1. Auflage 1947, 4. revidierte Auflage 1968. Das Verhältnis zur griechischen, inklusive der stoischen Ethik in Bd. I, S. 164 – 321; zur Logos- und Weisheitslehre Bd. II, S. 253 – 282. Burton L. Mack: Logos und Sophia. Untersuchungen zur Weisheitstheologie im hellenistischen Judentum. Göttingen 1973. Ders.: Weisheit und Allegorie bei Philo von Alexandrien, in: St Philo 5, 1978, S. 57 – 106. 205 Philo, with an English translation by F. H. Colson and G. H. Whitaker in ten volumes. London/Cambridge, Mass. 1958. Bd. IV, S. 132 – 267.

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sich Stoa und Christentum gemeinsam wiederfinden, ist der Grundgedanke einer von allem Leiblich-Weltlichen sich entfernenden „Tugend“, die gerade den Weisen auszeichnet. Abraham, der Prototyp des Weisen, erhält den platonisch-stoischen Befehl: „Verlasse […] die irdischen Wege […] fliehe aus dem Gefängnis, dem Leib, und von dessen Gefängniswärtern, den Genüssen und Begierden“.206 Indem er diesem Befehl folgt – und er folgt ihm auch als pqojºptym durch eigene Übung ( !sj¶sei) und Lernen (lah¶sei) – beginnt er seine Wanderung hin zum göttlichen Reich der Weisheit, der Sophia.207 Noch weiter entfernt sich die Gnosis mit ihrer Weisheitskonzeption vom stoischen Verständnis einer immanent wenn nicht zu erreichenden, so doch zu erstrebenden Weisheit: Sophia ist hier strikt überweltlich-göttlich, fällt dann aus ihrem himmlischen Ursprungsbereich heraus und muß deshalb von oben her aus der Welt, die sie gefangen hält, erlöst, d. h. aus jeder innerweltlichen Kontamination befreit werden. In ähnlicher Schärfe zeigt sich der Gegensatz zwischen dem innerweltlichen, auf die Autonomie und Autarkie des Weisen zielenden Weisheitskonzept der Stoiker und einer überweltlich ausgerichteten Weisheitslehre im Christentum. Der maßgebende Text ist der 1. Korintherbrief des Paulus.208 Er knüpft an Jesaja 29, 14 an („Ich will die Weisheit der Weisen zunichte machen, und den Verstand der Verständigen will ich verwerfen“), um alle Weisheit der Welt radikal abzuwerten (1. Kor. 1, 20 ff.): „Wo sind die Weisen dieser Welt? Hat nicht Gott die Weisheit dieser Welt zur Torheit gemacht? […] die Juden fordern Zeichen, und die Griechen fragen nach Weisheit, wir aber predigen den gekreuzigten Christus, den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit; denen aber, die berufen sind, Juden und Griechen, predigen wir Christus als Gottes Kraft und Gottes Weisheit“, und Paulus fährt fort, indem er sich auf die Gabe einer göttlich inspirierten Weisheit beruft, die alle weltliche Weisheit disqualifiziert (1. Kor. 2, 12 ff.): „Wir aber haben nicht den Geist der Welt empfangen, sondern den Geist aus Gott, so daß wir wissen können, was uns von Gott geschenkt ist. Und davon reden wir nicht mit Worten, wie sie

206 De Migratione Abrahami 9 (S. 136/137). 207 De Migratione Abrahami 28 (S. 148/149). 208 Vgl. Karl-Gustav Sandelin: Die Auseinandersetzung mit der Weisheit in 1. Korinther 15. Abo 1976. Gerhard Sellin: Hauptprobleme des Ersten Korintherbriefes, in: ANRW II 25.4, 1987, S. 2940 – 3044.

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menschliche Weisheit lehren kann, sondern mit Worten, die der Geist lehrt […]“. Laktanz erklärte in seinen zwischen 304 und 313 n. Chr. verfaßten Sieben Bchern gçttlicher Unterweisungen (Divinarum institutionum libri VII), die (griechische) Philosophie sei wertlos und durch die christliche Religion widerlegt. Sokrates, so argumentiert er im dritten Buch, das unter dem Titel De falsa sapientia (ber die falsche Weisheit) steht, sei mit dem Wissen gestorben, nichts zu wissen! Darauf folgt das vierte Buch unter dem Titel De vera sapientia et religione (ber die wahre Weisheit und Religion). Seine Quintessenz lautet: Gott hat die Wahrheit durch die Propheten und seinen Sohn geoffenbart – darin allein besteht die Weisheit. Dennoch sucht Laktanz in dieser ersten lateinischen Gesamtdarstellung der christlichen Religion noch die Nähe zu heidnischen Autoren, so zu Seneca, und er ist der erste, der Vergils vierte Ekloge christlich umdeutet.209 Ein besonders eindrucksvolles Zeugnis für das Fortwirken wesentlicher Züge und Eigenschaften des stoischen Weisen ist die Schrift des Ambrosius De Iacob et beata vita. 210 Zwar verschiebt sie die Letztbegründung der stoischen Haltung vom weltimmanenten Logos auf Gottes Wort und Gottes Gnade; aber auf diesem neuen Fundament steht das Vorbild des stoischen Weisen als biblisches Exemplum in Gestalt Jacobs: Ataraxia und Apatheia zeichnen ihn aus, er verkörpert die Virtus, weiß sich von Fortuna unabhängig und erhebt sich souverän über die Adiaphora: die äußeren Verhältnisse; mit seiner Ratio weiß er die Affekte und Leidenschaften zu beherrschen – allerdings mit einer vom göttlichen Gesetz bestimmten, nicht etwa autonomen Ratio. Der wirkungsreichste Kirchenvater, Augustinus, der in seiner noch stark unter dem Einfluß der Stoa stehenden Frühschrift De vita beata ein entsprechendes Bild des „sapiens“ entwirft (Kap. 25), definiert Weisheit später im biblisch-religiösen Sinn und läßt Mystisches einfließen: Gott selbst ist „Weisheit“ („Deus sapientia“),211 und dies vor allem deshalb, weil er mit dem „Wort“, dem Logos gleichgesetzt wird. Daraus folgt, daß gültige menschliche Weisheit, die sapientia hominis, lediglich Teilhabe an der sapientia dei ist,212 ja sapientia besteht im Besitz der allein seligmachenden Wahrheit: „Wir begreifen die Weisheit in der Erkenntnis und in der Liebe dessen, was immer ist […], was Gott ist“ – 209 210 211 212

Inst. 7, 24, 11. De Iacob et beata vita, ed. Carolus Schenkl, CSEL 32, 2. PL 32, 870; PL 41, 225; PL 42, 1035. PL 42, 1048.

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„intelligimus sapientiam in cognitione et dilectione eius, quod semper est […], quod est Deus“;213 „Weisheit, das ist die Kontemplation der Wahrheit, welche den ganzen Menschen befriedet und gottähnlich werden läßt“ – „sapientia id est contemplatio veritatis, pacificans totum hominem et suscipiens similitudinem Dei“.214 So offenkundig sich schon Paulus im ersten Brief an die Korinther gegen die Weisheit der Welt und speziell die der Griechen, d. h. gegen den Anspruch der den Adressaten seines Briefes vertrauten griechischen Philosophie wendet, und so entschieden Augustinus eine ganz bei Gott liegende, von der göttlichen Offenbarung hergeleitete oder durch mystische Teilhabe an Gott zu gewinnende Weisheit preist, so klar wird auch der Grund der Frontstellung gegen die griechische Philosophie: Sie setzte auf autonome menschliche Erkenntnis und, besonders ausgeprägt in der Stoa, auf ein Ethos, das im Weisen als dem Inbegriff eines „weltlich“ in sich vollendeten, autarken Daseins sein Idealbild erhielt. Zu ähnlichen Spannungen wie das curiositas-Verdikt der Confessiones führte in der Neuzeit Augustins Trennung von göttlich legitimierter sapientia und weltlicher scientia (modern und säkular gesprochen: von ganzheitlichem Orientierungswissen und fachspezifischem Einzelwissen) sowie sein Unternehmen, scientia nicht nur in eine subalterne Stellung an sich, sondern noch in ein Subordinationsverhältnis zur sapientia zu bringen.215 Entsprechende Thesen formuliert Augustinus in mehreren Schriften. Er ordnet die Wissenschaften (scientiae) der Weisheit (sapientia) unter und läßt sie allenfalls als Hilfsmittel gelten. Wer sie beherrscht, ist gelehrt, doctus, nicht sapiens. Gelehrt soll man dabei allerdings durchaus sein, nicht zuletzt, um die Bibel im Original hebräisch und griechisch lesen zu können. Es handelt sich um die christliche Radikalisierung einer in der antiken Philosophie weitverbreiteten Verachtung der Wissenschaften im Namen einer höheren „Weisheit“, die das Wesentliche verspricht – so schon Heraklit216 – oder 213 PL 37, 1760. 214 De sermone Domini in monte, PL 34, 1234. Vgl. Henri-Irénée Marrou: Augustinus und das Ende der antiken Bildung, zuerst Paris 1938, deutsche Übersetzung nach der 4. Auflage von 1958, Paderborn 1981, S. 467 – 470. 215 Vgl. das klassische Werk von Étienne Gilson: Introduction l’tude de Saint Augustin. Paris 1982 (erstmals 1928), darin das Kapitel ,La Sagesse‘, S. 149 – 163. 216 Vgl. das von Clemens von Alexandria überlieferte Fragment (Strom. V 115, 1 = Diels-Kranz 22 B 32): „Eins, das allein Weise, will nicht und will doch mit dem Namen des Zeus benannt werden“ (4m t¹ sov¹m loOmom k´ceshai oqj 1h´kei ja· 1h´kei Fgm¹r emola).

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doch die wesentlichen menschlichen Belange betrifft, wie Sokrates, Epikur und die Stoiker verkünden. Epikur verachtete die auf Wissen ausgerichtete ,Kultur‘217 und die Wissenschaft, soweit sie nicht die !taqan¸a fördert,218 die Stoiker zeigen, wenn man von dem Universalgelehrten Poseidonios absieht, kaum ein über ihre spezifischen Fragestellungen hinausreichendes Interesse an der Wissenschaft. Dominant blieb das Anliegen, die Einheit ihrer Philosophie zu wahren, was deren entschieden monistisch-naturphilosophischem Grundansatz entsprach. Schon in der griechischen Stoa beschränkt sich Weisheit nicht auf Erkenntnis und Einsicht. Der Weise zeichnet sich wesentlich auch durch ethische Qualitäten aus: durch die richtige Lebenshaltung und Lebensführung, durch Tugend. Der Weise ist unabhängig und (innerlich) frei, Fortuna vermag ihm nichts anzuhaben. Ebenfalls schon in der griechischen wie dann auch in der römischen Stoa bewährt er sich im praktischen Leben, ja ausdrücklich auch in der politischen und familiären Verantwortung. Diogenes Laërtios berichtet in seinen Ausführungen über Zenon, in denen er zugleich eine Gesamtübersicht über die stoischen Grundpositionen gibt, Chrysipp habe in seinem Buch über die Tugenden gesagt, „der tugendhafte Mann sei sowohl theoretisch gebildet wie auch fähig, den Anforderungen des praktischen Lebens zu entsprechen“.219 Zu den Anforderungen des praktischen Lebens, die der wahrhaft Weise erfülle, rechnete Chrysipp ausdrücklich auch die Übernahme politischer Verantwortung. „An der Staatsverwaltung“, heißt es bei Diogenes Laërtios, „wird sich ihrer [der Stoiker] Ansicht nach der Weise beteiligen, sofern kein Hinderungsgrund vorliegt, wie Chrysipp im ersten Buch über die Lebensformen sagt“, und auf den Begründer der stoischen Schule bezieht er sich, wenn er fortfährt: „Auch heiraten werde der Weise und Kinder zeugen, wie Zenon in seinem Staate sagt“,220 ja er sei „von Natur gesellig und für das tätige Leben geschaffen“.221 Cicero in De finibus (III 68) referiert: „[…] daß der Weise das Staatswesen führt und verwaltet, und, da er naturgemäß lebt, sich einer Gattin verbindet und von ihr Kinder will“ – „[…] ut sapiens velit gerere et administrare rem publicam atque, ut e natura vivat, uxorem adiungere et velle ex ea liberos“. Gerade Cicero, der 217 218 219 220 221

Usener: Epicurea, Fr. 163: paide¸am p÷sam veOce, vgl. Cicero: de finibus 1, 71 ff. Epikur: Epist. 1, 79; 2, 85. Diogenes Laërtios VII 125 – 126. Diogenes Laërtios VII 121. Diogenes Laërtios VII 123.

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neben Seneca auch in der Zeit des Neustoizismus eine Autorität allerersten Ranges war – allein seine für die stoische Überlieferung zentrale Schrift De officiis erschien im 16. Jahrhundert in mehr als dreihundert Ausgaben und Übersetzungen! – gerade Cicero verkündete das Ideal des stoischen Weisen als eine Einheit von rechtem Wissen und rechtem Handeln. In diesem Sinne formuliert er die berühmte „laudatio sapientiae“ am Ende des ersten Buches seiner Schrift De legibus. Der Weise, so heißt es dort, „fühlt, daß er zur bürgerlichen Gemeinschaft geboren ist“ – „se ad civilem societatem natum senserit“.222 Nicht ohne Eitelkeit betont Cicero, der große Redner, die eminente Bedeutung der Beredsamkeit für die politische Gestaltungskraft. In seiner Schrift De oratore führt er als „Weise“ auch große Staatsmänner wie Lykurg, Solon und Perikles, Cato und Scipio auf und fordert „was nicht zu trennen ist: die Weisheit sowohl im Reden wie im Handeln“ – „quae non potest esse seiuncta, faciendi dicendique sapientiam“. Auch in der Sammlung des Stobaios ist immer wieder zu lesen, daß der Weise aufgrund von Erfahrung und Lebensklugheit seine von den stoischen Tugenden bestimmten Fähigkeiten „politisch“ bewähre.223 Es ist bezeichnend, daß die Worte sovºr (der Weise) und spouda?or (der Tüchtige, auf das Staatswohl Bedachte) synonym verwendet werden. Gerade diese vom stoischen „Weisen“ gelebte Verbindung von Theorie und Praxis, eine Verbindung, die zur vollendeten humanitas gehört, war eine Botschaft, die seit der Renaissance Gehör fand. Charron bezeichnet dieses ethische Ideal des Weisen und der Weisheit mit seiner zentralen Vorstellung der „prudhomie“. Sie ist eine superiore, durch „volonté“ – voluntas ist ein stoischer Hauptbegriff 224 – und durch die mit der universellen ratio übereinstimmende individuelle „raison“ zu erreichende freie Selbstvollendung. Wie schon die antike Stoa in ihre Vorstellungen vom Weisen integriert er in sie alle Tugenden, die in der Natur des Menschen angelegt und von der „raison universelle“ vorgeschrieben sind – und zwar aller Religion vorgängig. Auch die von ihm hervorgehobenen Entsprechungen von Physischem und Moralischem legen eine eigenwertige Weltlichkeit der Ethik nahe. Senecas Schrift De constantia sapientis hatte die von Lipsius im Titel seines Traktats De constantia hervorgehobene stoische Tugend der constantia vorrangig als Tugend gerade des Weisen dargestellt. In der stoischen Tradition, wie sie vor 222 De legibus I, 62. 223 SVF III, Nr. 567, Nr. 611. 224 Vgl. André-J. Voelke: L’ide de volont dans le stocisme. Paris 1973.

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allem Cicero, Diogenes Laërtios und Stobaios referieren, ist es allerdings die Allheit der Tugenden und Fähigkeiten,225 die den Weisen zu einem uomo universale macht: ein Renaissance-Ideal, das bei Charron in spezifisch stoischer Ausformung weiterwirkt. Es verbindet sich auch mit einem stolzen Bewußtsein menschlicher Autarkie und Autonomie, die sich durch „constance“ gesichert weiß. Vor dem Hintergrund einer christlich geprägten Kultur, die den Menschen als prinzipiell sündig und deshalb der Gnade und der Erlösung bedürftig auf ein Jenseits hin formiert, wird der Weise zum Inbegriff menschlich-„weltlicher“ Vollendung, die in einen über die Stoa hinausreichenden kulturellen Zusammenhang gehört. In diesem kommt es auf die Autonomie des Menschen an: auf seine freie Würde, auch auf seine schöpferischen Fähigkeiten, die ihn nicht mehr lediglich als Geschöpf und schon gar nicht als Sündenknecht erscheinen lassen. Der in den Jahren 1484 und 1485 in Florenz mit Marsilio Ficino, Angelo Poliziano und Lorenzo de’ Medici befreundete Giovanni Pico della Mirandola formulierte, wenn auch mit viel neuplatonischem und naturphilosophischem Beiwerk, in seiner Schrift De hominis dignitate 226 dieses Renaissance-Ideal: „nichts erscheine der Bewunderung würdiger als der Mensch“ („nihil spectari homine admirabilius“);227 der mit dem Schöpfergott des platonischen Timaios zu vergleichende Gott der mosaischen Genesis habe den von ihm geschaffenen Menschen dazu aufgerufen, nicht in engen und starren Grenzen zu leben wie die anderen Wesen, sondern frei in universell offener Gestaltungsmöglichkeit sich selbst zu bestimmen, also autonom sein Dasein zu formen: „Du wirst von allen Einschränkungen frei nach deinem eigenen freien Willen, 225 Vgl. Cicero: de finibus III 75: „Zu Recht sagt man, alles sei sein, der allein den [rechten] Gebrauch von allem zu machen weiß“ – „recte eius omnia dicentur, qui scit uti solus omnibus“; fragend Cicero, Acad. Pr. II 136: „alles sei überall Sache des Weisen?“ – „omnia, quae ubique essent, sapientis esse?“ im Zusammenhang eines Referats über die nach stoischer Lehre dem Weisen zukommende Allheit von Tugenden und Fähigkeiten. Im dritten Buch seiner Manuductio nimmt Justus Lipsius in einer langen Aufzählung die Allheitsprädikate des Weisen auf (Manuductio III, 3 – 22), mit deutlichen Anspielungen auf Ciceros für dieses Thema ebenfalls relevante Paradoxa Stoicorum. 226 Giovanni Pico della Mirandola: Oratio de hominis dignitate – Rede ber die Wrde des Menschen. Lateinisch/Deutsch. Auf der Textgrundlage der Editio princeps herausgegeben und übersetzt von Gerd von der Gönna. Stuttgart 1997 (RUB Nr. 9658). Die Editio princeps erschien 1496, die Rede war aber schon 1486 entstanden. 227 S. 4/5.

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dem ich dich überlassen habe, dir selbst deine Natur bestimmen“ („Tu nullis angustiis coercitus pro tuo arbitrio, in cuius manu te posui, tibi illam [sc.: naturam] praefinies“);228 und dann folgt die berühmte Wendung: „[…] damit du wie ein Former und Bildner deiner selbst nach eigenem Belieben und aus eigener Macht zu der Gestalt dich ausbilden kannst, die du bevorzugst“ („ut tui ipsius quasi arbitrarius honorariusque plastes et fictor, in quam malueris tu te formam effingas“).229 Pico integriert in seine Ausführungen zwar auch die stoische Moralphilosophie, vor allem das stoische Anliegen der Affektbändigung,230 aber er strebt dem Ideal eines auch philosophischen uomo universale zu und huldigt deshalb einem eklektizistischen Synkretismus, der alle philosophischen Schulen und geistigen Strömungen zu berücksichtigen versucht, statt sich auf eine einzige zu fixieren. Es sei „ein Zeichen von Engstirnigkeit, sich ausschließlich innerhalb der Mauern der Stoa oder der Akademie aufzuhalten“ („angustae est mentis intra unam se Porticum aut Academiam continuisse“).231 Ganz auf den „Weisen“ konzentriert sich dann das universalistische Konzept des Carolus Bovillus (Charles de Bouelles) in seinem Liber de sapiente von 1509, das die Grundgedanken von Picos Rede systematisch durchführt. Ernst Cassirer hat es die „in mancher Hinsicht charakteristischste Schöpfung der Renaissance-Philosophie“ genannt.232 Es integriert die stoische Verherrlichung des Weisen und nimmt insbesondere dessen schon in der antiken Stoa auffallende Allheitsprädikationen233 auf, um sie in eine universalistisch konzipierte humanitas zu integrieren, so daß der „Weise“ zum Muster des vollkommenen, weil allseitig gebildeten Individuums wird, nach dem die Renaissance strebte. Naturhafte Begabung, die Erkenntnis des Universums, welche die eigene Universalität im Sinne der Makrokosmos-MikrokosmosRelation mitbestimmt, und die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis vereinen 228 229 230 231 232

S. 8/9. S. 8/9. S. 16/17; S. 22/23. S. 50/51. Ernst Cassirer: Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Leipzig und Berlin 1927, 5. unveränderte Auflage Darmstadt 1963, Reprint 1977, S. 93. Im Anhang dieses Werks befindet sich die Edition des Liber de sapiente durch Raymond Klibansky. Nach ihr wird im Folgenden zitiert. 233 Vgl. SVF III, Nr. 544, Nr. 557, Nr. 589, Nr. 590. Besonders wichtig für die Renaissance sind die entsprechenden Ausführungen Ciceros: SVF III, Nr. 591, Nr. 599.

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sich in ihm.234 Von ihm läßt sich daher sagen: „Er führt die Schlüssel zur Welt und zu sich selbst“ – „claves gerit mundi et sui ipsius“.235 Er besitzt gleichermaßen die intellektuelle wie die moralische virtus:236 die intellektuelle aufgrund seiner ratio, die der stoischen Tradition entsprechend die ganze Natur durchwaltet und sich im Weisen am stärksten manifestiert; die moralische, weil er, ebenfalls nach stoischem Muster, die Leidenschaften energisch – „magna vi“ – beherrscht, sich von dem, was außer seiner Verfügungsgewalt liegt, nicht bezwingen, sich insbesondere von Fortuna nicht beeindrucken läßt und daher im „besten, nämlich im ruhigen und unangefochtenen Geisteszustand sich befindet“:237 im Zustand der tranquillitas animi. Die stoischen Züge des Weisen fügen sich hier in die schon von Cicero vorgeprägte und für die Renaissance zentrale Vorstellung der humanitas ein. Im „homo sapiens“ formt sich diese humanitas ideal aus – eine Kapitelüberschrift lautet: „Quod solus Sapiens sit veraciter Homo“.238 Zugleich ist der Sapiens, weil er das „wahre“, zur Vollkommenheit gelangte Menschsein und damit das Optimum des im Kosmos Möglichen repräsentiert, wie in der Stoa ein irdischer Gott. Cicero läßt in De divinatione (II 129) einen Gesprächspartner zum andern sagen: „Deine Stoiker meinen, daß niemand außer dem Weisen göttlich sein könne“ („Stoici autem tui negant quemquam nisi sapientem divinum esse posse“). Das Echo im Liber de sapiente lautet: „Vivit denique in terris ut Deus alter“.239 Hiermit verbindet sich das im engeren Sinn ,humanistische‘ Ideal: Die gottgewollte Vollendung des natürlichen Menschen, des homo naturalis, in Gestalt des Weisen ist der homo studiosus, der durch die ,Studien‘ gebildete Mensch.240 Daß Charron in seiner beinahe ein Jahrhundert nach Bovillus’ Liber de sapiente erschienenen Schrift sich so weitgehend dem stoischen Ideal der „Sagesse“ anschloß, macht noch deutlicher, in welchem Maße er sich vom theozentrischen Vorstellungsmuster entfernte und warum die Zensur sein Werk auf den Index setzte, trotz gewisser christlicher Brückenschläge. Im „Weisen“ kristallisierte sich anthropologisch die stoische Immanenzphilosophie, die prinzipiell „weltlich“ ist. Die 234 235 236 237 238 239 240

S. 319, 322. S. 405. S. 312. S. 321. S. 316. S. 318. S. 411.

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christliche Orientierung auf eine zum Absolutum erhobene Transzendenz unterscheidet sich davon fundamental. Für Christen ist nicht der Weise, sondern der Heilige das Vorbild. Da in der frühen Neuzeit nicht zuletzt aufgrund der zivilisatorischen Entwicklung (Charron zeigt sich insbesondere naturwissenschaftlich gut informiert) die aus diesem Unterschied resultierende Spannung zunahm, wurde der stoische Weise zu einem kontrovers traktierten Lieblingsthema, und dies nicht nur im 17. Jahrhundert, etwa bei Spinoza,241 sondern bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, so daß sich sogar noch Kant damit befaßte.242 In vielen Schriften diente der Weise entweder als (neu-)stoisch formierte Leitfigur eines modernen Autonomiedenkens oder als zum christlich-antistoischen Widerspruch herausfordernde Provokation, manchmal auch – so schon im Lob der Torheit des Erasmus von Rotterdam – als Zielscheibe skeptischen Spottes, den der als Idealbild notwendigerweise auch mit utopisch-perfektionistischen Zügen ausgestattete „Weise“ leicht auf sich ziehen konnte. Das Muster für solchen Spott bot Cicero in seiner Rede Pro Murena (Kap. 61), in der er rhetorisch-polemisch einem ProzeßGegner – einem jüngeren Cato! – dessen verengte und unmenschlichrigide Einstellung im Zerrbild eines versteinerten stoischen „Weisen“ vorhält. Diese situativ zu relativierende Eskapade, die allerdings auch eine Abgrenzung gegenüber Extremformen stoischer Ideologisierung erkennen läßt, entspricht nicht dem eigentlichen Sinn der stoischen Ideal-Vorstellung vom Weisen. Diese soll zum ethischen Fortschritt anspornen, ist also wesentlich funktional zu verstehen. Zugrundeliegt die für die ausgeprägt psychagogische und pädagogische Strategie der Stoa trotz mancher gegenteiliger Aussagen zentrale Annahme, daß der sittliche Fortschritt (pqojop¶) zum Besseren möglich sei. Ausführlich und für die Wirkungsgeschichte bis hin zu Kant maßgebend, zugleich in 241 Zu Spinozas Vorstellung des Weisen vgl. S. 103. 242 Zu Kant vgl. S. 113 – 115. Ein Beispiel für die von Kant neubelebte Diskussion ist das Buch von Carl Philipp Conz, dem Lehrer Hölderlins und Hegels am Tübinger Stift: Abhandlungen fr die Geschichte und das Eigenthmliche der spteren Stoischen Philosophie, nebst einem Versuche ber Christliche, Kantische und Stoische Moral von M. Carl Philipp Conz, Diakonus in Vaihingen an der Enz. Tübingen, bei Jakob Friedrich Heerbrand, 1794. (Reprint in der Reihe Aetas Kantiana, Brüssel 1970). Zum Weisen vgl. besonders S. 30 – 39. Im Anschluß an Kant betont Conz den zur „Progression“ stimulierenden utopischen Charakter des stoischen Weisen. S. 177 weist er auf „die vortrefliche Schilderung des Stoischen Systems im eilften Briefe des zweyten Bands der Reinholdischen Briefe über die Kantische Philosophie“.

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Abgrenzung von anderen Positionen, legt dies Seneca dar.243 Die „Fortschreitenden“ (pqojºptomter, procedentes oder proficientes) sollen vor allem durch Erziehung und Selbsterziehung diesen Weg gehen. Schon vor Seneca hatte ja der auch für die christliche Tradition wichtige Philon von Alexandrien in einer stoisierenden Schrift solchen Fortschritt geradezu als eine Wanderung dargestellt,244 die bei ihm allerdings der Mensch auf dem Weg zur – jenseitigen, bei Gott liegenden – vollendeten Weisheit selbst antritt, während der Weise sonst nur als gewissermaßen statuarisches Vorbild für die „Fortschreitenden“ dient. Auch am Ende von Spinozas Ethik befindet sich der nach Weisheit Strebende auf einem – beschwerlichen – „Weg“ (via). Wie sehr die Metapher vom „Weg“, der zur „Weisheit“ führt, auch zum festen neustoischen Repertoire gehört, geht schon aus Justus Lipsius’ Schrift De constantia hervor. Geradezu idealtypisch stellt sich der „adolescens“ Lipsius hier selbst als „Fortschreitenden“, als pqojºptym auf diesem Weg dar, auf dem ihn der ältere Freund und Lehrer Langius als nahezu vollendeter Weiser führt. Er spricht zuerst vom „Weg der Standhaftigkeit und Tugend“ („Constantiae & Virtutis via“), um ihn alsbald aufzufordern: „rüste dich mit mir als Führer, dich auf den Weg zu machen, der gerade zur Stärke und Standhaftigkeit führt“ – „viam hanc ini, quae recta ad firmitudinem & Constantiam ducit“; und er fährt fort: „Der Weg von dem ich spreche, ist der der Weisheit“ – „Via quam dico, Sapientia est“.245 Daß die „Weisheit“ in der Erlangung von Standhaftigkeit und Tugend liegt, macht vollkommen klar: Weisheit beschränkt sich nicht auf vollendete Einsicht, sie ist vor allem die im Sinne der Stoa richtige Lebenshaltung. Dagegen attackiert nicht nur in theoretischen Schriften, sondern auch in poetischen Werken der christlich motivierte Antistoizismus mit Vorliebe gerade dieses Ideal des Weisen. Ein theatralisch eindrucksvolles Zeugnis dafür ist das Drama Cenodoxus des in Ehingen an der Donau geborenen Jesuiten Jacob Bidermann (1578 – 1639). Es gelangte fast gleichzeitig mit Charrons so ganz anders orientierter Schrift an die Öffentlichkeit. Der Cenodoxus wurde 1602 in Augsburg uraufgeführt 243 Seneca: Epist. 75, 8 – 14, der hier über die alte Stoa hinausgeht. Vgl. Otto Luschnat: Das Problem des Fortschritts in der alten Stoa, in: Philologus 102, 1958, S. 178 – 214. 244 Vgl. S. 80 f. 245 Justus Lipsius: De Constantia. Von der Standhaftigkeit. Lateinisch-Deutsch. Übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort von Florian Neumann, Mainz 1998. 2. Buch, Viertes Kapitel, S. 194/195.

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und war über Jahrzehnte hinweg ein veritables Erfolgsstück. Es gehört zum Genre des Jesuiten-Dramas, dem im Schulbetrieb, an den katholischen Universitäten und an den Höfen große Bedeutung zukam, vor allem in Bayern und im großen europäischen Herrschaftsbereich der Habsburger. Von einer Münchener Aufführung im Jahr 1609 wird berichtet, daß zahlreiche Fürsten sich anschließend in die Ignatianischen Exerzitien begaben und der Darsteller des Cenodoxus in den Orden eintrat. Eine deutsche Übersetzung durch Joachim Meichel, einen Schüler Bidermanns, erschien 1635.246 Sie trug der großen Beliebtheit des Stücks Rechnung. Im Mittelpunkt steht der, wie es auf dem Frontispiz der deutschen Übersetzung heißt, „Cenodoxus / Der Doctor von Pariß“, „durch dessen schröckliches Exempel S. Bruno den Carthäuser Orden angefangen“. Zugrunde liegt dem Geschehen eine mittelalterliche Legende, die lange nach dem Tod Brunos entstand. Cenodoxus, dessen sprechender Name bereits auf „eitle Ruhmsucht“ (cenodoxia) weist, verfällt diesem schon in der alten Kirche den Hauptsünden zugerechneten Laster247 und damit der zu seiner ewigen Verdammung führenden Ursünde der superbia – im Drama selbst wird sie 246 Zitiert wird im Folgenden nach: Jakob Bidermann: Cenodoxus. Deutsche Übersetzung von Joachim Meichel (1635). Herausgegeben von Rolf Tarot. Stuttgart 2000 (RUB 8958). Diese Ausgabe bietet auch eine ausführliche Bibliographie, so daß hier auf Einzel-Hinweise verzichtet werden kann. Lateinischer Text: Jacob Bidermann: Cenodoxus, hg. von Rolf Tarot. Tübingen 1963 (Text nach der Ausgabe der Ludi theatrales von 1663). 247 Vgl. Isidor von Sevilla (etwa 570 – 636 n. Chr.): De officiis ecclesiasticis, Liber II, cap. 16, § 18: „multos […] ex eis (monachis) cenodoxiae morbus commaculat […]“. In seinen Sententiae erklärte dieser in der kirchlichen Tradition wirkungsreiche Bischof, daß „der Teufel den Mönch am meisten durch cenodoxia sich unterwirft“ („maxime per cenodoxiam subicit sibi diabolus monachum“, Liber III, cap. 22, § 8). PL 81 – 84. Schon vorher hatte Johannes Cassianus, Abt in Marseille (etwa 360 – 435 n. Chr.), in seiner ebenfalls zur ethischen Unterweisung des frühen Mönchtums verfaßten Schrift De institutis monachorum et de octo principalium vitiorum remediis (,Über die Lebensweise der Mönche und über die Heilmittel gegen die acht Hauptsünden‘) eine bündige lateinische Definition des griechischen Begriffs gegeben, Liber XI, cap. 1: „spiritum jemodon¸ar, quam nos vanam sive inanem gloriam possumus appellare […]“. CSEL 17, PL 49 – 50. (Manche Ausgaben zitieren den Titel: De institutis coenobiorum et de octo principalibus vitiis). – Bidermann überträgt das sündhafte Laster der cenodoxia vom Mönchstum auf den humanistischen Gelehrten, insbesondere den stoischen ,Weisen‘ und behält mit dem Begriff die schon in den kirchlichen Schriften vollzogene Einordnung in das Tugend-Laster-Schema bei, das auch ein Grundschema seines Werkes ist.

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immer wieder genannt, in Meichels deutscher Übersetzung teils sogar mit dem lateinischen Terminus, teils deutsch als „Hoffart“. Durchgehend schreibt Bidermann diese Form der superbia dem aktuellen Typus des stoisch geprägten humanistischen Gelehrten zu. Der „Doctor“, der sich mit seiner Weisheit und mit seiner zur Schau getragenen Tugend als würdige Persönlichkeit darstellt, ist selbst in einem trügerischen Selbstbewußtsein befangen: in einem falschen Schein, der sich dann auch sekundär auswirkt – als Heuchelei. Einen Subtext zu diesem auf die Stoa gemünzten Vorwurf der Heuchelei bildet die schon seit der Antike gängige und noch bis in die neuzeitliche Moralistik reichende Darstellung Senecas als eines großen Heuchlers. Cassius Dio (etwa 150 – 235 n. Chr.) hatte in seiner vielbenutzten Rçmischen Geschichte Seneca als klugen, aber korrupten Politiker, als niedrigen Schmeichler am Hofe Neros und vor allem als einen Mann vorgeführt, der im Gegensatz zu seinen philosophischen Ansichten – im 90. Brief an Lucilius verkündete er ja sogar das Ideal der Eigentumslosigkeit – unermeßlichen Reichtum anhäufte: kurz als Inbegriff des unmoralischen Moralisten, als klassischen Heuchler.248 Im Mittelalter und im Humanismus dominierte zwar der „moralische“ Seneca und auch weiterhin bleibt dies die Hauptwahrnehmung, in der Barockzeit aber griff man auch gerne die Vorstellung des falschen Scheins, der Heuchelei auf. Es galt die „Maske“ abzureißen.249 Bei Bidermann be248 Cassius Dio LXI, 10, 2 – 4. Hierzu Paul Faider: tudes sur Sn que, Gent 1921, S. 74 – 82. 249 Als Titelbild der Erstausgabe von La Rochefoucaulds (1613 – 1680) Sentences et Maximes erscheint eine Seneca-Büste, der ein Kind als Verkörperung der Wahrheitsliebe („L’Amour de la Vérité“) die Maske vom Gesicht und den Lorbeer vom Haupt nimmt. Zu dem Chevalier de Méré sagte La Rochefoucauld: „Je crois que, dans la morale, Sénèque était un hypocrite et qu’Épicure était un saint“ – „Ich glaube, daß auf dem Gebiet der Moral Seneca ein Heuchler war und daß Epikur ein Heiliger war“ (Entretien de La Rochefoucauld avec le Chevalier de Mr sur la Recherche du bonheur, in: La Rochefoucauld: Oeuvres compl tes, Édition établie par L. Martin-Chauffier, revue et augmentée par Jean Marchand, Édition de la Pléiade, Paris 1957, S. 706). Diese Feststellung steht im unmittelbaren Kontext einer Gesprächspartie über Tugend (vertu) und Laster (vice). Im religiösen Deutungshorizont eines Zeitgenossen erscheinen La Rochefoucaulds Sentences et Maximes insgesamt als Anti-Seneca und zugleich als Angriff auf die autonome „Weisheit“ und den „Weisen“: „C’est la découverte du faible de la sagesse humaine, et de la raison […] c’est un parfaitement beau commentaire du texte de saint Augustin qui dit que toutes les vertus des infidèles sont des vices; c’est un anti-Sénèque, qui abat l’orgueil du faux sage, que ce superbe philosophe élève à l’égal de Jupiter“ (a.a.O. S. 695).

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stimmt die Personifizierung der Heuchelei als ,Hypocrisis‘ das gesellschaftliche Verhalten des stoisch formierten Cenodoxus. Die stoischen Werte werden geradezu nummernhaft durchgenommen und als Pseudowerte entlarvt. Bidermann folgt in seinem durch die Opposition von Tugenden und Lastern durchstrukturierten Werk exakt der Vorgabe in Augustins Werk De civitate dei. Die „Tugenden“ der heidnischen Römer, so heißt es darin, wären bewundernswert, wenn sie einem frommen Sinn entsprängen; da sie aber aus selbstbezogener Geltungssucht hervorgingen, seien sie „nicht als Tugenden, sondern als Laster zu beurteilen“.250 Diese Vorgaben des Kirchenvaters projizierte Bidermann speziell auf die stoischen „Tugenden“ und verdächtigte damit den zeitgenössischen Neustoizismus des Neuheidentums. Er selbst hatte sich während seines Ingolstädter Philosophiestudiums für die Leitfigur dieses Neustoizismus, für Justus Lipsius begeistert, und arbeitete nun, nachdem er eine entsprechende geistliche ,Nachhilfe‘ erfahren hatte, diesen Sündenfall ab. Die „Hypocrisis“, die von sich selbst sagt: „Den Cenodoxum hab ich gefangen“ (I 2, V. 399), greift sogleich den ethischen Zentralbegriff der Stoa, die virtus auf: „Ja auch die Tugenten so gar / Zu meinem Handel helffen zwar. / Mit Tugenten wachs ich recht auff / Beyn Tugenden ich mich ernehr […]“ (I 2, V. 369 – 373), um dann fortzufahren: „Wann er den Leuten ist im Gsicht / Da ist er aller Tugent voll / Damit man jhn nur loben soll; / Ist aber niemand da um jhn? / So ist auch alle Tugent hin“ (I 2, V. 416 – 420). Wie in der Stoa ist „Tugend“ nicht bloß ein individuelles ethisches Ziel, sie wird darüberhinaus anderen als Weg zum rechten Leben gelehrt. Aber auch dies gerät ins Licht des falschen Scheins. In den Worten der Hypocrisis: „In dem ich lehre / recht zuleben / Lehr ich sie unrecht thun darneben“.251 Die stoische Oikeiosis (Ciceros lateinischer Terminus ist ,conciliatio‘), die vom Naturgesetz der Selbsterhaltung ausgehende Aneignung des Ichs und seines Umfelds, die auch der Identitätskonstitution dient, pervertiert zur moralisch verwerflichen, weil zur „Hoffart“ führenden Eigenliebe. Den Hintergrund hierfür bildet wiederum Augustins theologisches Hauptwerk De civitate dei, in dem der Weltstaat, die civitas terrena, auf der Selbstliebe, der Gottesstaat, die civitas dei, dagegen auf der Gottesliebe beruht. Fünfzehn Jahre später ging Franz von Sales in seinem mit der Stoa, insbesondere mit Epiktet befaßten Trait de l’amour 250 civit. XIX 25. Vgl. das lateinische Zitat in Anm. 168. 251 I, 2, V. 381 f.

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de Dieu (1616) ebenfalls von diesem Konzept in Augustins De civitate dei aus.252 Dem Weltstaat ist die superbia, die „Hoffart“ zugeordnet, dem Gottesstaat die humilitas, die „Demut“. Bidermann läßt in der 3. Szene des 2. Aktes die allegorische „Philautia die aigen Lieb“ auftreten. Indem gerade sie dem „Doctor“ die einzelnen stoischen Tugenden einflüstert, werden sie von vornherein desavouiert. Im Dialog mit Philautia verlautbart der Doctor, der Weise, der aus bloßer Ruhmsucht „stets in Büchern Tag und Nacht“ liest, daß es ihm um die von Cicero mit dem stoischen virtus-Ideal verbundene „honestas“ und „dignitas“ geht: um das öffentliche Ansehen. Die in der Stoa vielzitierte Fabel des Prodikos von Herkules am Scheidewege, wie sie Xenophon in seinen Erinnerungen an Sokrates überliefert, hatte Ehre und Ansehen ganz positiv als Folge der Areté gewertet. Jetzt aber kommt es zu einer christlichen Um- und Abwertung dieser Werte, wenn Cenodoxus sagt: „Wie grosse Würdigkeit allhie / Wie groß Ansehen / Herrlichkait / Hab ich erlangt sehr weit und brait. / Fürs rechte Leben halte ich / Daß meine Werck und Thaten mich / Versterben lassen nimmermehr / Diß ist allein das ich begehr“.253 Dem christlich-barocken Vergänglichkeitspathos ist alles Irdische nur „Eitelkeit“, vanitas: umso entschiedener soll sich der Mensch auf die Ewigkeit ausrichten, wo allein Unsterblichkeit zu erlangen ist. Deshalb erscheint das weltliche Unsterblichkeitsverlangen des Cenodoxus als wahnhafte Verfehlung des wahren Lebenssinns. Dann geraten typisch stoische „Tugenden“ im Einzelnen ins Visier. Cenodoxus rühmt sich der temperantia und der mit ihr zusammenhängenden Bedürfnislosigkeit, die zur Autarkie führt: „So leb ich auch gar mässigklich / Mit schlechtem [d.h.: mit Schlichtem] laß ich gnügen mich“;254 und damit man ja versteht, daß antik-heidnische, nicht christliche Tugendvorbilder im Spiel sind, läßt Bidermann seinen Protagonisten anfügen: „Man halt / der billigkeit gemeß / Ich sey der mässig Socrates“.255 Seneca hatte in seiner Schrift De constantia sapientis, also gerade im Zusammenhang des stoischen Weisheits-Diskurses, Sokrates zum Vorbild erhoben, und bekanntlich stilisierte Seneca seinen eigenen, von Nero erzwungenen Tod nach diesem Vorbild. Bidermann liefert die polemische Kontrafaktur in der alsbald folgenden Darstellung 252 Vgl. Amand Jagu: Utilisation du stocisme par FranÅois de Sales, in: Revue des Sciences Religieuses 38, 1964, S. 42 – 59. 253 I, 3, V. 500 – 507. 254 I, 3, V 533 – 535. 255 I, 3, V. 541 f.

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vom Tod des Cenodoxus. Sowenig wie die stoische Tugend der Geduld, die patientia, fehlt im Tugendkatalog der Philautia die von Seneca in seiner Schrift De constantia sapientis gerade auf den „Weisen“ bezogene und dann durch Lipsius’ Traktat De constantia zum neustoischen Hauptschlagwort erhobene constantia: „Was für gedult du pflegst zu tragen“ schmeichelt Philautia dem Cenodoxus, und fährt fort: „Dein dapfere bestendigkeit / In Angst und Widerwertigkeit?“.256 In der Literatur des Barock erhält die Krankheit oft eine wichtige Funktion. Sie soll den Menschen an die Hinfälligkeit des Irdischen erinnern und seinen Sinn auf die Ewigkeit lenken, nicht selten steht sie auch für eine innere, reinigende Krise, die eine moralische Wendung zum Besseren bewirkt. Dementsprechend sagt Bidermanns allegorisch als „Morbus“ verkörperte Krankheit, „sie werde vom SchutzEngel zum Doctor geschickt“ – so wörtlich die Regie-Anweisung, welche die zum Tode führende Krankheitszeit und die ihr geltende umfangreiche Partie des Dramas einleitet (III, 7). Doch bewirkt „Morbus“ hier gerade nicht die vom Schutzengel erhoffte religiöse Bekehrung oder moralische Besserung. Im Gegenteil, denn Cenodoxus reagiert falsch: wie ein Stoiker, ganz so wie Cicero in seinen stark stoisch geprägten Gesprchen in Tusculum die Bewältigung des Schmerzes dargestellt hatte: als eine große Aufgabe, in der sich die stoische virtus zu bewähren habe. Bidermann pervertiert diese moralische Aufgabe, indem er sie durch den Mund der Hypocrisis als bloß scheinhafte, auf die bewundernde Umwelt berechnete Inszenierung interpretiert: „Red den verborgnen schmertzen an / Und sprich: Ach schmertz, das sag ich dir / Zu Ritter wirstu nit an mir / Ob ich dich thue schon hoch empfinden / Kanst du mich doch nit überwinden / Du richtest nichts du scharpfer schmertz / Viel ritterlicher ist mein Hertz […] Dergleichen Reden solstu thon“.257 Cenodoxus folgt diesem Ratschlag, indem er alsbald große stoische Renommier-Reden hält. Darin spielt er den „Weisen“,258 der Krankheit und Tod nicht scheut. In zitathaftem Anklang an Senecas „bene autem mori est libenter mori“259 erklärt er, daß er sich „willigklich darein ergeben“ werde und zwar „geduldig alles ohne klagen“.260 „Starckmuet und Gedult“ – stoische magnanimitas und patientia – 256 257 258 259 260

III, 4, V. 300 – 304. IV, 3, V. 154 – 163. IV, 3, V. 220 – 222. Epist. 61, 2. IV, 3, V. 226 f.

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schreibt er sich zu.261 Die „Tugend“ habe ihn gelehrt „Für nichte schätzen / Angst und schmertzen […] gar den Tod / Durchauß nit scheuhen“262 – ein Echo auf Senecas Devise „contemne mortem“.263 Auf Senecas Traktat De brevitate vitae greift er zurück, wenn er feststellt „Kurtz ist mein Leben gewesen“,264 um dann in bester stoischer Manier zu verkünden, es komme nicht auf die Dauer des Lebens, sondern darauf an, daß es in Ausübung der Tugenden gelebt wurde, und seien es auch nur „wenig Jahr“.265 All das sei Ausdruck der „Hoffart“, der superbia, muß der Schutzengel gerade im Anschluß an diese zu einem stoischen Cento zusammengefügten Verlautbarungen bedauernd feststellen, denn: „Mit falscher Tugendt“266 habe Cenodoxus den Weg zur ewigen Verdammnis unumkehrbar beschritten. Bald darauf holt ihn der Teufel persönlich in die Hölle ab. Mit dieser christlichen Kontrafaktur des stoischen „Weisen“ kämpft Bidermann gegen die Hochkonjunktur des Stoizismus in seiner Zeit an. Historisch aufschlußreich ist auch die radikale Weltverneinung am Schluß des Stückes. Erschreckt durch das furchterregende Ende des „Doctors von Pariß“, dem er beigewohnt hat, verläßt der heilige Bruno mit seinen Gefährten die Welt und begibt sich mit ihnen in eine einsame Wildnis, wo er den Kartäuser-Orden begründet. Das Stück schließt mit seinen Worten: „Fahr hin / O Welt / mit Guet und Gelt / Fahr hin all Frewd auff dieser Welt“. Der Antistoizismus dieses TheaterExempels ist letztlich durch „weltliche“ Tendenzen des Neustoizismus bedingt und steht im Horizont einer reaktiv radikalisierten Weltabsage, die ihren literarischen Höhepunkt später im 17. Jahrhundert erreichte: in Grimmelshausens Simplicissimus, der mit einem emphatischen „Adieu Welt“ schließt. Grimmelshausen übernahm es aus dem Werk des spanischen Franziskaners und späteren Bischofs von Guadix, Antonio de Guevara (ca. 1480 – 1545), dessen Werk in ganz Europa außerordentlichen Erfolg hatte und gerade auch in den Jahren, in denen Bidermann seinen Cenodoxus verfaßte, mit neuen Ausgaben und sogar deutschen Übersetzungen präsent war.

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IV, 3, V. 95. IV, 3, V. 265 – 269. Epist. 78, 5. IV, 3, V. 295. Vgl. Seneca: Epist. 70. IV, 4, V. 371.

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Da Bidermann ganz die modernen Verweltlichungstendenzen im Sinn hat, denen er nur noch eine radikale Weltverneinung entgegenzusetzen weiß, geraten die genuin asketischen Tendenzen, die sich schon in der antiken Stoa und besonders in deren kynischer Ausprägung zeigten, aus dem Blickfeld. Es mutet geradezu wie eine Ironie in der Geschichte des Stoizismus an, daß er als „weltlicher“ Gegenpol einer christlichen Weltabsage fungiert, nachdem er doch mit der asketischeremitischen Bewegung des frühen Christentums so weit übereinstimmte, daß er mit Epiktet und Boethius sogar wesentliche Erbauungsbücher des mittelalterlichen Mönchtums beisteuerte. Es ist die religiöse Angst vor der machtvoll hereinbrechenden Moderne, die bei Bidermann zu einer Art von Stellvertreterkrieg gegen den Neustoizismus führt, der so durchgängig weltlich gar nicht ist: eine religiöse Angst, die schon hundert Jahre früher in der Historie von Dr. Johann Fausten – auch er ist ein „Doctor“ – von protestantischer Seite her durchgeschlagen hatte. Der Teufel holt beide Doktoren. Bidermanns Orden kam allerdings keineswegs ohne die Stoa aus. Einer der bedeutendsten neulateinischen Dichter, der am bayerischen Hof wirkende elsässische Jesuit Jacob Balde (1604 – 1648), dem noch Herder in seiner Terpsichore ein eindrucksvolles, von Goethe sehr gewürdigtes Denkmal mit vielen eigenen Übersetzungen schuf,267 verfaßte eine Reihe von Gedichten, in denen er programmatisch stoische Vorstellungen aufnahm.268 Schon Ignatius von Loyola griff in seiner Exerzitien-Ordnung, die er in den Exercitia spiritualia von 1522 formulierte, auf stoische Elemente der Seelenführung zurück,269 und im 17. Jahrhundert entstand eine große Exerzitienbewegung. Bidermanns Stück, das er zu einem theatralischen Exerzitium machte, gewann seine Popularität auch, weil er es in das vertraute Schema der Psychomachie einbettete. Nachdem der frühchristliche Schriftsteller Prudentius (348267 Abgedruckt in: Johann Gottfried Herder: Smmtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan, Bd. XXVII, Berlin 1881. 268 Vgl. Jacob Balde SJ. Opera Poetica Omnia, hg. von Wilhelm Kühlmann und Hermann Wiegand. Frankfurt a. M. 1990, darin Lyricorum libri IV. Epodon liber unus sowie Sylvarum libri VII, beide 1643. 269 Vgl. Paul Rabbow: Seelenfhrung. Methodik der Exerzitien in der Antike. München 1954. Vgl. Ilsetraut Hadot: Seneca und die griechisch-rçmische Tradition der Seelenleitung (Quellen und Studien zur Geschichte der Philosophie 13). Berlin 1969. Pierre Hadot: Exercices spirituels et philosophie antique. Paris 1981 (deutsche Übersetzung: Philosophie als Lebensform. Geistige bungen in der Antike. Berlin 1991).

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ca. 405) die ,Psychomachie‘ erfunden hatte, war eine solche allegorische Darstellung des Kampfes zwischen personifizierten Tugenden und Lastern von den mittelalterlichen ,Moralitäten‘ bis in die ,Vice‘-Stücke der Shakespeare-Ära, also bis in Bidermanns Zeit beliebt. Nur wenige Jahre nach der Uraufführung des Cenodoxus widmete Joseph Hall diesem Thema sogar eine eigene Abhandlung: Characters of Virtues and Vices (London 1608). Mit ihrer einfachen Schwarz-Weiß-Malerei konnten nach diesem Schema angelegte Dramen bei einem erbauungsbereiten Publikum starke Effekte erzielen, und dies umso mehr, als die Laster nicht bloß als allegorische Figuren, sondern dämonisiert auftraten. Dies gilt in besonders expressiver Weise auch für bildliche Darstellungen wie etwa die Versuchung des heiligen Antonius auf Grünewalds Isenheimer Altar, wo die dämonisierten Laster-Figuren den heiligen Einsiedler bedrängen. Gerade dieses eingefahrene Schema, das die Tugenden auf der Folie des Gegenteils christlich interpretierte und propagierte, ließ es als dringliche Aufgabe erscheinen, die stoisch-weltliche Virtus mit ihrem Aufgebot von Einzeltugenden als gefährlich aktuelle Konkurrenz moralisch zu diskreditieren.

Stoische Prägungen der deutschen Literatur im 17. Jahrhundert: Opitz, Fleming und Gryphius Von ganz anderem literarischem Zuschnitt waren die Dichtungen Paul Flemings und Andreas Gryphius’. Fleming (1609 – 1639), die größte lyrische Begabung des 17. Jahrhunderts – Leibniz würdigte ihn als deutschen Horaz – schrieb neben vielen eher seriellen Gelegenheitsgedichten, wie sie für die Barockzeit charakteristisch sind, eine ganze Reihe lateinischer und deutscher Gedichte von hohem Rang. Virtuos, zugleich mit lebendiger Prägnanz zog er verschiedene Register: in Liebesgedichten das affektiv besetzte petrarkistische der unglücklichen Liebe, dann das antipetrarkistische der erfüllten Liebe, in das er modifizierte stoische Vorstellungen einbezog, schließlich programmatisch stoische Gedichte. Fleming studierte in Leiden Medizin und befand sich damit an der Quelle des Neustoizismus; als Teilnehmer eines durch den großen Bericht des Olearius berühmten, sich über Jahre erstreckenden Reise-Abenteuers, das ihn über Rußland bis nach Persien an den Hof des Schahs führte, fand er Gelegenheit, stoische Haltungen in turbulenten, immer wieder sogar in lebensbedrohenden Situationen zu erproben. Als er aufgrund einer Lungenentzündung seinen frühen Tod

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voraussah, formte er die stoische meditatio mortis zu einem außerordentlichen poetischen Gebilde. Seine Sonette An sich und Grabschrift zeugen von einer künstlerischen Meisterschaft, die das barocke StilIdeal der argutia zur scharfsinnigen Konturierung der stoischen Lebenshaltung und Lebensführung, schließlich zur Pointierung der von einem selbstbewußten Lebensrückblick ausgehenden Todesbereitschaft einsetzt. Dabei gelingt es Fleming, auf dem knapp bemessenen Raum von Sonetten stoische Grundgedanken in äußerster Verdichtung als in sich geschlossenes Konzept zu formulieren. Ebenfalls der zeitgenössischen Vorliebe für stoische Denkmuster folgte, wenn auch nicht in so vollendeter Poesie, der von Fleming verehrte Martin Opitz (1597 – 1639), der mit seinem Buch von der Deutschen Poeterey (1624) die epochemachende theoretische Grundlage für die deutsche Verskunst geschaffen hatte und sein dichterisches Engagement, das der Vorherrschaft der lateinischen Sprache in der Humanisten-Poesie entgegen wirken sollte, mit einem nationalpatriotischen Impetus verband. An die stoische Konsolationsliteratur, für die Seneca eine ganze Reihe von Beispielen bot, besonders aber an die von Lipsius und Du Vair „angesichts öffentlicher Übel“, d. h. der Kriegswirren verfaßten neustoischen Programmschriften anschließend schrieb er mitten im Dreißigjährigen Krieg sein episch weitausgreifendes Werk Trost-Getichte in Widerwertigkeit Deß Krieges (1633).270 Bereits 1623 hatte er das stoische Ideal der tranquillitas animi in seinem schon mit einem programmatischen Titel versehenen Gedicht Zlatna, Oder von Rhue [sic] des Gemtes gepriesen. Ein Echo gab Fleming mit seinem während der Reise durch Rußland verfaßten Nowgorod-Gedicht In grooß Neugart der Reußen. Wie schon Seneca verbinden Opitz und Fleming die Wunschvorstellung eines innerlich befriedeten Daseins, das weder störenden Affekten noch zerrüttenden Einwirkungen der Fortuna ausgeliefert ist, mit dem topischen Lob eines ins Idyllisch-Utopische stilisierten Landlebens. Es repräsentiert die vom Stoiker erst in einer ethischen Leistung und gegen eine bedrohliche Realität zu erringende Seelenverfassung als naturhaft gegebenes Geschenk. Stoisch besetzt ist auch Opitzens Übersetzung der Trojanerinnen des Seneca, einer Tragödie, die nach dem Vorbild der Troerinnen des Euripides das Elend des Krieges darstellt. Im Dreißigjährigen Krieg war solches Kriegselend bedrängende Gegenwart für Opitz wie für Fleming und Gryphius. Die Vorrede, die Opitz seiner Übersetzung beigab, er270 Hierzu Achim Aurnhammer im vorliegenden Werk.

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weitert die aristotelische Tragödientheorie um eine bemerkenswerte stoische Komponente. Die Wirkung, die Aristoteles in seiner Poetik der Tragödie zuschreibt, ist bekanntlich die Reinigung der Affekte Furcht und Mitleid (in anderer Lesart: von den Affekten Furcht und Mitleid). Nun war die Bändigung oder sogar Besiegung der Affekte, zu denen die schon seit der alten Stoa üblichen Affektkataloge ausdrücklich Furcht und Mitleid zählen,271 auch ein Hauptanliegen der Stoa. Hier knüpft Opitz in seiner Vorrede an, um ein stoisches Profil einzuarbeiten. Es komme darauf an, die „Verwirrungen des Gemütes“ zu „unterdrücken und dämpffen“. Die Tragödie führe das Reich der Fortuna, der „Zufälle“ vor, damit sich die Menschen „wider dieselbigen verwahren / daß sie jnen weiter nit schaden mögen als an eusserlichem Wesen / und an denen Sachen / die den Menschen eygentlich [prägnant: in seinem eigentlichen Wesen] nicht angehen“. Diese Unterscheidung zwischen der als wesentlich erachteten inneren Substanz des Menschen und den unwesentlichen äußeren Dingen (den Adiáphora) gehört zur Basis der stoischen Ethik. Besonders Epiktet hatte darauf insistiert. Dann bringt Opitz die stoische constantia ins Spiel: „Solche Beständigkeit aber wird uns durch Beschawung der Mißligkeit des Menschlichen Lebens in den Tragödien zu förderst eingepflantzet“. „Wer wird nit“, so fährt er fort, indem er noch die stoische magnanimitas hinzufügt, „Wer wird nit mit grösserem Gemüte als zuvor seines Vatterlandts Verterb und Schaden / den er nit verhüten mag [in der alten Bedeutung: kann] / ertragen / wann er die gewaltige Statt Troja / an welcher / wie die Meynung gewesen / die Götter selbst gebawet haben / siehet im Fewer stehen / und zu Staube und Asche werden?“272 Diese stoische Umkodierung steht zwar nicht im Widerspruch zur aristotelischen Tragödientheorie, verleiht ihr aber eine besondere Valenz. Grundsätzlich stimmt sie mit der aristotelischen These überein, die Tragödie könne eine positive Wirkung auf den Zuschauer ausüben, doch ist diese Wirkung anderer Art: Die Affekte sollen nicht durch ihre Erregung eine lustvolle Abfuhr, eine „Reinigung“ (Katharsis) erfahren, sondern sogleich „gedämpfft“ 271 Vgl. SVF III, Nr. 378, Nr. 381, Nr. 385, Nr. 394, Nr. 412; Kataloge von Unterarten der Hauptaffekte: Nr. 397, Nr. 401; Nr. 409 (Furcht, vºbor); Nr. 414 (Mitleid, 5keor, als Unterart des Schmerzes, k¼pg). 272 L. Annaei Senecae Trojanerinnen / Deutsch bersetzt und erklret durch Martinum Opitium. In: Martin Opitz: Weltliche Poemata 1644. Erster Teil, unter Mitwirkung von Christine Eisner herausgegeben von Erich Trunz, Tübingen 1967 (Deutsche Neudrucke, Reihe: Barock, Herausgegeben von Erich Trunz, Bd. 2), dort die zitierten Stellen aus der Vorrede S. 314 f.

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werden. So soll die Tragödie den „Verwirrungen des Gemütes“ im Sinne der stoischen tranquillitas animi entgegenwirken. Vielleicht allerdings versucht Opitz mit einer bloß oberflächenhaft stoischen Einfärbung der aristotelischen Tragödientheorie die vielumstrittene zentrale Partie über die Katharsis genuin aristotelisch zu interpretieren, indem er mit der Dämpfung der Affekte nicht wie die Stoiker strenger Observanz auf die völlige Unterdrückung der Affekte, sondern auf die peripatetische Metriopathie zielt. In eine ganz andere Richtung gehen die Märtyrerdramen, die Andreas Gryphius (1616 – 1664) aus streng christlichem Geist gestaltete und doch mit stoischen Vorstellungen zu durchdringen wußte. Statt wie Bidermann mit seinem Cenodoxus die stoische Haltung als eine scheinhafte und verwerfliche, weil bloß aus Ehrsucht und vordergründig diesseitigem Interesse entspringende Tugendfarce darzustellen, inszeniert Gryphius in seinem Märtyrer-Drama Catharina von Georgien 273 ein Geschehen, in dem die Heldin ihre stoische Beständigkeit (constantia) überhaupt erst aus ihrem festen Jenseitsglauben gewinnt und sie somit ,echt‘ leben kann. Diese Glaubenshaltung befähigt sie, alle weltlich-diesseitigen Anfechtungen zu bestehen. Schon die antike Stoa beruft sich auf Exempelfiguren wie Mucius Scaevola und Regulus, um „stoische“ Tugendhaltung in einem märtyrerhaften Handlungszusammenhang zu präsentieren. Ihre stoische magnanimitas entspringt dem für sie höchsten Wert einer unerschütterlichen Vaterlandsliebe. Bei Gryphius liegt dieser höchste Wert im Glauben an Christus, er ist jenseitig verankert. Erst aus der Kraft des Glaubens und nicht wie in der Stoa aus einer innerweltlichen Tugendhaltung vermag sich Catharina von Georgien zu bewähren. Wie ihre constantia, so entspricht auch ihre probatio einem stoischen Ideal („bewährete Bestendigkeit“ lautet der Untertitel). Aber dieses Ideal ist nun christlich mediatisiert. Wahre stoische Haltung erscheint erst infolge einer in der Sphäre des Absoluten angesiedelten Letztbegründung vollkommen gesichert und plausibel. Damit widerspricht Gryphius, der wie so viele seiner Zeitgenossen in Leiden, im Zentrum des Neustoizismus studierte, denjenigen Tendenzen des Neustoizismus, die ins „Weltliche“ gingen, und vor allem verläßt er die für die Stoa seit ihren Anfängen fundamentale monistische Weltsicht, die gar kein Jenseits kennt. 273 Hierzu sowie zu dem Märtyrerdrama Papinian vgl. die fundierte Darstellung von Katharina Grätz im vorliegenden Werk.

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Die moderne Neubelebung des stoisch-pantheistischen Monismus als weltanschauliche Wende: Spinozas Ethik Es ist eine erstaunliche Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen, daß Spinoza (1632 – 1677), der als Niederländer mit dem Neustoizismus wohlvertraut war, zur monistisch-pantheistischen Grundauffassung der Stoa zurückfand – in den gleichen Jahrzehnten, in denen Gryphius seine stoisierenden Märtyrerdramen christlich konzipierte, indem er die naturphilosophischen Fundamente der Stoa aufgab.274 Nicht eine an der Übernatur eines transzendenten Gottes orientierte und erst von dieser absoluten Instanz her ihre Verbindlichkeit beziehende Ethik, sondern ein mit der Formel „deus sive natura“ weltimmanent gerechtfertigtes Ethos bestimmt Spinozas Denken. Seine Verbindlichkeit verdankt es dem in der Gleichsetzung von Gott und Natur enthaltenen Totalitätsanspruch und der Gleichsetzung der „Natur“ mit dem Naturgesetz. Dementsprechend gewinnt in seiner Ethik die Ratio – statt des Glaubens – wieder die zentrale Bedeutung, die ihr die Stoa aufgrund des vom Logos durchwalteten naturgesetzlichen Weltzusammenhangs zugewiesen hatte.275 Im Übergang von der universellen Ratio der Natur zu der in diese eingebundenen speziellen Ratio des Menschen kommt dem menschlichen Vernunftvermögen eine regulative Funktion gegenüber den Affekten zu, weil es diesen gegenüber auf erkennende Distanz zu gehen vermag. Die stoische Ausschaltung der Affekte nimmt Spinoza

274 Vgl. Wilhelm Dilthey: Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, in: Gesammelte Schriften, Bd. 2. Karel H. E. de Jong: Spinoza en de Stoa. Leiden 1939. Susan James: Spinoza the Stoic, in: The Rise of Modern Philosophy, ed. by Tom Sorell, Oxford 1993, S. 289 – 316. Andreas Graeser: Stoische Philosophie bei Spinoza, in: Revue Internationale de Philosophie 45, S. 336 – 346. Geneviève Lloyd: Spinoza and the Stoics. London 1996. Im vorliegenden Werk vgl. die Abhandlung von Hanna Klesssinger über Spinozas Stoizismus. Zu Spinoza insgesamt vgl. die Darstellung von Wolfgang Bartuschat, in: Ueberweg, Grundriss der Geschichte der Philosophie: 17. Jahrhundert, Bd. 2, 2: Frankreich und die Niederlande, hg. von Jean-Pierre Schobinger, Basel 1993, S. 893 – 986 (mit Bibliographie, auch zur Wirkungsgeschichte). Martial Gueroult: Spinoza. 2 Bde. Paris 1968 – 1974 (Standardwerk der strukturalistischen, werkimmanenten Analyse). Texte zur Geschichte des Spinozismus, hg. von Norbert Altwicker, Darmstadt 1971. 275 Am klarsten formuliert ist diese Grundposition in SVF III, Nr. 4 (Diogenes Laërtios VII 87).

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entschieden, wenn auch mit erheblichen Modifikationen auf,276 um das Ziel der tranquillitas animi zu erreichen. Sein Terminus ist: mentis acquiescentia.277 Die Verkürzung des stoischen Gesamtkonzepts zur bloßen Morallehre, die in vielen christlichen Adaptionen stoischer Vorstellungen stattfindet, revidiert er, indem er wieder den ursprünglichen Begründungszusammenhang des übergreifenden naturphilosophisch-monistischen Konzepts zur Geltung bringt. Spinozas Ethik gipfelt am Ende nocheinmal im stoischen Ideal des Weisen, weil dieser den schweren Weg278 zur vollkommenen rationalen und intellektualen (d. h. über die ratio hinausgehenden, da auf einer scientia intuitiva beruhenden) Erfassung des Weltganzen durchschritten hat. Diese Figur des Weisen ist eigentlich das Wunschbild des Philosophen, der das in der Ethik entwickelte Programm erfüllt: ein auf Erkenntnis, ebenso sehr aber, wie in der Stoa, auf die richtige Lebenshaltung und Lebensführung zielendes ethisches Programm. Am meisten in die Zukunft allerdings wies die Reaktualisierung des stoischen Monismus und Pantheismus, weil er die christliche Abwertung der „diesseitigen“ Welt zugunsten einer jenseitigen ebenso aufhob wie die cartesianische Aufspaltung in ein für sich bestehendes, selbstgewiß denkendes Ich (res cogitans) und in eine körperlich für sich bestehende Substanz (res extensa). Spinoza setzt dagegen die eine, alles übergreifende und in sich begreifende „Natur“, die schon die Stoa als immanente Gottheit verstand.279 Eine der zentralen Formulierungen seiner Ethik 276 Zu Spinozas Lehre von den Affekten vgl. Gertrud Jung: Die Affektenlehre Spinozas, ihre Verflechtung mit dem System und ihre Verbindung mit der berlieferung, in: Kant-Studien 32, Berlin 1927, S. 85 – 150. Michael Schrijvers: Spinozas Affektenlehre. Bern/Stuttgart 1989. Vgl. auch David Bidney: The Psychology and Ethics of Spinoza. New Haven 1940. 2. Auflage New York 1962. Jon Wetlesen: A Reconstruction of basic Concepts in Spinoza’s social Psychology, in: Inquiry 12, Oslo 1969, S. 105 – 132. 277 Vgl. Donald Rutherford: Salvation as a state of mind: the place of ,acquiescentia‘ in Spinoza’s Ethics, in: British Journal for the History of Philosophy 7, S. 447 – 473. 278 Hierzu: Jon Wetlesen: The sage and the way. Spinoza’s ethics of freedom. Assen 1979. Vgl. auch Bernard Rousset: La perspective finale de l’ thique et le probl me de la cohrence du spinozisme. L’autonomie comme salut. Paris 1968. 279 Prägnant Seneca, De beneficiis IV 7: „quid enim aliud est natura quam deus et divina ratio toti mundo partibus eius inserta?“ – „was ist die Natur anderes als Gott und die göttliche ratio, die der ganzen Welt und ihren Teilen innewohnt?“ Vgl. auch SVF II, Nr. 945: tµm v¼sim ja· t¹m kºcom […] he¹m eWma¸ vasim– „die Natur und der Logos […] sei Gott, sagen sie“.

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lautet: „Deus est omnium rerum causa immanens, non vero transiens“ – „Gott ist die immanente Ursache von allem, keineswegs eine transzendente“.280 Als die große Spinozismus-Debatte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts losbrach und einen geistigen Gärungsprozeß veranlaßte, der noch weit in den deutschen Idealismus, ja noch bis zu Feuerbach fortwirkte, brachte Goethe in seinem Brief an Jacobi vom 9. Juni 1785 Spinozas Position treffend auf den Nenner: „Du erkennst die höchste Realität an, welche der Grund des ganzen Spinozismus ist, worauf alles übrige ruht, woraus alles übrige fliest. Er beweist nicht das Daseyn Gottes, das Daseyn ist Gott“.281 Eine weitere wesentliche Affinität Spinozas zu stoischen Grundanschauungen liegt im Problembereich des Determinismus, der aus der monistischen Gleichsetzung von Natur(-Gesetz) und Gott resultiert. Für die Stoa war ja das Schicksal (Heimarmene, Fatum) die Konsequenz aus der Vorstellung einer Allnatur, die von dem ihr innewohnenden Naturgesetz durchwaltet wird. Dieses ist ein universell gültiges und deshalb auch den Menschen schicksalhaft bestimmendes Gesetz. Spinoza setzt die aufgrund dieser Gesetzlichkeit gegebene Ordnung der Natur mit Gott gleich. Damit entspricht er ebenfalls dem stoischen Logos-Denken, das ein kosmo-logisches ist. Voll zum Tragen kommt es in Spinozas Tractatus theologico-politicus. Er wendet sich gegen den theologischen Anthropomorphismus einer Vorsehung, derzufolge Gott nach Zwecken und Absichten handelt. „Unter der Leitung Gottes“, schreibt Spinoza, „verstehe ich jene feste und unveränderliche Ordnung der Natur oder die Verkettung der Naturdinge. Schon oben habe ich es ausgesprochen und an anderer Stelle habe ich es bewiesen, daß die allgemeinen Gesetze der Natur, nach denen alles geschieht, nichts anderes sind als Gottes ewige Ratschlüsse, die stets ewige Wahrheit und Notwendigkeit in sich schließen. Ob wir nun sagen, alles geschieht nach Naturgesetzen oder alles wird nach Gottes Ratschluß und Leitung geordnet, läuft auf ein und dasselbe hinaus“.282 Demnach setzt die Gleichung „deus sive na280 Ethik, I. Teil, Lehrsatz 18. 281 Johann Wolfgang Goethe: Smtliche Werke, Briefe, Tagebcher und Gesprche. II. Abteilung: Briefe, Tagebcher und Gesprche, hg. von Karl Eibl u. a., Bd. 2 (29): Das erste Weimarer Jahrzehnt, hg. von Hartmut Reinhardt, Frankfurt 1997 (FA), S. 582 f. 282 „Per Dei directionem intelligo fixum illum et immutabilem naturae ordinem, sive rerum naturalium concatenationem: diximus enim supra et in alio loco jam ostendimus leges naturae universales, secundum quas omnia fiunt et determinantur, nihil esse nisi Dei aeterna decreta, quae semper aeternam veritatem et

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tura“ Gott nicht der Summe der Naturdinge gleich, sondern ihrem gesetzlichen Zusammenhang, ihrer „Verkettung“ („concatenatio“), welche die antike Stoa kausalgesetzlich – als „series causarum“ – verstand. Spinoza greift hier bis in den Wortlaut hinein auf antik-stoische Definitionen zurück, so mit der Vorstellung der Verkettung.283 Ganz dem stoischen Denkmuster entsprechend, leitet er aus der naturgesetzlichen Bestimmtheit alles Geschehens das Fatum und die notwendige Schicksalsergebenheit her. Diese ist ein wesentlicher Aspekt der stoischen Maxime „naturgemäß leben“ („secundum naturam vivere“). Schon die antike Stoa legte Wert darauf, den rational-naturgesetzlich begründeten Schicksalsbegriff von dem irrational-abergläubischen zu unterscheiden.284 Eine der Konsequenzen, die Spinoza zog, war seine scharfe Kritik des Wunderglaubens im Tractatus theologico-politicus. Feuerbach zog entschlossen die noch weitergehende Konsequenz, die schon in der monistischen und – das gilt sogar für die Pneumalehre – materialistischen Grundanschauung der Stoa lag, als er Spinozas Philosophie als „theologischen Materialismus“ bezeichnete285 und die Formel ,deus sive natura‘ durch die Formel ,aut deus aut natura‘ ersetzt wissen wollte. Wie sich Spinoza, der Bacons Idolen-Lehre und auch Hobbes kannte, im Spannungsfeld zwischen mehr oder weniger idealistischen und andererseits materialistischen Denkformen positionierte, geht aus einem Brief an einen Bekannten hervor, der ihm in einem Brief die Existenz von „Geistern“ nachzuweisen versucht hatte. Hier spricht necessitatem involvunt. Sive igitur dicamus omnia secundum leges naturae fieri, sive ex Dei decreto et directione ordinari, idem dicimus“. (Spinoza: Opera. Werke. Lateinisch und Deutsch. Erster Band: Tractatus theologico-politicus, hg. von Günter Gawlick und Friedrich Niewöhner, Darmstadt 1979, S. 104/105 (Caput III). 283 Vgl. SVF II, Nr. 1000: „Fatum, quod eRlaql´mgm Graeci vocant, ad hanc ferme sententiam Chrysippus, Stoicae princeps philosophiae, definit: ,Fatum est‘, inquit, ,sempiterna quaedam et indeclinabilis series rerum et catena volvens semetipsa sese et implicans per aeternos consequentiae ordines, ex quibus apta nexaque est‘“ – „Das Fatum, das die Griechen Heimarmene nennen, definiert Chrysipp, das Oberhaupt der stoischen Philosophie, fest in folgender Bestimmung: „Das Fatum“, sagt er, „ist eine ewige und unabänderliche Reihe und Kette der Dinge, die sich aus sich selbst fortsetzt und bis in alle Ewigkeit die Ordnungsmuster der Konsequenz einschließt, nach denen sie selbst gefügt und verknüpft ist“. (Referat des Gellius in seinen vielgelesenen Noctes Atticae VII 2). 284 Zentral: Cicero: De divinatione I 55, 125. Das Cicero-Zitat in Anm. 115 285 Vgl. Ludwig Feuerbach: Grundstze der Philosophie der Zukunft (1843), in: Ludwig Feuerbach: Werke in sechs Bnden, hg. von Erich Thies, Bd. 3: Kritiken und Abhandlungen II, Frankfurt 1975, S. 267 (§ 15).

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Spinoza, der 1656 aus der Synagoge und 1660 aus Amsterdam verbannt worden war und dessen Tractatus theologico-politicus 1674 verboten wurde, ganz ungeschützt: Die Autorität des Plato, Aristoteles und Sokrates gilt bei mir nicht viel. Ich hätte mich gewundert, wenn Sie Epikur, Demokrit, Lucretius oder einen Atomisten oder Anhänger des Atomismus angeführt hätten. Es wäre nicht wunderbar, wenn die Leute, die verborgene Qualitäten, absichtsvolle Arten, substantiale Formen und tausend andere Hirngespinste ersonnen haben, auch Gespenster und Schatten sich ausgedacht und alten Weibern Glauben geschenkt hätten, um die Autorität des Demokrit zu schwächen, auf dessen Ruhm sie so neidisch waren, daß sie alle seine Bücher, die er mit so viel Beifall herausgegeben hatte, verbrannten. Haben Sie Lust, diesen Glauben zu schenken, welche Gründe haben Sie dann, die Wunder der heiligen Jungfrau und aller Heiligen zu leugnen, die von so vielen hochberühmten Philosophen, Theologen und Historikern beschrieben sind, daß man auf hundert von diesen kaum einen von jenen anführen kann? 286

Im Hinblick darauf, daß Spinoza und der durch ihn vermittelte stoische Pantheismus eine Schlüsselrolle in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts spielte und im deutschen Idealismus intensiv rezipiert wurde, erscheint hier vor allem die Absage an den Idealismus aufschlußreich. Sein wegen der entschiedenen Immanenzlehre im strengen Sinn nicht idealistisch aufzufassender Pantheismus war dennoch idealistisch überformbar, nicht zuletzt aufgrund der Ambivalenz in der Gleichung „deus sive natura“ und der dominanten Orientierung am ganzheitlichen Denken – in seinem schon genannten Brief an Jacobi sprach Goethe davon, daß vor Spinozas Blick „alle einzelnen Dinge zu verschwinden scheinen“. Die radikalen – atheistischen und materialistischen – Konsequenzen standen bereits im Spinozismus-Streit des 18. Jahrhunderts zur Debatte und wurden schon in der antiken Stoa nur durch die an Hypostasierung grenzende Verwendung des Logos-Begriffs für das Naturgesetz vermieden. Im großen Zusammenhang der frühneuzeitlichen Stoa-Rezeption, so weit sie sich nicht auf den Bereich der stoischen Moral beschränkte, bildet Spinozas Stoizismus die Brücke von den pantheistischen Philosophen der Renaissance, besonders von Giordano Bruno, zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, zu Lessing, Goethe, Hölderlin und Schelling – um nur die markantesten Autoren zu nennen, die nicht wie Schiller primär in der Tradition der stoischen Morallehre standen. 286 Spinoza: Briefwechsel, übersetzt und eingeleitet von Carl Gebhardt, Leipzig 1914, Brief 56 an Hugo Boxel, S. 231.

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III Überkreuzung epikureischer und stoischer Strömungen im 18. Jahrhundert. Revolutionäre und religionskritische Paradigmatisierung stoischer Leitfiguren Auf die große Renaissance des Stoizismus im ausgehenden 16. und 17. Jahrhundert folgen bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts zunächst noch mancherlei Nachzügler sowohl mit gelehrten Abhandlungen wie mit poetischen Texten. Dann beginnt ein neuer Aufschwung des Stoizismus. Er hat eine doppelte Motivation und Stoßrichtung: eine politischrevolutionäre und eine religionskritische. Im Vorfeld der Französischen Revolution und dann während der Revolution selbst werden die stoischen Tugendhelden Cato und Brutus zu Leitfiguren einer gegen die absolutistische Monarchie gerichteten republikanischen Selbstverständigung; ein vom rousseauistischen Naturkult mitbefeuerter Spinozismus und mit ihm Spinozas stoische Grundlagen entwickeln sich zum Medium eines energisch säkularisierenden Aufklärungsprozesses. Von den Autoren der antiken Stoa hat nun bezeichnenderweise Epiktet in zahlreichen Editionen von Madrid bis St. Petersburg ebenso wie Marc Aurel Hochkonjunktur. Epiktet war nicht wie Cicero ein nobilitätsfixierter Adeliger und nicht wie Seneca ein steinreicher Magnat in unmittelbarer, wenn auch schließlich tödlicher Nähe zu einem tyrannischen Kaiser. Er war, zunächst jedenfalls, ein rechtloser Sklave, in dessen stoischer Tugendbotschaft die Diatribe über die Freiheit im Umfang wie in der Aussagekraft einen hervorragenden Platz einnimmt. Am anderen Ende des sozialen Spektrums fand Marc Aurel, der Kaiser, ein doppeltes Interesse: einerseits als Paradigma eines „aufgeklärten“ Absolutismus mit philanthropischen Zügen, weshalb ihn Friedrich der Große als Vorbild wählte und weshalb man sich auf ihn auch berufen konnte, um für eine aufgeklärte, nicht auf die Person des Monarchen, sondern auf die Verantwortung für das Allgemeinwohl ausgerichtete Herrschaft zu plädieren; andererseits zogen Marc Aurels Selbstgesprche die Sympathie auf sich, weil sie mit ihrer subjektiv gefärbten Verinnerlichung, mit ihrer persönlich-privat anmutenden Aussageform, mit ihrem manchmal geradezu bekenntnishaften Duktus der sich im 18. Jahrhundert entfaltenden Kultur der Empfindsamkeit und den von ihr bevorzugten literarischen Formen besonders entsprachen. Gegenüber diesen Aktualisierungen der stoischen Tradition huldigte aber doch bis weit in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein die

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Kultur des Rokoko nicht der stoischen, sondern der epikureischen Lebenshaltung: einem manchmal ins Libertinistische gezogenen Epikureismus. Das barock-heroische Pathos weicht einer rokokohaft verspielten Sinnlichkeit, in der das Lustprinzip die Oberhand gewinnt. Vergnügen (plaisir), Freude und Glück (bonheur) werden nun zu literarischen und philosophischen Hauptthemen. In der Lyrik kultivieren die Anakreontiker bis in die 1760er Jahre hinein eine epikureisch inspirierte Poesie. Auch Malerei und Plastik zeugen von dieser Tendenz: Vergnügen und Lust finden ihre Repräsentation in frivolen Darstellungen. Nichts ist dieser kulturellen Strömung fremder als die stoische Botschaft der Askese und der Tugend. Der auf Provokation angelegte Zusammenstoß ereignet sich in der Mitte des Jahrhunderts: La Mettrie veröffentlicht im damals preußischen Köln 1747 eine „Schule der Lust“ ( cole de la Volupt) und 1750 in Potsdam einen Anti-Seneca (AntiSn que ou le Souverain Bien). Ihren literarischen Höhepunkt erreicht diese antagonistische Konstellation bei Wieland, zuerst in seiner heiteren, sofort auch vom jungen Goethe bewunderten Verserzählung Musarion oder die Philosophie der Grazien (1768). In ihr erfährt ein frauenfeindlicher Jüngling, der sich der „freudescheuen Zunft / Geschwollner Stoiker“ (mitgemeint ist natürlich die christliche Sinnenfeindschaft) angeschlossen hat, durch die reizende Musarion eine Erziehung des Herzens zu einer natürlichen Lebenshaltung. Schon überständig wirkte auf die Zeitgenossen Wielands letzter großer, Fragment gebliebener Roman Aristipp und einige seiner Zeitgenossen (1800 – 1801), der das Thema reflexionsreich mit politisch-kulturellen Perspektiven verbindet. Komplexe Reaktionsverhältnisse und Überlagerungsphänomene kommen im 18. Jahrhundert dadurch zustande, daß es nicht nur eine „epikureisch“ aufgeklärte und höfisch-rokokohaft sich manifestierende Gegenbewegung gegen den stoischen Tugendrigorismus gibt, sondern auch eine weitgehend schichtenspezifisch zu verstehende bürgerliche „Tugendreaktion“ gegen die späthöfische Kultur. Sie bedient sich wiederum stoischer Muster und Vorstellungen. Das gilt schon für manche der bürgerlichen Trauerspiele, in denen bürgerliche Tugendhelden und -heldinnen gegen höfische Korruption in Stellung gebracht werden. Hier feiert die stoisch gefärbte „Moral“ als bürgerliche Sittenstrenge ihre Auferstehung, und noch mehr gilt dies für die bereits entschieden politisch – republikanisch und schließlich revolutionär – engagierte intellektuelle Elite des Bürgertums, das sich im 18. Jahrhundert herausbildete.

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Die republikanisch-stoischen Musterhelden Cato und Brutus wurden sowohl in literarischen wie in unmittelbar politischen Aktivitäten reaktualisiert. Joseph Addison und François Deschamps schrieben CatoDramen (1713 und 1715). Gottsched adaptierte sie für sein republikanisch-patriotisches Trauerspiel Sterbender Cato,287 das von 1732 bis 1757 in zehn Auflagen erschien, noch ohne politische Vorwärtsstrategie. Erst in der Zeit der Französischen Revolution kam es zu einem engagierten und manchmal agitatorischen Cato-Kult. Mit ihm verband sich der Lobpreis der Stoa und der Abscheu vor dem Epikureismus. Besonders aufschlußreich ist die Rede Robespierres am 7. Mai 1794 (im Revolutionskalender: 18 floréal, an 2). „Cato“, so rief Robespierre mit revolutionärer Emphase, und schloß noch Brutus ein, der mit seinen Mitverschworenen das tödliche Attentat auf Cäsar ausgeführt hatte, Cato schwankte nicht zwischen Epikur und Zenon. Brutus und seine berühmten Mitverschworenen, die seine Gefahren und seinen Ruhm teilten, gehörten ebenfalls zur erhabenen Schule der Stoiker, die so hohe Vorstellungen von der Würde des Menschen hatte, die so weit den Tugend-Enthusiasmus trieb und die nur den Heroismus übersteigerte: Der Stoizismus brachte die Nacheiferer von Brutus und Cato hervor bis in die schrecklichen Jahrhunderte hinein, die auf den Verlust der römischen Freiheit folgten; der Stoizismus rettete die Ehre der menschlichen Natur, die durch die Laster der Nachfolger Cäsars und vor allem durch die Duldsamkeit der Völker erniedrigt worden war.288

Darauf verurteilt Robespierre, auf Horaz anspielend, die [Schweine-] Herde Epikurs („le troupeau d’Épicure“). Um „gegen alle Tyrannen der Erde“ Krieg zu führen, ruft er nach einem neuen Cato („un nouveau Caton“). Eines Tages sollen „Cato und Cicero das Konklave des Papstes und der Kardinäle ersetzen“ („[avec] Caton et Cicéron remplacer au conclave le pape et les cardinaux“).289 In seinem flammenden Plädoyer für die stoische „Tugend“ ging Robespierre soweit, daß er unter den zahlreichen republikanischen Festtagen, mit denen die französischen 287 Hierzu der Beitrag von Barbara Beßlich im vorliegenden Werk. 288 „Caton ne balança point entre Épicure et Zénon. Brutus et les illustres conjurés qui partagèrent ses périls et sa gloire appartenaient aussi à cette secte sublime des Stoïciens, qui eut des idées si hautes de la dignité de l’homme, qui poussa si loin l’enthousiasme de la vertu, et qui n’outra que l’héroïsme: le stoïcisme enfanta des émules de Brutus et de Caton jusque dans les siècles affreux qui suivirent la perte de la liberté romaine; le stoïcisme sauva l’honneur de la nature humaine, dégradée par les vices des successeurs de César, et surtout par la patience des peuples“ (Oeuvres de Robespierre, éd. A. Vermorel, Paris 1866, S. 322). 289 S. 239 und 241.

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Revolutionäre die christlichen Festtage ablösen wollten, einen Festtag „Dem Stoizismus“ plante („Au Stoïcisme“)! 290 Hier ist die äußerste Grenze in dem fast zweitausendjährigen spannungsreichen Verhältnis zwischen Christentum und Stoizismus erreicht, die Grenze, an der sich eine radikale Säkularisierung gewaltsam durchsetzt, zugleich aber auch die Grenze, an der die stoische virtus pervertiert wurde. Denn nichts hätte der Stoa ferner gelegen als die von Robespierre geforderte Verbindung der „Tugend“ („vertu“) mit dem Terror („terreur“), mit der er in einer berühmt-berüchtigten Rede den revolutionären Terror zu rechtfertigen versuchte. Nicht weniger aufschlußreich ist es, daß die Opfer des Robespierreschen Terrors doch weiterhin Cato und Brutus als republikanische Vorbilder hochhielten, daß sie aber nicht den fanatischen Aktionismus übernahmen, in den sich Robespierre hineinsteigerte, sondern aus ihrer Opferrolle heraus ganz andere Valenzen der Stoa wahrnahmen, und zwar sowohl bei Seneca wie bei Epiktet und Marc Aurel: überlegene Resignation und eine stoische Ergebenheit in das Schicksal, in der sich die innere Unabhängigkeit des Weisen und des Helden zeige.291 Eine besondere Rolle spielte Plutarch.292 Doch nicht seine in einigen theoretischen Schriften formulierten philosophisch-kritischen Einwände gegen manche stoische Vorstellungen zählten, sondern seine seit der Renaissance auch durch bedeutende Editionen und Übersetzungen breit rezipierten Vergleichenden Lebensbeschreibungen (b¸oi paq²kkgkoi) – und darin nicht zuletzt die Biographie des stoisch-republikanischen Cäsar-Attentäters Brutus. Schillers Ruber, auf dem erst 1779 gegründeten Mannheimer Nationaltheater 1782 triumphal uraufgeführt und im Hinblick auf den despotisch regierenden württembergischen Herzog Carl Eugen mit dem Motto ,In tyrannos‘ versehen (wenig später bestrafte der Herzog den unbotmäßigen Zögling der Stuttgarter Karlsschule mit 14 Tagen Arrest und verbot ihm jede literarische Betätigung, am 22. 9. 1782 floh Schiller aus der Heimat), spielen wiederholt auf Plutarch an. Im „Römergesang“ (IV/5) bekennt sich Karl Moor zu dem Cäsar-Mörder Brutus – sogar das Motiv der Erscheinung von Cäsars 290 S. 335. 291 Wertvolle Hinweise und Belege bei Michel Spanneut: Permanence du stocisme, Gembloux 1973, S. 341. 292 Vgl. Rudolf Hirzel: Plutarch. Leipzig 1912. Konrat Ziegler: Artikel Plutarchos, in: RE 21.1 (1951), Sp. 636 – 962; als Buchausgabe: 2. Auflage Stuttgart 1964. Jackson P. Hershbell: Plutarch, in: Philosophen der Antike II, hg. von Friedo Ricken, Stuttgart 1996, S. 169 – 183.

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Geist vor der Schlacht von Philippi stammt aus Plutarchs Brutus-Biographie. Die Plutarch-Lektüre gehörte zu den Identifikationsmitteln engagierter Republikaner. Es ist bezeichnend, daß 1793, auf dem Höhepunkt der Französischen Revolution, in Tübingen eine vierbändige Plutarch-Ausgabe erschien, die Hölderlin, der zu dieser Zeit mit Hegel im Tübinger Stift studierte und sich wie viele andere Stiftler für die Revolution begeisterte, sofort erwarb.293 In Paris bekannte die durch den jakobinischen Terror in den Tod getriebene Madame Roland noch angesichts der bevorstehenden Hinrichtung, Plutarch habe sie veranlaßt, Republikanerin zu werden.294 Und von Beethoven, der im gleichen Jahr 1770 wie Hölderlin (und Hegel) geboren ist und ebenfalls überzeugter Republikaner war, berichtet sein erster, mit ihm noch gut bekannter Biograph, daß er auf seinem Sterbebett „anfing mit stoischer Weisheit dem Tode entgegen zu sehen. Plutarch und andere der griechischen Lieblingsschriftsteller lagen um ihn herum und so kam er eines Tages (es mag der 7te oder 8te vor seinem Dahinscheiden gewesen seyn) wieder auf seinen vielbewunderten Luc. Brutus zu sprechen […]“.295

293 Das Verzeichnis von Hölderlins hinterlassenen Büchern enthält die Angabe: Plutarchi Opera. Tübingen MDCCXCIII. 4 Volumina. Darauf folgt noch eine zweite, griechische Plutarch-Ausgabe ohne nähere Kennzeichnungen: Plutarchs Werke, griechisch. Vgl. die Dokumentation in: Friedrich Hölderlin: Smtliche Werke und Briefe in drei Bnden, hg. von Jochen Schmidt. Bd. 3: Die Briefe an Hçlderlin. Dokumente, hg. von Jochen Schmidt in Zusammenarbeit mit Wolfgang Behschnitt, Frankfurt 1992, S. 693. 294 Hierzu Spanneut (wie Anm. 28), S. 341. 295 Zitiert nach der Erstausgabe: Biographie von Ludwig van Beethoven. Verfasst von Anton Schindler, Musikdirector und Professor der Tonkunst. Münster 1840 in der Aschendorff’schen Buchhandlung, S. 2 f. Beethovens Biograph verwechselt den Cäsarattentäter Marcus Junius Brutus mit Lucius Iunius Brutus, den Plutarch gleich am Anfang seiner dem anderen Brutus gewidmeten Lebensbeschreibung als dessen entfernten Vorfahren nennt. Der römischen Tradition zufolge vertrieb er den letzten König Roms, Tarquinius Superbus, und begründete die römische Republik. Er galt aber auch als unmenschlich hart, weil er seine beiden Söhne, die seine politischen Ziele durchkreuzten, hinrichten ließ. Plutarch schildert dagegen Marcus Iunius Brutus, der das Attentat auf Cäsar ausführte, auch als Vorbild edler Menschlichkeit.

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Kants Stoa-Kritik im zeitgenössischen Kontext. Seine Affinität zur stoischen Auffassung des ,Mitleids‘ und der ,Pflicht‘ In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts intensivierte sich die Aufnahme der Stoa, und dies auf einem denkerisch und künstlerisch bisher noch nicht erreichten Niveau: Kant, Goethe, Schiller, Hölderlin und Kleist bilden in der Begegnung mit der Stoa moralphilosophische, anthropologische und politische Anschauungen aus, die weiterführen. Ein Zeichen des sich wieder verstärkenden Interesses an der Stoa war schon die erstmals nach der Manuductio des Lipsius unternommene Gesamtdarstellung der stoischen Philosophie durch Dieterich Tiedemann: System der stoischen Philosophie in drei Bnden, Leipzig 1776. Auch Johann Jakob Brucker bot in seiner als philosophisches Standardwerk vielbenutzten Historia critica philosophiae ein umfangreiches Kapitel über die Stoa.296 Kant, der seinerseits einen ganzen Schub moralphilosophischer Schriften im vergleichenden Anschluß an seine eigene Beschäftigung mit der Moralphilosophie der Stoa auslöste,297 erörtert stoische Positionen in verschiedenen Werken:298 in der Kritik der reinen Vernunft, in der Kritik der praktischen Vernunft, in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in der Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, schließlich in der Metaphysik der Sitten. Vorzugsweise handelt er dabei natürlich die im Jahrhundert der Aufklärung aktuellen Themen ab. Die den Stoikern und Epikureern gemeinsame Ausrichtung auf das „Glück“ (Eudämonie) entsprach dem ausgeprägten Eudaimonismus des 18. Jahrhunderts. In diesem Horizont steht für Kant das in der Stoa wie in der Aufklärung zentrale Verhältnis von Vernunft und Moral („Tugend“). Insbesondere wirft er in der Kritik der praktischen Vernunft die Frage auf, ob die Stoiker zu Recht Tugend und Glück ineins gesetzt haben. Während die Epikureer, so führt er aus, das Glück für das höchste Gut – das summum bonum – halten und die Tugend nur als die Voraussetzung für dessen Erlangung ansehen, sei bei den Stoikern die Tugend an sich schon das höchste Gut und das Glück bestehe für sie im 296 Johann Jakob Brucker: Historia critica philosophiae. 5 Bde. Leipzig 1742 – 1744. Bd. 1, Leipzig 1742, S. 893 – 981: De secta stoica. 297 Aufgeführt bei M. I. Seidler: The Role of Stoicism in Kant’s Moral Philosophy, Dissertation St. Louis University 1981, S. 2 – 5. 298 Vgl. Willi Schink: Kant und die stoische Ethik, in: Kant-Studien 18, 1913, S. 419 – 475, sowie die übergreifende Darstellung von Ulrike Santozki: Die Bedeutung antiker Theorien fr die Genese und Systematik von Kants Philosophie. Eine Analyse der drei Kritiken. Berlin, New York 2006.

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subjektiven Bewußtsein, diese Tugend zu besitzen.299 Beiden Konzepten gegenüber bestreitet Kant den Zusammenhang von Tugend und Glück.300 Ein anderer Einwand, den Kant speziell gegen die Stoiker erhebt: Die Stoiker vertrauen auf einen Tugendheroismus, der sich über die dem Menschen von der Natur gesetzten Grenzen hinwegsetze. Indirekt scheint sich Kant hier mit dem optimistischen Perfektibilitätsdenken der Aufklärung, aber auch mit einer anderen Form des aufklärerischen Optimismus auseinanderzusetzen: mit der Annahme einer ursprünglich guten Natur des Menschen, die ihn zur Vollkommenheit bestimme, wie auch die Stoiker annähmen. Dagegen geht der späte Kant gerade von einem spezifisch menschlichen Hang zum Bösen aus. Den kritischen Überlegungen in der Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (in der Anfangspartie des Zweiten Stcks) steht jedoch die Anerkennung der stoischen Bemühung um die „Tugend“ und des von der Vernunft gesteuerten Kampfes gegen die Affekte gegenüber. Dieser Kampf hat sich für ihn zwar nicht grundsätzlich gegen die natürlichen Neigungen, aber gegen die Unterordnung der Sittlichkeit unter sie zu richten. In der Kritik der reinen Vernunft hatte er eine noch strengere, der Stoa viel mehr zustimmende Position bezogen. Hier ist der stoische Weise auch für ihn ein Leitbild, ein in der Realität zwar nicht zu erreichendes, aber ein ideales, da es der „Idee“ der Weisheit entspreche; insofern gebe das Leitbild des Weisen doch ein „Richtmaß“. Das heißt, daß der Weise, obwohl er in der Realität nicht existiert, doch kein „Hirngespinst“ ist.301 Inwiefern dies der authentischen Position der alten Stoa entspricht, läßt sich nicht ohne weiteres entscheiden, denn zwar beschwören die Stoiker immer wieder den festen Typus des „Weisen“, aber indem sie ihm über alles menschlich reale Maß hinausgehende 299 Kritik der praktischen Vernunft. 1. Theil. 2. Buch. 2. Hauptstck: Von der Dialektik der reinen Vernunft in Bestimmung des Begriffs vom hçchsten Gut. Akademie-Ausgabe, Bd. V, S. 111. 300 Vgl. Maximilian Forschner: Moralitt und Glckseligkeit in Kants Reflexionen, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 42, 1988, S. 351 – 370, hier 369 f. Terence H. Irwin: Kant’s Criticism of Eudaimonism, in: Aristotle, Kant, and the Stoics. Rethinking Happiness and Duty, hg. von Stephen Engstrom/Jennifer Whiting, Cambridge 1996, S. 63 – 101. Hermann Weidemann: Kants Kritik am Eudmonismus und die Platonische Ethik, in: Kant-Studien 92, 2001, S. 19 – 37. Beatrix Himmelmann: Kants Begriff des Glcks. Berlin/New York 2003. Vgl. auch den Beitrag von Christoph Horn im vorliegenden Werk. 301 Kritik der reinen Vernunft. Die transzendentale Dialektik. Zweites Buch. Drittes Hauptstck: Das Ideal der reinen Vernunft. A 569 f./B 597 f.

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Vollkommenheiten und Kompetenzen in einer schon in der Antike immer wieder als provozierend empfundenen Manier zuschreiben, fordern sie geradezu dazu heraus, ihn entweder als Ideal-Vorstellung zu verstehen oder – von einem realistischen Standpunkt aus – in Zweifel zu ziehen. Der Weise ist nicht, auch nicht bei Kant, der pqojºptym, der noch im unabschließbaren Prozeß geistiger und sittlicher Bemühung Fortschreitende, auf den die Stoa ihre erzieherischen Bemühungen richtet und dem im Neustoizismus Justus Lipsius mit seiner Schrift De constantia eine zentrale Rolle zuweist. Vielmehr dient der Weise, sofern er nicht wirklichkeitsnah in der Gestalt eines stoakonformen Lehrers redimensioniert ist, dem pqojºptym nur als ideales Modell. Es soll zur geistigen und sittlichen Selbstvervollkommnung anleiten. Es gab in der Stoa ja auch utopische Modelle aus der Mythologie, allen voran den stoischen Tugendhelden Herkules, wie ihn zuerst die Fabel des Prodikos präsentiert. Schon die antike Stoa hatte ihr Ideal des Weisen mit dem der Apatheia verbunden. Auch Kant thematisiert im Zuge seiner Ausführungen zum „Weisen“ diesen Zusammenhang in der Kritik der reinen Vernunft. 302 Oft wurde das stoische Ideal der Apatheia als Plädoyer für steinerne Gefühllosigkeit oder gar, dem modernen Wortgebrauch entsprechend, als Stumpfsinn mißverstanden. Keineswegs jedoch meint die stoische Apatheia – schon Seneca bescheinigte diesem Begriff eine irritierende Ambiguität303 – eine inhumane Unempfindlichkeit, auch nicht, wie Kant augenzwinkernd annimmt, ein vor Erregungen schützendes Phlegma (das er nicht gerne dem Weisen zumutet). Stoische Apatheia ist die Haltung dessen, der sich aufgrund weiterreichender Einsicht – eben sie macht den „Weisen“ aus – nicht durch einzelne schlimme Ereignisse überwältigen läßt und sich damit seelisch nicht der im Hellenismus zu einer übermächtigen Instanz erhobenen Tyche (Fortuna) ausliefert;304 der sich außerdem dank seiner Selbstbeherr302 Vgl. Marcia W. Baron: Sympathy and Coldness: Kant on the Stoic and the Sage, in: Proceedings of the VIIIth International Kant Congress, vol. 1, part 2, Milwaukee 1995, S. 691 – 702. 303 Seneca, Epist. 9, 2: „In Doppelsinn verfällt man notwendig, wenn wir !p²heia mit einem Wort rasch ausdrücken wollen […]“ („In ambiguitatem incidendum est, si exprimere !p²heiam uno verbo cito voluerimus […]“). 304 Diogenes Laërtios VII 117 (= SVF III, Nr. 448) – mit der klaren Unterscheidung zwischen der stoischen, auf einer ethischen Anstrengung beruhenden Apatheia, und der verächtlichen, die bloß auf menschliche Defizite zurückzuführen ist. – Speziell zur Unbesiegbarkeit durch Tyche, die den Weisen zum

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schung auch nicht durch Leidenschaften zerrütten läßt. Wer dies zu leisten vermag, ist „weise“ – und in der Tat ist die Apatheia Ergebnis einer ethischen Leistung, nicht eine schlicht vorhandene Befindlichkeit. In der Abhandlung Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (§ 75) kommt Kant noch einmal auf den Weisen und seine Apathie zu sprechen, und nun im Hinblick auf ein Thema, das schon in der Antike, auch in der Stoa selbst, lebhaft diskutiert wurde, das mehrere Kirchenväter kritisch aufgriffen, das Lipsius in seiner Schrift De constantia in engem Anschluß an Seneca traktierte und das im 18. Jahrhundert, ja noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein geradezu aktuell wurde: das Mitleid.305 Die Humanitätsbewegung im Verein mit der seit Rousseau in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sich ausbreitenden Gefühlskultur hatte auch eine philanthropische Mitleidsmode zur Folge.306 Rousseau selbst erhob in seinem 1755 erschienenen Discours sur l’origine et les fondements de l’ingalit parmi les hommes das Mitleid (pitié) zur naturhaft gegebenen menschlichen Kardinaltugend.307 Mitleid als gerade !pah¶r macht: SVF I, Nr. 449: fti b sov¹r rp¹ t/r t¼wgr !¶ttgtºr 1sti ja· !do¼kytor ja· !j´qaior ja· !pah¶r.

305 Mitleid als unvernünftiger Affekt und bloße Schwäche schon bei Zenon (Diogenes Laërtios VII, 111 und 123), ja als Krankheit der Seele (SVF I, Nr. 213), Cicero: Tusculanae disputationes IV 26 (56), Seneca: De clementia II 4, 4 und 5 f. Lactanz, Inst. Div. III 23: „inter vitia et morbos misericordiam ponit“ [Zenon]; Lactanz, Epist. ad Pentad. 38: „Zeno Stoicorum magister, qui virtutem laudat, misericordiam […] tamquam morbum animi diiudicavit“.Lipsius: De constantia (wie Anm. 128), S. 85/89. 306 Vgl. hierzu: Hans-Jürgen Schings: Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch. Poetik des Mitleids von Lessing bis Bchner. München 1980. 307 „Ich glaube keinen Widerspruch fürchten zu müssen“, schreibt Rousseau, „wenn ich dem Menschen die einzige natürliche Tugend zuspreche, die der übertriebenste Verleumder der menschlichen Tugenden [gemeint ist Mandevilles The Fable of the Bees] anzuerkennen gezwungen ist. Ich spreche vom Mitleid […] es ist eine Tugend, die unter den Menschen umso verbreiteter und umso nützlicher ist, als sie bei ihnen dem Gebrauch jeglicher Reflexion vorhergeht“, und er fährt nach der Demonstration an Beispielen fort: „So ist die reine, jeder Reflexion vorausliegende Regung der Natur. So ist die Stärke des natürlichen Mitgefühls, das selbst die entartetsten Sitten Mühe haben zu zerstören“. Deshalb leitet Rousseau alle sozialen Tugenden aus dem Mitleid ab: „In der Tat, was sind die Freigebigkeit, die Klugheit, die Menschlichkeit, wenn nicht das auf die Schwachen, die Schuldigen oder das ganze Menschengeschlecht übertragene Mitleid? […] Es ist demnach gewiß, daß das Mitleid ein natürliches Gefühl ist, das in jedem Individuum die Gewalt der Eigenliebe mäßigt und zur wechselseitigen Erhaltung der gesamten Gattung beiträgt. Gerade das Mitleid bringt uns dazu, ohne Nachdenken denen zu Hilfe zu kommen, die wir leiden sehen“ – „Je ne crois pas avoir aucune contradiction à

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aufgrund affektiver Intensität kultivierte humane Qualität, als Tugend, die nicht wie die stoische virtus rational und sekundär formiert, sondern gefühlshaft und primär gegeben ist – das war der zeitgenössische Vorstellungshorizont, in dem Kant schrieb. Im 19. Jahrhundert machte Schopenhauer das Mitleid zum Fundament der Ethik308 und in der Zeit des sogenannten „Weltschmerzes“ wuchs sich die Mitleidskonjunktur ins Pathologische aus. Von bloßer Sentimentalität reichte sie bis zu einer schon in der christlichen Tradition vorhandenen Leidens- und Mitleidsmystik. Am intensivsten gestaltet und diagnostiziert Georg Büchner, der bekanntlich auch Arzt und medizinischer Forscher war, die pathologischen und mystischen Züge des Mitleids in seiner zu den Höhepunkten der Literatur gehörenden Erzählung Lenz. Die antike Stoa kämpfte programmatisch gegen die „Krankheiten der Seele“ an und suchte nach Therapien – deshalb interessierte sich ja auch der berühmte Arzt Galen, Leibarzt Marc Aurels und eine medizinische Autorität weit über die Antike hinaus, insbesondere für die stoische Affektenlehre. In seinen noch bis in die Neuzeit hinein vielcraindre, en accordant à l’homme la seule vertu naturelle qu’ait été forcé de reconnaître le détracteur le plus outré des vertus humaines. Je parle de la pitié […] vertu d’autant plus universelle et d’autant plus utile à l’homme, qu’elle précède en lui l’usage de toute réflexion [es folgen Beispiele] Tel est le pur mouvement de la nature, antérieur à toute réflexion; telle est la force de la pitié naturelle, que les moeurs les plus dépravées ont encore peine à détruire […] en effet, qu’est-ce que la générosité, la clémence, l’humanité, sinon la pitié appliquée aux faibles, aux coupables, ou à l’espèce humaine en général? […] Il est donc bien certain que la pitié est un sentiment naturel, qui, modérant dans chaque individu l’activité de l’amour de soi-même, concourt à la conservation mutuelle de toute l’espèce. C’est elle qui nous porte sans réflexion au secours de ceux que nous voyons souffrir“ ( Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’Origine de l’Ingalit parmi les Hommes, in: Jean-Jacques Rousseau: Schriften zur Kulturkritik, eingeleitet, übersetzt und herausgegeben von Kurt Weigand, Hamburg 1971 u. ö. (Philosophische Bibliothek Bd. 243), S. 170/171 – 176/177). 308 Unter den vielen einschlägigen Feststellungen in Schopenhauers Werk sind die Paragraphen 18 und 19 seiner Schrift Grundlage der Moral hervorzuheben. Er begründet darin die „Wahrheit, daß das Mitleid, als die einzige nicht egoistische, auch die alleinige ächt moralische Triebfeder sei“, und fährt nach diesem einleitenden Satz des § 19 fort: „[…] Mitleid mit allen lebenden Wesen ist der festeste und sicherste Bürge für das sittliche Wohlverhalten. Wer davon erfüllt ist, wird zuverlässig Keinen verletzen, Keinem wehe thun […] und alle seine Handlungen werden das Gepräge der Gerechtigkeit und Menschenliebe tragen“ (Arthur Schopenhauer: Smtliche Werke, hg. von Arthur Hübscher, 3. Auflage, Bd. 4: Schriften zur Naturphilosophie und Ethik, Wiesbaden 1972, S. 231, S. 236).

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gelesenen Schriften309 vermittelte er, wenn auch durchaus kritisch, die stoischen Lehrmeinungen aus Chrysipps Schrift ber die Affekte (peq· pah_m), die er ein „therapeutisches Büchlein“ nennt (heqapeutij¹m bibk¸om).310 Schon Aristoteles hatte den beiden eng verwandten Affekten Furcht (vºbor) und Mitleid (5keor) „wie auch allen derartigen krankhaften Zuständen“ ( ja· t_m toio¼tym pahgl²tym) beizukommen versucht: durch die von der Tragödie ausgehende Erschütterung, der er eine kathartische Wirkung zuschrieb. Die Stoa wählte einen ganz anderen Weg: den der rational gesteuerten und auf praktische Effizienz ausgerichteten Bändigung des Mitleidsgefühls. Hier setzt Kant zustimmend an, indem er die aufgeklärte und aufklärende „Vernunft“ zur Geltung bringt. In der stoischen Diskussion über das Mitleid konnte Kant vor allem auf Seneca zurückgreifen. Dessen Schrift De clementia stellte die stoische Haltung zum Mitleid gegen die auch schon zu seiner Zeit verbreiteten Vorwürfe inhumaner Hartherzigkeit klar. Seneca erläutert die grundsätzliche stoische Ablehnung der „misericordia“, des Mitleids, sofern es zu einer Fehlhaltung (vitium) der Seele, ja zu einer Seelenkrankheit (aegritudo animi) wird, die den Weisen ebensowenig befällt wie das andere Extrem, die Grausamkeit. Das Mitleid, das lediglich eine Ansteckung durch das Leiden anderer bleibt, schwäche den Menschen und behindere eine tätige und besonnene Hilfeleistung. Gerade sie aber zeichne den Weisen aus. Nur weil er nicht innerlich angegriffen und emotional verwirrt wird, weiß er sofort hilfreichen Rat zu schaffen („in expedito consilium habet“).311 Kant kennt diese Version der stoischen Mitleidslehre genau. Ganz anders als Nietzsche, der ein Jahrhundert später gegen die christliche Bejahung des Mitleids und Schopenhauers Mitleidskult eine extreme Gegenposition vertritt,312 anerkennt er sie, steuert aber noch eine wichtige Differenzierung bei, indem er dem gefühlshaften Mitleid wenigstens eine initiierende Funktion für die Hilfeleistung zugesteht. In § 75 der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht betont er wie Seneca, daß 309 Vgl. vor allem De locis affectis und De placitis Hippocratis et Platonis. Die einschlägigen Partien in: SVF III, Nr. 457 – 480. Zu Galen vgl. S. 22. 310 SVF III, Nr. 457. 311 L. Annaeus Seneca: Philosophische Schriften. Lateinisch und Deutsch, hg. von Manfred Rosenbach. 5. Bd.: De clementia, De beneficiis. ber die Milde. ber die Wohltaten, Darmstadt 1989 u. ö., S. 22/23 – 24/25 (II, 6). 312 Vgl. hierzu die Beiträge zu Schopenhauer und Nietzsche von Barbara Neymeyr im zweiten Band.

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die Vernunft statt des Affekts bestimmend sein müsse, billigt aber der „Weisheit der Natur“ in der Form des Affekts eine vorlufige, stimulierende Bedeutung zu. Dann aber tritt die Weisheit der Vernunft an die Stelle der Weisheit der Natur, die ihr nur die Bahn bereitet: Das Princip der Apathie: daß nämlich der Weise niemals im Affect, selbst nicht in dem des Mitleids mit den Übeln seines besten Freundes sein müsse, ist ein ganz richtiger und erhabener moralischer Grundsatz der stoischen Schule; denn der Affect macht (mehr oder weniger) blind. – Daß gleichwohl die Natur in uns die Anlage dazu eingepflanzt hat, war Weisheit der Natur, um provisorisch, ehe die Vernunft noch zu der gehörigen Stärke gelangt ist, den Zügel zu führen, nämlich den moralischen Triebfedern zum Guten noch die des pathologischen (sinnlichen) Anreizes, als einstweiliges Surrogat der Vernunft, zur Belebung beizufügen. Denn übrigens ist Affect, für sich allein betrachtet, jederzeit unklug; er macht sich selbst unfähig, seinen eigenen Zweck zu verfolgen, und es ist also unweise ihn in sich vorsätzlich entstehen zu lassen.313

Kant nahm auch die große Bedeutung wahr, welche die Stoa in ihrem ausgeprägt pädagogischen und psychagogischen Engagement markanten Beispielen zumaß. In erster Linie dürfte ihm das stoische Ur-Exempel des Herkules vor Augen gestanden haben, das bis ins 18. Jahrhundert zum festen Repertoire gehörte, doch hatte die Stoa auch eine ganze Reihe anderer Exempel-Figuren aufgestellt. Anschließend an den zitierten Passus aus der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht reflektiert Kant die motivierende und formierende Kraft solcher Beispiele im systematischen Zusammenhang der stoischen Affektenlehre und der Rolle der Vernunft in ihr:314 Seine Ausführungen zeugen von dem Bewußtsein, daß die stoische Psychagogie ähnlich wie die geistliche gerade mittels Exempelfiguren eine populäre Wirkungsstrategie verfolgte („Reden ans Volk“), aber auch eine Methode der Selbstermutigung entwickelte, für die Marc Aurels Selbstgesprche (T± eQr 2autºm) das bekannteste Beispiel bilden („Reden […] einsam an sich selbst“). Das stärkste Interesse an der Stoa nahm Kant, der Philosoph der Pflicht, aufgrund des vor allem in der römischen Stoa zentralen Begriffs der Pflicht, des „officium“. Auch hier handelt es sich nicht um eine bloß systematisch zu verstehende philosophische Reflexion. Sie steht im historischen Zusammenhang eines übergreifenden historischen und aktuellen Diskurses. Schon die von Lipsius ausgehende niederländische 313 Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. AA VII, S. 253 f. 314 Ebda.

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Bewegung hatte Preußen ethisch, politisch und militärisch geprägt.315 Daher ist es auch nicht nur von rezeptionsgeschichtlicher Bedeutung, daß Kant besonders nach der Hauptschrift der stoischen Pflichtenlehre, nach Ciceros De officiis, griff und Christian Garves großen Kommentar zu diesem Werk heranzog.316 Er wußte sich mit diesem Interesse in einem preußisch-aktuellen Konsens, nicht zuletzt mit Friedrich dem Großen. Dieser bezeichnete sich selbst als „philosophe stoïcien“ und bekannte sich in einem Gedicht mit dem Titel Le Stocien geradezu programmatisch zur Stoa.317 Neben seinem Vorbild Marc Aurel, den er in seiner Ode sur la gloire als „L’exemple des humains, mon héros, mon modèle“ pries,318 hielt er, als die weltläufigere Version des stoischen Ethos, Ciceros De officiis hoch.319 Cicero hatte in dieser Schrift, seiner meistübersetzten, immer wieder kommentierten und mit Abstand wirkungsreichsten, die von ihm selbst ausdrücklich als Quelle genannte320 Abhandlung des Panaitios peq· toO jah¶jomtor (ber das Angemessene) herangezogen und nicht das strenge altstoische Ethos zum Tragen gebracht. Er überführte die abstrakten Tugenden, insbesondere die Kardinaltugenden Einsicht, Gerechtigkeit, Mut, Selbstbeherrschung, und die von ihnen abzuleitenden Pflichten in praktische Verhaltensregeln. Die Hauptaufmerksamkeit richtete Cicero auf den Nachweis, daß das „Sittliche“ (honestum) auch das Nützliche (utile) sei. Von den Kirchenvätern Ambrosius und Augustinus über Petrarca, Erasmus, Luther, Shaftesbury und Hume reicht die Reihe der großen Bewunderer von Ciceros Schrift bis zu Voltaire, Friedrich dem Großen, Kant und Schiller.321 Kant allerdings rückte gerade in seinem berühmten Preis der Pflicht, den er in der Kritik der praktischen Vernunft formulierte, ein Stück weit vom stoischen Autonomie-Ideal ab und griff dabei auf christliche Ein315 Vgl. hierzu die Abhandlung von Gerhard Oestreich im vorliegenden Werk. 316 Christian Garve: Philosophische Anmerkungen und Abhandlungen zu Cicero’s Bchern von den Pflichten. Breslau 1783. Vgl. Manfred Kühn: Kant and Cicero, in: Kant und die Berliner Aufklrung. Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses, hg. von Volker Gerhardt/Rolf-Peter Horstmann/Ralph Schumacher, Bd. III, Berlin, New York 2001, S. 270 – 285. 317 Oeuvres de Frdric le Grand, Berlin 1849, S. 181 – 189. 318 Posies diverses du roi de Prusse, Berlin 1760, Bd. I, S. 289. 319 Vgl. Eduard Zeller: Friedrich der Große als Philosoph. Berlin 1886. 320 Besonders aussagekräftig ist einer von Ciceros Briefen an Atticus (Epistulae ad Atticum 16, 11, 4). 321 Zu dieser speziellen wie zu Ciceros Wirkungsgeschichte generell vgl. Thaddäus Zielinski: Cicero im Wandel der Jahrhunderte. Leipzig 1897. 5. Auflage 1967.

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wände zurück, die schon in der alten Kirche und dann später immer wieder erhoben worden waren: vor allem auf den Einwand gegen die stoische Annahme, moralische Vollkommenheit sei möglich. Die Stoiker, so Kant, verkennen die dem Menschen gesetzten Grenzen. Statt aus dem Bewußtsein menschlicher Begrenztheit die Haltung der „Demut“ einzunehmen – sie wird trotz der Berufung auf das Evangelium philosophisch zur Konsequenz der „Selbsterkenntnis“ uminterpretiert – schmeicheln sie der menschlichen Eigenliebe mit Vorstellungen, die in die Sphäre des „Beliebten“ gehören. Kant entwirft seinen Pflichtbegriff zwar im Hinblick auf die stoisch geprägte Pflichtenlehre, aber ihn interessieren nun nicht mehr die einzelnen, ganz anwendungsbezogenen Pflichten, von denen Cicero schon im Titel seiner Schrift bezeichnenderweise pluralisch spricht. Kant geht es um eine eigentümlich abstrakt-prinzipielle „Pflicht“. Sie stellt ein „Gesetz“ dar, ohne doch damit die stoische Begründung der Ethik in einem alles übergreifenden und bestimmenden Natur-Gesetz zu meinen: Wenn dem also ist, so haben nicht allein Romanschreiber, oder empfindelnde Erzieher (ob sie gleich noch so sehr wider Empfindelei eifern), sondern bisweilen selbst Philosophen, ja die strengsten unter allen, die Stoiker, moralische Schwärmerei statt nüchterner, aber weiser Disciplin der Sitten eingeführt […] Pflicht! Du erhabener, großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst, doch auch nichts drohest, was natürliche Abneigung im Gemüthe erregte und schreckte, um den Willen zu bewegen, sondern blos ein Gesetz aufstellst […] welches ist der deiner würdige Ursprung […]? 322

Einen besonderen Akzent erhalten diese Ausführungen durch die sowohl auf die affektbejahenden ,Empfindler‘ wie auf die affektbekämpfenden Stoiker zielende Schwärmer-Kritik. Die „Schwärmer“ waren ein bevorzugtes Angriffsziel der am Maßstab der Rationalität orientierten Aufklärer. Neben Kant ist Wieland dafür ein prominentes Beispiel. Gewöhnlich richtete sich diese Schwärmerkritik gegen idealistische und mystisch-spiritualistische Strömungen. Daß Kant sie, scheinbar paradox, auch gegen die doch auf die recta ratio eingeschworenen Stoiker wendet, erklärt sich aus der von ihm als idealistisch verstandenen, weil über das Maß aufgeklärter Rationalität hinausgehenden Vollkommenheitsutopie der Stoiker. Insofern die stoische Vollkommenheitsvorstellung auf einem idealistisch-„schwärmerischen“ Über322 Kant, Akademie-Ausgabe Bd. V, S. 86.

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schuß beruht, verstößt das Vertrauen auf die vollendende Kraft der ratio selbst gegen rationale Einsicht.

Strukturbildende Aufnahme stoischer Grundgedanken in Werken Goethes, Schillers, Hölderlins und Kleists Die Bedeutung der Stoa für die großen deutschen Dichter der klassischromantischen Epoche ist von unterschiedlicher Art und Intensität. Wieland schrieb nach seiner Berufung zum Erzieher des 17jährigen späteren Herzogs Karl August das in der Tradition des Fürstenspiegels längst kanonisierte stoische Musterstück Die Wahl des Herkules, das in Weimar alsbald als Singspiel aufgeführt wurde. Später aber, vor allem in seiner graziösen, epikureisch inspirierten Verserzählung Musarion und in seinem Altersroman Aristipp relativierte er die stoische Lebenshaltung.323 Der junge Goethe wählte in seinem Gedicht Seefahrt (1776) das Muster der stoischen Virtus, die sich gegen alle Anfechtungen der Fortuna bewährt, mitsamt der stoischen Leitmetapher vom Standhalten im Seesturm, um sich selbst im Hinblick auf den Weimarer Neuanfang und die ihn dort erwartenden unbekannten Lebensaufgaben Mut zuzusprechen. Eine ganz ähnliche, ebenfalls stark an Seneca orientierte jugendliche Selbstermutigung gestaltete gut anderthalb Jahrzehnte später der junge Hölderlin in der vollkommen stoisch konzipierten Hymne Das Schicksal (1794). Wie der junge Goethe stand auch er, nach dem Abschluß seiner Studienjahre im Tübinger Stift und der Absage an den ihm bestimmten geistlichen Beruf, vor der Herausforderung einer ganz neuen Lebensbahn. Nach Schillers Vorbild, das für ihn zu dieser Zeit noch maßgebend war, aber auch angesichts einer viel ungewisseren und weniger verheißungsvollen Zukunft, als Goethe sie vor sich hatte, wählte er einen entschieden härteren, heroischeren Ton. Das stoische Fatum und das stoische Musterbild des Herkules, der den entsagungsvollen Weg der Virtus geht, bestimmen den Duktus der Hymne. Goethe, der zu der Zeit des Übergangs nach Weimar schon ein paar Jahre älter und bereits der berühmte Autor des Werther war, hatte einen viel glücklicheren Lebenshintergrund und erwartete mit großem Selbstbewußtsein, wie sein Gedicht deutlich erkennen läßt, allenfalls ein paar Turbulenzen auf einer im ganzen erfolgreichen Lebensfahrt. Unbeschadet solcher Unterschiede zeigen aber beide Gedichte, welche 323 Zu Wieland vgl. den Beitrag von Dieter Martin im zweiten Band.

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biographische Funktion stoische Vorstellungsmuster im Übergang von den Jugend- zu den Mannesjahren erhalten. Der alte Goethe griff im Helena-Akt des Faust II noch einmal auf stoisch geprägte Vorstellungen zurück, aber nun nicht mehr in einem individualpsychologischen und biographischen, sondern in einem weiten kulturgeschichtlichen Horizont. Helena als Muster würdevoller Selbstbeherrschung angesichts tödlicher Gefahren – Goethe orientierte sich hier an Senecas Troerinnen – zeigt stoische Gefaßtheit, firmitudo, dignitas, constantia und nicht zuletzt bewährt sie die magnitudo animi („ohne Furcht sterben“ – „sine metu mortis mori“) in Erwartung der ihr zunächst drohenden Hinrichtung. Ihre Gefolgschaft dagegen gerät in Panik. Während die Chorführerin Helenas Begleiterinnen als „Vom Augenblick abhängig, Spiel der Witterung, / Des Glücks und Unglücks“ (V. 9128 f.) bezeichnet und ihnen vorhält: „Keins von beiden wißt ihr je / Zu bestehn mit Gleichmut“ (V. 2129 f.), nennt sie Helena „hochsinnig“ (V. 9134). Geradezu systematisch hat Goethe hier stoische Leitvorstellungen eingewoben, direkt und e contrario. Autarkie, innere Unabhängigkeit als Voraussetzung würdevoll-souveränen Menschentums, wie es Helena repräsentiert, ist ein stoisch grundiertes Ideal – kontrastiv heißen die Chormädchen „vom Augenblick abhängig“. Topisch fixiert ist in der stoischen Überlieferung die Autarkie als Unabhängigkeit von Fortuna: von Glück und Unglück. „Wann wird es gelingen, zu verachten beides, Glück und Unglück?“ „Quando continget contemnere utramque fortunam“, lautet Senecas klassische Formulierung in einem der Briefe an Lucilius (71,37). Diese antike Tradition, die über Petrarcas Jahrhunderte lang in Europa verbreitete Schrift Von den Heilmitteln gegen Glck und Unglck (De remediis utriusque fortunae) bis in die Moderne reicht, griff der neuzeitliche Stoizismus auf. Goethe, der seit seiner Jugend mit der Philosophie der Stoa gut vertraut war, wie er in Dichtung und Wahrheit mehrmals feststellt, arbeitete dieses Vorstellungsmuster in die Charakterisierung seiner Helena-Figur ein,324 um alsbald zwei weitere stoische Zentralbegriffe hinzuzufügen: den „Gleichmut“ (aequa mens, Ataraxie) und die von constantia zeugende probatio. Daß die Chormädchen weder Glück noch Unglück mit „Gleichmut“ zu „bestehn“ vermögen, hebt das stoische Verhalten Helenas erst so recht ins Profil. Indem schließlich die Chorführerin 324 Im Folgenden nehme ich einige Ausführungen aus dem Buch auf: Jochen Schmidt: Goethes Faust. Erster und Zweiter Teil. Grundlagen – Werk – Wirkung. 2. Auflage München 2001, S. 242 – 246.

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Helena „hochsinnig“ nennt, schreibt Goethe ihr die hier zu einer aristokratischen Haltung stilisierte „magnitudo animi“ zu, die sich fest mit dem Begriff der „Würde“ verband. Helenas gefaßte Abwehr des von der tödlichen Bedrohung ausgehenden Affektansturms schon in der ersten Szene des Helena-Akts zeigt, daß ihre „Würde“ von der stoischen Willenshaltung und Selbstbeherrschung bestimmt ist, die insbesondere zur römischen „dignitas“ gehört. „Würde“ ist ein Leitmotiv in der Helena-Handlung, mit dem Goethe zugleich auf Pico della Mirandolas Schrift De hominis dignitate und Baldassare Castigliones Libro del Cortegiano zurückgriff. Aus seinen Tagebüchern geht hervor, daß er beide Traktate studierte. Das Leitmotiv der Würde verbindet sich eng mit den ebenfalls stoisch besetzten Begriffen der „Pflicht“ und des „Geziemenden“ – des „officium“ und des jah/jom, das als das „Angemessene“ auch das Sich-Ziemende ist. Goethe bezog die so deutlich hervortretenden stoischen Züge der Helena-Handlung mit einer doppelten Absicht in den kulturhistorischen Reflexionszusammenhang seines Dramas ein. Erstens stellte er die Verbindung zu Winckelmanns klassizistischem Stil-Ideal her. Denn für die ,klassische‘ Erscheinung Helenas, welche die ,Renaissance‘ der Antike repräsentiert, sah er Winckelmann als maßgebend an. Dieser hatte sein Stilideal, die „edle Einfalt und stille Größe“ der griechischen Bildwerke, im Rückgriff sowohl auf platonische wie auf stoische Vorstellungen näher erläutert. Um den Begriff der „Größe“ zu explizieren, spricht Winckelmann in unmittelbarem Anschluß an seine berühmte Formel von der „großen und gesetzten Seele“,325 die sich in den Plastiken der Griechen gerade bei affektiven Bedrohungen ausdrücke, und er fährt nach der Exemplifizierung an der Laokoongruppe fort: „Der Ausdruck einer so großen Seele gehet weit über die Bildung der schönen Natur“.326 Im Hinblick auf den Laokoon rühmt er die Balance zwischen dem „Schmertz des Cörpers und der Größe der Seele“.327 Daß er das Ideal der Seelengröße, der „magnanimitas“, als souveräne Fähigkeit zur Bändigung der Affekte auslegt und sogar von der „Stärcke des Geistes“ spricht, verrät vollends das auf die Überwindung der Affekte (Apatheia) 325 Winckelmanns 1755 erschienene Schrift Gedanken ber die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst wird zitiert nach der Ausgabe in dem Band Frhklassizismus, hg. von Helmut Pfotenhauer u. a. (Bibliothek der Kunstliteratur 2), Frankfurt am Main 1995, hier S. 30. 326 S. 31. 327 S. 31.

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und auf das Ideal der Gemütsruhe (Ataraxia) angelegte stoische Ethos. Winckelmann gibt somit seinem ästhetischen Kunstideal eine markante ethische Fundierung. Goethe reflektiert dies in seinem schon kulturgeschichtlichen Rückblick auf die Epoche der Klassik, indem er Helena als paradigmatische Erscheinung griechischer Schönheit zugleich entschieden ethisch im Sinne stoischer Haltung konzipiert. Zweitens erweitert Goethe den Horizont ins Allgemein-Kulturelle: Die Helena-Geschichte repräsentiert ja nicht nur den mit Winckelmann beginnenden Klassizismus und die „klassische“ Epoche um 1800. Diese ist nur Höhepunkt und Abschluß einer die ganze Neuzeit übergreifenden, schon mit der Renaissance beginnenden Wiedererweckung der klassischen Kultur der Antike. Helena begegnet Faust im Übergang vom Mittelalter zur Renaissance. Indem Goethe ihr Auftreten so entschieden mit dem explizit und mehrmals formulierten Thema des Schicklichen, Sich-Geziemenden ( jah/jom),328 der Pflicht (officium) und der Würde (dignitas) verbindet, überführt er das stoische Ethos aus dem engeren ethischen Bereich in den einer höheren Kultur. Er war sich bewußt, daß die italienische Renaissance das Ideal einer solchen Kultur nach antiken Vorgaben, insbesondere denjenigen Ciceros, programmatisch verkündet und sowohl künstlerisch wie gesellschaftlich ausgeprägt hatte. Das stoische Ethos geht in der Helena-Handlung in eine menschlich und gesellschaftlich relevante, bis in das Reich des Schönen und der Kunst hineinreichende Haltung über. Goethe konzipierte seine Helena-Gestalt zugleich ästhetisch und ethisch als eine Figuration kultivierten Menschentums und aristokratischer Affektzügelung. Selbst in PhorkyasMephistos Worten: „Stehst du nun in deiner Großheit, deiner Schöne vor uns da […]“,329 kommt die Synthese von stoisch-ethischer Haltung („Großheit“, magnanimitas) und ästhetischer Vollendung zum Ausdruck. Obwohl Schiller die „ästhetische Erziehung“ des Menschen in einer eigenen Abhandlung thematisierte und obwohl er die Härte des Kantischen Pflichtbegriffs ein Stück weit aufheben wollte, übernimmt er das stoische Ethos in einer deutlich auf den moralischen Aspekt konzentrierten Form. Dies gilt sowohl für mehrere seiner theoretischen Abhandlungen wie für das Drama, das die für ihn generell zentrale Frei328 V. 8507, V. 8604 f., V. 8647 f.; in ausdrucksvoller Verdoppelung V. 8915 f.: „Doch es ziemet Königinnen, allen Menschen ziemt es wohl, / Sich zu fassen, zu ermannen, was auch drohend überrascht“. 329 V. 8917.

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heitsproblematik stoisch formiert: für Maria Stuart. Freiheit ist für Schiller wesentlich auch moralische Freiheit, was ganz der Stoa entspricht – man denke nur an Epiktets Diatribe über die Freiheit. Der Mensch beweist sie, indem er sich von allem Äußeren unabhängig macht, seine Triebnatur bändigt und durch die Kraft seines Willens die Affekte besiegt. Erst mit einem solchen Sieg verschafft er dem Ideal geistig-sittlicher Selbstbestimmung Geltung, nur so erweist er sich als autonom und „frei“. Wer dieses Ziel erreicht, hat „Würde“. „Autonomie“, so hatte Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten erklärt, „ist […] der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur“, und noch prägnanter spricht er von der „Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetze gehorcht als dem, das es zugleich selbst giebt“.330 Schillers Version in der Schrift ber Anmut und Wrde lautet: „Beherrschung der Triebe durch die moralische Kraft ist Geistesfreiheit, und Würde heißt ihr Ausdruck in der Erscheinung“.331 Schillers Affinität zur Stoa332 beruht auf mehreren Grundelementen: erstens auf dem Ideal der Autonomie, das in der Aufklärung hohe Aktualität gewonnen hatte, zweitens auf der stark moralischen Tendenz der Stoa, die ja auf „Tugend“ (virtus) ausgerichtet war, drittens auf der damit verbundenen – bei Schiller, wie man weiß, sehr theoretischen – Sinnenfeindschaft. Daraus ergab sich auch die ebenfalls in der Stoa scharf ausgeprägte Betonung der Ratio und des Willens (voluntas) 333 – Schiller definierte den Menschen als „das Wesen, welches will“.334 Besonders zu statten kam seinem dramatischen Talent die von Seneca vertretene kämpferische und heroische Formierung des stoischen Ethos. Der seit der Fabel des Prodikos stoisch kanonisierte Tugendheld Herkules war auch für ihn eine Leitfigur. Als Dramatiker hielt er sich freilich nicht an die für die Stoa ebenfalls wesentliche Einsicht in die ihrerseits schon als vernünftig begriffene, weil vom Logos bestimmte Naturordnung, mit welcher der Mensch in Übereinstimmung leben soll. Nicht der stoische Weise ist für ihn maßgebend, sondern der im Kampf schwer leidende, aber dann doch über alle Anfechtungen siegende Mensch. Deshalb fehlt bei ihm auch die therapeutische Dimension der Stoa. Dem Dramatiker 330 AA Bd. 4, S. 436 und S. 434. 331 Friedrich Schiller: Werke und Briefe in zwçlf Bnden, hg. von Otto Dann u. a., Bd. 8: Theoretische Schriften, hg. von Rolf-Peter Janz, Frankfurt 1992, S. 378. 332 Hierzu die fundierte Darstellung von Barbara Neymeyr im zweiten Band. 333 Vgl. Anm. 224. 334 Friedrich Schiller (wie Anm. 331): ber das Erhabene, S. 822.

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konnte nicht daran gelegen sein, den insbesondere von den Affekten und Leidenschaften verursachten Leiden, den p²hg, mit therapeutischphilosophischer „Medizin“ beizukommen und ein „remedium“ zu finden. Ganz im Gegenteil arbeitete er darauf hin, das Leiden, das „Pathos“ im ursprünglichen Sinn, möglichst zu intensivieren, ja wie in Maria Stuart Affektexplosionen und extreme Leidenssituationen zu inszenieren, um damit Pathos im modernen Sinne des Wortes und eine dramatische Handlung zu generieren, die am Ende den Sieg über alles Äußere wie auch über die inneren Anfechtungen umso mehr verherrlichen sollte: einen Sieg, der den Triumph der geistig-sittlichen Freiheit, der „moralischen Kraft“ verkündet. In dieser Perspektive stehen auch mehrere theoretische Schriften Schillers, vor allem die Abhandlungen ber das Pathetische und ber das Erhabene. Hçlderlin reflektierte am intensivsten von allen Zeitgenossen die stoischen Vorstellungen in ihrem philosophischen Begründungszusammenhang. Das gilt zwar noch kaum für den Beginn seiner Stoa-Rezeption in der Hymne Das Schicksal, die dem kämpferisch-heroischen Duktus Schillers folgt, ihre Leitvorstellungen aus Senecas Traktat De providentia bezieht und bezeichnenderweise Herkules als exemplum virtutis beschwört.335 Alsbald aber bewegte sich Hölderlin auf einer ganz anderen Bahn. Aus dem Fundus der stoischen Tradition wurde für ihn das therapeutisch-meditative und konsolatorische Element maßgebend, das er aus Marc Aurels Selbstgesprchen aufnahm. Vor allem richtete er seine Aufmerksamkeit auf die naturphilosophische Grundlage der Stoa, für die sich Schiller nicht interessierte: auf ihren monistischen Pantheismus. Im Hyperion diente er ihm als Medium der Ablösung vom christlich-dualistischen Weltbild. Indem er diese Ablösung im Lebensund Bewußtseinsprozeß des Protagonisten Stufe um Stufe vorantrieb, vermittelte er sie in narrativer Prozessualität – ein Experiment, das noch nie stattgefunden hatte und es auch erlaubte, den Fortschritt, den die Stoa nur abstrakt dem pqojºptym (procedens) zuschrieb, als lebendigen Erfahrungs- und Bewußtseinsvorgang darzustellen. Ebenfalls neu in der Geschichte des Stoizismus war es, daß Hölderlin diesen Vorgang zugleich paradigmatisch als Geschehen der Moderne zum Ausdruck brachte und bereits geschichtlich reflektierte: als Säkularisierung. Der pantheistische Monismus des Hyperion entspricht dem Grundansatz der Stoa, aber er erscheint nun nicht mehr als schon vorhandener Ausgangspunkt, sondern als ein Ziel, das es angesichts der dualistischen 335 Vgl. im vorliegenden Werk S. 333 – 341.

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Aufspaltung in Diesseits und Jenseits, die das Christentum mit sich gebracht hatte, erst wieder neu zu erreichen galt. Zu dieser Neugewinnung der authentischen Stoa trug Hölderlins Spinoza-Studium wesentlich bei. Es stand im Kontext der großen Spinozismus-Debatte, die in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts die Geister bewegte. Das Interesse am stoischen Pantheismus als einer dem säkularisierten Bewußtsein angemessenen Weltanschauung verdrängte gänzlich die bisher dominante, für Kant und Schiller sogar zentrale Fixierung auf die stoische Moral. Auch die psychotherapeutische Tendenz der Stoa, die sich schon früh entwickelt und dann bei Seneca und besonders bei Marc Aurel ausgeprägt hatte, nahm Hölderlin in seinen Roman auf. Der innere Zusammenhang mit dem pantheistischen Monismus bestand schon in der antiken Stoa darin, daß die Allnatur, die v¼sir t_m fkym, alles Leiden und sogar den Tod in einen vom Logos durchwalteten Kosmos sinnhaft einzubeziehen erlaubte. Dieses Sinngebungsmuster, mit dem sich Hölderlin vor allem an Marc Aurel orientierte, bestimmt sehr weitgehend den zweiten Band des Hyperion und die Ode Dichtermut. Hölderlin scheint aber auch den dunklen Grund, die tiefe Melancholie wahrgenommen zu haben, aus der solche psychotherapeutischen und konsolatorischen Strategien der Stoa erwachsen. Dem zweiten Band des Hyperion, in dem er sie voll entfaltet, stellte er als Motto folgende Worte als griechisches Zitat aus dem dipus auf Kolonos des Sophokles voran: „Nicht geboren zu sein, geht über alles. Wenn es aber geschah, dann ist es das bei weitem Zweitbeste, möglichst schnell dorthin zurückzukehren, woher man kam“. Kleist hat nur ein einziges seiner Werke stoisch durchformt: das Drama Prinz Friedrich von Homburg. Der Grund dafür lag keineswegs wie bei Hölderlin in der Bedeutung der stoischen Denkformen an sich und in ihrer philosophisch-weltanschaulichen Tragweite. Kleists Interesse an stoischen Vorstellungen konzentrierte sich vielmehr auf die tiefgreifende Prägung Brandenburg-Preußens durch den Neustoizismus der sogenannten ,Niederländischen Bewegung‘,336 die bis in seine Zeit hinein fortwirkte, und auf die Möglichkeit, daraus in der bedrängenden Situation Preußens während der Napoleonischen Kriege einen patriotischen Appell abzuleiten. Darüberhinaus allerdings gestaltete Kleist in dem nach stoischen Leitvorstellungen entworfenen Entwicklungsgang des Prinzen von Homburg kurz vor seinem Freitod eine vermächtnis336 Vgl. hierzu die Abhandlung von Gerhard Oestreich im vorliegenden Werk.

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hafte Selbstreflexion. In seinen früheren Werken hatte er immer wieder eine rousseauistisch unterlegte radikale Gesellschaftskritik zum Ausdruck gebracht; sie ging bis zu einer individualistischen, gelegentlich sogar an Anarchismus grenzenden Absage an Gesellschaft und Staat. Erst nach der für Preußen existenzbedrohenden Niederlage in der Schlacht bei Jena und Auerstedt im Jahr 1806 und nachdem Kleist in engeren Kontakt zu den preußischen Reformern getreten war, kam es zu einer patriotischen Reidentifikation, deren überschießendes Produkt die Hermannsschlacht war. In seinem letzten Drama unternahm er es, einerseits die Gefahr einer individualistischen Verfehlung übergeordneter Verantwortung und andererseits die Erstarrung eines inhumanen staatlichen Systems in einer paradigmatischen Fiktion aufzuheben. Stoische Vorstellungen spielten dabei, auch wenn sich das Stück konzeptionell nicht auf sie reduzieren läßt, eine wesentliche Rolle. Kleist gestaltete den Weg des Prinzen hin zu einer stoischen Haltung als einen psychologisch angelegten Erfahrungs-Prozeß. Zu Beginn des Geschehens zeigt sich der Prinz noch jugendlich Ich-befangen, er setzt explizit und mit höchster Emphase auf Fortuna (besonders am Ende des ersten Akts), die im stoischen System seit jeher die Gegenmacht der ethischen Autonomie und Autarkie verkörpert. Nach dem vom Kriegsgericht verhängten Todesurteil gerät er in fassungslose Panik – ins Gegenteil der Ataraxie. Diese Panik steigert sich zum Äußersten, als er in das für ihn schon ausgehobene Grab schaut. Die gegen jedes preußische comme il faut verstoßende und deshalb noch lange, bis hin zu Bismarck, Anstoß erregende Todesfurcht-Szene ist im Hinblick auf die für die Stoa zentrale berwindung der Todesfurcht konzipiert: als Kontrast zur späteren Haltung des Prinzen. Diese kommt in der Monolog-Szene (IV, 3) zum Ausdruck, die mit den Worten des Prinzen beginnt: „Das Leben nennt der Derwisch eine Reise […]“ (V. 1286) – eine geradezu klassische „meditatio mortis“. Sie zeugt von der Überwindung der Todesfurcht und signalisiert Schicksalsergebenheit, wenn auch eine erst resignativ-fatalistische. „Contemne mortem“ lautete Senecas Devise, und „sine metu mortis mori“ war die von ihm formulierte Aufgabe. Sehr genau scheint Kleist das dramatische und psychologische Konzept studiert zu haben, das Schiller in seiner Abhandlung ber das Pathetische entworfen hatte: zuerst müsse der Dichter seinem Helden „die ganze volle Ladung des Leidens geben“,337 bevor er dann den 337 Friedrich Schiller (wie Anm. 331), S. 423 f.

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„moralischen Widerstand gegen das Leiden“338 zur Geltung bringe. Nicht also die Haltung des schon vollendeten stoischen Weisen ist psychologisch überzeugend und dramatisch brauchbar, sondern der Weg, der zu einer solchen Haltung hinführt. Wie Maria Stuart angesichts der immer näherrückenden Hinrichtung quälende Angst empfindet und in schwere Anfechtungen gerät, bevor sie am Ende stoisch „erhaben“ dem Tod entgegensehen kann, so der Prinz von Homburg angesichts der ihm drohenden Hinrichtung. Ähnlich wie Schiller folgte Kleist auch dem über die bloße Überwindung der Todesfurcht hinausgehenden Programm Senecas: „libenter mori“. Beide, Schiller und Kleist, setzen hier allerdings einen neuen Akzent. Während das gelassene Akzeptieren des Todes bei Seneca wie in der Stoa überhaupt aus der Einsicht in das Naturgesetz und aus der konsolatorischen Erwägung herrührt, daß Sterben nichts anderes heiße als aus dem individuellen Dasein in die Allnatur zurückzukehren (Hölderlin gestaltete dieses authentisch stoische Konzept im Hyperion und in der Ode Dichtermut), nehmen Maria Stuart und der Prinz von Homburg den Tod schließlich bereitwillig an, Schillers Heldin, um frühere Schuld zu büßen, der Prinz, um das Gesetz anzuerkennen.

Schopenhauers und Nietzsches Auseinandersetzung mit der stoischen Moral. Ausblick auf das 20. Jahrhundert Nach dem poetischen Kulminationspunkt, den der Stoizismus auch im gesamteuropäischen Vergleich erst in den Werken Goethes, Schillers, Hölderlins und Kleists erreichte, kehrt das weitere 19. Jahrhundert, wenn man von Büchners dramatischer Konfrontation von Stoizismus und Epikureismus in Dantons Tod 339 absieht, zu theoretischen Erörterungen zurück. Erst gegen Ende des 19. und im 20. Jahrhundert findet wieder eine bisher wenig beachtete große literarische Rezeption stoischer Vorstellungen und Werke statt, und dies nun weitgefächert in einem internationalen Feld. Unter den theoretischen Auseinandersetzungen mit der Stoa im 19. Jahrhundert sind vor allem Schopenhauer und Nietzsche bemerkenswert,340 weil sie distanzierte Kritik und par338 S. 426. 339 Vgl. S. 27. 340 Vgl. die erstmals durchgreifenden Abhandlungen von Barbara Neymeyr im zweiten Band.

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tielle Anerkennung vor dem Horizont ihres eigenen Denkens formulieren. Schopenhauers ambivalentes Verhältnis zur Stoa ist beinahe durchgehend durch seine pessimistische Lebensauffassung bestimmt. Das Leiden und die Leidverfallenheit des Menschen stehen für ihn im Mittelpunkt. Deshalb wertet er zwar die stoische Anstrengung, das Leiden durch Vernunft zu bewältigen, im Prinzip positiv, aber wie schon Kant lehnt er die optimistische Verbindung von Tugend und Glück wie überhaupt den Eudämonismus ab: Es gibt für ihn kein Leben ohne Leiden. Besonders nahe liegt Schopenhauer die stoische Anerkennung des Fatums, doch gibt er der Hinnahme des Unvermeidlichen und Notwendigen eine eher dunkle, resignative Färbung, keine heroische. Denn die daraus resultierende Beruhigung, die er vor allem bei dem von Leiden schwer gezeichneten Epiktet würdigt, ist nicht so sehr eine positive tranquillitas animi als ein bloßes Quietiv. Daher spricht er im Hinblick auf den heroischen Gestus mancher Stoiker, nicht zuletzt Senecas, von „Maulhelden“. Auch der entschiedenen Abhärtungsstrategie der Stoiker kann er nichts abgewinnen: „Der Stoizismus der Gesinnung […] verstockt das Herz“.341 Schließlich kritisiert er die stoische Lehre von den Adiaphora als inkonsequent. Einerseits, so argumentiert er, werten die Stoiker die Adiaphora als das Unverfügbare, der geistig-sittlichen Selbstbestimmung Entzogene zum bloß Äußerlichen ab und behaupten dessen Gleichgültigkeit; andererseits akzeptieren sie es bereitwillig als Fatum. Die idealistische Überformung der Stoa, die bei Schiller so stark hervorgetreten war, nicht zuletzt das Vertrauen auf die moralische „Kraft“ und den „Willen“, weicht bei Schopenhauer, am Ende der vom Idealismus bestimmten Epoche, einer gegenläufigen Tendenz. Statt der moralischen Selbsterhöhung des Individuums ins Reich der Freiheit zu vertrauen, neigt Schopenhauer zur Selbstzurücknahme oder sogar zur Selbstauslöschung des nicht mehr geistregierten, sondern leibverfallenen Individuums. Die Aufhebung des „principium individuationis“ strebt er auf dem Hintergrund einer neuen, düsteren Anthropologie an, die nicht mehr idealistisch, sondern naturalistisch ausgerichtet ist, aber das Erbe des Idealismus noch insofern weiterträgt, als der naturhafte Bereich des Menschen eine prinzipiell negative Wertigkeit erhält. An die Stelle der Selbsterlösung tritt die Erlösung von sich selbst: Ihr Ziel ist das „Nichts“, mit dem Die Welt als Wille und Vorstellung endet. Aufschlußreich ist Schopenhauers antiidealistische und zugleich antistoische 341 Arthur Schopenhauer: Paralipomena § 170.

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Umkehrung des Willensbegriffs. Als „Willen“ definiert er nicht mehr die Triebkraft der geistigen und sittlichen Selbstbestimmung, durch die das Individuum seine Autonomie und Autarkie selbst noch in der Anerkennung des Fatums zu behaupten weiß, sondern das ,Es‘, das „will“ – eine Hexenküche blinder Triebe. Nietzsches ganz überwiegende Ablehnung der Stoa läßt ebenfalls einen antiidealistischen Impetus erkennen, so wenn er kritisiert, daß die Stoiker der Natur bloß ihr Ideal vorschreiben. Ihre volle Schärfe gewinnt Nietzsches Auseinandersetzung mit der Stoa allerdings erst aus seiner Generalattacke auf die „Moral“: auf den Bereich also, der zum Kernbestand der Stoa gehörte und der dem Christentum besonders wichtig war. In seinen Umwertungsschriften Jenseits von Gut und Bçse und Zur Genealogie der Moral greift Nietzsche mit den Mitteln psychologischer und historischer Entlarvung die Moral an, um zu demonstrieren, daß alle Moral bloß Ausdruck des Willens zur Macht sei – eines im schlimmsten Fall zur Perversion tendierenden Willens zur Macht, denn Nietzsche unterscheidet zwischen Herrenmoral und Sklavenmoral. Letztere schreibt er dem Christentum zu, weil sie lebensfeindlich zugunsten der Schwachen erfunden worden sei. Nietzsche steht im Bann des zeitgenössischen Epigonen- und Décadence-Syndroms, gegen das er reagiert, indem er das „Leben“, das er bis zum ,Dionysischen‘ steigert, ja geradezu mythologisiert, und den „Willen zur Macht“ als neue Werte setzt. Der Décadence rechnet er die traditionelle Moral zu, weil sie das Leben schwäche. Unter diesem Gesichtspunkt des Lebens und der unverstellten Natur kritisiert er auch die Stoa: Ihre Moral pervertiere die Natur. Dagegen gelte es das ganze Erlebnisspektrum zu bewahren. Gegen die stoische Bekämpfung der Affekte statuiert er, Leidenschaft sei besser als ein Stoizismus, der zu unnatürlicher Selbstkasteiung, ja zu seelischer Verarmung und Heuchelei führe. Hier greift Nietzsche einen Vorwurf auf, der sich in der Geschichte der Auseinandersetzung mit der Stoa besonders gegen Seneca gerichtet hatte und den er bei den von ihm hochgeschätzten französischen Moralisten, so bei La Rochefoucauld finden konnte:342 den Vorwurf des falschen Scheins. Der zur Schau getragene stoische Gleichmut, so Nietzsche, sei nur eine Maske. Trotz all dieser kritischen Einwände weiß er aber gelegentlich doch auch die stoische Betonung des Willens und die asketische Disziplin zu schätzen, weil er die modern-dekadente Zivilisa342 Vgl. Anm. 249.

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tion als verweichlicht ablehnt und als ein besonderes Symptom der Décadence die Willensschwäche diagnostiziert. Die stoisch inspirierten literarischen Gestaltungen in der deutschen Dichtung um 1800 hatten den Begegnungen mit der Stoa, die bisher in zahlreichen theoretischen Abhandlungen meist begrifflich reduziert waren, eine lebendig motivierte Aussagekraft verliehen, auch eine ganz andere psychologische Tiefenstruktur und eine größere kulturelle Bedeutungsfülle. Dies gilt erst wieder für die Literatur des ausgehenden neunzehnten und des zwanzigsten Jahrhunderts bis zur Schwelle des 21. Jahrhunderts, und nun in einem weiten internationalen Spektrum von Autoren. Der vorletzte Beitrag des hier vorliegenden Werks343 erschließt erstmals dieses Spektrum sowie dessen historische und kulturelle Zusammenhänge, so daß er als abschließende Fortsetzung dieses Überblicks gelesen werden kann. Nur angedeutet sei hier deshalb, daß ˇ echovs intensiver Marc Aurel-Rezeption diese moderne Literatur mit C im Kontext einer psychologisch interessierten und resignativen Décadence beginnt, daß sie über Fernando Pessoas vielfältig gebrochene Stoiker-Romane und Marguerite de Yourcenars Hadrian-Roman zu den existentialistisch an der Stoa orientierten Erzählungen und Romanen von Camus und Hemingway reicht, dann weiter zu Hermann Lenz, der in einer ganzen Reihe von Werken auf dem Hintergrund der großen Katastrophen-Erfahrungen des 20. Jahrhunderts wieder intensiv auf Marc Aurels Selbstgesprche zurückgreift, zu Günter Grass, dessen Roman çrtlich betubt sich unter dem schon im Titel erkennbaren Hauptgesichtspunkt kritisch mit Seneca auseinandersetzt, zu Durs Grünbeins skeptisch pointierten Seneca-Reflexen, schließlich bis zu Michel Houellebecqs Roman La Possibilit d’une le (2005), mit dem er gegen den flachen Konsum-Hedonismus, den Wellness-Wahn und die zwanghafte Sex-Fixierung der modischen Körperkultur eine ,Erziehung zum Stoiker‘ inszeniert, die sich in Brechungen und dialektischen Umschlägen vollzieht. Auf ähnlichen Erfahrungen der Gegenwartszivilisation beruht ein philosophisches Werk von Lawrence C. Becker. Unter dem programmatischen Titel A New Stoicism 344 rekonstruiert es anregend die stoischen Positionen der Antike, um von der OikeiosisLehre ausgehend für ein harmonisches Lebensmodell zu plädieren, in dem der „neue“ Stoiker die Integrität der mehrdimensionalen Persön343 Von Frank Pauly. 344 Lawrence C. Becker: A New Stoicism. Princeton 1998.

Grundlagen, Kontinuität und geschichtlicher Wandel des Stoizismus

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lichkeit bewahrt und dies zur Grundlage eines ,glücklich‘ gelingenden Lebens macht.

Determinismus in der Stoa1 von Dorothea Frede Der Hintergrund Der Stoizismus ist für seine moralische Strenge und seinen Fatalismus bekannt. Dieser Ruf hat zu zwei stereotypischen Urteilen geführt. Zum einen: Ein Stoiker hat keine Gefühle, oder wenn er doch welche hat, dann unterdrückt er sie. Zum anderen: Der stoische Schicksalsglaube lässt dem Menschen lediglich die Möglichkeit, sich der vorbestimmten Ordnung zu fügen. Daraus wiederum wurde gefolgert: Wenn die Grundhaltung der stoischen Philosophie in Schicksalsergebenheit besteht, was könnte vernünftiger sein als sich emotionslos den unvermeidlichen Dekreten des Schicksals zu unterwerfen? Obwohl in der Antike Freunde wie auch Feinde der Stoiker von einem weit differenzierteren Verständnis dieser Philosophie ausgingen, war es die spezifische Form ihres Determinismus, die den bevorzugten Gegenstand der Kontroversen bildete. In deren Zentrum stand die Frage, was der Nutzen von Überlegungen und einem aktiven Engagement in menschlichen Belangen sein kann, wenn alles vom Schicksal vorherbestimmt ist. Während des gut fünfhundertjährigen Bestehens der Stoa ist diese Streitfrage über die Vereinbarkeit des Schicksals mit der menschlichen Verantwortung nie zur Ruhe gekommen. Wenn auch das lange und intensive intellektuelle Leben der stoischen Schule von sich aus gegen die Annahme sprechen sollte, dass ihre Philosophie auf fundamental unvereinbaren Prinzipien beruht, legen die unaufhörlichen Attacken und Gegenattacken nahe, dass die deterministische Konzeption der Stoiker eine gewissen Spannung in sich trägt. Was also ist der Kernpunkt dieses Determinismus und inwiefern lässt er sich mit der stoischen Forderung nach einer aktiven Lebensweise, mit sorgfältig ausgearbeiteten moralischen Prinzipien, vereinbaren? Seit 1

Dies ist die leicht überarbeitete deutsche Fassung meines Beitrages: Stoic Determinism, in: The Cambridge Companion to the Stoics, hg. von Brad Inwood, Cambridge 2003, S. 179 – 205.

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Pioniere wie Pohlenz, Samburski, Sandbach, Long oder Rist die Feinheiten der stoischen Philosophie ins rechte Licht gerückt haben, hat die Debatte über den stoischen Kompatibilismus in der Sekundärliteratur erheblich an Intensität gewonnen. Eine allseits befriedigende Lösung wurde bis heute nicht gefunden. Angesichts der Komplexität dieser Diskussion kann unsere Darstellung nicht mehr als einen Überblick über die Grundprinzipien liefern, auf welchen der stoische Determinismus beruht, sowie einige Überlegungen zu ihrer Bewertung beisteuern. Damit die Diskussion nicht ausufert, können Veränderungen innerhalb der stoischen Lehre ebenso wenig berücksichtigt werden wie solche in der Einstellung ihrer damaligen Gegner. Wir begnügen uns daher mit der Rekonstruktion eines Bildes dieser Lehre, das so kohärent ist, wie es die Quellen eben zulassen.2 Wie die meisten ,Ismen‘ ist auch der Determinismus ein Spätling.3 Deterministische Vorstellungen unterschiedlicher Art haben Philosophen und Naturwissenschaftler der Antike freilich schon lange vor der Gründung der Stoa beschäftigt. Man fasst heute die wichtigsten Versionen unter den Titeln (1) ,physikalischer‘, (2) ,logischer‘, (3) ,ethischer‘ und (4) ,teleologischer‘ Determinismus zusammen. Sie beziehen sich auf (1) die Verbindung von Ursache und Wirkung, (2) das Verhältnis von Grund und Folge, (3) die Bedingungen menschlichen Handelns und (4) die Festlegung auf ein Ziel oder Ende. Für alle vier gibt es Belege in Aristoteles’ Schriften zur Naturphilosophie, zur Ethik und zur Logik. Und nicht nur das, Aristoteles reflektiert auch auf den inneren Zusammenhang zwischen den verschiedenen Spielarten und verwendet ein passendes Vokabular zur Kennzeichnung des Unterschiedes zwischen Bestimmtem (bqisl´mom) und Unbestimmtem 2

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Vgl. dazu die Monographie von Susanne Bobzien: Determinism and Freedom in Stoic Philosophy. Oxford 1998. Sie vermittelt ein detailliertes Bild von der Geschichte und Komplexität der Problematik und erklärt die Gründe für die Meinungsverschiedenheiten in der Sekundärliteratur. Einen kürzeren Überblick bietet James Hankinson, in: The Cambridge History of Hellenistic Philosophy, hg. von Keimpe Algra, Jonathan Barnes, & Malcolm Schofield, Cambridge 1999, Kap. 14 und 15. Der Artikel: Determinismus/Indeterminismus in: Historisches Wçrterbuch der Philosophie Bd. 2 1972, hg. von Joachim Ritter, 150 – 55 verweist auf Verwendungen im Deutschen in der 2. Hälfte des 18. Jh. Im Oxford English Dictionary (19892) s.v. ,determinism’ findet sich ein Verweis auf Sir Walter Hamilton: Reid’s Works (1848), Anm. 87: „There are two schemes of Necessity – the Necessitation by efficient – the Necessitation by final causes. The first is brutal as blind Fate, the latter rational Determinism“.

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( !ºqistom).4 Gleichwohl scheint Aristoteles an eine allgemeine Determinierung all dessen, was in der Natur und im menschlichen Leben geschieht, nicht gedacht zu haben. Das mag uns auf den ersten Blick nicht nur angesichts seines ausgeklügelten Vier-Ursachen-Schemas seltsam erscheinen, sondern auch im Hinblick auf seine Beschäftigung mit den Bedingungen menschlichen Verhaltens und sein Beharren auf der Notwendigkeit als Vorbedingung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Eine kurze Zusammenfassung des aristotelischen Begriffs der Ursache ist geeignet, die Besonderheit der entsprechenden stoischen Konzeption hervorzuheben, welche ihre Vertreter zu Protagonisten in der Auseinandersetzung über Probleme des Determinismus in der Spätantike machen sollte. Aristoteles war nun aber keineswegs der erste Philosoph, der sich Gedanken über die Frage gemacht hat, die im Zentrum der Problematik des Determinismus steht: ob es Gesetzmäßigkeiten gibt, welche die Natur der Dinge – einschließlich der Menschennatur – so festlegen, dass entsprechende Ereignisse mit Notwendigkeit eintreten. So nennt z. B. Cicero eine stattliche Reihe von früheren Vertretern eines ,Necessitarismus‘.5 Wenngleich diese Liste nicht über jeden Zweifel erhaben ist, so war doch die Frage nach der Notwendigkeit von Ereignissen von früh an Gegenstand unterschiedlicher Überlegungen. Neben traditionellen Vorstellungen von göttlichen Schicksalsmächten, wie etwa dem Wirken der Moiren, gaben auch die rationalistischen kosmologischen Modelle verschiedener Vorsokratiker Anlass zu dieser Fragestellung. Nachdem Parmenides die Möglichkeit von Werden und Veränderung rundheraus bestritten hatte, weil nichts aus Nichts kommen und nichts zu Nichts werden kann, sahen sich die Naturphilosophen in die Pflicht genommen, Erklärungen für alle Vorgänge in der Natur zu liefern. Diese Philosophen reagierten in unterschiedlicher Weise auf die parmenideische Herausforderung; ihre anspruchsvollsten 4

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Vgl. Physik II 5 196b28 f. Vgl. dazu Hermann Bonitz: Index Aristotelicus, Berlin 1870, Nachdruck Darmstadt 1970 s.v. bq¸feim und !ºqistor oder %peiqor. Die lateinischen Entsprechungen, „determinatio“, „indeterminatio“ und Verwandtes, wurden in der Spätantike zum Standardvokabular. Cicero: De fato 39: „Manche vertraten die Auffassung, dass alles in dem Sinn dem Schicksal gemäß eintritt, dass dieses Schicksal mit Notwendigkeit wirkt; diese Auffassung vertraten Demokrit, Heraklit, Empedokles und Aristoteles.“ Einen kurzen Überblick über die Geschichte des Determinismus bietet Susanne Bobzien (wie Anm. 2), S. 2 – 6. Zur Vorgeschichte des Fatalismus im frühen Griechentum vgl. Verf.: Fatalism and Future Truth, in: Proceedings of the Boston Area Colloquium in Ancient Philosophy 6, 1990, S. 195 – 227, bes. S. 195 – 199.

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Theorien beschränkten sich jedoch nicht auf allgemeine Erklärungen der Natur der Dinge, sondern beanspruchten auch eine gewisse Notwendigkeit für die Zusammenhänge in der Natur. Wenn hier Aristoteles und nicht Platon als Antagonist der Stoiker präsentiert wird, so liegt dies daran, dass Aristoteles manche ihrer Voraussetzungen über die Natur des Kosmos teilt. Da die Grundzüge der aristotelischen Philosophie bekannter sind als die der stoischen, dürfte ein Vergleich von Gemeinsamkeiten und Unterschieden hilfreich sein. Zunächst die Übereinstimmungen: (1) Aristoteles hält, wie die Stoiker, das Universum für begrenzt und stellt die Erde in den Mittelpunkt. (2) Die Stoiker teilen die aristotelische Überzeugung, dass die Natur auf einem Kontinuum von Materie, Raum und Zeit beruht, und schließen die Möglichkeit eines Vakuums aus. (3) Wie Aristoteles vertreten die Stoiker den Begriff einer ,zweiseitigen Möglichkeit‘ und ,Kontingenz‘ in dem Sinne, dass bestimmte Sachverhalte weder notwendig noch unmöglich sind. (4) Aristoteles und die Stoiker gehen von dem Prinzip aus, dass es keine Veränderung ohne Ursache gibt und dass gleiche Umstände immer gleiche Wirkungen haben. Dass Aristoteles die letzte Annahme wirklich teilt, wird oft bezweifelt. Eine kurze Überprüfung der Frage, in welchem Sinn er als Kausal-Determinist gelten kann, empfiehlt sich deswegen, weil dabei wichtige Divergenzen zu den Stoikern zutage treten. Aristoteles nimmt bekanntlich vier Arten von Ursachen an: Materie, Form, Bewegungsursache und Zweckursache. Dieses Erklärungsschema wendet er in allen Bereichen seiner Philosophie an: in der Physik ebenso wie in der Logik, Ethik und in der Metaphysik.6 Wenn man Aristoteles trotz seines umfassenden Schemas von Ursachen gewöhnlich nicht zu den Deterministen rechnet, so gibt es dafür im Wesentlichen vier Gründe: • Da die Substanz und die Bedingungen der Substantialität im Zentrum seiner Metaphysik und Naturphilosophie stehen, zielt sein Erklä6

Das Problem des ,logischen Determinismus’, vor allem die Frage in welchem Sinn Wahrheitswerte von Zukunftsaussagen das Eintreten der entsprechenden Ereignisse notwendig machen, kann hier beiseite bleiben. Aufgeworfen haben dürften es die Dialektiker der Megarischen Schule. Es beschäftigte nicht nur Aristoteles, wie das berühmte Kapitel 9 von De interpretatione zeigt, sondern spielte auch in der Stoa eine wichtige Rolle. Vgl. Susanne Bobzien (wie Anm. 2), S. 59 – 86 und Verf. (wie Anm. 5). Zur Literatur über De interpretatione 9 vgl. Verf.: Logik, Sprache und die Offenheit der Zukunft in der Antike. Bemerkungen zu zwei neuen Forschungsbeitrgen, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 52, 1998, S. 80 – 100.

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rungsschema nicht auf die Ursachen von Ereignissen und ihre Verbindungen, sondern auf die Charakteristiken von Substanzen, d. h. auf ihre Eigenschaften und spezifischen Verhaltensweisen. • Aristoteles’ Ursachen-Schema ist genau das, was sein Name sagt: Es ist ein bloßes Schema. Materie, Form, Bewegungsursache und Zweckursache verschiedenartiger Gegenstände und Vorgänge haben keine gemeinsame Natur. Es besteht vielmehr bloß ein analoges Verhältnis.7 • Für Aristoteles erreicht jeder Prozess mit seinem t´kor seinen natürlichen Schlusspunkt. Obwohl er die Möglichkeit nicht ausschließt, dass dieses natürliche Ergebnis seinerseits wieder als Faktor in einem weiteren Kausalnexus wirken kann, liegt ihm doch der Gedanke an eine endlose Kausalkette fern. • Die Unterscheidung zwischen Dingen, die zu einem bestimmten Kausalnexus gehören, und solchen, die das nicht tun, gestattet Aristoteles eine Differenzierung zwischen regulären und irregulären Prozessergebnissen. Die Kriterien für Irregularität sind klar definiert: Zufälliges (t± !p¹ t¼wgr) und Spontanes (t± !p¹ t’aqtol²tou) beruhen auf einer Überschneidung unterschiedlicher Kausalzusammenhänge mit verschiedenen Zielen oder Absichten. Nur was notwendigerweise oder ,meistens‘ eintritt, kann Gegenstand von Wissenschaft sein. Es gibt daher keine Erklärung für zufällige Überlappungen.8 Diese Liste liefert eine hinreichende Basis für den Nachweis, dass die aristotelische und die stoische Konzeption von Natur und Kausalität grundsätzlich verschieden sind: • Im Zentrum der stoischen Philosophie stehen nicht Substanzen, ihre Eigenschaften und Aktivitäten, sondern die physische Beschaffenheit von Körpern und ihre Wechselwirkungen. • Statt des analogen Kausalschemas nehmen sie zwei alles durchdringende Prinzipien in der Natur an. In allen Dingen herrscht ein göttliches aktives Vernunftprinzip, welches sein passives Gegenstück 7

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Zur Frage der Angemessenheit der Bezeichnung ,Ursache’ für die aristotelischen aitai vgl. Richard Sorabji: Necessity, Cause, and Blame, London 1980, Kap. 2 und 3. Zum Einfluss des stoischen Kausalvorstellung auf die Entwicklung der causa efficiens vgl. Michael Frede: The original notion of cause, in: Doubt and Dogmatism, hg. von Jonathan Barnes, Myles Burnyeat, & Malcolm Schofield, Oxford 1980, S. 217 – 249. Vgl. dazu Verf.: Accidental Causes in Aristotle, in: Synthese 92, 1992, S. 39 – 62.

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durchdringt und gemeinsam mit ihm Gestalt und Konsistenz der Dinge im Weltall bedingt.9 Dieser göttliche Geist wirkt daher zugleich als Form, t´kor, Materie und Bewegungsursache.10 In Anlehnung an die herrschenden religiösen Vorstellungen identifizieren die Stoiker das aktive Prinzip mit Zeus, das passive mit Hera als der unentbehrlichen Gefährtin des aktiven Elements. Beide Elemente sind physikalische Körper; das aktive Vernunftprinzip ist eine Mischung von Luft und Feuer (pmeOla). Das passive Element hat keine positiven Attribute, wird jedoch mit den traditionell als inaktiv geltenden Elementen Wasser und Erde assoziiert. • Angesichts der inneren Einheit dieser beiden Prinzipien beschränken sich teleologische Erklärungen nicht auf die Ziel- oder Endpunkte einzelner Prozesse. Alles, was geschieht, ist vielmehr Teil eines allumfassenden kausalen Netzwerkes. • Da das Universum keine unkoordinierten Ereignisketten enthält, gibt es auch keine irregulären Ereignisse, d. h. solche, die nicht in den betreffenden Kontext gehören. Obwohl die Stoiker den Unterschied zwischen regelmäßigen und seltenen Ereignissen nicht bestreiten, gehören letztere ebenso zur Natur wie erstere. Zufall und Akzidenz beruhen daher nur auf menschlichem Unwissen: Auch was uns als ein bizarres Zusammentreffen erscheinen mag, ist Teil der Ordnung der Natur. Einheit und Vielheit im stoischen Universum Die einheitliche Natur der aktiven und der passiven Kraft in der kosmischen Ordnung erklärt, warum es bei den Stoikern, anders als bei Platon und Aristoteles, keine Trennung zwischen der sublunaren und der supralunaren Welt gibt. Die Himmelsbewegungen werden durch die gleichen Prinzipien bestimmt wie die Prozesse auf Erden: Die Gesamtnatur wird durch die göttliche Vernunft verwaltet, und daher herrscht eine globale teleologische Determinierung, welche die Stoiker 9 Vgl. Alexander von Aphrodisias: De fato 191,32 – 192,5: „Sie [die Stoiker] sagen, dass das Universum, welches eines ist und alles Seiende enthält und durch die Natur bestimmt wird, welche belebt, vernünftig und rational ist, alles Ewige in einer kohärenten und fortschreitenden Ordnung verwaltet.“ 10 Vgl. dazu Keimpe Algra: Stoic Theology, in: Brad Inwood (wie Anm. 1), Kap. 6; Michael White: Stoic Natural Philosophy, in: Brad Inwood (wie Anm. 1), Kap. 5.

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mit dem Schicksal gleichsetzten.11 Die Allmacht des aktiven Prinzips erklärt zudem die Annahme einer alles verbindenden sulp²heia innerhalb der Natur, einer inneren Verbindung zwischen scheinbar ganz disparaten Ereignissen. Weissagung durch Beobachtung und Deutung göttlicher Zeichen gilt daher im Stoizismus nicht als Aberglaube, sondern als eine Wissenschaft. Genaue Beobachtungen versprechen die Erkenntnis sicherer Anzeichen (sgle?a) für die natürlichen Zusammenhänge, selbst wenn die menschliche Vernunft die Ursachen nicht voll zu erfassen vermag, welche der beobachtbaren Ordnung der Dinge zugrunde liegen. Daraus erklärt sich, warum die Stoiker nicht nur die traditionellen Formen der Wahrsagung unterstützten, sondern wesentlich dazu beitrugen, dass die Astrologie sich als respektable Wissenschaft in der griechischen und römischen Welt etablieren konnte.12 Dieser vergleichende Überblick legt nahe, dass ein wesentlicher Unterschied zwischen Aristoteles und den Stoikern im Umfang ihres teleologischen Prinzips besteht. Für die Stoiker gibt es eine all-umfassende Weltordnung mit einer universellen Koordination aller Dinge. Bei Aristoteles sind alle Ursachen, einschließlich des t´kor, auf ihren ,lokalen‘ Kontext beschränkt. Es gibt keine notwendige Verbindung oder Koordination zwischen sämtlichen Vorgängen im Universum. Bevor man sich jedoch mit dem Kontrast zwischen einer lokal beschränkten Teleologie auf Seiten des Aristoteles und einer global gültigen auf Seiten der Stoiker zufrieden gibt und den globalen Anspruch bei den Stoikern für die Spannungen innerhalb ihres Systems verantwortlich macht, sind gewisse feinere Unterscheidungen zu berücksichtigen, die nicht ohne weiteres zu dem Bild eines undifferenzierten stoischen ,Globalismus‘ passen wollen. 11 Zur allumfassenden Macht des Schicksals, seiner Gleichsetzung mit Vernunft und Gott, vgl. Alexander von Aphrodisias: De Fato 192, 25 – 28: „Vom Schicksal selbst, von der Natur und der Vernunft, die alles lenkt, sagen sie, sie sei Gott …“ (tµm d³ eRlaql´mgm aqtµm ja· tµm v¼sim ja· t¹m kºcom ja¢’ dm dioije?tai t¹ p÷m, he¹m eWma¸ vasim). Angesichts der Tatsache, dass die Stoiker eRlaql´mg, ihre Standardbezeichnung für das Schicksal, etymologisch von eUqy = „fügen“ ableiteten, ist kein Unterschied zwischen Fatalismus und Kausaldeterminismus anzunehmen. Vgl. auch Susanne Bobzien (wie Anm. 2), S. 45 – 50. 12 Vgl. Anthony Long: Astrology: Arguments pro and contra, in: Science and Speculation, hg. von Jonathan Barnes, Myles Burnyeat, Jacques Brunschwig, & M. Schofield, Cambridge 1982, S. 165 – 192. Zur Astrologie im Allgemeinen vgl. Timothy Barton: Ancient Astrology. London 1994.

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Das Zutrauen zu einer all-umfassenden Einheit in der Natur hinderte die Stoiker nämlich nicht daran, auf die Besonderheiten einzelner Ereignisse einzugehen oder die Natur einzelner Gegenstände und ihre Bedingungen zu untersuchen. Denn anders als man zunächst erwarten würde, beruht das stoische Ideal eines ,Lebens in Einklang mit der Natur‘13 nicht auf einer romantischen pantheistischen Überzeugung ,alles ist eines und alles ist gut‘. Sie betrachteten die Kenntnis der Grundzüge der Wirklichkeit und der Regeln, auf denen sie beruhen, zwar als eine notwendige, nicht aber als eine hinreichende Bedingung für ein angemessenes Verhalten im Leben. Zur Gewinnung einer angemessenen Einstellung zu all dem, was von Natur aus geschieht, setzten sie vielmehr ein detailliertes Studium der Natur aller Dinge voraus. Denn da die Menschen über Vernunft verfügen, können sie sich ein Verständnis der vernunftbestimmten Ordnung der Dinge zumindest partiell erarbeiten, auf der kosmischen wie auch auf der individuellen Ebene.14 Diese Überlegungen erklären, warum die Stoiker – ihren einheitlichen kosmologischen Prinzipien zum Trotz – in ihrer Analyse der Ursachen feinere Unterscheidungen vornahmen. Obwohl jedes Individuum und jeder einzelne Vorgang Teil der göttlichen Gesamtordnung sind, spielen die verschiedenen Faktoren doch eine unterschiedliche Rolle im kausalen Netzwerk. Da die Menschen nicht allwissend sind und bestenfalls einen Teil der göttlichen Ordnung kennen können, ist ein angemessenes Verständnis der unterschiedlichen Faktoren unabdingbar, um sich gewissermaßen regional im Kosmos zu orientieren. Die Vielfalt innerhalb der kosmischen Einheit erklärt darüber hinaus, warum die Stoiker Unterschiede zwischen den kausalen Faktoren herausstellten, die für den Zustand verschiedenartiger Dinge verantwortlich sind, und zudem auf einer gewissen Autonomie für Einzelwesen bestanden. Zwar waren die Stoiker Pantheisten in dem Sinn, dass alles durch das göttliche pneuma durchdrungen wird; dieser Pantheismus ist jedoch nicht mit einem Panpsychismus gleichzusetzen: Das göttliche pneuma tritt nicht überall in der gleichen Form auf und ver13 Vgl. Diogenes Laërtius: Vitae philosophorum VII 87 – 88. Über die Bedeutung dieser Maxime herrscht unter Fachleuten noch immer keine allgemeine Übereinstimmung, vgl. Brad Inwood: Ethics and Human Action in Early Stoicism, Oxford 1985; Maximilian Forschner: ber das Handeln in Einklang mit der Natur, Darmstadt 1998, und ders.: Die stoische Theorie der Oikeiosis [in diesem Band]. 14 Vgl. Cicero: De finibus bonorum et malorum II 34; III 73.

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leiht daher auch nicht allen Dingen Leben, Bewusstsein oder gar Vernunft. Auch im Stoizismus gibt es eine scala naturae: In leblosen Dingen wie Steinen oder Wasser bedingt das göttliche pneuma deren inneren Zusammenhalt mitsamt ihren Eigenschaften (6neir). Pflanzen verdanken ihrem pneuma die Fähigkeit, sich selbst zu erhalten (v¼sir), Tiere ihre Wahrnehmungs- und Bewegungsfähigkeit (xuw¶). In den Menschen ist nicht nur pneuma von der Art enthalten, welches alle Lebensfunktionen steuert, sondern auch das pneuma in seiner reinsten Form, nämlich in der Form von Vernunft (di²moia). Als beherrschendes Prinzip (Bcelomijºm) bestimmt das rationale pneuma alle menschlichen Handlungen.15 In komplexen Organismen ist folglich eine Vielfalt ,pneumatischer‘ Kräfte am Werk, welche die physiologischen ebenso wie die mentalen Funktionen steuern. Aufgrund der relativen Stabilität seines inneren pneumatischen Zustandes ist jedes Individuum eine Art Mikrokosmos innerhalb des makrokosmischen Kausalgefüges. Daher haben Individuen auch eine gewisse Autonomie. Auf Menschen bezogen bedeutet das: Die innere Verfassung, vor allem aber die Vernunft bestimmt, wie die Person sich zu ihrer Umwelt verhält. Daher haben die Stoiker gute Gründe, zwischen der inneren Verfassung und den äußeren Umständen im Leben einer Person zu unterscheiden, trotz der alles durchdringenden kosmischen Kräfte, welche als Ursachen für das Entstehen, die Erhaltung und das Vergehen aller Dinge wirken. Wie diese Überlegungen zeigen, lässt sich innerhalb des stoischen Systems eine umfassende Einheit durchaus mit Pluralität vereinbaren. Wie sich die innere Autonomie des Individuums mit der stoischen Vorstellung einer durchgehenden Determinierung verträgt, wird sich noch zeigen. Aus der Tatsache, dass die Stoiker Individuen eine gewisse Unabhängigkeit und Autonomie zubilligen, erklärt sich übrigens auch ihr Interesse an der Natur von Oberflächen und Begrenzungen: Die Begrenzung jedes Individuums ist eine Funktion des Gleichgewichts im inneren pneuma, welche das Individuum zugleich zusammenhält und von seiner Umwelt abgrenzt. Es scheint daher ein Fehler, den Oberflächen den Status realer Dinge abzusprechen und sie zu bloßen Kon-

15 Vgl. Philo von Alexandria: Legum allegoriae II, 22 1, 95,8 (Stoicorum Veterum Fragmenta, ed. Ioannes ab Arnim, 4 Bde. Leipzig 1902 – 1904, Nachdruck Stuttgart 1964, Bd. 2, Frg. 458). Zur Bedeutung dieser Theorie vgl. Keimpe Algra in: Brad Inwood (wie Anm. 1) Kap. 6.

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strukten des menschlichen Geistes zu machen.16 Wenn die Stoiker die Grenzen nicht als Körper, sondern als deren Eigenschaften ansehen, so tun sie das, um Paradoxa der zenonischen Art zu vermeiden.

Der stoische Ursachen-Begriff: vorläufige Klärung Die Notwendigkeit, die Einheit auf der kosmischen Ebene mit der Vielheit der innerkosmischen natürlichen Faktoren zu vereinbaren, vor allem was die menschliche Natur angeht, erklärt die Differenzierung innerhalb der kausalen Faktoren, auf welche die Stoiker sich zur Verteidigung der Kompatibilität von Determinismus und Willensfreiheit beriefen. Daher ist zunächst eine kurze Klärung des stoischen Ursachenbegriffes erforderlich. Dies ist deswegen ein besonders schwieriges Unterfangen, weil die Erklärungen in unseren Quellen in signifikanter Weise voneinander abweichen. So gehen manche Quellen von einer strikten Einheit des stoischen Ursachenbegriffs aus. Seneca etwa besteht darauf, dass Ursachen für die Stoa eine Einheit darstellen, Epistulae morales ad Lucilium 65,12: „Wenn wir nach der Ursache suchen, so meinen wir die Vernunft, die es bewirkt, und diese ist Gott.“17 Andere Quellen sprechen hingegen von einem ,Schwarm von Ursachen‘18 und unterstellen den Stoikern, dass sie die unliebsamen Konsequenzen ihrer deterministischen Konzeption durch verwirrende Differenzierungen zu vernebeln suchten. Es ist daher notwendig, die unterschiedlichen Arten von Kausalfaktoren, welche die Stoiker voraussetzen, sowohl voneinander zu unterscheiden wie auch ihre Verbindung zu erklären. Die Unterscheidung von Ursachen und ursächlichen Faktoren bei den 16 Anders Anthony Long & David Sedley: Hellenistic Philosophy, Berkeley 1987, S. 301 und Michael White: Stoic Natural Philosophy, in: Brad Inwood (wie Anm. 1), S. 124 – 152, bes. S. 148 – 151. 17 „quaerimus, quid sit causa? ratio scilicet faciens, id deus est.“ Vgl. auch Aetius: Placita I 11,5: „Die Stoiker meinen, alle Ursachen seien körperlich; sie sind nämlich pme¼lata.“ 18 Alexander von Aphrodisias: De fato 192,18: „Sie zählen einen ganzen Schwarm von Ursachen (sl/mor aQti_m) auf, die einen nennen sie vorausgehend (pqojataqjtij²), die anderen Mitursachen (suma¸tia), ,erhaltend’ (2jtij²), ,zusammenhaltend’ (sumejtij²), und noch andere.“ Alexander hielt es nicht für nötig, auf die Details einzugehen, weil die eigentliche Schwierigkeit bestehen bleibt, dass sich unter gleichen Umständen mit Notwendigkeit immer gleiche Resultate ergeben. Sein Katalog zielt daher weder auf Vollständigkeit noch auf Genauigkeit.

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Stoikern ist in der Tat schwer verständlich, wenn man die verschiedenen Ebenen und Aspekte ihrer Theorie nicht auseinander hält. Auf der kosmischen Ebene gibt es tatsächlich nur eine einzige Ursache, nämlich den aktiven göttlichen Geist oder das pneuma. Auf der inner-kosmischen Ebene sind verschiedenartige Faktoren innerhalb eines kausalen Netzes am Werk. Eine genaue Rekonstruktion der Arten von Ursachen und ihrer Funktionen wird noch zusätzlich dadurch erschwert, dass unsere Quellen aus verschiedenen Zeiten stammen und sich manchmal auf unterschiedliche Versionen der stoischen Theorie zu beziehen scheinen.19 Doch trotz aller Verschiedenheit in den Details ergibt sich insgesamt eine Zweiteilung der Ursachen. Wie die Metapher von einer ,Kette‘ oder einem ,Netz‘ von Ursachen nahe legt, unterschieden die Stoiker zwischen Hauptgliedern innerhalb der Kausalverknüpfungen und anderen Faktoren, die bei ihrer Verkettung mitwirken. Eine solche Dichotomie zwischen den Hauptursachen und äußeren Ursachen schreibt z. B. Cicero in seinem Traktat De fato Chrysipp zu: „Von den Ursachen sind manche primär (principales) und vollkommen (perfectae), andere wirken als Hilfsursachen (adiuvantes) und aus der Nähe (proximae). Wenn wir daher sagen, dass alles dem Schicksal gemäß aufgrund von vorangehenden Ursachen geschieht, so wollen wir das nicht so verstanden sehen, als geschehe es durch vollkommene und primäre Ursachen, sondern durch nahe und Hilfsursachen.“ (De fato 41). Diese scheinbar so ordentliche Zweiteilung ist jedoch nicht unproblematisch.20 Zunächst ist es unklar, ob die Kombination der Bezeichnungen ,primär‘ und ,vollkommen‘ bzw. die von ,hilfs-‘, und ,nahe‘ erläuternden Charakter haben oder ob damit jeweils auf weitere Differenzierungen verwiesen wird. Ferner: Da nicht sicher ist, welche griechischen Ausdrücke Cicero mit seinen lateinischen Bezeichnungen wiedergibt, besteht auch keine Sicherheit, ob sich die Rolle der ,vorangehenden‘ (antecedentes) Ursachen auf die von Hilfsursachen (adiu19 Vgl. Michael Frede (wie Anm. 7), Susanne Bobzien (wie Anm. 2), Kap. 14 und James Hankinson: Stoicism and Medicine, in: Brad Inwood (wie Anm. 1), Kap. 11. 20 Vgl. Adrianus Kleywegt: Fate, free will, and the text of Cicero, in: Mnemosyne 26 (1973), S. 342 – 9. Die eigenwillige Deutung von Woldemar Görler: ,Hauptursachen’ bei Chrysipp und Cicero? Philologische Marginalien zu einem vieldiskutierten Gleichnis (De fato 41 – 44), in: Rheinisches Museum für Philologie 130, 1987, S. 254 – 274, hat zwar wenig Zustimmung gefunden, verdeutlicht jedoch die Problematik dieser Ursacheneinteilung.

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vantes) beschränken soll. Ciceros Text gibt Anlass, das zu bezweifeln, da er den „causae antecedentes“ in De fato zunächst eine weit wichtigere Rolle als in seiner Schlusszusammenfassung zuweist, welche eine Art Kompromiss zwischen den streitenden Parteien über den Begriff des Schicksals herstellt. Anfangs wirft Cicero Chrysipp nämlich vor, zu behaupten, die „causae antecedentes“ seien für das allgemeine Prinzip der sulp²heia innerhalb der Natur verantwortlich. In dieser Funktion legten sie auch die moralische Verfassung der Menschen in der Weise fest, dass sie ihre Handlungen notwendig machen (De fato 7 – 9). Cicero selbst verwehrt sich gegen eine derartige Vorherbestimmung mit Nachdruck: „Wenn es natürliche vorangehende Ursachen (causae naturales et antecedentes) dafür gibt, dass Menschen bestimmte Neigungen haben, so heißt das doch nicht, dass es natürliche vorangehende Ursachen für unseren Willen und unser Bestreben gibt […]. Denn auch wenn intelligente und dumme Menschen als solche aufgrund von vorangehenden Ursachen geboren werden […], folgt daraus noch nicht, dass durch Primärursachen determiniert und vorherbestimmt ist, dass sie sitzen, laufen oder was auch immer tun“ (De fato 9). Eine ähnlich wichtige Rolle schreibt Cicero den ,vorangehenden Ursachen‘ sowohl in seiner Verteidigung der epikureischen Position gegen den Determinismus der Stoiker (De fato 23) wie auch in seinem Bericht über die Kritik des Karneades am stoischen Determinismus (De fato 31) zu. Die Unsicherheiten bezüglich der Bedeutung und Mächtigkeit von Ursachen bei den Stoikern spiegeln sich auch im Bericht des Clemens von Alexandria wider: „Manche der Ursachen sind vorangehend (pqojataqjtij²), manche sind zusammenhaltend (sumejtij²), manche sind unterstützend (s¼meqca), manche sind notwendige Bedingungen (¨m oqj %meu).“ (Stromateis, VIII 9.25.1) Es ist nun nicht unmittelbar klar, wie Clemens‘ Kausalunterscheidungen zu der Ciceronischen Einteilung in De fato 41 passen, und auch nicht, welche Beziehung zwischen den ,vorangehenden‘ Ursachen, den ,unterstützenden‘ Ursachen und den notwendigen Bedingungen besteht. Ferner bleibt dunkel, ob Clemens die vorangehende oder aber die mysteriöse ,zusammenhaltende‘ Ursache für die Primärursache hält. Eine gewisse Ordnung lässt sich herstellen, wenn man die wichtigste Einschränkungsklausel in der stoischen Theorie berücksichtigt, die zwischen Ursachen im eigentlichen Sinn und bloß mitwirkenden Faktoren unterscheidet. „Die Stoiker nehmen als die Ursache das an, was tätig ist (id quod facit)“, stellt Seneca (Epist. 65,4) fest und wirft seinerseits Platon und Aristoteles vor, sie führten einen ,Schwarm von

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Ursachen‘ (turba causarum) ein, da sie nicht nur entfernte Ursachen, sondern auch bloß notwendige Bedingungen wie Zeit und Ort anerkennten. Diese Bemerkung liefert einen wichtigen Hinweis, der mit anderen Berichten über die stoische Ursachenlehre übereinstimmt. Eine Ursache ist für sie nur ein Kçrper, der aktiv einen Prozess bewirkt oder für einen bestimmten Zustand verantwortlich ist. Diese Einschränkung erklärt zugleich eine Besonderheit in der stoischen Theorie, die zunächst verwirrend erscheint, nämlich ihre eigentümliche Behandlung von Ursache (aUtiom) und Effekt ( !pot´kesla).21 Das Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung stellten die Stoiker wie folgt dar: Der Effekt ist für sie nicht der affizierte Körper selbst, sondern nur eine Veränderung oder ein veränderter Zustand an diesem Körper. Wirkungen werden daher als ,unkörperliche Zustände‘ definiert. So berichtet Sextus Empiricus: „Ein Körper, z. B. ein Messer, wird die Ursache für einen Körper, das Fleisch, für ein unkörperliches Prädikat ( jatgcºqgla), nämlich des Geschnittenwerdens. Oder auch: Ein Körper, Feuer, wird die Ursache für einen anderen Körper, das Holz, für das Prädikat, verbrannt zu werden.“ (Adversus Mathematicos. IX 2.11). Lässt man die Frage beiseite, warum die Stoiker Veränderungen und Effekte mit ,Prädikaten‘ assoziieren, so ist doch soviel deutlich: Solche unkörperlichen Effekte können nicht ihrerseits wiederum als Ursachen für Veränderungen an anderen Körpern auftreten.22 Das Schicksal, die ewige Kausalordnung im Universum, erklären die Stoiker daher nicht als Verknüpfung von Ursachen und Wirkungen. Vielmehr sprechen sie nur von einer Verknüpfung von Ursachen, d. h. einer Verknüpfung von Körpern, die aufeinander wirken. Dies erklärt, warum der Ausdruck ,Effekt‘ – !pot´kesla – in der stoischen Definition des Schicksals gar nicht auftritt. Das Schicksal wird immer nur als eine Aneinanderreihung von Ursachen definiert: Es gibt eine ewige Verkettung von Ursachen, in der eine Ursache die nächste hervorruft (causa causam serens). Berücksichtigt man jedoch auch den durchgängigen Zusammenhang 21 Obwohl uns diese Unterscheidung wie ein natürlicher Bestandteil jeder Sprache erscheinen dürfte, verdankt sie sich in Wirklichkeit den Stoikern, d. h. einer relativ späten Philosophenschule des Hellenismus. Vgl. dazu Michael Frede in: Jonathan Barnes et al. (wie Anm. 7). 22 Zu diesem Punkt vgl. Anthony Long & David Sedley (wie Anm. 16), I 340. Da der Effekt entweder in einem Prozess oder in einer statischen Qualitätsveränderung bestehen kann, führt Susanne Bobzien (wie Anm. 2) zur Bezeichnung beider Arten von Effekt den Ausdruck ,occurent’ (,Vorkommen’) ein.

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zwischen allen Dingen im Universum, so ist das Schicksal nicht als eine lineare Kausalverknüpfung zu denken, sondern als ein Netzwerk von Ursachen. Die Unterscheidung zwischen körperlicher Ursache und unkörperlichem Effekt sowie die Beschränkung von Ursachen auf Körper sind nicht allein deswegen bemerkenswert, weil sie für eine Differenziertheit der stoischen Kausaltheorie sprechen. Vielmehr machen sie auch begreiflich, dass bloß unterstützende Faktoren und notwendige Bedingungen nicht als Ursachen angesehen werden, wenn sie keine aktiv mitwirkenden Körper sind. Diese Differenzierung wurde allerdings nicht mehr beachtet, nachdem die stoische Terminologie von Ursache und Effekt Teil des allgemeinen Wortschatzes geworden war, wie die Berichte bei Clemens, Sextus und anderen nahelegen.23 Es bleibt jedoch zu fragen, in welcher Weise diese Unterscheidung Licht auf die Funktionen der unterschiedlichen Faktoren wirft und damit die Unklarheiten beseitigt, was die ,Mächtigkeit‘ der Ursachen angeht. Eine gewisse Ordnung ergibt sich aus dem bei Alexander von Aphrodisias angeführten ,Schwarm von Ursachen‘,24 wenn man sich auf die besondere Natur bestimmter Ursachen besinnt. So stellen die ,Mitursachen‘ (suma¸tia) eine besondere Unterart der ,Hauptursachen‘ dar: In manchen Fällen reicht ein Körper allein nicht aus, um die betreffende Veränderung zu bewirken, so etwa wenn zwei Ochsen für das Ziehen eines Wagens erforderlich sind. In diesem Fall ist keiner von beiden die Hauptursache. Der ,Schwarm‘ lässt sich noch weiter reduzieren, wenn man dem Ursprung der Bezeichnung sumejtijµ aQt¸a nachgeht. Der Ausdruck sumejtij¶ – zu übersetzen mit ,zusammenhaltende‘ oder ,erhaltende Ursache‘ – verweist auf die pneumatische Konsistenz des fraglichen Körpers, d. h. auf die Spannung seines inneren Pneumas.25 Im Fall von ,Mitursachen‘ gibt es keine einheitliche innere Spannung; beide Körper entfalten ihre Tätigkeit nicht aufgrund einer gemeinsamen ,zusammenhaltenden‘ Kraft.26

23 Der Bericht bei Clemens (Stromateis VIII IX 98.7 ff) ist ein gutes Beispiel für die terminologische Verwirrung: Die Stoiker selbst würden notwendige Bedingungen wie Ort und Zeit nicht zu den Ursachen gerechnet haben. 24 Vgl. oben Anm. 18. 25 Dazu Michael Frede (wie Anm. 7), S. 244. 26 Ob die Unterscheidung zwischen ,hektischen’ und ,synektischen’ Ursachen wirklich von den Stoikern stammt, wie Alexander von Aphrodisias behauptet, ist unklar. Da von ,hektisch’ im Zusammenhang mit der stoischen Ursachen-

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Diese Überlegungen lassen auch ein gewisses Licht auf Ciceros Unterscheidung (die sich auch in anderen Quellen findet) zwischen ,vollkommenen‘ und ,primären‘ Ursachen verständlicher werden: Die Unterscheidung ist sinnvoll, wenn vollkommene Ursachen solche sind, die keine weiteren Faktoren für ihre Tätigkeit brauchen – wie im Fall der Ausstrahlung von Wärme durch die Sonne –, während andere primäre, nicht vollkommene Ursachen auf weitere mitwirkende Faktoren angewiesen sind.27 Eine ähnlich harmlose Erklärung mag für die Unterscheidung zwischen ,nahen‘ (proximae) und ,helfenden‘ (adiuvantes) Ursachen gelten. Die Bedingung der Nähe soll die Einbeziehung allzu entfernter Faktoren ausschließen, wie auch Seneca sie an konkurrierenden Theorien kritisiert. Nicht alles, was einem Ereignis vorangeht, ist eine ,vorangehende Ursache‘, also eine „causa antecedens“. Noch auch ist umgekehrt alles, was vorhergeht, eine bloße Hilfsursache oder ein auslösender Faktor, wie sich noch zeigen wird. Es scheint also gute Gründe für die Differenzierung bei Cicero zu geben. Wir können uns daher wieder unserer eigentlichen Frage zuwenden: In welcher Weise rechtfertigt die Differenzierung zwischen verschiedenen Ursachen die Behauptung der Stoiker, ihr universaler Determinismus sei sowohl mit Kontingenz wie auch mit menschlicher Autonomie vereinbar? Keine der bisher erwähnten Unterscheidungen scheint geeignet, diese zentrale Schwierigkeit zu lösen. Denn trotz des ätherisch anmutenden Begriffs ,unkörperlicher Effekte‘ erscheint der kausale Mechanismus doch so rigide wie zuvor. Wenn das Ergebnis jeder Entwicklung von vornherein unweigerlich durch seine Ursachen und die weiteren Umstände festgelegt ist, dann kann es für die Stoiker nur eine lineare Zukunft geben und keine, die einem vielfach verzweigten Baum gleicht. Zur besseren Einschätzung des Spielraums innerhalb des engen Kausalgefüges empfiehlt sich eine genaue Prüfung, wie dieses Netzwerk der stoischen Theorie zufolge zusammengewebt wird. Dazu bietet sich lehre sonst nirgends die Rede ist, mag es sich um eine boshafte Zutat Alexanders zur Vermehrung des ,Schwarms von Ursachen’ handeln. 27 Susanne Bobzien (wie Anm. 2) bestreitet, dass Chrysipp eine systematische Taxonomie der Ursachen ausgearbeitet hat, und schlägt vor, dass die Unterscheidung zwischen Hilfs- und Hauptfunktionen nur die causae antecedentes betrifft. Wenn die traditionelle Meinung nach Bobziens Meinung Chrysipp übermäßig viel aufhalst, so ist sie selbst allzu vorsichtig. So kann man sich aus guten Gründen fragen, was sonst in den vielen Büchern gestanden haben kann, die Chrysipp den Schriftenverzeichnissen nach verfasst hat.

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eine Analyse der Kontroverse in Ciceros De fato über die Mächtigkeit an, welche die Stoiker der Primärursache und der „causa antecedens“ zuschreiben. Aus der Art des Zusammenwirkens zwischen diesen beiden Arten von Ursachen sollte deutlich werden, in welchem Sinn ihre unterschiedlichen Funktionen Raum für menschliche Autonomie lassen. Die Lösung des Problems wird aber wiederum durch die Unsicherheit über die Terminologie in den griechischen Quellen erschwert. Manche von ihnen bezeichnen die vorangehenden Ursachen als pqojataqjtij² – ein Ausdruck, der eine Beschränkung auf das bloße Auslösen eines Prozesses anzudeuten scheint. Andere Quellen verwenden dagegen pqogco¼lema d. h. ,führend‘ – ein Ausdruck, der nahe legt, dass die vorangehende Ursache nicht nur der auslösende, sondern der bestimmende Faktor im Kausalgefüge ist. Daher bleibt die Frage bestehen, wie der Unterschied zwischen der vorangehenden und der primären Ursache zu verstehen ist.28 Gleich ob manche der Quellen eine Verwirrung über die Bedeutung der Begriffe oder aber eine bewusste Verzerrung enthalten, dürfte soviel doch klar sein: In den Augen der Stoiker sollte die Unterscheidung zwischen den ,vorangehenden‘ oder ,äußeren‘ Ursachen einerseits und den ,primären‘ oder ,inneren‘ Ursachen andererseits gewährleisten, dass die Menschen in einer Weise Teil des Kausalgefüges sind, die ihnen noch Raum für persönliche Verantwortung lässt. Die stoische Rechtfertigung besteht darin, nicht die äußeren Faktoren, sondern nur die inneren als die eigentlichen Ursachen menschlichen Verhaltens zu präsentieren. Obwohl wir keine Kontrolle über die Weise haben, in der unsere Umgebung auf uns einwirkt, ist unser Verhalten doch ,in unserer Hand‘, weil es von unserer inneren Verfassung bestimmt wird. Clemens erklärt dieses Zusammenwirken wie folgt: Der Anblick physischer Schönheit ruft in einem zügellosen Menschen ( !jºkastor) Liebesregungen hervor. Der schöne Anblick ist die vorangehende Ursache. Die Reaktion des Betroffenen liegt deswegen ,in seiner Hand‘, weil seine Entflammbarkeit Teil seiner inneren Verfassung ist und nicht erst durch den äußeren Eindruck hervorgerufen wird. Aus diesem Grund stellt die Unterscheidung zwischen inneren und äußeren Ursachen den Kernpunkt in der Debatte über die Kohärenz der stoischen Theorie dar. Es 28 Dass das pqojataqjtijºm als ein Auslöser, nicht aber als Hauptursache dienen soll, bestätigt Plutarch (De Stoicorum repugnantiis 1056b-d: pqojataqjtijºm aUtiom !shem´steqºm 1sti toO aqtotekoOr), der diesen Schritt bei Chrysipp als eine Inkonsistenz tadelt, weil er die Macht des Schicksals einschränkt.

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gilt daher, soweit die Quellenlage das zulässt, zu prüfen, was die stoische Behauptung rechtfertigt, dass die Menschheit trotz einer allumfassenden Schicksalsordnung, die auch die menschliche Persönlichkeit mit einschließt, selbst für ihre Handlungen verantwortlich ist.

Kausalität, Kompatibilität und was ,in unserer Hand‘ ist Weder ihre Freunde noch ihre Gegner haben je bestritten, dass die Stoiker Kompatibilisten in dem Sinne sein wollten, dass sie von der Vereinbarkeit menschlicher Verantwortung mit einem allgemeinen physikalischen und teleologischen Determinismus ausgingen. Ihre Kritiker bestritten jedoch die Haltbarkeit ihrer Begründung angesichts der Tatsache, dass sie an dem Prinzip festhielten, wonach alles durch das Fatum vorherbestimmt ist. Dieses Faktum ist bis heute ein entscheidendes Hindernis dafür, die stoische Position auf verständliche Weise zu rekonstruieren.29 Worin aber besteht die kompatibilistische Lösung? Es ist klar, dass die Stoiker menschliche Handlungen nicht aus dem allgemeinen Kausalnexus herausnehmen wollen: Sie sind ebenso Teil des kausalen Netzwerks wie alles andere. Was, genau, bedeutet das aber? Wie schon zuvor angedeutet, bestimmt das pneuma die innere Verfassung jedes Menschen, einschließlich seiner Verstandesfähigkeit und seines Charakters. Überdies werden die Menschen durch die äußeren Eindrücke und deren Einwirkung auf ihren inneren Zustand beeinflusst. Da es keine Veränderung ohne Ursache gibt, gilt zudem, dass der Mensch sich in jedem Einzelfall, wenn genau die gleichen inneren und äußeren Umstände vorliegen, gleich verhalten wird. Sollte das Resultat unter scheinbar gleichen Umständen verschieden ausfallen, so muss das auf einem verborgenen Unterschied in den inneren oder äußeren Faktoren beruhen. Diese Invarianz stellt nun in den Augen der Gegner der Stoiker eine entscheidende Schwäche in ihrer Position dar. Wieder und wieder warfen sie ihnen vor, dass angesichts der Determiniertheit des inneren Zustandes die äußeren Einwirkungen eine Art Mechanismus auslösen, die der betreffenden Person keinerlei Spielraum lässt. Ist diese Kritik berechtigt? Wie Cicero andeutet, wollten die Stoiker die Rolle der vorausgehenden Ursache begrenzen. Sie bestanden daher darauf, dass 29 Vgl. Ricardo Salles: Compatibilism: Stoic and Modern, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 83, 2001, S. 1 – 23.

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die „causa antecedens“ zwar den jeweiligen Prozess auslöst, darüber hinaus aber nicht weiter daran beteiligt ist. Dies ist in der Tat ein plausibler Schachzug. Denn unser inneres Pneuma, das unsere Persönlichkeit ausmacht, ist als solches unabhängig von den äußeren Umständen. Wie das stoische Erklärungs-Modell für die Begrenzung äußerer Ursachen zeigt, gilt diese Begrenzung nicht nur für Menschen, sondern auch für Unbelebtes. Cicero formuliert es wie folgt: „Dann aber wendet er [Chrysipp] sich seinem Zylinder und Kreisel zu: Diese können sich nicht ohne einen Impuls in Bewegung setzen; haben sie diesen erfahren, sagt er, dann rollt der Zylinder und der Kreisel dreht sich aufgrund seiner eigenen Natur (suapte natura)“ (De fato 42).30 Obwohl Cicero wie auch Gellius dieser Theorie und ihrer Exemplifizierung erhebliche Sympathie entgegenbrachten, hielten doch die meisten Gegner der Stoiker diese Verteidigung einer kompatibilistischen Lösung für einen Fehlschlag.31 Vor allem Alexander von Aphrodisias widmet sich in seinem Traktat ber das Schicksal eingehend dem Nachweis, dass die stoische Position inkohärent ist.32 Zwar geht er auf das Beispiel des Zylinders nicht näher ein, hält aber schon den Umstand, dass diese Erklärung für rationale wie nicht-rationale Gegenstände gelten soll, für ein entscheidendes Manko. Seine negative Haltung ist auch durchaus begreiflich. Auch aus unserer heutigen Sicht muss der Vergleich mit dem rollenden Zylinder ganz ungeeignet erscheinen, die Unabhängigkeit eines Gegenstandes von vorangehenden Ursachen zu rechtfertigen. Denn statt den Eindruck zu entkräften, dass die Stoiker die Menschen wie Figuren auf einem göttlichen Schachbrett behandeln, die keine Macht über ihre Züge haben, scheint der Vergleich ihn vielmehr zu bestärken. Ist nicht der Anstoß das entscheidende Moment in dem nachfolgenden Prozess? Nachdem der Zylinder einmal in Bewegung versetzt wurde, liegt es doch nicht mehr ,bei ihm‘ zu rollen oder nicht zu rollen. Die Anwendung auf den Menschen lässt die Schwäche dieses Modells noch deutlicher werden. Wenn ich jemandem einen Stoß gebe, so dass er hinfällt und sich ein Bein bricht, wird kein Gericht die Erklärung anerkennen, meine Handlung sei lediglich die vorangehende oder ,nahe‘ Ursache des Unfalls gewesen. Kein noch so geschickter Anwalt wird mit dem Plädoyer durchkommen, die 30 Vgl. Aulus Gellius: Noctes Atticae VII 2.1 – 25; XIX 1,15 – 20. 31 Vgl. Plutarchs Kritik an dem Versuch, den Einfluss der causa antecedens abzuschwächen in: Stoic. repugn., Kap. 47. 32 Bes. De fato 179, 12 – 17.

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Hauptursache des Schadens liege in der Haltung und inneren Konsistenz des Opfers. Zwar mag es eine Auseinandersetzung darüber geben, ob mein Stoß wirklich ein Stoß und kein bloßer Stups war, ob die Knochen des Opfers ungewöhnlich spröde sind usw. Dass ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass nach Eintreten der auslösenden Ursache die Konsequenzen nicht ,in der Hand‘ des Opfers lagen. Es muss daher prima facie verwundern, dass die Stoiker ihre Strategie während der Jahrhunderte dauernden Auseinandersetzung nicht änderten, sondern an ihrem Modell festhielten. Wenn sie nicht aus törichtem Starrsinn auf ihrer Erklärung beharrten, so müssen sie gemeint haben, dass ihr Vergleich mit dem Zylinder trotz der determinierenden äußeren und inneren Umstände – recht verstanden – durchaus erklären kann, inwiefern das Verhalten der Menschen ,in seiner Hand‘ liegt. Gibt es also eine positivere Auslegung dieses Modells, welche die Position der Stoiker verständlich macht? Wenn wir einmal unsere Abneigung dagegen überwunden haben, mit rollenden Zylindern und rotierenden Kreiseln verglichen zu werden, ist leicht einzusehen, dass der Kernpunkt des Modells nicht in der Unvermeidlichkeit des Zusammenwirkens von inneren und äußeren Faktoren, sondern in der inneren Natur des Gegenstandes selbst liegt. Diese Tatsache kommt in dem Beispiel des Stoßes nicht zum Vorschein, weil es das Opfer wie ein totes Objekt und nicht wie einen Menschen behandelt. Im Fall von Menschen besteht die innere Natur nicht in ihrer ,Stoßbarkeit‘, sondern in ihrer vernünftigen Verfassung und in ihrem Charakter. Man muss das Beispiel also abändern, um festzustellen, inwiefern das Modell vom Zylinder auf Menschen angewandt werden kann. Wenn ich jemandem Bestechungsgeld anbiete, zwinge ich damit die Person in einer bestimmten Weise zu handeln? Außer in pathologischen Fällen würden wir bestreiten, dass hier irgendeine Notwendigkeit vorliegt. Es liegt bei der Person, ob sie das Geld annimmt und auf die Bedingungen eingeht. Das gilt selbst in dem Fall, dass der Betreffende allgemein als bestechlich gilt, so dass man sagt, er könne Geld einfach nicht widerstehen. Auch wenn derartige Reaktionen vorhersagbar sind, sind Menschen nämlich keine Automaten. Wie schwach auch ihr Charakter sein mag, fassen sie doch jeweils einen Entschluss – und handeln so in Übereinstimmung mit ihrer inneren Natur. Zwar hätte der Betreffende die Tat nicht begangen, wenn ihm kein Geld geboten worden wäre. Dennoch ist dieses Angebot nur die auslösende und nicht die Hauptursache seiner Handlung.

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Dass dies der springende Punkt in Chrysipps Erklärung ist, bestätigt Ciceros nachfolgende Erläuterung: „So wie derjenige, der den Zylinder anstößt, seine Bewegung auslöst, ihm aber nicht die Fähigkeit zum Rollen verleiht, so hinterlässt auch der äußere Eindruck, nachdem er einmal eingetreten ist, seine Wirkung – und gewissermaßen seinen Abdruck – in der Seele. Die Zustimmung (assensio) dazu wird aber in unserer Macht liegen. Nach dem Anstoß von außen wird sie des Weiteren durch ihre eigene Macht und Natur (suapte vi et natura) in Gang gehalten, genau wie der Zylinder“ (De fato 43). Cicero geht nun nicht näher auf den inneren Mechanismus ein, der es dem Menschen erlaubt, sich der Zustimmung zu enthalten.33 Wir wissen aber aus anderen Quellen, dass eben dies der springende Punkt in der stoischen Psychologie ist. Diese Quellen verwandten große Sorgfalt auf die Erklärung des psychischen Mechanismus, der es rationalen Wesen ermöglicht, den Eindrücken von außen zu widerstehen.34 Eine eingehende Erörterung der stoischen Psychologie und ihres physikalischen Hintergrundes verbietet sich hier. Der Hinweis muss genügen, dass die äußeren Eindrücke auf die Seele komplex sein können. Beim Handeln bestehen sie sowohl in dem Eindruck von der individuellen Situation wie auch von der ihr gemäßen Handlung. Es liegt aber am Urteilsvermögen der betroffenen Person, ob sie diesen beiden Eindrücken ihre Zustimmung gibt oder versagt. Ist die Zustimmung einmal erfolgt, dann folgt notwendig der Handlungsimpuls. Es ist nun leicht einzusehen, aus welchen Gründen die Stoiker trotz der Komplexität der inneren Prozesse, die zum Handeln führen, an dem Prinzip festhalten, dass dieselbe Person unter den gleichen Umständen immer auf die gleiche Weise handelt. Treffen die gleichen Eindrücke von außen auf die gleiche innere Verfassung, dann wird die Person diesen Eindrücken immer ihre Zustimmung geben. Für Abweichungen müsste es besondere Gründe geben, es müsste also eine andere Kausalkonstellation vorliegen. Diese Überlegungen zeigen, dass die stoische Position nicht so simpel ist, wie das Modell vom rollenden Zylinder auf den ersten Blick 33 Vgl. dazu James Hankinson, in: Brad Inwood (wie Anm. 1), S. 304 – 5. 34 Epiktet: Dissertationes I 1.7 – 12. Zur stoischen Psychologie und ihren Bezügen zu den Prinzipien der Ethik vgl. Maximilian Forschner: Die stoische Ethik: ber den Zusammenhang von Natur-, Sprach- und Moralphilosophie im altstoischen System. Stuttgart 1981; Brad Inwood (wie Anm. 13), Anthony Long, in: Keimpe Algra (wie Anm. 2), Kap. 17.

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suggeriert. Das Beharren darauf, dass sich auch die Menschen – ebenso wie alles andere im Universum – unter den gleichen Umständen immer auf die gleiche Weise verhalten, schließt nicht aus, dass ihre Entscheidungen in ihrer Hand liegen. Diese Überzeugung trifft sich durchaus mit unseren eigenen Annahmen über die Verlässlichkeit und Konsistenz menschlichen Verhaltens. So führen wir im Alltag ungewöhnliches Verhalten etwa auf einen jähen Stimmungsumschwung oder eine Veränderung des Gesundheitszustandes zurück. Solche Entschuldigungen sind nicht dazu gedacht, unsere Verantwortlichkeit für unsere Handlungen zu bestreiten. Sie sollen lediglich anzeigen, dass unsere innere Natur normalerweise nicht so ist, wie unser exzentrisches Verhalten es nahe legen könnte. Verantwortlichkeit ist folglich nicht an die Bedingung geknüpft, dass wir in jedem Augenblick auch anders handeln könnten. Verantwortlichkeit beruht vielmehr auf der Bedingung, dass die Menschen in der Lage sind, ihre Entscheidungen selbst zu treffen.35 Dass es bestimmte Verhaltensmuster gibt, vermindert nicht unsere Verantwortlichkeit; es bringt lediglich etwas zum Vorschein, mit dem wir ohnehin zu rechnen haben: Dass unsere Persönlichkeit im Wesentlichen festgelegt ist. Damit ist die Möglichkeit von Verbesserungen keineswegs ausgeschlossen. Vielmehr können Erfahrungen die innere Verfassung von Menschen dahingehend beeinflussen, dass sie übereilte Reaktionen auf unmittelbare Eindrücke zu vermeiden lernen. Die Ermahnungen/Bestrafungen und Belobigungen/Belohnungen durch die Umgebung sind also keineswegs wirkungslos: Sie können vielmehr eine anhaltende Wirkung auf die innere Natur einer Person ausüben. Führen diese Überlegungen nicht allzu weit von der stoischen Position ab? Das tun sie nicht. Es gibt vielmehr gute Gründe für die Annahme, dass es ihnen ähnlich wie uns um die Formung der inneren Natur des Menschen ging. So war es eine der zentralen Fragestellungen der stoischen Ethik und Psychologie, wie die richtige Verfassung zu erreichen ist, die den Menschen dazu befähigt, die Dekrete der Vernunft zu erfassen und ihnen Folge zu leisten. Im Zentrum stand daher nicht allein die Frage nach der richtigen geistigen und moralischen Erziehung in dem der Vernunft fähigen Lebensalter, sondern auch die nach der Entwicklung des Individuums ,von der Wiege an‘.36 Denn ist 35 Vgl. dazu Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit: ber die Entdeckung des eigenen Willens. München 2001. 36 Vgl. Brad Inwood (wie Anm. 13), Kap. 6: Moral Evolution; Jacques Brunschwig: The Cradle argument in Epicureanism and Stoicism, in: The Norms of

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die innere Verfassung einmal festgelegt, lässt sich die Persönlichkeit nur noch schwer ändern. Diese Art von ,ethischem Determinismus‘ hat wichtige Konsequenzen. Ihr zufolge gilt die Beurteilung des moralischen Verhaltens weniger dem, was ein Mensch in einer bestimmten Lage tut, als vielmehr der inneren Disposition, die für dieses Tun verantwortlich ist. Aus dieser stoischen Konzeption ergibt sich, dass das Verhalten eines Menschen vorhersehbar und -sagbar ist, jedenfalls für ein allwissendes Wesen, welches alle Besonderheiten von Charakter und Denkweise des Betreffenden kennt. Das schließt jedoch einen gewissen Grad von Autonomie ebenso wenig aus wie die Verantwortlichkeit im vollen Sinn. Es fragt sich daher, ob die Polemik gegen den stoischen Kompatibilismus lediglich auf einem Missverständnis ihrer Rechtfertigungsgründe beruht. Wenn ja, beruht dieses Missverständnis auf dem allzu simplen Modell des rollenden Zylinders, welches einem besseren Verständnis im Weg stand und nach wie vor steht? So einfach liegen die Dinge nicht. Auch ein besseres Beispiel würde den Stoikern nichts genützt haben. Denn auch diejenigen unter ihren Kritikern, die mit der Komplexität des psychologischen Mechanismus vertraut waren, hielten es für inakzeptabel, dass das Ergebnis jeden Zusammenwirkens von inneren und äußeren Ursachen unweigerlich feststehen soll. Diese Tatsache bestritten die Stoiker auch gar nicht. Sie sahen darin aber keine Veranlassung, sich von ihren deterministischen Konsequenzen zu distanzieren. Wie gesagt, spiegelt ihr Zylinder-Modell eines ihrer wichtigsten Anliegen wider: dass es die innere Natur des Betreffenden ist, die sein Handeln bestimmt. Dies könnte zunächst wie eine Binsenwahrheit erscheinen. Schon eine kurze Überlegung zeigt aber, dass dies keineswegs für alle Fälle gilt. Vielmehr dürfte oft die causa antecedens die Primärursache sein. Wenn jemand beispielsweise dem Zylinder nicht nur einen Stoß gibt, sondern ihn damit zugleich verformt, so ist er nicht mehr fähig zu rollen. Damit hätten sich vielmehr zugleich seine Natur und Gestalt verändert. Eine entsprechende Wirkung kann die causa antecedens auch auf den Menschen ausüben: Ein äußerer Eindruck kann so stark sein, dass er die innere Verfassung verändert. Die Möglichkeit einer solch rigiden Determinierung durch die causa antecedens erklärt vermutlich, warum Cicero in seinem Beispiel vom Zylinder und dem Menschen die Vorursachen als ,nahe‘ und Nature. Studies in Hellenistic Ethics, hg. von Malcolm Schofield & Gisela Striker, Cambridge 1986, S. 113 – 144.

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als ,Hilfsursache‘, die Natur des Gegenstandes hingegen als Hauptursache bezeichnet. Diese Spezifikation soll anzeigen, dass die betreffenden Bedingungen nicht in allen Fällen erfüllt sind, sondern von Fall zu Fall verschieden sein können. Die Einschränkung auf eine ,Hilfsursache‘ zeugt auch nicht davon, dass Cicero die Funktion der vorangehenden Ursache mit der eines bloß mitwirkenden Faktors (s¼meqcom) verwechselt. Im Fall des Anstoßes des Zylinders und des äußeren Eindrucks auf den Menschen ist der auslösende Faktor zwar eine reguläre Ursache; sein Einfluss auf die resultierende Handlung bzw. den Prozess beschränkt sich jedoch auf die Aktualisierung der Hauptursache.37 Ciceros kurze Zusammenfassung der Position Chrysipps mag allzu komprimiert sein, als dass sie der Subtilität von dessen moralpsychologischer Theorie gerecht werden könnte. Aber selbst Ciceros knappe Darstellung lässt erkennen, dass die Art von schicksalhafter Notwendigkeit, von der Chrysipp den Menschen befreit sehen möchte, lediglich äußere Zwangsursachen betrifft, die nichts mehr dem Individuum überlassen. Aus diesem Grund bestreitet Chrysipp, dass „alles aus vollständigen und Hauptursachen so eintritt, dass auch der Impuls nicht in unserer Macht steht, weil wir keinen Einfluss auf diese Ursachen haben“ (De fato 41). Eine klare Dichotomie, die in allen Fällen gleich ist, scheint es also nicht zu geben: Im einen Fall wirkt die causa antecedens als Hauptursache, im anderen fungiert sie nur als auslösender Faktor.38 Ferner dürfte die Funktion der causa antecedens je nach der Diskussionsebene unterschiedlich sein: Auf der kosmischen Ebene steht die causa antecedens für die Ordnung des Schicksals, während ihre Wirkmächtigkeit in einzelnen Vorgängen auf die jeweiligen Bedingungen 37 Die begrenzte Wirkmächtigkeit der causa antecedens im Fall von menschlichen Handlungen mag erklären, warum Cicero (wie vermutlich seine Quelle) in De fato 41 – 42 verschiedene Synonyme verwendet und von vorangestellten („praepositae“ oder „antepositae causae“) Ursachen spricht. Anthony Long & David Sedley (wie Anm. 16), Bd. 1, S. 343 behandeln daher die causa antecedens als eine Gattungs-Bezeichnung. 38 Daher stimme ich Susanne Bobziens (1999) Argumentation zu, dass nicht alle vorangehenden Ursachen die gleiche Funktion haben. Galen trifft in seiner Schrift über ,erhaltende Ursachen’ eine klare Unterscheidung zwischen vorangehenden und auslösenden Ursachen. Leider ist dieses Werk nur im Arabischen erhalten, sodass über die Terminologie keine Gewissheit besteht; ohnehin ist unsicher, ob sich die späteren Ärzteschulen über die Bedeutung der stoischen Begrifflichkeit noch im Klaren waren, wie Galens Kritik am Unverständnis seiner Kollegen bestätigt, was die ursprüngliche Bedeutung der Unterscheidung von Ursachen bei den Stoikern angeht (IX. 458,8 – 14).

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beschränkt ist. Die Hypothese, dass die Mächtigkeit der causa antecedens innerhalb des stoischen Systems nicht einheitlich ist, würde erklären, warum Cicero im ersten, allgemeinen Teil von De fato die causa antecedens mit dem Schicksal gleichsetzt. Wie schon früher erwähnt, greift er als erstes die Konzeption eines kausalen Zusammenhangs (sulp²heia) innerhalb der Gesamtnatur an, weil die causae antecedentes als allumfassende notwendige Ursachen keinen Raum für individuelle Autonomie lassen. Sie legen nicht nur die menschliche Persönlichkeit und deren Neigungen fest (De fato 7), sondern fungieren angeblich auch als Hauptursachen bei einzelnen menschlichen Handlungen. Gegen eine derartige Kausaldeterminierung wendet Cicero ein: „Gleichwohl folgt nicht, dass deswegen auch schon durch Hauptursachen determiniert und festgelegt ist, dass die Personen sitzen, spazieren gehen oder was sonst auch immer tun.“39 Angesichts der unterschiedlichen Diskussionsebenen dürften daher die Schwankungen in Ciceros Zuschreibung der ,Mächtigkeit‘ der causae antecedentes weder seiner allzu hastigen Zusammenstellung der Argumente, noch auch der Tatsache geschuldet sein, dass er in den verschiedenen Teilen seiner Schrift unterschiedlichen stoischen Quellen folgt.40 Vielmehr beruhen die Unterschiede auf der jeweiligen Perspektive. Wenn es Chrysipp um das Gesamtbild geht, betont er, dass nichts außerhalb der allgemeinen Kausalordnung des Schicksals liegt und nichts eintreten kann, was nicht von vornherein durch diese Ordnung festgelegt ist (De fato 19). In diesem Fall bezieht er die causa antecedens auf die Steuerung der Gesamtnatur, welche zufällige Ereignisse ausschließt. Geht es hingegen um die Erklärung von Einzelereignissen, ändert sich die Perspektive, und es zeigt sich, dass 39 Zur Frage, in welcher Weise äußere Faktoren als Hauptursachen fungieren vgl. David Sedley: Chrysippus on Psychophysical Causality, in: Passions and Perceptions, hg. von Jacques Brunschwig & Martha Nussbaum, Cambridge 1993, S. 313 – 331. 40 Die scheinbare Unvereinbarkeit der beiden Perspektiven mag Ciceros ursprünglichem Plan geschuldet sein, die Argumente für und gegen die stoische Auffassung getrennt zu behandeln, eine Konzeption, die er zugunsten einer einheitlichen Erörterung aufgab, nachdem er sich aus politischen Gründen entschlossen hatte, die Schrift dem Konsul Hirtius zu widmen. Dies würde erklären, warum er Chrysipp zumeist als uneingeschränkten Necessitaristen behandelt (bes. De fato 7 – 11; 20 – 22; 28; 34 – 37), ihm in seiner Zusammenfassung jedoch eine mittlere Position zubilligt (39: „Er [Chrysipp] neigt denen zu, die die Bewegungen unserer Seele von der Notwendigkeit befreien wollen.“ „sed adplicat se ad eos potius qui neccessitate motus animorum liberatos volunt.“).

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,Schicksal‘ keine uniforme Verkettung von notwendigen causae antecedentes, sondern ein Netzwerk ist, welches ganz unterschiedliche Elemente mit unterschiedlichen Funktionen und Mächtigkeiten umfasst. Dass eine solche Differenzierung angezeigt ist, bestätigt indirekt auch die eingehende Diskussion über die Funktion der vorhergehenden Ursache in Alexander von Aphrodisias’ De fato. Denn Alexander versichert mit Nachdruck und wiederholt, dass der stoische Begriff der ,Vorursache‘ mit Kontingenz und menschlicher Verantwortlichkeit unvereinbar ist. Bei seiner Rekonstruktion einer aristotelischen Konzeption des Schicksals macht Alexander daraus nachgerade den Kernpunkt, in dem sich die stoische Position von der aristotelischen unterscheidet (De fato Kap. 2 – 6; bes. 168, 24 – 169,20). Daher lässt er es sich angelegen sein, den Unterschied zwischen nötigenden und nicht-nötigenden Vorursachen herauszustellen, und bestreitet, dass alles, was geschieht, aus einer Vorursache im Sinne einer Hauptursache hervorgeht.41 Verglichen mit Cicero ist Alexander den Stoikern gegenüber insofern weit weniger konziliant, als er ihnen unterstellt, dass die causa antecedens durchweg als dominante Ursache aufzufassen ist.42 Er bestreitet also, dass für die Stoiker irgend etwas ,in unserer Hand‘ liegen kann. Falls seine Auffassung nicht auf einer stoischen Quelle beruht, die weniger flexibel war als die Position Chrysipps,43 sind Zweifel angebracht, ob er seine Argumente gegen die stoische Position bona fide formuliert. Ähnlich wie Cicero verwendet er nämlich eine Menge unterschiedlicher Ausdrücke zur Bezeichnung der ,vorangehenden‘ Ursachen, was auf eine stärkere Differenziertheit hindeutet, als er zugeben will.44 Ferner spielt Alexander mit den verschiedenen Zeitstufen von pqogco¼lemom in einer Weise, die auf eine Unterscheidung zwischen ,führenden‘ und bloß zeitlich vorangehenden Ursachen hinweist: 41 Vgl. De fato 173,14 – 21. 42 Vgl. Alexanders Kombination von pqogco¼lemom und juq¸yr in 174,28. 43 Vgl. Robert Sharples, Alexander of Aphrodisias On Fate, London 1983, S. 142 – 146. 44 Außer pqogco¼lemom finden sich pqojatabebkgl´mai aQt¸ai (169,16; 178,8: 179,13 et pass.), pqoupaqwoOsai aQt¸ai (178,9) sowie 5nyhem Bl÷r peqist÷sim aQt¸air (180,5 – 6). Der Ausdruck pqojataqjtij¶ findet sich bei Alexander nur in seiner Aufzählung des angeblich unnötig komplizierten Schwarms von Ursachen (192,18 – 21). Zu diesen Unterscheidungen vgl. Robert Sharples (wie Anm. 42), S. 132 – 133, und Andreas Zierl: Alexander von Aphrodisias, ber das Schicksal. Berlin 1995.

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„[…] diejenigen, die behaupten, dass alles, was ist oder wird, dies mit Notwendigkeit aufgrund bestimmter vorangehender (pqogcgsal´moir) und Hauptursachen (pqogcoul´moir) tun, so dass alles, was geschieht, sich aufgrund einer vorausgegangenen (pqojatabebkgl´mom) Ursache ereignet, aufgrund derer es mit Notwendigkeit der Fall ist oder eintritt.“ Des Weiteren behandelt Alexander in seinen auf eine reductio ad absurdum angelegten Argumenten sämtliche zeitlichen Vorursachen als Hauptursachen (pqogcoul´mg, Kap. 25). Alexander macht daher mit dem Beispiel vom rollenden Zylinder kurzen Prozess (179,17; 185,18) und lässt das Argument zugunsten einer Autonomie der inneren Natur bestimmter Dinge nicht gelten (Kap. 13 – 15). Auch bestreitet er, dass die Bedingung der ,Zustimmung‘ auf Seiten des Menschen irgendeinen Unterschied mache: Die Zustimmung der Vernunft bedeute keine Lockerung des kausalen Netzwerkes, weil der stoische Begriff des Schicksals voraussetze, dass die Menschen – so wie alle anderen Dinge – ihren Eindrücken nachgeben (eUjeim) müssen. Bisher hat sich die Diskussion auf die stoische Verteidigung von Verantwortlichkeit und dessen, was ,in unserer Hand‘ ist, konzentriert. Von ,Freiheit‘ war dabei nicht die Rede. Das liegt nicht allein daran, dass das Wort 1keuheq¸a zunächst ausschließlich einen politischen Sinn hatte und in den Debatten über das Schicksal erst spät auftrat, wie Bobzien darlegt.45 Hinzu kommt, dass ,Freiheit‘ ein Begriff ist, der einer genauen Definition bedarf, wenn damit nicht bloß das Freisein von äußerem Zwang oder Gewalt gemeint sein soll. In einem ethischen Diskurs kann ,Freiheit‘ nicht die Abwesenheit von jeder Art von äußerem Einfluss bedeuten, weil ein solches Vakuum gar nicht existiert. Auch kann Freiheit nicht das Fehlen jeder inneren Konditionierung voraussetzen, denn es gibt keine Menschen ohne Eigenschaften, ohne Meinungen und Absichten, die ihre Entscheidungen beeinflussen. Angesichts dieser Unsicherheiten mit dem Wort ,Freiheit‘ waren die Griechen vielleicht gut beraten, wenn sie in der Debatte über die Verantwortlichkeit dem Ausdruck ,in unserer Hand‘ den Vorzug gaben.

45 Susanne Bobzien (wie Anm. 2), S. 276 – 290; S. 338 – 341 und dies.: The inadvertent conception and late birth of the free-will problem, in: Phronesis 43, 1998, S. 133 – 175.

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Individuelle Verantwortlichkeit oder schicksalsergebene Resignation? Wenn die Stoiker eine Theorie der menschlichen Verantwortlichkeit zu verteidigen suchten, welche auch bei modernen Deterministen Anklang finden kann, was ist dann an ihrer Theorie so anstößig, dass sie für Jahrhunderte immer wieder Gegenstand heftiger Polemik war? Schließlich war doch auch Aristoteles überzeugt davon, dass die erworbenen inneren Dispositionen das Verhalten von Menschen in der Weise bestimmen, dass es nahezu unmöglich ist, sich seinem Charakter zuwider zu verhalten. Ist der Widerstand gegen die Theorie der Stoiker nur ihrer ,fatalen‘ Terminologie und dem missverständlichen Beispiel vom rollenden Zylinder geschuldet? Anders als Aristoteles und moderne Deterministen haben die Stoiker es jedoch noch mit einer weiteren Schwierigkeit zu tun. Das Problem besteht darin, dass ihrer Theorie zufolge Menschen nicht allein unter den gleichen Umständen immer gleich handeln, sondern dass die betreffenden Kausalkonstellationen teleologisch vorbestimmt sind. Wenn alles im Universum nicht nur Kausalgesetzen folgt, die für alle Ewigkeit feststehen, sondern auch alle Dinge und Ereignisse von der göttlichen Vernunft als sinnvoll gewollt sind, so erscheint der Versuch, eine Verantwortlichkeit der Menschen durch die Berufung auf die Unabhängigkeit ihrer inneren Verfassung zu rechtfertigen, zum Scheitern verurteilt zu sein. Denn die globale Teleologie hat zur Folge, dass es nicht ,bei uns‘ steht, wer wir sind! Falls jemand sich als Taugenichts erweist und in allen Lebenslagen entsprechend verhält, kann man ihm dies wirklich zur Last legen, wenn die göttliche Vorsehung ihm diese Verfassung zugewiesen hat? Die Frage ist also, wie die Stoiker angesichts einer unveränderlich festgelegten Weltordnung eine persönliche Verantwortung rechtfertigen können. Selbst wenn die meisten unter uns vielleicht ,Kausalisten‘ in dem Sinn sind, dass sie es für plausibel halten, dass Menschen unter genau gleichen Umständen immer das Gleiche tun werden, so halten wir doch diese Tatsache nicht notwendigerweise für eine gute Sache, noch sehen wir darin das Walten einer wohlwollenden Allvernunft. Beim Umgang mit dieser Problematik muss man sich nochmals vor Augen halten, wie sich die Stoiker das Wirken der göttlichen Vorsehung vorstellen. Obwohl sie das allgegenwärtige rationale Prinzip mit Zeus gleichsetzen und ihm eine Reihe höchst ehrenvoller Epitheta beilegen, ist diese göttliche aktive Kraft doch keine transzendente Macht. Sie ist keine Gottheit, die über oder außerhalb der Natur steht

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und die Schöpfung nach einem vorher festgelegten Plan ordnet. Das göttliche Element ist vielmehr in der Natur enthalten. Der Taugenichts kann sich daher nicht darauf berufen, dass seine Rolle schon seit aller Ewigkeit im ,Textbuch des Schicksals‘ gestanden hat. Es gibt keinen präexistenten göttlichen Plan oder heimliche Dekrete des Schicksals, die jedem Ding ihren Platz und ihre Rolle zuweisen. Vielmehr ist in jedem Gegenstand in der Welt ein gewisser Anteil des göttlichen Elements enthalten, welcher sein Verhalten bestimmt. Dieser Anteil am pneuma stellt für den Betreffenden aber kein fremdes Element dar. Das göttliche Element in uns ist vielmehr unsere Persönlichkeit, so wie die Gestalt des Zylinders seine Natur ist und seine ,Rollfähigkeit‘ konstituiert. Bei den Menschen ist dieses göttliche Element für alles verantwortlich, was geschieht, sowohl auf der physiologischen als auch auf der psychologischen Ebene. Wenn die Menschen gegenüber anderen Teilen des Kosmos eine privilegierte Position haben, so haben sie diese, weil sie das göttliche Element in seiner reinsten, rationalen Form besitzen. Es liegt jedoch bei uns, unsere Vernunft durch eine Lebensführung zu vervollkommnen, die der Vernunft des stoischen Weisen so nah wie möglich kommt. Mit anderen Worten, jeder von uns ist in dem Maße ,göttlich‘, wie es unsere Einstellung und unsere Lebensweise manifestieren. Sieht man einmal von der Seltsamkeit des Gedankens ab, dass in allen von uns etwas Göttliches am Werk sein soll, so ist doch die Tatsache altbekannt, dass in uns vieles vorgegeben ist, während anderes von unserer Kontrolle abhängt. So liegen etwa unsere Begabungen nicht ,bei uns‘, wohl aber der Gebrauch, den wir von ihnen machen. Es mag uns mit gewissem Neid erfüllen, wenn jemand sich als Genie entpuppt und die Fähigkeit hat, ungewöhnliche Kunstwerke zu schaffen oder Lösungen für Probleme zu finden, nach denen andere vergeblich suchen. Wenn potentielle Genies jedoch nicht das Beste aus ihren Fähigkeiten machen, dann werfen wir ihnen ihre Nachlässigkeit vor. Dass es ihnen ,einfach nicht liegt‘ sich anzustrengen, mag in gewissem Sinn zutreffen; gleichwohl betrachtet man solche Erklärungen als schlechte Entschuldigung.46 Denn wir gehen davon aus, dass in allen normalen Fällen die Fähigkeit zu aktivem Engagement vorhanden ist und dass es daher ,in unserer Hand‘ liegt, von unseren Talenten Gebrauch zu machen. Unser Versagen und unsere Erfolge, soweit sie von uns ab46 So schon Aristoteles: Ethica Nicomachea III, 7 1114a 3 – 10.

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hängen und nicht von außen behindert oder uns aufgezwungen werden, sind die Manifestationen unserer inneren Natur. Die Gleichsetzung des göttlichen pneumas mit menschlichen Talenten und moralischen Dispositionen erklärt auch, warum das sogenannte ,Untätigkeitsargument‘, der !qc¹r kºcor, kein treffender Einwand gegen den stoischen Fatalismus ist.47 Wir wissen nicht mit Sicherheit, von wem es stammt. So mag es bereits zum Arsenal der megarischen Paradoxologen gehört haben, war also ursprünglich gar nicht gegen die Stoiker gerichtet. Wie es auch immer um die Vorgeschichte des !qc¹r kºcor bestellt sein mag, die Stoiker sahen sich alsbald mit dem Einwand konfrontiert, dass die Annahme eines allgemeinen Determinismus den Menschen jede Motivation nimmt, Anstrengungen auf sich zu nehmen. Das Argument lautet wie folgt: „Wenn es dir vom Schicksal bestimmt ist, dass du von dieser Krankheit genesen wirst, so wirst du genesen, gleich ob du einen Arzt konsultierst oder nicht. […] Aus welchem Grund solltest du also einen Arzt konsultieren, wenn feststeht, dass du genesen oder nicht genesen wirst?“ (De fato 28). Die Stoiker konterten diese Herausforderung mit der Erklärung, dass die meisten Ereignisse von der Erfüllung bestimmter Bedingungen abhängen, so dass diese vom Schicksal ,mitbestimmt‘, confatalia sind, während ihre Erfüllung bei uns liegt.48 Sehen wir von der ungewohnten Ausdrucksweise dieser Erklärung ab, so erweist sie sich doch bei näherem Hinsehen als kein wirklicher Ausweg. Denn sie besagt nicht mehr, als dass alle Kausalverknüpfungen in notwendigen und hinreichenden Bedingungen bestehen. Denn welche Ereignisse sollten nicht an bestimmte Vorbedingungen geknüpft sein? Selbst wenn sich ein Unterschied zwischen absolut- und nur bedingt notwendigen Ereignissen konstruieren lässt,49 würde sich aus der stoischen Schicksalslehre ergeben, dass die Bedingungen erfüllt sein werden. Bei allem, was nicht eintritt, ist das Nichteintreten gleichfalls in dem Sinn vom Schicksal 47 Im Unterschied zu Cicero (De fato 28) und Origenes (Contra Celsum II 20, 342.62 – 71), die das ,faule Argument’ ( !qc¹r kºcor, ignava ratio) als ein Sophisma behandeln, betrachtet Alexander von Aphrodisias es als einen zutreffenden Einwand gegen den Determinismus (De fato 186,31 – 187,8; 191, 13 – 26). 48 Der Begriff der ,confatalia’ sollte nicht mit dem der ,Mitursachen’ (s. o.) verwechselt werden, also von Ursachen, die nur gemeinsam wirken können. 49 Cicero verweist dazu auf den Unterschied zwischen der absoluten Notwendigkeit, dass alle Menschen sterben werden, und der bedingten Notwendigkeit, wann und unter welchen Umständen dies geschieht (De fato 30).

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bestimmt, dass die erforderlichen Bedingungen unerfüllt bleiben. Was die Stoiker von den modernen Deterministen trennt, wäre lediglich ihre Eigenart, die Kausalkonstellationen als ,Schicksal‘ zu bezeichnen und ihnen eine göttliche Natur zuzuschreiben. Gewiss dürfte der solcherart auf universellen kausalen Determinismus reduzierte stoische Fatalismus auch für nüchterne Philosophen akzeptabel erscheinen. Gleichwohl ist unübersehbar, dass der Versuch, die stoische Theorie durch eine Reduktion des göttlichen aktiven Elementes auf einen ,Ehrentitel‘ als harmlos zu erweisen, einen wesentlichen Gesichtspunkt ihrer Theorie übergeht. Diese Reduktion berücksichtigt das bereits genannte kosmische teleologische Prinzip nicht hinreichend, auf dem die Koordination aller Ereignisse in der Welt beruht. Was dieses Prinzip zu dem Gesamtbild beiträgt, ist daher noch kurz näher auszuleuchten. In der anfänglichen Gegenüberstellung des stoischen und des aristotelischen Modells wurde festgestellt, dass die Zukunft für die Stoiker linear ist, weil ihre Theorie wirkliche Alternativen zu dem ausschließt, was tatsächlich eintreten wird. Solche Alternativen scheiden von vornherein aus, weil es keine Faktoren im Universum gibt, welche eine vorgegebene Kausalreihe unterbrechen könnten. Diese teleologische Verknüpfung aller Dinge miteinander ist in unserem bisherigen Versuch, menschliche Verantwortlichkeit im Stoizismus als möglich zu erweisen, weitgehend vernachlässigt worden. Denn die hier skizzierte Erklärung, wie vorausgehende und primäre Ursachen zusammenwirken, hat Individuen wie autonome Wesen behandelt. Solch eine Isolierung des Individuums vermittelst der Berufung auf seine ,eigene Natur‘ ist jedoch von den eigenen Voraussetzungen der Stoiker her als künstlich zu bezeichnen. So wie der Zylinder ist auch der Mensch Teil der umfassenden göttlichen Organisation. Ob ein Zylinder rollen wird, ob und in welchem Umfang die Menschen Gebrauch von ihren Talenten machen werden, steht seit aller Ewigkeit fest, wenn gilt, dass gleiche Ursachen gleiche Wirkungen haben.50 Ferner: Auch wenn jemand um eines erstrebenswerten Zieles willen höchste Anstrengungen unternimmt, hätte 50 Die Tatsache, dass es eine feste Ordnung gibt, ist der Grund für die immer wieder erhobene Polemik gegen die stoische Annahme einer natürlichen Ursachenverknüpfung und einer feststehenden Weltordnung, selbst wenn die Opponenten die stoische Unterscheidung zwischen unmittelbaren Wirkursachen und bloß notwendigen Bedingungen anerkennen (vgl. Cicero: De fato 32 – 37).

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es doch keinen anderen Ausgang als den tatsächlich eintretenden geben können. Denn alle Faktoren, die ,mitverantwortlich‘ für Erfolg oder Misserfolg sind, bilden gleichfalls Teile des kausalen Netzwerkes. Folglich ist zu fragen, was die kausale Isolierung zur ,Rettung‘ der menschlichen Verantwortlichkeit rechtfertigt. Ist sie in Wahrheit nur ein Trick, wie viele ihrer Gegner den Stoikern vorwerfen? Es scheint, hier geht es um mehr. Die Notwendigkeit, Menschen als autonome Wesen zu behandeln, beruht für die Stoiker auch auf der menschlichen Unkenntnis der Weltordnung als ganzer. Eben weil wir nicht wissen, was uns die Zukunft bringt, müssen wir unser Möglichstes tun. In jedem Einzelfall kann das, was wir tun, die entscheidende Bedingung sein oder auch nicht.51 Wir können aber nichts Besseres tun, als jeweils nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln, auch wenn wir keine Gewissheit darüber haben, ob unsere Handlungen zu dem gewünschten Ergebnis führen. Man kann sich damit als stärkeres oder schwächeres Glied im kausalen Netzwerk erweisen. Diese Art von Unwissen ist auch kein Zustand, der sich überwinden ließe. Sicheres Wissen, ob eine bestimmte Handlung zum Erfolg führt, müsste u. U. den gesamten Weltzustand umfassen.52 Nur wenn wir über diese Art von Allwissenheit verfügten, könnten wir vorhersagen, ob einer bestimmten Handlung vom Schicksal der Erfolg oder Misserfolg bestimmt ist. Wie schon verschiedentlich hervorgehoben wurde, haben die Stoiker weder angenommen, dass die Menschen über ein derartiges Wissen verfügen, noch dass es einen transzendenten göttlichen Geist gibt, der sich aller Dinge annimmt. Die gesamte Weisheit der Welt steckt in der Welt selbst. Wenn die Stoiker gleichwohl an eine göttliche Vorsehung glauben, so ist das die Konsequenz aus ihrem optimistischen Glauben an eine allumfassende Kausalordnung, in der es vernünftig zugeht, so dass sie dem Besten dient. Das Netzwerk von Ursachen ist in ihren Augen in dem Sinn vernünftig, dass es eine bessere Ordnung nicht geben kann. 51 Auch Alexander von Aphrodisias kennt die Berufung auf menschliches Nichtwissen, sieht darin aber nur eine schlechte Entschuldigung (De fato 193, 25 – 30). 52 Der Komplexität des Kausalgefüges wegen lehnt Susanne Bobzien es ab, von Kausalgesetzen im Sinne eines feststehenden allgemeinen Musters von Ereignisabläufen zu sprechen (wie Anm. 2), S. 173; 224. Das mag freilich ein allzu puristischer Umgang mit der Sprache sein, da die Stoiker selbst die Forderung nach ,Theoremen’ und einer entsprechenden Forschung erheben (vgl. Cicero: De fato 11 – 13).

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Aus diesem Grund glauben sie auch an die ewige Wiederkehr aller Dinge und Ereignisse innerhalb jeder Weltperiode. Das komplizierte kausale Netzwerk entfaltet sich immer nach dem gleichen Muster, nicht, weil es auf einem göttlichen Plan im Himmel beruht, sondern weil es den einzigen vernünftigen Weg darstellt, den die Dinge nehmen können. Innerhalb dieser allgemeinen Ordnung sind auch Faktoren enthalten, die individuelle Absichten und Hoffnungen zunichte machen. Viele Menschen führen ein Leben, welches arm, kurz, traurig und brutal erscheint. Obwohl die Stoiker sich dieser Tatsache bewusst waren, änderte das nichts an ihrem Vertrauen, dass die umfassende Ökonomie des Kosmos dem Besten aller seiner Bewohner dient.53 Wüssten die Menschen mehr über das kausale Netzwerk, dessen Teil sie selbst sind, so würden sie den Grund für scheinbar sinnlose persönliche Tragödien verstehen. Ein derartiger ,kosmischer Optimismus‘ mag nicht nach jedermanns Geschmack sein. Eben dieser Aspekt war es jedoch, der die stoische Lehre für Generationen von Anhängern attraktiv machte, für die das Vertrauen in eine allumfassende göttliche Ordnung die beste Erklärung darstellte, wie die Welt funktioniert. Sie sahen darin eine plausiblere Theorie als in der rein mechanistischen Erklärung der Atomisten oder in der ,partiellen Teleologie‘ der Platoniker und Peripatetiker, – ganz zu schweigen vom Quietismus der Skeptiker, die gar keinen Versuch machen, die Welt verstehen zu wollen. Bis zu welchem Grad ist also das eingangs skizzierte stereotype Bild von den Stoikern gerechtfertigt, welches ihren moralischen Rigorismus und die Unterdrückung aller Emotionen auf ihre Resignation gegenüber den Verfügungen eines allumfassenden Schicksals zurückführt? Ziel dieser Darstellung war der Nachweis, dass die Stoiker nicht nur weit von jeder Resignation entfernt sind, sondern überdies gute Gründe für die Empfehlung eines aktiven Engagements in weltlichen Angelegenheiten hatten. Wenn sie menschliche Leidenschaften als eine Behinderung ansahen, so liegt das nicht an Resignation gegenüber den Anordnungen des Schicksals. Vielmehr waren sie der Ansicht, dass die Leidenschaften sich störend auf unsere Fähigkeiten auswirken, so vernünftig wie möglich mit den Gegebenheiten umzugehen und unseren Einsichten über das zu folgen, was uns als der beste, vernünftigste Weg 53 Zum Problem der stoischen Theodizee vgl. Verf.: Theodicy and Providential Care in Stoicism, in: Traditions of Theology. Studies in Hellenistic Theology, its Background and Aftermath, hg. von Dorothea Frede & André Laks, Leiden 2002, S. 85 – 117.

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erscheint – selbst wenn es eine Erfolgsgarantie nicht gibt. Der stoische Determinismus hat also gerade nicht Resignation zur Folge, sondern ein sorgfältiges Studium unserer Fähigkeiten und Grenzen.

Oikeiosis. Die stoische Theorie der Selbstaneignung von Maximilian Forschner Die stoische Theorie der Oikeiosis hat im Rahmen der stoischen Ethik die systematische Funktion, zwischen dem Menschen als Naturwesen und dem Menschen als Vernunftwesen, zwischen seinem vormoralischen Streben und seinem vernünftigen Handeln zu vermitteln. Sie versucht auf methodisch verschlungene Weise in apriorischer und empirischer Argumentation, aus der unpervertierten Natur des Menschen, ihren natürlichen Bestrebungen und ihrer natürlichen Entwicklung das Endziel des menschlichen Lebens als eines Daseins in sittlicher Konstanz und vernünftiger Selbständigkeit darzutun. Hauptgegner dieses Lehrstücks sind nicht nur Epikurs hedonistischer Naturalismus, sondern auch (kynische und skeptische) Formen von Moralismus bzw. Immoralismus, die den Menschen seiner Natur und den natürlichen Gütern völlig entfremden. Das griechische Wort oQje_ysir ist ein nominalisiertes Verbum. Das ihm entsprechende Adjektiv oQjeioD r ist abgeleitet von oWjor, dem Wort für Haus, und bedeutet ganz allgemein „zum Haus“ bzw. „zum Hauswesen gehörig“. Es bezieht sich auf Personen, die zum Hauswesen gehören oder durch Verwandtschaft oder Freundschaft mit ihm eng verbunden sind. Es bezieht sich ferner auf lebendes und totes Inventar. Den Gegensatz zu oQjeioD r bildet gemeinhin das Wort !kk|tqior, das Wort für das, „was einem anderen gehört“, in einem weiteren Sinn für das, „was einem fremd ist“. Das Verbum oQjeioOm bedeutet in Bezug auf Sachen „sich aneignen“, in Bezug auf Personen aktiv „auf seine Seite bringen“, „befreunden“ „mit sich befreunden“, passiv „mit jemandem vertraut und befreundet (gemacht) sein“. Unter oQje_ysir versteht die Stoa terminologisch einen Akt, durch den die Natur ein Lebewesen sich selbst geneigt macht und sein Streben auf Selbst- und Arterhaltung ausrichtet, auch einen Prozeß, durch den ein Lebewesen schrittweise seiner selbst inne und dadurch mit sich selbst vertraut, sich selbst freund, mit sich selbst eins und einig wird. Die Schwierigkeit einer Übersetzung des Terminus oQje_ysir ist jedem Hellenismusforscher geläufig. Der moderne Ausdruck, der seinem Inhalt (auf den Menschen bezogen) wohl am nächsten kommt, ist per-

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sonale Identität, genauer: der Prozeß, durch den wir denkend, strebend und handelnd (qualitative) Identität suchen und ein Bewußtsein oder Gefühl persönlicher Identität erreichen. Die wichtigsten Quellen für unsere Rekonstruktion der Lehre sind Cicero, De finibus bonorum et malorum III, 16 – 18; 20 – 21; 62 – 68, Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berhmter Philosophen, Buch VII, 85 – 86 sowie die Ethische Elementarlehre des Hierokles.1 Verstreute Stücke und Hinweise bei Seneca, Plutarch, Epiktet, und Stobaeus ergänzen das Bild. Cicero bietet die philosophisch genaueste und informativste Darstellung, Seneca bringt an verschiedenen Stellen seiner Epistulae morales den Ziel- und Leitgedanken personaler Identität, der Einheit und Stimmigkeit des Lebens und des mit sich selbst Einigseins des Lebens am prägnantesten zum Ausdruck. „Wenn es Dir gut geht und Du Dich für würdig erachtest, eines Tages der Deine zu werden, dann freue ich mich“ („Si vales et te dignum putas, qui aliquando fias tuus, gaudeo“). Mit diesen Worten beginnt die 20. Epistula Senecas ad Lucilium. Ein unschätzbares Gut ist es, so Seneca in Ep. 75, 18, sich selbst zueigen zu werden („Inaestimabile bonum est suum fieri“). Der Vollkommene, so Ep. 120, 10, ist stets derselbe und in jedem Akt sich selbst gleich („idem erat semper et in omni actu par sibi“). Die Aufgabe und Leistung der Weisheit bestehe darin, so Ep. 20, das Leben nach einer einzigen Regel zu führen (Ep. 20, 3: „Unam semel, ad quam vivas, regulam prende et ad hanc omnem vitam tuam exaequa“), stets dasselbe zu wollen und dasselbe nicht zu wollen (Ep. 20, 5: „semper idem velle atque idem nolle“); und dies, daß einem etwas immer gefalle, sei nur möglich, wenn es das Rechte ist (Ebd.: „non potest enim cuiquam idem semper placere nisi rectum“). Die Ep. 120 schließt mit den Worten: „So erweist sich denn am meisten ein Mensch als töricht: Er tritt als ein solcher auf und wieder als ein anderer und, was ich für das schlimmste halte, er ist sich selbst ungleich. Halte es für etwas Großes, als ein Mensch zu leben. Ausser dem Weisen aber lebt niemand als einer; wir übrigen sind vielgestaltig“ („Sic maxime coarguitur animus imprudens: alius prodit atque alius et, quo turpius nihil iudico, impar sibi est. Magnam rem puta unum hominem agere. Praeter sapientem autem nemo unum agit, ceteri multiformes sumus“). Seneca sieht also die Vollkommenheit des Menschen darin, daß man „einer“ ist und „mit sich selbst einig, sich selbst freund“ ist. 1

Hg. von Hans von Arnim: Berl. Klass. Texte, Heft 4, Berlin 1906.

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Der Kerngedanke der stoischen Oikeiosislehre besteht darin, daß die Natur alle Lebewesen mit Selbstliebe und einem Muster instinktiver Verhaltensimpulse ausgestattet hat, die der Selbst- und Arterhaltung dienen. Über die Selbstliebe der Lebewesen liebt und erhält die göttliche Allnatur sich selbst. Die stoische Oikeiosislehre berücksichtigt dabei den Gedanken der gestuften Entwicklung eines Lebewesens. Sie betont einmal, daß jeder Stufe des Lebens eine eigene seiner spezifischen Natur gemäße Verfassung und ein Muster des passenden Verhaltens entspricht. Sie betont in bezug auf den Menschen zum anderen, daß die jeweils spätere und höhere Stufe entsprechend ihrer Verfassung in Bewußtsein und Verhalten die voraufgehenden integriert und integrieren muß, soll die qualitative Einheit des Menschen mit sich selbst gesichert sein. Bei den bloßen Sinnenwesen leistet alles die Natur über Instinkte und instinktgebundene Erfahrung. Die menschliche Selbstliebe, die ihr entsprechenden Einstellungen und das ihr gemäße Verhalten ist neben naturalen Ausrichtungen und Impulsen an Erfahrung und Gewöhnung, an Erziehung und selbständige Vernunftleistungen gebunden. Die von der Allnatur geleistete Oikeiosis bezieht sich beim Menschen in prädisponierender Weise auf ein vernünftiges und freies Ichbewußtsein. „Ein jedes Lebensalter“, so Seneca, „hat seine eigene Verfassung … Jeweils anders ist die Stufe des Kleinkindes, des Knaben, des jungen Mannes, des Greises: Ich bin gleichwohl derselbe, der ich als Kleinkind gewesen bin und als Knabe und als junger Mann. So ist, obgleich jede Stufe eine andere Verfassung besitzt, das Einssein mit ihrer Verfassung ein und dasselbe. Denn nicht den Knaben oder den Jüngling oder den Greis, sondern mich vertraut die Natur mir an“ („Unicuique aetati sua constitutio est, … Alia est aetas infantis, pueri, adulescentis, senis: ego tamen idem sum qui et infans fui et puer et adulescens. Sic, quamvis alia atque alia cuique constitutio sit, conciliatio constitutionis suae eadem est. Non enim puerum mihi aut iuvenem aut senem, sed me natura commendat“, Ep. 121, 16 u. 17). Den Ausgang nimmt die Oikeiosis-Lehre nach übereinstimmendem Zeugnis der Quellen mit einer komplexen These über den primären Impuls (pq¾tg bql¶) eines neugeborenen Lebewesens. Hier verdient nicht so sehr die systematisch etwas ungeordnete Darstellung Senecas (in Ep. 121), sondern der entsprechende Passus bei Diogenes Laertius im ganzen zitiert zu werden: „Den ersten Impuls – sagen sie – habe das Lebwesen auf das Bewahren seiner selbst gerichtet, da Natur es von Anfang an sich selbst zugehörig (und geneigt) gemacht hat, wie Chrysipp im ersten Buch

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˜ m sagt: ,Das erste Zueigene ist jedem Lebewesen seines Werkes Peq· teky seine eigene Verfassung und das Bewußtsein dieser Verfassung; denn es war nicht wahrscheinlich, weder, daß Natur das Lebewesen einem anderen zugehörig, noch, daß sie es weder einem anderen noch sich selbst zu eigen gemacht hat. Es folgt also, daß Natur, nachdem sie das Lebewesen gebildet, es auch sich selbst zueigen (und geneigt) gemacht hat. So kommt es denn auch, daß es das Schädigende flieht und das Zugehörige liebend verfolgt’“ (DL VII, 85). Mit dem ersten Impuls ist einmal ein zeitlich erstes, damit ursprüngliches, nicht erworbenes, durch Einflüsse weder veredeltes noch pervertiertes Aussein-auf-etwas angesprochen. Dieses sog. Wiegenargument diente im Hellenismus zum Beleg von Äußerungen einer intakten Natur. Reine Natur genoß seit der Sophistik und der Blüte der hippokratischen Medizin gegenüber brüchigen politischen Ordnungen und relativierten kulturellen Traditionen eindeutig den Vorzug eines Orientierungsmaßstabs bei der Frage nach dem richtigen, d. h. glückbringenden menschlichen Leben. „Erster“ Impuls meint aber auch: logisch oder sachlich erster, d. h. leitender Impuls: Das gesamte nichtpervertierte Strebens- und Verhaltensrepertoire eines Lebewesens läßt sich interpretieren als eine Manifestation ein und desselben Prinzips. Der Inhalt dieses Prinzips wird mit tgqe?m 2autº bzw. „se conservare“ angegeben: sich selbst erhalten und bewahren wollen. Was mit dem Selbst (2autº) gemeint ist, verdeutlichen die Zusätze: B artoO s¼stasir und B ta¼tgr suma¸shgsir ; Systasis (lat.: constitutio) heißt wörtlich: Zusammenstand und Verbindung von Elementen zu einem konkreten Ding, näherhin dann auch Bauplan und Verfassung des Dinges. Und die Formulierung B ta¼tgr suma¸shgsir macht klar, daß das lebende (Sinnen-)Wesen ein Selbst ist, daß also zur Verfassung des konkreten Ding-Seins das Bewußtsein und das Erleben der eigenen Existenz und Verfassung gehört, in welch rudimentärer und undifferenzierter Form auch immer. Ein unpervertiertes Lebewesen sein heißt also für die Stoa: auf die Erhaltung seines artspezifisch und individuell geprägten konkreten Daseins und das ungestörte Erleben dieses Daseins aus sein. Diese These versteht sie als einzig erfolgreiche Erklärungshypothese des empirischen Befundes, für den der Blick auf menschliche Neugeborene und der vergleichende Blick ins Tierreich das Anschauungsmaterial liefern. Sie versteht sie aber auch – und dafür bietet der eben zitierte Diogenes-Text einen deutlichen Beleg – als Ergebnis eines metaphysischen Arguments. Dem Prozeß intransitiver Oikeiosis auf

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Seiten des Lebewesens, durch den dieses seiner selbst inne und mit sich einig und vertraut wird, durch den schrittweise ein bestimmtes Selbst mit bestimmter Form der Selbst- und Welterfahrung entsteht, liegt ein Prozeß transitiver Oikeiosis voraus und zugrunde, durch den die göttliche Allnatur allererst die Voraussetzungen hierfür stiftet: Sie macht das Lebewesen vom Augenblick der Geburt an sich selbst geneigt und zugehörig und stattet es mit Verhaltensdispositionen aus, die der Selbstund Arterhaltung dienen. Die Vernunft der göttlichen Natur kann die Lebewesen, die sie bildet, gar nicht anders einrichten als so, daß sie sich selbst zueigen und geneigt sind; alles andere wäre mit ihr selbst unvereinbar. Lebewesen haben eine Beziehung zu sich selbst. Die Beziehung zu sich selbst ist durch suma_s¢gsir (lat.: sensus sui) bzw. sume_dgsir gestiftet. Alle Wahrnehmung (aisthesis) ist auch Selbstwahrnehmung (synaisthesis); und alles Wissen ist auch Wissen um sich selbst. In der Wahrnehmung von etwas ist nach stoischem Verständnis die Wahrnehmung von Eigenem und Fremdem, die Wahrnehmung des eigenen Bestandes und des ihm Dienlichen und Schädlichen enthalten. Das angeborene Verhaltensrepertoire von Sinnenwesen zeigt, daß sie das Eigene zu erhalten und das Fremde zu meiden suchen. Und Oikeiosis auf der Ebene der Vernunftfähigkeit ist wesentlich ein Prozeß des Innewerdens und Anerkennens von Vorhandenem als zu sich gehörig oder sich fremd bzw. abstoßend gegenüberstehend, ein Prozeß, in dem ein Selbst von bestimmter Art sich konstituiert, das sich in diesem Selbstsein und dieser Eigenart annimmt und gegenüber Fremden, Bedrohlichem und Destruktivem abgrenzt und zu schützen versucht.2 Oikeiosis setzt denn auch nach übereinstimmender Auskunft aller Quellen ein mit der Aisthesis und der Synaisthesis, der Selbstwahrnehmung und Empfindung, d. h. dem affekt- und impulsbesetzten Erleben des Wahrnehmens. Ursprünglich, so sagt uns Seneca (Ep. 121.5, 11 – 12), ist diese Selbsterkenntnis kein präzises Verständnis dessen, worin die eigene natürliche Konstitution besteht, sondern nur ein Bewußtsein des eigenen Seins: grob, summarisch und dunkel, aber gleichwohl bei allen Sinnenwesen vom Augenblick der Geburt in kontinuierlicher Form vorhanden (vgl. auch Hierokles, col. 4, 44). Daß Tiere und Kleinkinder über kein Bewußtsein der eigenen Existenz und damit kein Selbst verfügen, das sich in Form von Sätzen darstellen kann 2

Vgl. hierzu v. a. G. B. Kerferd: The Search for Personal Identity in Stoic Thought, Bulletin of the John Rylands Library 55, 1972, S. 177 – 196.

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und daß die Form propositionalen Selbstbewußtseins von entschieden anderer Art ist als das Innesein seiner selbst allein durch Wahrnehmung und assoziative Erinnerung, war gerade der stoischen Anthropologie klar und hochbedeutsam. Gleichwohl wird die Frage „Ob ein Tier sich selbst wahrnimmt?“ (Hierokles 1. Kap.) mit einem eindeutigen Ja beantwortet und durch eine komplexe physikalische bzw. physiologische Theorie seelischer Prozesse in allen Sinnenwesen abgestützt. Die Selbstwahrnehmung beginnt nach stoischer Lehre unmittelbar mit der Geburt und liefert das erste Zueigene (pq_tom oQje?om), dem die diesem angemessenen Dinge (die pq_ta jat± v¼sim) korrespondieren: der eigene Leib und das seinem artspezifisch- und individuell verfaßten Leben Bekömmliche und Förderliche. Es ist nicht wahr, daß ein Lebewesen zuerst die äußere Welt erfaßt. Aisthesis ist als Wahrnehmung und Empfindung ihrer Struktur nach immer schon zweipolig, nach außen und ineins damit nach innen gerichtet, und zunächst dominiert in allem Wahrnehmen die Zentrierung nach innen. Tiere und Säuglinge nehmen zuerst den Stand und die Teile ihres eigenen Organismus wahr und erleben Bestimmungen äußerer Dinge primär als Bestimmungen des eigenen Lebens, ehe sie sie auch zu Bestimmungen von Dingen einer äußeren Welt distanzieren. Alle animalische Wahrnehmung ist nach stoischer Ansicht zuerst und dominant Selbstwahrnehmung, Erfahrung der eigenen Zustände. Und die unmittelbare Erfahrung der eigenen Zustände bleibt für sie auch in aller späteren Erfassung äußerer Dinge als solcher grundlegend; aller Weltwahrnehmung ist die Selbstwahrnehmung vorgängig und immanent (vgl. Hierokles, col.6, l – 3; Seneca Ep. 121, 12: „… talis ad omnia animalia constitutionis suae sensus est. Necesse est enim id sentiant per quod alia sentiunt.“).3 Die Anwendung dieses Gedankens findet in einem sprechenden Beispiel bei Hierokles seine Illustration (col. 7, 5 – 15): Kleine Kinder geraten in äußerste Erregung und Angst, wenn man sie in abgedunkelte und geräuschlose Räume schließt. Der Ausfall von elementaren Wahrnehmungen, so die überzeugende stoische Erklärung, ist für sie gleichbedeutend mit der Vorstellung unmittelbar drohender Zerstörung ihrer Existenz (vamtas¸am !maiq¶seyr aqt_m kalb²mei). Sie unterscheiden noch nicht genau zwischen Selbst und Welt, sie können sich noch nicht zureichend durch Gedanken der Fortdauer ihres Daseins versichern. 3

Vgl. Kerferd a.a.O., S. 187 f.

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Dieses Beispiel steht bei Hierokles bereits im Kontext der Beantwortung der zweiten wesentlichen Frage auf der ersten Stufe der Oikeiosis: „Ob das Tier, das sich selbst wahrnimmt, sich seiner erfreut und sich selbst zugehörig und geneigt ist?“ (col. 6). Auch diese Frage wird eindeutig bejaht. Die bei allem Lebendigen feststellbare naturale Tendenz zur Selbsterhaltung setzt bei tierischen Wesen, die ihre eigene Existenz und Verfassung wahrnehmen und aufgrund von Wahrnehmung etwas erstreben, voraus, daß das Wahrgenommene als etwas Gutes und Erfreuliches, ja als das ureigene und grundlegende Gute erfahren wird. Der zitierte Text bei Diogenes Laertius betont die metaphysische Basis dieser naturwüchsigen Liebe des eigenen Daseins und Soseins bei allem Lebendigen: Der Gedanke einer vernünftigen und fürsorglich schaffenden göttlichen Natur ist unvereinbar mit dem Gedanken, daß Lebewesen sich selbst gegenüber feindlich, fremd oder gleichgültig geboren werden. Die Natur, so ergänzt Seneca diesen Gedanken, zieht auf, was sie gebiert, sie wirft es nicht weg („Producit fetus suos natura, non abicit“, Ep. 121, 18). Ciceros Darstellung der stoischen Oikeiosislehre setzt in De finibus ohne diese Teleologie4 mit dem fundamentalen Faktum ein, daß ein Lebewesen „sobald es geboren ist… sich sich selbst verbunden fühlt und mit der Aufgabe betraut sieht, sich und seinen Status zu erhalten und das, was seinen Status erhält, liebend zu ergreifen, seinen Untergang aber fremd und abstoßend findet und ebenso jene Dinge, die den Untergang herbeizuführen scheinen“ (De fin. III, 16). Die Tendenz zur Selbsterhaltung, die sich bei Lebewesen vom Augenblick der Geburt an in allen Äußerungen und Verhaltensweisen bekundet, gründet für die Stoa in einer fundamentalen Liebe alles Lebendigen zum eigenen Dasein in seiner naturwüchsigen Eigenart. Bei keinem Lebewesen, so Seneca, findet man eine naturale Geringschätzung seiner selbst, nicht einmal eine Vernachlässigung (Ep. 121, 24: „Sed in nullo deprendes vilitatem sui, ne negligentiam quidem“). Diese naturale Selbstliebe galt nicht allen philosophischen Richtungen als grundlegend. Der Hedonismus eines Epikur etwa war der Meinung, daß alle Zuneigung des Lebens zu etwas und alles Auslangen nach etwas durch eine vorgängige Erfahrung von Lust bedingt und durch den Wunsch und die Erwartung weiterer Lust oder der Ver4

Der naturphilosophisch-theologische Hintergrund der stoischen OikeiosisLehre wird von Cicero in De natura deorum II voll entfaltet.

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meidung von Schmerz motiviert sein muß. Nicht Liebe zum eigenen Dasein und Sosein, sondern das Erleben von Lust (und das Vermeiden von Schmerz, vgl. Seneca Ep. 121, 7) sei das fraglose Prinzip allen Strebens und Verhaltens. Die Stoa hatte tiefe Bedenken gegen diese These; sie lassen sich in zwei Gedankenstränge bündeln: (a) Hedone, Lust als grundlegendes Strebens- und Verhaltensprinzip wäre destruktiv für das Selbstverständnis des Menschen als eines sittlichen Wesens. (b) Hedone als universales Verhaltensprinzip erkläre nicht die Fakten. Was das Argument (a) betrifft, so ist zu bedenken, daß Sittlichkeit für alle Ethiken der Antike in das umfassende Ziel der 1udailom_a integriert war. Die stoischen Einwände gegen den Hedonismus richten sich nicht nur darauf, daß der Hedonismus solche (teils radikalen Altruismus bekundende) Phänomene wie Tapferkeit, Treue, Freundschaft etc. kaum adäquat zu interpretieren in der Lage wäre. Sie bestreiten auch, daß ein nach hedonistischem Prinzip geführtes Leben auf menschliche Weise mit sich selbst einig und damit glücklich sein könne. Für die Begründung des Arguments (b) verwies die Stoa offensichtlich auf ein reiches Beobachtungsmaterial von spontanen Verhaltensweisen von Tieren und neugeborenen Menschen, die zweckmäßig zum Überleben des Individuums und der Art sind, ohne daß plausiblerweise irgendwelche vorgängigen Lusterfahrungen und Lusterwartungen anzusetzen wären. Bestimmend war aber wohl auch der nüchterne Gedanke, daß für die immense Anstrengung alles Lebendigen zur Selbst- und Arterhaltung nach allen Erfahrungen des Lebens der Gesichtspunkt einer positiven Lust/Unlustbilanz wenig erklärt. In diesen Kontext ist vermutlich auch die Wahl des Terminus ‘oikeiosis’ zu einem Grundbegriff der Ethik zu stellen. ‘Oikeion’ meint ursprünglich, wie gesagt, das, was zum eigenen Hauswesen gehört, die Personen und Sachen, insbesondere eine durch Blutbande gestiftete Zugehörigkeit. Die Zuneigung im Sinn wechselseitiger Identifikation mit Handlungen und Geschick des anderen im Rahmen des Hauswesens und entsprechend die Sorge für Erhaltung und Wohlleben aller Glieder dieser Einheit sind selbstverständlich und lassen sich weder im menschlichen noch, analog, im tierischen Bereich sinnvollerweise aus dem Lustprinzip ableiten. Jedermann weiß, daß man für seine Angehörigen sorgt wie für sich selbst, ja oft mehr als dies, ohne daß dabei der Blick auf die eigene Lustbilanz leitend wäre. Dem Römer Cicero erscheinen derartige Gedanken wohl zureichend. Diogenes Laertius’ Quelle schreibt möglicherweise vor einem

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anderen Hintergrund. Ihre starke Gewichtung der naturtheologischen Argumentation wendet sich wohl gegen ein vielleicht vom Pythagoreismus oder von Platon inspiriertes Daseinsverständnis, das eine göttliche Dimension des Kosmos und des menschlichen Lebens zwar anerkennt, aber dem Leben in seiner naturwüchsigen Form sich entfremdet fühlt oder Gleichgültigkeit zeigt. Ihm hält die Stoa entgegen, daß, was aus dem naturhaften Antrieb von einem Lebewesen geliebt und erstrebt wird, wertvoll ist und seinen Wert behält, auch wenn sich im Verlauf der naturgemäßen Entwicklung eines Lebewesens die Schätzung dessen modifiziert, was es zuerst über alles geliebt und erstrebt hat. Denn in jenen Dingen, die ein (unpervertiertes) Lebewesen spontan um ihrer selbst willen schätzt, manifestiert sich die Liebe, mit der die göttliche Natur sich in all ihren Gebilden des Lebens selbst bejaht und erhält. Man mag in dem Gedanken, daß wertvoll ist, was naturwüchsig erstrebt wird, eine eklatante Form von Naturalismus sehen, zumal wenn der Gedanke ohne theologisch-metaphysische Stütze auftritt. Gleichwohl hat die Stoa (zurecht, wie ich meine) in ihm eine der Grundlagen gesehen, ohne deren Anerkennung keine Verständigung in sittlichen Fragen möglich ist. Wer ernsthaft der Meinung ist – so das Argument – es sei grundsätzlich vielleicht besser nicht zu leben als zu leben, oder, es sei, ceteris paribus, gleichgültig, ob man als Mensch oder als ein Tier einer anderen Species lebt, der teilt nicht den gemeinsamen Rahmen, innerhalb dessen über Fragen menschlicher Lebensführung sinnvoll diskutiert werden kann.5 In diesem Sinn liefert der primäre Impuls als Einrichtung der Natur, nach der alle Lebewesen vom Zeitpunkt ihrer Geburt an sich verhalten, den Ausgangspunkt der stoischen Ethik.6 Hätten menschliche Wesen keine Sprachfähigkeit, dann bliebe Selbsterhaltung und mit zunehmender Reifung auch Arterhaltung ihr einzig natürliches Strebensziel. Sammeln von (artspezifischer) Nahrung, Schutz vor Witterung und Feinden, Partnersuche, das Zeugen und Aufziehen von Nachkommenschaft sind die Tätigkeiten, die ein Lebewesen als jat± v¼sim, als naturgemäß lebt und erlebt. Aber ist derartiges Tun nicht auch naturgemäß, und damit sinnvoll, ja gar verbindlich für menschliches Leben? 5 6

Vgl. dazu Verf.: ber die stoische Begrndung des Guten und Wertvollen, in: Methexis XVII, 2004, S. 55 – 69. Vgl. zum Folgenden auch Anthony A. Long: Hellenistic Philosophy, London 1974, S. 184 – 199.

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Die stoische Antwort auf diese Frage ist komplex. Sie findet sich in konzentrierter Form in Cicero, De finibus III, 20 – 21: „Wir wollen also weitergehen, da wir diese Prinzipien der Natur (principia naturae) hinter uns gelassen haben; was folgt, muß mit ihnen kongruieren. Es folgt aber diese erste Einteilung: Die Stoiker sagen …, daß jenes schätzenswert (aestimabile) ist, was entweder selbst der Natur entsprechend ist (quod aut ipsum secundum naturam sit) oder etwas derartiges hervorbringt (aut tale quid efficiat). Deswegen ist es wert gewählt zu werden (selectione dignum), weil es ein der Schätzung würdiges Gewicht hat, was sie ‘axia’ nennen, während sein Gegenteil nicht schätzenswert ist (inaestimabile). Wir haben also als grundlegende Prinzipien festgelegt, daß jene Dinge, die naturgemäß sind, ihrer selbst wegen zu nehmen sind (ipsa propter se sumenda) und ihr Gegenteil zu verwerfen (reicienda). Die erste angemessene Leistung eines Lebewesens (primum officium) – so übersetze ich das jah/jom – ist demnach, sich in seiner natürlichen Verfassung zu erhalten (ut se conservet in naturae statu); daraus ergibt sich die zweite, daß es die Dinge sich aneignet und hält, die seiner Natur gemäß sind, und die gegenteiligen Dinge sich fernhält; wenn dann das Verfahren der rationalen Auswahl (selectio) und Abwahl (reiectio) von Dingen gefunden und erfaßt ist, folgt als drittes die verantwortliche Wahl (cum officio selectio); dann folgt diese in Beständigkeit (ea perpetua), schließlich in einer Höchstform der Konstanz und der Übereinstimmung mit der Natur (tum ad extremum constans consentaneaque naturae). In diesem Zustand nun beginnt das, was wahrhaft gut genannt zu werden verdient, (im Menschen) anwesend zu sein und erkannt zu werden. Denn die erste Verbundenheit (prima conciliatio) des Menschen geht auf das, was der Natur gemäß ist (quae sunt secundum naturam). Sobald er aber Sensibilität für Vernunfttätigkeit (intelligentia) oder vielmehr eine authentische Erkenntnis von ihr (notio) gewonnen hat – was die Griechen 5mmoia nennen –, und er die Ordnung und sozusagen den Zusammenklang der Dinge, die (von ihm) getan werden, sieht (viditque rerum agendarum ordinem et, ut ita dicam, concordiam), schätzt er sie viel mehr als alles, was er zuerst geliebt hat, und kommt so durch intuitive Erkenntnis und vergleichendes Überdenken zum Ergebnis, daß darin das höchste Gut des Menschen liegt, das für sich Lob verdient und uneingeschränkt zu erstreben ist, daß es in dem liegt, was die Stoiker homologia nennen, wir aber, wenn es recht ist, convenientia nennen wollen – da also darin jenes Gute liegt, auf das alles zu beziehen ist, die sittlich guten Taten und das sittlich Gute selbst (honeste facta ipsumque honestum), das allein zu den wahrhaft guten Dingen gerechnet wird, so ist dieses, obgleich es später entsteht, doch allein aufgrund seiner eigenen Kraft und Würde absolut zu erstreben (expetendum). Von jenen Dingen aber, die zuerst naturgemäß sind, ist nichts um seiner selbst willen absolut zu erstreben … Es ist dieses gleichwohl naturgemäß und fordert uns ungleich mehr zu seiner Erlangung auf als alles Frühere.“

Diese Cicero-Passage enthält in äußerst konzentrierter doxographischer Form das stoische Konzept personaler Identität. Identität, so

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die implizite Ausgangsthese, erreicht der Mensch nur durch naturgemäße Einstellung und Verhaltensweise zu sich selbst und der Welt. Dem Menschen ist wie allen Lebewesen ein Muster von Einstellungen und Verhaltensweisen vorgezeichnet. Mit diesem Muster wird er schrittweise durch Selbsterfahrung vertraut. Dieses Muster ändert sich beim Menschen mit der gestuften Entwicklung seiner Vernunftfähigkeit. Dinge, die ihm in einem frühen Entwicklungsstadium angemessen sind, verlieren diesen Charakter der Angemessenheit nicht, aber ihre Stellung im Gesamtgefüge der Selbstliebe verändert sich mit der Entwicklung des Selbst hin zu einer vernünftigen Persönlichkeit. Jetzt gilt, was Seneca in den Satz kleidet: „Der Mensch ist sich aufgrund des Teils teuer, durch den er Mensch ist“ („ea enim parte sibi carus est homo qua homo est“, Ep. 121, 14). Bleibt das erste Naturgemäße nach Abschluß der Entwicklung der Vernunftfähigkeit unbedingtes Strebensziel, dann ist Uneinigkeit mit sich und der Welt die Folge, dann sind nach stoischer Lehre Einssein der Person mit sich selbst und damit Glückseligkeit nicht zu erreichen. Das Erstaunliche am stoischen Konzept des Erwerbs praktischer personaler Identität dürfte darin zu sehen sein, daß die naturgemäße Einstellungsänderung zu den Gütern des Lebens als Resultat eines Nachdenkens über die eigenen Stadien und Leistungen des Lebens sozusagen in einem Umschlag von selbst sich ergeben soll. Um den Kerngedanken in kantianischer Begrifflichkeit zu verdeutlichen: Auf der Stufe eines zur Vollendung sich steigernden (durch philosophische Erkenntnis der Weltordnung geleiteten), an Sitte, Recht und geltender Moral orientierten Verhaltens entsteht durch Prozesse der sume_dgsir, durch Akte nunmehr gedanklicher Erfassung und Durchdringung dessen, was man ist und tut, die Einstellung der Sittlichkeit, d. h. ein Selbstverständnis, in dem der Mensch sich selbst in uneingeschränkter Weise nur noch als vernünftiges Subjekt und moralische Person liebt und erhalten will. Das Paradoxon der stoischen Ethik, insbesondere vor dem Hintergrund einer christlich geprägten Daseinsinterpretation, besteht genau in dem Gedanken, daß die natürliche Selbstliebe des mündig gewordenen Menschen in der bedingungslosen Liebe zum eigenen Vernünftigsein, nur in ihr und in ihr vollendet ihre Erfüllung findet. Die sinnliche Seite des Menschen verliert demgegenüber jedes Eigenleben und Eigengewicht, sie wird in ihrer emotionalen und appetitiven Dimension vollständig in die Vernunft der Person integriert, in ihrer unkontrollierbar animalischen bzw. physiologischen Dimension zwar nicht ignoriert,

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aber zum bloßen Natur-Sein veräußerlicht. Und dies besagt, daß die Stoa den Gedanken der qualitativen Identität der Person im Sinne ihrer Einheitlichkeit, Selbständigkeit, Beständigkeit und bruchlosen Selbstaffirmation so denkt, daß das subjektiv Intendierte und Bejahte in keiner Weise mehr auf das Entgegenkommen des objektiv unverfügbar Gegebenen und unvorhersehbar Widerfahrenden angewiesen ist. Identität ist Sache allein des richtigen (selbstverständlich noch auf Natur und Geschichte bezogenen) Denkens und Wollens und des begleitenden Gefühls. Alles der Person angenehm oder schmerzhaft Vorgegebene und lediglich Widerfahrende wird hingenommen in einer gelassenen Distanz, die sich dem Bewußtsein verdankt, daß in allem nicht von uns Verfügbaren die göttliche Weltvernunft wirkt, die der eigenen endlichen Vernunft wesensgleich ist, und in die hinein wir uns auch wieder auflösen werden. Blickt man auf Ciceros Darstellung der stoischen Oikeiosislehre im einzelnen, dann markiert die Fähigkeit der selectio den Übergang vom Tier zum Menschen. Mit „selectio“ und „reiectio“ übersetzt Cicero die stoischen Termini 1jkoc¶ und !pejkoc¶. Bei ihnen zeigt noch der Wortlaut an, daß ein Wählen und Verwerfen von Dingen angesprochen ist, das durch den Logos, die Sprachfähigkeit bestimmt wird. Die Stufen und Phasen sich vollendender Selbstfindung und Selbstaneignung folgen dem Schema einer gleichsam natürlichen Entwicklung der Betätigung der Wahlfähigkeit und des korrespondierenden Fortgangs des mit ihr verbundenen Innewerdens und Zueignens von Eigenschaften der Person, die im rationalen Wählen im Spiel sind. (a) Im Wählen und Abwählen konkreter Dinge und Handlungen werden wir einer gewissen Unabhängigkeit von Naturzwängen und anderen Personen inne und eignen uns diese Eigenschaft der Freiheit und Autarkie als wesentlich zu unserem Selbst gehörig zu. (b) Im Wählen und Abwählen konkreter Dinge oder Handlungen wählen wir uns selbst und werden gewahr, als wie beschaffenes wir unser Leben führen und erleben möchten. Das sprachlich artikulierbare Selbstverständnis bekundet sich ja in den Prämissen unserer praktischen Entscheidungen und wird in diesen und nirgendwo sonst konkret. Erste Akte des Wählens beziehen sich auf vergleichsweise Geringfügiges, sind bei Heranwachsenden stark tentativ und noch nicht strengen Rechtfertigungszumutungen von Seiten anderer ausgesetzt. Das Mündigwerden ist gekennzeichnet durch den Erwerb von Fähigkeit und die Tendenz, insbesondere gewichtigere Entscheidungen so zu treffen, daß sie sich gegenüber Mitgliedern der eigenen Lebensge-

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meinschaften (der Familie, der Stadt, den verschiedenen Gesellschaften, denen man sich zugehörig weiß) mit guten Gründen verteidigen lassen. Dies gehört zur Natur des Menschen als eines rationalen und sozialen Lebewesens: Der Mensch findet seine Identität als ein Subjekt, das sein Leben nach eigener Wahl durch Überlegung und Entschluß führt, nur im Rahmen einer Meinungs-, Handlungs- und Erlebnisgemeinschaft, in die er hineinwächst und von der er im Maß der Graduierung seiner Selbständigkeit auch argumentativ in Anspruch genommen wird. Die Rechtfertigung des Wählens bezieht sich zunächst auf einen gemeinsamen Fundus von Wertungen und Normen, die einem Menschen in Religion und Kunst, in Sitte und Recht und den von ihnen getragenen Institutionen einer Polis oder Stammesgemeinschaft gegeben sind. Wir befinden uns hier auf der Stufe der Entwicklung, die Cicero mit der äußerst kurzen Formel „cum officio selectio“ beschreibt. Officium steht für das stoische jah/jom. Jah¶jomta sind Handlungen, die als intersubjektiv zugängliches Verhalten der Natur des Menschen im Blick auf die Stufe seiner Entwicklung und seine Stellung im sozialen Ordnungsgefüge gemäß sind, die ihm zukommen, die zu ihm passen, die sich für ihn gehören. Eine der gut überlieferten Definitionen für das mit jah/jom Gemeinte unterstreicht den Aspekt erfolgreicher Rechtfertigung derartiger Handlungen: „Angemessenes Verhalten ist aber, was so getan ist, daß es, als Tat, eine wohl begründete Rechtfertigung für sich hat“.7 Der Ausdruck „officium“ weckt die Konnotationen von politisch-gesellschaftlichen Rollen und Ämtern und den mit ihnen verbundenen Aufgaben, Befugnissen und Verpflichtungen. Der Ausdruck eukocor !pokocislºr bzw. „probabilis ratio“ erinnert an das (von Aristoteles entwickelte) topisch-dialektische Verfahren der Begründung von Handlungen unter Bezugnahme auf den Traditions- und Erfahrungsbestand eines sensus communis in praktischen Angelegenheiten:8 5mdona, „probabilia“ sind Dinge, die allen oder den meisten oder den Experten richtig erscheinen, als bloße Expertenmeinung aber nicht dem allgemeinen Erfahrungsbestand zuwiderlaufen. 7 8

Cicero, De fin. III, 58 : „Est autem officium, quod ita factum est, ut eius facti probabilis ratio reddi possit“; DL VII, 107 : Jah/jºm vasim eWmai d pqawh³m eukocom Uswei !pokocislºm. Vgl. dazu ausführlich Verf.: Dialektik und Ethik. Zu Begriff und Methode der praktischen Philosophie bei Aristoteles, in: Gewißheit und Gewissen, hg. von Wilhelm Baumgartner, Würzburg 1987, S. 41 – 62.

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Die nächsten Etappen einer naturgemäßen Entwicklung des Menschen hin zu einer Person mit vollendeter Identität beinhalten offensichtlich eine Steigerung des „seligere cum officio“ in mehrfacher Hinsicht. Zunächst wird verantwortliches Handeln durch wiederholtes Tun zum Ausdruck einer dauerhaften, alles Verhalten bestimmenden Disposition: „cum officio selectio perpetua“. Eine Person kann freilich durchgängig ihrer politisch-sozialen Verantwortlichkeit gemäß sich verhalten, ohne daß die Regelsysteme, denen sie folgt und denen gemäß sie sich verantwortlich weiß, dieselben bleiben. Um mit Aristoteles zu sprechen: Ein guter Bürger sein definiert sich relativ zum Typus der Polisordnung und impliziert andere Eigenschaften in einer Demokratie als etwa in einer Erbaristokratie; und diese Bezugssysteme können in einem Erwachsenenleben bekanntlich mehrfach sich ändern. Vollendete Konstanz angemessenen und verantwortbaren Verhaltens gewinnt eine Person nach stoischer Überzeugung deshalb nur, wenn sie die bestehenden Sitten und Gesetze, die Befugnisregeln und Verpflichtungsansprüche einer politisch-sozialen Ordnung einem Maßstab kritischer Prüfung und praktischer Orientierung unterwirft, der zeit- und ortinvariante universale Dignität und Verbindlichkeit besitzt. Dies ist ihr der Maßstab der Natur, wobei v}sir, natura sowohl die spezifische Natur des Menschen als auch ihre Stellung im Rahmen der göttlichen Allnatur meint. Jetzt ist die Stufe erreicht, die Cicero mit der Wendung „ad extremum constans consentaneaque naturae“ beschreibt. In ihr erst beginnt im Verhalten und Erleben des Menschen dazusein und erkannt zu werden, was wahrhaft gut genannt zu werden verdient: blokoc¸a, sittliche Identität, die sich als vollständige theoretische, emotive und praktische Übereinstimmung mit sich selbst im Gleichklang mit der Allnatur erweist. Das Vernünftigsein wird nun als etwas erfahren und erstrebt, was dem Menschen in einer profunderen Weise eigen und naturgemäß ist als alles, was ihm als endlichem Sinnenwesen einer bestimmten Art mit einer erst keimhaften und noch unselbständigen Vernunft eigen und naturgemäß war. Letzteres sinkt in den Rang des nur bedingt Guten oder sogar des Gleichgültigen herab. Nun hat diese selbstbezogene uneingeschränkte Vernunftliebe im Menschen zu Beginn und bis zum Status des vollendet Weisen eine eigenartige Struktur: Einerseits bezieht der Mensch sich in ihr auf etwas, was er erfährt, was actualiter in ihm bereits gegeben und realisiert ist und im Vollzug als das Ureigenste, als das für ihn absolut Gute erfahren, bejaht und reflexiv als sein summum bonum verstanden wird. Ande-

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rerseits bezieht sich seine Selbstliebe in ihrer Liebe zum eigenen Vernünftigsein auf etwas, was als noch keineswegs vollständig erreichtes und realisiertes Ziel gesehen, ja, was als möglicherweise oder tatsächlich teilweise verfehlt erfahren und von eigenen nichtvernünftigen Wünschen und Handlungen konterkariert wird. Es ist diese Struktur der Oikeiosis, die Selbsterfahrung und Selbstliebe von Vernunft als Faktum und als Ziel, das in eigenem Tun bereits realisiert und gleichwohl noch im Kampf gegen sich selbst zu erringen ist, es ist diese Struktur der Oikeiosis, die die Vernunft im Menschen zum Gewissen macht, zum Zeugen, Ankläger, Anwalt und Richter über die eigene Stellung und die eigenen Schritte in Richtung des Ziels vollkommenen Vernünftigseins.9 In Ciceros Darstellung der Oikeiosislehre in De finibus kommt diese Struktur auf sprachlich unscheinbare, aber doch signifikante Weise zum Ausdruck. Er verwendet an entscheidender Stelle in der Formel „vidit rerum agendarum ordinem et concordiam“ das Gerundiv als Verbaladjektiv. Als solches ersetzt es im Lateinischen das fehlende Partizip Passiv Präsens; daran orientiert sich die ursprüngliche und primäre Bedeutung. Der Satz besagt also zunächst: „Er sieht die Ordnung und den Einklang der Dinge, die von ihm getan werden“. Und das heißt im Kontext: Die uneingeschränkte Liebe zum eigenen Vernünftigsein ist gebunden an die (beglückende) Erfahrung tatsächlichen eigenen Vernünftigseins im Handeln. Sodann hat das Gerundiv in dieser Form auch einen prospektiv-finalen Sinn, etwa die Bedeutung des verpflichtenden „Müssens“, und der Satz besagt demgemäß also auch: „Er sieht die Ordnung und den Einklang der Dinge, die es zu tun gilt“. Ähnlich drückt sich Cicero übrigens auch im Abschluß-Passus der OikeiosisLehre aus, der von der Liebe zur gesamten Menschheit handelt: Er beschreibt die Selbstentfaltung des Logos in der Ausweitung der Sympathie vom Selbst über Familie und Staat bis zur Menschheit als Prozeß einer natürlichen, über Erfahrung vermittelten Aneignung und zugleich als sittliche Aufgabe.10 9 Vgl. dazu ausführlicher Verf.: Stoische Oikeiosislehre und mittelalterliche Theorie des Gewissens, in: Was ist das fr den Menschen Gute? Menschliche Natur und Gterlehre – What is Good for a Human Being? Human Nature and Values, hg. von Jan Szaif und Matthias Lutz-Bachmann, Berlin – New York 2004, S. 126 – 150. 10 De fin. III, 63: „Ex hoc nascitur ut etiam communis hominum inter homines naturalis sit commendatio, ut oporteat ab homine ob id ipsum, quod homo sit, non alienum videri“.

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Identität wird von demjenigen, der sich auf dem Weg zur Weisheit befindet, aber noch nicht vollendet weise ist (vom pqojºptym), als noch nicht erreichtes Ziel erfahren. Das Ziel des Menschen, das die stoische Ethik in Ansatz bringt und über die Oikeiosislehre zu begründen versucht, ist jedenfalls ein Leben in völligem Einklang mit sich selbst und zugleich mit der Natur. Es ist angesichts der hochabstrakten Formulierungen keineswegs überraschend, daß die stoische Zielformel menschlichen Lebens: blokocoul´myr f/m bzw. blokocoul´myr t,˜ v¼sei f/m kontrovers interpretiert wird. Die einen sehen in ihrer Formalität Kants Moralprinzip der Einstimmigkeit der Zwecksetzungen vorweggenommen, die anderen legen die Betonung auf den teleotheologischen Sinn einer bewußten und willentlichen Übereinstimmung mit der göttlichen Allnatur, wieder andere sehen in ihr lediglich den Ausdruck eines angeblich gesamthellenistischen Grundgedankens, nämlich eine Einheit mit sich selbst durch Reduktion der Wünsche auf das Maß des Könnens zu bewerkstelligen. Ich meine, die Wahrheit liegt in einer Verbindung der genannten Interpretationen. (a) Fraglos versucht die Stoa, Identität auf asketischem Weg zu erreichen: durch Zurücknahme der Strebensziele oder eine Änderung des Strebensmodus, bezogen auf jene Sachverhalte in der Welt, die nicht uneingeschränkt in unserer Hand sind. Konsistenz aller Lebensvollzüge, Selbständigkeit und Bejahung des eigenen Daseins werden definiert und für erreichbar erklärt in Termini eines uneingeschränkten Selbstbesitzes des Geistes. Dafür bietet Epiktet die sprechendsten Belege: „Von den Dingen, die existieren, sind die einen in unserer Hand, die anderen nicht. In unserer Hand ist unser Meinen, unser Streben als Appetenz und Aversion … Nicht in unserer Hand hingegen ist der Leib, der Besitz, Meinungen (der anderen), Ämter, mit einem Wort, alles, was nicht unser eigenes Werk ist. Und das, was in unserer Hand ist, ist von Natur das Freie, Ungezwungene, Unbehinderte; das, was nicht in unserer Hand ist, ist das Schwache, Sklavische, Gezwungene, uns Fremde (allotria)“ (Epiktet, Encheiridion, Kap. 1). „Nimm also deine Aversion gegenüber all den Dingen zurück, die nicht in deiner Hand sind und verlagere sie auf das, was in deiner Hand und naturwidrig ist. Dein Erreichenwollen aber konzentriere völlig auf das, was da ist… Gebrauche also nur dein appetentes und aversives Streben (lºmom d³ t¹ bql÷m ja· !voql÷m wq_), allerdings auf leichte, gegenüber Erfolg und Mißerfolg reservierte und ungebundene Weise (leh’ rpenaiq¶seyr ja· !meil´myr)“ (ebd. Kap. 2). „Wenn du nur von dem, was in deiner Hand ist, glaubst, daß es dir gehört (t¹ s¹m eWmai), von dem aber, was nicht in

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deiner Hand ist, daß es, wie es ja tatsächlich sich verhält, dir fremd ist ( !kkºtqiom), dann wird dich niemals jemand zu etwas zwingen, niemals jemand dich behindern, du wirst niemandem etwas vorwerfen, niemals etwas unwillentlich tun, niemand wird dir schaden, denn nichts Schädliches wird dich berühren“ (ebd. Kap. l). (b) Es scheint mir zum zweiten unbestreitbar, daß Kants Konzept der Autonomie als Prinzip der Sittlichkeit durch den stoischen Kerngedanken der absoluten Liebe zum „ordo rerum agendarum“ vorbereitet wurde: Es ist die „aus einer Regel“ bzw. aus konsistenten Grundsätzen resultierende Ordnung und damit Vernunftqualität unseres Handelns ( jah’ 6ma kºcom f/m), die uns uneingeschränkt eigen und zugehörig ist und bedingungslose Zuneigung verdient. Und das Vernünftigsein läßt sich formaliter nicht anders bestimmen denn als Homologie, d. h. als Übereinstimmung aller unserer Zwecksetzungen unter sich und als Transzendierung der Partikularität des eigenen Denkens und Willens hin zu einem normativen Status des Gleichklangs aller Vernunftwesen. (c) Schließlich ist aber auch offenkundig, daß die Stoa diesen Stand der Übereinstimmung im Unterschied zu Kant als Einigsein mit der göttlichen Allnatur und ihrer Selbstbekundung in den spontanen, unpervertierten Neigungen der menschlichen Natur verstanden wissen will. Das Wiegenargument, der vergleichende Blick ins Tierreich, die Suche nach einem consensus omnium in Wert- und Verpflichtungsurteilen, nicht zuletzt auch ein introspektiv gerichtetes Gedankenexperiment sollen Auskunft geben über das, was unserer unpervertierten menschlichen Natur eigen ist und zu den unserer Natur gemäßen Dingen (t± jat± v¼sim) gehört. Das Experiment besteht in der Vorstellung einer isolierten Wahlsituation, die uns unter Ceteris paribusBedingungen eine Wahl zwischen Gegensatzpaaren zumutet, z. B. zwischen Lebendigsein-Totsein, Gesundsein-Kranksein, SchönseinHäßlichsein, Wohlhabendsein-Armsein, Wissendsein-Unwissendsein, Angesehensein-Verachtetsein etc. In den spontanen Vorzugswertungen dokumentiert sich für die Stoa das, was die Universalnatur an Strebenszielen verfügt hat, die der menschlichen Natur angemessen sind (aqt¹r c²q l’ b he¹r 1po¸gsem toOtom 1jkejtijºm Epiktet, Diss 2.6.9 = SVF III, 191). Die Stoa begründet auf derart intuitionistische Weise eine Lehre menschlicher Güter, die sich weitgehend deckt mit dem, was

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die Antike ebenso wie der Common sense von heute zu den Gütern des menschlichen Lebens rechnet.11 Aber dieselbe Vernunft, die diese Dinge als dem Menschen gemäß und wertvoll erkennt und sich zunehmend in ihrer rationalen Wahl bewährt, erkennt mit sich steigernder Konsequenz auch, daß im Verfolgen und Erreichen dieser Dinge nicht das Ziel des menschlichen Lebens beschlossen sein kann: Sie sind uns ja nicht absolut eigen und gehen uns alle auch wieder verloren. Uns eigen ist nur unser Vernünftigsein. Die Einheit und Einigkeit eines vernünftigen menschlichen Lebens mit sich selbst kann deshalb nur aus einer Einstellung zu den menschlichen Lebensgütern resultieren, die sie als Strebensziele in der Welt zwar anerkennt und verfolgt, aber zugleich auch in völliger Gleichgültigkeit auf sich beruhen lassen kann. Sie sind dem Vernünftigsein äußerlich, sie sind gewissermaßen nur das Material, das die Vernunft gebraucht, in dem menschliche Vernunft auf Zeit sich gestaltend betätigt. Diese Adiaphorie zu den sogenannten außermoralischen Lebensgütern sieht die Stoa möglich und plausibel nur im Rahmen einer gedanklichen, willentlichen und emotionalen Übereinstimmung mit der göttlichen Allnatur, die als vernünftiges Prinzip der Weltgestaltung alles uns Unverfügbare sinnvoll ordnet. Identität des Lebens eines endlichen vernunftfähigen Lebewesens ist also möglich nur als völlig rationaler, gegenüber allen anderen Vernunftwesen verteidigbarer Umgang mit den artspezifischen Lebensgütern unter der Prämisse uneingeschränkter Selbstliebe der Vernunft. Und diese Selbstliebe schließt ein, daß sie sich als Abkömmling der göttlichen Vernunft dieser zugehörig weiß und alle nicht selbst verfügbaren welthaften Ergebnisse des eigenen Vernünftigseins ebenso gelassen wie vertrauensvoll der göttlichen Weltverwaltung anheimstellt. Wir sind heute an den Gedanken gewöhnt, daß der Prozeß personaler Identitätsfindung mit einer Abgrenzung unseres Selbst von seiner Umgebung verbunden ist. Das stoische Konzept sieht den Verlauf komplexer. Für die Stoiker stellt er sowohl eine zunehmende Ein- und Abgrenzung als auch eine progressive Ausdehnung des Selbst dar. Die Eingrenzung verbindet sich mit der schrittweise vermittelten Selbsterkenntnis, mit dem Gewahrwerden dessen, was allein uns absolut eigen und in unserer Hand ist: unser vernünftiges Denken und Wollen. 11 Vgl. Verf.: ber die stoische Begrndung des Guten und Wertvollen, a.a.O., S. 60 – 66.

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Die Ausdehnung ist verbunden mit dem fortschreitenden Erfassen von uns Wesensverwandtem in der Welt. Davon betroffen sind zunächst unsere engen Angehörigen, dann mit sich ausweitenden Kreisen der Wahrnehmung und des Denkens Stadt, Vaterland und die gesamte Menschheit, schließlich auch die Götter und das vernünftige Prinzip der Weltordnung, die göttliche physis. Der Mechanismus der Oikeiosis greift über Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung. Indem die Person immer weitere Kreise um sich selbst zentriert wahrnimmt und versteht, faßt sie nicht nur Zuneigung zu anderen und trägt Sorge um sie, sondern integriert sie sich selbst, eignet sie sich an, macht sie im Denken, Fühlen und Wollen zum Bestand des eigenen Selbst. Der Prozeß derart expansiver Identitätsfindung gründet im Erfassen einer gemeinsamen Natur. Diese wird mit der Vernunft gleichgesetzt, die für die Stoa nicht nur das leitende Prinzip in der individuellen Seele des Menschen, sondern auch das universale aktive Prinzip ist, welches das gesamte Universum durchdringt und gestaltet. Das Ergebnis gelingender Oikeiosis ist für die Stoa das Erleben der Welt als einer einzigen Kosmopolis, in der der Einzelne sich als Glied eines durch und durch vernünftigen Ganzen weiß und fühlt.12 In diesem Sinn konnte Cicero vom stoischen Weisen sagen: „numquam privatum esse sapientem“ (Tusc. Disp. IV, 51). Die stoische Oikeiosislehre wird wegweisend für die mittelalterliche und die neuzeitliche Theorie des natürlichen Gesetzes. Zum Beleg mögen abschließend zwei der wichtigsten, weil traditionbildenden Autoren dieser Theorie genannt sein: Thomas von Aquin und Hugo Grotius. Thomas übernimmt von der Stoa den Gedanken, daß jedes Seiende mit einer naturhaften Hinneigung zu seinem Dasein in artgemäßer Vollkommenheit und den diesem angemessenen Akten geboren wird (Summa contra Gentiles III, c. 129). Mit der bestimmten Wesensnatur seien (nach dem göttlichen Welt- und Schöpfungsplan, der lex aeterna) dem Ding natürliche Neigungen zu den seinem Wesen gemäßen Tätigkeiten gegeben. Natürliches Gesetz (lex naturalis) in einem weiten Sinn meint dann die in den konstanten Wesensformen der Dinge ein12 Vgl. dazu ausführlicher Verf.: Philosophie und Politik: Dions philosophische Botschaft im Borysthenitikos, in: Dion von Prusa. Menschliche Gemeinschaft und Gçttliche Ordnung. Die Borysthenes-Rede, hg. von Heinz-Günther Nesselrath, Balbina Bäbler, Maximilian Forschner, Albert de Jong, Darmstadt 2003, S. 128 – 156.

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geschlossene Ausrichtung auf artspezifische Funktionen und Ziele. Praktische Gesetze seien freilich Produkte von Vernunft. Essentiell finden sich nach Thomas (praktische) Gesetze deshalb in Vernunftwesen, die Regeln des Verhaltens selbst aufstellen, damit andere oder sie selbst sich an ihnen ausrichten; in Form unmittelbarer Teilhabe finden sich Gesetze in jenen Vernunftwesen, die Gesetze verstehen und befolgen können. Im Vergleich zu dieser Form von Teilhabe nur noch analog könne von einer participatio an Gesetzen die Rede sein, wo Wesen sich ohne Verstand und Reflexion instinktiv und allein durch natürliche Neigung gesetzmäßig verhalten. Auf dem Weg der Oikeiosis, des schrittweise bejahenden Innewerdens der eigenen Natur und ihrer Tendenzen gelange der Mensch naturwüchsig zur Einsicht in die unverbrüchlichen Normen, die sein Handeln zur Realisierung seiner Daseinsziele zu leiten haben. Die Ziele der natürlichen Neigungen (zur Selbsterhaltung, zur Arterhaltung und Gemeinschaft, zur Erkenntnis) machen für Thomas den Inhalt der lex naturalis im eigentlichen Sinne aus; denn Vernunft erfasse sie ganz natürlich und spontan als etwas Gutes, das es handelnd zu verfolgen und zu sichern gilt (vgl. S. theol. III, qu. 94 a. 2 co.). Bis in die Formulierungen hinein übernimmt Thomas das Konzept eines alle Menschen verpflichtenden Naturgesetzes, das die Stoa auf der Basis ihrer Oikeiosislehre entwickelt hat. Die vernünftige Interpretation der „inclinationes naturales“ liefert für Thomas dem Menschen den Inhalt dessen, was ihm zu tun natürlicherweise zukommt. Und wie in der Stoa gibt die Übereinstimmung mit der göttlichen Vernunft die Orientierung für Ausmaß und Modus des Erstrebens zeitlicher Dinge vor. Hugo Grotius beruft sich in seiner Begründung des natürlichen Rechts und Unrechts an erster Stelle auf die Stoiker (und die stoische Oikeiosislehre).13 Die Stoiker hätten gegen den skeptischen Einwand des Karneades dargelegt, daß der Mensch von Natur nicht egozentrisch nur auf seinen persönlichen Nutzen bedacht sei, sondern einen „geselligen Trieb zu einer ruhigen und nach dem Maß seiner Einsicht geordneten Gemeinschaft mit seinesgleichen“ besitze.14 Auch Tiere und Kinder mäßigten ihre Egozentrik und zeigten so etwas wie Mitleid und 13 Hugo Grotius: De jure belli ac pacis libri tres, Paris 1625; Drei Bcher vom Recht des Krieges und des Friedens, übers. von Walter Schätzel, Tübingen 1950, Vorrede 6, dt. S. 32. 14 Ebd. Vorrede 6.

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eine Neigung, anderen wohlzutun.15 Bei Tieren und Kindern sei dies eine Sache des Instinktes. Der Mensch hingegen verbinde, wenn er in ein reiferes Alter trete, mit einem starken geselligen Trieb, für den er allein vor allen Geschöpfen das besondere Mittel der Sprache besitze, auch die Fähigkeit, allgemeine Regeln zu fassen und danach zu handeln. Diese der menschlichen Vernunft entsprechende Sorge für die Gemeinschaft sei die Quelle all dessen, was man mit dem Namen Recht bezeichne.16 Es wäre eine eigene Aufgabe, zu zeigen, wie das stoische Konzept der Selbstliebe der Vernunft und ihrer materialen Orientierung an den „inclinationes naturales“ des Menschen die Basis aller nichthedonistischen philosophischen Ethiken bis herauf zu Kant bildet und in welchem Ausmaß die stoische Oikeiosislehre noch die Autoren der europäischen Aufklärung bis ins 19. Jahrhundert hinein inspiriert.17 Klar ist jedenfalls, daß sie etwa Kants Idee der Selbstliebe der Vernunft, Rousseaus Konzept der Stadien der moralischen Entwicklung des Menschen und John Stuart Mills Gedanken des Gefühls der Einheit der Menschen entscheidend beeinflußt hat.

Postscriptum Die neueste Monographie zur stoischen Oikeiosislehre (Robert Bees: Die Oikeiosislehre der Stoa, Würzburg 2004) versucht den Nachweis, daß nur die von der Allnatur veranstaltete, die transitive Form der Oikeiosis genuin stoisch ist und daß die zweite, auf die Entwicklung des Menschen bezogene, die intransitive Form der Oikeiosis auf einem so gut wie einmütigen Mißverständnis der Interpreten beruht. Die Stoa kenne nur eine transitive Form der Oikeiosis. Ihr Subjekt sei in keiner Weise der Mensch, sondern ausschließlich die (All)natur (vgl. S. 14). Die Allnatur leiste über die Oikeiosis ihre Selbsterhaltung (vgl. S. 166 ff.; 172; 237). Die Menschen seien wie die übrigen Lebewesen dabei vorgestellt als Werkzeuge bzw. Marionetten des Gottes (SVF II 740; vgl. S. 220). Sie folgten einem „kosmischen Zwang“ (vgl. S. 186; 213; 15 Vorrede 7, dt. S. 32. 16 Vorrede 8, dt. S. 33. 17 Vgl. dazu Verf.: ber natrliche Neigungen und den Selbsthaß der Vernunft. Die Stoa als Inspirationsquelle der Aufklrung, in: ders.: ber das Handeln im Einklang mit der Natur, Darmstadt 1998, S. 50 – 68.

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229). Der Unterschied zwischen Mensch und Tier sei „lediglich ein gradueller“, indem dem Menschen im Unterschied zum Tier Einsicht und Einstimmung in das Wirken der Natur zugestanden sei (S. 225). Dem Menschen bleibe nichts anderes als „die vernunftgemäße Bestätigung des Triebs“. Der willentliche Vollzug des naturalen Impulses mache aus einer (instinktiven) Oikeiosishandlung eine sittliche Handlung (vgl. S. 230; 285). Dementsprechend könne das Telos des Menschen auch nicht im Sinne einer Loslösung vom Trieb der Natur, sondern nur im Sinne einer Bestätigung des Naturtriebs und seiner Ziele (vgl. S. 14) bzw. eines „Ineinander von Trieben und Vernunft“ (S. 277) verstanden werden. Ich halte dieses Verständnis der stoischen Oikeioislehre für einseitig, wenn nicht für falsch. Der in den Texten bezeugte und von einem Großteil der Interpreten in Ansatz gebrachte „Bruch“ in der Entwicklung des Menschen vom bloßen Naturwesen hin zu einer vernünftigen Persönlichkeit besteht nicht, wie Bees (mitunter) zu unterstellen scheint, in einer Loslösung von den Inhalten natürlicher, durch transitive Oikeiosis gestifteter Impulse und Bestrebungen, sondern in einer radikalen Änderung des Strebensmodus: Die Ziele des Tätigseins in der Welt, die nicht uneingeschränkt in unserer Hand sind, werden im Zustand des Vernünftigseins nicht mehr absolut, sondern nur noch reserviert erstrebt. Und dies deshalb, weil die vernünftige Persönlichkeit dessen inne wird und kognitiv ebenso wie appetitiv realisiert, daß uns nur unser Vernünftigsein absolut eigen ist. Und der Weg zum Vernünftigsein läßt sich nicht ausschließlich über die transitive Figur der Oikeiosis im Sinne einer (von Bees nicht eindeutig ins Spiel gebrachten) naturalen Prädisposition zur Vernunft verstehen, sondern muß, wie dies aus Cicero De fin. III deutlich wird, auch als intransitiver Prozess des „Sich (absolut) mit dem befreunden, was uns wahrhaft eigen ist“ verstanden werden. Das stoische Konzept vernünftiger Wahl der Handlungsziele (DL VII, 108) und der plausiblen Rechtfertigung (probabilis ratio, eukocor !pokocislºr) der naturgemäßen Handlungen (Cicero, De fin. III, 18; DL VII, 107) und die stoische Bestimmung der Rolle der Vernunft als „Gestalter des Triebs (tewm¸tgr t/r bql/r DL VII, 86) scheint mir von Bees völlig unterbestimmt zu sein, wenn er hier lediglich von einer „Ergänzung des Triebs durch die Vernunft“ spricht (S. 280) und meint, „daß die Wahl recht eigentlich eine Zustimmung zu den Trieben ist“ (S. 275 f.; vgl. 261). Immerhin sieht er, daß die markante Definition des kathekon als einer Handlung, die sich nach ihrem Vollzug rechtfertigen läßt (De fin. III, 18; DL VII, 107), seiner Inter-

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pretation Schwierigkeiten bereiten dürfte (vgl. S. 278 Fn 242). Oikeiosis meint für Bees lediglich Instinkt, Naturzwang, Naturmechanismus, biologische, ja genetische, auf Selbst- und Arterhaltung bezogene Überlebensprogrammierung aller Lebewesen. Oikeiosis-Handlungen seien (beim Menschen wie beim Tier) reine Instinkthandlungen. Man müsse „Oikeiosis-Handlungen und das dem Telos eigene sittliche Handeln auseinanderhalten“ (S. 265). Jene Stellen, in denen explizit vom jakºm als einem oQje?om und von einer oQje¸ysir zum jakºm oder zur !qet¶ die Rede ist (SVF III 229a = Galen PHP V, p. 318.17 f. De Lacy; Poseidonios F 169.20 f. EK; SVF I 356 = Sext. Emp. Adv. Math. 7.12; Musonius p. 9.8 f. eqenir ja· oQje¸ysir v¼sei pq¹r !qet¶m ; vgl. Cicero De fin. 2.45 ff., 109 ff.), werden als unorthodox bzw. als lockere Redeweise abgetan (vgl. S. 289 Fn 269). Und wenn Cicero, Zenon referierend, davon spricht, daß das sittliche Leben das Ziel sei und daß dies aus der „conciliatio naturae“ hergeleitet sei (Acad. Priora II, 131 = SVF I, 181), so möchte Bees dies so verstanden wissen, daß die Oikeiosis beim Menschen nur dadurch und in dem Sinne Ausgangspunkt für die Erreichung des Telos sei und sein könne, daß der Vernünftige den natürlichen Trieben zustimmt (vgl. S. 279 – 281). Der entscheidende Fehler in Bees Oikeiosis-Verständnis scheint mir darin zu liegen, daß er (entgegen dem eindeutigen sprachlichen Hinweis) neben den „primae conciliationes naturae“ (Cicero, De fin. III, 22) von der Stoa keine weiteren conciliationes mehr in Ansatz gebracht sehen möchte.

Philosophie als Psychotherapie Die griechisch-römische Consolationsliteratur von Bernhard Zimmermann I. Aber mögen die Alten auch alles bereits gefunden haben, so wird doch folgendes immer neu sein: die Anwendung und wissenschaftliche Aufarbeitung dessen, was von anderen bereits entdeckt wurde, sowie die Anordnung (der einzelnen Argumente). /…/ Heilmittel für die Seele wurden bereits von den Alten gefunden; wie man sie jedoch einsetzen soll und wann, das herauszufinden ist allein unsere Aufgabe. In der Tat: viel haben die, die vor uns lebten, zustande gebracht, aber bis zur Neige haben sie es nicht ausgeschöpft.

Mit diesen Worten umreißt Seneca im 64. Brief an Lucilius (8 f.) 1 die Lage, in der sich jeder Philosoph, ja jeder Mensch befindet, der einem anderen in einer wirklich oder auch nur vermeintlich ausweglosen oder verzweifelten Lage, vor allem nach dem Verlust eines lieben Menschen, Trost zusprechen will oder muß. Die möglichen Tröstungen, die man an einen einzelnen oder eine Gruppe richten kann, sind selbst bei aller scholastischen Lust an Unterteilungen und Ableitungen, die die Rhetorik entwickelte,2 beschränkt. Vor allem laufen die tröstenden Worte stets Gefahr, abgedroschen zu klingen, als bloße rhetorische, popularphilosophische Versatzstücke zu erscheinen. „Ich weiß, daß das, was ich noch anfügen will, abgedroschen ist. Aber trotzdem möchte ich es nicht deshalb auslassen, weil es bereits von allen gesagt worden ist“ schreibt 1

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Im folgenden als Epist. abgekürzt: „Sed etiam si omnia a veteribus inventa sunt, hoc semper novum erit, usus et inventorum ab aliis scientia ac dispositio. /…/ Animi remedia inventa sunt ab antiquis; qomodo autem admoveantur aut quando nostri operis est quaerere. Multum egerunt qui ante nos fuerunt, sed non peregerunt.“ Die Übersetzungen stammen, wenn nicht anders vermerkt, vom Verfasser. Man vgl. den Überblick über die Trostgründe bei Horst-Theodor Johann: Trauer und Trost. Eine quellen- und strukturanalytische Untersuchung der philosophischen Trostschriften ber den Tod, München 1968, S. 5 – 7.

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Seneca.3 Ein tröstender Zuspruch kann, wenn er nicht im persönlichen Gespräch, sondern schriftlich vorgebracht wird, distanziert, rhetorisch, formal und nicht ernst gemeint wirken und geradezu zum Gegenteil des Bezweckten führen, zur Verhärtung dessen, den man trösten will. Er kann bewirken, daß der, dem Trost gespendet werden soll, sich den gutgemeinten Worten verschließt. Cicero, selbst ein routinierter consolator in der Krise der römischen Republik in den Jahren 46 – 44 v. Chr., gesteht seinem Freund Atticus resigniert ein, daß all die von den Philosophen entwickelten Trostgründe einen wirklich verzweifelten Menschen wie ihn nach dem Tod seiner innig geliebten Tochter Tullia nicht helfen. Im März 45 (ad Atticum XII 13, 1) schreibt er über Brutus’ Kondolenzschreiben: „Brutus’ Brief ist voller Verstand und mit Freundschaft geschrieben, trotzdem hat er mich in Tränen ausbrechen lassen.“4 Und kurze Zeit später erwähnt er Brutus’ Kondolenzschreiben noch einmal (ad Atticum XII 14, 4): „Über Brutus’ Brief an mich habe ich Dir schon geschrieben: voller Verstand verfaßt, aber ohne daß es mir hätte helfen können“.5 Trost – so Cicero refrainartig in den Briefen des Frühjahr 45 – könnte nur der persönliche Umgang, das persönliche Gespräch mit dem Freund bringen (z. B. ad Atticum XII 16, 1).6 Kehren wir nochmals zu Senecas 64. Lucilius-Brief zurück, der in typisch senecanischer brevitas die Besonderheiten der philosophischrhetorischen Trostschriften herausstreicht: Da die einzelnen Trostgründe begrenzt sind, wird man alles in der älteren Literatur vorfinden. Die Kunst des philosophischen Psychotherapeuten besteht darin, die Anwendungsmöglichkeiten der Topoi, den richtigen Zeitpunkt, wann welches Argument und welche Methode eingesetzt werden muß, und die Reihenfolge der einzelnen Trostgründe auf der Basis der profunden Kenntnis der älteren Literatur zu bestimmen.7 Dabei ist – ganz im Sinne 3 4 5 6

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Epist. 63, 12: „Scio pertritum iam hoc esse quod adiecturus sum, non ideo tamen praetermittam quia ab omnibus dictum est.“ „Bruti litterae scriptae et prudenter et amice multas mihi tamen lacrimas attulerunt.“ „De Bruti ad me litteris scripsi ad te antea. Prudenter scriptae, sed nihil quod me adiuvaret.“ „Te tuis negotiis relictis nolo ad me venire; ego potius accedam, si diutius impediere. Etsi discessissem quidem e conspectu tuo, nisi me plane nihil ulla res adiuvaret. Quod si esset aliquod levamen, id esset in te uno, et cum primum ab aliquo poterit esse, a te erit.“ Der Consolator folgt also ganz der rhetorischen Grundregel: Quis quid ubi quibus auxiliis cur quomodo quando.

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der Affektenlehre des 2. Buchs der aristotelischen Rhetorik – genau der Adressat zu beachten: seine Herkunft und sein Status, sein Geschlecht und seine Bildung sowie sein Alter. Senecas Aussage, man finde alles Wesentliche bereits bei den Alten, wird durch einen kurzen Blick in die griechische Literatur der archaischen und klassischen Zeit bestätigt. Vor dem Hintergrund der Trostliteratur der vorhellenistischen Literatur läßt sich die Besonderheit der Konsolationstheorie und -literatur der hellenistischen und römischen Zeit klarer darstellen.8

II. Eine tröstende, mit Tadel (xºcor) verbundene Selbstanrede findet sich bereits zu Beginn der griechischen Literatur, in Homers Odyssee (XX 18 – 20). Angesichts des unverschämten, ihn entehrenden Treibens der Freier am Königshof in Ithaka dämpft Odysseus den aufflammenden Zorn; er bringt sein bellendes Herz (XX 13 jqad¸g d´ oR 5mdom qk²jtei) zum Verstummen: Er schlug an die Brust und tadelte sein Herz mit folgenden Worten: ,Halt aus, mein Herz. Schon Hündischeres hast du einst ertragen, an dem Tag, als der ungestüme Kyklop mir die wackeren Gefährten fraß. Du aber hieltest es aus, bis deine Intelligenz dich aus der Höhle hinausbrachte, obwohl du doch meintest, es nicht zu überleben.‘9

Die Erinnerung an eine noch entwürdigendere, noch ausweglosere Situation, die Odysseus überstanden hat, soll auch dieses Mal den Helden das Ertragen der Erniedrigungen möglich machen. Es liegt – in den Termini technici der Consolationsliteratur späterer Zeiten – ein exemplum constantiae in Verbindung mit einem exemplum miseriae vor: standhaft und unerschütterlich zu bleiben, indem man sich eine noch schlimmere Situation vor Augen stellt. In der hellenistischen Philosophie werden sich diese Trostgründe zu umfangreichen Katalogen auswachsen. Wichtiger ist allerdings, daß in diesen Versen die 8 9

Vgl. auch den kurzen Überblick bei Traudel Stork: Nil igitur mors est ad nos. Der Schlußteil des dritten Lukrezbuches und sein Verhltnis zur Konsolationsliteratur, Bonn 1970, S. 9 – 22. t´tkahi d¶% jqad¸g7ja· j¼mteqom %kko pot’ 5tkgr% / Elati t`% fte loi l´mor %swetor Eshie J¼jkyx / Qvh¸lour 2t²qour7 s» d’ 1tºklar% evqa se l/tir / 1n²cac’ 1n %mtqoio azºlemom ham´eshai.

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Vernunft, die vernünftige Erwägung – anachronistisch könnte man durchaus den platonischen Begriff des Hegemonikon verwenden – die Emotionen, die Wut und Verzweiflung, dämpft.10 In einem textkritisch nicht einfachen Fragment des Archilochos werden Eigentrost und Selbstparänese weiterentwickelt (Fr. 128 West).11 Das poetische Ich ermuntert sein Herz (hulºr), das in ausweglosem Leid von Panik ergriffen ist,12 auszuhalten und den Kampf aufzunehmen. Es folgt, von der aktuellen Situation ausgehend, die allgemeine Ermahnung, weder im Sieg noch in der Niederlage das rechte Maß zu verlieren, sich zwar an Erfreulichem zu freuen, im Unglück aber nicht die Ruhe zu verlieren,13 sondern stets zu berücksichtigen, welcher Fluß, welcher Rhythmus die Menschheit gefangen halte. Das individuelle Schicksal wird also vor dem Hintergrund der condicio humana erklärt. Der ständige Wechsel von Glück und Unglück im menschlichen Leben, die ,Kontingenzerfahrung‘, führt zur Erkenntnis, immer das rechte Maß wahren und in Schmerz wie Freude seine Affekte kontrollieren zu müssen. Ein später Nachhall unter parodistischen Vorzeichen findet sich in Catulls 8. Gedicht.14 Die konsolatorische Eigentherapie, die in der Odyssee und bei Archilochos vorliegt, beschreibt Cicero – mit Odysseus als exemplum – in Tusculanen II 51 f.: Die Vernunft soll dem untergeordneten Teil wie ein gerechter Vater den Söhnen Befehle geben; „mit einem bloßem Wink wird sie durchsetzen, was sie will, ohne Anstrengung, ohne Mühe; sie wird sich selbst aufrichten, aufmuntern, rüsten, wappnen, um 10 Vgl. Joseph Russo: A commentary on Homer’s Odyssey, Vol. III, Oxford 1992, S. 109 (zu V. 18 – 24); R.B. Rutherford: Homer, Odyssey, books XIX and XX, Cambridge 1992, S. 205: „Odysseus draws strength from his past experiences and successes“. 11 Iambi et elegi Graeci ante Alexandrum cantati, ed. Martin L. West, Vol. I, Oxford 1971: hul´% h¼l’% !lgw²moisi j¶desim juj¾leme% / †!madeu duslem_m† d’ !k´neo pqosbak½m 1mamt¸om / st´qmom †1mdojoisim 1whq_m pkgs¸om jatastahe·r / !svak´yr7 ja· l¶te mij´ym !lv²dgm !c²kkeo% / lgd³ mijghe·r 1m oUjyi jatapes½m ad¼qeo% / !kk± waqto?s¸m te wa?qe ja· jajo?sim !sw²ka / lµ k¸gm% c¸mysje d’ oXor Nusl¹r !mhq¾pour 5wei. 12 Zu juj²y in diesem Sinne vgl. Homer: Ilias XI 129 und öfter. 13 !sw²kky, gebildet aus swok¶ (Ruhe, Muße) mit a-privativum. 14 Vor allem in V.11 („sed obstinata mente perfer, obdura“) und im Schlußvers („at tu, Catulle, destinatus obdura“) klingt nach der Erinnerung an die schönen und schlechten Tage die Konsolationstopik nach, wie wir sie bei Homer und Archilochos vorfinden; der zeitgenössische Rezipient von Catulls Hinkiamben hörte sicherlich auch die Konsolationstopoi der hellenistischen Philosophie mit.

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dem Schmerz wie einem Feind entgegenzutreten. Was sind dies für Waffen? Anspannung, Bestärkung und das innere Selbstgespräch: ,Hüte dich, etwas Unehrenhaftes, Schlaffes, Unmännliches zu tun!‘15 Eine Fundgrube konsolatorischer Topoi sind die euripideischen Tragödien, die spätere Konsolatoren gerne als Steinbruch für ihre Schriften ausplünderten. So zitiert Poseidonios gegen Chrysipps16 Auffassung fünf Verse aus dem 1. Phrixos des Euripides, die Cicero in Tusculanen III 67 übersetzt,17 als Beleg dafür, daß dauerndes Leid den Menschen gegen neue Leiden immun mache (Fr. 818c TrGF):18 Wenn mein Unglück an diesem Tag begonnen hätte und ich nicht schon lange auf der See der Leiden segelte, wäre es natürlich, wenn ich mich ungestüm sträubte wie ein junges Pferd, dem man eben den Zügel abgelegt hat. Jetzt aber bin ich abgestumpft und ans Unglück gewöhnt.19

In einem ebenfalls von Poseidonios zitierten und von Cicero, Tusculanen III 29, übersetzten Euripides-Fragment (964 TrGF) meint man, die stoische praemeditatio futurorum malorum in Verbindung mit einem Katalog möglicher Konsolationsanlässe zu hören20 – die vollständige Liste gibt Cicero in Tusculanen III 81 –,21 und in Fr. 965 TrGF wird dazu aufgefordert, sich der Notwendigkeit zu fügen.22

15 „nutu, quod volet, conficiet, nullo labore, nulla molestia; eriget ipse se, suscitabit, instruet, armabit, ut tamquam hosti sic obsistat dolori. quae sunt ista arma? Contentio, confirmatio sermoque intumus, cum ipse secum: ,cave turpe quicquam, languidum, non virile.‘“ 16 Auf Chrysipp geht vermutlich die stoische Praxis zurück, philosophische Theoreme mit Dichterworten zu unterstreichen. 17 „Si mihi nunc tristis primum inluxisset dies / Nec tam aerumnoso navigassem salo, / Esset dolendi causa, ut iniecto eculei / Freno repente tactu exagitantur novo; / Sed iam subactus miseriis optorpui.“ Zur consuetudo laborum vgl. auch Cicero: Tusc. II 38 ff. 18 Tragicorum Graecorum fragmenta (TrGF), ed. Richard Kannicht, Vol. 5. 2, Göttingen 2004. 19 Übersetzung Gustav Adolf Seeck: Euripides, Fragmente, Der Kyklop, Rhesos (Sämtliche Tragödien und Fragmente Bd. VI), München 1981, S. 367). 20 „Ich aber lernte von einem klugen Mann und verlegte mein Denken auf Sorgen und Unglücksfälle, und ich stattete mich aus mit Verbannung aus der Heimat, unzeitigem Tod und anderen Pfaden des Unglücks; denn wenn mir wirklich etwas von dem zustieße, was ich mir in Gedanken vorgestellt hatte, sollte mir nichts Neues geschehen können und mir besondere Schmerzen zufügen.“ (Übersetzung Seeck, s. o. Anm. 19, S. 411). 21 „Sunt enim certa, quae de paupertate certa, quae de vita inhonorata et ingloria dici soleant; seperatim certae scholae sunt de exilio, de interitu patriae, de

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Auf psychotherapeutische Dialoge, wie man sie in Senecas Briefen oder seiner Schrift De remediis fortuitorum wiederfinden wird, trifft man in Euripides’ Alkestis: die sich für ihren Mann opfernde Alkestis tröstet Admet mit dem Argument „Die Zeit lindert den Schmerz; wer gestorben ist, ist nichts“ (360). Der Chorführer verweist den verzweifelten Admet nach dem Tod seiner Frau auf die condicio humana (416 – 419): Admet, du mußt dieses Unglück ertragen: Denn du bist nicht der erste noch der letzte Mensch, der eine gute Frau verloren hat. Wisse, daß uns allen bestimmt ist zu sterben.

Admet reagiert auf den tröstenden Zuspruch mit dem Hinweis, daß ihn die Plötzlichkeit, mit der das Unglück über ihn hereingebrochen sei, aus der Fassung bringe. In einem emotional aufgewühlten Wechselgesang werden nochmals die Trostgründe durchgespielt (889 ff.): das Schicksal ist nicht zu bezwingen, auch Schmerz und Trauer müssen ihre Grenzen haben, du hast nicht als erster eine Frau verloren. Als positives Exempel für constantia im Unglück angesichts einer mors immatura führt der Chor einen Verwandten an, der seinen einzigen Sohn verlor und trotzdem Fassung bewahrte (911 ff.), verweist darauf, daß Admet auf der Höhe des Glücks ohne Erfahrung im Leid (927 !peiqºjajor) das Schicksal ereilt habe, und beschließt seinen Trost mit einem nochmaligen Hinweis auf die condicio humana (930 – 934 t¸ m´om ; „Was ist dir Neues widerfahren, was vor dir nicht schon viele andere durchlitten haben?“). Als letzter consolator Admets betätigt sich Herakles (1076 – 1086) – die Verse 1079 f. und 1085 der Alkestis wurden wiederum von Chrysipp zitiert: Her. Übertreibe nicht, sondern trage es mit Anstand. Ad. Es ist leichter zu trösten als durchzuhalten, wenn man ein Leid erfahren hat. Her. Was hast du denn einen Vorteil davon,23 wenn du immer klagen willst? Ad. Keinen, das ist mir auch selbst klar, aber trotzdem treibt mich ein Verlangen dazu. servitute, de debilitate, de caecitate, de omni casu, in quo nomen poni solet calamitatis. Haec Graeci in singulas scholas et in singulos libros dispertiunt.“ 22 „Wer sich aber dem Zwang der Notwendigkeit fügt, der ist weise in menschlichen Dingen und versteht sich auf das Göttliche.“ 23 Im Griechischen steht der spätere stoische terminus technicus pqojºpteim. Der Prokopton (pqojºptym) ist der Mensch, der Fortschritte auf dem Weg zur Weisheit macht.

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/…/ Her. Zeit wird das Leid lindern, jetzt aber ist es noch frisch.

Die Auswahl an Texten der archaischen und klassischen Zeit verdeutlicht eindrucksvoll die Präsenz konsolatorischer Praxis in der griechischen Literatur als Widerspiegelung des lebensweltlichen Umgangs mit Trauer und Trost. Die Trostgründe späterer consolationes finden sich bereits komplett in den frühen Zeugnissen. Selbst theoretische Reflexionen lassen sich lange vor der hellenistischen Philosophie nachweisen. Es gilt, die der sozialen Stellung, dem Alter und Geschlecht des consolandus gemäßen Argumente vorzubringen; Thukydides im Epitaphios, in der an das Kollektiv gerichteten Trostrede des Perikles, nimmt eine Untergliederung der Adressaten in das gesamte Volk sowie die Eltern, Kinder, Brüder und Frauen der Gefallenen vor (II 35 ff.). Die Affekte können rational bezwungen oder eingedämmt werden – entweder auf dem Weg allgemeiner theologisch-popularphilosophischer Erwägungen oder durch den Hinweis auf exempla sowohl miseriarum als auch constantiae. Daß gerade die euripideischen Tragödien zahlreiche Reflexe konsolatorischer Praxis aufweisen, läßt sich aus dem Einfluß der zeitgenössischen Rhetorik erklären, in der intensiv die affektauslösenden wie -beseitigenden Wirkungen des Logos, der Rede, diskutiert wurde. In der Helena (8) schreibt Gorgias, der Logos, obwohl mit einem unscheinbaren Körper ausgestattet, sei trotzdem als gewaltiger Herrscher in der Lage, Furcht zu beenden und Trauer zu beseitigen und Freude zu bewirken und Mitleid wachsen zu lassen. Den Rezipienten überkomme, wenn er eine kunstvolle Rede höre, Schauder voller Furcht, Mitleid unter Tränen und Sehnsucht voller Leid. Das heißt: eine mit den Mitteln der sophistischen Rhetorik gestaltete Rede übt eine unmittelbare Wirkung auf die menschlichen Affekte aus; sie hat in Gorgias’ Theorie eine magische oder medizinische Wirkung. Wie Medizin Säfte aus dem Körper treibt, so ist der Logos imstande, zu betrüben und zu erfreuen, Angst und Zuversicht einzuflößen.24 Der Logos spricht nicht die Ratio des Menschen an, sondern das Unbewußte, die Affekte 24 Vgl. dazu Fritz Wehrli: Ethik und Medizin. Zur Vorgeschichte der aristotelischen Mesonlehre, in: Museum Helveticum 8, 1951, S. 50 – 62. Zu den magischen Wurzeln vgl. Pedro Lain-Entraldo: Die platonische Rationalisierung der Besprechung (EPYIDG) und die Erfindung der Psychotherapie durch das Wort, in: Hermes 86, 1958, S. 298 – 323.

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(xuw/r "qlat¶lata, „Fehlleistungen der Seele“) und die unreflektierten Vorstellungen und Vorurteile (dºngr !pat¶lata). Gorgias’ Zeitgenosse Antiphon25 soll nach einem späten Zeugnis ein psychologisches Handbuch der Trauervermeidung (t´wmg !kup¸ar) verfaßt haben. In einem Haus in Korinth habe er Menschen mit psychischen Problemen Gesprächstherapie angeboten, Diagnostik betrieben und Rat gegeben. Werbung habe er mit dem Titel mgpemhe?r !jqo²seir getrieben, „Vorlesungen, die die Sorgen vergessen machen“. Das Adjektiv ist ein deutlicher Hinweis auf die Droge, die Helena in Homers Odyssee IV 221 einnimmt, um ihre Sorgen zu vergessen.

III. Aus diesen Entwicklungslinien der Consolatio, den popularphilosophischen und lebensweltlichen Trostgründen und der sophistischen Logos- und Affekttheorie, die dezidiert irrationale und manipulierbare Kräfte im Menschen voraussetzt, läßt sich die peripatetische Jonsolationsliteratur erklären, vor allem Krantors nicht erhaltenes, viel zitiertes Werk Peq· p´mhour, ein Bestseller der antiken Trostliteratur.26 Cicero, Lucullus 135, zitiert die Anweisung des Panaitios an Tubero, er solle Krantors Büchlein auswendig lernen, in dem den Emotionen (permotiones) eine natürliche Ursache zugebilligt und das rechte Maß im Umgang mit ihnen (mediocritas, letqiop²heia) vertreten werde.27 Die aristotelisch-peripatetische Auffassung von Trauerarbeit setzt nach dem im 2. Buch der aristotelischen Rhetorik entwickelten Schema voraus, daß Logoi – ganz in Gorgias’ Sinne – einen Zugang zum Irrationalen haben und positive wie negative Folgen zeitigen können. Im Gegensatz dazu kennt die Stoa aufgrund ihrer Auffassung vom Menschen als Vernunftwesen – jedenfalls nach den vorhandenen Zeugnissen und Testimonien – keine Affekte und Bestrebungen, Handlungsimpulse (bqla¸), die ohne die Vernunft, ohne den Logos, zustande kommen. Affekte sind nach der stoischen Lehre nicht irrationale, dem Logos 25 87 A 6 in: Die Fragmente der Vorsokratiker, hg. von Hermann Diels und Walther Kranz 2. Bd., Berlin 61952, S. 336 f. 26 Vgl. Diogenes Laertios IV 27. 27 „Mediocritates illi probabant et in omni permotione naturalem volebant esse quendam modum. Legimus omnes Crantoris veteris Academici de luctu; est enim non magnus verum aureolus et ut Tuberoni Panaetius praecipit ad verbum ediscendus libellus.“

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entzogene Impulse, sondern eine „Perversion der Vernunft selbst“, eine „Selbstverkehrung des Logos bzw. des Hegemonikon“.28 Im Pathos, „im Affekt verändert und entäußert sich die Vernunft selbst zu einer naturalen Bewegung, die von Vernunft selbst nicht mehr gesteuert oder zurückgenommen werden kann. Der Mensch pervertiert sein Wesen, d.h. er verhält sich so, als ob er nicht Mensch wäre.“29 Alle Affekte, das Tetrachordon Lust, Begierde, Trauer und Angst, sind Krankheiten der Vernunft. Sie gehören dem Bereich der Dinge an, die nichts zum Glück des Menschen beitragen, zu den Adiaphora. Für den Menschen relevant werden sie dadurch, daß man aufgrund eines Denkfehlers Stellung zu ihnen bezieht und eine Beziehung zu ihnen herstellt, also ,Angst vor etwas‘ oder ,Lust auf etwas‘ hat.30 Adressat der stoischen Seelenführung ist der pqojºptym, der, „der auf dem Weg zur Weisheit Fortschritte macht“, da der Weise affektfrei ist.31 Ziel ist es, den Menschen durch rationale Argumentation und Tadel, durch die Widerlegung falscher Meinungen und die Aufzählung positiver Beispiele, die sich im Leid durch constantia animi auszeichneten, von seiner selbstverschuldeten Affekthörigkeit zu heilen und zur Freiheit von Affekten ( !p²heia) zu bringen.32 Die Ursache für Trauer, vor allem für die affektierte Zurschaustellung von Trauer, sieht Chrysipp in dem Irrglauben des Menschen, daß es sich zu trauern gehöre, da die pietas es verlange.33 Es versteht sich von selbst, daß die orthodox stoische Haltung, der häufig der Vorwurf der Härte und Unmenschlichkeit entgegenschlug, in der konsolatorischen Praxis höchstens als Ideal dem Trauernden vor Augen gestellt, niemand aber ernsthaft als Ausweg aus Leid angeraten werden kann.34 So schreibt Seneca, um nur ein Beispiel zu zitieren (Epist. 63, 1), in der popularphilosophischen, ganz und gar unstoischen 28 Maximilian Forschner: Die stoische Ethik, Darmstadt 21995, S. 122. Vgl. auch die Beiträge in dem Sammelband Zur Ethik der lteren Stoa, hg. von Barbara Guckes, Göttingen 2004. 29 Forschner (wie Anm. 28), S. 123. 30 Forschner (wie Anm. 28), S. 136. 31 Vgl. z. B. Cicero: Lucullus 135: Für den Weisen gilt: „praeter honestum nihil est in bonis“. 32 Man vgl. die in Stoicorum veterum fragmenta (SVF), ed. Ioannes ab Arnim, Vol. III, Leipzig 1903 (Stuttgart 1964), S. 108 – 110, zusammengestellten Belege. 33 Vgl. Cicero: Tusc. III 61; Seneca: Epist. 63, 2; 99, 16 f.; consolatio ad Marciam 7, 2; de tranquillitate animi 15, 6). 34 Vgl. Seneca: Epist. 63, 1; consolatio ad Polybium 18, 5; ad Marciam 4, 1. Vgl. Anna Lydia Motto: Seneca on the perfection of the soul, in: The Classical Journal 51, 1956, S. 275 – 278.

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Tradition stehend, die dem maßvollen Trauern heilende Wirkung zuschreibt:35 Ich trage schwer daran, daß Flaccus, dein Freund, gestorben ist; daß du allerdings mehr trauerst, als angemessen ist, das will ich nicht. Daß du gar keine Trauer empfindest, das wage ich kaum zu fordern, auch wenn ich weiß, daß es besser wäre. Aber wer wird außer dem, der sich schon weit über das Schicksal erhoben hat, diese psychische Stärke (firmitas animi) besitzen?

Angesichts der Erschütterungen, die Menschen in seiner ganzen Existenz treffen, solle man – so der pragmatische Cicero – nicht auf die Herkunft der Theoreme achten, sondern nur darauf, was in der jeweiligen Lage nütze; denn „alius alio modo movetur“.36 Cicero selbst hat nach dem Zeugnis seiner Tusculanen III 76 alle möglichen Trostgründe in eine einzige Consolatio zusammengeworfen, um seine außer Kontrolle geratene Psyche zu beruhigen („erat enim in tumore animus“).

IV. In Tusculanen III 77 gibt Cicero dem künftigen consolator, der die philosophia als medicina animi gemäß dem programmatischen Proömium (III 1) ausüben will, die Gliederung (dispositio) vor, die man bei einer Consolatio einhalten muß: Es wird also bei Trostschriften das erste Heilmittel darin bestehen aufzuzeigen, daß es kein Übel sei oder nur ein ganz kleines, das zweite, sowohl über die allgemeine Situation des Menschen als auch über den speziellen Fall zu sprechen, wenn es denn etwas gibt, was man über das Leben des Trauernden ausführen könnte, das dritte schließlich, daß es größte Dummheit sei, sich ohne Sinn in Trauer aufzureiben, obwohl man doch einsieht, daß es nichts nütze.

35 Vgl. Johann (wie Anm. 2), S. 44. Vgl. vor allem Hans-Herwarth Studnik: Die consolatio mortis in Senecas Briefen, Diss. Köln 1958. 36 Ähnlich praxisorientiert geht Plutarch in seinen psychotherapeutischen Schriften vor (De cohibenda ira, De garrulitate; De curiositate, De vitioso pudore, De laude ipsius). „Plutarch hat sich um die beste Therapieform bemüht. Die Stellung von mentaler und praktischer Therapie und das Verhältnis der praktischen Formen zueinander änderte sich von Schrift zu Schrift“ (Heinz Gerd Innenkamp: Plutarchs Schriften ber die Heilung der Seele, Göttingen 1971, S. 145).

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Ein Blick in die zahlreichen Kondolenz- und Trostschreiben Ciceros der Jahre 46 und 45 macht deutlich, daß Cicero dieses Schema – mit leichten Variationen und auf den Adressaten abgestimmt – konsequent durchhält. Aus der Vielzahl von Briefen sei das Schreiben an Decimus Titius (Frühjahr 46) vorgestellt (ad familiares V 16). Titius hatte im Bürgerkrieg beide Söhne, die auf Seiten des Pompeius kämpften, verloren; das Thema ist also de immatura morte. Die Eröffnung ist topisch: Cicero als consolator ist genauso des Trostes bedürftig wie der consolandus. Trotzdem nimmt er das officium consolandi auf sich, das darin besteht, den Schmerz entweder zu lindern (peripatetische Metriopathie) oder gar ganz zu beseitigen (stoische Apathie). Nach einer Praeteritio der üblicherweise vorgebrachten Trostgründe („consolationes pervulgatae“) führt er als eigentlich tröstendes Argument an, daß angesichts der verworrenen politischen Situation diejenigen als am glücklichsten zu preisen seien, die gar keine Kinder hätten, etwas weniger glücklich immerhin die, die sie rechtzeitig vor dem Zusammenbruch verloren hätten. Nach der schlagwortartigen Auflistung der mit der condicio humana zusammenhängenden Argumente folgt eine kurze Hinwendung an den Adressaten: Die Sehnsucht nach den Söhnen und der Kummer angesichts der eigenen Einsamkeit ließen sich nicht so leicht auslöschen; was jedoch das Schicksal der Söhne nach ihrem Tod angehe, darüber brauche sich Titius nicht zu grämen. Es folgen die bekannten Argumente de morte, an die sich nochmals die Glückseligpreisung derer anschließt, die in der derzeitigen politischen Lage rechtzeitig gestorben sind. Der Brief schließt mit dem Tadel des Adressaten: Der selbstbezogene Schmerz, die Wehleidigkeit passe gar nicht zur gravitas, constantia und sapientia des Titius. Deshalb solle er nicht abwarten, bis die Zeit den Schmerz lindere, sondern durch die eigene Vernunft vorwegnehmen, was die Zeit über kurz oder lang ohnehin erledige. Aus jeder Zeile des Briefes spürt man das Unbehagen des consolator, der sich, wie die beiden praeteritiones unterstreichen, vollkommen der Floskelhaftigkeit seiner Argumente gegen die Trauer bewußt ist. Die Trostgründe stoischer wie peripatetischer Provenienz werden abgespult und in diesem wie in anderen Schreiben dieser Jahre durch die Einbettung der Argumente in die politische Situation ergänzt: Besser ist es, tot zu sein, als dieses Chaos erleben zu müssen. Das politische Argument tritt an die Stelle der historischen oder mythologischen Exempla für die glückliche mors immatura wie z. B. der Geschichte von Kleobis und Biton.

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Die Wirkungslosigkeit derartiger Trostschreiben mußte Cicero ein Jahr später am eigenen Leibe nach dem Tod seiner Tochter Tullia erleben. Erhalten ist die Consolatio des Servius Sulpicius (ad familiares IV 5) an Cicero, der zwar auch die Topoi der Konsolationspraxis durchspielt, aber Ciceros scholastischen Ton vermeidet und in der Erörterung der condicio humana einen autobiographischen Abschnitt einfügt: Als er kürzlich von Aigina nach Megara gesegelt sei, habe ihm der Anblick der daniederliegenden, einst blühenden Städte drastisch vor Augen geführt, wie undankbar wir Menschlein seien, wenn wir unser kleines Unglück angesichts der Trümmer einstiger Größe bejammerten. Es nimmt nicht Wunder, daß diesem Brief eine große Nachwirkung zuteil wurde, bei Lord Byron (Child Harold II 3, IV 44), Jean Paul (Titan), Laurence Sterne (Tristam ShandyV 3) und Montaigne (Penses I 20).37 Der Erfolg bleibt aus: Cicero (ad Atticum XII 14, 3) kann in all den konsolatorischen Schriften und Briefen seiner Bekannten keinen Trost finden. In seiner selbstgewählten Isolation in Asturia – in ad Atticum XII 15 ist der dichte und rauhe Wald bildlicher Ausdruck seiner seelischen Verfassung – findet er Trost allein in der Literatur, mit der er Zwiegespräch hält (XII 15 „in ea mihi omnis sermo est cum litteris“), und in seinem manischen Schreibzwang, zuerst in der an sich gerichteten Consolatio, als deren Erfinder er sich stolz hinstellt, und dann im Projekt der enzyklopädischen Darstellung der griechischen Philosophie in römischem Gewande.38 Er schreibt sich den Schmerz von der Seele. Ovid in den Tristien und Epistulae ex Ponto wird dieses Motiv breit ausführen. In seiner Autobiographie in Tristien IV 10 nimmt die Muse die Stelle ein, die bei Cicero die Philosophie innehat.39 Die Atticus-Briefe der folgenden Monate durchzieht als idée fixe das Tempelchen (fanum), das er als eine der Zeit entzogene (ad Atticum XII 19) Erinnerungsstätte seiner Tochter errichten will und dessen Planung allein ihm Trost verschafft. Sich seines unphilosophischen Vorhabens vollkommen bewußt, durchforstet Cicero die griechischrömische Literatur nach sein Vorhaben stützenden Belegen (ad Atticum XII 18, 1); aber er kann nicht ausschließen, daß die Durchführung des 37 Vgl. Rudolf Kassel: Untersuchungen zur griechischen und rçmischen Konsolationsliteratur, München 1958, S. 98 – 103. 38 ad Atticum XIII 26, 2 „Equidem credibile non est quantum scribam, quin etiam noctibus, nihil enim somni.“ 39 Dies wird besonders deutlich durch die hymnischen Passagen in Cicero: Tusc. V 2, 5 und Ovid: Tristien IV 10, 117 – 122. Vgl. besonders „o vitae philosophia dux“ (Cicero) mit „tu dux et comes es“ (Ovid).

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Bauvorhabens die Wunde wieder aufreißen könnte (ad Atticum XII 18, 1). Weder seine dignitas noch auctoritas als Consular, an die ihn Sulpicius und andere erinnern, noch die praecepta sapientiae können ihn von der Trauer ablenken: Er ist erledigt; die schwärende Wunde, die seine Isolierung und seine politische, von ihm stets verdrängte Ohnmacht ihm geschlagen hatte und die nach der Konsolationsterminologie nie wirklich geheilt, sondern immer frisch (recens) geblieben war, ist durch den neuen Schlag um so tiefer aufgebrochen.40 Kein einziges remedium doloris wirkt: So wird die Erinnerung an die Tote, die nach Attalos, Senecas Lehrer, ein ckuj¼pijqom, eine Mischung von Süßem und Bitterem, ist,41 zur Qual; die Erinnerung an die mit der Tochter verbrachte Zeit, an die Gespräche mit ihr, die nach Seneca trostbringend sind (Epist. 99, 23 f.), führen genau zum Gegenteil.42 Verzweifelt beharrt er darauf, Schmerz empfinden zu dürfen,43 und stellt resigniert fest, daß für ihn die praecepta sapientiae kein Hilfe darstellen (ad Atticum XII 46), sondern eher das Gegenteil bei ihm bewirkt haben. Denn er wäre wohl besser gegen die Schicksalsschläge gewappnet, wenn er nicht die Theorie der philosophischen Consolatio so gut beherrschte.44 Nur die Zeit, nicht die ratio wird diesen Schmerz lindern. Während Cicero bei der praktischen Bewährung (probatio) seiner philosophischen Überzeugungen scheitert, zeigt Seneca in Tacitus’ Schilderung (Annalen XV 60 – 64), wie ein stoischer Philosoph sich angesichts des nahen, erzwungenen Todes verhält.45

40 ad Atticum XII 23, 1: „Occidimus, occidimus, Attice, iam pridem nos quidem, sed nunc fatemur, postea quam unum quo tenebamur amisimus.“ 41 Seneca, Epist. 99, 19: „inest quiddam dulce tristitiae“; Epist. 63, 5 – 7. 42 ad Atticum XII, 18, 1: „Dum recordationes fugio quae quasi morsu quodam dolorem efficiunt, refugio ad te admonendum.“ 43 ad Atticum XII 28, 2 „maerorem minui, dolorem nec potui nec, si possem, vellem.“ 44 ad Atticum XII 46: „Quid ergo? inquies, nihil litterae? In hac quidem re vereor ne etiam contra; nam essem fortasse durior. Exculto enim animo nihil agreste, nihil inhumanum est.“ 45 Vgl. dazu meinen Beitrag „Der Tod des Philosophen Seneca“ in diesem Band.

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V. Die pagane Konsolationstheorie und -praxis übte eine enorme Wirkung auf spätantike christliche Autoren aus.46 Die Briefe und Predigten des Ambrosius47 und vor allem des Hieronymus, des Cicero Christianus, belegen die Bedeutung konsolatorischer Praxis in der Seelsorge. Wie ein stoischer Philosoph versteht sich der Seelsorger Hieronymus als Seelenarzt, der den Schmerz des Trauernden lindert48 und deshalb nicht selbst vom Affekt der Trauer überwältigt werden sollte, obwohl dies kaum menschenmöglich ist.49 Wie Cicero läßt auch ihn bisweilen die Trauer die von den Rednern zur Verfügung gestellten Trostgründe, selbst den den rhetorischen Vorschriften entsprechenden Aufbau eines tröstenden Briefes vergessen.50 Hieronymus akzeptiert wie Seneca die heilende Wirkung der Tränen, solange die Wunde noch frisch ist (recens vulnus),51 zumal auch Jesus Lazarus, den er liebte, beweinte.52 Es muß jedoch das rechte Maß (modus) beachtet werden, übermäßiges Klagen und Schreien ziemt sich nicht,53 zumal die Trauer nicht so sehr 46 Vgl. Charles Favez: La consolation latine chrtienne, Paris 1937; Forschungsüberblick bei Peter von Moos: Consolatio. Studien zur mittellateinischen Trostliteratur ber den Tod und zum Problem der christlichen Trauer, Bd. 1, München 1971, S. 17 – 32. Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, wenn die griechische Konsolationsliteratur einbezogen würde; vgl. dazu Jane F. Mitchell: Consolatory lettres in Basil and Gregory Nazianzen, in: Hermes 96, 1968, S. 299 – 318. 47 Zu Ambrosius’ konsolatorischer Praxis vgl. Yves-Marie Duval: Formes profanes et formes bibliques dans les oraisons funbres de Saint Ambroise, in: Christianisme et formes littraires de l’antiquit tardive en occident, Vandœuvres – Genève 1977, S. 235 – 291. Ambrosius’ Leichenreden, besonders De excessu fratris, übten einen enormen Einfluß auf die mittelalterliche Trostliteratur aus; vgl. von Moos (wie Anm. 46), Bd. 1, S. 47. 48 Epist. 50, 15: „Verum quid ago medens dolori …“ 49 Epist. 39, 2: „Non est optimus consolator quem proprii vincunt gemitus, cuius visceribus emollitis fracta in lacrimis verba desudant.“ 50 Epist. 60, 5 in der Form des Selbsttadels, einer Anrede seiner Seele: „Quid agimus, anima? Quo vertimus, quid primum adsumimus? Quid tacemus? Exciderunt tibi praecepta rhetorum et occupata luctu, oppressa lacrimis, praepedita singultibus dicendi ordinem non tenes!“ 51 Epist. 39, 5. 52 Epist. 39, 2: „Confiteor affectus meos, totus hic liber fletibus scribitur. Flevit Iesus Lazarum quia amabat eum.“ 53 Epist. 39, 5: „ignoscimus matris lacrimis, sed modum quaerimus in dolore.“ 39,6: „Detestandae sunt istae lacrimae plenae sacrilegio, incredulitate plenissimae, quae non habent modum, quae usque ad vicina mortis accedunt. Ululas et

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dem Verstorbenen gelte, vielmehr Selbstmitleid sei (Epist. 60, 7), und die Begräbnisriten nicht dem Toten, sondern eher dem Trost der Hinterbliebenen dienten (Epist. 66, 5). Doch da Zeit ohnehin den Schmerz lindere, sei es vernunftgemäßer, gleich von ihm zu lassen.54 Ganz der rhetorischen Theorie entsprechend, gilt es, für jeden individuellen Trauerfall die passenden Tröstungen, die sich in der Heiligen Schrift, aber auch bei den paganen Autoren finden, zusammenzustellen.55 Die Trostgründe Ciceros und Senecas sind bei Hieronymus ohne Ausnahme vorhanden:56 Reflexionen über die immatura mors (Epist. 39, 2), über die Nichtigkeit des Todes (Epist. 39, 3), die nicht mit philosophischen Theoremen, sondern mit dem Hinweis auf Matthaeus 9, 24 bewiesen wird, nach dem der Tod nur ein sanfter Schlaf ist (Epist. 60, 2),57 über die Rolle der Zeit und Vernunft (Epist. 39, 5; 60, 15; 66, 1), über die condicio humana (Epist. 39, 3; 60, 16;58 79, 10), über die Sinnlosigkeit aufwendiger Bestattungen (Epist. 39, 4; 66, 5) und über die Erinnerung als ein ambivalentes Mittel der Trauerbewältigung (Epist. 39, 5). Der Trost kann wie bei den paganen Autoren mit Tadel (obiurgatio) verbunden sein, wenn sich der Trauernde allzu sehr gehen läßt (Epist. 39, 3; 79, 8). Wie die stoischen Philosophen sieht auch Hieronymus das probate Mittel gegen Schmerz über den Verlust eines geliebten Menschen in der praemeditatio mortis (Epist. 60, 14; 79, 8) und in Exempla, die den Trauernden in seinem Schmerz aufrichten. Gerade in der tröstenden Funktion von Vorbildern, sieht man, daß nicht eine Imitatio der paganen Trostliteratur, sondern eine interpretatio christiana oder gar superatio der paganen Topoi vorliegt. Die paganen Exempla (illi), die Philosophen Zenon und Kleombrotos sowie das

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exclamitas, et quasi quibusdam facibus accensa, quantum in te es, tui semper homicida es.“ Vgl. 108, 29. Epist. 39, 5: „attamen, quod tempus mitigandum est, cur ratione non vincitur?“ Epist. 66, 1: „vulnus pectoris tui quod tempore et ratione curatum est.“ Epist. 75, 1: „Nunc mihi, fili Oceane, volenti et ultro adpetenti, debitum munus inponis, quo pro novitate virtutum, veterem materiam novam faciam. In illis enim vel parentis adfectus, vel maeror avunculi, vel desiderium mariti temperandum fuit; et pro diversitate personarum, diversa de Scripturis adhibenda medicina.“ Epist. 60, 5: „legimus Crantorem, cuius volumen ad confovendum dolorem suum secutus est Cicero, Platonis, Diogenis, Clitomachi, Carneadis, Posidonii ad sedandos lectus opuscula percurrimus.“ Ebenso findet sich der fictus interlocutor, dessen Einwände widerlegt werden. Vgl. Seneca: Epist. 99. Die als Beispiele angeführten einst mächtigen Städte, die heute darniederliegen, verweisen auf den Sulpicius-Brief (Cicero: ad familiares IV 5).

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Musterbeispiel der constantia animi, Cato,59 sind obsolet geworden und werden durch biblische Gestalten und christliche Märtyrer als Vorbilder ersetzt (Epist. 39, 3; 60, 5 f.; 77, 3). Der Verstorbene selbst wird für den trauernden Angehörigen zum exemplum (Epist. 39, 1; 60, 8; 75, 4; 77, 3 f.);60 er hat alle Eigenschaften des stoischen Weisen, da er dem Weltlichen entsagte (Epist. 39, 3),61 sich jeden Tag Rechenschaft über sein Leben gab (Epist. 79, 4) und den Tod gelassen ertrug (Epist. 60, 13). Doch im Gegensatz zur stoischen Lehre kann jeder gläubige Christ den Zustand völliger Gelassenheit, völligen Seelenfrieden finden, da er die Gewißheit hat, daß das Leben eine Wanderung (peregrinatio) in die ewige Glückseligkeit und der Tod den Durchgang darstellt (Epist. 39, 2 f.; 60, 13).62 Eine christliche, stark stoisch geprägte probatio schildert Augustinus im 9. Buch der Confessiones, in einer eindrucksvollen Selbstanalyse seines psychischen Zustandes nach dem Tod der geliebten Mutter. Er wird von einer übergroßen Traurigkeit übermannt (IX 12, 29 „premebam oculos eius, et confluebat in praecordia mea maestitudo ingens et transfluebat in lacrimas“), doch sein animus, sein Hegemonikon behält die Oberhand und trocknet die Augen („ibidemque oculi mei violento animi imperio resorbebant“), da für einen Christen sich Klagen und Seufzen nicht zieme, da seiner Mutter kein Leid widerfuhr. Augustinus analysiert seinen Schmerz und stellt fest, daß seine Trauer selbstbezogen ist, da die „consuetudo simul vivendi dulcissima et carissima“ jäh zerrissen und die Wunde noch zu frisch (vulnus recens) sei (IX 12, 30). Die Erinnerung an die letzten Gespräche mit Monnica verschafft ihm Trost. Immer wieder muß er sich wegen seiner Schwachheit anklagen und die Trauerwallungen bezwingen; das Hegemonikon, die Vernunft, setzt sich nur mit Mühe durch (IX 12, 31 „rursusque impetu suo ferebatur non usque ad eruptionem lacrimarum nec usque ad vultus mutationem, sed ego sciebam quid corde premerem“). Hinzu kommt der Schmerz, 59 Vgl. Seneca: De constantia sapientis 2. 60 Die meist ausführlichen laudes mortui sind nach dem Schema der paganen Biographien oder Nachrufe aufgebaut, nach denen sich die virtus eines Menschen in den natürlichen Anlagen und seinen Taten äußert. Vgl. Wilhelm Kierdorf: Laudatio funebris. Interpretationen und Untersuchungen zur Entwicklung der rçmischen Leichenrede, Meisenheim am Glan 1980. 61 Mit ihrem Eintritt ins Kloster läßt Blesilla alle Adiaphora hinter sich. 62 Das Motiv der peregrinatio verweist auf das stoische Paradigma Odysseus und auf den stoischen Prokopton, der sich auf dem Weg zur Vollkommenheit befindet.

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daß er die condicio humana nicht akzeptieren kann. Die Stelle des philosophischen consolator in der Rolle des Arztes der paganen Literatur nimmt bei dem Christen Augustinus Gott ein (IX 12, 32 „toto die graviter in occulto maestus eram et mente turbata rogabam te, ut poteram, quo sanares dolorem meum, nec faciebas, credo, commendans memoriae meae vel hoc uno documento omnis consuetudinis vinculum etiam adversus mentem, quae non fallaci verbo pascitur“; IX 13, 35 „exaudi me per medicinam vulnerorum nostrorum quae pependit in ligno“; X 3, 4 „medice meus intime“). Doch Gott hilft nicht, um Augustinus die Fesseln der Gewohnheit vor Augen zu führen. Auch ein Bad bringt keine Hilfe, der Schmerz läßt sich nicht wegschwitzen („neque enim exudavit de corde meo maeroris amaritudo“). Erst die Erinnerung an Ambrosius’ Verse „Deus, creator omnium /…/ Mentesque fessas allevet / Luctusque solvat anxios“ löst die Last der Trauer, läßt in der Erinnerung an die Mutter, im ckuj¼pijqom der recordatio, die Tränen fließen, nur vor Gott, nicht vor den Augen eines Menschen, der voller Arroganz sein Weinen als unchristliche Schwäche ausgelegt hätte („non cuiusquam hominis superbe interpretantis ploratum meum“). All die Topoi der ciceronianischen und senecanischen Trostschriften sind in diese Seiten eingewoben, um die Ablösung der paganen Trauerbewältigung durch das Christentum zu zeigen: Die tranquillitas animi wird jedem zuteil, der wie Augustinus zu Gott gefunden hat. Überspitzt könnte man sagen: die rigide, stoische Auffassung von consolatio – in der Erkenntnis der Wahrheit kann man Trauer nur als Verwirrung und Krankheit des Geistes ansehen – findet ihre Verwirklichung nicht in der paganen, sondern der christlichen Theorie und Praxis. Der wichtigste Vermittler zwischen paganer und neuplatonischchristlicher Konsolationsliteratur für das gesamte Mittelalter und noch darüber hinaus ist Boethius mit seiner 524 n. Chr. im Gefängnis vor seiner Hinrichtung verfaßten Consolatio Philosophiae. 63 Sie läßt die verschiedenen Traditionen64 der antiken Trostschriften erkennen. Wie dem eingekerkerten Sokrates in Platons Kriton (50a6 ff.) die personifi63 Einen erläuternden Überblick über den Inhalt bietet Olof Gigon: Boethius. Trost der Philosophie, Zürich 1973, S. XVIII – LXI. 64 Man sollte den Begriff ,Quellen’ vermeiden, da sich nirgendwo in der Schrift zeigen läßt, daß gerade ein bestimmter Passus eines Prätextes „die genaue und einzige Quelle und Vorlage für einen Abschnitt der Consolatio darstellt.“ ( Joachim Gruber: Kommentar zu Boethius de consolatione Philosophiae, Berlin – New York 2006 [2., erweiterte Auflage], S. 40 – 42).

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zierten Gesetze erscheinen, zeigt sich Boethius die Philosophie.65 Sie vertreibt die ebenfalls auftretenden „Bühnenhürchen“ (I 1, 7 „scaenicas meretriculas“) 66 vom Lager des sich in einer tiefen Depression (I 2, 5 „lethargum“) 67 befindenden Boethius, der sich nach dem Tod sehnt (I c. 1, 11 f., 20). In der Eingangsszene kommen besonders deutlich die Traditionsüberlagerungen zum Vorschein: Die Erwartung der Hinrichtung im Kerker stellt Boethius in eine Reihe mit Sokrates, der mit Hilfe der Philosophie „in ungerechtem Tod den Sieg errang“ (I 3, 9), und Seneca.68 Wie Hercules am Scheideweg in der durch Xenophons Memorabilien (II 1, 21 – 34) überlieferten Geschichte des Prodikos muß er sich zwischen zwei um ihn buhlenden Personifikationen entscheiden, den Musen und der Philosophie.69 Die am Anfang des Werks stehende Elegie weist unüberhörbar auf den primus inventor der Exildichtung, auf Ovid,70 der in Tomi am Schwarzen Meer Trost und Erleichterung allein in der Dichtung findet.71 Vor allem in Tristien IV 10, 117 f., in einer im Hymnenstil gehaltenen Anrufung der Musen, nimmt die 65 Das Erscheinen der Philosophie ist in der Topik göttlicher Epiphanien geschildert; vgl. Gruber (wie Anm. 54), S. 62 – 70. 66 Vgl. Gruber (wie Anm. 54), S. 72 zur Haltung der christlichen Autoren dem Schauspielwesen (spectacula) gegenüber. 67 Vgl. Gruber (wie Anm. 54), S. 97. 68 In I 3, 9 werden als Exempla Leute wie Canius, der unter Caligula hingerichtet wurde, Seneca und Soranus, der wie Seneca von Nero zum Selbstmord gezwungen wurde, genannt. „Boethius vergleicht sich also mit Männern, die fälschlich einer Verschwörung gegen den Kaiser angeklagt wurden.“ (Gruber [wie Anm. 54], S. 113). 69 Zu Hercules und Odysseus als stoischen mythologischen Paradigma neben dem historischen jüngeren Cato vgl. Seneca: De constantia sapientis 2, 1: „nullam enim sapientem nec iniuriam accipere nec contumeliam posse, Catonem autem certius exemplar sapientis viri nobis deos inmortales dedisse quam Ulixem et Herculem prioribus saeculis.“ Prodikos’ Allegorie wurde bereits von Kleanthes stoisch in Beschlag genommen; vgl. Cicero: De finibus II 21, 69. 70 Vgl. Ovid: Tristien IV 1, 5 – 20; IV 10, 111 f. Vgl. dazu Bernhard Zimmermann: Poeta exul. Zur Bewltigung des Exils in der griechisch-rçmischen und deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Seminari Romani 6, 2003, S. 87 – 104. 71 Vgl. I 1, 3 „exsilii nostri solitudines“. Das Exil-Motiv klingt immer wieder an: I 3, 9 „Anaxagorae fugam“; I 5, 2 ff. „exsulem … exsiliium … procul a patria … ius exsulare“; I 6, 18; II 3, 12 („an tu in hanc vitae scenam nunc primum subitus hospesque venisti“) zeigt den philosophisch-religiösen Hintergrund des Exilgedankens: die Welt, als theatrum mundi betrachtet, ist der Verbannungsort des Menschen, der in seine wahre Heimat zurückstreben muß; vgl. zu diesem Gedanken Cicero: Tusc. III 82; weitere Belege bei Gruber (wie Anm. 54), S. 188.

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tröstende Dichtung die Rolle ein, die für den Philosophen – man vergleiche nur den Hymnos kletikos an die Philosophie in Ciceros De finibus V 2, 5 – nur die Philosophie haben kann: „… gratia Musa, tibi: nam tu solacia praebes / tu curae requies, tu medicina venis.“ Boethius schlägt damit zwei zentrale Motive der paganen Trostschriften an: die Tröstungen de exilio72 und de morte.73 Indem die personifizierte Philosophie, die Boethius wie eine Göttin erscheint und die „süßtönenden, verderblichen Sirenen“ (I 1, 11 „Sirenes usque ad exitum dulces“) 74 vom Lager des Kranken verscheucht75 und ihm Heilung von den Verwirrungen seiner Seele und Geistes verheißt (I 1, 14 „perturbationes mentis“),76 klingt deutlich die seit Platon geläufige Auffassung von Philosophie als medizinische Seelenheilung77 an, die in der Stoa vor allem durch Chrysipp gepflegt wurde:78 Der Arzt (I 1) diagnostiziert das 72 Vgl. dazu Peter Meinel: Seneca ber seine Verbannung. Trostschrift an die Mutter Helvia mit einem Exkurs: Ducunt volentem fata, nolentem trahunt, Bonn 1972. 73 Wichtigster Quellentext für aegritudines animi und deren Tröstung in scholastischer Form ist Senecas Schrift De remediis fortuitorum, die in systematischer Form alle möglichen Trostgründe gegen die Einwände eines fictus interlocutor vorbringt, der auf seinem Recht auf Trauer pocht. Als mögliche Gründe für Trauer (Tod und Verlusterfahrungen) werden widerlegt: II. „morieris“, III. „decollaberis“, „peregre morieris“, IV. „iuvenis morieris“, V. „insepultus iacebis“. – VII. „male de te opinantur homines“ – VIII. „exulabis“ – IX. „dolor imminet“ – X. „paupertas mihi grave est“ – „non sum potens“ – XI. „pecuniam perdidi“ – XII. „oculos perdidi“ – XIII. „amisi liberos“ – XIV. „naufragium feci“ – „in latrones incidi“ – XV. „inimicos graves habeo“ – „amicum perdidi“ – XVI. „uxorem bonam amisi“. Die Authetizität der kurzen Schrift ist umstritten, neuerdings scheint das Pendel wieder hin zur Zuschreibung an Seneca auszuschlagen; vgl. Robert J. Newman: Rediscoring the De remediis fortuitorum, in: American Journal of Philology 109, 1988, S. 92 – 107. 74 Nach Homer: Odyssee XII 188 versprechen die Sirenen allen Vorbeifahrenden, die sie hören, mehr Wissen; dies kann aber nur die Philosophie leisten; zur allegorischen, christlichen Umdeutung des Sirenengesangs vgl. die Stellen bei Gruber (wie Anm. 54), S. 76 f. 75 Dichtung wird aber nicht generell verbannt, sondern nur die unphilosophische Musenkunst; die poetischen Einlagen in der Consolatio Philosophiae sind leichtere Heilmittel (I, 5, 12; III 1, 1), die die Seele des Kranken für die wahre Heilung durch die Lehren der Philosophie empfänglich machen soll. 76 Vgl. zu perturbatio die Definition bei Cicero: Tusc. III 7: „motus concitati animi“; weitere Stellen bei Gruber (wie Anm. 54), S. 81. 77 Vgl. dazu Anm. 24. 78 Aus Ciceros Tusculanen läßt sich ein vergleichbarer therapeutischer Ablauf, der wohl auf Chrysipp (vgl. SVF III 470) zurückgeht, rekonstruieren: 1. Tadel des Trauernden (obiurgatio), vgl. Tusc. III 62; 2. Lobpreis von Vorbildern (exempla), Tusc. IV 40; 3. Betrachtung der menschlichen Natur und ihrer

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Krankheitsbild zunächst grob (I 2) und führt in einem intensiven therapeutischen Gespräch (I 2 – 5) 79 auf die genaue Diagnose hin. Zunächst bedarf es ganz nach Chrysipps Auffassung80 vorbereitender, leichterer Heilmittel, da der Kranke noch im Aufruhr der Affekte gefangen ist (I 1, 12 „Sed quoniam plurimus tibi affectuum tumultus incubuit diversumque te dolor ira maeror distrahunt, uti nunc mentis es, nondum te validiora remedia contingunt“), bevor der Patient für die Radikalkur reif ist (III 1). Um das Endziel, die Schau der wahren Glückseligkeit im neuplatonischen Sinne zu erlangen, muß der Kranke in einen Zustand versetzt werden, der ihn überhaupt zur Theoria81 befähigt. Die Methoden, die die Philosophie zu ihrer Therapie einsetzt, sind aus Cicero und Seneca bekannt und stoisch geprägt:82 Der Daniederliegende wird mit barschen Worten aufgerüttelt (I 3, 3 Schocktherapie der obiurgatio), auf Vorbilder, an denen er sich orientieren soll,83 und auf die Philosophie als feste Burg und sicheren Hafen hingewiesen (I 3, 11 – 13), deren Wall gegen die Dummheit der Welt und alle Schicksalsschläge schützt (I c. 4, 1 – 5: „Quisquis conposito serenus aevo / Fatum sub pedibus egit superbum / Fortunamque tuens utramque rectus / Invictum potuit tenere vultum“).84 Solange die Affekte noch in Wallung sind (I 5, 12 tumor), ist keine Heilung möglich. Zuerst müssen die Küm-

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Grenzen, Tusc. III 59; 4. Notwendigkeit, das Unabänderliche gefaßt zu ertragen, Tusc. III 34, 52. Vgl. vor allem I 4, 1: „Wenn du die Hilfe eines Arztes erwartest, mußt du deine Wunde aufdecken.“ („Si operam medicantis exspectas, oportet vulnus detegas“). SVF III 484 = Cicero: Tusc. IV 63 „vetat Chyrsippus ad recentes quasi tumores animi remedium adhibere“; zu tumor (I 5, 12, griechisch oUdgsir ; vgl. Platon: Timaios 70c) vgl. außerdem Cicero: Tusc. III 19; Seneca: De ira I 20, 1; vgl. Max Pohlenz: Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, Göttingen 71992, S. 150 f. Die Philosophie trägt auf ihrem Gewand ein P und ein H für pqajtij¶ und heyqgtij¶; vgl. zur Unterscheidung Aristoteles: Metaphysik 993b 20; weitere Stellen bei Gruber (wie Anm. 54), S. 68 – 70. Boethius bezeichnet zwar die Stoiker wie die Epikureer als „philosophischen Pöbel“ (I 3, 7 „Epicureum vulgus ac Stoicum“), bedient sich aber in gut römisch-eklektischer Manier trotzdem der Topoi der Stoa, die er für seine Argumentation benötigt. Die Exempla (I 3, 9) sind vorwiegend stoisch: Seneca und Soranus; Odysseus und Hercules als typisch stoische Exempla erscheinen in IV c. 3 und IV c. 7. Vgl. auch II 2: in einer Prosopopoiie wird als Gegenspielerin der Philosophie Fortuna eingeführt, die wie im 1. Buch Boethius zum zweiten Mal in die Rolle von Hercules am Scheideweg bringt. Zur rota fortunae (II 2, 9) vgl. die Stellen bei Gruber (wie Anm. 54), S. 180 f.

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mernisse der Seele (I 6, 17 aegritudines) als Fehlmeinungen und die äußeren Güter in ihrer Scheinhaftigkeit durchschaut werden, die nichts zum Glück und Seelenfrieden beitragen, also, stoisch gesprochen, !di²voqa sind (I 6, 17 ff.; II 4, 22 ff; II 5; II 6). Denn der wahre Herrscher ist allein der Weise (III c. 5; IV c. 2).85 Die Beispiele zeigen in aller Deutlichkeit, daß sich die Trostgründe in der Consolatio Philosophiae von ihrer Herkunft aus bestimmten philosophischen Schulen stark gelöst haben. Zwar lehnt Boethius die Stoiker (wie die Epikureer) strikt ab (I 3, 7),86 trotzdem übernimmt er ohne Bedenken stoische Lehrsätze an anderen Stellen.87 Aus ihrem ursprünglichen Kontext gerissen, werden sie zu rhetorischen Versatzstücken, die in jedem neuen Zusammenhang, sei er stoisch-neuplatonisch geprägt wie bei Boethius oder christlich wie bei Hieronymus und Augustinus, eingesetzt werden können. Peter von Moos führt in seiner monumentalen Abhandlung eindrucksvoll vor Augen, wie die mittelalterliche Praxis diese Tradition aufnahm und zu einer Trostsystematik und Trosttopik weiterentwickelte.88

85 Zu diesem stoischen Paradox vgl. Seneca: Thyestes 336 – 403 (ebenfalls eine lyrische Partie). 86 Vgl. Gruber (wie Anm. 54), S. 110. 87 Dies ist allerdings kein spätantikes oder mittelalterliches Phänomen: Bereits in der Plutarch zugeschriebenen Consolatio ad Apollonium liegt ein philosophischer Synkretismus vor, in dem stoische Gedanken stärker in den Vordergrund treten, da die Stoiker, wie Cicero: Tusc. III 81 f. bezeugt, einen weitreichenden Einfluß auf die konsolatorische Praxis ausübten. Vgl. Kassel (wie Anm. 37), S. 49 f.; Jean Hani: Plutarque. Consolation  Apollonios, Paris 1972, S. 54 – 58; vgl. auch den Überblick von Jean Hani: La consolation antique, in: Revue des études anciennes 75, 1973, S. 103 – 110. 88 von Moos (wie Anm. 46); vgl. vor allem den Überblick in Bd. 3, S. 5 – 14.

Stoische Naturphilosophie und ihre Psychologisierung: Feuer als Prinzip des Schaffens und Zerstörens von der Antike bis zu Goethe und Hölderlin von Jochen Schmidt Die stoische Naturphilosophie geht von einer Kosmologie aus, die theologische, psychologische und geschichtsphilosophische Dimensionen hat. Alle drei betrifft die ins Archaische zurückreichende FeuerLehre, die zum Grundbestand stoischer Vorstellungen gehört. Erstmals nannte Heraklit das Feuer ein alldurchwaltendes Weltprinzip, das in periodischem Rhythmus aufflammt und wieder erlischt.1 Die Stoa gewann daraus eine – so bei Heraklit noch nicht sicher feststellbare, aber von den Stoikern ihm später zugeschriebene – zyklische Geschichtsvorstellung. Ihr zufolge wechselt die Auflösung der alten Weltordnung durch einen Weltbrand, die Ekpyrosis, zyklisch mit der Entstehung einer neuen, aber analogen Weltordnung: mit einer Palingenesie2, die ebenfalls durch das Feuer zustandekommt. In der Moderne fand dieses Geschichtsbild seinen pointierten Ausdruck in Nietzsches „Ring der ewigen Wiederkunft“. Rückblickend schrieb Nietzsche im Ecce homo: „Die Lehre von der ,ewigen Wiederkehr‘, das heißt vom unbedingten und unendlich wiederholten Kreislauf aller Dinge – diese Lehre Zarathustras kçnnte zuletzt auch schon von Heraklit gelehrt worden sein. 1 2

Diels/Kranz: Die Fragmente der Vorsokratiker (künftig: DK) 22 B 30. Stoicorum Veterum Fragmenta (künftig: SVF), collegit Ioannes ab Arnim. Vol. IIV. Stuttgart 1978 – 1979 (Neudruck der Erstausgabe von 1903 – 1905 und des von Maximilian Adler zusammengestellten Index in Bd. 4 von 1924). II, Nr. 613; Nr. 627. Ciceros Referat in De natura deorum II 118: „[…] daß zuletzt die ganze Welt in Feuer aufgehe […], so daß nichts außer dem Feuer übrig bleibe, von dem und von Gott belebt eine Neuherstellung der Welt geschehe und dieselbe Ordnung entstehe“ – „[…] ut ad extremum omnis mundus ignesceret […] ita relinqui nihil praeter ignem, a quo rursum animante ac deo renovatio mundi fieret atque idem ornatus oreretur“.Vgl. A. A. Long: The Stoics on world-conflagration and everlasting recurrence, in: Southern Journal of Philosophy 23, 1985, Suppl. S. 13 – 37.

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Zum mindesten hat die Stoa, die fast alle ihre grundsätzlichen Vorstellungen von Heraklit geerbt hat, Spuren davon“.3 Sie hat mehr als nur Spuren davon, denn in einer ganzen Reihe von Zeugnissen verbindet sich die stoische Feuerlehre mit einer entschieden zyklischen Geschichtsvorstellung. Manche Stoiker behaupten sogar, die Wiederkehr des Gleichen finde nicht bloß numerisch, sondern individuell-identisch statt4, so daß Sokrates, unerfreulicherweise aber auch Xanthippe immer von Neuem wiederkehre.5 Einigermaßen beruhigend scheint es, daß dies nach den seriösesten Berechnungen der antiken Angaben, die auch das zyklisch wiederkehrende große Weltenjahr aus Platons Timaios einbeziehen6, nur im Abstand von jeweils 10800 Jahren geschieht.7 Nur alle 10800 Jahre also würde Hegel in seiner teleologisch okkupierten Geschichtsphilosophie leugnen, daß die Stoiker die Lehre vom zyklisch wiederkehrenden Weltbrand vertreten haben, und nur alle 10800 Jahre würde ihn Eduard Zeller in seiner großartigen Geschichte der griechischen Philosophie, die soeben – wie schon vor 10800 Jahren – in einer neuen Auflage erschienen ist, zu Recht in einer Fußnote dafür tadeln. Weniger anfällig sind die anderen mit der Feuerlehre verbundenen Theoreme. Ich umreiße zunächst den stoischen Horizont, um mich dann der weithin unbekannten modernen Rezeption und Transformation der stoischen Feuerlehre, insbesondere bei Goethe und Hölderlin zuzuwenden. Wie Heraklits Vorstellungen sind diejenigen der stoischen Naturphilosophie pantheistisch. „Aus allem Eins und aus Einem Alles“, lautet ein von Aristoteles überlieferter Ausspruch Heraklits8 ; ein anderer, es sei weise, dem Logos gemäß zu sagen, „alles sei eins“.9 Aus diesem pantheistischen Weltverständnis statuiert Heraklit einen anfangslosen, transzendenzlosen, ewigen Kosmos, der von einer feurigen Urkraft durchwirkt werde: „Diesen Kosmos“, sagt er, „schuf weder einer der Götter noch der Menschen, sondern er war immer, er ist und wird sein ewig lebendiges Feuer (pOq !e¸fyom), periodisch aufflammend 3 4 5 6 7 8 9

Friedrich Nietzsche: Smtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York 1980, Bd. 6, S. 313. SVF II, Nr. 624; Nr. 625. SVF II, Nr. 626. Platon: Timaios 39d. DK 22 A 13. DK 22 B 10. DK 22 B 50.

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und periodisch erlöschend“.10 Dieses Feuer ist, wie dann bei den Stoikern, eine elementare Urkraft und zugleich mit dem Logos identisch, der den Kosmos regiert.11 Weil der Logos alles durchwaltet, kann Heraklit, obwohl er die Mehrheit der Menschen für dumm hält, in einem anderen Fragment erklären: „Gemeinsam ist allen das Denken“.12 Auch dies übernehmen die Stoiker.13 Alles sehen sie vom Logos bestimmt, der auf die Natur bezogen das Naturgesetz ist, auf den Menschen bezogen das diesem Naturgesetz gemäße Denken. In diesem pantheistischen Horizont setzen manche Stoiker Gott und Welt ausdrücklich ineins, wobei der göttliche Logos eine Art von Weltseele wird.14 Heraklit hatte den pantheistischen Vorbehalt gegen jedes Sprechen von einer bestimmten, ber der Welt waltenden obersten Gottheit pointiert, indem er derartiges Sprechen als ein nur metaphorisches, uneigentliches mit den Worten kennzeichnete: „Eins, das allein Weise, will nicht und will doch mit dem Namen des Zeus benannt werden“.15 Dieser Maßgabe entspricht der berühmte Zeushymnos des Stoikers 10 DK 22 B 30. Zur quellenkritischen Analyse und zur Darstellung der Forschungsprobleme im hier relevanten Themenkreis, insbesondere zur Feuerlehre vgl. Heraclitus. The cosmic fragments, ed. with an introduction and commentary by G. S. Kirk, 2. Auflage Cambridge 1962, S. 307 – 338. Ferner: Miroslav Markovich: Artikel Herakleitos, in: Realencyclopdie der classischen Altertumswissenschaften (RE), Suppl. X, 1965, Sp. 246 – 320, besonders Sp. 293 – 308. Vgl. auch Karl Reinhardt: Heraklits Lehre vom Feuer, in: K. R.: Vermchtnis der Antike, 2. Auflage Göttingen 1962, S. 41 ff. (hierzu die kritischen Einwände von Kirk und Markovich). 11 DK 22 B 72. 12 DK 22 B 13. 13 Das kaum lösbare Problem, ob und inwiefern die Stoiker die Heraklit-Überlieferung selbst schon in ihrem Sinne mitbestimmt haben, bleibt hier unberücksichtigt. 14 Nach Platon, Timaios 41d (tµm toO pamt¹r xuw¶m – „die Seele des Alls“). Für die Wirkungsgeschichte wichtig die Wiedergabe der stoischen Lehre von der Weltseele bei Cicero, De natura deorum I 37: „[…] Geist und Seele der Allnatur“ – „totius naturae menti atque animo“; Cicero, Academica I 29: „ diese Wirkungskraft, sagen sie, sei die Seele der Welt und sei Geist und vollkommene Weisheit, die sie Gott nennen“ – „quam vim animum esse dicunt mundi eandemque esse mentem sapientiamque perfectam, quam deum appellant“; Cicero, Timaeus 42: „die ganze Seele der Allnatur“ – „omnem animum universae naturae“ (wörtliche Übersetzung aus Platons Timaios). Vgl. Willem J. Verdenius: Der Logosbegriff bei Heraklit und Parmenides, in: Phronesis 11, 1966, S. 81 ff., und Phronesis 12, 1967, S. 99 ff. Martha C. Nussbaum: Xuw¶ in Heraclitus, in: Phronesis 17, 1972, S. 1 ff., S. 153 ff. 15 DK 22 B 32.

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Kleanthes16, der auch auf Heraklits ewig lebendiges Feuer anspielt. Immer wieder betonen die Stoiker, daß Gott nichts anderes als das Weltganze und der dieses Weltganze durchwaltende Logos und zugleich Nomos ist. Vor allem als naturgesetzlicher und insofern auch schicksalhafter Nomos kann er mit dem Namen des Zeus benannt werden17, der als Weltherrscher alles Geschehen bestimmt und lenkt. Zu welch kühnen Spekulationen die Feuerlehre im Rahmen der stoischen Kosmologie führte, zeigen spätere allegorische Auslegungen. Da Herkules, der mythologische Hauptrepräsentant der stoischen virtus, seinen Tod im Feuer des Scheiterhaufens auf dem Oeta fand und von dort zum Himmel auffuhr, sah man ihn, den Sohn des Zeus, als göttlichen Logos, der die Welt durchdringt und dann in der Ekpyrosis zum ursprünglichen Feuer zurückkehrt.18 Das Eine und Ganze differenziert sich nach der im Kosmos waltenden Gesetzlichkeit in einer geordneten Fülle von Einzelgestalten aus. Diesen Vorgang nennen die Stoiker „Diakosmesis“. Sie ist das Werk des gestaltbildenden Feuers, des pOq tewmijºm, das als Lebensenergie die Materie durchdringt, belebt und formt. Die Stoiker verstehen das Feuer nicht bloß als eines der vier Elemente, sondern als das energetische Prinzip alles Daseins. Ihm kommt eine universell wirkende und steuernde Kraft zu, die gleichermaßen zu schaffen und zu zerstören vermag. Schon der Begründer der Stoa, Zenon, unterscheidet ein schöpferisches und lebenerhaltendes Feuer (das pOq tewmijºm) und ein zerstörerisches Feuer (pOq %tewmom).19 In der belebten Gestaltenfülle der konkreten Welt bleibt das Urfeuer verborgen präsent und zugleich – durch Vermischung mit den anderen Elementen – gebunden, am Ende einer Weltzeit aber bricht es zerstörerisch durch und verzehrt alles in einer Ekpyrosis, die manche Stoiker zugleich als Katharsis auffassen.20 Darauf beginnt dann wieder ein neuer kosmischer Zyklus21, der in gesetzlich 16 SVF I, Nr. 537. 17 SVF I, Nr. 537. 18 Seneca: De beneficiis 4,7,1; 8,1. Ausführliche Allegorese bei dem im 1. Jahrhundert n. Chr. lebenden Stoiker Cornutus, Theologiae graecae compendium, cap. 31; vgl. Wilfred L. Knox: Some hellenistic elements in primitive Christianity, London 1944, S. 39; Marcel Simon: Hercule et le Christianisme, Paris 1955, S. 95 – 105. 19 SVF I, Nr. 120. 20 SVF II, Nr. 598; Nr. 630. 21 SVF I, Nr. 98; Nr. 107 (Zenon); SVF I, Nr. 497; Nr. 512 (Kleanthes). SVF II, Nr. 596 – 632.

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festgelegten Perioden stattfindet, da sich die Ekpyrosis ihrerseits nach einem bestimmten Zeitrhythmus immer von neuem ereignet.22 Gelegentlich läßt sich schon eine gewisse Psychologisierung erkennen, wenn die Stoiker das Feuer mit dem Pneuma und der Seele gleichsetzen23, sei es die Weltseele, die sie in Platons Timaios fanden24, oder die Menschenseele. Daraus konnte sich die Vorstellung entwickeln, daß die Einzelwesen von der Sehnsucht nach einem entgrenzenden, jede Individualität auflösenden Übergang in die Allseele erfaßt werden. Nach einigen antiken Vorläufern machte Goethe dies zur Grundkonzeption seines bedeutendsten pantheistischen Gedichts, dem er die heraklitische Überschrift Eins und Alles gab.25 Und in dem Divan-Gedicht Selige Sehnsucht26 spielte er nicht nur „östlich“ auf Hafis und „westlich“ auf Petrarca an, sondern auch auf die ihm schon früh vertraute Feuerlehre und sogar auf die Ekpyrosis: „Das Lebend’ge will ich preisen / Das nach Flammentod sich sehnet“, heißt es in der ersten Strophe, und die letzte beschwört das „Stirb und werde“, das dem zyklischen Gesamtprozeß entspricht. Schon manche stoischen Zeugnisse der Antike bieten ja den Begriff „Palingenesie“.27 Goethe und Hölderlin rezipierten die stoische Feuerlehre intensiv im Medium des zeitgenössischen Pantheismus, den Heine später zu Recht „die verborgene Religion Deutschlands“ seit dem 18. Jahrhundert nannte.28 Eine zentrale Instanz dieses Pantheismus war für Goethe und Hölderlin der vom stoischen Denken geprägte Spinoza29, aber 22 23 24 25 26 27 28

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SVF I, Nr. 98; Nr. 497; SVF II, Nr. 596, Nr. 597. SVF II, Nr. 601; Nr. 773; Nr. 774; Nr. 785. Platon: Timaios 34a-35a, 41d. Johann Wolfgang Goethe: Smtliche Werke. Briefe, Tagebcher und Gesprche. Vierzig Bände. I. Abteilung: Smtliche Werke. Bd. 2: Gedichte 1800 – 1832, hg. von Karl Eibl, Frankfurt 1988, S. 494 f. Goethe: Smtliche Werke (wie Anm. 25). Bd. 3/1: West-çstlicher Divan, hg. von Hendrik Birus, Frankfurt 1994, S. 24 f. Vgl. Anm. 2. Heinrich Heine: Smtliche Schriften, hg. von Klaus Briegleb. Dritter Band, hg. von Karl Pörnbacher, München 1971: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, S. 571. „Denn Deutschland“, schreibt Heine vor diesem Diktum, „ist der gedeihlichste Boden des Pantheismus; dieser ist die Religion unserer größten Denker, unserer besten Künstler […]“. Schon Goethes Rede Zum Shakespears Tag (1771) nimmt wesentliche Vorstellungen aus Spinozas Ethik auf, spätere Studien sind in Notizen dokumentiert, die unter dem Herausgeber-Titel Aus der Zeit der Spinoza-Studien Goethes 1784 – 85 veröffentlicht wurden; in Dichtung und Wahrheit (Vierter Teil, Anfang des sechzehnten Buches) äußert sich Goethe ausführlich über seine Beschäfti-

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beide kannten auch die antike Überlieferung, nicht zuletzt aus dem Kompendium des Diogenes Laërtios. Nicht nur in den früheren Jahrhunderten allerdings, in denen noch weitgehend das „Graeca non leguntur“ galt, dominiert die lateinische Tradition mit ihren beiden Hauptvertretern Cicero und Seneca, die im Bildungswesen omnipräsent waren. Speziell für die Feuerlehre war und blieb Ciceros Schrift De natura deorum ein grundlegender Text. Hölderlin hörte in seiner Tübinger Studienzeit sogar eine Vorlesung über sie.30 Ausführlich und detailliert faßt Cicero das Wesentliche aus den von ihm benutzten griechischen Quellen zusammen, besonders aus dem immer wieder ausdrücklich als Gewährsmann genannten Kleanthes.31 Die hermetischnaturphilosophische Tradition transportierte die Feuerlehre von Paracelsus bis weit ins 18. Jahrhundert hinein. Daneben aber gab es eine unmittelbar an der Stoa, vor allem an Ciceros Darstellung orientierte Rezeption der stoischen Feuerlehre. Von den Lehr-Autoritäten ist hier Thomasius mit einer Schrift zu nennen, die er speziell der stoischen Theorie vom Weltbrand widmete. Sie erschien in Leipzig 1676 mit dem Titel Exercitatio de Stoica mundi exustione. Auch in verbreiteten Lektüren aus dem Bereich der sogenannten Physikotheologie gewinnt die stoische Feuerlehre neue Bedeutung. Dieser zunächst unmodern anmutende Rückgriff erklärt sich aus dem großen allgemeinen Interesse des 18. Jahrhunderts an der Kosmologie, das noch bis in Fausts Makrokosmos-Vision hineinreicht. Das Allheitsprinzip des Feuers wird nun entschieden dynamisiert und geradezu mit dem Begriff des „Lebens“ besetzt. Barthold Hinrich Brockes nahm unter die Gedichte, die er in seiner vielrezipierten, über Jahrzehnte hinweg erscheinenden Sammlung Irdisches Vergngen in Gott (1721 – 1748) veröffentlichte, ein vielstrophiges Poem mit dem Titel Das Feuer auf, in dem er sich an Ciceros Ausführungen in der Schrift De natura deorum hält. In der zweiten Strophe heißt es, das „Leben-Feur“ erfülle alles mit Leben, Bewegung und Geist. Man spürt, so Brockes, „daß das Leben, ja ein allgemeiner gung mit Spinoza und dessen Wirkung auf ihn. Für Hölderlin war seit seinen frühen Notizen Zu Jakobis Briefen ber die Lehre des Spinoza (1790/91) Spinoza eine zentrale weltanschauliche Instanz. 30 Hölderlin: Smtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe. Bd. 7: Dokumente, hg. von Adolf Beck. Erster Teil (7,1): Briefe an Hçlderlin, Dokumente 1770 – 1793, Stuttgart 1968, S. 414, Nr. 73: Aufzählung der besuchten Vorlesungen anlässlich von Hölderlins Magisterium 1790, darunter: „Dn. Prof. Flatt, Ciceronem de natura Deorum“. 31 Cicero: De natura deorum II 40/41.

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Geist, / Drin wir alle sind und schweben, / Aus der Sonnen Cörpern fleußt: / Daß ein männliches Feuer quillet, / Welches alle Ding’ erfüllet, / Alles schmückt, erwärmt, ernährt / Wodurch alles wird und währt“. Das stoische pOq tewmijºm ist hier ganz als dynamisches Prinzip aufgefaßt. Aber auch die gegenteilige, zerstörerische Qualität des Feuers bringt Brockes zur Geltung, indem er sie in den zyklischen Zusammenhang von Werden und Vergehen einordnet. „Aller Cörper Tod und Leben“, so Brockes in der zweiten Strophe seines Feuer-Poems, in der er nahezu wörtlich aus Ciceros De natura deorum (II 40/41) übersetzt32, Aller Cörper Tod und Leben, Schön – und schrecklichs Element! Nichtes kann dir wiederstreben, Alles wird von dir getrennt, Alles wird durch dich erhalten, Du verneuerst die Gestalten, Du beleb’st, erwärmst, ernährst, Du verstöhr’st, zertheilst, verzehrst.

Die Genie-Zeit intensiviert diese elementare Dynamik. Vergebens sucht man in den Kommentaren der Faust-Ausgaben Hinweise auf die von Heraklit entworfene und dann von der Stoa weiterentwickelte Feuerlehre, obwohl Goethe sie in der Erdgeist-Szene erstmals mit visionärer Emphase so ausgestaltet, daß sie geradezu wie in einem Palimpsest durchscheint. Nachdem Faust in seiner ersten Vision den Makrokosmos erschaut, aber eben nur erschaut hat und sich enttäuscht mit den Worten abwandte: „Welch Schauspiel! Aber ach! Ein Schauspiel nur!“, kann er den Erdgeist unmittelbar erfahren, wenn auch nicht ertragen, weil er ihm in Feuersgestalt erscheint. Wies das Zeichen des Makrokosmos Faust in die Sphäre der Kontemplation, so reißt ihn dasjenige des Erdgeists in die Sphäre lebendiger Aktion: „In Lebensfluten, im Tatensturm“ wall ich auf und ab (V. 501), sagt der Erdgeist. Goethe verbindet in der für ihn typischen eklektizistischen Manier das traditionelle Bild der WeberNatur, der natura textor, mit einer pantheistisch aufgeladenen AllEinheitsvorstellung und zugleich mit der alles Werden und Vergehen bewirkenden feurigen Elementarkraft. In einer Regie-Anweisung (nach V. 481) hebt er zweimal die Feuernatur des Erdgeists hervor: „Es zuckt 32 Barthold Hinrich Brockes: Auszug der vornehmsten Gedichte aus dem Irdischen Vergngen in Gott. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1738. Mit einem Nachwort von Dietrich Bode. Stuttgart 1965, S. 484.

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eine rötliche Flamme, der Geist erscheint in der Flamme“. Am Anfang der viel später entstandenen Szene Wald und Hçhle, in einem der wichtigsten Monologe der gesamten Faust-Tragödie, erinnert sich Faust an seine einstige Vision des Erdgeists mit folgenden Worten (V. 3217 – 3219): Erhabner Geist, du gabst mir, gabst mir alles, Worum ich bat. Du hast mir nicht umsonst Dein Angesicht im Feuer zugewendet.

In der zentralen Partie der Erdgeist-Szene identifiziert sich der zu Faust sprechende Erdgeist selbst nicht weniger als dreimal mit dem „Leben“ einer pantheistisch konzipierten und anaphorisch betonten All-Einheit, und dieses „Leben“ nennt der Feuergeist auf dem Gipfelpunkt einer dreistufigen Klimax durchaus prägnant „Ein glhend Leben“: In Lebensfluten, im Tatensturm Wall ich auf und ab, Webe hin und her! Geburt und Grab, Ein ewiges Meer, Ein wechselnd Weben, Ein glhend Leben, So schaff’ ich am sausenden Webstuhl der Zeit Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.

Wie in der Naturphilosophie Heraklits und der Stoa liegt trotz der sich im Wechsel des Werdens und Vergehens vollziehenden All-Einheit, die sowohl „Geburt“ wie „Grab“ als Einheit der Gegensätze umspannt, der Hauptakzent auf dem schöpferischen Wirken der feurigen Urkraft. Das stimmt mit der schon für Zenon bezeugten wichtigsten stoischen Definition überein, derzufolge das „gestaltende Feuer“ den allgemeinen Prozeß des Werdens wie die Entstehung jedes einzelnen Wesens bestimmt.33 Und das der Diakosmesis entsprechende lebendige „Kleid“ der pantheistischen Gott-Natur ist die natura naturata, die vom feurigen Lebensprinzip der natura naturans „gewirkt“ wird. Soweit Goethes Rezeption der stoischen Feuerlehre. Am intensivsten und oft geradezu strukturbildend nahm Hölderlin die stoische Philosophie auf. Bevor ich auf die im Spätwerk auffallende Bedeutung der Feuerlehre eingehe, skizziere ich die früheren Phasen seiner Stoa-Rezeption. Am Beginn steht die noch ganz von Schillers 33 SVF I, Nr. 120; II, Nr. 1027 u. ö.

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Einfluß bestimmte Hymne Das Schicksal (1793/94) 34, in deren Zentrum Herakles als das seit der Fabel des Prodikos approbierte Paradigma des stoischen Tugendhelden erscheint. Einige Jahre später folgt die vor allem durch die Lektüre Marc Aurels vermittelte Rezeption der mittleren Stoa. Ihre dichterischen Haupt-Zeugnisse sind der Hyperion (1797/99) und die Ode Dichtermut.35 Damit verläßt Hölderlin das harte altstoische Konzept der asketischen apátheia und der heroischen probatio zugunsten einer von der harmonischen Verwandtschaft alles Lebendigen getragenen sympatheia. Sie vermag vor jeder fundamentalen Irritation zu bewahren und erübrigt auch heroische Bewährungsproben. Marc Aurel tröstet sich in seinen Selbstbetrachtungen mit dem von Poseidonios stammenden harmonistischen Axiom: „Alles ist verwandt“ (p²mta c±q blocem/36). Das Echo am Beginn von Hölderlins stoischer Ode Dichtermut lautet: „Sind denn dir nicht verwandt alle Lebendigen […]?“ Und sowohl im Hyperion als auch in der Ode begründet Hölderlin die stoische Überwindung der Todesfurcht, indem er wie Marc Aurel den Tod als bloßen „Wandel“: als letabok¶ im naturhaften Allzusammenhang versteht. Geradezu eine Huldigung an Marc Aurel, dessen Schrift eQr 2autºm Hölderlin selbst besaß, ist ein Epigramm aus dem Jahre 1799, dem er die (akzentlose) griechische Überschrift pqor eautom gab.37 Der stoischen Feuerlehre, die ihm schließlich ein ganz anderes, apokalyptisches Szenario bereitstellte, näherte sich Hölderlin im Zusammenhang der stoisch-pantheistischen Äthervorstellung. Ihre psychologische Version besagt, die innere Verwandtschaft der Menschenseele mit der Weltseele des Äthers erzeuge im Einzelnen die Sehnsucht, aus der Individuation ins All überzugehen. In Hölderlins HexameterHymne An den ther38 (1797) sowie in einem entsprechenden ÄtherHymnus im Hyperion39 gestaltet sich dieser Übergang des Einzelnen ins Ganze noch nicht als „feuriges“ Auffliegen, sondern vollkommen harmonisch, später aber wird die vom gleichen Grundgedanken bestimmte 34 Friedrich Hölderlin. Smtliche Werke und Briefe in drei Bnden, hg. von Jochen Schmidt. Bd. 1: Gedichte, Frankfurt 1992, S. 157 – 160. Vgl. meine Ausführungen zu Hölderlins Schicksalshymne im vorliegenden Werk, S. 333 – 341. 35 S. 303 f. Vgl. Bd. 2 des vorliegenden Werks, S. 951 – 958. 36 Marc Aurel VI 37. 37 Hölderlin (wie Anm. 34), S. 221. 38 S. 182 – 184. 39 Hölderlin (wie Anm. 34), Bd. 2: Hyperion, Empedokles, Aufstze, hg. von Jochen Schmidt, Frankfurt 1994, S. 59.

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radikalere Vorstellung der Ekpyrosis immer wichtiger. Bis zum endgültigen Ausbruch des Wahnsinns gerät die Ekpyrosis mehr und mehr zur Metapher eines zerstörerischen Entgrenzungsdrangs, ja geradezu eines Todesverlangens. Empedokles spricht seine Bereitschaft zum Tod in den Flammen des Ätna mit folgenden Worten aus40 : O du! mir wohlbekannt, du zauberische Furchtbare Flamme! wie so stille wohnst Du da und dort, wie scheuest du dich selbst Und fliehest dich, du Seele des Lebendigen! Mir birgst du dich, gebundner Geist, nicht länger, Mir wirst du helle, denn ich fürcht es nicht. Denn sterben will ja ich. Mein Recht ist dies.

Auf dem Hintergrund der stoischen Naturphilosophie erhalten diese Verse bis in die einzelnen Formulierungen hinein ihre präzise Bedeutung. Nach stoischer Anschauung ist das Feuer als innerstes Lebensprinzip in allen Wesen verborgen, gewissermaßen als deren „Seele“ oder „Geist“. Erst im Augenblick des Todes bricht es zerstörerisch durch: in der Ekpyrosis. Deshalb kann Empedokles zunächst sagen, daß die Flamme „da und dort“, das heißt in den einzelnen Wesen, „stille wohnt“, solange diese nämlich im lebendigen Dasein verweilen. So lange ist sie auch „gebundner Geist“. Im Todesverlangen des Empedokles aber drängt der Geist aus dem Gebundnen – um eine spätere Prägung Hölderlins zu zitieren – ins „Ungebundne“. Aus der Verborgenheit im einzelnen Wesen bricht dann das Feuer durch. Naturphilosophisch gesprochen: Es löst sich aus der Vermittlung und Verbundenheit mit den anderen Elementen, in der es ein lebenspendendes Prinzip war. In der Ekpyrosis wird es nun unmittelbar, ungebunden, tödlich. Nicht bloß auf den Untergang von Individuen, vorzugsweise solcher von tragisch-heroischer Wesensart, wandte Hölderlin diese Vorstellung der Ekpyrosis an; in mehreren Dichtungen bezog er sie auch auf den Untergang einer ganzen Kultur. Das erste prägnante Beispiel dafür bietet die um 1799 entstandene Ode Gesang des Deutschen in einer Strophe, die den Untergang der griechischen Welt als elementares Schicksal darstellt41: O heilger Wald! o Attika! traf Er doch Mit seinem furchtbarn Strahle dich auch, so bald, 40 Hölderlin, Bd. 2, S. 399, V. 51 – 57. 41 Hölderlin, Bd. 1 (wie Anm. 34), S. 225, V. 33 – 36.

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Und eilten sie, die dich belebt, die Flammen entbunden zum Äther über?

Die letzten beiden Verse spielen exakt auf die Ekpyrosis und ihren stoisch-naturphilosophischen Kontext an: Das „belebende“ Prinzip, das Feuer, das im Dasein gebunden war, wird am Ende „entbunden“. Es sprengt die infolge der Diakosmesis ausgestalteten Formen des Lebens – hier der griechischen Kultur – und geht in den Allbereich des „Äthers“ über. Vollends unverständlich wäre der emphatische Erinnerungsruf „O heilger Wald! o Attika!“ ohne die Wahrnehmung der stoischen Naturphilosophie. Ihr zufolge durchdringt das energetische Elementarfeuer die Materie, die es zum Leben erweckt. Hyle, das griechische Wort für „Stoff“, „Materie“, heißt zugleich und sogar primär „Wald“. Indem Hölderlin, absichtsvoll paradox, von den Flammen spricht, die den „Wald“ belebt haben, meint er die schöpferische Belebung der Hyle in der großen Zeit der griechischen Kultur. Und auch indem er dann die Ekpyrosis auf das Ende dieser Kultur überträgt, folgt er der stoischen Lehre: Immer am Ende einer Periode verfällt ja die Welt der Ekpyrosis. Zum ersten Mal läßt diese Odenstrophe das geschichtliche Deutungsmuster erkennen, das später zahlreiche Gedichte Hölderlins bestimmt. In ihnen verschmilzt die Ekpyrosis immer wieder mit der seit der Renaissance neuplatonisch formierten Vorstellung von einem entgrenzenden „furor heroicus“42 und „furor poeticus“. Voll ausgeführt hat Hölderlin die zu solch tödlichem furor psychologisch metaphorisierte Ekpyrosis nur in der letzten Fassung der Ode Stimme des Volks.43 Deshalb ist diese Ode ein Schlüsseltext auch für den Zugang zu einer Reihe anderer Gedichte, in denen die Ekpyrosis änigmatisch-abbreviaturenhaft erscheint. Sie erhält so die für das Spätwerk der Jahre 1802 und 1803 typische Eigenart der esoterischen Chiffre. Die Grundvorstellung der Ode ist die dem „furor“ entsprechende Tendenz, „ins All zurück die kürzeste Bahn“ (V. 13) zu gehen, und zwar „selbstvergessen“ (V. 9), d. h. unter Aufgabe der eigenen Individualität und Identität. Zuerst zeigt sich diese Tendenz am heroisch-großen Einzelnen. Dessen Inbegriff ist der Strom, den „das wunderbare Sehnen dem Abgrund zu“ reißt (V. 17). Aber nicht nur den 42 Der prominenteste Text: Giordano Bruno: De gl’ heroici furori (1585). Der platonisch-idealistisch überformte Pantheismus dieses Werks war auch für Schellings Frühschrift Bruno oder ber das gçttliche und natrliche Prinzip der Dinge von Bedeutung. Vgl. ferner: Marsilio Ficino: De divino furore. 43 In: Hölderlin: Gedichte (wie Anm. 34), S. 311 – 313.

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großen Einzelnen ergreift der tödlich entgrenzende Drang: „Das Ungebundne reizet und Völker auch / Ergreift die Todeslust und kühne / Städte […]“ (V. 18 – 20). Paradigma ist die lykische Stadt Xanthos am gleichnamigen Fluß. Die Geschichte dieser Stadt, die während der Belagerung durch die Römer in Flammen aufging, kannte Hölderlin aus Plutarchs Vergleichenden Lebenslufen (Brutus, 30 f.). Als ihre Stadt zu brennen anfing, so berichtet Plutarch, habe die Einwohner „plötzlich eine unbeschreiblich stürmische Raserei“ gepackt, „die man am ehesten mit einem Todesverlangen vergleichen könnte, […] nicht nur Männer und Weiber, nein auch kleine Kinder sprangen mit Geschrei und Jauchzen in das Feuer“. Hölderlin nimmt diese Schilderung genau auf (V. 57 – 59): „Geschrei / Entstand und Jauchzen. Drauf in die Flamme warf / Sich Mann und Weib […].“ Das Schlüsselwort der gesamten Ode, „Todeslust“ (V. 19), geht auf Plutarchs Ausdruck „Todesverlangen“ (5qyr ham²tou) zurück. Der von der „Todeslust“ bestimmten Ekpyrosis der Stadt Xanthos folgt die Erinnerung an eine frühere Ekpyrosis der gleichen Stadt, von der sowohl Plutarch als auch schon Herodot erzählen. Diese Erinnerung erhält im Gedicht die Funktion, die Periodizität, welche der Ekpyrosis in der Stoa zukommt, als schicksalhaft determiniertes und sich daher wiederholendes Geschehen darzustellen. Vollends durch Einbeziehung der Ätherlehre macht Hölderlin den stoischen Fundus deutlich (V. 62 – 68): […] Die Väter auch Da sie ergriffen waren, einst […] Entzündeten, ergreifend des Stromes Rohr, Daß sie das Freie fänden, die Stadt. Und Haus Und Tempel nahm, zum heilgen Äther Fliegend, und Menschen hinweg die Flamme.

Die Ekpyrosis der Stadt Xanthos erhält paradigmatischen Charakter: „gleich den größeren“ Griechen-Städten, so heißt es, sei sie „durch ein Schicksal […] hinweggekommen“ (V. 42 – 44). So steht Xanthos für das geschichtliche Schicksal der griechischen Welt insgesamt, und in allen späteren Gedichten, die vom Untergang der Städte handeln, verhält es sich ebenso. Bisher war die Rede von der Ekpyrosis des großen Einzelnen, dessen markantestes Paradigma Empedokles ist, und von der Ekpyrosis einer ganzen Kultur. Zum Weltgesetz steigert sich die Ekpyrosis in

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Hölderlins letzter Hymne Mnemosyne.44 Sie beginnt mit den Versen: „Reif sind, in Feuer getaucht, gekochet / Die Frücht und auf der Erde geprüfet und ein Gesetz ist / Daß alles hineingeht, Schlangen gleich, / Prophetisch, träumend auf / Den Hügeln des Himmels“ (V. 1 – 5). Und wie bereits in der Ode Stimme des Volks ist die Ekpyrosis Metapher des selbstzerstörerischen Drangs ins Grenzenlose. Alsbald heißt es: „Und immer / Ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht“ (V. 18). Durch die ganze Hymne hindurch entfaltet sich die esoterische Systematik dieses trotz bewahrender Gegenreflexe unaufhaltsamen Untergangsgeschehens. Nachdem die Stadt als Ort geschützten Wohnens und Bleibens, als Heimstätte irdisch gesicherter Existenz beschworen wurde, erscheint am Ende der Untergang Mnemosynes, der Mutter der Musen, und der Untergang ihrer Stadt Eleutherä als Zeichen für den Verlust einer existentiellen Identität, die in haltgewährender Erinnerung, in Mnemosyne, und der durch sie gestifteten Kultur gründete. Ich schließe mit einer allgemeineren Überlegung zur neuzeitlichen Rezeption der heraklitisch-stoischen Feuerlehre. Im kulturellen Prozeß nimmt sie immer mehr esoterische Züge an. Es scheint, als werde sie in dem Maße, in dem ihr kosmologischer Erklärungswert schwindet, frei für Metaphorisierungen und Transformationen, die dem psychischen Kosmos gelten. Schon Heraklit nannte ihn grenzenlos.45 Die Analogie zum kosmischen Entgrenzungsgeschehen der Ekpyrosis lag nahe und die Dynamik des furor heroicus und des furor poeticus entsprach dem. Dem Funktionswandel vom naturphilosophischen Konzept hin zur poetischesoterischen Chiffre war es schon förderlich, daß die Feuerlehre besonders in der hermetischen Tradition fortlebte. In Hölderlins Spätwerk erreicht die Esoterik ihren Höhepunkt. Explizit reflektierte den inzwischen esoterischen Charakter der stoischen Feuerlehre der alte Goethe, indem er sie programmatisch mit dem Siegel eines exklusiven Geheimwissens versah. Das Divan-Gedicht Selige Sehnsucht beginnt mit den Versen: Sagt es niemand, nur den Weisen, Weil die Menge gleich verhöhnet, Das Lebend’ge will ich preisen, Das nach Flammentod sich sehnet. 44 In: Hölderlin: Gedichte (wie Anm. 34), S. 364. Zur detaillierten Analyse des Gedichts und insbesondere zur Ekpyrosis vgl. den Kommentar S. 1035 – 1052. 45 Der bei Diogenes Laërtios überlieferte (IX 7) Ausspruch Heraklits lautet (DK 22 B 45): „Der Seele Grenzen könntest du nicht ausfinden, auch wenn du jeglichen Weg gingest; so unermeßlich ist ihr Logos.“

Die stoisch-ciceronische Naturrechtslehre und ihre Rezeption bis Rousseau von Sebastian Kaufmann Die Lehre vom natürlichen Gesetz (mºlor v¼seyr, lex naturalis) gehört vielleicht nicht zu den populärsten, mit Sicherheit aber zu den wirkungsmächtigsten Elementen der stoischen Philosophie. Nicht nur was entscheidende terminologische Weichenstellungen betrifft, stellt sie den eigentlichen Beginn der europäischen Naturrechtskonzeption dar, die sich fortan wie ein roter Faden durch das Rechtsdenken aller Epochen hindurchzieht und – der Infragestellung durch den Rechtspositivismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert zum Trotz –1 noch unser heutiges politisches Denken und Rechtsverständnis maßgeblich prägt. Ja, gerade wenn man von diesem ausgeht, zeigt sich die zukunftsweisende Bedeutung der stoischen Lehre. So verweist vor allem die Idee allgemeiner Menschenrechte, welche in den Rechts- und Staatstheorien des 17. und 18. Jahrhunderts systematisch entfaltet wurde, anschließend allmählich eine Positivierung erfuhr und in die Verfassungswirklichkeit überging,2 auf naturrechtliche Gedanken zurück, wie sie bereits in der um 300 v. Chr. begründeten griechischen Stoa formuliert worden sind.3 1

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Zur Kontroverse zwischen Naturrechtsdenken und Rechtspositivismus in der jüngeren Rechtsgeschichte vgl. Naturrecht oder Rechtspositivismus? hg. von Werner Maihofer. Darmstadt 1962; Wolf Rosenbaum: Naturrecht und positives Recht. Neuwied/Darmstadt 1972. Man denke an die Virginia Bill of Rights von 1776, an die Erklärung der französischen Nationalversammlung von 1789, an die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 oder auch an das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland von 1949. Jürgen Blänsdorf: Das Naturrecht in der Verfassung – Von Ciceros Staatstheorie zum modernen Naturrechtsdenken, in: Lateinische Literatur, heute wirkend, Bd.2, hg. von Hans-Joachim Glücklich. Göttingen 1987, S. 30 – 56, dort S. 39, meint sogar, „daß die Kodifikation naturrechtlicher Elemente im Bonner Grundgesetz den Höhepunkt naturrechtlichen Denkens darstellt.“ Allgemein dazu vgl. den Sammelband Menschenrechte und europische Identitt. Die antiken Grundlagen, hg. von Klaus Martin Girardet und Ulrich Nortmann. Stuttgart 2005.

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Zwar sind die altstoischen Schulhäupter Zenon (ca. 335 – 262 v. Chr.), Kleanthes (ca. 331 – 232 v. Chr.) und Chrysipp (ca. 280 – 205 v. Chr.) nicht überhaupt die ersten, die über Natur und Recht sowie den Zusammenhang beider Bereiche nachdenken; vielmehr greifen sie dazu bereits ältere Ansätze auf, die ihrerseits bis in die Vorsokratik zurückreichen. Dennoch können, aus je verschiedenen Gründen, weder die Vorsokratiker4 noch die Sophisten5, weder Sokrates6 (469 – 399 v. Chr.) oder Platon7 (427 – 347 v. Chr.) noch Aristoteles8 (384 – 322 v. Chr.) im selben Maße wie die Stoiker als Begründer des Naturrechtsdenkens gelten. Erst in der Stoa findet sich die genuine Vorstellung, die bis in die Neuzeit hinein den Grundgehalt der Naturrechtsidee ausmacht: die Vorstellung einer überpositiven, in der Natur (des Menschen) gründenden rechtlich-sittlichen Norm, die (1) als unbedingter Bewertungsmaßstab für jede mögliche positive Rechtsordnung fungiert, indem sie definiert, was überhaupt (ge)recht ist, und dabei (2) zugleich universale Gültigkeit besitzt, insofern sie für alle Menschen aufgrund ihrer Gleichheit als Vernunftwesen einsehbar und verbindlich ist.9 Auch wenn der Hauptakzent der Stoiker auf dem vom Natur- als 4

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Ein frühestes, vorsokratisches Naturrechtsdenken in „der Lehre von der kosmischen Ordnung (Anaximander) und dem göttlichen Gesetz (Heraklit)“ erblickt Erik Wolf: Naturrecht. Abriß der Wort-, Begriffs- und Problemgeschichte, in: Historisches Wçrterbuch der Philosophie, Bd. 6, hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Darmstadt 1984, Sp. 560 – 563. Daß die Sophisten die Urheber des („existentiellen“) Naturrechtsdenkens sind, meint Hans Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4., neubearbeitete und erweiterte Auflage. Göttingen 1962, S. 11 – 18. Zur These, Sokrates sei der Gründer des Naturrechts, vgl. Leo Strauss: Naturrecht und Geschichte. Stuttgart 1956, S. 124 – 170. Bei Platon wird der Anfang des Naturrechtsdenkens gesehen von Ada Neschke-Hentschke: Politischer Platonismus und die Theorie des Naturrechts. Essai zur Archologie der Menschenrechte, in: Naturphilosophie und politische Philosophie bei Platon, hg. von Enno Rudolph. Darmstadt 1996, S. 55 – 73. Aristoteles wird zum ,Vater des Naturrechts‘ deklariert von Michel Villey: Rckkehr zur Rechtsphilosophie, in: Das neue Cicerobild, hg. von Karl Büchner. Darmstadt 1971, S. 259 – 303. Zur allgemeinen Definition des Naturrechts siehe Otfried Höffe: Das Naturrecht angesichts der Herausforderung durch den Rechtspositivismus, in: Das Naturrechtsdenken heute und morgen. Gedchtnisschrift fr Ren Marcic, hg. von Dorothea MayerMaly und Peter M. Simons. Berlin 1983, S. 303 – 335, dort S. 305: „Das Naturrecht – so die erste These – behauptet, daß es überpositive Grundsätze gibt, die jeder menschlichen Verfügung entzogen sind. Sie sind deshalb – so die zweite These – vorgängig zu jeder gegebenen Rechtsordnung gültig und stellen für diese einen allgemein und unbedingt geltenden Maßstab dar.“ Damit ist der

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Vernunftgesetz gebotenen tugendhaften Leben liegt, also auf der moralischen Pflicht des einzelnen und nicht auf seinem subjektiven Recht,10 kommt im Zusammenhang hiermit doch zum erstenmal in der Geschichte der Philosophie der Gedanke einer wesentlichen Würde aller Menschen auf, der in gewissem Grade bereits die moderne Menschenrechtsvorstellung antizipiert. Nicht von ungefähr bildet die von den älteren Stoikern ausgearbeitete Theorie der Oikeiosis, die mit ihrer Lehre vom Naturgesetz unauflösbar verbunden ist, auch den Anknüpfungspunkt, von dem aus dann zu Beginn der Neuzeit – von Hugo Grotius (1583 – 1645) – der Begriff natürlicher Individualrechte des Menschen entwickelt wird.11 Maßgeblich weiter tradiert wurde die stoische Naturrechtslehre durch Cicero (106 – 43 v. Chr.),12 was Hans von Arnim dazu veranlaßte, in seiner Fragmentsammlung Stoicorum Veterum Fragmenta ganze Passagen aus Ciceros Schriften, vor allem aus dem ersten Buch von De legibus abzudrucken, um die Ansichten der frühen Stoiker über Recht und Gesetz wiederzugeben. Doch dieses Verfahren erweist sich als fragwürdig, da es Ciceros Eigenständigkeit übersieht: Er ist zwar eindeutig von altstoischem Gedankengut geprägt, wiederholt und systematisiert dieses aber nicht lediglich, sondern geht zugleich in signifikanter Weise universale Charakter des Naturrechts im Sinne seiner gleichen Gültigkeit für alle Menschen angesprochen. Das Naturrecht erweist sich so als aus der allgemeinen Natur des Menschen abgeleitet, wie auch aus der nächsten Bestimmung des Naturrechts als Vernunftrecht hervorgeht, insofern hier die Natur des Menschen als Vernunft-Natur vorausgesetzt wird: „Das Naturrecht bezeichnet jene Grundsätze – so die dritte These –, die sich mit Hilfe der natürlichen Vernunft einsehen lassen. […] Weil es sich um das Recht handelt, insofern es von der Vernunft erkannt wird, heißt es auch Vernunftrecht […].“ (S. 306) 10 Vgl. Leo Strauss: Naturrecht und Geschichte (wie Anm. 6), S. 188 f.: „Die vormodernen Naturgesetzdoktrinen lehrten die Pflichten des Menschen. Wenn sie seinen Rechten überhaupt irgendwelche Beachtung schenkten, dann faßten sie sie als wesentlich von seinen Pflichten abgeleitet auf. Wie oft bemerkt worden ist, wurden im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts die Rechte viel mehr betont, als es jemals zuvor getan worden war. Man kann von einer Verlagerung des Nachdrucks von den natürlichen Pflichten auf die natürlichen Rechte sprechen.“ 11 Vgl. unten, S. 280 f. 12 Vgl. Gerard Watson: The Natural Law and Stoicism, in: Problems in Stoicism, hg. von Anthony Arthur Long. London 1971, S. 216 – 238, dort S. 217 f., der konstatiert, „that for later ages the Stoics were particularly associated with natural law mainly because of one man, Cicero.“ Allerdings übergeht Watson – wie viele andere auch – die wesentlichen Unterschiede zwischen Ciceros Naturrechtslehre und derjenigen der frühen Stoa.

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darüber hinaus, indem er versucht, aus dem noch weitgehend allgemein und inhaltsleer bleibenden Naturgesetz der Stoiker konkrete Normen abzuleiten, nach denen das politische Gemeinwesen zu regieren ist. Mit diesem Versuch einer Positivierung des Naturrechts zieht Cicero Konsequenzen aus der stoischen Lehre vom natürlichen Gesetz, zu denen die Stoiker selbst noch nicht gelangen, da sie letztlich dabei stehen bleiben, das an der Maßstabsnorm des Naturrechts gemessene konkrete Recht bloß negativ zu bewerten und zu verwerfen. Dagegen erscheint Ciceros Konzeption insofern problematisch, als er das Naturrecht in konservativer Absicht ausschließlich mit der überkommenen Rechtsordnung der römischen Republik identifiziert. Erst bei den christlichen Naturrechtsdenkern finden sich dann auch Ansätze zu einer ,Historisierung‘ des Naturrechts. Bevor dies aber im einzelnen herausgestellt werden soll, skizziere ich zunächst die Vorgeschichte der Naturrechtsidee von den Vorsokratikern bis Aristoteles, um auf dieser Folie die Neuartigkeit der stoischen Gedanken hervorzuheben. Den Abschluß meiner Ausführungen bildet ein Ausblick auf die Rezeption und Transformation der stoisch-ciceronischen Naturrechtslehre von den römischen Juristen der Kaiserzeit bis Rousseau.

I. Zur Vorgeschichte des Naturrechtsdenkens – von den Vorsokratikern bis Aristoteles Das Rechts- und Gesetzesdenken der vorsokratischen Philosophie des 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr. ist durch eine enge Verknüpfung mit der Reflexion über die ganze Natur, den Kosmos, bestimmt. So begreift etwa Anaximander (ca. 610 – 545 v. Chr.) in seinem berühmten Satz über das Apeiron das Werden und Vergehen aller natürlichen Dinge nach dem rechtlichen Muster von Schuld und Vergeltung, Unrecht und Strafe.13 Von besonderer Bedeutung in diesem Kontext ist Heraklits (ca. 540 – 480 v. Chr.) Lehre vom göttlichen Logos als dem alles durchwaltenden, immanenten Grundprinzip des Kosmos.14 Die Weltordnung erscheint bei ihm als von einem einheitlichen Gesetz beherrscht; Physis und Nomos werden miteinander gleichgesetzt. Ein13 Siehe Anaximander: DK 12 B 1 (Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und deutsch von Hermann Diels, hg. von Walther Kranz, 3 Bände. Zürich 61951 f.). 14 Zu Heraklits Logos-Philosophie allgemein vgl. Wolfgang H. Pleger: Der Logos der Dinge. Eine Studie zu Heraklit. Frankfurt a.M. 1987.

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deutig nimmt Heraklit damit eine spezifisch stoische Gedankenfigur vorweg. Gleichwohl bestehen auch gravierende Differenzen zur stoischen Naturrechtslehre. Sie betreffen das Verhältnis der menschlichen Gesetze zum göttlichen Gesetz, das Heraklit wie folgt bestimmt: ˜ num\ ˜ p²mtym, fjyspeq mºl\ pºkir, n»m mº\ k´comtar Qswuq¸feshai wqµ t\ ja· pok» Qswuqot´qyr. tq´vomtai c±q p²mter oR !mhq¾peioi mºloi rp¹ 2m¹r toO he¸ou· jqate? c±q tosoOtom bjºsom 1h´kei ja· 1naqje? p÷si ja· peqic¸metai. Wenn man mit Verstand reden will, muß man sich stark machen mit dem allen Gemeinsamen wie eine Polis mit dem Nomos und noch viel stärker. Nähren sich doch alle menschlichen Gesetze von dem einen, göttlichen; denn dieses gebietet, soweit es nur will, und reicht aus für alles und ist sogar noch darüber.15

Heraklit leitet hier die in der Polis geltenden, menschlichen mºloi von dem einen göttlichen Nomos ab, der offenkundig mit dem Logos identisch ist. Dieser gilt ihm somit nicht nur im Sinne des ewig lebendigen Feuers als kosmogonisches Urelement16 oder als höhere Einheit des Gegensätzlich-Widerstreitenden17, sondern zugleich als Ursprung der überkommenen politischen Ordnung, die insofern göttlichnatürlich begründet erscheint. Dem entspricht auch Heraklits Forderung, die Bürgerschaft solle um ihren Nomos kämpfen wie um ihre Stadtmauer.18 Auch wenn Heraklits grundsätzliche Identifikation von Physis und Nomos später eine paradigmatische Leitfunktion für das naturrechtliche Denken der Stoiker erhält, schließt seine Zurückführung aller menschlichen Gesetze auf den einen göttlichen Nomos jedoch die – wesenhaft zu jeder Naturrechtslehre gehörende – Reflexion auf die Möglichkeit eines Konflikts zwischen natürlichem und gesetztem Recht noch völlig aus. Vor dem Hintergrund einer diametralen Entgegensetzung von Physis und Nomos gerät diese Möglichkeit erstmals innerhalb der Sophistik in den Blick.19 Entsprechend der von den Sophisten im weiteren Verlauf des 5. Jh.v.Chr. vollzogenen ,anthropologischen Wende‘ – weg von der göttlichen All-Natur, hin zur individuellen Natur des Menschen – 15 16 17 18 19

Heraklit: DK 22 B 114. Siehe Heraklit: DK 22 B 30, 31. Siehe Heraklit: DK 22 B 51. Siehe Heraklit: DK 22 B 44. Dazu grundlegend Felix Heinimann: Nomos und Physis. Herkunft und Bedeutung einer Antithese im griechischen Denken des 5. Jahrhunderts. Darmstadt 51987.

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wurde zunehmend zwischen den von Menschen gemachten Gesetzen und der Natur des einzelnen (im weitesten Sinn) unterschieden. Grundsätzlich lassen sich hierbei drei Positionen voneinander abgrenzen.20 Die erste Richtung repräsentiert Protagoras (ca. 485 – 415 v. Chr.), dessen homo-mensura-Satz den relativistischen Standpunkt der Sophisten insgesamt gut zum Ausdruck bringt: „p²mtym wqgl²tym l´tqom 1st·m %mhqypor, t_m l³m emtym ¢r 5stim, t_m d³ oqj emtym ¢r oqj 5stim“ – „Aller Dinge Maß ist der Mensch, der seienden, daß (wie) sie sind, der nicht seienden, daß (wie) sie nicht sind.“21 Entscheidend ist aber, daß Protagoras, obwohl er von diesem Standpunkt aus auch die unbedingte Geltung der überlieferten mºloi in Frage stellt,22 schließlich doch an der Notwendigkeit des Lebens in der Polis sowie an der Möglichkeit einer guten und gerechten Gesetzgebung festhält.23 Dem steht die Ansicht der Sophisten Hippias (ca. 460 – 400 v. Chr.) und Antiphon (ca. 480 – 411 v. Chr.) gegenüber; sie relativieren die mºloi noch stärker, indem sie diese zu Vereinbarungen erklären, die gänzlich der gesetzgeberischen Willkür entspringen. Anders als Protagoras setzt Antiphon den mºloi auf dieser Grundlage bereits die Natur schlechthin entgegen. Während er rät, die Gesetze zwar in der Öffentlichkeit gutzuheißen und zu befolgen, empfiehlt er zugleich, sich doch, sobald man nur unbemerkt ist, von ihnen freizumachen und auf die Stimme der Natur zu hören: dijaios¼mg owm t± t/r pºkeyr mºlila, 1m Ø #m pokite¼gta¸ tir, lµ paqaba¸meim. wq`t’ #m owm %mhqypor l²kista 2aut` nulveqºmtyr dijaios¼m,, eQ let± l³m laqt¼qym to»r mºlour lec²kour %coi, lomo¼lemor

20 Zu dieser Einteilung vgl. Jochen Martin: Zur Entstehung der Sophistik, in: Saeculum 27, 1976, S. 144 – 164, dort S. 160 f.; in ähnlicher Weise gruppiert die Sophisten auch Hans Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit (wie Anm. 5), S. 12 – 18. 21 Protagoras: DK 80 B 1. 22 Siehe Platon: Theaitet 172a (Platons Werke werden zitiert nach der Ausgabe von Gunther Eigler. Darmstadt 42005). An dieser Stelle referiert Sokrates die Ansicht des Protagoras: „[…] jak± l³m aQswq± ja· d¸jaia ja· %dija ja· fsia ja· l¶, oXa #m 2j²stg pºkir oQghe?sa h/tai mºlila art0, taOta ja· eWmai t0 !kghe¸ô 2j²st,, ja· 1m to¼toir l³m oqd³m sov¾teqom oute Qdi¾tgm Qdi¾tou oute pºkim pºkeyr eWmai.“ – „[…] das Schöne und Schlechte, das Gerechte und Ungerechte, das Fromme und Unfromme, was in diesen Dingen eine Polis für Meinung faßt und dann feststellt als gesetzmäßig, das ist es nun auch für jede in Wahrheit, und in diesen Dingen ist um nichts weiser weder ein einzelner als der andere, noch eine Polis als die andere.“ 23 Siehe Platon: Protagoras 322e-323a.

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d³ laqt¼qym t± t/r v¼seyr· t± l³m c±q t_m mºlym 1p¸heta, t± d³ t/r v¼seyr !macja?a· ja· t± l³m t_m mºlym blokocgh´mta oq v¼mt’ 1st¸m, t± d³ t/r v¼seyr v¼mta oqw blokocgh´mta. t± owm mºlila paqaba¸mym 1±m k²h, to»r blokoc¶samtar ja· aQsw¼mgr ja· fgl¸ar !p¶kkajtai· lµ kah½m d’ ou·

Gerechtigkeit besteht darin, die gesetzlichen Vorschriften der Polis, in der man Bürger ist, nicht zu übertreten. Es wird also ein Mensch für sich am meisten Nutzen bei der Anwendung der Gerechtigkeit haben, wenn er vor Zeugen die Gesetze hoch hält, allein und ohne Zeugen dagegen die Gebote der Natur; denn die der Gesetze sind willkürlich, die der Natur dagegen notwendig; und die der Gesetze sind vereinbart, nicht gewachsen, die der Natur dagegen gewachsen, nicht vereinbart. Wer also die gesetzlichen Vorschriften übertritt, ist, wenn es ihren Vereinbarern verborgen bleibt, von Schande und Strafe verschont; bleibt es ihnen nicht verborgen, so nicht.24

Obwohl hier strikt zwischen Gesetzes- und Naturgeboten differenziert wird, vertritt Antiphon doch eher eine rechtspositivistische als eine naturrechtliche Position. Für ihn gibt es keine feststehenden Normen jenseits der persönlichen „Natur“ und ihres Nutzenkalküls, angesichts dessen alles zu rechtfertigen ist, was nicht zum eigenen Nachteil führt. Mit dieser eklatant egoistischen Sichtweise nähert sich Antiphon im Grunde schon jener dritten, aristokratischen Spielart des sophistischen Rechtsdenkens an, wie sie von Gorgias (ca. 480 – 375 v. Chr.), Kallikles und Thrasymachos (5. Jh.v.Chr.) repräsentiert wird. Sie argumentieren gegen eine allgemeine Verbindlichkeit der bestehenden mºloi, indem sie diese entweder als Werk der Schwachen (Gorgias/Kallikles25) oder der Starken (Thrasymachos26) entlarven, die jeweils ihren Vorteil dabei suchen. Relativiert Thrasymachos lediglich die Geltung der Gesetze, wenn er sie als Ausdruck partikularer Herrschaftsinteressen interpretiert, so verfolgen Kallikles und Gorgias dagegen eine geradezu umstürzlerische Intention: Der Beliebigkeit menschlicher Gesetze, welche die vielen Schwachen in demokratisch regierten Poleis zu ihrem Schutz 24 Antiphon: DK 87 B 44. Walther Eckstein: Das antike Naturrecht in sozialphilosophischer Bedeutung. Wien/Leipzig 1926, S. 32 – 40, deutet das Fragment als Ausdruck eines utilitaristischen Naturrechts. Dagegen scheint mir die Brücke vom Utilitarismus zum Naturrecht nicht so leicht zu schlagen: Der persönliche Nutzen einer Handlung, dem Antiphon eine ausschlaggebende Bedeutung beimißt, ist gerade kein naturrechtlicher Aspekt, so daß man hier weit eher von einem utilitaristischen Rechtsegoismus sprechen kann. Vgl. auch die ausführliche Interpretation bei Klaus Friedrich Hoffmann: Das Recht im Denken der Sophistik. Stuttgart/Leipzig 1997, S. 186 – 208. 25 Siehe Platon: Gorgias 483b-c. 26 Siehe Platon: Politeia 338e.

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erlassen haben, stellen sie das natürliche Recht des Stärkeren gegenüber, der aufgrund seiner Überlegenheit zur Herrschaft bestimmt sei.27 Der mºlor v¼seyr, wie ihn diese Sophisten denken, hat mit dem, was seit der Stoa unter dem Natur-Gesetz verstanden wird, allenfalls den Namen gemein. Gegen den Relativismus und Subjektivismus des sophistischen (Rechts-)Denkens wenden sich nun zwar Sokrates und Platon; von Sokrates als dem „Urheber der gesamten Tradition der Naturrechtslehren“ bzw. von einer „sokratisch-platonisch-stoische[n] Naturrechtslehre“28 kann indes lediglich in sehr eingeschränktem Sinn gesprochen werden. Wenn Sokrates den mºloi seiner Polis als dem, „was die Bürger […] gemeinsam beschlossen und schriftlich niedergelegt haben darüber, was man tun und wovon man sich fernhalten muß“29, eine solche Achtung entgegenbringt, daß er es schließlich sogar für nötig hält, ihnen auch dann zu folgen, wenn sie Unrecht enthalten, so bestimmt er die Gerechtigkeit (dijaios¼mg) des einzelnen – im Prinzip wie der Sophist Antiphon, nur unter anderem Vorzeichen – primär als Gehorsam gegenüber den positiven Gesetzen.30 Von dieser Auffassung setzt sich die stoische Gerechtigkeitskonzeption, die gerade am überpositiven Naturgesetz der Vernunft orientiert ist, deutlich ab. Auf der anderen Seite kann in Sokrates allerdings insofern tatsächlich ein Vorläufer des stoischen Naturrechtsdenkens gesehen werden, als er die Quelle sittlichen Handelns ins Innere des Menschen verlegt und dieses selbst mit der ,Gesundheit der Seele‘ in Verbindung bringt. Das Daimonion des Sokrates, die göttliche Stimme in seinem Inneren,31 weist so bereits auf die Konzeption des Gewissens (conscientia) voraus, wie sie später dann in Ciceros Bearbeitung der altstoischen Natur-

27 Siehe Platon: Gorgias 483d, wo Kallikles im Anschluß an Gorgias die Meinung vertritt: „B d´ ce, oWlai, v¼sir aqtµ !pova¸mei aw, fti d¸jaiºm 1stim t¹m !le¸my toO we¸qomor pk´om 5weim ja· t¹m dumat¾teqom toO !dumatyt´qou.“ – „Die Natur selbst aber, denke ich, beweist dagegen, daß es gerecht ist, daß der Edlere mehr habe als der Schlechtere und der Tüchtigere als der Untüchtige.“ 28 Leo Strauss: Naturrecht und Geschichte (wie Anm. 6), S. 123 u. 151. 29 Xenophon: Erinnerungen an Sokrates IV, 4, 13 (hg. von Peter Jaerisch. München 1962). 30 In diesem Zusammenhang vgl. auch Sokrates’ Argumentation gegen eine mögliche Flucht aus Athen angesichts seiner Verurteilung zum Tode (Platon: Kriton 48c). 31 Siehe Platon: Apologie 31c-e, 37e-38a.

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rechtslehre32 und darüber hinaus auch in der jüngeren Stoa, vor allem bei Seneca,33 eine wichtige Rolle spielt. Mit seiner Frage nach der perfekten Polisordnung geht Platon zwar deutlich über seinen Lehrer Sokrates hinaus, doch denkt er noch nicht im universalen Sinne naturrechtlich – was seine eminente Bedeutung für die Entwicklung des Naturrechtsdenkens keineswegs schmälert: Entfaltet er doch vor allem in seinem Hauptwerk, der Politeia, auf der Basis seiner Ideenlehre zum erstenmal in umfassender Weise die Frage, was Recht überhaupt ist und wie es mit der Vernunft-Natur des Menschen zusammenhängt. Doch während diese Frage gleichsam die stoische Problemstellung antizipiert, fällt die Antwort ganz anders aus als in der Stoa. Denn Platon bestimmt das Recht im Sinne der Gerechtigkeit nicht im Hinblick auf die menschliche Gleichheit, sondern als hierarchisches Ordnungsprinzip, das Ungleichheit festschreibt.34 Gerechtigkeit bedeutet für ihn dabei primär das richtige Verhältnis zwischen den unterschiedenen Seelenteilen (Vernunft, Mut, Begehren) im Einzelmenschen, das er zum Modell für das richtige Verhältnis zwischen den entsprechenden drei Menschengruppen (Philosophenherrscher, Wächter, Bauern/Handwerker) innerhalb der Polis macht. Gerecht ist es demnach, daß jeder Seelenteil bzw. jedes Polisglied das ,Seine‘ tut. In bezug auf den internen Kräftehaushalt der einzelnen Seele heißt das: OqjoOm t` l³m kocistij` %qweim pqos¶jei, sov` emti ja· 5womti tµm rp³q "p²sgr t/r xuw/r pqol¶heiam, t` d³ huloeide? rpgjº\ eWmai ja· null²w\ to¼tou […]. Ja· to¼ty dµ ovty tqav´mte ja· ¢r !kgh_r t± art_m lahºmte ja· paideuh´mte pqost¶seshom toO 1pihulgtijoO […].

Nun gebührt doch dem vernünftigen Teil zu herrschen, weil er weise ist und für die gesamte Seele Vorsorge hat, dem mutvollen Teil aber, diesem folgsam zu sein und ihm verbündet […]. Und diese beiden nun, so auferzogen und in Wahrheit in dem Ihrigen unterwiesen und gebildet, müssen dann dem begehrenden Teil vorstehen […].35 32 Vgl. unten, S. 267. 33 Siehe Seneca: Epistulae morales 41, 2 (Senecas Werke werden zitiert nach der Ausgabe von Manfred Rosenbach. Darmstadt 51999): „[…] sacer intra nos spiritus sedet, malorum bonorumque nostrorum observator et custos: hic prout a nobis tractatus est, ita nos ipse tractat.“ – “ […] ein heiliger Geist wohnt in uns, unserer schlechten und guten [Taten] Beobachter und Wächter: wie er von uns behandelt wird, so behandelt er uns.“ 34 Vgl. Henning Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Von den Anfngen bei den Griechen bis auf unsere Zeit, Band 1: Die Griechen, Teilband 2: Von Platon bis zum Hellenismus. Stuttgart/Weimar 2001, S. 36 f. 35 Platon: Politeia 441e-442a.

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Diese Hierarchie der Seelenteile als gerechte Ordnung im einzelnen Menschen ist nun zwar keineswegs eine solche, die sich immer schon von selbst einstellt und feststeht, d. h. nicht in Unordnung geraten kann, sondern zeigt lediglich ein Verhältnis an, das bestehen soll. Gleichwohl ist es für Platon die natürliche, von der Physis vorgegebene Ordnung; sie ist diejenige, die der Natur der Seele entspricht. Physis in diesem Sinn ist also ein normativer Begriff, der sich ebenfalls auf die polisbezogene Gerechtigkeit anwenden läßt: Auch sie wird von Platon als ,natürliche Gerechtigkeit‘ (t¹ v¼sei d¸jaiom) gefaßt.36 In Analogie zum naturgemäßen Herrschaftsverhältnis der Seelenkräfte im einzelnen beschreibt Platon die gute, wohlgeordnete Polis als Gemeinschaft, in welcher alle Mitglieder in harmonischem Zusammenwirken jeweils das ,Ihre‘ tun: „wqglatistijoO, 1pijouqijoO, vukajijoO c´mour oQjeiopqac¸a, 2j²stou to¼tym t¹ artoO pq²ttomtor 1m pºkei, toqmamt¸om 1je¸mou dijaios¼mg t’ #m eUg ja· tµm pºkim dija¸am paq´woi“ – „Der erwerbenden, beschützenden und beratenden Klasse Geschäftstreue, daß nämlich jede von diesen das Ihrige verrichtet in der Polis, würde das Gegenteil [der Ungerechtigkeit], also Gerechtigkeit sein und die Polis gerecht machen.“37 Signifikant ist dabei, daß und wie Platon von einer natürlichen Ungleichheit der Menschen untereinander – in Parallele zu den verschiedenen Seelenteilen – ausgeht. Nach seiner Vorstellung ist der vernünftige Teil bei den meisten von Natur aus so schwach, daß diese sich bedingungslos den wenigen Weisen unterwerfen müssen, um selbst der gerechten Herrschaft der Vernunft zu unterstehen, was eine ständische Gliederung der Gesellschaft notwendig erscheinen läßt. Für jeden gibt es in ihr die seiner Natur zukommende Stellung, in der zu verharren und deren spezifische Aufgaben für die Polisgemeinschaft zu erfüllen die für die naturgemäße Ordnung konstitutive Gerechtigkeit (dijaios¼mg) erfordert.38 Indem Platon die so beschaffene Polisordnung als ein Idealgebilde entwirft,39 von dem aus er die bestehenden Polisverfassungen einer Kritik unterzieht,40 unter36 Siehe Platon: Politeia 501b; vgl. dazu auch Ernst-Wolfgang Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie. Antike und Mittelalter, 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Tübingen 2006, S. 83. 37 Platon: Politeia 434c. 38 Siehe Platon: Politeia 415c. 39 Siehe Platon: Politeia 592a-b. 40 Siehe Platon: Politeia 544a-545c. Dazu Dorothea Frede: Die ungerechten Verfassungen und die ihnen entsprechenden Menschen, in: Platon. Politeia (Klassiker Auslegen 7), hg. von Otfried Höffe. Berlin 1997, S. 251 – 270.

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scheidet er also zwischen einem politischen Recht, das der Natur entspricht, und einem solchen, das ihr zuwiderläuft und mithin eigentlich gar kein Recht ist. Der formalen Struktur nach handelt es sich bei dieser Unterscheidung um eine für das spätere Naturrechtsdenken fundamentale Differenz, wie sie so zuvor noch nicht gedacht worden ist. Insbesondere die konstituierende und korrigierende Funktion des Naturrechts in bezug auf das positive Recht erscheint hier bereits vorgebildet.41 Inhaltlich steht die von Platon konzipierte Natur-Gerechtigkeit als Organisationsprinzip einer ,Drei-Klassen-Gesellschaft‘ jedoch in deutlichem Widerspruch zu dem erst in der Stoa aufkommenden naturrechtlichen Grundpostulat der prinzipiellen Gleichheit aller Menschen als Vernunftwesen. Ähnliches trifft auf Aristoteles zu, auch wenn dieser die von ihm entworfene naturgemäße Rechtsordnung des politischen Gemeinwesens – scheinbar ganz anders als Platon – explizit auf die Gleichheit der Bürger bezieht. Eine etwas nähere Betrachtung seines Rechtsverständnisses zeigt indes, daß und weshalb auch Aristoteles nicht als Begründer des Naturrechts gelten kann. Gemäß seiner Auffassung handelt es sich beim Menschen um ein von Natur aus auf die Polis bezogenes Wesen (f`om pokitijºm),42 wobei Natur hier im teleologischen Sinn als Ziel und Vollendungszustand zu verstehen ist. Nur in der Polis, so die anthropologische Voraussetzung, kann der Mensch seinen höchsten und eigentlichen Daseinszweck erreichen: das glückliche, gute Leben (ew f/m) in einer Gemeinschaft von freien Bürgern, die alle gleichen Anteil am Herrschen und Beherrschtwerden haben.43 Von hier aus ist auch das Polis-Recht zu verstehen, das die Beziehungen zwischen den Bürgern regeln soll.44 In einer vieldiskutierten Passage der Nikomachischen Ethik unterscheidet Aristoteles zwischen dem natürlichen Recht, das notwendig in jeder Polis gilt, und dem gesetzlichen Recht, das Resultat willkürlicher Festlegung ist: 41 Vgl. Ada Neschke-Hentschke: Politischer Platonismus und die Theorie des Naturrechts (wie Anm. 7), S. 64: „Das Naturrechtsdenken, das Plato damit in die Welt gesetzt hat, besteht also darin, für die politische Ordnung ein von sich aus, ein von Natur her bestehendes Ordnungsprinzip zum Vorbild zu nehmen und dieses zum metapositiven Ziel einer positiven Gesetzgebung zu erheben, mit anderen Worten, die menschliche Ordnung an der natürlichen Ordnung, das ,von Natur Rechte‘ genannt, zu orientieren.“ 42 Siehe Aristoteles: Politik I, 2, 1153a 1 – 2. 43 Siehe Aristoteles: Politik III, 6, 1279a 9 – 22. 44 Siehe Aristoteles: Nikomachische Ethik V, 10, 1134a 26 – 30.

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ToO d³ pokitijoO dija¸ou t¹ l³m vusijºm 1sti t¹ d³ molijºm, vusij¹m l³m t¹ pamtawoO tµm aqtµm 5wom d¼malim, ja· oq t` doje?m C l¶, molij¹m d³ d 1n !qw/r l³m oqd³m diav´qei ovtyr C %kkyr […].

Das politische Recht zerfällt in das natrliche und in das gesetzliche. Natürlich ist jenes, das überall [in jeder Polis] die nämliche Geltung hat, unabhängig davon, ob es den Menschen gut scheint oder nicht; gesetzlich jenes, dessen Inhalt ursprünglich indifferent ist […].45

Ohne auf sämtliche Schwierigkeiten einzugehen, die sich aus dem hier und im weiteren von Aristoteles Gesagten ergeben mögen, sei an dieser Stelle nur festgehalten, daß das vusij¹m d¸jaiom offenkundig die Polisdefinition selbst tangiert. Und da Aristoteles die Polis als auf das NaturTelos des Gemeinwohls und -glücks bezogene Gemeinschaft zwischen Freien und Gleichen bestimmt, ist deren natürliches Recht wesentlich ein Gleichheits-Recht, d. h. ein Recht, das die Gleichheit (Qsºtgr) der freien Polisbürger gewährleistet. Dies wird auch aus Aristoteles’ Definition der Gerechtigkeit deutlich. Sie entscheidet nach ihm darüber, was „rechtmäßig“ (d¸jaior) ist,46 und zwar tut sie dies als eine genuin sozialethische Kategorie, die über Platons ,individualpsychologisch‘ fundierten und ,herrschaftssoziologisch‘ gewendeten, aber auch über Sokrates’ an den Gesetzen orientierten Gerechtigkeitsbegriff hinausgeht und bereits auf den egalitären der Stoa vorausweist, indem sie (als „besondere“ im Unterschied zur „allgemeinen“ Gerechtigkeit) als Garantin der Gleichheit der Polisbürger gefaßt wird.47 45 Aristoteles: Nikomachische Ethik V, 10, 1134b 18 – 22 (griechischer Text zitiert nach der Ausgabe von Ingram Bywater. Oxford 1894 ff.; deutscher Text zitiert nach der Ausgabe von Eugen Rolfes und Günther Bien. Hamburg 1995); siehe auch Rhetorik I, 13, 1373b 4 – 24 sowie Magna Moralia I, 33, 1194b 28 – 1195a 7. Zur unterschiedlichen Deutung des „natürlichen Rechts“ bei Aristoteles siehe Michel Villey: Deux conceptions du droit naturel dans l’antiquit, in: Revue historique de droit français et étranger 31, 1953, S. 475 – 497; Hans Kelsen: Die Grundlage der Naturrechtslehre, in: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht 13, 1964, S. 1 – 37, bes. S. 1 – 26; Joachim Ritter: ,Naturrecht‘ bei Aristoteles, in: J.R.: Metaphysik und Politik. Frankfurt a.M. 1977, S. 133 – 179; Klaus Martin Girardet: ,Naturrecht‘ bei Aristoteles und Cicero (De legibus): Ein Vergleich, in: Cicero’s Knowledge of the Peripatos, hg. von William W. Fortenbaugh und Peter Steinmetz. New Brunswick/New Jersey 1989, S. 114 – 132, dort S. 118 – 122; Heinz-Gerd Schmitz: Von der Wandelbarkeit natrlichen Rechts. berlegungen zur Aristotelischen Praktik, in: Philosophisches Jahrbuch 107, 2000, S. 116 – 132. 46 Aristoteles: Politik I, 2, 1253a, 38. 47 Zur Definition der Gerechtigkeit als allgemeine – gesetzliche – und besondere – gleichheitliche – Gerechtigkeit siehe Aristoteles: Nikomachische Ethik V, 2,

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Doch weshalb muß dann trotzdem gesagt werden, daß auch Aristoteles’ Lehre vom natürlichen Recht keine Naturrechtslehre im eigentlichen Sinn darstellt? Die Antwort darauf liegt bereits in dem stark eingeschränkten Begriff des Polisbürgers, den Aristoteles bei all seinen Überlegungen vor Augen hat.48 Freiheit und Gleichheit, damit auch die Teilhabe am natürlichen Recht der Polis, kommen nicht allen Menschen zu, die in ihr leben, sondern nur einer bestimmten Klasse: denjenigen volljährigen Männern, die aus der Polis stammen und begütert genug sind, um sich ganz den Polisangelegenheiten widmen zu können. Frauen, Kinder und vor allem Sklaven bleiben davon ausgeschlossen, weshalb auch zwischen ihnen und den freien Bürgern, denen sie (zu)gehören, rechtliche Verhältnisse lediglich in übertragener Bedeutung bestehen.49 Insbesondere die von Aristoteles vertretene These des ,Sklaven von Natur‘ (v¼sei do¼koi) steht dem Gedanken eines aus dem menschlichen Vernunft-Wesen resultierenden, allgemeingültigen Naturrechts diametral entgegen und wird denn auch von der stoischen Naturrechtslehre entschieden abgelehnt. Indem Aristoteles einigen Menschen die Fähigkeit zum Gebrauch der Vernunft abspricht und daraus schlußfolgert, sie seien von Natur aus zu lebendigen Werkzeugen bestimmt,50 geht er letztlich wie Platon von einer natürlichen Ungleichheit der Menschen aus. Dies führt jedoch angesichts seiner Definition des Menschen als eines auf das Polis-Leben ausgerichteten Vernunftwesens zu dem offenkundigen Selbstwiderspruch, daß einige Menschen eben keine (vollwertigen) Menschen sind.

II. Die altstoische Lehre vom Vernunft-Gesetz der Natur als Begründung eines universalen Naturrechts Die genuine Begründung des Naturrechtsdenkens in der Philosophie der frühen Stoa knüpft an die soeben skizzierte Tradition des Rechtsund Gesetzesdenkens in der älteren griechischen Philosophie an. Dabei 1129a-31b; vgl. auch Ernst-Wolfgang Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie (wie Anm. 36), S. 115 – 120. 48 In der Forschung wird sonst oft darauf hingewiesen, daß Aristoteles die für das Naturrechtsdenken konstitutive Entgegensetzung zwischen natürlichem und positivem Recht gar nicht kenne, jenes vielmehr als einen Teil von diesem begreife und außerdem das natürliche Recht für veränderlich halte. 49 Siehe Aristoteles: Nikomachische Ethik V, 10, 1134b 9 – 16. 50 Siehe Aristoteles: Politik I, 5, 1254b 16 – 23.

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kombinieren die Stoiker gewissermaßen die Lehren Platons und Aristoteles’ mit denen der Vorsokratiker, vor allem Heraklits,51 aber auch mit denen der Sophisten.52 Im einzelnen ist es die platonisch-aristotelische Konzeption eines von Natur Rechten, die sie, inhaltlich entscheidend modifiziert, mit der monistisch-pantheistischen Logosphilosophie Heraklits und zugleich mit der sophistischen Relativierung der geltenden Gesetze verbinden. Die stoische Moral- und Rechtsphilosophie erfährt dadurch eine kosmologische Fundierung, wie sie die klassische griechische Philosophie nicht mehr kannte. Anders als für Heraklit gelten die menschlichen mºloi den Stoikern allerdings nicht mehr generell als Ausfluß des einen göttlichen Nomos; vielmehr unterscheiden sie gerade scharf zwischen dem Weltgesetz und den menschlichen Gesetzen, modern gesprochen: zwischen natürlichem und positivem Recht. Hinzu kommt, daß die Stoiker zum erstenmal innerhalb der Geschichte der abendländischen Philosophie nicht nur polis- bzw. bürgerbezogen, sondern dezidiert menschheitsbezogen über Recht und Gerechtigkeit philosophieren, so daß ein in jeder Hinsicht universales Naturrecht erst von ihnen begründet werden konnte. Dieser universale Ausgriff stoischen Denkens hat auch sozialgeschichtliche Gründe: Läßt sich die Polisphilosophie des Aristoteles noch als ein Versuch lesen, die zeitgenössische Krise der Polis durch deren theoretische Nobilitierung zu überwinden, so ist die um 300 v. Chr., also etwa zwei Jahrzehnte nach Aristoteles’ Tod (322 v. Chr.), von Zenon begründete Stoa schon vollends vom Niedergang der griechischen Poliswelt und der Etablierung der hellenistischen Großreiche in der Nachfolge Alexanders des Großen (356 – 323 v. Chr.) geprägt, was zusätzlich eine Öffnung des Blicks über die engen Grenzen der Polis hinaus bewirkte.53 51 Dazu Maximilian Forschner: Die stoische Ethik. ber den Zusammenhang von Natur-, Sprach- und Moralphilosophie im altstoischen System. Darmstadt 21995, S. 22 f. 52 Vgl. Walther Eckstein: Das antike Naturrecht in sozialphilosophischer Beleuchtung (wie Anm. 24), S. 103 f. 53 Reimar Müller: Die Staatsauffassung der frhen Stoa, in: R.M.: Polis und Res publica. Studien zum antiken Gesellschafts- und Geschichtsdenken. Weimar 1987, S. 284, deutet das Naturrechtsdenken der Stoiker auch aus dem zeitgenössischen Bedürfnis nach fester Orientierung: „Es handelt sich um eine Reaktion auf den Zerfall gültiger Normen der Polisgesellschaft und um den Versuch, Normen zu gewinnen, die über den Rahmen einer Polis bzw. der Gesamtheit der griechischen Poleis hinaus gültig sind.“

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Mit ihrer Lehre vom kosmischen Naturgesetz lösen die Stoiker nun zwar die alte sophistische Antithese zwischen Physis und Nomos auf, indem sie beide Begriffe wieder, wie einst schon Heraklit, synonym verwenden.54 Der Nomos verliert so seine primär politische Bedeutung, die er auch bei Platon und Aristoteles noch hatte, und avanciert erneut zum kosmologischen Grundprinzip. Zugleich aber wird die kritische Haltung der Sophisten gegenüber den menschlichen mºloi von den Stoikern grundsätzlich bewahrt, indem sie diese als bloß relative h´seir weiterhin der Physis entgegensetzen.55 Allerdings fungiert deren Nomos selbst bei ihnen jetzt ausdrücklich als schlechthin – zu jeder Zeit und an jedem Ort – feststehende Norm, an der sich das menschliche Verhalten orientieren muß, um als gut und gerecht beurteilt werden zu können. Bereits Zenon spricht in dieser Weise vom göttlichen Weltgesetz, welches das Rechte befiehlt und das Unrechte verbietet.56 Er stellt es sich weiterhin als naturimmanente Vernunft vor, als kºcor speqlatijºr, der als „im Stoff enthaltene[r] Logos die Konstitutionsfaktoren aller Dinge und die Ursachen alles […] Geschehens in sich“57 trägt. Dies zeigt schon, daß und wie in der Philosophie der Stoa Kosmologie und Ethik unauflöslich miteinander verbunden sind und somit ein NaturRecht begründen: Aus dem Naturgesetz der göttlichen Allvernunft ergeben sich unmittelbar auch die sittlichen Gebote, denen das Handeln des Menschen untersteht und welche allein bestimmen, was ,recht‘ ist. Im Zeushymnus des Kleanthes findet dies seinen Ausdruck, indem Zeus hier als „Herrscher der Natur“ (v¼seyr !qwgcºr) apostrophiert wird, der alles nach dem Nomos lenkt (V. 2) und gemäß dem Logos einrichtet (V. 12); der Mensch dagegen erscheint als das einzige sterbliche Wesen, 54 In dieser stoischen Gleichung Nomos = Physis sieht Ernst Bloch: Naturrecht und menschliche Wrde. Frankfurt a.M. 21980, S. 26, den eigentlichen Auftakt des abendländischen Naturrechtsdenkens: „Physis war nun nicht mehr Gegensatz, sondern Synonym für Nomos – als den rechten, den universal fundierten. Dadurch gelang erst die dauernde, keineswegs mühelose Verbindung der Begriffe Natur und Recht zur Parole Naturrecht, es gelang zum erstenmal das Pathos Naturrecht.“ 55 Siehe dazu auch Chrysipp: SVF III, 308; Diogenes Laertius VII, 128: „v¼sei te t¹ d¸jaiom eWmai ja· lµ h´sei, ¢r ja· t¹m mºlom t¹m aqh¹m kºcom […].“ – „Das Recht besteht […] von Natur und nicht durch menschliche Satzung, wie auch das Gesetz und die rechte Vernunft […].“ 56 Siehe Zenon: SVF I, 162; Cicero: De natura deorum I, 36: „Zeno […] naturalem legem divinam esse censet eamque vim obtinere recta imperantem prohibentemque contraria.“ 57 Paul Barth und Albert Goedeckemeyer: Die Stoa. Stuttgart 61946, S. 19.

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das an diesem Logos Anteil hat, jedoch zugleich durch „Torheit“ (%moia) das göttliche Gesetz mißachten, auf den Abweg des Bösen geraten und Unrecht tun kann (V. 18 ff.).58 Am deutlichsten wird die Universalisierung des derart mit der Physis und dem Logos identifizierten Nomos, der gleichzeitig als Maßstab für das Gute und Rechte fungiert, bei Chrysipp, welcher dementsprechend auch den ganzen Kosmos als eine einzige große Polis bezeichnet hat. Deren Nomos, das die ,Megalopolis‘ bzw. ,Kosmopolis‘ durchwaltende Gesetz, begreift er dabei als Singularetantum – es ist nur ein einziges Gesetz,59 das er den vielen verschiedenen Gesetzen, die sich die Menschen selbst gegeben haben, gegenüberstellt und als den wahren Bewertungsmaßstab für diese faßt, sofern ausschließlich durch es festgelegt wird, was gut und (ge)recht ist. Dies geht insbesondere aus der bei dem römischen Juristen Marcian überlieferten Eröffnungspassage von Chrysipps Werk über den Nomos hervor, in welcher der Stoiker auf Pindars Hymnus an den mºlor basike¼r anspielt, um den hohen Rang des Nomos zu betonen: b mºlor p²mtym 1st· basike»r he¸ym te ja· !mhqyp¸mym pqacl²tym·de? d³ aqt¹m pqost²tgm te eWmai t_m jak_m ja· t_m aQswq_m ja· %qwomta ja· Bcelºma, ja· jat± toOto jamºma te eWmai dija¸ym ja· !d¸jym ja· t_m v¼sei pokitij_m f`ym pqostajtij¹m l³m ¨m poigt´om, !pacoqeutij¹m d³ ¨m oq poigt´om.

Der Nomos ist König über alles, über göttliche und menschliche Dinge. Er muß die Autorität sein, die bestimmt, was sittlich schön und schlecht ist, muß Herr und Führer sein für die von Natur zur politischen Gemeinschaft veranlagten Wesen und demzufolge die Richtschnur abgeben für das, was gerecht und ungerecht ist, indem er befiehlt, was getan werden soll, und verbietet, was nicht getan werden darf.60

Was das Gute und Rechte ist, folgt demnach also nicht aus den von Menschen erlassenen unterschiedlichen Gesetzen, sondern aus dem natürlichen, immer und überall gleich geltenden Gesetz, das auch Chrysipp mit der Vernunft des höchsten Gottes verbindet.61 Hans 58 Siehe Kleanthes: SVF I, 537; Stobaeus: Eclogae I 1, 12 p. 25, 3. 59 Siehe Chrysipp: SVF III, 323; Philo: De Josepho Vol. II Mang. p. 46: „B l³m c±q lecakºpokir fde b jºslor 1st· ja· liø wq/tai pokite¸ô ja· mºl\ 2m¸.“ – „Der Kosmos ist die Polis im Großen und verfügt über eine einzige Verfassung und einen einzigen Nomos.“ 60 Chrysipp, SVF III, 314; Marcian: Institutiones I. 61 Siehe Chrysipp: SVF III, 326; Plutarch: De Stoicorum repugnantiis cp. 9 p. 1035c: „oq c²q 1stim erqe?m t/r dijaios¼mgr %kkgm !qw¶m, oqd’ %kkgm c´mesim, C

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Welzel hat darauf aufmerksam gemacht, daß hier die Wurzel der für die christliche Naturrechtslehre des Mittelalters grundlegenden Unterscheidung zwischen lex aeterna, lex naturalis und lex humana liegt.62 Allerdings muß dazu bemerkt werden, daß für die Stoiker dasjenige, was christliche Naturrechtstheoretiker wie Augustinus oder Thomas von Aquin als lex aeterna und lex naturalis deutlich gegeneinander abgrenzen, gerade zusammenfällt: Das ewig-göttliche Gesetz gilt den Stoikern, ihrem pantheistischen Monismus entsprechend, als schlechthin mit dem Gesetz der Natur identisch. Streng zu unterscheiden ist dieses lediglich von den menschlichen Gesetzen, welche von sich aus noch gar keine echte Verbindlichkeit besitzen und allererst durch die Orientierung an dem einen, unveränderlichen Nomos zu gerechten und damit rechtmäßigen Gesetzen werden können, ansonsten aber sämtlich nur ,Zusätze‘ zu diesem bleiben.63 Doch was genau gebietet das Natur-Gesetz nach stoischer Vorstellung den Menschen eigentlich? Da die Stoiker als Naturrechtsdenker nicht grundsätzlich zwischen Recht und Moral unterscheiden, jenes vielmehr aus dieser ableiten, fungiert das Gesetz der Natur zunächst als Norm für das sittliche Handeln des einzelnen. Was zwischen den Menschen als Recht und Gerechtigkeit gilt, bestimmt sich maßgeblich von hier aus. Bevor zu zeigen ist, daß und wie dieser individualethische Ansatz in seiner spezifischen Ausprägung die stoische Naturrechtslehre letztlich auch in die Aporie führt oder doch zumindest inkonsequent erscheinen läßt, ist er selbst noch näher zu charakterisieren. Die erste Frage lautet also, was das Natur-Gesetz dem einzelnen Menschen vorschreibt. Darauf gibt der Zeushymnus des Kleanthes einen entscheidenden Hinweis. Denn wenn hier die Abweichung vom göttlichen Nomos ( !josl¸a), in der das sittlich Schlechte besteht, als bloßer „Unverstand“ qualifiziert wird, dann folgt daraus ex negativo, daß die Befolgung jenes Gesetzes – und mit ihr das sittlich Gute – durch die rechte Vernunft (aqh¹r kºcor) bedingt ist. Tugend und Wissen werden hier also in sokratischer Weise enggeführt: Der Tor ist nicht eigentlich ,böse‘, ihm fehlt vielmehr nur die rechte Vernunft, er verfehlt sein tµm 1j toO Di¹r ja· tµm 1j t/r joim/r v¼seyr“ – „Man kann für die Gerechtigkeit kein anderes Prinzip und keinen anderen Ursprung finden als den aus Zeus und der allgemeinen Natur.“ 62 Vgl. Hans Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit (wie Anm. 5), S. 39. 63 Siehe Chrysipp: SVF III, 323; Philo: De Josepho Vol. II Mang. p. 46.

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eigenes Wesen.64 Zugrunde liegt dem die stoische Anthropologie mit ihrer fundamentalen Annahme der menschlichen Sonderstellung im Kosmos, der zufolge er als einziges endliches Wesen am Logos des göttlichen Weltgesetzes partizipiert. So bestimmen die Stoiker die Natur des Menschen als eine Doppel-Natur, die Animalisches und Göttliches in sich vereinigt, wobei die Hierarchie zwischen den beiden Naturen klar ist: Der individuelle Logos des Menschen hat über seine animalische Natur zu herrschen. Konkret heißt das, daß sämtliche Triebe und Leidenschaften der Vernunft unterworfen werden müssen. Ideal des sittlichen Handelns ist demnach der (stoische) Weise, der seinen Logos voll ausgebildet hat „und damit sein Leben dem großen Gesetz unterordnet, das den ganzen Kosmos durchwaltet wie ihn selbst.“65 Er steht dem Toren gegenüber, welcher, wie es bei Kleanthes weiter heißt, zwar auch das Gute erstrebt, es jedoch verkennt, indem er es mit äußeren Dingen wie Ruhm, Gewinn oder gar sinnlicher Lust verwechselt (V. 24 – 33).66 Damit bleibt dem Toren auch das wahre Glück verwehrt, welches allein der Weise zu erlangen vermag. Denn dieses besteht nach stoischer Auffassung wesentlich in einer freien, selbstbestimmten Existenz unter der Leitung der Vernunft, die den Menschen vor unheilvoller Abhängigkeit von seinen Trieben bewahrt. Das Daseinsziel der Eudaimonia, als welches sich folglich das vom Naturgesetz Gebotene erweist, wird von Zenon entsprechend als ein Leben in Übereinstimmung – mit dem Logos – (blokocoul´myr f/m) 67 definiert und von Kleanthes und Chrysipp später als ein Leben in Übereinstimmung mit der Natur (blokocoul´myr t0 v¼sei f/m) 68 präzisiert, indem sie die ältere Telosformel dahingehend erweitern, daß sie deren nur etymologischen 64 Vgl. Ernst Neustadt: Der Zeushymnos des Kleanthes, in: Hermes 66, 1931, S. 387 – 401, dort S. 391: „In breiter Ausmalung […] schildert der Dichter das Treiben der Schlechten, die sich der Weltvernunft entziehn, die Wurzel des Übels Triebverblendung, %moia, seine Wirkung !josl¸a, der Mensch taumelt von Begierde zum Genuß und verschmachtet im Genuß nach Begierde, er hört auf, das zu sein, was er seiner Herkunft nach ist, ein fkou l¸lgla, denn der Kosmos ist der Inbegriff fest in sich ruhender Autarkie.“ 65 Albin Lesky: Zum Gesetzesbegriff der Stoa, in: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht 2, 1950, S. 586 – 599, dort S. 595. 66 Vgl. Ernst Neustadt: Der Zeushymnos des Kleanthes (wie Anm. 64), S. 395: „[…] sie alle werden unglücklich, die vom Trieb besessen sind, heiße er Geltungstrieb, Gewinnsucht, Sinnlichkeit, der Trieb jagt sie weiter und weiter, und sie finden das Gegenteil von dem ,Guten‘, das sie suchten – Befriedigung.“ 67 Siehe Zenon: SVF I, 179; Stobaeus: Eclogae II p. 75, 11 W. 68 Siehe Chrysipp: SVF III, 5; Commenta Lucani lib. II 380 p. 73 Us.

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Bezug auf den Logos (blo-kocou-l´myr) durch den – bei ihnen – gleichbedeutenden Physis-Begriff noch ausdrücklich anzeigen.69 Auch die Stoiker denken mithin telos-orientiert wie Aristoteles, und Parallelen zu Platons Lehre von der relationalen Harmonie der Seelenvermögen unter Leitung der Vernunft sind dabei ebenfalls offenkundig. Was allerdings die stoische Anthropologie und Ethik von derjenigen Platons und Aristoteles’ fundamental unterscheidet, ist ihre Ausrichtung auf die allgemeine Menschennatur, die eben ausdrücklich alle Menschen mit einschließt und keine feststehenden (intellektuellen) Unterschiede zwischen ihnen kennt. Der Logos, in Übereinstimmung mit welchem es zu leben gilt, kommt dem Menschen als solchen zu, jeder hat nach stoischer Auffassung die Fähigkeit, dieses Ziel zu erreichen, auch wenn es – vor allem aufgrund der Macht verderblicher Außeneinflüsse – nur sehr wenige sind, die tatsächlich so weit kommen, so daß Weise und Toren einander gegenüberstehen. Gegen Aristoteles heißt es in diesem Sinn sehr deutlich von stoischer Seite, daß kein Mensch von Natur Sklave sei.70 Chrysipp leitet dies aus der Aufgabe ab, die ihm zufolge jedem Menschen gerade durch die Natur auferlegt ist: sich zum vernunftgemäßen Leben zu erheben und sich in eins damit dem göttlichen Gesetz der Allnatur zu fügen.71 Alle Menschen sind demnach ausnahmslos von Natur aus zu der inneren Freiheit bestimmt, wie sie die Existenz des Weisen charakterisiert, der sich allein der Vernunft unterstellt. Diese innere, einzig wahre Freiheit kann auch mit äußerlicher Unfreiheit einhergehen, während umgekehrt der Tor als der Böse, Schlechte selbst dann, wenn er äußerlich in Freiheit lebt, ein

69 Vgl. dazu Max Pohlenz: Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung. Göttingen 6 1984, S. 117: „Tatsächlich war der Gedankengehalt, den Zenon in das eine Wort blokocoul´myr hineingelegt hatte, fast zu schwer, um von ihm getragen zu werden. Das Wort war im Sprachgebrauch abgeschliffen. Der gewöhnliche Grieche verstand es einfach als ,übereinstimmend‘, und einen Zusammenhang mit Logos fühlte er kaum.“ Vgl. auch Maximilian Forschner: Die stoische Ethik (wie Anm. 51), S. 164 f. 70 Siehe Chrysipp: SVF III, 352; Philo: De septenario p. 283 Vol. II Mang.: „%mhqypor c±q 1j v¼seyr doOkor oqde¸r.“ 71 Siehe Chrysipp: SVF III, 4; Diogenes Laertius VII, 89: „v¼sim d³ Wq¼sippor l³m 1najo¼ei, Ø !joko¼hyr de? f/m t¶m te joimµm ja· Qd¸yr tµm !mhqyp¸mgm.“ – „Unter der Natur aber, der gemäß man Leben muß, versteht Chrysipp sowohl die allgemeine wie auch die eigentümliche menschliche Natur.“

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Gefangener (seiner Triebe, Begierden, Leidenschaften) ist.72 Bis in die jüngere Stoa hinein, vor allem bei Seneca73 (ca. 4 v.Chr.–65 n. Chr.) und Epiktet74 (ca. 50 – 140), der selbst ein freigelassener Sklave war, bleiben diese Gedanken wirksam. Hier wird zwar ebenso wenig wie in der älteren Stoa die konkrete Abschaffung der Sklaverei selbst gefordert, aber immer wieder eine philanthropische Haltung gegenüber den Sklaven angemahnt, die ebenso Menschen göttlichen Ursprungs seien wie alle anderen auch. Mit dieser Annahme einer prinzipiellen Gleichheit aller Menschen, die in ihrer Artnatur als Vernunftwesen mit derselben Fähigkeit und Bestimmung zur Ausbildung der Vernunftanlage gründet, weitet sich nun auch die stoische Individualethik zur Sozialethik, gewinnt das göttliche Naturgesetz eine spezifische Bedeutung für den Umgang der Menschen miteinander. Insbesondere geht damit die stoische Vorstellung von der Welt als der Polis im Großen, der durch das eine Vernunftgesetz regierten Kosmopolis, einher. Als universale Rechtsgemeinschaft kennt diese keine nationalen Grenzen, sie unterscheidet nicht etwa zwischen Griechen und ,Barbaren‘, sondern erstreckt sich auf alle Menschen (und Götter) 75, insofern sie Anteil an der einen Weltvernunft haben. Nach Ansicht der Stoiker ist der Mensch dabei von Natur aus auf eine solche Gemeinschaft der Vernunftwesen bezogen und angewiesen, indem er nur in ihr sittlich tätig sein und so das Ziel des logos-gemäßen Lebens erreichen kann. Dem entspricht auch, daß 72 Siehe Chrysipp: SVF III, 355; Diogenes Laertius VII, 121; eingehend dazu Andrew Erskine: The Hellenistic Stoa: political thought and action. London 1990, S. 43 – 63. 73 Siehe Seneca: De beneficiis III, 28, 4: „Servum tu quemquam vocas libidinis et gulae servus et adulterae, immo adulterarum commune mancipium?“ – „Einen Sklaven nennst du jemanden, du, der Wollust und der Kehle Sklave und deiner Buhlerin, nein, deiner Buhlerinnen gemeinsames Eigentum?“ 74 Siehe Epiktet: Encheiridion 14 (hg. von Rainer Nickel. Düsseldorf 2006): „nstir owm 1ke¼heqor eWmai bo¼ketai, l¶te hek´ty ti l¶te veuc´ty ti t_m 1p’ %kkoir· eQ d³ l¶, douke¼eim !m²cjg.“ – „Wer aber frei sein will, der darf weder erstreben noch meiden, was in der Macht eines anderen steht. Sonst wird er zwangsläufig zum Sklaven.“ 75 Siehe Cicero: De finibus III, 64 (hg. von Olof Gigon und Laila StraumeZimmermann. München/Zürich 1988): „mundum autem censet regi numine deorum, eumque esse quasi communem urbem et civitatem hominum et deorum, et unum quemque nostrum eius mundi esse partem […].“ – „Von der Welt lehren sie [die Stoiker], daß sie durch die Götter verwaltet wird und daß sie sozusagen die gemeinsame Stadt und den gemeinsamen Staat der Menschen und Götter darstellt; jeder von uns ist ein Teil dieser Welt […].“

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die Stoa den Menschen nicht mehr wie Aristoteles ausschließlich als ein auf die freie griechische Polis bezogenes Wesen (f`om pokitijºm), sondern als ein auf Gemeinschaft im weitesten Sinn bezogenes Wesen (f`om joimymijºm) bestimmt.76 Dies ergibt sich vor allem aus der stoischen Oikeiosislehre, welche die sittliche Bestimmung des Menschen aus seiner ursprünglichen sinnlichen Disposition abzuleiten sucht.77 Dabei unterscheidet die Stoa zwei fundamentale Momente innerhalb der natürlichen Grundausstattung des Menschen: den Selbsterhaltungs-78 und den Sozialtrieb79. Diese naturalen Triebe hat der Mensch zwar noch mit anderen animalischen Wesen gemein, sie machen noch nicht seine eigentliche Natur aus. Allerdings sind sie beim Menschen von vornherein durch die vorhandene Vernunftanlage bestimmt, auf die Entfaltung des Logos ausgerichtet, welche nach Meinung der Stoiker ab dem 7. Lebensjahr allmählich beginnt, wenn sie zunächst auch nur zu gewissen ,Vorgriffen‘ (pqok¶xeir) in bezug auf das der animalischen Natur Zuträgliche und für sie ,Gute‘ führt. Im weiteren Verlauf der menschlichen Entwicklung richtet sich die Oikeiosis jedoch – idealerweise – zunehmend auf den Logos als die spezifische Natur des Menschen selbst, und sein Streben wendet sich der Vernunft sowie dem ihr Gemäßen, dem sittlich Guten, zu.80 Dementsprechend erfährt dann auch der natürliche menschliche Gemeinschaftstrieb eine logos-gemäße Modifikation, die ihn über den Sozialtrieb der Tiere deutlich hinaushebt. In konzentrischen Kreisen weitet sich sonach die auf die Mitmenschen bezogene Oikeiosis von der Liebe zur eigenen Nachkommenschaft allmählich über die sonstigen Angehörigen bis schließlich auf die gesamte Menschheit aus, und zwar nicht etwa nur aufgrund der biologischen Gemeinsamkeit der Lebensweise, durch welche der Sophist Antiphon etwa noch die Gleichheit der

76 Siehe Chrysipp: SVF III, 346; Origenes: Contra Celsum VIII 50 Vol. II p. 265, 22 Kö. 77 Vgl. Maximilian Forschner: Die stoische Ethik (wie Anm. 51), S. 142. 78 Siehe Chrysipp: SVF III, 178; Diogenes Laertius VII, 85 f. 79 Siehe Cicero: De finibus III, 62 – 64. 80 Siehe Chrysipp: SVF III, 178; Diogenes Laertius VII 85: „toO d³ kºcou to?r kocijo?r jat± tekeiot´qam pqostas¸am dedol´mou t¹ jat± kºcom f/m aqh_r c¸meshai to¼toir jat± v¼sim. tewm¸tgr c±q oxtor 1pic¸metai t/r bql/r.“ – „Da

aber den Vernünftigen die Vernunft zu vollkommener Führung verliehen sei, so sei das vernunftgemäße Leben die richtige Entwicklung des naturgemäßen Lebens; denn die Vernunft wird zur eigentlichen Bildnerin des Triebs.“

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Menschen begründen wollte,81 sondern aufgrund der allen gemeinsamen Vernunft, welche auf die gleiche göttliche Abkunft und innere Würde eines jeden verweist. Bei Cicero schlägt sich dies später in der emphatischen Forderung nieder, daß überhaupt kein Mensch dem anderen fremd erscheinen dürfe, allein schon darum, weil er ebenfalls ein Mensch ist.82 Die Oikeiosis im Sinne dieser natürlichen Wohlgeneigtheit zwischen allen Menschen bildet nun auch die Grundlage für die soziale Tugend der Gerechtigkeit. Die stoische dijaios¼mg geht also nicht etwa aus einer nachträglichen menschlichen Vereinbarung hervor, sie ist, anders als etwa für den Hedoniker Epikur oder den Skeptiker Karneades, kein Produkt von Nützlichkeitserwägungen, um dem grenzenlosen Egoismus der Einzelindividuen Einhalt zu gebieten, sondern gehört zu der am göttlichen Logos partizipierenden Vernunft-Natur des Menschen, die von sich aus schon „die Verfangenheit der Subjekte in partikularisierende Egozentrik auf ein gemeinsames Gesetz ( joim¹r mºlor) hin transzendiert“83. Gerecht-Sein bedeutet für die Stoiker eine Pflicht ( jah/jom), die unabhängig von den menschlichen Gesetzen besteht, weil sie aus dem Vernunftgesetz selbst folgt. Als Tugend ( !qet¶) kommt die Gerechtigkeit demnach aber in vollem Umfang allein dem Weisen zu, dem Menschen also, dessen Logos ,aufrecht‘ und ,gesund‘ ist. Doch was verstehen die Stoiker näherhin unter Gerechtigkeit? Nach der bei Plutarch überlieferten Tugendlehre Zenons84 bildet sie eine von vier verschiedenen Tugendarten, die allerdings dergestalt zusammengehören, daß sie je nur gemeinsam vorkommen und so in Wahrheit eine einzige Tugend bilden. Als Unterarten des 81 Siehe Antiphon: DK 87 B44: „[…] 1pe· v¼sei p²mta p²mter blo¸yr pev¼jalem ja· b²qbaqoi ja· >kkgmer eWmai. […] !mapm´ol´m te c±q eQr t¹m !´qa ûpamter jat± t¹ stºla ja· jat± t±r N?mar ja· 1sh¸olem w´qsim ûpamter …“ – „[…] denn von Natur sind wir alle in allen Beziehungen gleich geschaffen, Barbaren wie Hellenen. […] Atmen wir doch alle insgesamt durch Mund und Nase in die Luft aus und essen wir doch alle mit Hilfe der Hände? …“ 82 Siehe Cicero: De finibus III, 63: „ex hoc nascitur ut etiam communis hominum inter homines naturalis sit commendatio, ut oporteat hominem ab homine ob id ipsum, quod homo sit, non alienum videri.“ – „Daraus ergibt sich auch, daß es eine natürliche Vertrautheit aller Menschen untereinander gibt, derart, daß ein Mensch gerade darum, weil er ein Mensch ist, dem anderen Menschen nicht fremd zu sein scheint.“ 83 Maximilian Forschner: Die stoische Ethik (wie Anm. 51), S. 159. 84 Zenon: SVF I, 200; Plutarch: De Stoicorum repugnantiis cp. 7 p. 1034c.

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prinzipiellen Wissens „über die göttlichen und menschlichen Dinge“85 handelt es sich bei den vier Tugenden (1) um das generelle praktische Wissen (vqºmgsir) über das Gute und Schlechte, (2) um den Mut ( !mdqe¸a) als Wissen über das, was es in der Befolgung des ewigen Gesetzes zu ertragen gilt, (3) um die Besonnenheit (syvqos¼mg) als Wissen über das, was dazu gewählt werden muß, und (4) um die Gerechtigkeit (dijaios¼mg) als Wissen über das, was jedem als das Seine zukommen zu lassen ist. Als leitender Gesichtspunkt dieser Gerechtigkeit, der maßgeblich für die Bestimmung des ihr eigentümlichen Gehalts sei, wird hierbei besonders der Sinn für Gleichheit (Qsºtgr) angesprochen.86 Damit rückt die altstoische Definition der Gerechtigkeit in die Nähe derjenigen von Aristoteles, der diese Tugend ebenfalls – gegen Platon – als genuin soziale bestimmt und auf die Gleichheit der Polisbürger bezieht. Während jedoch Aristoteles unter Gerechtigkeit neben der Wahrung der bürgerlichen Gleichheit auch noch im überkommenen (sophistisch-sokratischen) Sinn ,allgemein‘ die Befolgung der jeweiligen Polis-Gesetze versteht, entfällt diese Bedeutung bei den Stoikern völlig. Von sich aus und unter allen Umständen gebührt nach ihnen den positiven, von Menschen gemachten Gesetzen keinerlei Gehorsam mehr. Absolute Gültigkeit hat für sie ausschließlich der eine Nomos, welcher mit der göttlichen Vernunft identisch ist. Ihm entspricht aber auch und gerade die stoische Gerechtigkeit, indem sie jedem das Gleiche zukommen läßt, d. h. Recht und Würde aller berücksichtigt. Auch damit setzt sich aber die Gerechtigkeitskonzeption der älteren Stoa noch von der aristotelischen ab: Der im stoischen Sinn Gerechte achtet nicht nur die Gleichheit vollwertiger Polisbürger, sondern die aller Menschen als Bürger der Kosmopolis, an welcher ein Sklave durch seine Vernunft prinzipiell denselben Anteil hat wie ein Freier. Allerdings tut sich eine tiefe Kluft zwischen der metaphysischkosmologisch begründeten Idee der Gleichheit und der real-gesellschaftlichen Ungleichheit der Menschen auf. Denn die Kosmopolis ist keine wirklich existierende politische Gemeinschaft, sondern bildet gleichsam eine zweite Heimat des Menschen, die neben dem konkreten Gemeinwesen besteht, in das er hineingeboren wurde, und nicht etwa

85 Zenon: SVF II, 35 f.; Aetius: Placita I. Prooem. 2 (DG p. 273, 11). 86 Siehe Chrysipp: SVF III, 295; Diogenes Laertius VII, 126.

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mit diesem identisch ist.87 So wird der Mensch aber zum Bewohner zweier Welten, deren Gesetze differieren können und meistens auch tatsächlich differieren. Nur im ideellen Bereich der Kosmopolis gilt unbedingt gleiches Recht für alle, in der sozialen Wirklichkeit der einzelnen politischen Gemeinwesen muß das deshalb noch lange nicht so sein. Zwar wird die vom Natur-Vernunft-Gesetz der Kosmopolis abweichende Realität von den Stoikern als schlecht und ungerecht gebrandmarkt. So betrachten sie diejenigen menschlichen Gesetze, die dem einen, allgemeinen Gesetz der Natur widersprechen, als unverbindlich, und sie betonen in pessimistischer Perspektive gelegentlich sogar, daß dies grundsätzlich für alle irdischen Verfassungen und Gesetze gelte.88 Gleichwohl – und dies markiert deutlich ihre Grenze – zeigt die altstoische Naturrechtslehre kein nachdrückliches Bemühen, selbst alternative positive Gesetze aus dem Natur-Gesetz abzuleiten und so wahres, ,richtiges‘ Recht zu kodifizieren, das sie dem faktisch geltenden ,falschen‘ Recht entgegenstellen könnte. Auch wenn sie die konkreten politischen Bedingungen am allgemeinen ethischen Maßstab der vom natürlichen Gesetz gebotenen Gerechtigkeit mißt und negativ bewertet, hält sie es letztlich nicht für unbedingt erforderlich, bestehende Unrechtsverhältnisse aktiv umzugestalten. Im Vordergrund steht statt dessen das Ziel des Weisen, als einzelner gut zu handeln, dem Vernunftgesetz der Natur Folge zu leisten. Dies ist gerade auch im Rückzug aus dem politischen Leben in die Philosophie bzw. in den ,spirituellen‘ Bereich der Kosmopolis als Gemeinschaft der Götter und Menschen möglich, wo man in tugendhafter Gesinnung selbst denjenigen Menschen als (potentiell) Freien und Gleichen zu begegnen vermag, die in der politisch-sozialen Realität nicht über diesen Status verfügen.89 87 Vgl. die Formulierung Senecas in De otio IV, 1: „Duas res publicas animo complectamur: alteram magnam et vere publicam qua dii atque homines continentur, in qua non ad hunc angulum respicimus aut ad illum, sed terminos civitatis nostrae cum sole metimur; alteram, cui nos ascripsit condicio nascendi […].“ – „Zwei politische Gemeinwesen wollen wir uns im Geiste vorstellen: das eine groß und wirklich allgemein, das Götter und Menschen umfasst, darin wir nicht auf diesen Winkel achten oder jenen, sondern dessen Grenzen wir mit der Sonne ausmessen; das andere, dem uns als Bürger zugeordnet hat die Bedingung der Geburt […].“ 88 Siehe Chrysipp: SVF III, 323; Philo: De Josepho Vol. II Mang. p. 46. 89 Vgl. auch die Einschätzung von Albrecht Dihle: Der Begriff des Nomos in der griechischen Philosophie, in: Nomos und Gesetz. Ursprnge und Wirkungen des griechischen Gesetzesdenkens, hg. von Okko Behrends und Wolfgang Sellert. Göttingen 1995, S. 117 – 134, dort S. 129: „Zwar waren die Stoiker davon über-

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Doch kultivieren die frühen Stoiker keine völlig apolitische Haltung; ihr Verhältnis zur politischen Praxis erweist sich vielmehr als ambivalent: Obwohl die konkrete ,Polis‘, die man nun angesichts der veränderten politischen Lage allgemein definiert als „pk/hor !mhq¾pym 1m taqt` jatoijo¼mtym rp¹ mºlou dioijo¼lemom“ – „eine Menge von auf demselben Territorium wohnenden Menschen, die von einem Gesetz beherrscht wird“90, eine deutliche Abwertung gegenüber der abstrakten Kosmopolis erfährt, erwägen die Stoiker doch eine Anteilnahme des von ihnen zum Ideal erhobenen Weisen an der realen Politik. Zumindest ansatzweise gelangen sie damit auch bereits zu der Forderung nach einer Konkretisierung bzw. Verwirklichung des Naturrechts. So etwa, wenn Chrysipp den Weisen zum einzigen Menschen erklärt, der im eigentlichen Sinn zur Königsherrschaft befähigt sei: „oq lºmom d³ 1keuh´qour eWmai to»r sovo¼r, !kk± ja· basik´ar, t/r basike¸ar ousgr !qw/r !mupeuh¼mou, Ftir peq· lºmour #m to»r sovo»r susta¸g“ – „Doch nicht nur frei seien die Weisen, sondern auch Könige, denn das Königtum sei eine Herrschaft, die niemandem Rechenschaft schuldig sei, und das könne allein bei den Weisen der Fall sein“91. Auch wenn diese Aussage im Sinne eines ,eigentlichen‘, nicht politisch gemeinten Königtums gedeutet werden kann, steht dahinter doch zugleich die – später von Cicero aufgenommene und zu einem Grundsatz seiner Naturrechtslehre erhobene – Überzeugung, daß nur der Weise aufgrund seiner vollkommenen Einsicht in das göttliche Naturgesetz zum Gesetzgeber für die anderen Menschen berufen ist, während all jene, denen diese Einsicht fehlt, umgekehrt eine äußere Autorität brauchen, die ihnen vorschreibt, was zu tun und zu lassen ist.92 Es handelt sich mithin nicht etwa um ein bedingungsloses Plädoyer für die Monarchie – schließlich kann es ja durchaus vorkommen, daß jemand auf dem Thron sitzt, der kein Weiser und folglich auch als König ungeeignet ist –; vielmehr läßt sich aus Chrysipps Überlegung gerade ein Appell an den Alleinherrscher ableiten, sich als gerechter Weiser zu bewähren, da er nur so den aus dem Naturgesetz folgenden ethischen Ansprüchen Gezeugt, daß der Mensch ein soziales Wesen sei, und sie erhoben sehr strenge sozialethische Forderungen. Indessen war für sie nicht das Wohl das Gemeinwesens, sondern die Eudaimonie des Einzelnen das erklärte Ziel des sittlichen Handelns […].“ 90 Chrysipp: SVF III, 329; Dio Chrysostomus: Orationes XXXVI § 20 (Vol. II p. 6, 13). 91 Chrysipp: SVF III, 617; Diogenes Laertius VII, 122. 92 Vgl. Max Pohlenz: Die Stoa (wie Anm. 69), S. 134.

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nüge zu leisten vermag, die seine Herrschaft erst als rechtmäßige erweisen. Die in Aussicht gestellte Anteilnahme des stoischen Weisen am politischen Leben beschränkt sich nun zwar nicht auf seine mögliche Herrschaft als König oder auf seine Tätigkeit auch als Berater eines philosophisch beeinflußbaren Königs.93 Abgesehen von diesem Idealfall kann und soll sich der Weise nach Auffassung der frühen Stoiker in jedem Gemeinwesen, unabhängig von dessen bestimmter Verfassung, gemäß seiner Vernunfteinsicht an der Regierung beteiligen, sofern diese Möglichkeit für ihn besteht, etwa durch Vermittlung von Freunden in hohen Positionen.94 Wird es dem Weisen aber nicht so leicht gemacht, wohltätigen Einfluß auf die Regierung und Gesetzgebung zu nehmen, hält er sich einfach ganz von der Politik fern und zieht sich ins kontemplative Leben zurück, gemäß dem bereits Zenon zugeschriebenen Diktum: „pokiteus´shai vas· t¹m sov¹m #m l¶ ti jyk¼,“ – „Der Weise wird politisch tätig sein, sofern nichts im Wege steht“.95 Offenbar hängt das vor allem auch – ein fatalistischer Zirkel – von der Qualität der bestehenden Gesetze ab, also von ihrer Angemessenheit an den einen und wahren Nomos, dem sich der Weise allein verpflichtet fühlt. So muß das Gemeinwesen, in welchem er sich politisch betätigen wird, schon eine gewisse Tendenz zum Guten, zur Übereinstimmung mit der Verfassung der Kosmopolis erkennen lassen.96 Weichen die in ihm geltenden Gesetze hingegen zu sehr von jener göttlichen Norm ab, die vorschreibt, was zu tun und was zu meiden ist, handelt es sich mithin um ungerechte Gesetze, bestimmt durch Habgier (pkeomen¸a) und Mißtrauen der Menschen gegeneinander (B pq¹r !kk¶kour !pist¸a),97 so sieht sich der stoische Weise gerade nicht aufgerufen, etwas daran zu ändern, sondern vielmehr darin bestärkt, innerhalb der rein metaphy93 Vgl. dazu auch Reimar Müller: Die Staatsauffassung der frhen Stoa (wie Anm. 53), S. 288: „Wenn es bei aller grundsätzlichen Differenz eine Affinität [der frühen Stoiker] zur Monarchie gegeben hat, mochte diese darin begründet sein, daß man an diese Staatsform, die die politische Realität der hellenistischen Welt weitgehend bestimmte, gewisse Hoffnungen knüpfte, stoische Ideale zu realisieren, wenn sich einzelne Monarchen aufgeschlossen und ,entwicklungsfähig‘ zeigten.“ 94 Siehe Chrysipp: SVF III, 686; Stobaeus: Eclogae II 7 p. 109,10 – 110,4. 95 Chrysipp: SVF III, 697; Diogenes Laertius VII 121. Vgl. auch Zenon: SVF I, 271; Seneca: De otio III, 2. 96 Siehe Chrysipp: SVF III, 611; Stobaeus: Eclogae II 94, 7 W. 97 Siehe Chrysipp: SVF III, 323; Philo: De Josepho Vol. II Mang. p. 46.

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sischen Gemeinschaft der menschlichen und göttlichen Vernunftwesen gleichsam auf eigene Faust ein tugendhaftes, gerechtes Dasein zu führen. In der jüngeren Stoa ist es Seneca, der diesen Gedanken aufgreift. So betont er etwa in seiner Schrift De otio, der Weise halte sich mit gutem Recht von der Politik fern, „si res publica corruptior est quam ut adiuvari possit“ – „wenn das Gemeinwesen zu verkommen ist, als daß man ihm helfen könnte“98. Seneca beruft sich dafür auf die Unterscheidung zwischen dem konkreten Vaterland und der Kosmopolis, der man auch als unpolitischer Mensch zu dienen vermag,99 und hält mit Blick auf die altstoischen Schulhäupter, die selbst nicht politisch tätig waren, in apologetischer Intention fest: Nos certe sumus qui dicimus et Zenonem et Chrysippum maiora egisse quam si duxissent exercitus, gessissent honores, leges tulissent: quas non uni civitati, sed toti humano generi tulerunt. Wir jedenfalls sind es, die behaupten, Zenon und Chrysippos haben Bedeutenderes geleistet, als wenn sie Heere kommandiert, Ämter ausgeübt, Gesetze beantragt hätten: Gesetze haben sie nicht für ein Gemeinwesen allein, sondern für das ganze Menschengeschlecht gegeben.100

Zusammenfassend ist also festzuhalten, daß die von den frühen Stoikern entfaltete Naturrechtslehre keineswegs frei von Inkonsequenzen ist. Einerseits erfährt der kosmologisch ausgeweitete Nomos in ihr zwar eine solch entschiedene Aufwertung, daß er zur unbedingten Maßstabsnorm für alle menschlichen Gesetze avanciert, die aus ihm erst ihre Legitimation gewinnen oder an ihm gemessen als unrechtmäßig erscheinen.101 Damit wird zum erstenmal in der Geschichte der abendländischen Philosophie die Idee eines überpositiven, unveränderlichen Rechts begründet, das aus der Natur – sowohl im Sinne einer göttlichen Allvernunft als auch im Sinne der an dieser partizipierenden allgemeinmenschlichen Vernunftnatur – resultiert und insofern auch universal, d. h. unterschiedslos für alle Menschen gilt. Andererseits erfüllen diese naturrechtlichen Gedanken jedoch so gut wie keine konstitutive oder korrektive Funktion in bezug auf die positiven Rechtsordnungen ein98 99 100 101

Seneca: De otio III, 3. Siehe Seneca: De otio IV, 2. Seneca: De otio VI, 4. Vgl. auch Albin Lesky: Zum Gesetzesbegriff der Stoa (wie Anm. 65), S. 594: „Für den Stoiker steht die eine, unveränderliche Norm der ,aufrechten Vernunft‘ fest, an ihr wird alles gemessen und Gesetze, die solchen Maßstab nicht ertragen, verdienen diesen Namen nicht und verfallen der Verwerfung.“

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zelner Gemeinwesen. So wird etwa durch die Argumente, mit welchen die Stoiker auf eine an sich durchaus innovative Weise die natürliche Gleichheit und Freiheit aller Menschen begründen, die Sklaverei selbst als gesellschaftlich-rechtliche Institution doch gar nicht in Frage gestellt, da die Begriffe ,Sklaverei‘ und ,Freiheit‘ von ihnen in einem mehr metaphorischen, nämlich ethischen Sinn verwendet werden: Demnach kommt es darauf an, ob man innerlich ein Sklave oder ein Freier ist, die äußeren Lebensumstände erscheinen dagegen gleichgültig. Aus demselben Grund – dem stoischen Hang zur ,Innerlichkeit‘ – führt überhaupt die grundsätzlich kritische Haltung der Stoa gegenüber solchen politischen Gemeinwesen, deren Gesetze ungerecht sind, zu keiner dringlichen Forderung nach Verbesserung; anstatt sich um die Realisierung des allgemeinen Naturgesetzes zu bemühen, konzentriert sich der stoische Weise lieber auf sein privates sittliches Handeln.102 Das ändert sich allerdings bei Cicero, der die stoische Naturrechtslehre nicht nur einer systematischen Darstellung unterzieht, sondern zugleich zur Basis einer konkreten Ordnung macht.

III. Ciceros römische Konkretisierung des stoischen Naturgesetzes Cicero ist zwar kein Stoiker im engeren Sinn, sondern ein Eklektiker, der sich an den unterschiedlichsten philosophischen Strömungen orientiert, um jeweils das herauszugreifen, was ihm plausibel und nützlich erscheint. So knüpft er nicht nur an die Stoa an, sondern daneben auch an Platon und die Akademie, an Aristoteles und die peripatetische Schule. Gleichwohl ist der altstoische Einfluß auf seine Rechtsphilosophie, die er vornehmlich im ersten Buch von De legibus vorträgt, nicht zu verkennen – mag er nun direkt auf die älteren Stoiker Zenon und Chrysipp zurückgehen oder über die mittleren Stoiker Panaitios (ca. 185 – 110 v. Chr.) und Poseidonios (ca. 135 – 50 v. Chr.) bzw. über den stoisch geprägten Akademiker Antiochos von Askalon (ca. 120 – 68 v. Chr.) vermittelt sein.103 Fest steht allerdings, daß Cicero mit seiner 102 In diesem Sinn hat es seine Richtigkeit, wenn Merio Scattola: Das Naturrecht vor dem Naturrecht. Zur Geschichte des ius naturae im 16. Jahrhundert. Tübingen 1999, S. 25, feststellt: „Die Stoa lieferte alle Voraussetzungen für eine Naturrechtslehre, aber entwickelte kein Naturrecht im eigentlichen Sinn.“ 103 Aus welchen Quellen sich Ciceros Naturrechtslehre im ersten Buch von De legibus speist, ist umstritten. Vgl. dazu Karl Büchner: Sinn und Entstehung von De

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Naturrechtslehre ganz andere Absichten verfolgt als die frühen Stoiker. Gehen diese letztlich über ihren individualethischen Ansatz nicht hinaus, wonach das Gesetz der Natur vor allem das sittliche Handeln des einzelnen – innerhalb des bloß ideellen Vernunftreichs der Kosmopolis – betrifft, so ist der Römer Cicero von vornherein auf die politischpraktische Tätigkeit ausgerichtet. Insofern steht er der mittelstoischen Lehre von Panaitios und Poseidonios näher, die ihrerseits bereits eine Aufwertung des b¸or pqajtijºr gegenüber dem b¸or heyqgtijºr vollzogen hatten und so die stoische Philosophie für ihr römisches Publikum attraktiv machen konnten. Cicero entwickelt seine Lehre vom natürlichen Gesetz denn auch nicht nur als Philosoph, sondern zumal als Politiker, der in der Krise der römischen Republik im 1. Jh.v.Chr. ein konservatives Reformprogramm vertritt. Seine philosophischen Reflexionen über das, was (von Natur aus) Recht ist, sollen der Bewältigung der Krise dienen, den Bestand der aristokratisch geprägten Res publica sichern und die überkommene Sitte der Vorfahren (mos maiorum) wiederherstellen. Es ist sein Ziel, die in Frage gestellte Rechtsordnung der altrömischen Republik als natürliche Ordnung im ewigen Naturgesetz zu fundieren und damit vor allem zu legitimieren. Schon durch diese politische Intention ist es also bedingt, daß Cicero, im Unterschied zu den frühen Stoikern, positive Einzelnormen aus dem überpositiven Gesetz der Natur abzuleiten und so das Naturrecht zu konkretisieren sucht. Hinzu kommt, daß der stoische Naturrechtsgedanke durch Ciceros Bearbeitung in Begriffen des römischen Rechts gefaßt wird, was wiederum sein späteres Eingehen in die sich entwickelnde Rechtswissenschaft der Römer ermöglicht. Auch damit wird die von den Stoikern übernommene Naturrechtslehre deutlich modifiziert; es ändern sich die Kategorien, in denen das (natürliche) Gesetz bzw. Recht gedacht wird. Die umfassenderen griechischen Begriffe mºlor und d¸jaiom werden durch die engeren römischen Rechtsbegriffe lex und ius wiedergegeben. Da es sich hierbei um einen folgenreichen Schritt handelt, sei die Bedeutung dieser Begriffe, wie sie sich bis zu Ciceros Zeit herausgebildet hat, kurz umrissen.104 Während der Ausdruck ius (,Recht‘) in der legibus, in: Atti del I congresso internazionale di studi Ciceroniani II. Rom 1961, S. 81 – 90; Peter Leberecht Schmidt: Die Abfassungszeit von Ciceros Schrift ber die Gesetze. Rom 1969, S. 167 – 179; Richard Horsley: The Law of Nature in Philo and Cicero, in: Harvard Theological Review 71, 1978, S. 35 – 59. 104 Zum folgenden vgl. Franz Wieacker: Rçmische Rechtsgeschichte. München 1988, § 13, Ius und lex, S. 267 – 285.

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römischen Frühzeit noch nicht das objektiv geltende Recht meint, sondern zunächst nur die ,Erlaubtheit‘ eines einseitigen Zugriffs auf Personen oder Sachen, insofern dieser von der Gemeinschaft als richtig eingeschätzt und somit – gegebenenfalls auch durch eine richterliche Entscheidungsinstanz – anerkannt wird, bezeichnet lex (,Gesetz‘) ursprünglich die von einer gesellschaftlichen Autorität sprachlich artikulierte rechtliche Festsetzung, die sich an einen spezifischen Adressaten richtet und vorerst noch ganz auf den durch sie zu regelnden Einzelfall beschränkt bleibt. Wie sich das ius allmählich aber zum Ganzen einer Rechtsordnung mitsamt den darin begründeten subjektiven Rechtsansprüchen der Bürger ausformt, setzt auch im Falle der lex zunehmend eine Verallgemeinerung ein; das von den Magistraten gesetzte Recht (lex publica) zielt mehr und mehr auf die Schaffung einer allgemeinverbindlichen Normenordnung ab und beeinflußt so das geltende ius civile, indem es neben der Bestätigung von älterem, ungeschriebenem ius auch Veränderungen daran vornimmt. In diese Richtung einer Verbindung der zuvor strukturell verschiedenen Rechtsbegriffe ius und lex wirken zunächst vor allem die sogenannten Zwölftafelgesetze, die lange schlechthin als Ursprung des ius civile angesehen werden. Eine weitere Rechtsschicht bildet sodann das prätorische Edikt als ius honorarium; auch die jährliche Rechtsweisung des Prätors kann in das ius civile eingreifen bzw. unter Umständen davon abweichen und stellt mithin ebenfalls eine mögliche Rechtsquelle dar. Neben dem kodifizierten Recht in Gesetzesform (leges) gehören darüber hinaus aber bis in Ciceros Gegenwart hinein weiterhin auch ungeschriebene Verhaltensregeln, die von den Vorfahren überlieferten mores, zum geltenden ius. Vor dem Hintergrund dieser diffusen und dynamischen Situation des römischen Rechts zur Zeit der späten Republik ist nun Ciceros Rechtsphilosophie zu sehen; zugleich steht sie im Kontext der Herausbildung einer juristischen Fachwissenschaft, welche erstmals die vorfindliche Rechtsmaterie nach verschiedenen Hinsichten zu systematisieren und in Definitionen und abstrakten Regeln zu fassen beginnt – zu nennen sind hier vor allem Quintus Mucius Scaevola (ca. 170 – 87 v. Chr.), der Ciceros juristischer Lehrer war, und Servius Sulpicius Rufus (ca. 106 – 43 v. Chr.).105 Doch Ciceros rechtsphilosophische Absicht in der Eingangspartie von De legibus übertrifft das juristische Erkenntnisinteresse seiner Zeitgenossen noch an Allgemeinheit, indem 105 Vgl. dazu ebenfalls Franz Wieacker: Rçmische Rechtsgeschichte (wie Anm. 104), § 37, Die Juristen der ausgehenden Republik, S. 595 – 617.

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es ihm nicht nur um eine zusammenhängende wissenschaftliche Darstellung des ius civile geht, wie sie etwa Scaevola maßgeblich in 18 Büchern geliefert hat, sondern um die grundsätzliche – naturrechtliche – Frage, worin die Natur, das Wesen des Rechts selbst bestehe. Dies hat aber zur Folge, daß Cicero die von ihm vorgefundenen römischen Rechtsbegriffe wiederum semantisch modifiziert; seine Rechtslehre ist als Naturrechtslehre primär nicht deskriptiv, sondern präskriptiv – was freilich nicht ausschließt, daß sich am Ende doch im wesentlichen die reale, überkommene Rechtsordnung angesichts ihrer aktuellen Bedrohung durch die politische Krise zugleich als die ideale, naturgemäße erweist, wie sie auch in Zukunft wieder verbindlich sein soll. Wie sieht nun Ciceros Umbildung der römischen Rechtsbegriffe durch die Anwendung auf die stoische Naturrechtslehre genauer aus? Zunächst einmal betrifft sie den Begriff des ius civile selbst. Gleich zu Beginn des ersten Buchs von De legibus fordert Atticus seinen Freund Cicero auf, sich über das ius civile zu erklären, worauf dieser ausweichend, ja sogar ablehnend reagiert, indem er die übliche Behandlungsweise des ius civile durch die Rechtsberater seiner Zeit (iuris consulti) kritisiert, die zwar Großes versprochen hätten, jedoch in Kleinigkeiten stecken geblieben seien.106 Denn während das ius civile, wie Cicero meint, dem Wortsinn nach bereits das prinzipielle Recht eines Gemeinwesens, das ius civitatis, bezeichnet,107 wird von der zeitgenössischen römischen Jurisprudenz darunter lediglich das Teilgebiet des Zivilrechts verstanden, welches Cicero als ein „Dachrinnenund Hauswände-Recht“108 der Lächerlichkeit preisgibt. Wenn er selbst nun eine Schrift De legibus verfaßt, dann geht es ihm dagegen primär um das ius als den Inbegriff solcher Gesetze, nach denen alle civitates regiert werden müssen, um politisch stabil und dem Gemeinwohl dienlich zu sein.109 Der umfassende Gesetzescodex, auf den sein Dialog abzielt,110

106 Siehe Cicero: De legibus I, 13 f. (hg. von Rainer Nickel. München/Zürich 3 2004). 107 Dazu vgl. Klaus Martin Girardet: Die Ordnung der Welt. Ein Beitrag zur philosophischen und politischen Interpretation von Ciceros Schrift de legibus. Wiesbaden 1983, S. 42 f. 108 Cicero: De legibus I, 14. 109 Siehe Cicero: De legibus I, 37: „ad res publicas firmandas et ad stabilienda iura sanandosque populos omnis nostra pergit oratio.“ – „All unser Reden zielt auf die Festigung der res publicae, die Sicherung der Rechtsnormen und das Wohl der Völker.“

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beschränkt sich gemäß dieser Programmatik also keineswegs auf das Recht nur des römischen Volkes, sondern soll zugleich „allgemeine, universal für alle Staaten und Staatsformen geltende Gesetze“111 beinhalten, die deshalb als die „besten Gesetze“ (optimae leges) 112 zu erlassen sind. Entsprechend betont Marcus gegenüber seinem Freund Atticus im zweiten Buch: „Non enim populo Romano, sed omnibus bonis firmisque populis leges damus.“ – „Denn wir schaffen nicht nur für das römische Volk, sondern für alle zivilisierten Völker Gesetze.“113 Dabei hat Cicero natürlich die Weltherrschaft Roms, das Imperium Romanum, vor Augen. Sein Reformprogramm betrifft mithin neben der römischen Res publica auch die übrigen, von Rom abhängigen Gemeinwesen, in denen die von ihm gesuchten Gesetze ebenfalls in Kraft treten sollen.114 Diesem legislatorischen Ziel entspricht also der spezifische Stellenwert, den die eigentliche Naturrechtslehre in Ciceros Gesetzesschrift einnimmt. Sie bildet keinen theoretischen Selbstzweck, sondern erfüllt eine fundierende Funktion für die praktische Aufgabe einer optimalen, universalen Gesetzgebung: Um die konkreten optimae leges zu ermitteln, die überall ,richtiges‘ Recht setzen sollen, muß zuvor die Frage beantwortet werden, worin das Recht in Wahrheit denn überhaupt besteht, was Recht seinem Wesen nach eigentlich ist. Ciceros Naturrechtslehre nimmt ihren Ausgang damit bei der Frage nach der Natur des Rechts (natura iuris), die zugleich mit der Frage nach dem Ursprung bzw. der Quelle der „besten Gesetze“ und des ganzen Rechts (fons legum et iuris) 115 verbunden ist. Als diese Rechtsquelle schließt Cicero 110 Vgl. auch Ada Hentschke: Zur historischen und literarischen Bedeutung von Ciceros Schrift de legibus, in: Philologus 115, 1971, S. 118 – 130, dort S. 123: „Gegenstand des Gesprächs soll ein aus philosophischen Grundlagen geschaffenes Werk konkreter Gesetze sein, welche alle Gebiete umfassen, die gesetzlicher Regelung zugänglich sind.“ 111 Jürgen Blänsdorf: Das Naturrecht in der Verfassung (wie Anm. 2), S. 43. Mißverständlich ist freilich die anachronistische Verwendung der Begriffe „Staat“ und „Staatsform“ in bezug auf das, was Cicero als res publica oder civitas bezeichnet. Vgl. dazu die bündigen Grundsatzüberlegungen bei Ernst-Wolfgang Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie (wie Anm. 36), S. 4 – 6. 112 Siehe Cicero: De legibus I, 15. 113 Cicero: De legibus II, 35. 114 Vgl. unten, S. 270; Anm. 152. 115 Cicero: De legibus I, 16. Cicero unterscheidet in der Formel fons legum et iuris deshalb zwischen leges und ius, weil das ius im römischen Recht, wie es Cicero

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nun aber – entgegen der gängigen römischen Auffassung – von vornherein das Zwölftafelgesetz und das prätorische Edikt aus; statt dessen will er das Recht „ex intima philosophia“ – „aus dem Innern der Philosophie“116 ableiten. Wie sich zeigt, liegt eben hierin sein naturrechtlicher Ansatz, denn die Ableitung des Rechts aus dem Inneren der Philosophie bedeutet nichts anderes als seine Ableitung aus der Natur im bekannten stoischen Doppelsinn: als allumfassende Natur und als Natur des Menschen. Im Ausgang davon formuliert Cicero das Programm für seine Schrift De legibus: natura enim iuris explicanda nobis est, eaque ab hominis repetenda natura, considerandae leges, quibus civitates regi debeant; tum haec tractanda, quae conposita sunt et descripta iura et iussa populorum, in quibus ne nostri quidem populi latebunt, quae vocantur iura civilia. Wir müssen nämlich das Wesen des Rechts klären und dieses aus dem Wesen des Menschen herleiten; ferner haben wir über die Gesetze nachzudenken, von denen die Gemeinwesen regiert werden müssen; dann sind die in schriftlicher Form vorliegenden rechtlichen Bestimmungen und Volksbeschlüsse zu behandeln, wobei das sogenannte Zivilrecht auch unseres Volkes zur Sprache gebracht wird.117

Das gesuchte ius civitatis ergibt sich nach dieser Voraussetzung also erst aus der vorgängigen philosophischen Erkenntnis des Wesens des Rechts im Sinne eines in der menschlichen Natur begründeten Naturrechts. Schließlich soll dann auch dasjenige abgehandelt werden, was die iuris consulti unter dem ius civile verstehen. Von Anfang an ist damit auf eine Konkretisierung des Naturrechts abgezielt; primär geht es Cicero um die positiven Normen, die sich aus der natürlichen Rechtsquelle ergeben. Im Hinblick auf das von ihm entworfene Programm ist allerdings anzumerken, daß es sich bei dem Text von De legibus um einen Torso handelt. Fragmentarisch erhalten sind lediglich drei Bücher: Das erste Buch enthält die Naturrechtstheorie, anschließend beginnt die Formulierung der einzelnen optimae leges; im zweiten Buch werden entsprechend die Gesetze de religione118 und im dritten Buch die Gesetze de magistratibus119 abgehandelt. Wie jedoch aus einem bei Mac-

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vor Augen steht, außer durch die Gesetze auch noch durch ungeschriebene Verhaltensregeln (mores) konstituiert wird. So weist Cicero denn etwa auch in I, 20 ausdrücklich auf die mores hin, die nicht schriftlich festgelegt werden müssen. Cicero: De legibus I, 17. Cicero: De legibus I, 17. Cicero: De legibus II, 17. Cicero: De legibus II, 69.

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robius überlieferten Fragment hervorgeht, gab es ursprünglich mindestens fünf Bücher;120 wie viele es im ganzen tatsächlich waren, läßt sich allenfalls vermuten.121 Ciceros Lehre vom allgemeinen Wesen des Rechts, das sich aus der All-Natur und der des Menschen ergeben soll, orientiert sich nun ganz offenkundig an der griechischen Stoa, genauer: an deren Identifikation von Nomos, Physis und Logos. Indem Cicero dabei den griechischen Nomos-Begriff in einer für das gesamte weitere abendländische Naturrechtsdenken maßgeblichen Weise durch die lateinische lex übersetzt, verwendet er diesen Ausdruck in einer zu seiner Zeit höchst ungebräuchlichen Weise. Denn im römischen Recht, wie Cicero selbst einräumt, gilt als lex bisher ausschließlich solches, „was in schriftlicher Form bestimmt, was es will, indem es entweder befiehlt oder verbietet“.122 Dagegen wendet Cicero den Begriff buchstäblich ins Prinzipielle, indem er das (ungeschriebene) Gesetz in eindeutig stoischer Tradition zum Singularetantum macht und es so als fons legum et iuris bestimmt. Näherhin definiert er es als die „ratio summa, insita in natura, quae iubet ea, quae facienda sunt, prohibetque contraria“ – „die höchste Vernunft, die der Natur immanent ist und gebietet, was getan werden soll, und das Gegenteil verbietet“123. Wie für die frühen Stoiker ist dabei auch für Cicero diese gesetzliche Allvernunft etwas Göttliches: Leiteten Kleanthes und Chrysipp ihren Nomos von Zeus her, so Cicero seine lex von Jupiter.124 Und ebenfalls der Stoa folgend, bestimmt auch er den Menschen als einziges endliches Wesen, das an dieser göttlichen Vernunft, die sich in der summa lex der Natur manifestiert, Anteil hat – obzwar nur unter der wiederum aus dem stoischen Naturrechtsdenken bekannten Bedingung, daß der Mensch seine zunächst und zumeist unterentwickelte Vernunftanlage voll ausgebildet hat und insofern ein 120 Siehe Macrobius: Saturnalia VI, 4, 8. 121 Da das Macrobius-Fragment den Hinweis enthält, die Sonne habe gerade den Zenit überschritten, das Gespräch jedoch wie Platons Nomoi-Dialog einen ganzen Tag dauern soll (vgl. De legibus I, 15 sowie II, 69), läßt sich mindestens noch ein sechstes Buch annehmen. Zum möglichen Inhalt der nicht erhaltenen Bücher vgl. die Einleitung von Georges de Plinval, in: Cicron. Trait des lois. Paris 31968, S. LIII-LVI. 122 Cicero: De legibus I, 19. 123 Cicero: De legibus I, 18. 124 Siehe Cicero: De legibus II, 10: „Quam ob rem lex vera atque princeps, apta ad iubendum et ad vetandum, ratio est recta summi Iovis.“ – „Deshalb ist das wahre und ursprüngliche Gesetz, das zum Gebieten und Verbieten geeignet ist, die rechte Vernunft des höchsten Jupiter.“

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Weiser (sapiens) bzw. ein Kluger (prudens) ist.125 Aufgrund dieser Doppeldeutigkeit von Natur und Vernunft unterscheidet Cicero zwischen zwei Formen der summa lex als Ursprung des Rechts, die freilich eng aufeinander bezogen, ja im Grunde sogar identisch sind: (1) lex als göttliche, der Allnatur immanente Vernunft und (2) als entfaltete und gefestigte menschliche Vernunft – „ratio in homine confirmata et confecta“126. Dieses mit der objektiven Naturvernunft sowie mit der durch die ratio geprägten natura hominis identische höchste Gesetz, das insofern (auch wenn Cicero den Ausdruck selbst hier nicht benutzt127) mit Fug als lex naturalis bzw. lex naturae bezeichnet werden kann, wird nun weiter als vor aller Zeit entstandenes, jeglichen schriftlich fixierten leges vorgeordnetes Gesetz charakterisiert, das schon galt, noch lange bevor irgendeine bestimmte civitas gegründet war.128 Die lex naturae erweist sich so zugleich als ewiges Gesetz: als lex aeterna bzw. – in Ciceros eigener Terminologie – als lex sempiterna.129 Wenn Cicero im Anschluß an die Stoa sagt, das Naturgesetz der Vernunft befiehlt, was zu tun ist, und verbietet das Gegenteil, dann heißt das: Das Gesetz befiehlt das Rechte und verbietet das Unrechte.130 Damit ist zwar in formaler Hinsicht die lex naturae/sempiterna als fons iuris aufgewiesen, allerdings ist damit noch nicht gesagt, was Recht im materialen Sinn überhaupt bedeutet. Die avisierte Bestimmung der natura iuris steht also noch immer aus, ebenso aber auch ihre Ableitung aus der natura hominis. Um beides einzulösen, entwickelt Cicero im weiteren (I, 21 – 35) eine auf der Oikeiosislehre basierende Anthropologie, die davon ausgeht, daß zur natürlichen Grundausstattung des 125 Siehe Cicero: De legibus I, 22: „Quid est autem, non dicam in homine, sed in omni caelo atque terra, ratione divinius? Quae quom adolevit atque perfecta est, nominatur rite sapientia.“ – „Was aber ist, nicht nur im Menschen, sondern überall im Himmel und auf Erden, göttlicher als die Vernunft? Sie wird, wenn sie ausgereift und vollendet ist, zu Recht Weisheit genannt.“ I 18: „Itaque arbitrantur prudentiam esse legem, cuius ea vis sit, ut recte facere iubeat, vetet delinquere […].“ – „Deshalb meinen sie [die Stoiker] auch, daß die Klugheit das Gesetz ist, dessen Wirkung darin besteht, das Rechttun zu gebieten und das Unrechttun zu verbieten […].“ 126 Cicero: De legibus I, 18. 127 Dagegen findet sich der Ausdruck lex naturae/naturalis in De re publica I, 27, in De natura deorum I, 36 und in De officiis III, 31. 128 Siehe Cicero: De legibus I, 19; ähnlich auch die berühmte „Rede des Laelius“ in De re publica III, 33. 129 Siehe Cicero: De legibus II, 10. 130 Siehe Cicero: De legibus I, 19.

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Menschen als einem gottähnlichen Vernunftwesen erste, noch unentwickelte Begriffe ( joima· 5mmoiai – innatae notiones) vom Göttlichen und damit auch von Gesetz, Recht und Tugend gehören, die sich wie von selbst ausbilden und vervollkommnen, sofern dies nicht durch äußere Einflüsse verhindert wird. Als Resultat dieser Überlegungen ergibt sich, daß sowohl die Auffassung des Rechts wie auch die Bildung von Rechtsgemeinschaften durch die menschliche Natur bedingt sind. In diesem Sinne hält Cicero fest: „nos ad iustitiam esse natos, neque opinione, sed natura constitutum esse ius“ – „zur Gerechtigkeit sind wir geboren, und das Recht ist nicht in subjektiver Meinung, sondern in der Natur begründet.“131 Zur weiteren Erhärtung dieser These wird nun auch die stoische Vorstellung der grundsätzlichen Gleichheit (aequalitas) der Menschen untereinander aufgegriffen; wie schon bei den frühen Stoikern ist es auch hier die allen gemeinsame Vernunftbegabung bzw. -veranlagung, die das ausschlaggebende Kriterium der Gleichheit ausmacht: Alle intellektuellen – und damit auch moralischen – Unterschiede zwischen den einzelnen Individuen basieren nach dieser Ansicht lediglich auf einer unterschiedlichen Ausbildung der ursprünglich jedem in gleicher Weise zukommenden Lernfähigkeit.132 Aus der Gleichheit aller Menschen folgt zwar auch der gleiche menschliche Hang zum Schlechten, insofern die Vernunft zumeist eben nicht ausgebildet wird und die Menschen statt in ihr in der Lust (voluptas) ihr Glück suchen,133 aber ebenso geht aus jener Gleichheit auch eine übereinstimmende Tendenz zum Guten hervor, wie Cicero sie in den ähnlichen Wertvorstellungen verschiedener Völker (consensus omnium) erkennt: „Quae autem natio non comitatem, non benignitatem, non gratum animum et beneficii memorem diligit?“ – „Aber welches Volk liebt nicht Nachgiebigkeit, Güte, Liebenswürdigkeit und Dankbarkeit?“134 Allerdings zeugt nicht nur die allgemeine Wertschätzung dieser Tugenden von der Gleichheit der Menschen, sondern diese Tugenden betreffen auch selbst wieder die Gleichheit. Sie alle sind nichts anderes als spezifische Ausformungen der grundlegenden Sozialtugend der Gerechtigkeit (iustitia), die nach der Definition aus De re publica darin besteht, „parcere omnibus, consulere generi hominum, suum cuique reddere“ – „alle zu schonen, um das Menschengeschlecht besorgt zu 131 132 133 134

Cicero: De legibus I, 28. Siehe Cicero: De legibus I, 29 f. Siehe Cicero: De legibus I, 31. Cicero: De legibus I, 32.

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sein, jedem das Seine zurückzugeben“135. So nimmt Cicero die altstoische Bestimmung der Gerechtigkeit als naturgemäße Achtung vor der prinzipiellen Gleichheit der anderen Menschen auf, um seine These von der Begründetheit des Rechts in der Natur des Menschen zu beweisen. Was resultiert daraus aber für die Wesensbestimmung des Rechts überhaupt? Deutlich wird aus Ciceros bisherigen Ausführungen eine enge Verbindung von Recht und Ethik, wie sie ebenfalls bereits bei den älteren Stoikern begegnete: Recht, wie er es im Ausgang vom Vernunftgesetz der Allnatur und der menschlichen Natur seinem Wesen nach versteht, ist auf das sittlich Gute überhaupt und insbesondere auf die soziale Tugend der Gerechtigkeit bezogen.136 Genauer gesagt: Das gesuchte Wesen des Rechts (natura iuris) beruht selbst in der Sittlichkeit bzw. in der Gerechtigkeit.137 Das geht auch aus späteren Stellen von De legibus hervor, so etwa wenn es heißt: „unam esse hominum inter ipsos vivendi parem communemque rationem“ – „es gibt nur eine einzige, gleiche und gemeinsame Regel für das Leben der Menschen untereinander“138. Denn offenkundig ist damit die – primär in der Menschenliebe sich manifestierende –139 Gerechtigkeit gemeint, wie auch der weitere Hinweis nahelegt, daß nämlich „omnes inter se naturali quadam indulgentia et benivolentia, tum etiam societate iuris contineri“ – „alle untereinander durch eine Art von natürlicher Rücksicht und Wohlwollen und dann auch durch die Gemeinschaft des Rechts verbunden sind“140. Was Recht ,wesenhaft‘ ist, folgt demnach also nicht etwa erst aus den faktischen menschlichen Satzungen, sondern ur135 Cicero: De re publica III, 24 (hg. von Karl Büchner. München 51993). 136 Dies macht ihm Michel Villey: Rckkehr zur Rechtsphilosophie (wie Anm. 8), S. 277 f. zum Vorwurf, wenn er von der „widerwärtigen Verwechslung zwischen Recht und Moral“ spricht, durch die Cicero gewissermaßen die Urschuld trage an der falschen „modernen Auffassung des ,Naturrechts‘“, wonach dieses „[e]in moralisches und vernunftgemäßes Gesetz“ darstelle. 137 Offensichtlich meint dies auch Stephan Podes: Die Krise der spten rçmischen Republik und Ciceros Rechtsphilosophie (de legibus). Bedingung der Mçglichkeit zur Alternative?, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 77 (1991), S. 84 – 94, dort S. 89, wenn er sagt, daß bei Cicero das mit dem Recht identifizierte „GutSein im Sinne des formalen Kriteriums der ,Übereinstimmung mit der Natur‘ materialiter mit dem Begriff der Gerechtigkeit aufgefüllt“ wird. 138 Cicero: De legibus I, 35. 139 In De legibus I, 43 bezeichnet Cicero sogar die natürliche Neigung zur Menschenliebe als „Grundlage des Rechts“ (fundamentum iuris). 140 Cicero: De legibus I, 35.

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sprünglich aus der – überpositiven – Moral: Recht ist für Cicero eben, was ,rechtens‘, was gerecht ist, und dies wiederum ergibt sich aus dem, was die natürliche Liebe des Menschen zu seinen Mitmenschen, die ihm gleich sind, fordert. Eine utilitaristische Erklärung des Rechts bzw. der Gerechtigkeit aus dem bloßen Nutzen, der daraus für das Zusammenleben der Menschen erwächst, ist hierdurch von vornherein ausgeschlossen.141 Damit hat Cicero eine Ableitungskette konstruiert, die bei der summa lex der Natur-Vernunft beginnt und über die Wohlgeneigtheit zwischen allen Menschen sowie in eins damit über die Tugend (der Gerechtigkeit) zur menschlichen Rechtsgemeinschaft der civitas führt; dies läßt deutlich genug erkennen, inwiefern für Cicero das ius, dessen allgemeines Wesen die Gerechtigkeit darstellt, in der göttlichen lex naturae gründet142 und insofern ein ius naturae ist. Gerade die Rückbindung des Rechts an die Gerechtigkeit (als natura iuris), seine ethische Fundierung, zeigt dabei jedoch gleichzeitig, daß und weshalb nach Cicero nicht schon alle möglichen positiven Normen aus der Quelle des höchsten Gesetzes entspringen und damit der Natur des Rechts entsprechen. Denn die Engführung des Rechtbegriffs mit dem des sittlich Guten, wie sie aus der Wesensbestimmung des Rechts durch die Gerechtigkeit resultiert, bedeutet umgekehrt schließlich auch eine gewisse Entkopplung des Rechts von bloßen Akten der Gesetzgebung bzw. Jurisdiktion. In diesem Sinn betont Cicero denn auch, daß die eigent141 Siehe Cicero: De legibus I, 40 – 42. 142 Das übergeht Klaus Martin Girardet: Die Ordnung der Welt (wie Anm. 107), S. 49, wenn er behauptet: „Cicero spricht in I 16 nur vom Weg zum fons legum et iuris. Die Quelle selbst nennt er noch nicht beim Namen. Denn wenn er sagt, nach Erklärung dessen (his explicatis), was die natura dem Menschen mitgegeben und aufgegeben habe, könne man die Quelle finden, so besagt dies, daß die Philosophie (Anthropologie) gleichsam der Weg ist, der zur Quelle führt. Es besagt also nicht, daß die Philosophie (oder implizit Naturrecht und Naturgesetz) die Quelle der ,optimalen‘ Rechtsnormen sei.“ Dem ist entgegenzuhalten, daß Cicero durchaus in stoischer Tradition Natur, Vernunft und Gesetz identifiziert, keineswegs hingegen, wie Girardet weiter folgert, die Natur als das Primäre vom Gesetz als dem Sekundären unterscheidet. Dies ist vielmehr nur der Fall bei der – guten – lex scripta, die jedoch von der summa lex, die mit der natura und ratio identisch ist, als Konkretum vom Abstraktum unterschieden werden muß, was Girardet ja selbst einräumt. Zur Kritik an der in dieser Hinsicht widersprüchlichen Interpretation Girardets vgl. Stephan Podes: Die Krise der spten rçmischen Republik und Ciceros Rechtsphilosophie (wie Anm. 137), S. 86 f.

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liche Strafe für begangenes Unrecht weniger durch die Rechtssprechung als vielmehr durch die Natur selbst verhängt werde, indem der Schuldige „mit Gewissensangst und mit der Qual der bösen Tat“143 selbst schon gestraft sei. Diese Verschiebung des Rechtsbegriffs vom Juristischen ins Ethische, d. h. zugleich: ins Innere des Menschen, impliziert eine entschiedene Absage gegenüber jeder Art von Rechtspositivismus. Cicero bringt die zentrale Vorstellung der Unabhängigkeit des natürlichen Rechts von allen willkürlichen Satzungen pointiert zum Ausdruck, indem er sie anhand historischer Beispiele illustriert: Iam vero illud stultissimum, existimare omnia iusta esse, quae scita sint in populorum institutis aut legibus. Etiamne si quae leges sint tyrannorum? Si triginta illi Athenienses delectarentur tyrannicis legibus, num idcirco eae leges iustae haberentur? Nihilo credo magis illa, quam interrex noster tullit, ut dictator, quem vellet civium vel indicta causa inpune posset occidere. Est enim unum ius, quo devincta est hominum societas et quod lex constituit una, quae lex est recta ratio imperandi atque prohibendi. Quam qui ignorat, is est iniustus, sive est illa scripta uspiam sive nusquam. Es ist aber ganz töricht, zu glauben, all das sei gerecht, was durch Einrichtungen oder durch Gesetze der Völker festgesetzt ist. Etwa auch dann, wenn es sich um Gesetze von Tyrannen handelt? Wenn jene Dreißig in Athen Gesetze hätten erlassen wollen, würde man dann, selbst wenn alle Athener an den tyrannischen Gesetzen Gefallen gefunden hätten, etwa diese Gesetze für gerecht halten? Ich glaube ebenso wenig wie jenes Gesetz, das unser Zwischenkönig beantragte, daß der Diktator jeden beliebigen Bürger sogar ohne Verhör töten lassen könne. Denn es gibt nur ein einziges Recht, das für die menschliche Gemeinschaft verbindlich ist und das in dem einen Gesetz gründet, das in der rechten Vernunft des Gebietens und Verbietens besteht. Wer dieses nicht kennt, ist ungerecht, sei es irgendwo aufgeschrieben oder nicht.144

Scharf wird hier zwischen gerechten und ungerechten positiven Gesetzen unterschieden, wobei das Unterscheidungskriterium der Bezug zu dem einen Gesetz der recta ratio ist. Sind die gerechten, im höchsten Gesetz der Natur fundierten Gesetze allgemeinverbindlich, so handelt es sich hingegen bei den ungerechten, nicht im Naturgesetz gründenden Gesetzen um unverbindliche leges, die – im strengen Wortsinn – gar kein ius zum Inhalt haben, da dessen allgemeines Wesen nach Cicero ja gerade in der Gerechtigkeit beruht. Dieselbe (moralische) Bedeutung hat denn auch der Unterschied zwischen „gutem Gesetz“ (lex bona) und „schlechtem Gesetz“ (lex mala), wie ihn Cicero im folgenden 143 Cicero: De legibus I, 40. 144 Cicero: De legibus I, 42.

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macht.145 Und wie er sich weigert, positives ,Recht‘, das der lex naturae bzw. der natura iuris widerspricht, überhaupt als Recht zu bezeichnen, spricht er schließlich auch dem schlechten, ungerechten Gesetz die Berechtigung ab, den Namen lex überhaupt zu führen.146 Deutlich wird, inwiefern Cicero einerseits zwar die stoische Naturrechtslehre aufgreift, andererseits aber auch über sie hinausgeht. Mit den frühen Stoikern teilt er die Ansicht, daß das Recht im ewigen Gesetz der Natur und nicht in den willkürlichen Satzungen der Menschen begründet ist. Anders als sie nimmt er jedoch an, daß es möglich und vor allem notwendig ist, konkrete Gesetze zu schaffen, die dem allgemeinen Naturgesetz vollkommen entsprechen, die als gute, gerechte Gesetze das natürliche Recht kodifizieren. In diesem Sinn zielt Ciceros Rechtsphilosophie in De legibus auf eine Positivierung des Naturrechts ab, wie sie der älteren Stoa, der sämtliche positive Gesetze tendenziell nur als ungenügende, schlechte Zusätze zum göttlichen Nomos galten, fremd bleiben mußte. Dieser gewandelten, ,rechtsoptimistischen‘ Auffassung Ciceros entspricht nun aber auch die Rolle, die er dem Weisen in der berühmten laudatio sapientiae am Ende des ersten Buches zuschreibt. Bleibt die Haltung der altstoischen Philosophen zum politischen Leben durchaus ambivalent, so daß nach Zenons und Chrysipps Diktum der Weise nur dann politisch tätig sein wird, wenn ihn nichts davon abhält, steht für Cicero dagegen unumstößlich fest, daß der Weise zum Leben in der politischen Gemeinschaft verpflichtet ist,147 und zwar in der konkreten civitas, die seine Heimat bildet, „pro qua mori et cui nos totos dedere et in qua nostra omnia ponere et quasi consecrare debemus“ – „für die wir sterben, der wir uns ganz widmen und für die wir alle unsere Fähigkeiten einsetzen und ihr gleichsam opfern müssen.“148 Die spezifische Aufgabe dieses Weisen, der insofern theoretische und praktische Existenz miteinander verbindet, besteht darin, die Menschen zur Tugend anzuleiten, gute Gesetze zu erlassen und zu sichern, die Bösen zu bestrafen, die Guten zu beschützen usw.149 145 Siehe Cicero: De legibus I, 44: „Atqui nos legem bonam a mala nulla alia nisi naturae norma dividere possumus.“ – „Doch wir können ein gutes Gesetz von einem schlechten nur nach dem Maßstab der Natur unterscheiden.“ 146 Siehe Cicero: De legibus II, 11. 147 Vgl. Ciceros Bemerkung, daß der Weise „se ad civilem societatem natum senserit“ – „fühlt, daß er zur bürgerlichen Gemeinschaft geboren ist“ (De legibus I, 62). 148 Cicero: De legibus II, 5. 149 Siehe Cicero: De legibus I, 62.

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Mit einem Wort: Der Weise – und er allein – ist dazu berufen, als Gesetzgeber der civitas vorzustehen. Cicero begründet dies ähnlich wie die älteren Stoiker ihr Ideal des weisen Monarchen, nämlich durch die Einsicht, die der Weise aufgrund seiner vollkommen entfalteten Vernunft in das göttliche Naturgesetz habe.150 Allerdings handelt es sich bei der Gesetzgebung durch den Weisen für Cicero nicht nur um ein Ideal, von dem man angesichts der schlechten Realität auch beliebig wieder abrücken oder das man durch Konzessionen schrittweise zurücknehmen kann, sondern um eine Forderung, die es unter allen Umständen zu verwirklichen gilt. Die positiven Gesetze, die der Weise kraft seiner voll entwickelten Vernunft zu schaffen vermag, leiten sich, so Ciceros Grundannahme, unmittelbar aus dem ewigen, uranfänglichen Gesetz Jupiters her, wenden dieses selbst auf einzelne Fälle an, konkretisieren es also, ohne substantiell von ihm verschieden zu sein. Daher erheben diese positiven Gesetze auch den Anspruch, im Grunde ebenso unveränderlich und unaufhebbar zu sein wie jenes göttliche Gesetz. Cicero selbst geht es in De legibus darum, als weiser Nomothet solche konkreten Gesetze zu formulieren, die eigentlich immer und überall gelten, weil sie natürliches Recht enthalten, d. h. – dem Wesenskriterium der Gerechtigkeit entsprechend – „zum Wohlergehen der Bürger und zur Erhaltung der Gemeinwesen und zum Leben der Menschen in Ruhe und Glück“151 beitragen. Während Cicero also in der Definition des Naturgesetzes als göttlich-menschlicher Vernunft, die das Rechte befiehlt und das Gegenteil verbietet, nicht von der Auffassung der älteren Stoa abweicht, bestimmt er doch das Verhältnis dieses göttlichen Gesetzes zu den menschlichen Gesetzen ganz anders als sie, indem er es unter dem Gesichtspunkt der Übereinstimmung betrachtet. Von daher gilt ihm aber auch die durch jenes Weltgesetz beherrschte allumfassende Kosmopolis nicht mehr, wie den frühen Stoikern, als bloß metaphysische Einheit aller Vernunftwesen, die den einzelnen Gemeinwesen unverbunden gegenübersteht. Vielmehr soll die Kosmopolis bei Cicero durch die postulierte Konkretisierung des einen Naturgesetzes ausdrücklich auch als die societas legis aller Menschen realisiert werden. Die positiven Gesetze, die in den beiden letzten erhaltenen Büchern von De legibus formuliert werden, erheben als im göttlichen Naturgesetz fundierte Gesetze also nicht nur den Anspruch auf ewige, sondern ebenso auf 150 Siehe Cicero: De legibus II, 8. 151 Cicero: De legibus II, 11.

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universale Gültigkeit. Da sie aus der allgemeinen Natur (des Menschen) abgeleitet sind, bildet das Recht, das diese Gesetze zum Inhalt haben, notwendig zugleich das für alle Menschen geltende natürliche Recht.152 Betrachtet man nun aber den Codex positiver Einzelgesetze, die Cicero anschließend aus seinem Vernunftgesetz der Natur bzw. von der natura iuris ableitet, so fällt auf, daß diese sich als weitgehend identisch erweisen mit den Sakral- und Magistratsgesetzen der altrömischen Republik, welche Cicero ja bereits in seiner Schrift De re publica als die bestmögliche Verfassungsordnung aufgewiesen hatte. Die von ihm vorgenommene Konkretisierung des stoischen Naturrechts führt auf diese Weise letztlich zur Legitimierung der in der Spätzeit der Republik bereits in ihren Grundfesten erschütterten Gesetze und Sitten der Vorfahren. Angesichts des um deren Erhalt bemühten politischen Ziels des Reformers Cicero wird so deutlich, inwiefern seine Rechtsphilosophie als Basis des nachfolgenden Gesetzescodex auch eine ideologische Funktion erfüllt. Die Affirmation des Bestehenden, der sie dient, läßt seine Naturrechtslehre damit schließlich nicht minder fragwürdig erscheinen als die der älteren Stoa, wenn auch aus anderem Grund. Nimmt diese die Hauptaufgabe jedes Naturrechtsdenkens – die Begründung bzw. Berichtigung des positiven Rechts durch das Naturrecht – gar nicht ernsthaft in Angriff, um statt dessen „bei einer hohen, aber inhaltlich nicht gefüllten und daher für konkrete Verfassungsaufgaben unbrauchbaren Idee“153 stehen zu bleiben, so wird umgekehrt an Ciceros Versuch einer Ableitung von positiven Einzelnormen aus dem allgemeinen Weltgesetz die Gefahr deutlich, die darin liegt, das Na152 Im Zusammenhang mit dem eingangs entworfenen Programm, die Gesetze zu ermitteln, nach denen nicht nur die römische Res publica, sondern alle civitates regiert werden sollen, ist daraus ganz klar auch eine Rechtfertigung der römischen Weltherrschaft abzulesen, da durch sie in Ciceros Augen das im ewigen Naturgesetz gründende Recht unter den Völkern verbreitet werden kann. Für Cicero ist die stoische Kosmopolis also offenbar mit dem Imperium Romanum identisch – vorausgesetzt freilich, daß es jene Aufgabe auch wirklich erfüllt. Eben damit handelt es sich aber nicht nur um eine Legitimation der Weltherrschaft Roms, sondern vielmehr zugleich um eine nachdrückliche Ermahnung dazu, diese im angezeigten Sinn gerecht auszuüben, ein iustum imperium zu errichten, wie es in der Gegenwart Ciceros nicht mehr bzw. noch nicht vorhanden sei. Zu Ciceros Kritik an der zeitgenössischen Herrschaftspraxis der Römer sowie zum – „hegemonialen“ – Sinn der universalistischen Tendenz seines gesetzgeberisch-reformpolitischen Vorhabens vgl. Klaus Martin Girardet: Die Ordnung der Welt (wie Anm. 107), S. 11 – 16 und S. 144 – 164. 153 Jürgen Blänsdorf: Das Naturrecht in der Verfassung (wie Anm. 2), S. 44.

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turrecht einfach mit der eigenen Rechtsordnung gleichzusetzen. Cicero schießt also gleichsam über das Ziel hinaus, wenn er – in dieser Hinsicht formal dem Vorbild Platons folgend – meint, daß es nur eine bestimmte positive Rechtsordnung gibt, die bis ins Detail hinein mit der natürlichen identisch ist. Selbst wenn er sich hiermit aber teilweise tatsächlich „gegen die kritizistische Funktion zugunsten der affirmativen Funktion des Naturrechts“154 entscheiden mag, wäre es dennoch zu einseitig, Cicero gänzlich auf letztere festzulegen. Gerade in seiner nachdrücklichen Forderung nach einer politischen Realisierung der auf der Gleichheit aller Menschen basierenden Gerechtigkeit liegt vielmehr auch ein durchaus kritisches Potential seiner Naturrechtskonzeption, deren ahistorische Denkweise allerdings im weiteren Traditionsprozeß aufgegeben wird. IV. Zur Rezeption und Transformation des stoisch-ciceronischen Naturrechtsdenkens von den klassischen römischen Juristen bis Rousseau Zunächst wirkt die von Cicero vermittelte stoische Naturrechtslehre in die klassische römische Jurisprudenz der Kaiserzeit hinein. Dabei spielt die kosmopolitische Dimension des Naturrechts eine wichtige Rolle, indem das ius naturae/naturale mit dem ,Völkerrecht‘, dem ius gentium,155 das sich neben dem ius civile als Reflexionsgegenstand der Juristen etabliert, in Verbindung gebracht wird. Aus der Beobachtung, daß es bei verschiedenen Völkern gleiche Rechtsgrundsätze gibt, wird gefolgert, dieses ius gentium habe – im Gegensatz zu dem von Volk zu Volk differierenden ius civile – seinen Ursprung in der Natur; bei Gaius (ca. 110 – 180), der ein Jahrhundert nach Cicero natura und ratio asso154 Stephan Podes: Die Krise der spten rçmischen Republik und Ciceros Rechtsphilosophie (wie Anm 137), S. 92. Zu dieser Tendenz als Gefahr eines jeden Naturrechtsdenkens, nicht bloß des antiken bzw. ciceronischen, siehe Franz Wieacker: Zum heutigen Stand der Naturrechtsdiskussion. Köln/Opladen 1965, S. 24 f. Wieacker warnt hier vor jedem Naturrechtsdenken, das durch Festlegung auf eine bestimmte Rechtsmaterie „Ansprüche auf eine unbedingte dogmatische Autorität“ erhebt. Statt dessen plädiert er für ein Verständnis des Naturrechts als eines „rechtskritisches Organ[s]“, welches „wie das Daimonion des Sokrates eher warnen als gebieten“ soll. 155 Zum folgenden vgl. Wolfgang Waldstein: Naturrecht bei den klassischen rçmischen Juristen, in: Das Naturrechtsdenken heute und morgen (wie Anm. 9), S. 239 – 253; Max Kaser: Ius gentium. Köln u. a. 1993.

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ziiert, heißt es dementsprechend, dieses Recht sei durch die natürliche Vernunft unter allen Völkern verbreitet.156 Ulpian (ca. 170 – 223) dehnt das ius naturale im ersten Fragment der Digesten noch weiter aus. Es sei nicht nur das natürliche Recht aller Völker, sondern jenes Recht, „quod natura omnia animalia docuit: nam ius istud non humani generis proprium, sed omnium animalium“ – „das die Natur alle Lebewesen gelehrt hat; denn dieses Recht ist nicht allein dem Menschengeschlecht eigen, sondern allen Lebewesen“,157 womit allerdings gerade der stoisch-ciceronische Gedanke der spezifischen Würde des Menschen als Vernunftwesen aufgegeben wird. Ferner gehen ius naturale und ius gentium auch in der Ansicht der klassischen Juristen bezüglich der Sklaverei auseinander. Während diese zwar zum ius gentium gezählt wird, da es sie bei allen den Römern bekannten Völkern gibt, gilt sie gemäß der stoischen Auffassung, die hier übernommen wird, als dem Naturrecht widersprechend. In diesem Sinn betont Ulpian etwa: „quae res a iure gentium originem sumpsit, utpote cum iure naturali omnes liberi nascerentur […].“ – „Diese Einrichtung [die Sklaverei] entstammt dem Völkergemeinrecht, da nach Naturrecht ja alle Menschen frei geboren wurden […].“158 Schon daraus, daß die contra naturam bei den Völkern eingeführte Sklaverei von den Juristen einfach hingenommen wird und in ihren Augen kein echter Konflikt zwischen dem ius naturale und dem ius gentium besteht, wird deutlich, wie kraftlos das naturrechtliche Gleichheitspostulat auch bei ihnen noch bleibt. Als besonders folgenreich erweist sich die Rezeption der stoischen und speziell der ciceronischen Lehre vom natürlichen Gesetz in der Patristik; von hier aus verläuft die weitere Traditionslinie über die Scholastik bis schließlich zur Rechtsphilosophie der Neuzeit. Die zentralen Begriffe, in denen im Anschluß an die früheren Kirchenväter Augustinus (354 – 430) das Naturrecht denkt, sind Ciceros Übersetzungen der altstoischen Termini, auch wenn sie bei Augustinus eine aufgrund der neuen, christlichen Ausgangssituation veränderte Bedeutung erhalten. So definiert Augustinus die lex aeterna als „ratio divina vel voluntas Dei ordinem naturalem conservari iubens, perturbari vetans“ – „die göttliche Vernunft oder der Wille Gottes, der gebietet, die 156 Siehe Gaius: Institutionen 1, 1 (hg. von Ulrich Manthe. Darmstadt 2004). 157 Ulpian: Digesten 1, 1, 1, 3 (hg. von Okko Behrends u. a. Heidelberg 1995). 158 Ulpian: Digesten 1, 1, 4; vgl. auch Digesten 50, 17, 32: „quod ad ius naturale attinet, omnes homines aequales sunt“ – „was das natürliche Recht betrifft, sind alle Menschen gleich“.

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natürliche Ordnung zu erhalten, und verbietet, sie durcheinander zu bringen“159. Er unterscheidet sie damit zunächst in einer den pantheistisch denkenden Stoikern und Cicero fremden Weise von der natürlichen Ordnung, dem ordo naturalis bzw. der lex naturae/naturalis. Auch steht der Mensch zu dieser in einem anderen Bezug als in der Stoa und bei Cicero, insofern die ratio des Menschen nach Augustinus keineswegs selbständig an der Vernunft Gottes partizipiert, sondern dazu auf eine göttliche Gnadengabe angewiesen ist. Allerdings vermag so auch der Ansicht des Kirchenvaters zufolge der Mensch die lex aeterna und ihre incommutabiles regulae zu erkennen, da ihm das Gesetz der Natur wie ein Bild durch das Siegel der lex aeterna in das Wachs seines Herzens und Geistes eingedrückt sei.160 Hierzu kann sich Augustinus auf die Stelle aus dem zweiten Paulusbrief an die Römer berufen (2, 14 f.), wo es heißt, daß Gott allen Menschen – auch den Heiden – das Gesetz gegeben habe.161 Inhaltlich identifiziert wird dies dem Menschen eingeprägte Naturrecht von Augustinus wie bereits von den älteren Kirchenvätern mit der Goldenen Regel aus Mt 7, 12 und Lk 6, 31 sowie den Normen des Dekalogs – ethischen Grundeinsichten des Menschen, welche sich auch auf das Recht auswirken, das schließlich durch die lex humana gesetzt wird. Diese steht der göttlichen lex aeterna als lex temporalis gegenüber, als veränderliches positives Recht, das gleichwohl der lex aeterna und mit ihr der lex naturalis zu entsprechen, also echtes Recht zu sein vermag. Mit dieser Vorstellung unterscheidet sich Augustinus erheblich von Cicero, der ja davon ausging, daß positives Recht, das diesen Namen aufgrund seiner Übereinstimmung mit dem Wesenskriterium der iustitia als natura iuris auch wirklich verdient, ebenso unveränderlich wie das höchste Gesetz selbst sei. Dagegen sucht Augustinus zu zeigen, inwiefern auch die Gerechtigkeit eines Gesetzes von den jeweiligen äußeren Umständen abhängt und durch eine Veränderung dieser aus einem gerechten Gesetz ein 159 Augustinus: Contra Faustum XXII, 27 (hg. von Joseph Zycha. Prag u. a. 1891). Die späterhin zum fundamentalen Streitgegenstand gewordene Alternative zwischen Intellektualismus und Voluntarismus scheint in der Wendung „ratio divina vel voluntas Dei“ noch in der Einheit eines Sowohl-als-auch aufgehoben. 160 Vgl. Klaus Martin Girardet: Naturrecht und Naturgesetz: Eine gerade Linie von Cicero zu Augustinus?, in: Rheinisches Museum für Philologie 138, 1995, S. 266 – 298, dort S. 281 f. 161 In dieser Gedankenfigur lebt auf spezifisch christliche Weise die stoisch-ciceronische Idee der naturrechtlichen Gleichheit aller Menschen fort.

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ungerechtes werden kann, ohne daß sich die Auffassung von Gerechtigkeit dadurch wandeln würde.162 Damit gelangt Augustinus zu einer Anerkennung der Veränderlichkeit und Dynamik des konkreten, obzwar überpositiv begründeten Rechts, wie sie Cicero fremd bleiben mußte. Jede Konkretisierung des natürlichen Gesetzes, so Augustinus’ wichtige Einsicht, unterliegt bestimmten, je anderen historischen Bedingungen, die seine absolut adäquate Umsetzung unmöglich machen. In produktiver Weise eignet sich Thomas von Aquin (1225 – 1274) diese Gedanken an. Wie Augustinus unterscheidet auch er zwischen lex aeterna, lex naturalis und lex humana, verknüpft dabei jedoch zugleich die stoisch-augustinische mit der aristotelischen Denktradition. Das zeigt sich schon, wenn Thomas das natürliche Gesetz als die Form bestimmt, in der das ewige Gesetz dem Menschen zugänglich ist,163 allerdings nicht im augustinischen Sinne als eingeprägtes Abbild, sondern in Form von „allgemeinen Regeln“ (regulae generalis),164 die erst noch der Präzisierung durch eine spezifisch handlungsbezogene Vernunft bedürfen.165 Oberstes Prinzip der solchermaßen bestimmten lex naturalis ist für Thomas der praktische Vernunftgrundsatz, das Gute zu tun und das Böse zu meiden,166 der als solcher freilich noch offen läßt, was inhaltlich als das Gute oder Böse zu gelten hat. Dies ergibt sich aber aus der Natur des Menschen, welcher schon – Analogien zur stoischen Oikeiosislehre werden sichtbar – eine bestimmte „,Neigung‘ zum ,Gesollten‘“167 inhärent ist: So gehören zu ihr Grundstrebungen, in162 Als illustratives Beispiel führt Augustinus das Recht eines Volkes an, seine Magistrate selbst zu wählen, welches gerecht sei, solange das Volk bene moderatus ist, ungerecht aber, sobald das Volk verkommen und korrupt sei. Vgl. Augustinus: De libero arbitrio 1, 6, 14 f. (hg. von Johannes Brachtendorf. Paderborn u. a. 2006). 163 Siehe Thomas von Aquin: Summa Theologiae I-II 91, 2 (hg. von Otto Hermann Pesch. Heidelberg u. a. 1977): „[…] lex naturalis nihil aliud est quam participatio legis aeterna in rationali creatura.“ – „[…] das natürliche Gesetz ist nichts anderes als eine Teilhabe am ewigen Gesetz im vernunftbegabten Geschöpf.“ 164 Thomas von Aquin: Summa Theologiae I-II 91, 3. 165 Vgl. dazu Ludger Honnefelder: Naturrecht und Normwandel bei Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus, in: Sozialer Wandel im Mittelalter. Wahrnehmungsformen, Erklrungsmuster, Regelungsmechanismen, hg. von Jürgen Miethke und Klaus Schreiner. Sigmaringen 1994, S. 197 – 213, dort S. 203 f. 166 Siehe Thomas von Aquin: Summa Theologiae I-II 94, 2: „Hoc est ergo primum praeceptis legis, quod bonum est faciendum et prosequendum, et malum vitandum.“ – „Dies ist also das erste Gebot des Gesetzes: Das Gute ist zu tun und zu erstreben, das Bçse ist zu meiden.“ 167 Wolfgang Kluxen: Lex naturalis bei Thomas von Aquin. Wiesbaden 2001, S. 34.

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clinationes naturales, wie die – mit allen Lebewesen geteilte – Neigung zur Selbst- und Arterhaltung, aber auch die genuin menschliche Neigung zur Erkenntnis der Wahrheit und zum gesellschaftlichen Leben: Et secundum hoc, ad legem naturalem pertinent ea quae ad hujusmodi inclinationem spectant: utpote quod homo ignorantiam vitet, quod alios non offendat cum quibus debet conversari, et cetera hujusmodi quae ad hoc spectant. Und demzufolge umgreift das natürliche Gesetz alles, was auf diese Naturneigung Bezug hat: daß der Mensch z. B. die Unwissenheit überwinde, daß er andere, mit denen er zusammenleben muß, nicht verletze, und was sonst noch damit zusammenhängt.168

Auch diese inclinationes stecken aber nur einen allgemeinen naturgesetzlichen Rahmen für das Handeln des Menschen ab, der jeweils noch durch die fortschreitende Erkenntnis der praktischen Vernunft ausgefüllt werden muß, indem konkretere ethisch-moralische Forderungen aus den oberen Prinzipien der lex naturalis abgeleitet werden, z. B. das Gebot, niemanden zu töten, aus dem Gebot, niemandem etwas Böses zuzufügen.169 Die erforderliche Konkretisierung der naturgesetzlichen Normen durch die praktische Vernunft geschieht Thomas zufolge nun aber nicht nur durch solch notwendige Schlußfolgerungen (conclusiones), sondern ebenfalls durch kontingente Zusatzbestimmungen (determinationes), die sich nicht, wie jene, unmittelbar aus der lex naturalis ergeben, obwohl sie ihr durchaus auch entsprechen müssen.170 Als Konsequenz für Thomas’ Konzeption des Verhältnisses zwischen dem Naturgesetz bzw. Naturrecht und dem positiven Recht der lex humana ergibt sich daraus, daß die menschlichen Gesetze, insofern sie gut bzw. gerecht sind, sich zwar aus dem natürlichen Gesetz herleiten, mit ihm übereinstimmen, dabei jedoch zugleich in gewissen Grenzen wandelbar 168 Thomas von Aquin: Summa Theologiae I-II 94, 2. 169 Siehe Thomas von Aquin: Summa Theologiae I-II 95, 2: „sicut hoc est ,non esse occidendum‘, ut conclusio quaedam derivari potest ab eo quod est ,nulli esse malum faciendum‘.“ – „So kann z. B. das Verbot: ,Du sollst nicht töten‘ als Folgesatz hergeleitet werden aus dem Grundsatz ,Du darfst niemandem ein Leid antun‘.“ 170 Siehe Thomas von Aquin: Summa Theologiae I-II 95, 2: „Sed sciendum est quod a lege naturali dupliciter potest aliquid derivari: uno modo, sicut conclusiones ex principiis; alio modo, sicut determinationes quaedam aliquorum communium.“ – „Man muß aber wissen, daß etwas in doppelter Weise sich vom natürlichen Gesetz herleiten kann: einmal wie die Folgesätze aus den Grundsätzen; ein anderes Mal wie nähere Bestimmungen allgemeiner Sätze.“

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sind. Auch Thomas geht es also mit seiner Leges-Lehre, die auf diese Weise zwei konkurrierende Denkmodelle zur Synthese bringt, um das, was sich jeweils im Hier und Jetzt als das von Natur aus Rechte erweist. Obwohl das christliche Denken a priori universal ausgerichtet ist, indem es von einer ursprünglichen Gleichheit aller Menschen ausgeht, die in ihrer spezifischen Würde als Geschöpfe und Ebenbilder Gottes begründet ist, ergeben sich angesichts der historischen Realität der Spätantike und des Mittelalters daraus doch auch Probleme, wie sie die stoisch-ciceronische Naturrechtslehre in der Form nicht kannte. So stellt sich für die Christen zum einen beispielsweise die Frage, inwiefern unter jener Voraussetzung die faktische rechtliche Ungleichheit der Menschen innerhalb der politischen Ordnung zu begründen und zu rechtfertigen ist – etwa als Resultat des Sündenfalls. Zum anderen erscheint das Verhältnis von Christen und Heiden prekär: Gilt das natürliche Recht wirklich – wie es im zweiten Römerbrief des Apostels Paulus heißt – gleichermaßen für Getaufte wie für Ungetaufte? Sowohl bei Augustinus als auch bei Thomas finden sich im Kontext dieser Problemstellungen Aussagen, die einigermaßen irritierend wirken: Augustinus spricht sich nach anfänglichem Zögern offen für die Verfolgung Un- bzw. Andersgläubiger aus,171 und Thomas legitimiert das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Herren und Sklaven, auch wenn er dabei – im Unterschied zu Aristoteles – auf das Menschsein des Sklaven hinweist.172 Vor diesem Hintergrund ist die innovative Leistung der spanischen Spätscholastik zu sehen; sie bereitet schon den Übergang zur neuzeitlichen Naturrechtslehre vor, die wieder stärker an die stoischen Grundlagen anknüpft, indem sie die naturrechtliche Gleichheit der Menschen nicht mehr aus der anthropologischen Wesensbestimmung als imago dei ableitet, sondern sich dafür auf die allen gemeinsame Vernunftnatur beruft. In diesem Sinn betont bereits Francisco de Vitoria (ca. 1483 – 1546), der Begründer der Schule von Salamanca, angesichts der Entdeckung der Neuen Welt und der brutalen Unterwerfung ihrer Bewohner, daß die unbedingt verbindlichen Gesetze der Naturordnung nicht nur für Christen gelten, sondern dezidiert für alle Menschen, also 171 Siehe beispielsweise Augustinus: Epistulae 93, 5, 16 (hg. von Klaus-Detlev Daur. Turnhout 2005), wo Augustinus die Glaubensverbreitung durch Zwang rechtfertigt. 172 Siehe Thomas von Aquin: Summa Theologiae II-II 57, 4 (hg. von Arthur F. Utz. Heidelberg u. a. 1953).

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auch für die indianischen Heiden bzw. ,Barbaren‘, welche ebenso befähigt seien, die Inhalte der lex naturalis zu erkennen. Argumente der Stoa aufgreifend, folgert Vitoria dies aus der Voraussetzung einer allgemeinen Menschennatur, die in der spezifischen Vernünftigkeit beruht, durch die sich der Mensch vom Tier unterscheidet und die ihn zu einem geselligen Leben mit seinesgleichen, ja, zu einer grundsätzlichen Verbundenheit mit allen anderen Menschen prädisponiert.173 Indem Vitoria auf diese – letztlich säkularisierende – Weise alle Menschen als Vernunftwesen naturrechtlich gleichstellt, vermag er aber das Naturrecht zum Fundament eines globalen Völkerrechts zu machen, von dem aus sich die Illegitimität der zeitgenössischen Kolonialisierungspraxis aufzeigen läßt. Der entsprechende Gedankengang in Vitorias berühmter Relectio de Indis setzt, nach einer allgemeinen Herleitung des Wesens politischer Herrschaft, bei der auch den Indios zukommenden prinzipiellen, glaubensunabhängigen Gemeinschafts- und Rechtsfähigkeit an, um von hier aus ebenfalls ihre Eigentums- und Herrschaftsfähigkeit zu begründen, kraft welcher sie den spanischen Eroberern einen eigenständigen Rechtsstatus entgegensetzen können, den diese zu berücksichtigen haben.174 Damit begründet Vitoria auf der Basis des stoischen Naturrechtsgedankens erstmals ein Völkerrecht als genuin subjektives Recht, insofern es ein natürliches Recht der Völker darstellt, das nicht nur im Sinne eines objektiv verpflichtenden Kanons von Normen, sondern eines auf jedes Volk bezogenen Anrechts auf Selbstbestimmung

173 Siehe Francisco de Vitoria: Relectio de potestate civili 6 (Vitorias Werke werden zitiert nach der Ausgabe von Ulrich Horst, Heinz-Gerhard Justenhoven und Joachim Stüben. Stuttgart u. a. 1995 – 97). Zwar beruft sich Vitoria auch auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen, fokussiert diese aber primär auf seine Vernunftnatur; vgl. dazu auch Rolf Grawert: Francisco de Vitoria. Naturrecht – Herrschaftsordnung – Vçlkerrecht, in: Der Staat 39, 2000, S. 110 – 125, dort S. 117. 174 Siehe Francisco de Vitoria: Relectio de Indis I, 1, 15. Auf die Frage, ob die amerikanischen ,Barbaren‘ überhaupt eine rechtmäßige Herrschaft (dominium) ausgeübt haben, antwort Vitoria in I, 1, 16: „[…] quod sine dubio barbari erant et publice et privatim ita veri domini sicut Christiani nec hoc titulo potuerunt spoliari aut principes aut privati rebus suis, quod non essent veri domini.“ – „daß die Barbaren ohne Zweifel sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich ebenso wie die Christen echte Herren waren und mit dem Rechtsgrund, daß sie keine echten Herren seien, weder Herrscher noch Privatleute ihrer Güter beraubt werden können.“

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zu verstehen ist.175 Der Weg zu subjektiven Menschenrechten erscheint von hier aus nicht mehr weit.176 Darüber hinaus kann der Spanier – noch vor Hugo Grotius – auch insofern als ,Vater des Völkerrechts‘ gelten, als er im Ausgang von seinen naturrechtlichen Prämissen eine weltumspannende Rechtsordnung einfordert, die der Freiheit und Gleichheit aller Menschen bzw. Völker Rechnung trägt. Im Rückgriff auf Ciceros Konkretisierung der stoischen Kosmopolis-Idee bestimmt Vitoria den ganzen Erdkreis als eine universale, alle Menschen und Völker miteinander verbindende Rechtsgemeinschaft: „Habet enim totus orbis, qui aliquo modo est una res publica, potestatem ferendi leges aequas et convenientes omnibus […].“ – „Es hat nämlich die ganze Welt, die in gewisser Weise ein einziges Gemeinwesen bildet, die Vollmacht, Gesetze zu erlassen, die gerecht und angemessen für alle sind […].“177 Ausgehend von der Vorstellung einer solch universalen Gemeinschaft zwischen allen – christlichen wie nichtchristlichen – Völkern über die Einheit der Christenheit hinaus, die auch die Folgerung einschließt, daß weder Papst noch Kaiser als die Herren der Welt gelten können,178 formuliert Vitoria nun konkrete naturrechtliche Regeln für das Zusammenleben der Völker, wobei er sich auf die römisch-rechtliche Engführung von ius naturale und ius gentium beruft179 und zen175 Eingehender zu diesem Paradigmenwechsel vom objektiven zum subjektiven Recht bei Vitoria vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie (wie Anm. 36), S. 353 – 356. 176 Was allerdings nicht etwa heißen soll, Vitoria selbst begründe solche bereits. Vgl. dazu Rolf Grawert: Francisco de Vitoria (wie Anm. 173), S. 123 f.: „Doch gibt er [Vitoria] auch keinen Anlaß, auf Individualrechte zu schließen, die sich gegen das politische Gemeinwesen richten könnten. Was bleibt, ist also die wertungsabstinente Anerkennung aller Völker beziehungsweise Gemeinwesen als grundsätzlich gleichberechtigte Völkerrechtssubjekte […].“ 177 Francisco de Vitoria: Relectio de potestate civili 21. 178 Siehe Francisco de Vitoria: Relectio de Indis I, 2, 2 – 8. 179 Siehe Francisco de Vitoria: Relectio de Indis I, 3, 1: „Hispani habent ius peregrinandi in illas provincias et illic degendi, sine aliquo tamen nocumento barbarorum, nec possunt ab illis prohiberi. Probatur primo ex iure gentium, quod vel est ius naturale vel derivatur ex iure naturali (Inst. De iure naturali et gentium): Quod naturalis ratio inter omnes gentes constituit, vocatur ius gentium. Apud omnes enim nationes habetur inhumanum sine aliqua speciali causa hospites et peregrinos male accipere, e contrario autem humanum / et officiosum / se bene habere erga hospites.“ – „Die Spanier haben das Recht, in jene Provinzen zu reisen und sich dort aufzuhalten – freilich nur, wenn dies nicht mit irgendeinem Schaden fr die Barbaren einhergeht. Sie kçnnen von den Barbaren nicht daran gehindert werden. Der Schluß wird erstens mit dem Völkerrecht bewiesen, das entweder natürliches

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trale Grundsätze des späteren Völkerrechts vorwegnimmt, so etwa die Reise-, Aufenthalts- und Handelsfreiheit180 zwischen den Völkern sowie die Freiheit der Meere181, nicht zuletzt aber ebenfalls die Missionsfreiheit, d. h. das Recht auf eine – friedliche – Verbreitung des Christentums182. Auch der niederländische Humanist Hugo Grotius (1583 – 1645), mit dem das neuzeitliche Naturrechtsdenken beginnt, nimmt das Naturrecht vom Völkerrecht aus in den Blick. Sein Hauptinteresse liegt dabei jedoch – den Zeitumständen des Dreißigjährigen Krieges entsprechend – auf dem Kriegsrecht. Als den Ausgangspunkt seiner Fragestellung nach dem ius naturae et gentium nennt er so in seinem Hauptwerk, den 1625 in Paris erschienenen De jure belli ac pacis libri tres, die von ihm beobachtete „entartete Kriegsführung, deren sich selbst rohe Völker geschämt hätten“183. Dieser recht-losen Kriegsführung seiner Gegenwart will er ein Kriegsrecht entgegenstellen, das auf den „ewigen und für alle Zeiten geltenden Gesetzen“184 der Natur beruht. Das Kriegsrecht gehört für Grotius also zum Völkerrecht, das als „Band der menschlichen Gesellschaft“ (vinculum societatis humanae) 185 seinerseits auf dem Naturrecht basiert – wenigstens zum Teil, denn ebenso wie das innerstaatliche Recht (ius civile) besteht nach Grotius, der hiermit die thomistische Figur des ,Zusatzrechts‘ aufnimmt, das zwischenstaatliche Recht (ius gentium) zur anderen Hälfte auch aus willkürlichem Recht (ius voluntarium), das durch Übereinkunft der Menschen zustande gekommen ist.186 Das Naturrecht selbst aber begründet er gegen utilitaristische Positionen wie etwa die des Skeptikers Karneades im ausdrücklichen Bezug auf Cicero und die Stoa durch die anthropologische Voraussetzung eines „gesellige[n] Trieb[es] zu einer ruhigen und nach dem Maß seiner [des Menschen] Einsicht geordneten

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Recht ist oder aus dem natürlichen Recht hergeleitet wird (Inst. De iuri naturali et gentium). Was die natrliche Vernunft unter allen Vçlkern festgesetzt hat, heißt Vçlkerrecht. Bei allen Nationen gilt es nämlich als unmenschlich, Fremde und Reisende ohne besonderen Grund schlecht zu behandeln, andererseits aber als menschlich und pflichtmäßig, sich gegenüber Fremden gut zu verhalten.“ Siehe Francisco de Vitoria: Relectio de Indis I, 3, 2. Siehe Francisco de Vitoria: Relectio de Indis I, 3, 1. Siehe Francisco de Vitoria, Relectio de Indis I, 3, 8. Hugo Grotius: De jure belli ac pacis, Prolegomena 27 (hg. von Walter Schätzel. Tübingen 1950). Hugo Grotius: De jure belli ac pacis, Prolegomena 26. Hugo Grotius: De jure belli ac pacis, Prolegomena 17; II, 8, 26. Siehe Hugo Grotius: De jure belli ac pacis, Prolegomena 16 f.

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Gemeinschaft mit seinesgleichen“187. Dieser appetitus societatis geht dabei über den bloßen altruistischen Instinkt, den auch manche Tiere aufweisen, deutlich hinaus, indem er sich beim Erwachsenen mit der „Fähigkeit, allgemeine Regeln zu fassen und danach zu handeln“188, d. h. mit der praktisch-moralischen Vernunft verbindet. Bis ins einzelne hinein der stoischen Lehre von der Oikeiosis folgend, unterscheidet Grotius im weiteren die ersten Triebe der Natur – wie den Trieb zur Selbsterhaltung – und die ihnen entsprechenden ersten Pflichten von den späteren, sittlichen Prinzipien der Vernunft, denen freilich der Vorrang gebühre.189 Als Beispiele für solche naturrechtlichen, der „Sorge für die Gemeinschaft“ entsprechenden allgemeinen Vernunftregeln werden angeführt: fremdes Gut nicht zu berühren, Versprechen zu halten, verursachten Schaden zu ersetzen, Verbrechen zu bestrafen.190 Indem Grotius nun aus den natürlichen Pflichten im Umkehrschluß auch Rechte ableitet, begründet er also – im Ausgang vom altstoischen Oikeiosis-Theorem – erstmals ausdrücklich die Idee von natürlichen Individualrechten,191 die als Keimzelle der späteren Grund- und Menschenrechtsvorstellung gelten kann.192 So folgert er etwa aus dem ursprünglichen Trieb und der entsprechenden Pflicht des Menschen zur Selbsterhaltung zunächst das subjektive Recht auf „das Leben, die Glieder und die Freiheit“193, das jeder Mensch von Natur aus besitzt und das ihn auch zur Verteidigung seines Lebens sowie des dafür Nötigen berechtigt. Allerdings geht Grotius davon aus, daß die natürlichen Rechte des Individuums – die er dann auch auf die Völker überträgt – nur im vorstaatlichen Naturzustand194 in vollem Umfang gelten, durch 187 Hugo Grotius: De jure belli ac pacis, Prolegomena 6. Allgemein zur Stoa-Rezeption bei Grotius vgl. Grotiana. New Series 22/23 (2001/2002): Grotius and the Stoa. 188 Hugo Grotius: De jure belli ac pacis, Prolegomena 7. 189 Siehe Hugo Grotius: De jure belli ac pacis I, 2, 1; vgl. dazu auch Hans Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit (wie Anm. 5), S. 125 f. 190 Siehe Hugo Grotius: De jure belli ac pacis, Prolegomena 8. 191 Siehe Hugo Grotius: De jure belli ac pacis I, 1, 4 f. 192 Vgl. Christian Gellinek: Staat und Vçlkerrecht bei Hugo Grotius, in: Staat bei Hugo Grotius, hg. von Norbert Konegen und Peter Nitschke. Baden-Baden 2005, S. 67 – 78, dort S. 73 und 75. 193 Hugo Grotius: De jure belli ac pacis I, 2, 1 (5). 194 Die Theorie eines naturrechtlichen Naturzustandes hat – wie das Naturrechtsdenken selbst – ihre Wurzeln in der Stoa. Hier ist es Seneca, der in seinem 90. Brief an Lucilius Vorstellungen des Naturrechts mit seiner auf den mittleren Stoiker Poseidonios – und schließlich auf Hesiod – zurückgehenden Kon-

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die Schließung eines Gesellschaftsvertrags jedoch zwangsläufig eingeschränkt werden. So muß beispielsweise nach Grotius der Mensch sein natürliches Recht zum Widerstand (teilweise) aufgeben, wenn er in den Staat eintritt, da andernfalls „nur eine ungeordnete Masse wie bei den Cyklopen“195 zustande kommen würde. Thomas Hobbes (1588 – 1679) nimmt zwar viele dieser Aspekte auf, schlägt dabei jedoch eine ganz andere Denkrichtung ein, deren Resultate zu dem, was seit der Stoa unter Naturrecht verstanden wird, streckenweise in diametralem Gegensatz stehen. Vor allem kritisiert er die anthropologische Annahme eines appetitus societatis, wie Grotius sie im Rekurs auf die Stoa seiner Naturrechtslehre zugrundelegt, um dagegen aus dem Trieb zur Selbsterhaltung (self-preservation) zunächst zu schließen, daß „die Menschen am Zusammenleben kein Vergnügen empfinden, sondern im Gegenteil großen Verdruß, wenn es keine Macht gibt, die dazu in der Lage ist, sie alle einzuschüchtern“196. Er begründet dies damit, daß sie in diesem Fall in einem vorstaatlichen Naturzustand leben, der sich – im Gegensatz zu dem von Grotius als Zustand friedlicher Einfachheit beschriebenen –197 als permanenter latenter Kriegszustand erweist. Hobbes wendet nun auch auf den Trieb zur Selbsterhaltung die grotianische Konzeption des subjektiven (Natur-)Rechts an, das er als right of nature bezeichnet und terminologisch vom law of nature unterscheidet: Während jenes „Recht“ ausschließlich die natürliche Freiheit (liberty) bedeutet, die jeden einzelnen im Naturzustand dazu befähigt und berechtigt, sein eigenes Leben mit allen möglichen Mitteln zu erhalten, versteht er unter diesem „Gesetz“ dagegen die korrelierende Verpflichtung (obligation), eben dies zu tun. Da zeption einer glücklichen Urzeit verknüpft. Auch im Mittelalter spielt die Gedankenfigur eines Naturzustandes eine gewisse Rolle für das Naturrechtsdenken, indem dieser mit dem paradiesischen Zustand vor dem Sündenfall identifiziert wird, in dem das sog. primäre Naturrecht im Unterschied zum postlapsarischen sekundären Naturrecht gilt. In der Neuzeit gehört der Rekurs auf einen Naturzustand zu jeder Naturrechtstheorie. Grotius’ Konzeption des Naturzustands knüpft besonders an die antike Vorstellung an: Unter Berufung auf Tacitus und Macrobius beschreibt er den ursprünglichen Zustand der Menschen vor der Gründung von Staaten als eine glückliche, einfache Lebensweise ohne Privateigentum, geprägt von gegenseitiger Liebe der Menschen zueinander; siehe Hugo Grotius: De jure belli ac pacis II, 2, 2. 195 Hugo Grotius: De jure belli ac pacis I, 4, 2. Eingehend dazu Manfred Walther: Das Widerstandsrecht bei Grotius, in: Staat bei Hugo Grotius (wie Anm. 192), S. 49 – 65. 196 Thomas Hobbes: Leviathan I, 13 (hg. von Iring Fetscher. Frankfurt a.M. 1994). 197 Siehe Hugo Grotius: De jure belli ac pacis II, 2, 2.

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nun aber das right of nature im natürlichen Kriegszustand „a Right to every thing; even to one anothers body“ – „ein Recht auf alles, selbst auf den Körper eines anderen“198 darstellt, so daß jeder ständig in Todesfurcht leben muß, tritt das law of nature dem right of nature entgegen, um es durch die Vernunftregel, den Frieden zu suchen und einzuhalten („to seek Peace, and follow it“), zu begrenzen. Auch wenn es auf den ersten Blick so scheinen mag, als würde Hobbes auf diese Weise nach dem stoischen Modell das Naturgesetz aus dem Wechselspiel von Naturneigungen und Vernunft ableiten,199 handelt es sich in Wirklichkeit doch mehr um ein an die Traditionslinie des positivistischen Rechtsutilitarismus anknüpfendes Verfahren, das sich lediglich der stoisch-naturrechtlichen Terminologie bedient. Denn letztlich sind das hobbesianische right of nature und law of nature doch nur zwei Seiten einer Medaille, wobei das den Naturzustand des bellum omnium contra omnes beendende und zur Staatsgründung führende Vernunftgesetz des Friedens, das das Recht auf alles, auch zum Töten der anderen, einschränkt, keinem altruistischen Impuls, sondern ebenfalls einem egoistischen Kalkül entspringt.200 Es geht schließlich nur darum, aus der Rechtsantinomie des Naturzustandes, in dem sich aus dem Recht auf alles ein Rechts auf nichts ergibt,201 herauszukommen, was nach Hobbes erst ein Vertrag möglich macht, durch den sich alle zu absolutem Gehorsam gegenüber dem Souverän verpflichten. Besonders wichtig ist deshalb für Samuel Pufendorf (1632 – 1694), den wohl bedeutendsten Naturrechtsdenker des 17. Jahrhunderts, die Abgrenzung gegen die von ihm explizit als „epikureisch“ verurteilte Theorie Hobbes’. Dazu beruft sich Pufendorf wieder auf die naturrechtliche Position der Stoa,202 deren römische Repräsentanten – Seneca, Epiktet und Marc Aurel, aber natürlich auch Cicero – er in seinem 198 Thomas Hobbes: Leviathan I, 14. 199 Vgl. Kari Saastamoinen: Pufendorf and the Stoic model of natural law, in: Grotiana 22/23, 2001/2002, S. 257 – 270, dort S. 260: „This position did not prevent Hobbes from utilizing the Stoic idea of deducing natural law from the interplay of natural aspirations and reason.“ 200 Vgl. auch Ada Neschke-Hentschke: Politischer Platonismus und die Theorie des Naturrechts (wie Anm. 7), S. 65 – 68. 201 Dazu vgl. Peter Schröder: Naturrecht und absolutistisches Staatsrecht. Eine vergleichende Studie zu Thomas Hobbes und Christian Thomasius. Berlin 2001, S. 41 f. 202 Siehe Samuel Pufendorf: Eris scandica, qua adversus libros de jure naturali et gentium objecta diluuntur; darin: Epistula ad Amicos suos per Germaniam sowie Specimen Controversarium I, 6 (hg. von Fiammetta Palladini. Berlin 2002, S. 91 und 127).

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Hauptwerk De jure naturae et gentium (1688) ausgiebig zitiert.203 Allerdings gibt es trotz dieser Selbstcharakterisierung Pufendorfs, der sich als stoisch inspirierter Naturrechtler versteht, auch Unterschiede zur stoischen Lehre, die nicht ganz unerheblich sind. Zwar geht Pufendorf, um das Naturrecht zu begründen, zunächst vom anthropologischen Prinzip der Selbstliebe bzw. des Selbsterhaltungstriebs (amor sui / conservatio sui) aus, also von der ersten Bestimmung der Oikeiosis.204 Doch dies war ja auch Hobbes’ Ausgangspunkt. Deswegen führt Pufendorf eine weitere anthropologische Bestimmung ein, die sich so bei Hobbes nicht findet: die Schwäche des Menschen, verstanden als seine Unfähigkeit, ohne die Hilfe anderer Menschen zu (über)leben. Diese Eigenschaft wird nun von Pufendorf mit dem zentralen Terminus imbecillitas bezeichnet205 und zur argumentativen Grundlage für den bei ihm in naturrechtlicher Hinsicht bedeutsamsten Wesensaspekt der menschlichen Natur gemacht, nämlich für die spezifische Geselligkeit des Menschen, die socialitas, die er Hobbes’ These vom puren Egoismus der Menschen im Naturzustand entgegenstellt und als stoisches Prinzip präsentiert. Gleichwohl unterscheidet sich die pufendorfische socialitas, die sich korrelativ aus dem Zusammenspiel von amor sui und imbecillitas ergibt, auf charakteristische Weise vom Gemeinschaftstrieb der Stoiker, der vielmehr, wie der grotianische appetitus societatis, eine naturale Disposition des Menschen bedeutet, aus der sich durch die Entwicklung der Vernunft schließlich direkt allgemeine Regeln des Naturrechts herleiten lassen.206 Für Pufendorf folgt dagegen erst daraus, daß der Mensch sich 203 Kari Saastamoinen: Pufendorf and the Stoic model of natural law (wie Anm. 199), S. 257, zählt „over three hundred references to Stoic authors“. 204 Siehe Samuel Pufendorf: De jure naturae et gentium II, 3, 14 (lateinischer Text zitiert nach der Ausgabe von Frank Böhling. Berlin 1998; deutscher Text zitiert nach der Ausgabe von Friedrich Knoch. Frankfurt a.M. 1711, Nachdruck von 1998): „Id igitur primo homo habet commune cum omnibus animantibus, queis sensus sui inest, ut seipsum quam maxime amet, seipsum studeat omnibus modis conservare, quae bona sibi videntur nitatur adquirere, mala repellere.“ – „So hat nun der Mensch anfänglich dieses mit allen Thieren / die eine Empfindung haben / gemein / daß er nichts so sehr liebe / als sich selbst / sich auff alle Art und Weise zu erhalten suche / was ihm gut zu seyn bedüncket / denselbigen nachstrebe / und hingegen alles schädliche von sich abwende.“ 205 Siehe Samuel Pufendorf: De jure naturae et gentium II, 3, 15. 206 Vgl. dazu Michael Kempe: Geselligkeit im Widerstreit. Zur Pufendorf-Kontroverse um die socialitas als Grundprinzip des Naturrechts in der Disputationsliteratur in Deutschland um 1700, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 12, 2004, S. 57 – 70, dort S. 61 f.

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aufgrund seiner Schwäche und Bedürftigkeit alleine nicht zu erhalten vermag, „nach dem Rechte der gesunden Vernunft“207 die Notwendigkeit, sich mit anderen Menschen zusammenzuschließen, ihnen friedlich und freundlich zu begegnen, keinen zu berauben, niemandem Gewalt anzutun usw. Als obersten Grundsatz des natürlichen Rechts formuliert Pufendorf die Regel der socialitas daher so: „colendam & servandam esse socialitatem“ – „Jeder muß die Gemeinschaft nach Kräften schützen und fördern“208. Indem er dergestalt Selbsterhaltung und Geselligkeit miteinander verbindet, argumentiert Pufendorf mithin gegen Hobbes für eine Koinzidenz von Eigennutz und Gemeinwohl. Allerdings begründet diese Argumentation noch kein Naturrecht im stoischen Sinn, sondern liefert vorerst selbst nur eine utilitaristische Rechtsbegründung. Dennoch steht Pufendorf der stoischen Naturrechtslehre näher, als man in der neueren Forschung gemeinhin annimmt.209 Der Grund hierfür liegt darin, daß er in seiner – freilich nicht gerade um Kohärenz bemühten – eklektischen „,Patchwork‘-Anthropologie“210 ganz unterschiedliche Traditionsbestände miteinander kombiniert: So hebt er von Anfang an nicht nur auf den Selbsterhaltungstrieb, die Schwäche und sogar die Verdorbenheit211, sondern ebenfalls auf die eigentümliche Würde der Menschen ab, die sich aus ihrer Existenzweise als entia moralia ergibt. Demnach eignet der menschlichen Natur nicht zuletzt eine besondere Fähigkeit zur Vervollkommnung; dazu gehören die genuin menschlichen Eigenschaften Vernunft, Sittlichkeit und Freiheit, die unauflöslich miteinander verbunden sind, sich gegenseitig bedingen212 und nur in der Gemeinschaft angemessen ausgebildet werden können.213 Dementsprechend stellt sich 207 Samuel Pufendorf: De jure naturae et gentium II, 3, 15. 208 Samuel Pufendorf: De officio hominis et civis I, 3, 7 (hg. von Gerald Hartung. Berlin 1997). 209 Vgl. Fiammetta Palladini: Pufendorf and Stoicism, in: Grotiana 22/23, 2001/ 2002, S. 245 – 256; Kari Saastamoinen: Pufendorf and the Stoic model of natural law (wie Anm. 199). 210 Michael Kempe: Geselligkeit im Widerstreit (wie Anm. 206), S. 60. 211 Pufendorf geht – im Gegensatz zur protestantischen Naturrechtstheorie seiner Zeit – von der Natur des Menschen nach dem Sndenfall aus. Dies löste in den 1670er Jahren eine regelrechte Pufendorf-Kontroverse aus, in welcher der Leipziger Theologe Valentin Alberti (1635 – 1697) als Pufendorfs Hauptgegner aus dem Lager der lutherischen Orthodoxie auftrat. 212 Siehe Samuel Pufendorf: De jure naturae et gentium I, 1, 3. 213 Siehe Samuel Pufendorf: De jure naturae et gentium II, 3, 16: „Imo eo magis cujusvis hominis praestantia & perfectio exsplendescit, quo plura ab eodem in

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Pufendorf auch den Naturzustand nicht, wie Hobbes, als ungeselligen Zustand vor, sondern lediglich als Zustand vorstaatlicher Gemeinschaft ohne Herrschaft und positive Gesetze, in dem gleichwohl das Naturrecht der socialitas gilt, aus dem schon bestimmte Pflichten und Rechte fließen, die unterschiedslos für alle Menschen gelten, da diese als vernunftbegabte Wesen von Natur aus gleich sind.214 Da dieses Recht im obrigkeitslosen Naturzustand allerdings nicht gesichert ist, vielmehr (aufgrund des menschlichen Hangs zum Bösen) durchaus die Gefahr besteht, daß die Menschen ihre natürliche Pflicht zur vernunftmäßigen Existenz und damit zur ,Geselligkeit‘ nicht erfüllen, sich statt dessen von ihren Begierden leiten lassen und so die Rechte der anderen verletzen,215 bedarf es nun auch nach Pufendorf einer Überführung des Naturzustandes in den bürgerlichen bzw. staatlichen Zustand, und zwar durch die – mehrstufige –216 Schließung eines verbindlichen Gesellschafts- und Unterwerfungs-Vertrages, der die einzelnen Menschen zu einer persona moralis composita vereinigt. Oberster Zweck des Staates ist es für Pufendorf also, Rechtssicherheit zu schaffen, den Bürgern ein friedliches Zusammenleben gemäß dem Grundprinzip der socialitas zu garantieren,217 indem eine positive Gesetzesordnung entsteht, die – auf je eigene Weise – das natürliche Recht konkretisiert. Deshalb sei es aber unmöglich, daß die Untertanen wie bei Hobbes durch ihre Unterwerfung unter den souveränen Herrscher ihre Freiheit völlig aufgeben.218 Sie müssen sich ihm vielmehr nur insofern unterwerfen, als seine Herrschaft die Vertragsbedingungen erfüllt: also auf naturrechtlicher Basis dem Gemeinwohl dient und damit zustimmungsfähig, legitim ist. Auch im absolutistisch regierten Staat, wie ihn Pufendorf als Ideal vor Augen hat, behalten folglich im Gegensatz zum hobbesianischen Modell

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caeterum commodum proficiscuntur […].“ – „Ja eben dadurch eußert sich ihre [der Menschen] Fürtrefflichkeit und Vollkommenheit um so viel deutlicher / je mehrers sie an den Tag legen / wie auff so mancherley Art und Weise sie einander dienen und Nutze seyn können […].“ Siehe Samuel Pufendorf: De jure naturae et gentium I, 1, 7 und II, 2, 2. Siehe Samuel Pufendorf: De jure naturae et gentium II, 2, 3. Zu dem insgesamt dreistufigen Prozeß, der nach Pufendorf schließlich zur Gründung des Staates führt, vgl. Notker Hammerstein: Samuel Pufendorf, in: Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert. Reichspublizistik – Politik – Naturrecht, hg. von Michael Stolleis. München 21987, S. 172 – 196, dort S. 181 f. Siehe Samuel Pufendorf: De jure naturae et gentium VII, 2, 13. Siehe Samuel Pufendorf: De jure naturae et gentium VII, 8, 2.

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die Untertanen ihren Status als Rechtssubjekte mit einem unveräußerlichen Anrecht auf Vertragserfüllung vonseiten des Monarchen.219 Seinen kritischen Höhepunkt erreicht das neuzeitliche Naturrechtsdenken bei Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778),220 der noch stärker als seine Vorgänger an die antiken, zuerst von den Stoikern formulierten Theoreme der naturrechtlichen Freiheit und Gleichheit aller Menschen anknüpft (auch wenn er sie ganz anders begründet) und von hier aus zu dem grundlegenden, zukunftsweisenden Postulat der Volkssouveränität gelangt sowie in eins damit die unmittelbare theoretische Grundlage für die Menschenrechtserklärungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts schafft. So geht Rousseaus Naturrechtstheorie, wie er sie in seinem „philosophischste[n] Werk“221, dem Discours sur l’origine et les fondements de l’ingalit parmi les hommes (1755), entfaltet, direkt von der Preisfrage der Akademie von Dijon aus, wo der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen liege und ob sie durch das natürliche Gesetz (loi naturelle) begründet sei.222 Um die letztere Teilfrage zu verneinen, setzt Rousseau wie alle neuzeitlichen Naturrechtsdenker vor ihm beim Naturzustand an, da das natürliche Recht oder Gesetz seiner Ansicht nach nur aus der darin sich manifestierenden Natur des Menschen entspringen kann. Anders als Hobbes oder Pufendorf begreift Rousseau diesen Naturzustand aber nicht im teleologischen Sinn als vorstaatlichen Zustand, dessen Defizienz ein Gesellschafts-/Unterwerfungsvertrag mit innerer Notwendigkeit überwindet, sondern als einen Zustand, der nur durch äußere Zufälle zum Ausgangspunkt zivilisatorischer Entwicklung geworden ist, bei dem es also unter Umständen auch hätte bleiben können – und vor allem: in den sich der gegenwärtige Mensch, der homme civilisé, sogar zurückzusehnen vermag.223 219 Siehe Samuel Pufendorf: De jure naturae et gentium VII, 8, 4. Pufendorf unterscheidet hier zwischen zwei Fällen der Pflichtverletzung der Obrigkeit gegenüber den Untertanen: zum einen durch Nichtwahrnehmung der Schutzfunktion gegenüber allen, zum anderen gegenüber einzelnen Bürgern. 220 Zum Verhältnis zwischen den früheren neuzeitlichen Naturrechtstheoretikern und Rousseau vgl. Egon Reiche: Rousseau und das Naturrecht. Berlin 1935. 221 Leo Strauss: Naturrecht und Geschichte (wie Anm. 6), S. 275. 222 Vgl. dagegen Maximilian Forschner: Rousseau. München 1977, S. 21 f., der meint, Rousseau blende die von der Akademie gemeinte Naturrechtsproblematik aus, indem er sie gänzlich in das Gebiet der Geschichtsphilosophie überführe. 223 Siehe Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’ingalit (hg. von Heinrich Meier. Paderborn 52001; Seitenzählung der Pléiaden-Ausgabe), Exorde, S. 133: „Il y a, je le sens, un âge auquel l’homme individuel voudroit s’arrester; Tu chercheras

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Dem korrespondiert die radikale Kritik am aktuellen, zivilisierten Zustand der Menschheit, wie Rousseau sie artikuliert. Er wirft den konkreten Rechtsordnungen seiner Gegenwart vor, der natürlichen Ordnung diametral zu widersprechen, weil in ihnen politische Ungleichheit herrscht: „En considérant la société humaine d’un regard tranquile et desintéressé, elle ne semble montrer d’abord que la violence des hommes puissans et l’oppression des foibles“ – „Wenn man die menschliche Gesellschaft mit ruhigem und uneigennützigem Blick betrachtet, scheint sie zunächst nur die Gewalttätigkeit der mächtigen Menschen und die Unterdrückung der Schwachen zu zeigen“.224 Um dagegen das aus der Natur des Menschen sich ergebende Naturrecht näher zu bestimmen, modifiziert auch Rousseau die stoische Oikeiosislehre, indem er zwei vorrationale Prinzipien der menschlichen Seele konstatiert, aus deren Verbindung alle weiteren Regeln des Nal’âge auquel tu desirerois que ton Espece se fût arrêtée.“ – „Es gibt, ich fühle es, ein Alter, bei dem der individuelle Mensch gerne stehenbleiben würde; du wirst das Alter suchen, von dem du wünschtest, deine Art wäre bei ihm stehen geblieben.“ Insgesamt weist Rousseaus Naturzustandskonzeption, die sich innerhalb der Neuzeit noch am ehesten mit derjenigen von Grotius vergleichen läßt, erstaunliche Parallelen zu der stoischen Naturzustandstheorie auf, die Seneca im 90. Brief an Lucilius im Anschluß an Poseidonios entwickelt. Dies führte schon zu Rousseaus Lebzeiten und kurz nach seinem Tod zu diversen Plagiatvorwürfen – etwa von Dom Cajot oder Diderot. Noch 1955 behauptet Kurt Weigand in seiner Einleitung zu den beiden Discours, „Rousseau habe bloß den Seneca ausgeschrieben“ und insbesondere „Senecas 90. Brief an Lucilius [sei] als ein[…] Aufriß des zweiten Discours an[zu]sehn“ ( Jean-Jacques Rousseau: ber Kunst und Wissenschaft; ber die Ungleichheit unter den Menschen. Mit Einleitung, Übersetzung und Anmerkungen von Kurt Weigand. Hamburg 1955, S. LXVI). Freilich werden dabei signifikante Unterschiede zwischen Seneca und Rousseau übersehen. Beiden gemeinsam ist zwar, daß sie den Naturzustand als eine glückliche, weil naturgemäße, einfache und robuste Lebensweise beschreiben, die noch kein Eigentum kennt und damit auch noch nicht von der Eigensucht der Menschen geprägt ist. Allerdings bestehen auch gravierende Differenzen zwischen beiden Konzeptionen, etwa was die Bewertung der Rolle der Vernunft/Philosophie betrifft: Von Seneca als Telos der Menschheitsentwicklung gepriesen, stellt sie in Rousseaus Augen vielmehr die Wurzel allen Übels dar. Auch herrscht in Senecas Naturzustand bereits eine Art politischer Gemeinschaft mit fester Herrschaftshierarchie, die auf einer geistigen Ungleichheit der Menschen beruht, während Rousseau gerade die Isoliertheit des natürlichen Menschen betont, den von seinen Artgenossen, abgesehen von natürlichen Unterschieden des Alters usw., nichts abhebt. Zum genaueren Vergleich der beiden Texte vgl. Peter Bosshard: Die Beziehungen zwischen Rousseaus zweitem Discours und dem 90. Brief von Seneca. Zürich 1967. 224 Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’ingalit, Préface, S. 127.

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turrechts fließen sollen, nämlich das Prinzip der Selbstliebe (amour de soi) und das Prinzip des Mitleids (pitié). Damit stellt sich Rousseau aber nicht nur eindeutig gegen Hobbes, der das Eigeninteresse bzw. den Trieb zur Selbsterhaltung zur alleinigen Quelle des ,Naturrechts‘ und deshalb den Naturzustand zum Kriegszustand erklärt hatte, sondern bemerkenswerterweise auch gegen Grotius’ Begriff des appetitus societatis sowie gegen Pufendorfs Theorie der socialitas – damit letztlich aber auch gegen das stoische Konzept einer natürlichen Geselligkeit des Menschen. Ausdrücklich bemerkt Rousseau, es sei gar nicht notwendig, das Soziabilitätsprinzip einzuführen, um das Naturrecht zu begründen.225 Denn das mit der Selbstliebe verbundene und sie zugleich einschränkende Mitleid stellt bloß den natürlichen Widerwillen dar, „irgendein empfindendes Wesen, und hauptsächlich unsere Mitmenschen, umkommen oder leiden zu sehen“226, was allerdings noch gar keine Disposition zur Gemeinschaft einschließt: Der homme naturel führt vielmehr eine solitäre Existenz. Weder die Schwäche noch die Vernunftbestimmung des Menschen machen ihn in Rousseaus Augen zu einem von Natur aus auf die Gesellschaft bezogenen Wesen, und zwar deshalb nicht, weil der Mensch im rousseauschen Naturzustand weder schwach noch vernunftbestimmt ist.227 Gerade auch mit dieser These wandelt Rousseau die traditionelle Naturrechtsidee signifikant ab, indem er das (ursprüngliche) Naturrecht überhaupt nicht mehr als Vernunftrecht begreift,228 obzwar er dem natürlichen Menschen doch eine spezifische „Freiheit“ (liberté) und „Geistigkeit seiner Seele“ 225 Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’ingalit, Préface, S. 126. 226 Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’ingalit, Préface, 126. Zu Rousseaus Mitleidskonzeption vgl. Lore Hühn: Das Mit-Leid. Zur Grundlegung der Moralphilosophie bei J.J. Rousseau und Arthur Schopenhauer, in: Ethik und sthetik des Mitleids, hg. von Nina Gülcher und Irmela von der Lühe. Freiburg 2007, S. 113 – 133. 227 Zur Stärke des natürlichen Menschen siehe Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’ingalit, Première Partie, 136, zu seiner Vernunftlosigkeit siehe Première Partie, S. 143. 228 Siehe Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’ingalit, Première Partie, S. 156 f.: „Quoi qu’il puisse appartenir à Socrate, et aux Esprits de sa trempe, d’acquerir de la vertu par raison, il y a longtemps que le Genre-humain ne seroit plus, si sa conservation n’eût dépendu que des raisonnements de ceux qui le composent.“ – „Obschon es Sokrates und den Geistern seines Schlages zukommen mag, Tugend durch Vernunft zu erlangen – das Menschengeschlecht wäre längst nicht mehr, wenn seine Erhaltung nur von den Vernunfterwägungen derer abhängig gewesen wäre, aus denen es sich zusammensetzt.“

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(spiritualité de son ame) zuspricht sowie die „Fähigkeit, sich zu vervollkommnen“ (faculté de se perfectionner bzw. perfectibilité).229 Jedenfalls ist die naturrechtliche Pflicht zum Mitleid für Rousseau nicht ausschließlich auf den Menschen als vernünftiges Wesen bezogen, sondern erstreckt sich – hier greift Rousseau auf Ulpian zurück – ebenfalls auf die Tiere, welche als empfindende, leidensfähige Wesen „auch am Naturrecht teilhaben müssen“230, wie sie umgekehrt selbst schon ihrerseits Ansätze zur Mitleidsfähigkeit zeigen.231 Es liegt in der Konsequenz dieser Konzeption, daß das aller Reflexion vorausliegende Mitleid hier zur naturrechtlichen Kardinaltugend avanciert und mithin den Platz einnimmt, den üblicherweise die Gerechtigkeit ( justice) besetzt, die jedem das Seine zukommen läßt, was jedoch nach Rousseau im Naturzustand, in dem noch niemand etwas als das ,Seine‘ beansprucht, schlichtweg keinen Sinn macht.232 Aus dem Mitleid entspringt nun nicht nur in Verbindung mit dem Prinzip der Selbstliebe der oberste Naturrechtsgrundsatz: „Fais ton bien avec le moindre mal d’autrui qu’il est possible“ – „Sorge fr dein Wohl mit dem geringstmçglichen Schaden fr andere“233 ; vielmehr rühren daraus auch alle weiteren, gesellschaftlichen Tugenden her wie Großmut (générosité), Milde (clémence) und Menschlichkeit (humanité). Indem Rousseau das Mitleid ferner auf eine unmittelbare Identifikation mit dem anderen Menschen zurückführt,234 bringt er es in engen Zusammenhang mit der (moralischen) Gleichheit, die ihm zufolge im Naturzustand unter den Menschen herrscht. Anders als die von der Stoa ausgehende bisherige Tradition des Naturrechtsdenkens leitet er diese Gleichheit allerdings nicht aus der allen Menschen in gleicher Weise zukommenden Vernunftdisposition ab, die es so bei ihm ja gar nicht gibt; vielmehr bezieht er sie wesenhaft auf die natürliche menschliche Freiheit. Entsprechend situiert Rousseau den Zusammenbruch des Naturrechts dort, wo es beim Übergang vom Natur- in den bürgerlichen Zustand von dem neu entstehenden Eigentums- bzw. bürgerlichen Recht verdrängt wird, mit dem sich zugleich die moralische Gleichheit der Menschen in politische Ungleichheit und ihre ursprüngliche Freiheit in Knechtschaft (servitu229 230 231 232 233 234

Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’ingalit, Première Partie, S. 142. Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’ingalit, Préface, S. 126. Siehe Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’ingalit, Première Partie, S. 154. Siehe Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’ingalit, Seconde Partie, S. 173. Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’ingalit, Première Partie, S. 156. Siehe Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’ingalit, Première Partie, S. 155.

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de) verwandelt.235 Signifikanterweise koinzidiert damit bei Rousseau gerade die Entwicklung der Vernunft, die seines Erachtens durch einen fatalen, mit dem Zivilisationsprozeß verbundenen Anstieg der Leidenschaften und Bedürfnisse bedingt ist: „Nous ne cherchons à connoître, que parce que nous desirons de jouïr […]“ – „Wir suchen nur zu erkennen, weil wir zu genießen begehren […]“236. Obgleich damit augenscheinlich die stoische Engführung von Tugend und Vernunft radikal negiert wird, leben hier doch auf eigentümliche Weise die stoischen Gedankenfiguren der Autarkie und Ataraxie fort: Weil der Mensch im Naturzustand frei von künstlichen Begierden ist, ruht er völlig in sich selbst und entspricht so dem Gesetz der Natur, kennt keine Laster und Bösartigkeit.237 Dagegen mutiert nun die ursprünglich mit dem Mitleid verbundene Selbstliebe (amour de soi) mit der Entwicklung der Vernunft allmählich zur Eigenliebe (amour propre), insofern die natürliche Einschränkung durch das Mitleid wegfällt: C’est la raison qui engendre l’amour propre, et c’est la reflexion qui le fortifie; C’est elle qui replie l’homme sur lui même; c’est elle qui le separe de tout ce qui le gêne et l’afflige: C’est la Philosophie qui l’isole; c’est par elle qu’il dit en secret, à l’aspect d’un homme souffrant, peris si tu veux, je suis en sureté. Die Vernunft erzeugt die Eigenliebe und die Reflexion verstärkt sie; sie läßt den Menschen sich auf sich selbst zurückziehen; sie trennt ihn von allem, was ihm lästig ist und ihn betrübt. Die Philosophie isoliert ihn; ihretwegen sagt er beim Anblick eines leidenden Menschen insgeheim: Stirb, wenn du willst, ich bin in Sicherheit.238

Rousseau zeichnet hiermit eine Art von ,Dialektik der Aufklärung‘239 nach: Die Ausbildung und Vervollkommnung der Vernunft macht den 235 Siehe Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’ingalit, Première Partie, S. 162. 236 Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’ingalit, Première Partie, S. 143. 237 Siehe Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’ingalit, Première Partie, S. 152; siehe auch Seconde Partie, S. 192, wo es über den homme sauvage heißt: „[…] il ne veut que vivre et rester oisif, et l’ataraxie même du Stoïcien n’approche pas de sa profonde indifference pour tout autre objet.“ – „[…] er will nur leben und müßig bleiben; und selbst die Ataraxie des Stoikers reicht nicht an seine tiefe Gleichgültigkeit jedem anderen Objekt gegenüber heran.“ 238 Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’ingalit, Première Partie, S. 156. 239 Dazu vgl. Rüdiger Bubner: Rousseau, Hegel und die Dialektik der Aufklrung, in: Aufklrung und Gegenaufklrung in der europischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, hg. von Jochen Schmidt. Darmstadt 1989, S. 404 – 420, dort v. a. S. 404 – 408.

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Menschen böse, indem er soziabel wird.240 Doch die so beschriebene, politisch schließlich im absoluten Despotismus mündende Entwicklung241 stellt Rousseau sich nicht ohne Alternative vor: Es ist die in seinem späteren Werk Contrat social (1762) beschriebene demokratische Gesellschaftsordnung, die wirklich zum Wohl aller ihrer Bürger (bonheur commun) existiert, in der alle frei und gleich sind, keiner über dem Gesetz steht und das Volk selbst der Souverän ist. Als historische Vorbilder dafür werden Rom und Sparta genannt,242 und die „Republik Genf“, welcher der Discours sur l’ingalit gewidmet ist, liefert ein Beispiel dafür, daß solche guten Gemeinwesen noch in der Gegenwart und damit auch in Zukunft wieder möglich sind. Freilich gilt in ihnen nicht mehr das unmittelbare Naturrecht des Naturzustands, zu dem kein Weg zurückführt. Der Prozeß der Zivilisation enthüllt sich als irreversibel. Aber zugleich erscheint er ambivalent: Er birgt nicht nur negative, sondern auch positive Möglichkeiten in sich. Denn da Rousseau den Naturzustand keineswegs bloß als den (hypothetischen) Anfang der Menschheitsgeschichte betrachtet, vielmehr davon ausgeht, daß er auch im bürgerlichen Zustand noch, obzwar in überformter Weise fortbesteht,243 ist so etwas wie eine ,Wiedererrichtung‘ des Naturrechts „auf anderen Grundlagen“ möglich,244 und zwar gerade durch den rechten Gebrauch der Vernunft, deren Mißbrauch zunächst zur ,Erstickung der Natur‘ und zur Depravation des bürgerlichen Zustands führt. Dadurch tritt ein neues Vernunftrecht an die vakant gewordene Stelle des alten Naturrechts, das dieses ersetzt, indem es wie die rousseausche volonté générale alle Mitglieder der Gesellschaft in gleicher Weise bindet und so „dem natürlichen Gesetz am nächsten komm[t]“245. Nachdem Rousseau 240 Siehe Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’ingalit, Première Partie, S. 162. 241 Siehe Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’ingalit, Seconde Partie, S. 190 f. 242 Siehe Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’ingalit, Dédicace, S. 113 und S. 119. 243 Vgl. dazu auch Günter Figal: Die Rekonstruktion der menschlichen Natur. Zum Begriff des Naturzustandes in Rousseaus Zweitem Discours, in: Neue Hefte für Philosophie 29, 1989: Rousseau und die Folgen, S. 24 – 38. 244 Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’ingalit, Préface, S. 126. 245 Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’ingalit, Dédicace, S. 111; siehe auch Seconde Partie, S. 186, wo Rousseau ebenfalls die Demokratie als die dem Naturzustand ähnlichste Regierungsform bezeichnet. Dies spricht eindeutig gegen die von Leo Strauss: Naturrecht und Geschichte (wie Anm. 6), S. 286, aufgestellte These, wonach sich Rousseau angesichts seiner Naturzustandskonzeption beim Durchdenken der Naturrechtslehre „vor die Notwendigkeit gestellt [sah], sie vollständig fallen zu lassen“, und es gar für „absurd [hielt], auf

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aus seiner geschichtsphilosophisch geprägten Perspektive auf den Naturzustand zuerst mit der Tradition des ,rationalistischen‘ Naturrechtsdenkens gebrochen hat, kehrt er anschließend also auf modifizierte Weise wieder zu ihr zurück: Das Recht der Vernunft, das er postuliert, ist zwar nicht identisch mit dem Recht der Natur, restituiert es aber unter den Bedingungen der Zivilisation.

ihn [den Naturzustand] zurückzugehen, um in ihm die Norm für den Menschen zu finden“. Das genaue Gegenteil ist der Fall: Der Naturzustand gibt zwar nicht das Ziel, wohl aber den Maßstab für das neue Recht der Vernunft vor.

II. Mythologische und historische Paradigmata

Herakles als Ideal stoischer Virtus Antike Tradition und neuzeitliche Inszenierung von der Renaissance bis 1800. von Jochen Schmidt Die Herakles-Figur erfuhr eine bunte Fülle von Ausfabulierungen und Ausdeutungen1: Das Spektrum reicht vom urtümlichen, übermenschlich starken Helden, der seine Kraft durch die berühmten zwölf Taten2 und zahlreiche, gelegentlich burlesk ausgestaltete Liebesabenteuer beweist, bis zum Sportler-Idol, zum Herrscherideal und zum stoischen Tugendhelden, zum Kulturbringer, Friedensstifter und Menschheitsbeglücker. Als Sohn des höchsten Gottes erhält er schließlich Qualitäten einer Erlöser- und Heilandsfigur, und nach einem standhaft ertragenen Martyrium tritt er sogar eine Himmelfahrt an. Erst über Jahrhunderte hinweg bildete sich in der Antike dieses Spektrum heraus, so daß die später von den Mythographen3 präsentierte Gesamtübersicht über den 1

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Zum Mythos: Ludwig Preller/Carl Robert, Griechische Mythologie. 4. Aufl. Bd. 2,2, S. 422 – 675. Otto Gruppe: Art. Herakles, in: RE, Suppl. 3, 1918, S. 1015 – 90F. Prinz: Art. Herakles, in: RE Suppl. 14, 1974, S. 137 – 96. Zur frühchristlichen Adaptation und Auseinandersetzung: Abraham J. Malherbe, Art. Herakles, in: Reallexikon fr Antike und Christentum, Bd. 14, 1988, Sp. 559 – 583. Umfassende Bibliographie, auch zu zahlreichen literarischen und künstlerischen Darstellungen: Ralph Kray/Stephan Oettermann: Herakles/Hercules II. Medienhistorischer Aufriß. Repertorium zur intermedialen Stoff- und Motivgeschichte. Basel/Frankfurt 1994. Vgl. Frank Brommer: Herakles. Die zwçlf Taten des Helden in antiker Kunst und Literatur. Köln/Münster, 4. Aufl. Darmstadt 1979; ferner: Frank Brommer: Herakles II. Die unkanonischen Taten des Helden. Darmstadt 1984. Die für den Traditionsprozeß bis in die Neuzeit wichtigsten antiken Mythographen sind Apollodorus und Diodorus Siculus. Apollodorus: The Library. With an English Translation by Sir James George Frazer, in two Volumes (The Loeb Classical Library), Cambridge/Mass. u. London 1921 u. ö.. Vol. I, S. 175 – 273. Diese Ausgabe enthält die Geschichte des Herakles von der Geburt über die kanonischen zwölf Taten und zahlreiche andere Abenteuer bis zu seiner Himmelfahrt als kontinuierliche Erzählung. Ein detaillierter Anmerkungsapparat nennt die anderen Quellen zu den jeweiligen Taten und Abenteuern. – Diodorus of Sicily. In twelve Volumes. With an English Translation

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Herakles-Mythos das Ergebnis eines Anreicherungsprozesses ist, der die Gestalt des Herakles schließlich als überdeterminiert, wenn nicht sogar inkonsistent erscheinen läßt. Die mythographische Überlieferung verdeckt oft die enorme, auch durch Lokalsagen ausdifferenzierte räumliche Spannweite der HeraklesSagen4 und den historischen Prozeß. Dieser ist keineswegs als ,Arbeit am Mythos‘ aufzufassen. Er resultiert aus einer fortlaufenden, oftmals transformierenden oder substituierenden Anpassung an die politischen Zustände, an die zivilisatorischen, mentalitätbestimmenden und religiösen Befindlichkeiten und Bedürfnisse. Je nach Epoche und Verwendungsbereich wandelt sich die Funktion der Herakles-Figur: vom archaischen Krafthelden und Adelsheros über den Kultur- und Zivilisationsstifter in der Poliskultur und im römischen Urbanisierungsprozeß5 bis zur Identifikationsfigur der Herrscher im hellenistischen und römischen Kaiserkult wie auch im neuzeitlichen Absolutismus; von dem im pädagogischen und philosophischen Schulbetrieb in Antike und Neuzeit formierten Vorbild des Tugendhelden über seine entsprechende erzieherische Vereinnahmung in den antiken und neuzeitlichen Fürstenspiegeln bis hin zur mythologisch-allegorischen Figuration von philosophischen und moralischen Postulaten. Die allegorischen Ausdeutungen des Mythos erstrecken sich sogar auf jede der zwölf Taten des Herakles und auf jedes der von ihm besiegten Ungeheuer. In solchen Allegorisierungen, die Antike, Mittelalter und Neuzeit in reichem Maße kennen, drückt sich der Bedarf an spezifischer Verwendung und kultureller Anpassung oft geradezu gewaltsam aus. Zugleich stellt die in der Antike bereits entschieden nach Funktionen und Bereichen aus-

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by Francis R. Walton. (The Loeb Classical Library, Cambridge/Mass. u. London 1967 u. ö.). Das Register in dieser Ausgabe erschließt s.v. Heracles thematisch genau die über verschiedene Bände verteilten Aussagen. Hierzu und zu den zahlreichen, oft mit den Mythen verbundenen Kultstätten: Gruppe (wie Anm. 1), Sp. 910 – 1000. Zum römischen Herkules-Kult und den Kultstätten vgl. besonders das historisch fundierte, auch die politische Leitbildfunktion einbeziehende Werk von Stefan Ritter: Hercules in der rçmischen Kunst von den Anfngen bis Augustus. Heidelberg 1995. Eine durch bildliche Zeugnisse und eine geographische Karte vervollständigte Übersicht über die zahlreichen nach Herakles benannten Städte, von Spanien bis nach Kleinasien und zur Krim, von Heraklion bis Herculaneum, bietet der reichhaltige Ausstellungskatalog: Herakles – Herkules, hg. von Raimund Wünsche, Staatliche Antikensammlungen München, 2003, S. 335 – 343 (Andrea Schmölder-Veit). In den Anm. die Quellen und die Spezialliteratur zu den auf Herakles bezogenen Gründungsmythen.

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differenzierte Herakles-Mythologie für die Neuzeit ein Repertoire von Paradigmen bereit, das man nur noch auszuschöpfen und zu aktualisieren brauchte. Es ermöglichte den legitimierenden Rückgriff auf eine insgesamt als mustergültig begriffene Antike, hatte den Vorteil bildhafter Prägnanz und erlaubte ,moderne’ Transformationen. Die Formierung des Herakles zur stoischen Leitfigur, eine Facette nur im weiten Spektrum des Mythos, läßt sich bis in die Zeit vor der Begründung der stoischen Schule durch Zenon zurückverfolgen: bis in die Zeit der Sophistik und Sokratik im späten fünften Jahrhundert v. Chr. Antisthenes (ca. 445 – 365 v. Chr.), der zunächst zu den Schülern des Gorgias und später zum Kreis des Sokrates gehörte, war nach dem Bericht des Diogenes Laërtius der „geistige Urheber der so überaus mannhaften Sekte der Stoiker“.6 Bevor Diogenes Laërtius die stoische Schule darstellt, schließt er seine Mitteilungen über Antisthenes mit folgenden Worten: „[…] so wollen wir jetzt die von Antisthenes ausgehenden Kyniker und Stoiker zur Übersicht bringen“.7 Schon Antisthenes propagierte die dann für die Stoa maßgebende Lehre, die Tugend ( !qet¶/virtus) setze die Bezwingung der Lust (Bdom¶/voluptas) voraus, und es komme auf ein einfaches, bedürfnisloses Leben an, das durch Willenskraft und Handlungsbereitschaft bestimmt sei und deshalb auch Mühen auf sich nehme. In diesem bereits wesentlich kynischen und stoischen Programm erhalten nicht weniger als drei Schriften des Antisthenes über Herakles ihren Platz. Alle drei führt Diogenes Laërtius mit genauer Angabe der Titel auf.8 Die Paradigmatisierung des Herakles im Sinne der Wertungen, die sich dann später die stoische Schule zu eigen machte, ist hier schon festzustellen.

Die Fabel des Prodikos von der Antike bis zu Petrarca Die Fabel des Sophisten Prodikos, der im fünften Jahrhundert v. Chr. lebte, etwa 150 Jahre vor Begründung der stoischen Schule durch Zenon, vollzog diese Paradigmatisierung des Herakles in bildhaft ausgeprägter Weise und war deshalb besonders wirkungsreich. Auch diese 6 7 8

Diogenes Laërtius VI 14. Diogenes Laërtius VI 19. Diogenes Laërtius VI 16: Der grçßere Herakles oder Von der Kraft (gGqajk/r b le¸fym C peq· Qsw¼or); VI 18: Herakles oder Midas (gGqajk/r C L¸dar), Herakles oder ber Einsicht und Kraft ((gGqajk/r C peq· vqom¶seyr C Qsw¼or).

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Fabel war keine Erfindung aus dem Zusammenhang stoischen Denkens, vielmehr ursprünglich ein Produkt des sophistisch-rhetorischen Lehrbetriebs.9 Wegen des moralischen Plädoyers für die „Tugend“, die statt der „Lust“ in der entscheidenden Lebensphase – im Übergang zum Mannesalter – bestimmend werden soll, eignete sie sich gerade in erzieherischer Hinsicht, und daß dieses Plädoyer auf den größten Helden, auf Herakles projiziert wurde, verlieh ihm die Qualität des Vorbilds.10 Schon Bakchylides, Pindar und Euripides idealisierten und humanisierten Herakles, der ursprünglich keineswegs im engeren Sinn „tugendhafte“ Züge trug.11 Bei den Stoikern und den Kynikern erreichte die Idealisierung ihren Höhepunkt. Das Tugend-Modell des Antisthenes und der Prodikos-Fabel adaptierten die Stoiker, weil es mit einem ihrer ethischen Hauptanliegen übereinstimmte: mit dem Sieg über die Affekte durch Vernunft, Tugend und Willensstärke. Nachdem Xenophon in seinen Erinnerungen an Sokrates die Fabel des Prodikos erzählt hatte12, konnte sie in den europäischen Traditionsprozeß eingehen, dessen Höhepunkte in der Renaissance und im 18. Jahrhundert lagen, weil in diesen beiden Epochen die Antike allgemein das Kulturmuster bestimmte. Auch bildeten gerade 9 Hierzu Johannes Alpers: Hercules in bivio. Diss. Göttingen 1912, S.37 ff. 10 Zur Vorbild-Funktion des Herakles vgl. Wilhelm Derichs: Herakles, Vorbild des Herrschers in der Antike. Diss. masch. Köln 1950; Rainer Vollkommer: Herakles – Die Geburt eines Vorbildes und sein Fortbestehen bis in die Neuzeit, in : Idea 6, 1987, S. 7 – 29; Hans Kloft: Herakles als Vorbild. Zur politischen Funktion eines griechischen Mythos in Rom, in: Herakles/Herkules I. Metamorphosen des Heros in ihrer medialen Vielfalt, hg. von Ralph Kray/Stephan Oettermann, Basel/Frankfurt 1994, S. 25 – 46. 11 Hierzu die vorzügliche Überblicksdarstellung von Karl Galinsky: The Herakles theme. The adaptations of the hero in literature from Homer to the twentieth century. Oxford 1972, S. 23 – 39, S. 58 – 66. Vgl. auch Bernd Effe: Held und Literatur. Der Funktionswandel des Herakles-Mythos in der griechischen Literatur, in: Poetica 12, 1980, S. 145 – 166. 12 II 1,21 – 34. In: Xenophon: Erinnerungen an Sokrates. Griechisch-deutsch. Ed. Peter Jaerisch, München 1962, S. 90 – 99. Vgl. Olof Gigon: Kommentar zum zweiten Buch von Xenophons Memorabilien (Schweizerische Beiträge zur Altertumswissenschaft 7), Basel 1956. Franz Riedl: Der Sophist Prodikus und die Wanderung seines „Herkules am Scheideweg“ durch die rçmische und deutsche Literatur, in: Jahresbericht des Staatsgymnasiums zu Laibach 1907/08, Laibach 1908, S. 3 – 46 (Kap. I: Prodikus; Kap. II: In der römischen Literatur; Kap. III: Bei den kirchlichen Schriftstellern; Kap. IV: In der deutschen Literatur. Anm. 33 und 41: In der griechischen Literatur). Vgl. auch die lateinisch geschriebene, außerordentlich informationsreiche Dissertation von Alpers (wie Anm. 9).

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der Renaissance-Humanismus und die mächtige Aufklärungsströmung des 18. Jahrhunderts ein besonderes pädagogisches Interesse aus. Die Fabel des Prodikos bot sich diesem pädagogischen Interesse als modellhafte Figuration an. Denn es ist der jugendliche Herakles, der im Übergang zum Mannesalter zwischen zwei verschiedenen Lebenswegen zu wählen hat: zwischen dem leichten Weg eines von sinnlichen Genüssen und von Annehmlichkeiten aller Art bestimmten Daseins (Bdom¶/voluptas13) und dem schweren Weg eines von Arbeit, Leistung und Verantwortung für die Menschheit geprägten Daseins ( !qet¶/virtus). Hier standen zugleich allgemeinere Lebenshaltungen zur Debatte, die später angesichts eines in der hellenistisch-römischen Zivilisation sich immer mehr ausbreitenden Hedonismus und einer in der Zeit des europäischen Absolutismus oftmals dem Luxus frönenden höfischen Gesellschaft Gegenpositionen provozierten. Wohl diente zum spezielleren pädagogischen Zweck die Prodikos-Fabel ad usum delphini, aber sie fand ihren Widerhall auch im öffentlichen Raum der gesellschaftlichen Lebensformen. Schon Xenophons Rahmung der Fabel durch eine Diskussion zwischen Sokrates, der für die virtus plädiert, und Aristipp, der die Genuß-Philosophie der Kyrenaiker vertritt, weist auf einen weiteren Zusammenhang. Die Entscheidung zwischen den zwei Wegen, dem Weg einer auf Arbeit und Leistung beruhenden Tugend und dem des Genusses (oft moralisch abwertend: dem des Lasters), war in ganz allgemeiner Form schon in Hesiods Werken und Tagen vorgezeichnet (V. 287). Ausdrücklich weist Xenophon darauf hin.14 Erst der „weise Prodikos“ aber habe in seiner „Schrift über Herakles“ diese Entscheidungssituation auf Herakles übertragen. Diese Übertragung begründete das wirkungsreiche Modell. Daß die Parabel des Prodikos von Herakles am Scheidewege schon sehr schnell bekannt wurde, zeigt Xenophons Bemerkung, Prodikos habe seine Schrift über Herakles „sehr vielen“ (pke¸stoir) vorgetragen. Es handelte sich um eine beliebte ,Nummer‘ im sophistischen Lehrbetrieb, und dies blieb auch im Bewußtsein der Neuzeit. Im 13 Cicero setzt den griechischen Terminus Bdom¶ mit voluptas gleich und sagt, dies sei das allgemeine Verständnis: „Alle nennen die angenehme Empfindung, die den Sinn erheitert, griechisch Bdom¶, lateinisch voluptas“ – „omnes iucundum motum, quo sensus hilaretur, Graece Bdom¶m, Latine voluptatem vocant“ (De finibus bonorum et malorum II 8). 14 Xenophon (wie Anm. 12) II 1, 20. Vgl. die Zusammenstellung der Aussagen über den Müßiggang bei Martin L. West: Hesiod. Works and Days, Oxford 1978, S. 229.

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Jahre 1711 meldete Addisons europaweit verbreitete und über Jahrzehnte hinweg immer wieder neu aufgelegte Zeitschrift The Spectator in einem Artikel über die Fabeln (Mythen), unter den „Allegorical Fables“ sei die Prodikos-Fabel von Herkules am Scheidewege schon in der Antike allbekannt gewesen. Die Darstellung von „Hercules meeting with Pleasure and Virtue“ habe „a kind Reception in all the Market Towns“ erfahren.15 Xenophon selbst vermag denn auch die allbekannte Fabel, wie er sagt, „aus der Erinnerung“ zu erzählen. Daß diese, wie Xenophon andeutet, notwendigerweise nur ungefähre Erinnerung auch stark durch seine eigenen Interessen gefärbt, wenn nicht sogar geleitet ist, läßt sich aus mehreren Merkmalen seiner Darstellung der ProdikosFabel erschließen. Dies ist bis weit in die Neuzeit hinein umso mehr von Belang, als wir die Fabel des Prodikos nicht in authentischer Form, sondern ausschließlich in Xenophons Erzählung besitzen. In diesem Medium und in der Kurzversion, die Cicero in seiner Schrift De officiis bot, wurde sie meistens rezipiert. Schon vor dem Florentiner Erstdruck (1516) der in der Folgezeit für das europäische Bildungswesen kanonischen Erinnerungen an Sokrates ((Apolmglome¼lata Syjq²tour, seit dem 19. Jahrhundert auch oft Memorabilien genannt), griff Petrarca als erster Humanist die Fabel des Prodikos auf, mit ausdrücklicher Berufung auf Ciceros De officiis – Petrarca konnte kein Griechisch, und Xenophon war noch nicht ins Lateinische übersetzt, so daß Cicero der einzige Gewährsmann für ihn war, und von diesem wußte er auch, daß Xenophon die Fabel erzählt hatte. An zwei Stellen seiner Schrift De vita solitaria geht Petrarca auf die Fabel ein.16 Die erste ist nicht nur interessant, weil sie sich auf die Entscheidungssituation vor dem Übergang zum Mannesalter bezieht. 15 The Spectator, N8 183, Saturday, September 29, S. 61. Vgl. auch Addisons andere ‘Moralische Wochenschrift’ The Tatler vom Jahrgang 1709, Nr. 97. Es war die für die Aufklärung charakteristische „Botschaft der Tugend“ (vgl. Wolfgang Martens: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklrung im Spiegel der deutschen moralischen Wochenschriften. Stuttgart 1968), die der Fabel des Prodikos von der Wahl des Herkules zwischen Tugend und Laster im 18. Jahrhundert zu einer neuen Konjunktur verhalf. 16 Nachweis von Theodor E. Mommsen: Petrarch and the Story of the choice of Hercules, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, XVI, 1953, S. 178 – 192. Mommsen korrigiert damit Erwin Panofsky, Hercules am Scheidewege und andere antike Bildstoffe in der neueren Kunst, Leipzig/Berlin 1930, der schreibt, daß es „vor der Mitte des 15. Jahrhunderts keine Darstellung des ,Hercules am Scheidewege‘ gegeben hat, und daß auch die Literatur das Thema erst um 1400 wiederaufgegriffen zu haben scheint“ (S.155).

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Bei der Nennung der Überlieferungsautoritäten beschwört Petrarca indirekt die größte moralische Autorität überhaupt: Sokrates. Er spricht von Xenophon als einem „auctor Socraticus“, indem er als Exempel für die zunächst nur allgemein dargestellte Entscheidungssituation in der „adolescentia“ die Wahl des Herkules mit folgenden Worten anführt: „Quod initio pubertatis fecisse Herculem auctor Xenophon ille Socraticus testis est et Cicero“.17 An einer zweiten Stelle seiner Schrift De vita solitaria läßt Petrarca die Entscheidung des Herkules zwischen voluptas und virtus an einem Scheidewege stattfinden: „in bivio“.18 Zwar unterscheidet schon Xenophon zwischen zwei verschiedenen Lebens„Wegen“, mit dem „bivium“ aber, dem sich gabelnden Weg, der dadurch zum „Scheideweg“ wird, greift Petrarca auf eine in Antike und Mittelalter weit verbreitete Vorstellung zurück, die man mit dem pythagoreisch-allegorischen Zeichen Y chiffrierte. Es signalisiert ebenfalls die im Übergang zum Mannesalter stattfindende Entscheidung zwischen voluptas und virtus. Dieses allegorische Zeichen nehmen nichtchristliche wie christliche Autoren der Spätantike auf, das Mittelalter verwendet es weiter19 und bis weit in die Neuzeit hinein erscheint es als allgemeines Sinnbild des „homo viator in bivio“, nicht selten – besonders seit der humanistischen Wiederbelebung der antiken Tradition – in Verbindung mit der Fabel des Prodikos von Herkules am Scheidewege. Die Fabel des Prodikos, die auch in der antik-stoischen Adaption ein Ethos exemplifizierte, das über die ,moralischen‘ Aspekte hinaus auf die Entscheidung für eine Lebenshaltung zielte, verengte sich im christlichen Traditionsprozeß bis in die Neuzeit hinein oft auf eine durch das christliche Sündenbewußtsein mitbestimmte Entscheidung zwischen Gut und Böse. Die ausgeprägte christliche Sinnenfeindschaft wertete voluptas als ganz und gar verwerflich. Die virtus verengte sich immer wieder auf das moralisch-asketisch „Gute“, während sie nicht nur als römischer Begriff allgemein, sondern auch in der stoischen Tradition oft mehr meinte: männliche Tatkraft, wie sie sich in den zwölf Taten des 17 Francesco Petrarca: De vita solitaria, hg. von Marco Noce. Mailand 1992. 1. Buch, 4. Kapitel (Beginn). Vgl. die deutsche Übersetzung: Francesco Petrarca: Das einsame Leben, hg. und mit einem Vorwort versehen von Franz Josef Wetz. Aus dem Lateinischen übersetzt von Friederike Hausmann. Stuttgart 2004, S. 82. 18 De vita solitaria 2, 9, 4. 19 Hierzu Wolfgang Harms: Homo viator in bivio. München 1970.

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Herakles vorbildhaft zeigte, die Bereitschaft, im Dienste der Menschheit Außerordentliches zu leisten, die Fähigkeit, sich in größten Schwierigkeiten und Gefahren, in Not und Kampf zu bewähren. Das alles ist virtus – weit entfernt von der Reduktion auf eine im engeren Sinn ,moralische‘ Tugend. Xenophons Darstellung der Prodikos-Fabel ist durch seine Interessen und historischen Erfahrungen bestimmt: vor allem durch sein erzieherisches Engagement, durch seine Sympathie für adelige Lebensformen und sein Idealbild eines gerechten und starken Monarchen. Nach der Entartung und der Agonie der athenischen Demokratie verfaßte er mehrere Werke in diesem Sinne, darunter sein Alterswerk Die Erziehung des Kyros ( J¼qou paide¸a), das die hohe Herrscherqualität des persischen Reichsgründers hervorhebt. Dieser erste, immens folgenreiche Erziehungsroman Europas fand noch in Wielands Vorrede zu seinem Agathon gerade im Hinblick darauf Beachtung, daß es sich speziell um ein Muster für Monarchen handelt. Ähnliche Tendenzen fließen in die Erinnerungen an Sokrates ein. Mit Absicht kontextualisiert Xenophon darin auch seine Erzählung der Prodikos-Fabel mit Ausführungen, die der Erziehung des Herrschers gelten.20 Diese funktionale Einbindung der Prodikos-Fabel gehört zu ihrem Wirkungszusammenhang in der Neuzeit.

20 Xenophon (wie Anm. 12) II 1,1 – 20. Zum historischen Hintergrund für Herakles als Modell des Herrschers gehört die schon seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. bezeugte Berufung der makedonischen Könige auf ihre Abstammung von Herakles, auf ihr „Heraklidentum“; später, bei Philipp II. von Makedonien ist dies bereits in Münzprägungen und Städtegründungen greifbar, für seinen Sohn, Alexander den Großen, ist die herrscherliche Identifikation mit Herakles sowohl auf massenhaften Münzprägungen wie auch von einer figürlichen Darstellung her bezeugt: Nach antiker Überlieferung führte Alexander auf seinen Feldzügen eine bronzene Herakles-Statuette mit sich, die von dem berühmten Bildhauer Lysipp verfertigt worden sein soll. Er selbst wurde später immer wieder mit den Attributen des Herakles dargestellt. Zur Erziehung des Kyros: Bernhard Zimmermann: Roman und Enkomion – Xenophons ,Erziehung des Kyros’, in: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft, N.F. 15, 1989, S. 97 – 105.

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Herakles als Figuration herrscherlicher virtus und als Vorbild in der europäischen Adelskultur Die höfische Kultur des Absolutismus bezog die Herakles-Figur zwar kaum direkt auf die Fabel des Prodikos, aber doch auf die in ihr am deutlichsten geforderte virtus, die nun eine weitere Funktion erhielt. Wie schon die hellenistischen Herrscher und dann eine Reihe von römischen Kaisern den übermenschlich starken, am Ende seines Lebens durch die Apotheose21 verherrlichten Herakles in den Dienst des Herrscherkults stellten und zur Selbstinszenierung benutzten22, so wußten sich auch die absolutistischen Fürsten und Könige im neuzeitlichen Europa dieses Repertoires zur öffentlichen Selbsterhöhung zu versichern. In zahlreichen Schlössern und Residenzen entstanden große Fest-Räume, in denen die Herrscher den Mythos des größten antiken Helden, seine Kraft, seine Taten und seine – immer den Deckenfresken vorbehaltene – Apotheose künstlerisch gestalten ließen, um ihren eigenen Anspruch zur Schau zu stellen. Als Identifikationsfigur diente Herkules schon manchen der sich aus den Stadtrepubliken der italienischen Renaissance herausbildenden absolutistischen Herrscherhäuser: Mehrere Herzöge aus dem Geschlecht der Este zu Ferrara trugen den Namen ,Ercole‘. In Ferrara erschien 1475 die Schrift Le fatiche d’Ercole (Die Arbeiten des Herkules) des Pietro Andrea de’ Bassi, die er dem dort regierenden Fürsten Ercole I widmete. Nachdem schon vorher in Italien Herkules zum idealen Ritter stilisiert worden war, macht Bassi ihn zum vorbildlichen Renaissance-Fürsten, um so dem Fürsten von Este zu huldigen. 21 Kanonisch waren seit der Antike Aufzählungen von großen Männern, denen aufgrund ihrer Verdienste für die Menschheit eine Apotheose (deificatio) zuteil wurde. In Ciceros Schrift De natura deorum (II 24,62) nennt bezeichnenderweise der Stoiker Balbus als herausragende Beispiele: Herkules, Castor und Pollux, Äskulap, Liber (Dionysos-Bacchus) und Romulus. 22 Hierzu: Ernst Kornemann: Zur Geschichte der antiken Herrscherkulte, in: Klio 1, 1901, S. 51 – 146. Arthur Darby Nock: Notes on ruler cult I-IV, in: IHS 48, 1928, S. 21 – 43; auch in: Nock: Essays on religion and the ancient world, Oxford 2 1986, S. 134 – 159; vgl. auch Simon R. F. Price: Rituals and power. The Roman imperial cult in Asia Minor. Cambridge 1984; Jules Tondriau/Lucien Cerfaux: Le culte des souverains dans la civilisation grco-romaine. Tournai 1957. Olga Palagia: Imitation of Herakles in Ruler Portraiture. A Survey, from Alexander to Maximinus Daza, in: Boreas 9, 1986, S. 137 – 151; Stefan Ritter: Hercules in der rçmischen Kunst. Von den Anfngen bis Augustus. Heidelberg 1995; Ulrich Huttner: Die politische Rolle der Heraklesgestalt im griechischen Herrschertum. Stuttgart 1997.

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Die literarischen Zeugnisse verbinden nicht nur, aber vor allem die Mediceer mit Herakles.23 Der wirkungsreiche Humanist Cristoforo Landino, seit 1467 Kanzler der Florentiner Signoria, beschreibt in seinen um 1470 verfaßten Disputationes Camaldulenses eine – wohl fiktive – Zusammenkunft, die einige Jahre zuvor im Kloster zu Camaldoli angeblich stattgefunden haben soll. In einem Kreis bedeutender Florentiner Humanisten, unter ihnen auch Marsilio Ficino, der erste PlatonHerausgeber, der selbst solche Zusammenkünfte nach dem Muster von Platons Symposion veranstaltete, läßt Landino den späteren MediceerFürsten Lorenzo il Magnifico selbst auftreten und eine Lobrede auf Herkules als Vorbild halten. Da die Teilnehmer die erstmals von Aristoteles aufgeworfene24 Frage diskutieren, ob die vita contemplativa oder die vita activa vorzuziehen sei – die Synthese beider Lebensformen war ein Lieblingsthema der Humanisten25 und ist auch ein altes stoisches Thema26 –, versucht Lorenzo beides im Muster des stoischen Tugendhelden zu verbinden.27 Landino stellt schon am Beginn seiner

23 Hierzu: Marlis von Hessert: Zum Bedeutungswandel der Herkules-Figur in Florenz. Von den Anfngen der Republik bis zum Prinzipat Cosimos I. Köln/Weimar/Wien 1991, S. 48 – 50. 24 Aristoteles: Nikomachische Ethik X, 7 – 8 (1177 a 12 – 1178 b 34). Vgl. Trond Berg Eriksen: Bios theoretikos: Notes on Aristoteles’ Ethica Nicomachea X, 6 – 8, Oslo 1976; Dorothea Frede: Der ,bermensch‘ in der politischen Philosophie des Aristoteles. Zum Verhltnis von ,bios theoretikos‘ und ,bios praktikos‘, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 1998, S. 259 – 284. Vgl. das bedeutende Werk von Alberto Grilli: Vita contemplativa. Il problema della vita contemplativa nel mondo greco-romano. Brescia 2002. 25 Vgl. Fritz Schalk: Il tema della ,vita activa‘ e della ,vita contemplativa‘ nell’ umanesimo italiano, in: Umanesimo e Scienza Politica, ed. Enrico Castelli, Milano 1951, S. 569 – 566; Eugene F. Rice Jr.: The Renaissance Idea of Wisdom. Cambridge, Mass. 1958, S. 30 – 57 (Harvard Historical Monographs XXXVII). 26 Vgl. etwa Seneca: Epistulae morales ad Lucilium (künftig: Epist.). 95,10: „Die Philosophie […] ist sowohl kontemplativ wie aktiv“ – „philosophia […] et contemplativa est et activa“; De otio IV, 2: „Die Natur hat uns für beides geschaffen, sowohl für die Kontemplation wie für die Aktion“ – „natura nos ad utrumque genuit, et contemplationi rerum et actioni“ (vgl. VIII, 1 – 3). 27 Zum politisch-kulturellen Kontext: Florian Matzner: Vita activa et vita contemplativa. Formen und Funktionen eines antiken Denkmodells in der Staatsikonographie der italienischen Renaissance. Frankfurt/Berlin/Bern 1994. Einen literaturhistorischen Überblick über die Bedeutung der Vita activa et contemplativa in den Schriften Landinos bieten Eberhard Müller-Bochat: Leon Battista Alberti und die Vergil-Deutung der Disputationes Camaldulenses. Krefeld 1968 (Schriften und Vorträge des Petrarca-Instituts Köln), S. 7 – 10 und Manfred Lentzen: Studien

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Schrift den Herzog von Urbino, Federico da Montefeltre, dem er sie widmete, als ideales Muster für die Verbindung von vita activa und vita contemplativa dar. Um auch am Paradigma Herkules die vita contemplativa miteinbeziehen und zugleich die Brücke zur vita activa schlagen zu können, benutzt Landinos fiktionalisierter Lorenzo die stoische Doppeldefinition der virtus durch ratio (sapientia) und männliche Tatkraft28 : Die sapientia des Herkules, die an das stoische Idealbild des „Weisen“ erinnert, ist voll gestalterischer Energie in der Realität. Landino greift hier sogar wörtlich zitierend auf eine antike Quelle zurück29, indem er ausführt, die sapientia des Herkules sei nicht selbstzur Dante-Exegese Cristoforo Landinos. Köln/Wien 1971 (Studi Italiani, 12), S. 85 – 87, 94 – 110. 28 Zur Begründung der virtus auch durch ratio, iudicium und sapientia vgl. Seneca, Epist. 71,32: „Einziges Gut ist die virtus, jedenfalls besteht kein Gut ohne virtus, und die virtus hat in unserem besseren Teil, d. h. im vernunftbegabten, ihren Sitz. Was kann diese virtus sein? Urteilskraft, wahrhafte und unbeeinflußbare: Von ihr rühren nämlich alle Regungen des Geistes her, von ihr wird jede Vorstellung, die eine Regung auslöst, zur Klarheit gebracht“ – „unum bonum esse virtutem […] et ipsam virtutem in parte nostri meliore, id est rationali positam. quid erit haec virtus? iudicium verum et immotum: ab hoc enim impetus venient mentis, ab hoc omnis species, quae impertum movet, redigetur ad liquidum“. Zur Verbindung von Denken und Handeln in der virtus: Seneca, Epist. 66,6: „Laßt uns zum ersten Gut zurückkehren und erwägen, was es ist: Es ist der Geist, der das Wahre betrachtet, der aus Erfahrung weiß, was zu meiden und zu erstreben ist, sich als Teil der gesamten Welt versteht und alles bedenkt, was sich in ihr ereignet, im Denken und Handeln gleicherweise unternehmend, groß und energisch, gleichermaßen unüberwindbar durch Widrigkeiten wie Verlockungen, keinem Schicksal unterliegend, erhaben über Zufälliges, vollendet schön, ganz geordnet sowohl im Verhalten wie in der Kraftentfaltung, besonnen und nüchtern, unanfechtbar und unerschrocken, keine Gewalt vermag ihn zu brechen, Zufälliges macht ihn weder überheblich noch drückt es ihn nieder: ein solcher Geist ist virtus“ – „ad primum bonum revertamur et consideremur id quale sit: animus intuens vera, peritus fugiendorum ac petendorum, non ex opinione, sed ex natura pretia rebus imponens, toti se inserens mundo et in omnes eius actus contemplationem suam mittens, cogitationibus actionibusque intentus […]: talis animus virtus est“. Daß Weisheit und Tapferkeit zusammengehören sollen, betont im stoischen Kontext auch Cicero, Tusc. 3,14: „nemo sapiens nisi fortis“. 29 Die nachfolgend zitierte Partie aus Landinos Schrift und ihre Fortsetzung stimmt mit den Kern-Aussagen aus der Dissertatio 15 des Maximos von Tyros überein, eines populärphilosophischen Literaten des 2. Jahrhunderts n. Chr. (Maximus Tyrius, Dissertationes, edidit Michael B. Trapp, Stutgardiae et Lipsiae MCMXCIV, S. 131. Bibliotheca Scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana). Die Stilisierung des Tathelden Herakles zum sapiens (bei Maximos von Tyros: zum sovºr) erklärt sich aus der stoischen Idealfigur des

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genügsam gewesen, vielmehr habe er sie aktiv durch seine Taten im Dienste der Menschheit bewiesen: „Weise war Herkules. Und er war weise nicht für sich; in Wahrheit war er durch seine Weisheit fast allen Sterblichen von Nutzen. Denn als er den größten Teil der Welt durchwanderte, besiegte er furchterregende wilde Tiere, gefährliche und schlimme Ungeheuer überwältigte er, die grausamsten Tyrannen bezwang er, den meisten Völkern und Stämmen stellte er Recht und Freiheit her“.30 Hier kommt das schon in Xenophons Wiedergabe der Prodikos-Fabel und dann besonders von der römischen Stoa propagierte Handeln im Dienste des Allgemeinwohls als vornehmste Manifestation der virtus zum Tragen. Die schon in der antiken Quelle und auch in spezifisch stoischen Herkules-Idealisierungen – so bei Dion Chrysostomos31 – vorhandene Stilisierung des Helden zum Vorkämpfer gegen die Tyrannis und für die libertas erhält ihr besonderes politisches Interesse in einer Zeit, in der sich in Florenz und nicht nur dort der Übergang von der Republik zur mehr oder weniger absolutistischen Fürstenherrschaft vollzog. In seinem späteren Traktat De vera nobilitate 32 beschreibt Landino eine wahrscheinlich wiederum fiktive Zusammenkunft der bedeutendsten Persönlichkeiten von Florenz zu einem Bankett, um in einem Dialog die von Dante eingeleitete und dann sich über das ganze „Weisen“ – da Herakles zum idealen Repräsentanten der stoischen virtus auserkoren war, mußte er auch „sapiens“ sein. Schon bei Antisthenes kommt ihm neben der Kraft die Einsicht, die vqºmgsir zu (vgl. Anm. 8). Außerdem war Herakles längst sogar zum philosophischen Vorbild erhoben worden, so (um 400 v. Chr.) durch den Sophisten Herodoros von Herakleia in seinem 17 Bücher umfassenden Werk über Herakles, von dem entsprechende Fragmente erhalten sind. Darin heißt es, Herakles habe „wie ein Philosoph bis zu seinem Tode gelebt“ (Felix Jacoby: Fragmente der griechischen Historiker I, 1957, Nr. 1 – 4, 13 – 37). Bildliche Zeugnisse des philosophierenden Herakles in dem Ausstellungskatalog Herakles – Herkules (wie Anm. 5), S. 366 und 367. Bei Landino dient dieser Zug seinem Darstellungsziel: der Zusammenführung von vita activa und vita contemplativa, wobei er letztere noch neuplatonisch überformt. 30 Cristoforo Landino: Disputationes Camaldulenses, a cura di Peter Lohe, Firenze 1980, S. 32: „Fuit sapiens Hercules. At non sibi sapiens; verum sua sapientia omnibus paene mortalibus profuit. Nam maximam orbis partem peragrans horrendas feras substulit, pernitiosa ac immania monstra perdomuit; crudelissimos tyrannos coercuit; plurimis populis ac nationibus ius libertatem restituit.“ 31 Vgl. S. 309 f. 32 Cristoforo Landino: De vera nobilitate. Kritisch herausgegeben und eingeleitet von Manfred Lentzen. Genève 1970.

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15. Jahrhundert erstreckende humanistische Diskussion über den homo nobilis fortzuführen.33 Wie schon Dante und andere Vorgänger, welche die wahre nobilitas nicht auf den Geburtsadel, sondern auf die individuelle virtus gründen, vertritt auch Landino diese Position. Da virtus zugleich ein stoischer Schlüsselbegriff war, bot er sich als Brücke zum stoischen Ethos und zur stoischen Verkörperung der virtus an: zu Herkules, dessen vorbildhaften Taten das gesamte letzte Kapitel gilt. Dabei greift Landino auf das Repertoire der stoischen Affektbesiegung zurück, indem er die Taten des Herkules allegorisch deutet: Die Gefangennahme der Hirschkuh steht für die Bändigung der Angst, der Sieg über zwei Löwen für die Überwindung des Zorns, die Reinigung des Augiasstalls für die Lossagung von schmutziger Wollust usw.34 Mit seinem „lumen rationis“ vermag Herkules diese Affekte und Laster zu überwinden, und so wird er zum Musterbeispiel des stoischen Tugendhelden, der mit dem Ideal des homo nobilis verschmilzt.35 In der 33 Vgl. die instruktive Einleitung von Lentzen. 34 S. 107 f. Ähnlich in den Disputationes Camaldulenses, S. 235 f. Wie die Allegorie des Prodikos von Herakles am Scheidewege lassen sich auch derartige Allegorisierungen bis in die Zeit vor der Entstehung der stoischen Schule zurückverfolgen. Schon um 400 n. Chr. deutete Herodor in seiner umfangreichen Heraklesgeschichte den Helden auch als philosophischen Überwinder der Leidenschaften: „Sie stellen ihn dar, wie er das Löwenfell trägt und die Keule und drei Äpfel hält. Die Mythen erzählen, daß er die drei Äpfel erlangen konnte, nachdem er mit der Keule den Drachen erschlagen hatte; das bedeutet, daß er die vielfältig schillernde Durchtriebenheit widerlichen Begehrens mit der Keule der Philosophie besiegte, wobei ihm die edle Gesinnung wie ein Löwenfell als Mantel diente. Und so nahm er sich die drei Äpfel, das heißt drei Tugenden: nicht zornig zu werden, nicht habgierig und nicht lüstern zu sein. Mit der Keule seiner abgehärteten Seele nämlich und mit dem Fell seines mutvollen und besonnenen Verstandes bewältigte er den irdischen Kampf gegen die schlechte Begierde; er lebte bis zum Tode als Philosoph“ (Herodor, FGr H 31 F 14). 35 S. 107 – 109. Nachdrücklich insistiert Landino auf dem für die Stoa charakteristischen Wert der Ratio, welche die seelische Stabilität garantiert: „Die virtus nämlich, wie ich schon mit vielerlei Argumenten aufgezeigt habe, die virtus, sagte ich, die wahrhafte, ist einzig und allein die Spenderin des echten Adels. Die virtus, wenn ich sie definieren soll, scheue ich mich nicht einen Zustand des Geistes zu nennen, der durch eine gewisse Festigkeit mit der Natur und der Ratio übereinstimmt“ – „Virtus enim, ut multis iam argumentationibus ostendisse videor, virtus, inquam, quae vera sit, verae nobilitatis sola atque unica datrix est. Virtutem autem, si me illam diffinire iubetis, non verebor animi habitum dicere, qui naturae rationique quadam stabilitate consentiat“ (De vera nobilitate, S. 72).

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Gegenwart, so verkündet Landino, sei Lorenzo il Magnifico ein solcher homo nobilis: „Laurentium Medicem vera nobilitate donandum censeo“.36 Diese Verbindung von stoischer Virtus mit dem Ideal eines öffentlich handelnden homo nobilis war durch Ciceros Schrift De officiis vorgeprägt, denn Cicero bezog in diesem Grundtext, der den europäischen Traditionsprozeß über Jahrhunderte hinweg maßgeblich bestimmte, das stoische Ethos auf die Leitbegriffe honestas und ornatus vitae (I 93), wie es schon Xenophons Erzählung der Prodikos-Fabel in griechischen Termini getan hatte.37 So nobilitierte Cicero die stoische virtus, und auch er berief sich auf den stoischen Tugendhelden Herkules.38 Damit versuchte er die römische Wirklichkeit, in der Herkules schon längst als Herrschaftsidol brutaler Machthaber (wie etwa Sulla) instrumentalisiert worden war, mit einem ethischen Gegenentwurf ,republikanischer‘ Haltung zu konfrontieren.39 Wie auf das halb noch republikanisch, halb schon höfisch geformte Ideal des homo nobilis im Florenz der Medici, so wirkte Ciceros Nobilitierung der Tugendhaltung auf das französische Ideal des honnête homme, des Caballiero der Spanier und des gentleman der Engländer. Die in diese Sphäre einbezogene Herkules-Figur fand eine entsprechende öffentliche Inszenierung in der europäischen Adelskultur mit mehr oder weniger deutlichen Bezügen zum stoischen Tugendhelden, der nun zum Muster ritterlichen Verhaltens wurde.40 Im Florenz der Medici entstand im Palazzo Vec36 S. 104. 37 Immer wieder hebt bei Xenophon die (Aqet¶ (virtus) in ihrer Rede an Herakles, in der sie ihn auf den von ihr empfohlenen Weg zu lenken sucht, auf die Ehre ab, und diese Hervorhebung der Ehre bildet den Höhepunkt und Abschluß der Fabel. „Man ehrt mich (til_lai) am meisten von allen bei Göttern und Menschen“, sagt die (Aqet¶, und sie versichert, daß die Menschen, die sich von ihr leiten lassen, „in ihrem Vaterlande geehrt werden“ (t¸lioi d³ patq¸sim). (Xenophon, Erinnerungen an Sokrates, II 1, 32/33). 38 Allgemein zu Herkules in der Literatur der römischen Republik: M. W. MacKenzie: Hercules in the Early Roman Empire, With Particular References to Literature. Cornell Univ. 1967, S. 32 ff. 39 Vgl. Willibald Heilmann: Ethische Reflexion und rçmische Lebenswirklichkeit in Ciceros Schrift ,De officiis‘. Ein literatursoziologischer Versuch. Wiesbaden 1982 (Palingenesia 17). 40 An dem vom „Herbst des Mittelalters“ und der späten Verklärung der ritterlichen Kultur in besonderem Maße geprägten Hofe von Burgund wurde Herkules zum Vorbild für den Ritter schlechthin. Raoul le Fèvre, der Kaplan Philipps des Guten von Burgund, pries in seinem Recueil des histoires de Troyes (1464), dessen zweiter Teil einen fast ganz selbständigen Herkules-Roman

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chio, dem Regierungssitz der Stadt, eine Sala di Ercole, deren Wände mit den Taten des Herkules geschmückt waren. Bald gab es in ganz Europa solche Herkules-Säle, in der Münchner Residenz ebenso wie im Wiener Palais Liechtenstein, und überall ließen sich die Herrscher entweder selbst in der Pose und Montur des Herkules darstellen, so in Frankreich Ludwig XIII und Ludwig XIV, der keineswegs von herkulischer Statur war, oder sie ließen doch mindestens Herkules-Statuen aufstellen und ihre Repräsentationsräume mit Herkules-Gemälden ausstatten, um auf diese Weise ihr Selbstverständnis zu inszenieren. Wohl ging es dabei vorrangig um herrscherliche Machtdemonstration und die Sieger-Attitüde des aus der Antike bekannten Hercules victor41, aber die heroische virtus war doch auch mitbestimmt von der Vorstellung des Tugendhelden, der nicht nur über Untertanen herrscht und Feinde überwältigt: Er siegt auch moralisch, indem er Verantwortung für das Gedeihen des Staates trägt, wie es der stoischen Tradition entspricht. Hier kommt die schon in der antiken virtus vorhandene Doppelvalenz zum Tragen: die der heldenhaften, männlichen Tatkraft und die der sittlichen „Tugend“. Besonders wirkte der in kynischen Schriften geschaffene HeraklesTypus nach.42 Nach der Schreckensherrschaft Neros und der Tyrannei Domitians war das Bedürfnis nach einem von sittlichen Normen geprägten Kaisertum entstanden. Einer der großen Redner in dieser Zeit bietet, Herkules als tugendhaften, ehrenvollen und edlen Ritter, der obendrein gebildet und galant ist, was freilich weit über die stoische virtus hinausging. Dieses Buch wurde in Frankreich und England (dort war es das erste gedruckte Buch überhaupt) für fast ein Jahrhundert zum Bestseller und auch in anderen europäischen Sprachen fand es weite Verbreitung – so sehr traf es den Nerv der Zeit. Eine gute Analyse und eine Übersicht über das Werk gibt Marc-René Jung: Hercule dans la littrature franÅaise du XVIe sicle. De l’Hercule courtois  l’Hercule baroque (Travaux d’humanisme et Renaissance LXXIX). Genève 1966, S. 16 – 27. 41 Zum antiken Kult des Hercules Victor in Rom und in Italien vgl. Stefan Ritter (wie Anm. 4), S. 37 f., S. 85 f. und (zum Heiligtum des Hercules Victor von Tibur, dem größten Hercules-Heiligtum in Italien) S. 87 – 90. 42 Ragnar Hoïstad: Cynic hero and cynic king. Studies in cynic conception of man. Uppsala, 1948, S. 22 – 73. Vgl. Margarethe Billerbeck: Greek Cynicism in Imperial Rome, in: Die Kyniker in der modernen Forschung. Aufstze mit Einfhrung und Bibliographie, hg. von M. B. (Bochumer Studien zur Philosophie 15), Amsterdam 1991, S. 147 – 166. Marie-Odile Goulet-Cazé: Le cynisme  l’poque impériale, in: Aufstieg und Niedergang der rçmischen Welt (künftig: ANRW), hg. von Hildegard Temporini und Wolfgang Haase, II 36.4, Berlin/New York 1990, S. 2720 – 2833.

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einer blühenden und einflußreichen Rhetorik, Dion von Prusa, genannt Chrysostomos (Goldmund), ein Vertreter der kynischen Schule, deren Lebenshaltung mit der stoischen verwandt, aber radikaler war und ebenfalls den Tugendhelden Herakles zum Ideal erhob, übertrug dieses Idealbild auf die Vorstellung von einem guten Kaisertum. Nachdem Dion aus der von Domitian über ihn verhängten Verbannung zurückgekehrt war, entwarf er um 100 n. Chr. in seinen bis in die Neuzeit rezipierten43 Reden an Kaiser Trajan ber die Kçnigsherrschaft ein entsprechendes Programm. Besonders bemerkenswert ist der neue Zuschnitt der Prodikos-Fabel. Dion verwandelt die Entscheidung zwischen Tugend und Laster in eine Entscheidung zwischen der guten Königsherrschaft und der bösen Tyrannis.44 Als sich Herakles für die gute Königsherrschaft entscheidet, verleiht ihm Zeus die Weltherrschaft und macht ihn zum Schutzherrn der Könige und zum Gegner der Tyrannen. Deshalb ist er „der Retter der Welt und der Menschheit“45 – die schon lange feststehende Rolle des Herakles als „Wohltäter“ (eqeqc´tgr) der Menschheit und als Identifikationsfigur der Herrscher wird in eine klare politische Botschaft umgedeutet. Die Verbindung mit dem stoischen virtus-Ideal, dem sich noch der kynische Habitus asketischer Bedürfnislosigkeit assoziiert, verstärkte den moralischen Anspruch des Herakles-Vorbilds. Auch Trajans Nachfolger Hadrian, Antoninus Pius und Marc Aurel eigneten sich dieses Ideal mit ihrer Herakles-Verehrung zu.46 Für Kaiser Julian, der von 360 bis 363 regierte und die von Konstantin eingeleitete Christianisierung des Reichs rückgängig zu machen suchte, indem er sich wieder den alten Göttern zuwandte, war Herakles das „größte

43 Die neuzeitliche Erstausgabe erschien 1476. Schon 1428 hatte der Humanist Filelfo eine der Reden ins Lateinische übersetzt. Grundlegend: Dionis Prusaensis, quem vocant Chrysostomum quae extant omnia, hg. von Hans von Arnim, 2 Bde., Berlin 1893 – 1896. Nachdruck: Hildesheim 2000 (mit Sachindices). 44 Dionis Chrysostomi orationes. Post Ludovicum Dindorfium edidit Guy de Budé. Lipsiae in aedibus B. G. Teubneri MCMXVI. Oratio 1, 45 – 84. Deutsche Übersetzung: Dion Chrysostomos: Smtliche Reden. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Winfried Elliger, Zürich 1967, S. 12 – 20. 45 Dion Chrysostomos or. 1, 84. 46 Vgl. Wilhelm Derichs: Herakles, Vorbild des Herrschers in der Antike. Diss. Köln 1950; Pierre Hadot, Art. Frstenspiegel, in: Reallexikon fr Antike und Christentum 8, 597 – 600; P. Tzanetas: The symbolic Heracles in Dio Chrysostom’s oration on kingship. Diss. Columbia Univers. New York 1972, bes. S. 86 – 98.

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Beispiel“ (paq²deicla t¹ l´cistom).47 Doch andere Kaiser imitierten nur die grobschlächtigen Züge des Krafthelden, um ihre Brutalität auszuleben. Commodus hatte seiner Identifikation mit Herkules dadurch Ausdruck verliehen, daß er einer Kopie des Herkules Farnese seinen eigenen Porträtkopf aufsetzen ließ. Beide Möglichkeiten blieben auch für die Zukunft offen. Diese Zukunft reichte in Deutschland von der Selbstinszenierung Kaiser Maximilians als ,Hercules Germanicus‘ bis zum Herkules-Zyklus des Brandenburger Tors.48 Auf den Seiten der fünf Durchfahrten erhielt es nicht weniger als zwanzig Reliefs mit den Taten und Errungenschaften des Helden samt der Entscheidung zwischen virtus und voluptas. Friedrich der Große, der sich selbst als „philosophe stoïcien“ bezeichnete, war 1786 gestorben, und als wenige Jahre später Langhans sein klassizistisches Bauwerk in Angriff nahm, dachte man an eine „Porta Fridericiana“. Der mit den Entwürfen für die Reliefs beauftragte Maler Bernhard Rode hatte bereits 1763 den siegreich aus dem Siebenjährigen Krieg heimkehrenden König in einer Zeichnung als Herkules dargestellt, der als Friedensbringer – „pacifer“ ist ein alter Beiname des Herkules – die Kriegsgöttin vertreibt. Beraten wurde Rode, als er die Herkules-Reliefs für das Brandenburger Tor zeichnerisch plante, von dem seit langem mit ihm befreundeten Dichter Karl Wilhelm Ramler. Dieser hatte 1760, in Friedrichs des Großen und Preußens größter Bedrängnis, eine Ode auf den König verfaßt, in der er ihn als Herkules darstellte, der schwere Kämpfe durchzustehen hat und wie dieser dereinst die Unsterblichkeit erlangen werde. Rode illustrierte bereits eine Sammlung patriotischer Oden, die Ramler zum Siebenjährigen Krieg verfaßte. Dessen Vorschlag, das Brandenburger Tor dem ruhmvollen Andenken Friedrichs des Großen zu widmen, fand in der mit der Prüfung betrauten Berliner Akademie der schönen Künste keine Mehrheit. Man entschied sich für die offizielle Bezeichnung ,Friedenstor‘. Doch wählte Rode für die Herkules-Reliefs vor allem diejenigen Szenen, die Ramler, ein großer Kenner der antiken Mythologie, in 47 Iulian. Imp. Or. 6, 187 c, in: L’Empereur Julien. Oeuvres Compltes [griechischfranzösisch], hg. von J. Bidez, Paris 1924, weitergeführt von G. Rochefort und Chr. Lacombrade, Paris 1963 ff., Bd. 2,1, S. 153. 48 Zum Folgenden: Das Brandenburger Tor 1791 – 1991. Eine Monographie, hg. von Willmuth Arenhövel und Rolf Bothe. Berlin 1991. Hier sämtliche HerkulesDarstellungen des Brandenburger Tors in guten photographischen Aufnahmen sowie die Entstehungsgeschichte S. 113 – 122.

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seinem 1790 erschienenen Handbuch der klassischen Mythologie als vorbildlich präsentiert hatte. Da inzwischen die Französische Revolution immer dramatischere Formen annahm und der preußische König Friedrich Wilhelm II. mit der ,Pillnitzer Deklaration‘ (so heißt sie nach dem Schloß bei Dresden, wo sich der König aufhielt) einige Wochen nach der Öffnung des Brandenburger Tors am 6. August 1791 den französischen Revolutionären eine Intervention zugunsten Ludwigs XVI. androhte, konnte man nun die Besiegung der Ungeheuer durch Herkules auf den Reliefs des Brandenburger Tors als Kampfansage an die Ungeheuer der Revolution lesen – man konnte es umso mehr, als Friedrich Wilhelm II. bereits 1787 preußische Truppen in die Niederlande hatte einmarschieren lassen, um dort eine demokratische Bewegung gegen das dynastisch mit Preußen verbundene Herrscherhaus zu unterdrücken. Diese Intervention fand tatsächlich einige Reflexe bei der Planung des Brandenburger Tors. Genau in die Gegenrichtung wies die Umkodierung der herakleischen virtus durch die französischen Revolutionäre. Hatte den französischen Königen, der geläufigen Ikonographie entsprechend, die Identifikation mit Herkules der herrschaftlichen Selbstinszenierung gedient, so sollte nun der ,Hercules Gallicus‘ die revolutionäre Gewalt des Volkes versinnbildlichen. Wie Herkules die Ungeheuer sollte diese revolutionäre Gewalt die Monarchen besiegen. Die Macht über die Bilder, nicht zuletzt über ihre Semantik, war ein zentrales Instrument der revolutionären Propaganda. Jacques Louis David empfahl am 26. 10. 1792 die Umarbeitung der Königsdenkmäler in Monumente der Revolution. Nach dem Beschluß des Konvents vom 1. 8. 1793, die Denkmäler der Königszeit zu beseitigen, faßte er den Plan, am Pont Neuf einen Herkules-Koloß aufzustellen, dessen Sockel aus den Trümmern der Königsstandbilder von Notre Dame bestehen sollte – sie waren auf Beschluß des Pariser Magistrats vom 23. 10. 1793 zerstört worden. Schon als die europäischen Monarchen mit einer Intervention drohten, wollten die Revolutionäre an den französischen Grenzen gigantische Herkules-Standbilder aufrichten, die den Interventionstruppen ankündigen sollten, womit sie zu rechnen hätten. Inzwischen pervertierte Robespierre, der sich gerne in die Tradition der sittenstrengen Stoa stellte, den virtus-Begriff. Er propagierte das Junktim von Tugend und Terror – „vertu“ und „terreur“ –, weil ohne den Terror, so Robespierres bekannte Parole, die Tugend machtlos sei.

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Die Allegorisierung der stoischen Herkulesfigur und ihre bildliche Darstellung seit der Renaissance Die Renaissance pflegte besonders die Allegorisierung der stoisch formierten Herkules-Figur. Zwar ganz in antiker Tradition, aber doch historisch und methodisch aufschlußreich ist in dieser Hinsicht ein schon am Anfang des 15. Jahrhunderts entstandenes Werk des Florentiner Kanzlers und Humanisten Coluccio Salutati: De laboribus Herculis. 49 Für Salutati sind die Arbeiten des Herkules der vielfältige Ausweis einer alles überragenden virtus. Die ausführliche Darstellung dieser Arbeiten leitet er mit einer programmatischen Partie ein, in der er virtus zum Leitmotiv erhebt.50 Herkules, so Salutati, habe sich durch „cunctarum virtutum excellentia“ ausgezeichnet, und weil diese „supra communem virtutum humanarum statum“ hinausreichten, sei Herkules zum Inbegriff heroischer und geradezu göttlicher virtus geworden („virtus heroica nominatur atque divina“) und zur Sphäre der Götter emporgestiegen. Ganz stoisch sieht Salutati die virtus des Herkules im Sieg über Affekte und Begierden durch ratio und voluntas. Um dies aber zu erkennen und die eigentliche „Wahrheit“ in seinen Arbeiten zu finden, müssten diese mit dem „Licht der Allegorie“, dem „allegorie [alte Schreibweise] lumen“, erklärt werden. Mit solch allegorischem Verfahren, das er jeweils mit Berufung auf die bereits zahlreichen antiken – sowohl nichtchristlichen wie christlichen – Allegoresen51 stützt und zugleich weiter ausbaut, stellt er jede der „Arbeiten“ des Herkules dar. Dabei folgt er meistens der antik-stoischen Gleichsetzung von wilden Tieren mit den Affekten.52 So signalisiert die Überwältigung der 49 Textedition: Coluccio Salutati: De laboribus Herculis, ed. Berthold L. Ullman, 2 Bde, Zürich 1951. Vgl. auch: Ullman: The humanism of Coluccio Salutati. Padua 1963; Ronald G. Witt: Hercules at the Crossroads. The Life, Works and Thought of Coluccio Salutati. Durham (N.C.) 1983 (Duke Monographs in Medieval and Renaissance Studies 6). 50 S. 176 f. 51 S. 177. Zur Allegorese bei den antiken Stoikern: Alain L. Boulluec: L’allgorie chez les Stoiciens, in: Poétique 23, 1975, S. 301 – 321; Jean Pépin: Mythe et allgorie. Les origines grecques et les contestations judo – chrtiennes. Paris 1976; Peter Steinmetz: Allegorische Deutung und allegorische Dichtung in der alten Stoa, in: Rheinisches Museum 129, 1986, S. 18 – 30; vgl. auch Jon Whitman: Allegory. The Dynamics of an Ancient and Medieval Technique. Oxford 1987. 52 Vgl. Dion Chrysostomos, or. 5,22; vgl. or. 8,11 – 35. Zur christlichen Adaption, insbesondere im Hinblick auf Paulus, 1 Kor. 15,32, vgl. Hermann Funke: Antisthenes bei Paulus, in: Hermes 98, 1970, S. 459 – 71; Abraham J. Malherbe:

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Hirschkuh, eines scheuen und flüchtigen Tieres, die Überwindung des Angst-Affekts53, und ebenso allegorisch deutet er den Sieg über den Löwen („Nunc ad alium sensum allegoricum accedentes aliquid de leonibus permittamus“) 54 : Da Zorn (iracundia) zum Wesen des Löwen gehöre, deute diese „Arbeit“ des Herkules auf die Besiegung des ZornAffekts, die ihm durch seine „ratio“ und „constantia“ möglich gewesen sei.55 Die im Auftrag der neuzeitlichen Fürstenhäuser schaffenden Knstler griffen die stoische „Tugend“-Dimension der allegorisierten HeraklesFigur aus einem Werk auf, das ihnen seit seinem erstmaligen Erscheinen 1593 bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts in zahllosen Auflagen die Muster für alle antiken Gestalten und ihre allegorische Deutung bot: die Iconologia des Cesare Ripa.56 Darin folgt, bezeichnenderweise auf eine allegorische Präsentation der virilità, eine ganze Reihe von Darstellungen der virtù, unter denen die virtù heroica den größten Raum erhält – und vor allem exemplifiziert Ripa diese „heroische Tugend“ an antiken Gestaltungen des Herkules. Er deutet sie allegorisch im Sinne der Stoa. Da keine der von ihm kommentierten bildlichen Gestaltungen die Szene ,Herkules am Scheidewege‘ bietet, fehlt auch jeder Hinweis auf die Fabel des Prodikos. Daß Ripa dennoch die verschiedenen Herkules-Darstellungen nach den antiken Vorgaben57 stoisch versteht, läßt erkennen, wie weit Herkules über die Fabel des Prodikos und die Situation des jugendlichen Heros am Scheidewege hinaus als Exempel spezifisch stoischer Virtus diente. Ganz dem stoischen Programm der Affektbesiegung durch Vernunft und Tugend gemäß fügt Cesare Ripa jedem der Attribute des Herkules, vom Löwenfell über die Keule bis zu den Äpfeln der Hesperiden, die er auf manchen bildlichen Zeugnissen

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Antisthenes and Odysseus, and Paul at war, in: Harvard Theological Review 76, 1983, S. 143 – 73; Abraham J. Malherbe: The beasts at Ephesus, in: Journ Bibl Lit 87, 1968, S. 74 – 76. S. 183. S. 187. S. 189. Der Überwindung des Zorns galt das besondere Interesse der römischen Stoa. Seneca widmete diesem Anliegen eine eigene Schrift: De ira. Vgl. Paul Rabbow: Antike Schriften ber Seelenheilung und Seelenleitung auf ihre Quellen untersucht (I: Die Therapie des Zorns), Leipzig/Berlin 1914. Cesare Ripa: Iconologia. Roma 1593. Die erste illustrierte Ausgabe erschien 1603. Im folgenden wird nach der erweiterten, 1611 erschienenen Ausgabe zitiert (A Garland Series: The Renaissance and the Gods, vol. 21: Cesare Ripa: Iconologia. Padua 1611. Reprint New York/London 1976). Vgl. Anm. 34.

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in der einen Hand hält, eine allegorisch-stoische Explikation bei.58 Der Herkules auf einer antiken Münze des Geta, so Ripa, deute mit seinem Löwenfell auf „Großmut und Geistesstärke“ („La spoglia del Leone in Ercole ci dimostra la generosità; fortezza dell’ animo“), die Keule sei „Signum der Vernunft, welche die Begierde beherrscht und bändigt“59 („La clava, significa la ragione, che regge, & doma l’appetito“). Die goldenen Äpfel der Hesperiden, die eine Herkules-Statue auf dem Kapitol in Rom in der Hand hält, so führt Ripa weiter aus, bedeuten die „drei heroischen Tugenden, die man dem Herkules zuschreibt“: der erste Apfel die „Zügelung des Zorns“ („la moderatione dell’ Ira“), der zweite die „Mäßigung der Habgier“ („la temperanza dell’ Avaritia“), der dritte „die großmütige Verachtung der Wonnen und Vergnügen“ („il generoso sprezzamento delle delitie, & de i piaceri“). Am schwersten fiel die Interpretation der Nacktheit, in welcher der mit dem Löwenfell meist nur locker drapierte Herkules fast immer erscheint. Aber selbst hier weiß Ripa passenden Bescheid aus dem Fundus der stoischen Vorstellungen. Am Beispiel einer mit einer Herkules-Darstellung versehenen Münze und unter Erwähnung des berühmten Herkules Farnese, der bald nach seiner spektakulären Entdeckung im Jahre 1546 zu kanonischem Rang erhoben wurde, bemerkt er: „Wenn die Virtus nackt erscheint, so weil sie nicht Reichtümer sucht, sondern die Unsterblichkeit, Ruhm und Ehre, wie auf einem antiken Marmor zu sehen ist, der sagt: ,Die Virtus begnügt sich mit dem nackten Menschen‘“ („Si fa nuda la virtù, come quella che non cerca richezze, ma l’immortalità, & gloria, & honore, come si è visto in un marmo antico, che dice: Virtus nudo homine contenta est“ – die lateinische Schlußwendung ist bezeichnenderweise ein Seneca-Zitat; es stammt aus der Schrift De beneficiis, 3,18,2).60 Andere Assoziationen hätte schon der Fundort des Herkules Farnese nahegelegt, die römischen Caracalla-Thermen, die wie andere Thermen 58 Ripa, S. 537 – 539. 59 Zur antiken Tradition: Martha Craven Nussbaum: The Therapy of Desire. Theory and Practice in Hellenistic Ethics (Martin Classical Lectures, N. S. 2). Princeton 1994. 60 Vgl. die Herakles-Fabel in der stoisch-kynischen Version des Dion Chrysostomos: „Man erzählt sich auch von Herakles, er sei nackt (culmºr) gegangen und habe nur ein Löwenfell und eine Keule bei sich gehabt. Das ist aber so zu verstehen, daß er auf Gold, Silber und Kleidung keinen Wert legte, sondern das alles für wertlos hielt […]“. Dion Chrysostomos (wie Anm. 44), Reden ber die Kçnigsherrschaft 1, 61 f.

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ein Ort des Body-Building und ein Wellness-Zentrum waren61, ganz zu schweigen von der auffällig betonten Körperlichkeit dieser zu einer enormen neuzeitlichen Wirkung gelangenden monumentalen Herkules-Statue. Der Stellenwert der stoischen Stilisierung des Herakles zum ethischen Musterbeispiel der virtus und seine Vereinnahmung als Vorbild-Figur in eine entsprechend „sittliche“, eher sinnen- und körperfeindliche Pädagogik läßt sich erst einschätzen, wenn man seine andere Bedeutung in der ausgeprägten Körperkultur der Antike wahrnimmt. Schon früh galt Herakles als Begründer der Olympischen Spiele62, in der späteren Antike als Schutzherr der Athleten, in hellenistischer und römischer Zeit hatte er im Gymnasion und an Sportstätten seinen festen Platz als Vorbild körperlicher Kraft und Leistung.63 Weil er den Knaben als Vorbild dienen sollte, wurde er manchmal sogar selbst in den Gymnasien als Knabe dargestellt. Er war der Schutzherr der Ringerschulen (der „Palaestra“), da er selbst als großer Ringkämpfer galt, und viele Sportfeste waren ihm geweiht. Diese unter dem Patronat des Herakles stehende Körperkultur ist denkbar weit entfernt vom stoischen virtus-Ideal. Aber durch die philosophische Tradition war besonders seit dem Humanismus die stoische „Lesart“ so fest etabliert, daß sie immer wieder andere Wahrnehmungen überlagerte. Obwohl der Herkules Farnese durchaus auch als prototypische Repräsentation der „vollkommensten Leibes-Stärke“64 eine fortwährende Faszination ausübte und bis hin zu dem kurz nach 1700 entstandenen Kasseler Riesen-Herkules65 als Modell barock-absolutistischer Gigantomanie diente, wirkte sich die humanistisch-stoische Voreinstellung sogar auf die Wahrnehmung von Herkules-Statuen noch lange aus. Winckelmann schrieb mit deutlichem Anklang an die stoische magnanimitas und tranquillitas animi, die er auch für seine Deutung der Laokoon-Figur bemühte, über den Torso im Belvedere (den er als einen Herkules61 Schon in früherer Zeit galt Herakles als Schutzherr von Thermen und auch von warmen Heilquellen. Belege bei Gruppe (wie Anm. 1), Sp. 1011 f. 62 Pindar, 2. Olympische Ode, V. 3 f.; Ol. VI, V. 67 – 69. 63 Vgl. Gruppe, Sp. 1007 f. 64 Joachim von Sandrart: Teutsche Academie der Bau-, Bild- und Mahlerey-Knste. Nachdruck der Ausgabe von 1675 – 1680, mit einer Einleitung von Christiane Klemm, 2 Bde, Nördlingen 1994, 1. Teil, 2. Buch, S. 34. 65 Hierzu das fundierte und gut bebilderte Werk: Herkules. Tugendheld und Herrscherideal. Das Herkules-Monument in Kassel-Wilhelmshöhe, hg. von den Staatlichen Museen Kassel – Christiane Lukatis und Hans Ottomayer. Eurasburg 1997.

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Torso verstand): „In der Ruhe und Stille des Körpers offenbaret sich der gesetzte große Geist; der Mann, welcher den Dichtern ein Beyspiel der Tugend geworden ist […]“.66 Doch fehlte es nicht an launigen Attacken auf die stoisch moralisierende Herkules-Konfektionierung. Nicht erst der junge Goethe stellte in seiner Sturm- und Drang-Farce Gçtter, Helden und Wieland den Kraftkerl Herkules gegen Wielands nach der Fabel des Prodikos zugeschnittene Wahl des Herkules. 67 Schon in der Antike war der Aufenthalt des Herkules bei der Königin Omphale68 zum erotischen Abenteuer umgedeutet worden.69 Die wohl amüsanteste, auf einem kleinformati66 Johann Joachim Winckelmann: Torso-Beschreibung in: Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, 5,1 (1762), in: Frhklassizismus, hg. von Helmut Pfotenhauer u. a. (Bibliothek der Kunstliteratur, hg. von Gottfried Boehm und Norbert Miller, Bd. 2), Frankfurt 1995, S. 187. Zu Winckelmanns stoischer Laokoon-Deutung vgl. den nachstehenden Beitrag von Barbara Neymeyr, bes. S. &&. 67 Hierzu: S. &&. 68 Einen Überblick über die literarischen und bildlichen Zeugnisse gibt Frank Brommer: Herakles II (wie Anm. 2), S. 126 – 128. 69 Die im Humanismus beliebten Mythologiae des Fabius Planciades Fulgentius (6. Jh. n. Chr.) – Jakob Locher veranstaltete 1521 sogar eine neue Prachtausgabe, weitere frühneuzeitliche sowie moderne Ausgaben verzeichnen Kray/Oettermann (Anm. 1), Nr. 4409 – 4413 – setzen Omphale allegorisch geradezu mit der libido gleich (Mythologiae II, 2). Coluccio Salutati nimmt in seiner Schrift De laboribus Herculis ausdrücklich diese Allegorese aus der Darstellung des Fulgentius auf: „In dieser Sache will ich die Feststellung des Fulgentius nicht ändern, vielmehr stimme ich ihm völlig bei, daß Omphale die libido figürlich repräsentiere“ – „In qua quidem re nolo Fulgentii sententiam immutare, sed plane secum sentio Omphalem tenere figuram libidinis“, und er zitiert ihn wörtlich: „[…] daß dennoch die libido selbst die noch unbezwungene virtus besiegen könne“ – „dicamus cum codem Fulgentio per hanc ostendi fabulam ,quod libido quamvis, etiam invictam, possit superare virtutem‘“ (C. Salutati, wie Anm. 49, S. 316 und S. 317). Zur bildlichen Überlieferung: Stefanie Oehmke: Entwaffnende Liebe. Zur Ikonologie von Herakles/Omphale-Bildern anhand der Gruppe Neapel – Kopenhagen, in: IdI 115, 2000, S. 147 – 197. Zum – oft komödiantisch gefärbten – Aufenthalt des Herkules bei Omphale vgl. Diodor 4, 31 und Apollodor 2, 6, 3; vgl. Roscher, Mythologisches Lexikon III. 1 Art. Omphale, S. 870 f. (K. Tümpel); Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae (LIMC), Artikel Omphale ( John Boardman); Kray/Oettermann (wie Anm. 1), s.v. Omphale; Konrad Schauenburg: Herakles und Omphale, in: Rheinisches Museum für Philologie 103, 1960, S. 57 – 76 (zum Rollentausch). Den Rollentausch inszeniert noch eine Partie des großen Deckenfresko im Herkulessaal des Wiener Palais Liechtenstein: Omphale ergreift die Keule des Herkules, er hält Spinnrocken und Spindel in Händen; Georg Poensgen: Hercules und

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gen Elfenbein-Relief der Rokokozeit erhaltene Darstellung inszeniert gegen alles Tugend- und Kolossalpathos des ausklingenden Barock diese ganz und gar nicht stoisch brauchbare Episode aus dem Leben des Herkules, in der Omphale ihn seiner heroischen virtus, wenn auch nur vorübergehend, zu entfremden wußte. Während ein kleiner Amor auf der beiseitegelegten Keule des Herkules herumturnt, streift die nackt auf dem Schoß des Herkules sitzende Dame dem aus der Fassung gebrachten Helden mit der einen Hand das übergestülpte Löwenhaupt vom Kopf, mit der anderen greift sie nach dem enorm langen Schwanz – des Löwen. Offensichtlich ist es nicht mehr, wie in Ripas stoisch allegorisierender Darstellung, die virtus, die im Naturzustand erscheint, weil sie sich mit dem bloßen Menschsein begnügt.

Omphale. Zu einem neuerworbenen Gemlde des Kurpflzischen Museums, in: Bibliotheca docet. Festgabe fr Carl Wehmer, Amsterdam 1963, S. 303 – 334 (mit zahlreichen Beispielen). Von den literarischen Quellen sind vor allem zu nennen: Ovid, Heroinenbriefe 9, V. 59 – 83. (Dort das noch in der RokokoDarstellung erkennbare Motiv, daß Omphale dem verliebten Mann seine Trophäen stiehlt). In Lukians dreizehntem Gçttergesprch, einem satirischen Streitgespräch zwischen Äskulap und Herkules, trumpft Äskulap damit auf, er sei „nie von einer Omphale mit einem goldnen Pantoffel um die Ohren geschlagen worden“ – das ist die am weitesten gehende Gegenszene zu Herkules als dem Inbegriff stoisch-männlicher virtus. Eine gute Übersicht zum Thema ,Herkules und Omphale‘ in der römischen Kunst gibt Stefan Ritter (wie Anm. 4), S. 101 f. und S. 171 – 181. In der galanten Kultur des Rokoko erfreute sich die Omphale-Episode außerordentlicher Beliebtheit, wie die zahlreichen bildlichen Darstellungen zeigen, und entsprechend wird der in der ProdikosFabel wie generell in der stoischen Überlieferung strenger Observanz ausgeprägte Gegensatz zwischen virtus und voluptas aufgehoben. Das Titelkupfer der Hallenser Gedichtsammlung von Christian Friedrich Hunold aus dem Jahr 1718 inszeniert Herkules an einem Scheideweg, dessen eine, schwierig zu begehende Abzweigung zu Weisheit und Tugend führt – die andere, bequem erscheinende Abzweigung führt aber zum gleichen Ziel, zwar nicht so zuverlässig, dafür aber „auf eine leichte und vergnügliche Manier“. Menantes (d.i. Christian Friedrich Hunold): Auserlesene und noch nie gedruckte Gedichte unterschiedener berhmten und geschickten Mnner. Halle 1718. Vgl. Wilhelm Voßkamp: Das Ideal des Galanten bei Christian Friedrich Hunold, in: Europische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert, hg. von August Buck u. a., Hamburg 1981 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 9), Bd. 2, S. 61 ff. Im Prolog seiner Oper Samson von 1730 läßt Voltaire den Herkules im Hinblick auf sein seit der frühchristlichen Literatur (vgl. u. a. Augustinus, De civitate dei 18,19) feststehendes biblisches Pendant Samson versichern, der Held könne auch in den Armen der Wollust die „Vertu“ anbeten.

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Jacob Dobbermann: Omphale auf dem Schoß des Herkules, 18. Jh., Kassel, Schloss Wilhelmshöhe

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Die pädagogische Verwendung der Prodikos-Fabel im neuzeitlichen Erziehungswesen. Ihre bildlichen, dramatischen und musikalischen Repräsentationen In der lateinisch geprägten Kultur der frühen Neuzeit war die stoische Formierung der Fabel des Prodikos von ,Herkules am Scheidewege‘durch Ciceros Schrift De officiis sanktioniert. Schon die Kirchenväter zogen sie intensiv heran, und seit Petrarca und vollends seit dem Jahr 1465, in dem sie als eines der ersten Literaturwerke im neuerfundenen Druck erschien, entfaltete sie eine immense Wirkung. Über alles im engeren Sinn Moralische und Moralphilosophische hinaus hatte Cicero der stoischen virtus durch die immer wieder hervorgehobene Verpflichtung auf das Gemeinwesen eine staatsmännische Würde verliehen. Den historischen Hintergrund bildete die Verrohung und das hemmungslose persönliche Machtstreben der führenden Politiker in der Spätzeit der römischen Republik: Insofern handelt es sich um eine beschwörende Mahnschrift. In diesem Kontext empfiehlt Cicero auch die stoische „temperantia“ und die „völlige Beherrschung der Leidenschaften“ („omnisque sedatio perturbationum“, I 93), um dann, mit ausdrücklicher Berufung auf Xenophons Darstellung, die Fabel des Prodikos von Herkules am Scheidewege zu skizzieren (I 118).70 Der Bezug zur „honestas“ – schon in Xenophons Erzählung der ProdikosFabel ist die til¶ wesentlich71 – und zum „ornatus vitae“ machte das stoische Ethos für die Neuzeit gewissermaßen hoffähig, die ebenfalls schon in Xenophons Erzählung der Fabel wichtige Verpflichtung auf das Gemeinwesen rückte es in die Sphäre übergeordneter staatlicher Verantwortlichkeit, und da ohnehin Herakles seit der Antike sowohl als stoischer Tugendheld wie als Identifikationsfigur der Kaiser72 approbiert war, ließ sich in dieser Verbindung auch die Fabel des Prodikos für Fürsten, Könige und Kaiser modellhaft verwenden, nicht zuletzt als Fürstenspiegel für die Erziehung künftiger Herrscher. Immer ist es der jugendliche Herkules („cum primum pubesceret“, schreibt Cicero), der in den künstlerischen Darstellungen der Szene „am Scheidewege“ seinen künftigen Lebensweg zu wählen hat. Er muß sich entscheiden 70 Zur politisch-historischen Intention vgl. Willibald Heilmann: Ethische Reflexion und rçmische Lebenswirklichkeit in Ciceros Schrift ,De officiis‘. Ein literatursoziologischer Versuch (Palingenesia 17). Wiesbaden 1982. 71 Vgl. Anm. 37. 72 Vgl. Anm. 10 und Anm. 22.

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zwischen „Genuß“ und „Tugend“ – Cicero nimmt die Begriffe „Voluptas“ und „Virtus“. Xenophon bevorzugte in seiner Erzählung der Prodikos-Fabel die Opposition jaj¸a – !qet¶, aber schon aus seiner Darstellung ergibt sich, daß jaj¸a, die „Schlechtigkeit“, die er aus Hesiods Erzählung von den zwei Wegen übernimmt (Hesiod spricht von jajºtgr) und von der es ausdrücklich heißt, sie werde nur von ihren Feinden so genannt, mit der Bdom¶ gleichzusetzen ist.73 Cicero setzt Bdom¶ explizit in terminologischer Absicht mit voluptas gleich.74 Schon Xenophon hätte die Prodikosfabel nicht gegen Aristipps Genußphilosophie ausspielen können, wenn es nicht wesentlich um den Genuß, um Bdom¶ (voluptas) gegangen wäre. Die immense neuzeitliche Rezeption der Prodikos-Fabel läßt ein ganzes Spektrum von Bedeutungsnuancen insbesondere des virtus-Begriffs erkennen, je nachdem ob ein mehr von der christlichen Tradition, vom Renaissance-Humanismus, von höfisch-gesellschaftlichen oder schließlich von den aufklärerisch-pädagogischen Interessen des 18. Jahrhunderts bestimmter Autor, Maler oder Komponist Herkules als „Exemplar Virtutis“ interpretierte. Oft genug auch kommen die verschiedenen Aspekte miteinander ins Spiel. Eine Schlüsselposition für die neuzeitliche Verbreitung der Prodikos-Fabel erhielt Sebastian Brants Narrenschiff. Brant benutzte in seinem 1494 erschienenen Werk die Version, die der Kirchenvater Basilius der Fabel gegeben hatte.75 Obwohl er sie eher beiläufig einbezieht, erweckte die außerordentliche Popularität seines nicht nur im deutschen Sprachraum, sondern auch in den anderen europäischen Sprachen weitverbreiteten Werks die Fabel des Prodikos zu neuem Leben. Nicht zuletzt wirkte die bildliche Darstellung der Szene ,Herkules am Scheidewege‘ fort, die Jacob Locher seiner lateinischen Übersetzung Stultifera navis (Basel 1497) beigab. Der Holzschnitt zeigt im Vordergrund einen schlafenden Ritter, dem im Traum die beiden Frauengestalten Virtus und Voluptas erscheinen. Daß er zwischen beiden zu wählen hat, macht der sich in der Form des Y gabelnde Weg sinnfällig. Daß er träumt, scheint nicht auf eine bewußte Entscheidung und auf eine willentliche Wahl zu deuten. Der Weg, der 73 Alpers (Anm. 9) belegt, daß auch im Griechischen jaj¸a gegen Bdom¶ ausgewechselt und somit die scharfe moralische Abwertung vermieden wurde (S. 34 – 36). 74 Vgl. Anm. 96. 75 Abdruck der Darstellung des Basilius, dessen Version schon Alpers (S. 44,S. 58) mit derjenigen Xenophons korreliert hatte, bei Panofsky, S. 53.

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zur kokett sich entblößenden Voluptas führt, ist glatt, derjenige zu der bis über den Kopf verhüllten und mit Attributen des Spinnens und Webens versehenen76 Virtus mit Steinen übersät. Hinter der von Rosen umgebenen Voluptas gestikuliert ein Knochengerippe und über ihrem Haupt entlädt sich ein Unwetter; Virtus steht in einem Dornengestrüpp, doch über ihr öffnet sich der Sternenhimmel – eine Versinnbildlichung der Devise „per aspera ad astra“. Sie wurde immer wieder auf die von Mühen und Arbeit bestimmte Lebensbahn des Herakles zum ewigen Ruhm gedeutet, umso mehr als Herakles selbst auch ein Sternbild ist. Den ausdrücklichen Bezug zu der seit der Prodikos-Fabel vorgegebenen Wahl des Herakles am Scheidewege stellt der unter dem Bild plazierte erläuternde Text her. Locher erweiterte seine lateinische Version, indem er das Streitgespräch zwischen Tugend und Laster, die Concertatio Virtutis cum Voluptate, mit Partien aus einer entsprechenden Darstellung des Silius Italicus (2. Jh. n. Chr.) 77 in dessen Epos Punica anreicherte78, das in der Re76 In der rechten Hand hält Virtus einen Spinnrocken, auf der anderen Seite sieht man zu ihren Füßen einen Behälter mit Spindeln. Zum Weben und Spinnen als Inbegriff tugendhafter Vita activa vgl. Dieter Wuttke: Die „Histori Herculis“ des Nrnberger Humanisten, Freundes der Gebrder Vischer, Pangratz Bernhaubt geb. Schwenter. Köln/Graz 1964 (Archiv für Kulturgeschichte, Beiheft 7): Die nach dem Vorbild von Sebastian Brant und Locher entworfene Histori Herculis zeigt die Virtus nicht nur in einem Holzschnitt beim Spinnen (Wuttke, Abb. 7), sondern inszeniert sie auch entsprechend in dem bei Wuttke abgedruckten Text: „unter der / gurtel ein rocken tragende, die fedem da von ausz / zuspinnen, das sie icht mussig erfunden wurde“ (S. 11). 77 Hierzu Vittorio d’Agostino: La favola del bivio in Senofonte, in Luciano e in Silio Italico, in: Rivista di Studi Classici 2, 1954, S. 173 – 184. Zur weiterreichenden Antithese von Epikureismus und Stoizismus vgl. schon O. Occioni: Caio Silio Italico e il suo poema, Florenz 1871, S. 79: „Richiama a mio vedere la lotta delle due scuole de filosofia principali di Roma, l’epicurea e la stoica, e la preeminenza di questa, alla quale apparteneva il poeta“. Zur speziell stoischen Prägung bei Silius Italicus: Edward L. Bassett: Hercules and the Hero of the Punica, in: The Classical Tradition. Literary and Historical Studies in Honor of Harry Caplan, ed. by Luitpold Wallach, Cornell University Press, Ithaca, New York 1966, S. 258 – 273. Vgl. auch: Michael von Albrecht: Silius Italicus: Freiheit und Gebundenheit rçmischer Epik, Amsterdam 1964. 78 Vergleichender Abdruck der Textpartien aus den Punica des Silius Italicus, auf die bereits Alpers hingewiesen hatte (Punica XV, V. 18 ff.), und Jacob Lochers ,Concertatio‘ bei Panofsky, S. 70 – 75. Silius Italicus, der die Prodikos-Fabel umkodierte, indem er an die Stelle des Herkules den in Rom als Muster aller Tugenden geltenden Scipio Africanus setzte (Alpers S. 34), wirkte in Lochers Holzschnitt insofern nach, als hier im Vordergrund sich ein träumender Held

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Jacob Locher, Stultifera navis, Basel 1497: Herakles am Scheideweg

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naissance bekannt und beliebt war, wie die zahlreichen Ausgaben bezeugen. Vollends ein neues, eigenes Gewicht gewann die Fabel des Prodikos, als sie zu einem weit verbreiteten dramatischen Spiel ausgestaltet wurde. Nach mehreren Vorgängern brachte Sebastian Brant selbst ein derartiges Spiel 1512 in Straßburg zur Aufführung. Die in der Antike vielleicht nicht fehlende, mindestens literarisch nahegelegte bildliche Darstellung79 der Szene ,Herkules am Scheidewege‘ sowie die befindet – eine Anspielung auf den träumenden Scipio in Ciceros Somnium Scipionis. Dieser Traum des Scipio steht in Ciceros Schrift De republica; sie wurde zwar erst im 19. Jahrhundert auf einem Palimpsest der Vatikanischen Bibliothek wieder entdeckt, aber das Somnium Scipionis war durch eine separate Überlieferung des spätantiken Autors Macrobius seit der Antike bekannt und berühmt. Wuttke (wie Anm. 76) weist S. 121 und S. 124 auf Enea Silvio Piccolomini, Filarete und Filelfo hin, die um die Mitte des Quattrocento die Fabel des Prodikos aufgreifen und dabei vom „schlafenden“ oder träumenden Herkules sprechen. Vgl. Panofsky, Hercules (wie Anm. 16), S. 189. Panofsky führt aus (S. 76), daß die Übertragung der Prodikos-Fabel von Herkules auf Scipio, die sich auch bei den Kirchenvätern verfolgen läßt, noch Raffaels Bild ,Traum des Ritters‘ zugrundeliegt, das deshalb ,Die Entscheidung des jungen Scipio Africanus‘ heißen sollte. Der Traum des Scipio ist bei Cicero ganz von einer Aufforderung zu staatsmännischer Virtus eingerahmt: um „das Gemeinwohl“, das „salus civitatis“ wahrzunehmen und „um das Staatswesen zu schützen“, „ad tuendam rem publicam“ (rep. VI, 12 u. 13) – „sunt autem optimae curae de salute patriae“ (VI, 29) – soll Scipio sich nicht „den körperlichen Genüssen“, den „libidinösen Genüssen“, den „corporis voluptatibus“ und den „libidinum voluptatibus“ hingeben (VI, 29), heißt es abschließend. Wie in der HeraklesFabel des Prodikos also handelt es sich um die Wahl zwischen einer hier ganz ins Staatsmännisch-Militärische gehenden Virtus und andererseits einer von dieser übergeordneten Verantwortung ablenkenden Voluptas. Vgl. die wichtige Studie von Andrew Runni Anderson: Heracles and his Successors; a study of a heroic ideal and the recurrence of the heroic type, in: Harvard Studies in Classical Philology 39, 1928, S. 7 – 58, zu Scipio besonders S. 31 – 37. 79 Vgl. Gruppe (wie Anm. 1), Sp. 1008/1009. Frank Brommer: Herakles II (wie Anm. 2) nennt unter den Szenen, die wir „nicht bildlich dargestellt kennen“, diejenige am Scheidewege (S. IX). Nahegelegt für einen hochgelehrten Humanisten wie Jacob Locher war die bildliche Darstellung durch de fin. II 69, wo Cicero den Stoiker Kleanthes das warnende Negativ-Bild einer herrscherlichen, prächtig gekleideten Voluptas entwerfen läßt, die von den Virtutes wie von Mägden bedient wird. Ausdrücklich wird dabei der Bildcharakter dieser Vorstellung hervorgehoben – geradezu von einer „tabula“ ist die Rede, die Kleanthes in Worten „male“: „Du wirst vor jenem Bild Scham empfinden, das Kleanthes sicherlich eingängig mit Worten zu malen pflegte. Er hieß seine Hörer bei sich selbst die auf dem Bild gemalte Voluptas zu bedenken, wie sie schönstens gekleidet und königlich geschmückt thront, während die Tugenden wie Mägde dabeistehn“ – „pudebit te illius tabulae, quam Cleanthes sane

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nun erstmalige Inszenierung als dramatisches Spiel wirkte durch Jahrhunderte in zahlreichen Bildern, in allegorischen Bühnenspielen und in opernhaften Versionen fort. Besonders erwähnenswert ist, daß Hans Sachs wohl zum ersten Mal in Deutschland auf Xenophon zurückgreift: in seinem 1556 erschienenen Kampf-gesprech Xenophontis, des philosophi, mit fraw Tugendt und fraw Untugendt, welliche die ehrlicher sey. 80 Zu den frühen Gestaltungen zählen diejenigen Dürers (1498), Lucas Cranachs (nach 1537) und Carraccis (nach 1590), es folgen Rubens, Poussin und viele andere, bis sich das 18. Jahrhundert im Zuge der Aufklärung des erzieherisch geeigneten Themas intensiv bemächtigte. Shaftesbury legte in seinen europaweit verbreiteten Characteristics of Men Manners, Opinions, Times (erstmals London 1711) bezeichnenderweise einen Schwerpunkt auf bildliche und szenische Präsentationen.81 In Deutschland entstanden die ersten Vertonungen, darunter eine erstmals 1733 aufgeführte Kantate von Johann Sebastian Bach nach einem Libretto von Picander, Händel bot eine oratorienhafte Version The Choice of Hercules in London (Erstaufführung 1751). In der Tradition des Fürstenspiegels schrieb Wieland, der als Erzieher des 17jährigen späteren Herzogs Karl August nach Weimar berufen worden war, sein Stück Die Wahl des Herkules, das dann alsbald als Singspiel in Weimar aufgeführt wurde. Nach einigen Opern, die vorzugsweise das Libretto Alcide al bivio von Metastasio zugrundelegten, verebbte das Thema mit einigen Nachzüglern im 19. Jahrhundert.82 Seit dem 18. Jahrhundert nehmen commode verbis depingere solebat. Iubebat eos, qui audiebant, secum ipsos cogitare pictam in tabula Voluptatem, pulcherrimo vestitu et ornatu regali in solio sedentem; praesto esse Virtutes ut ancillas […]“. Augustinus nimmt in De civitate dei (V 20) diese Darstellung Ciceros ausführlich auf. Die bildhafte Entgegensetzung von Virtus und Voluptas bestimmt auch die – noch von Goethe mehrfach genannte – Tabula Cebetis, die als allegorischer Bild-Typus wie als Bildbeschreibung eine lange Wirkungsgeschichte hat und immer wieder Herkules und sogar die Szene ,Herkules am Scheidewege‘ miteinbezieht. Vgl. Reinhart Schleier: Tabula Cebetis oder „Spiegel des menschlichen Lebens / darin Tugent und untugent abgemalet ist“. Studien zur Rezeption einer antiken Bildbeschreibung im 16. und 17. Jahrhundert. Berlin 1977. 80 Zahlreiche weitere Dramatisierungen der Prodikos-Fabel nennt Wuttke (wie Anm. 76), S. 202 – 219. 81 Shaftesburys A Notion of the Historical Draught or Tablature of the Judgement of Hercules wurde erstmals auf Französisch im Journal des Scavans 52 (Nov. 1712) und auf Englisch [London] 1713 veröffentlicht. Über Jahrzehnte hinweg erschienen zahlreiche Neuauflagen und Übersetzungen. 82 Vgl. hierzu die Angaben in: The Oxford Guide to Classical Mythology in the Arts, 1300 – 1990 s, ed. Jane Davidson Reid with the assistance of Chris Rohmann,

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auch enzyklopädisch inspirierte Sammelwerke mit historisierenden Zusammenstellungen von Herkules-Bildern aus allen Bereichen des Mythos83, insbesondere zur Fabel des Prodikos84 zu. Oft gewinnen die künstlerischen Darstellungen der Herkules-Gestalt wie auch speziell der durch die Fabel des Prodikos gegebenen Konstellation von Virtus und Voluptas einen durchaus ambivalenten Reiz. Er leitet sich von dem in der Renaissance erstmals seit der Antike wieder entdeckten und kultivierten Eigenwert der menschlichen Leiblichkeit her. Spätestens mit der Auffindung des Herkules Farnese, der nach seiner Aufstellung im öffentlich zugänglichen Belvedere Sensation machte, traf dies für die Gestalt des Herkules selbst zu, und nicht selten benutzten die Maler die von der Fabel des Prodikos moralisch legitimierte Konstellation, um die Figur der Voluptas gebührend ins Licht zu stellen. Während noch auf dem Holzschnitt in Jacob Lochers Stultifera Navis hinter der Voluptas-Figur ein gestikulierender Knochenmann die Hinfälligkeit alles Leiblichen signalisiert, kam schon wenige Jahrzehnte später kein Künstler mehr auf diese Idee, ganz im Gegenteil. Am Anfang des 18. Jahrhunderts, rückblickend auf eine Fülle bildlicher Darstellungen in den vorausgehenden Jahrhunderten, empfahl Shaftesbury, für die Repräsentation der „Virtue“ sollten sich die Künstler an Pallas Athene, für die Figur der „Pleasure“ an Venus orientieren, und er fährt fort: „The Historian whom we follow, represents VIRTUE to us as a Lady of a goodly Form, tall and majestick“. Pleasure, die er keineswegs rigide moralisierend als Laster (Vice) herabsetzt, stellt er sich so vor: „PLEASURE, on the other hand, by an exact Opposition, is represented in better case, and of a Softness of Complexion; which speaks her Manners, and gives her a middle Character between the Person of a VENUS, and that of a BACCHINAL Nymph“.85 Man ermißt an derartigen Ausführungen die hohe Bedeutung, die in der Neuzeit gerade das Medium des Bildes sowohl für die Volume 1, New York/Oxford 1993, Artikel Heracles, sowie Kray/Oettermann (wie Anm. 1). 83 Hercules ethnicorum ex variis antiquitatum reliquiis delineatus. Additis in fine modernis quibusdam eiusdem argumenti picturis, proponente Laurentio Begero. Augustissimi regis Borussiae. MDCCV. Das Werk ist auf Mikrofiches zugänglich (published by the Leopoldo Cicognara Program at the University of Illinois Library in association with the Vatican Library). 84 Carl August Boettiger: Hercules in bivio e Prodici fabula et monumentis priscae artis illustratus, Lipsiae 1829. 85 Zitiert aus der in Anm. 81 angegebenen Schrift nach der 6. Ausgabe der Characteristicks, Vol. 3, 1737, S. 364.

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Verbreitung und Wirkung der Prodikos-Fabel wie für die Wertungsstrategien gewann. Auch die durch mythologisierende und allegorisierende Darstellung erzeugten Stereotypisierungsmöglichkeiten werden erkennbar. In vielfältiger Weise konnte man dabei an die antiken Versionen der Prodikos-Fabel anschließen, denn nicht genug tun können sich schon zahlreiche antike Autoren, sowohl die Gestalt der Virtus wie die der Voluptas samt ihrer Kleidung und sonstigen Ausstattung auszumalen.86 Einen kuriosen Sonderweg gehen manche christliche Autoren: Weil sie die Schönheit dieser Welt um des Jenseits willen abwerten, verleihen sie der Virtus eine unansehnliche Gestalt.87 Aufgrund ihrer einfachen antithetischen Struktur (virtus – voluptas) wie aufgrund der überragenden mythischen Vorbild-Figur war die Fabel des Prodikos vom antiken über den humanistischen Schulbetrieb88 bis hin zu den vielfältigen pädagogischen Engagements des 17. und 18. Jahrhunderts als „Nummer“ idealtypisch geeignet. Überdies begünstigte ihre Affinität zu der seit der frühchristlichen Zeit über das Mittelalter bis in die Neuzeit verbreiteten Vorstellung einer „Psychomachie“ die Einbeziehung in den Moral-Diskurs zwischen „Tugend“ und „Laster“.89 Johann Amos Comenius, ein geistlicher Volkserzieher, Bischof der böhmischen Brüdergemeinde und Leiter ihres Schulwesens, der in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges durch mehrere Länder Europas kam und mit seinen pädagogischen Schriften und Lehrbüchern großen Einfluß auf das europäische Bildungswesen gewann, machte die Fabel des Prodikos zur Schullektüre. Er räumte ihr einen Platz in seinem erstmals 1658 in Nürnberg erschienenen bebilderten Lehrbuch Orbis 86 Belege sammelt Alpers (wie Anm. 9) S. 51 – 56. 87 Alpers, S. 52. In der Histori Herculis (vgl. Anm. 76) präsentiert sich die „tugent“ mit den Worten: „Greuslich bin ich, dapffer, ungestalt, pleich und alt, / Hart, ein feint der posheith, gerecht, schamich“. (S. 14, Z. 9 f.). Entsprechend drastisch stellt der beigegebene Holzschnitt die Figur der Virtus dar (Wuttke, Abb.7). 88 Ein deutsches Beispiel mit sprechendem Titel: Johannes Spangenberg: Xenophontis Hercules carminice redditus. In gratiam puerorum nobilium Buxlebiorum, in: Bellum grammaticale, Wittenberg 1534 und Leipzig 1541. 89 Die in 915 Hexametern verfaßte Psychomachia des Prudentius (geb. 348), des größten christlichen Dichters im lateinischen Altertum, hatte über viele Jahrhunderte eine enorme Wirkung und strahlte in zahlreiche künstlerische Darstellungen aus. Vgl. Adolf Katzenellenbogen: Allegories of the Virtues and Vices in Mediaeval Art from Early Christian Times to the Thirteenth Century. New York 1964; Jacques Houlet: Les Combats des Vertus et des Vices. Les Psychomachies dans l’Art. Paris 1969.

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sensualium pictus ein. Dieses Bilderbuch wurde bis um 1750 ungefähr 150 mal neu aufgelegt. In 24 Sprachen übertragen, war es in ganz Europa das erfolgreichste Lehrbuch der Neuzeit. Noch Goethe und Herder lasen im Kindesalter dieses in Deutschland am weitesten verbreitete Schulbuch. Die illustrierte Entscheidung des Herkules versah Comenius mit dem Kommentar „Ahmt Hercules nach“. Die erzieherische Tendenz, die ganz allgemein von den Anfängen der Stoa bis zum neuzeitlichen Stoizismus konstitutiv ist90, reichte von der Schul- und Universitätssphäre bis in die höfische Sphäre der Fürstenerziehung, in der die Fabel des Prodikos einen eigenen Appellcharakter erhielt. Denn Herkules diente zwar aufgrund seiner überragenden heroischen Kraft, seiner mythischen Größe und nicht zuletzt dank seiner Apotheose der Glorifizierung von Fürsten und Königen, aber der erzieherische Appell an die sittliche „Virtus“ gewann auch eine regulative Funktion insbesondere im Zeitalter des Absolutismus. Er verpflichtete den Herrscher, der sich im Extremfall als „lege solutus“ verstand, doch auf Normen und mahnte angesichts eines oft luxuriösen Hoflebens eine sittliche Haltung an. Ein spätes und aufschlußreiches Zeugnis hierfür ist das Singspiel Die Wahl des Herkules, das Wieland nach seiner Berufung als Prinzenerzieher in Weimar verfaßte.91 Wieland nahm es in die Ausgabe seiner sämtlichen Werke von 1796 mit folgendem Zusatz auf: Ein lyrisches Drama. In Musik gesetzt von Anton Schweitzer und am 17ten Geburtstage des damahligen Herrn Erbprinzen von Sachsen-Weimar und Eisenach auf dem Hoftheater zu Weimar im Jahre 1773 aufgefhrt. 92 In einem langen Auftrittsmonolog des jugendlichen Herkules gestaltete er den Antagonismus von Voluptas und Virtus als Psychomachie: als Seelenzwiespalt des Helden selbst. Damit psychologisierte er das Spiel, so daß der dann folgende Auftritt der beiden allegorischen Kontrahentinnen als projektive Ausfaltung des inneren Vorgangs erscheint. Bis in die Nuancen folgt Wieland Xenophons Darstellung der Prodikos-Fabel. Zwar übernimmt er sowohl die RollenBezeichnungen „Kakia“ und „Arete“ wie auch die von Xenophon 90 Vgl. Georges Pire: Stoicisme et pdagogie. De Znon  Marc-Aurle. De Snque  Montaigne et  J.–J. Rousseau. Liège-Paris 1958. 91 Zu Wielands aufklärerisch-skeptischer Auseinandersetzung mit dem Stoizismus in seinen anderen Texten vgl. den Beitrag von Dieter Martin im vorliegenden Werk. 92 C. M. Wielands Smmtliche Werke. Sechs und zwanzigster Band. Singspiele und Abhandlungen. Leipzig bey Georg Joachim Göschen. 1796. (Neudruck in: C. M. Wieland: Smtliche Werke VIII. Hamburg 1984).

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beigefügten Definitionen der Kakia, aber er relativiert die vom Wortsinn (und letztlich von Hesiods „Kakotes“) her nahegelegte rein pejorative Bedeutung „Schlechtigkeit“, um ein eng ,moralisches‘ Mißverständnis zu vermeiden: Er läßt die „Kakia“ sich selbst als „Freude“ (Bdom¶) und sogar als „Eudämonia“ bezeichnen93, allgemeiner als „Genuß“. Der zentrale Gegensatz ist der zwischen passivem „Genießen“ und aktivem „Tun“94. Und wie schon bei Xenophon und dann bei Cicero soll das Tun, das „Arbeit“ und „Mühen“ mit sich bringt, im Dienste der Menschheit stehen95, von staatsmännischer Verantwortung getragen und auf „Ehre“ angelegt sein – die erzieherische Botschaft an den jungen Weimarer Erbprinzen, den späteren Herzog Karl August, Goethes Freund und Landesherrn, war deutlich genug.

Problematisierungen des strengen Tugendideals in Antike und Renaissance. Die Neuformierung des stoischen Herkules bei Schiller und Hölderlin Im Zusammenhang mit der stoisch-kynischen virtus-Lehre strenger Observanz ergaben sich grundsätzliche Schwierigkeiten für die Darstellung des stoischen Musterhelden. Schon in der Antike galt die radikale Opposition von Tugend und Lust, wie sie in der Prodikos-Fabel zum Ausdruck kommt, als problematisch. In der Florentiner Renaissance mußte sie es umso mehr sein. Denn die Renaissance vertrat keineswegs ein einseitig asketisches Tugendideal. Ihr Ideal war sowohl der ganzheitlich gebildete wie der schon in seiner Natur harmonisch verfaßte Mensch, der sich körperlich wie geistig und sittlich vollendet. Deshalb fand es etwa Cristoforo Landino im Kontext seines an der Gestalt des Herkules exemplifizierten stoischen virtus-Preises doch angezeigt, in seinen Disputationes Camaldulenses die Alternative virtus – voluptas zu entschärfen. Obwohl er den Stoikern grundsätzlich besonderen Respekt zollt, gibt er zu bedenken, daß die Menschen aufgrund

93 S. 165. 94 S. 166 sagt Herkules zu Kakia: „Du sagst mir, Göttin, nur was deine Freunde / G e n i e ß e n; sage mir auch, was sie t h u n“. 95 S. 170: „Sey ein Wohlthäter / Der Menschheit, lebe, schwitze, blute / In ihrem Dienst“.

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ihrer sinnlichen Natur auch auf die Lust (voluptas96) angelegt seien, es komme nur darauf an, diese naturhaft gegebene Disposition durch Mäßigung (temperantia97) und Zügelung (moderatio) zu regulieren. Auf keinen Fall sei der Körper zu vernachlässigen („Quam ob rem nullo pacto negligenda est cura corporis“98), aber – und hier liegt wieder der Gedanke an Herkules nahe – doch eher, um Arbeiten bewältigen zu können („ut … laboribus superesse possit“). Immerhin geht er so weit, dem von den Kirchenvätern und der Orthodoxie bis zum Beginn der Neuzeit verteufelten Epikur99, der mit seinem Bekenntnis zum Lustprinzip eigentlich nur das Wohlbefinden als Freiheit von Schmerz im Sinn hatte, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Epikur erlaubte die sinnlichen Bedürfnisse in bescheidenem Maße zu befriedigen. Diese Ausführungen gipfeln in der Empfehlung der temperantia an Lorenzo di Medici.100 Damit entspricht Landino der von Cicero – seit Petrarca ein Hauptgewährsmann der Humanisten – verfolgten Strategie, die Extreme zu vermeiden: einerseits das hart-asketische virtus-Ideal einiger Hauptvertreter der alten Stoa und insbesondere der Kyniker, andererseits die gänzliche Orientierung auf voluptas. Vor allem in der Schrift 96 Ciceros Definition lautet: „Kein Wort kann gefunden werden, das auf Latein mehr dasselbe besagt wie auf Griechisch [Bdom¶], als voluptas. Dieses Wort gilt insgesamt für zwei Bereiche: für das seelische Wohlgefühl und die süße Empfindung körperlichen Genusses“ – „Nullum inveniri verbum potest, quod magis idem declaret Latine, quod Graece [Bdom¶], quam declarat „voluptas“. Huic verbo omnes duas res subiciunt, laetitiam in animo, commotionem suavem iucunditatis in corpore“ (De finibus bonorum et malorum II 13). Zur Spannung zwischen virtus und voluptas fin. II 37: „Die Genüsse, die überaus verführerisch ihre Macht ausüben, entfremden zum größeren Teil die Geister der virtus“ –„voluptates, blandissimae dominae, maioris partis animos a virtute detorquent“. 97 Ciceros Definition: „Diese (die Mäßigung) ist eine der ratio gehorchende Bezähmung der Begierden“ – „quae (temperantia) est moderatio cupiditatum rationi oboediens“ (fin. II 60). Die temperantia ist wie andere Tugendhaltungen naturgegeben: „[…] nobis cum a natura constantiae, moderationis, temperantiae, verecundiae partes datae sint“ (De officiis I 98). 98 Disputationes Camaldulenses, S. 242. 99 Hierzu die ausgezeichnete Darstellung von Wolfgang Schmid, Artikel Epikur, in: Reallexikon fr Antike und Christentum, Bd. 5, Sp. 681 – 819. Vgl. auch meinen Aufsatz: Fr und wider die Lust: Epikur und Antiepikureismus von der Antike bis zur Moderne. Mit einem Versuch ber Hieronymus Boschs Garten der Lste. In: Aufklrung und Gegenaufklrung in der europischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, hg. von Jochen Schmidt, Darmstadt 1989, S. 206 – 219. 100 S. 242.

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De finibus bonorum et malorum hatte Cicero die einseitigen Extrempositionen gegeneinander ausgespielt, um nach peripatetischer Methode eine mittlere Position zu bevorzugen.101 Dabei hatte er auch auf ein Grundproblem der älteren Stoa hingewiesen: Wenn nach stoischer Lehre die Allnatur das Dasein bestimmt und „naturgemäß leben“ die wichtigste Lebensregel ist, warum soll man dann die doch ebenfalls naturgegebenen Affekte so rigoros im Namen der virtus bekämpfen und die voluptas als das naturgegebene sinnliche Bedürfnis negieren? Die strikt auf eine Alternative angelegte Entscheidung des Herakles am Scheidewege hätte im Hinblick auf eine derartige Widersprüchlichkeit102 des altstoischen Systems den Anspruch als vorbildhafte Konstellation kaum behaupten können. Nur zu bestimmten Zwecken und in besonderen Zusammenhängen – das zeigt Ciceros positiv gemeinte Berufung auf die Fabel des Prodikos in der Schrift De officiis – konnte sie eine modellhafte Funktion erhalten: in der Jugenderziehung und im Bereich der Pflichten und der Verantwortung für das Gemeinwesen. Eine neue Qualität kommt der Paradigmatisierung der HerkulesFigur bei Schiller und in Hölderlins frühen Hymnen aus dem Horizont idealistischen Denkens zu. Sie betrifft auch die stoische Konstellation von virtus und voluptas. War Herakles schon bei Pindar aufgrund der für die Menschheit vollbrachten Taten als durch seine !qet¶ ausgezeichneter Heros103 und dann in der Stoa als Tugend-Held idealisiert worden, so rückt er nun in eine weitergehende idealistisch-geschichtsphilosophische Perspektive. Sie ist von einem emphatischen Vollkommenheitsdenken bestimmt. Die alte Vorstellung von der Apotheose, die dem Herakles als Lohn für seine übermenschlichen 101 Entsprechend besagt die Kritik Ciceros, die stoische Ethik beziehe das höchste Gut, das summum bonum „nicht auf den Menschen in seiner Ganzheit, sondern auf einen Teil des Menschen“ – „non in toto homine, sed in parte hominis“ (fin. IV 33). 102 Cicero pointiert die Widersprüchlichkeit der strengen stoischen virtus-Lehre, indem er sagt, daß ihr zufolge „leben in Übereinstimmung mit der Natur“ heiße, „sich entfernen von der Natur“: „Ergo id est convenienter naturae vivere, a natura discedere“ (fin. IV 41). Mit seiner Kritik an den Stoikern zielt Cicero auf Synthese: „Statt einer Einheit lassen sie uns zweierlei zur Wahl, damit wir das eine ergreifen, das andere vermeiden, während sie doch eher beides auf ein Ziel hin zusammenfügen sollten“ – „duo nobis opera pro uno relinquunt, ut alia sumamus, alia expetamus, potius quam uno fine utrumque concluderent“ (fin. IV 39). 103 Pindar, Erste Nemeische Ode, V. 33 – 74.

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Taten zuteil wird104, wandelt sich zum Inbegriff einer aufgrund menschlich-autonomer Leistung errungenen Selbststeigerung zum Höchsten. Bei Schiller allerdings kommt im Aufstieg des Herakles zur Unsterblichkeit eine eigentümliche Ambivalenz zum Vorschein. Denn in der Apotheose wird er zwar zum „Gott“, aber die Vollkommenheit erreicht er weniger aufgrund seiner irdischen Lebensleistung als dadurch, daß er sich von allem Irdischen entfernt. Schiller ordnet die Apotheose des Herakles ganz in die Antinomie von Realität und Idealität ein, um die Überwindung alles realen „Lebens“ als ideales Ziel zu bestimmen. In seinem großen Gedicht Das Ideal und das Leben, das in zwei Herakles-Strophen gipfelt und endet, ist die Erhebung des Herkules zum Olymp, seine Apotheose, nicht die Krönung seines Lebens, sondern die endgültige Ablösung vom Leben. Das Gedicht definiert die virtus nicht als vorbildliche Lebensbewältigung, vielmehr dient sie dazu, dieses von Kampf und Arbeit beschwerte und sogar vielfältig erniedrigte Dasein hinter sich zu lassen. Durch den Strophensprung bringt Schiller auch formal den Hiat zwischen den beiden getrennten Bereichen zum Ausdruck105 : Tief erniedrigt zu des Feigen Knechte Ging in ewigem Gefechte Einst Alcid des Lebens schwere Bahn, Rang mit Hydern und umarmt’ den Leuen, Stürzte sich, die Freunde zu befreien, Lebend in des Totenschiffers Kahn. Alle Plagen, alle Erdenlasten Wälzt der unversöhnten Göttin List Auf die will’gen Schultern des Verhaßten, Bis sein Lauf geendigt ist – Bis der Gott, des Irdischen entkleidet, Flammend sich vom Menschen scheidet Und des Äthers leichte Lüfte trinkt. Froh des neuen ungewohnten Schwebens, Fließt er aufwärts und des Erdenlebens Schweres Traumbild sinkt und sinkt und sinkt. Des Olimpus Harmonien empfangen Den Verklärten in Chronions Saal, 104 Pindar, Erste Nemeische Ode, V. 69 – 74. Das früheste Zeugnis bei Homer, Odyssee, 11. Gesang, V. 602 – 604. 105 Das Ideal und das Leben, in: Friedrich Schiller: Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. von Otto Dann u. a., Bd. 1: Gedichte, hg. von Georg Kurscheidt, Frankfurt 1992, S. 156 (V. 131 – 150).

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Und die Göttin mit den Rosenwangen Reicht ihm lächelnd den Pokal.

Die in der Aufklärung ausgebildete und von Kant zum philosophischen Postulat erhobene Vorstellung der Autonomie verbindet sich für den noch ein Stück weit in Schillers Spuren gehenden jungen Hölderlin mit einem entschiedenen, von Seneca schon vorgegebenen Voluntarismus106 und einem aus der Willenskraft hervorgehenden Tatstreben.107 Hier bot sich die Gestalt des Herkules an, der sich wie kein anderer mythischer Heros durch seine Taten ausgezeichnet hatte. Hölderlins frühe Hymnen beziehen ihn immer wieder ein, seine Hymne an die Menschheit preist die dem Herakles zuteilgewordene „Hesperidenwonne“ (V. 4) ineins mit dem so deutlich an Schiller erinnernden „Elysium“ (V. 12), sie betont den Autonomie-Gedanken: „das Götterglück, sich eig’ner Kraft zu freu’n“ (V. 66), und beschwört den stoischen „Gott in uns“, den „deus internus“, mit den Worten „Zum Herrscher ist der Gott in uns geweih’t“ (V. 80), um mit dem Vers zu schließen: „Und zur Vollendung geht die Menschheit ein“ (V. 88). Herkules als Vorbild männlicher Selbstverwirklichung zwischen Jugend- und ErwachsenenAlter, wie es die Prodikos-Fabel entworfen hatte, bestimmt die Hymnen An Herkules und Dem Genius der Khnheit. Beide sind ganz von Schillers heroisch-idealistischer Willensspannung und von Tatbereitschaft erfüllt. Wesentliche Elemente der römisch-heroischen Formierung stoischer Lebenshaltung gehen schließlich in die Hymne Das Schicksal ein, zugleich aber hebt Hölderlin den aus der starren Opposition von virtus und voluptas resultierenden moralischen Rigorismus auf. Am Leitfaden stoischer Grundbegriffe entwirft er zuerst die Menschheitsgeschichte, er 106 Seneca betont die Willensleistung besonders in seiner Schrift De beneficiis (I 5.6; II 35; VII 15; IV 21) und in den Briefen an Lucilius (Epist. 16,1: „Dem beharrlichen Fleiß ist die Stärke hinzuzufügen, damit zu einer guten Geisteshaltung wird, was guter Wille ist“ – „adsiduo studio robur addendum, donec bona mens sit, quod bona voluntas est“; 34,3; 71,36; 80,4: „Was mußt du tun, um gut zu sein? Wollen!“ – „Quid tibi opus est, ut bonus sis? velle“; 116,8). Bona voluntas und virtus gehören zusammen: De beneficiis IV 21; V 3,2 (vgl. Epist. 92,3).Vgl. André-J. Voelke: L’ide de volont dans le stocisme. Paris 1973. Vgl. auch Albrecht Dihle: Die Vorstellung vom Willen in der Antike. Göttingen 1985 (Sammlung Vandenhoeck). 107 Seneca: Epist. 95, 57: „Rechtes Tun kommt nicht zustande, wenn kein rechter Wille da war, denn von diesem kommt das Tun“ – „Actio recta non erit, nisi recta fuerit voluntas, ab hac enim est actio“.

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versinnbildlicht sie durch mythische Paradigmata, allen voran Herkules, und wendet in den letzten drei Strophen die über der Menschheitsgeschichte waltende Gesetzlichkeit auf die eigene Lebensgeschichte an. Diese alles bestimmende Gesetzlichkeit ist das im Titel stehende „Schicksal“, die im Motto exponierte griechische Heimarmene, das römische Fatum, das dann seine härteste Ausformung als Ananke findet. In einer ganzen Reihe von Strophen ist die Ananke leitmotivisch als „Not“ herausgehoben. Schließlich steigert sie sich zur „ehernen Notwendigkeit“ (V. 64). An ihr hat sich die stoische Virtus zu bewähren – „probatio“ gehört ebenfalls zu den stoischen Kennworten – und Hölderlin exemplifiziert diese stoische Virtus alsbald an Herkules, der sich „zu seiner Tugend schwerem Siege“ (V. 11) durchkämpfte und von Beginn an „der Tugend Löwenkraft“ (V. 14) bewies. Er ist das Vorbild des in den letzten Strophen mit seinem lebensgeschichtlichen Entwurf hervortretenden Ichs, das sich selbst unter den Imperativ stellt: „Der Tugend Siegeslust verjünge / Bei kargem Glücke mir die Brust!“ (V. 79 f.).

Das Schicksal Pqosjumoumter tgm eilaqlemgm, sovoi

Aeschylus Als von des Friedens heil’gen Talen, Wo sich die Liebe Kränze wand, Hinüber zu den Göttermahlen Des goldnen Alters Zauber schwand, 5 Als nun des Schicksals eh’rne Rechte, Die große Meisterin, die Not, Dem übermächtigen Geschlechte Den langen, bittern Kampf gebot; Da sprang er aus der Mutter Wiege, 10 Da fand er sie, die schöne Spur Zu seiner Tugend schwerem Siege, Der Sohn der heiligen Natur; Der hohen Geister höchste Gabe, Der Tugend Löwenkraft begann 15 Im Siege, den ein Götterknabe Den Ungeheuern abgewann. Es kann die Lust der goldnen Ernte Im Sonnenbrande nur gedeih’n; Und nur in seinem Blute lernte

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20 Der Kämpfer, frei und stolz zu sein; Triumph! die Paradiese schwanden, Wie Flammen aus der Wolke Schoß, Wie Sonnen aus dem Chaos, wanden Aus Stürmen sich Heroën los. 25 Der Not ist jede Lust entsprossen, Und unter Schmerzen nur gedeiht Das Liebste, was mein Herz genossen, Der holde Reiz der Menschlichkeit; So stieg, in tiefer Flut erzogen, 30 Wohin kein sterblich Auge sah, Stillächelnd aus den schwarzen Wogen In stolzer Blüte Cypria. Durch Not vereiniget, beschwuren Vom Jugendtraume süß berauscht 35 Den Todesbund die Dioskuren, Und Schwert und Lanze ward getauscht; In ihres Herzens Jubel eilten Sie, wie ein Adlerpaar, zum Streit, Wie Löwen ihre Beute, teilten 40 Die Liebenden Unsterblichkeit. – Die Klagen lehrt die Not verachten, Beschämt und ruhmlos läßt sie nicht Die Kraft der Jünglinge verschmachten, Gibt Mut der Brust, dem Geiste Licht; 45 Der Greise Faust verjüngt sie wieder; Sie kömmt, wie Gottes Blitz, heran, Und trümmert Felsenberge nieder, Und wallt auf Riesen ihre Bahn. Mit ihrem heil’gen Wetterschlage, 50 Mit Unerbittlichkeit vollbringt Die Not an Einem großen Tage, Was kaum Jahrhunderten gelingt; Und wenn in ihren Ungewittern Selbst ein Elysium vergeht, 55 Und Welten ihrem Donner zittern – Was groß und göttlich ist, besteht. – O du, Gespielin der Kolossen, O weise, zürnende Natur, Was je ein Riesenherz beschlossen, 60 Es keimt’ in deiner Schule nur. Wohl ist Arkadien entflohen; Des Lebens beßre Frucht gedeiht

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Durch sie, die Mutter der Heroën, Die eherne Notwendigkeit. – 65 Für meines Lebens goldnen Morgen Sei Dank, o Pepromene, dir! Ein Saitenspiel und süße Sorgen Und Träum’ und Tränen gabst du mir; Die Flammen und die Stürme schonten 70 Mein jugendlich Elysium, Und Ruh’ und stille Liebe thronten In meines Herzens Heiligtum. Es reife von des Mittags Flamme, Es reife nun vom Kampf und Schmerz 75 Die Blüt’ am grenzenlosen Stamme, Wie Sprosse Gottes, dieses Herz! Beflügelt von dem Sturm, erschwinge Mein Geist des Lebens höchste Lust, Der Tugend Siegeslust verjünge 80 Bei kargem Glücke mir die Brust! Im heiligsten der Stürme falle Zusammen meine Kerkerwand, Und herrlicher und freier walle Mein Geist in’s unbekannte Land! 85 Hier blutet oft der Adler Schwinge; Auch drüben warte Kampf und Schmerz! Bis an der Sonnen letzte ringe, Genährt vom Siege, dieses Herz.108

Die der Virtus zu verdankende heroische probatio gegenüber dem Schicksal hat eine entschieden kämpferische Note – durchgehend ist von „Kampf“ und „Sieg“ die Rede. Diese für die gesamte Hymne maßgebende kämpferische Akzentuierung der stoischen Bewährung stammt von Seneca, der für den Traditionsprozeß noch im 18. Jahrhundert entscheidend war. In seiner Schrift ber die Vorsehung (De providentia) und in den Briefen an Lucilius entwickelt Seneca die für die Hymne wichtigen Grundgedanken: daß das Schicksal uns in einen Erziehungsprozeß der Übung, Bewährung und Abhärtung stellt (De providentia I 6), denn die virtus erschlafft ohne Erprobung im Kampf mit dem Geschick (De providentia II 4 – V. 42 ff. der Hymne). Nur in Not und Gefahr kann sich Tugend bewähren – „calamitas virtutis occasio 108 Friedrich Hölderlin: Smtliche Werke und Briefe in drei Bnden, hg. von Jochen Schmidt, Frankfurt 1992 – 1994. Bd. 1: Smtliche Gedichte, S. 157 – 160.

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est“ („die Not bietet die Gelegenheit, Tugend zu beweisen“), heißt es in De providentia IV 6. Großes Glück (fortuna) ist eher problematisch, weil es dann nicht möglich ist, in irgendeiner Not den Preis der Tugend, der virtus, zu erkämpfen (De providentia IV 8). „Der Tugend Siegeslust verjünge / Bei kargem Glücke mir die Brust!“, lautet das Echo in Hölderlins Schicksalshymne (V. 79 f.). Immer wieder spricht Seneca vom notwendigen Kampf, ja vom Kampfspiel und geradezu vom gladiatorischen Kampf, zu dem uns das – mit der Natur gleichgesetzte – Schicksal herausfordert (z. B. De providentia III 4; IV 8). Dem entspricht in Hölderlins Hymne die Wendung „Und nur in seinem Blute lernte / Der Kämpfer, frei und stolz zu sein“ (V. 19 f.) und die heroische Übersteigerung ins Unendliche: „Auch drüben warte Kampf und Schmerz!“ (V. 86). Sogar die Vorstellung des von der Natur – dem Schicksal – weise eingerichteten Kampfspiels nimmt Hölderlin auf: „O du, Gespielin der Kolossen, / O weise, zürnende Natur […]“ (V. 57 f.). Mit der Bereitschaft zum Tode, die zum Grundbestand stoischen Denkens gehört, schließt die Hymne, und Hölderlin verbindet mit dieser Bereitschaft die von Platon übernommene Vorstellung der Stoiker, insbesondere Senecas, daß der Tod die Freiheit bringe, weil der Leib der „Kerker“ der Seele sei.109 Die Schlußstrophe beginnt mit den Versen: „Im heiligsten der Stürme falle / Zusammen meine Kerkerwand, / Und herrlicher und freier walle / Mein Geist in’s unbekannte Land!“ (V.81 – 84). Diese idealistisch gesteigerte Autonomie-Proklamation folgt auf die schon vorher sentenzhaft formulierte stoische Gewißheit: „Was groß und göttlich ist, besteht“ (V. 56). Nach stoischer Lehre hat nur das Innere Bestand – im Innern liegt alles Große und „Göttliche“. So läßt Seneca in seiner Schrift ber die Vorsehung Gott sagen (VI 5): „Euch habe ich gegeben verläßliche Güter, bleibende […] Ins Innere habe ich allen Wert gelegt“ („Vobis dedi bona certa, mansura […] Intus omne posui bonum“), und in der Abhandlung ber die Standhaftigkeit des Weisen (De constantia sapientis, VI 8) konstatiert er: „Das, was den Weisen schützt, ist vor Feuer und Ansturm sicher“. Daß Herakles in einem so systematisch aus stoischem Denken konzipierten Text als Exemplar Virtutis erscheint, daß der junge Dichter ihn an einer Lebensschwelle zum Vorbild wählt, das der emphatischen Selbstermutigung dient, entspricht der kulturell allgemein etablierten und in der Fabel des Prodikos speziell lebensgeschichtlich – für den Übergang zum Mannesalter – formierten Funktion des Herakles. Doch 109 Phaidon 62 b, Kratylos 400 c; Briefe an Lucilius 70, 12.

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bei aller Präzision und Gründlichkeit, mit der Hölderlin das stoische Repertoire heranzog, modernisierte er sowohl die Figur des Herakles wie die poetische Aussage insgesamt gegenüber der tradierten stoischen Lehre auf bezeichnende Weise. Und dies nicht nur, indem er das idealistische Autonomie-Konzept so entschieden zur Geltung brachte. Er übernahm auch Schillers geschichtsphilosophisches DreistufenSchema, das auf einen ursprungshaften, arkadischen Naturzustand ein von Not und Kampf bestimmtes Stadium – das der geschichtlichen Realität – und schließlich, als drittes Stadium, den nur als Ideal vorzustellenden Vollendungszustand folgen läßt. Schiller wollte damit das pessimistische Geschichtsbild Hesiods, der auf das „goldene Alter“ einen Niedergang bis hin zum „eisernen Alter“ konstatierte, im Gegensinn optimistisch formieren. Er säkularisierte die heilsgeschichtliche biblische Tradition, die auf die Vertreibung aus dem Paradies („Arkadien“) ein unseliges Leben in Mühe und Arbeit und dann schließlich, dank Christi Erlösertat, ein seliges Leben im Jenseits („Elysium“) folgen ließ. Ganz vom Autonomie-Streben seiner Zeit eingenommen, verstand Schiller allerdings den Verlust des ursprungshaft vollkommenen Naturzustands (biblisch: des Paradieses, antik: Arkadiens) als willkommene Möglichkeit für den Menschen, sich aus eigener Kraft, in heroischer Anstrengung, zum Höchsten emporzuarbeiten. Schon gar nicht sollte er einer Erlösertat durch einen andern bedürfen. Durch die Kraft des Geistes und durch Willensstärke, durch „Tugend“, sollte er sich selbst zum Ideal erheben. In diesem geschichtsphilosophischen Konzept ist Herakles der Exponent der heroischen Arbeit und des Strebens, ein Tugend-Heros, der als Figuration eines geschichtlichen Prozesses, wenn auch letztlich eines infiniten, auf Selbsterlösung angelegt ist. Nicht mehr wie in der Überlieferung wird Herakles zum Lohn für seine Vollbringungen von den Göttern in ihren Kreis aufgenommen – seine Apotheose gelingt aus der sich ins Übermenschliche steigernden eigenen Energie. Die Absage an die christlich-heilsgeschichtliche Tradition zeigt sich nicht erst in diesem Konzept der Erlösung aufgrund eigener Leistung, sondern schon in der Suspendierung des Sündenfalls: Die Vertreibung aus dem Paradies wird nicht negativ als Folge des Sündenfalls verstanden, sondern positiv als Akt der Emanzipation aus einem mit Unmündigkeit gleichgesetzten Naturzustand. Hölderlin hebt in der Herkules-Strophe seiner Schicksals-Hymne diesen Akt der Emanzipation als den entscheidenden Beginn hervor: „Da sprang er aus der Mutter Wiege […] Der Sohn der heiligen Natur“ (V. 9 – 12).

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War die Fabel des Prodikos von Herkules am Scheidewege, die Entscheidung im Übergang von der Jugend zum Mannesalter, oft als bewußter Akt aufgefaßt110 oder sogar zur Demonstration des freien Willens111 herangezogen worden, so findet der geschichtsphilosophischen Vorstellung Hölderlins zufolge gar keine Wahl statt, vielmehr kommt es schon im Frühstadium der Kindheit, das zugleich den naturhaften Urzustand der Menschheit repräsentiert, zu einer Ablösung: Schon als Kind springt Herkules aus der Wiege. Scheinbar paradox ist die Ablösung vom Naturzustand demnach schon naturhaft begründet. Die Vorstellung, Herkules sei Sohn „der heiligen Natur“ (V. 12), hätte Schiller ganz fern gelegen. Für Hölderlin kann die aus der Natur kommende „Löwenkraft“ der „Tugend“ nicht eine primär gegen die Natur errungene Tugend sein, vielmehr macht er sie zu einer „Gabe“, die durch Steigerung zum Geist – sie ist „der hohen Geister höchste Gabe“ (V. 13) – über den ursprünglichen Naturzustand hinausführt. Daß die Natur dann sekundär, als „weise, zürnende Natur“ (V. 58) mit der Herausforderung durch das Schicksal, durch die „eherne Notwendigkeit“ (V. 64) identisch ist, entspricht und dient der Steigerungsdynamik. Zwar linearisiert Hölderlin wie Schiller die alte Fabel, indem er einen geschichtsphilosophisch perspektivierten Prozeß, einen „Weg“ entwirft, der vom naturhaften Urzustand zu einem idealen Vollendungszustand führt (er bleibt utopisch, weil sich der Prozeß ins Unendliche fortsetzt); aber Hölderlin entgeht dem zu den Grundproblemen der stoischen Philosophie gehörenden Dualismus von Freiheit und 110 Daß dies nicht für alle Varianten der Szene gilt, scheint insbesondere die Darstellung des träumenden Herakles bei Sebastian Brant und die analoge Vorstellung vom träumenden Scipio zu signalisieren. Sie deutet auf eine unbewußt-intuitive, wenn nicht sogar auf höherer Einwirkung beruhende Entscheidung. 111 Zur kynischen Tradition: Ragnar Hoïstad (wie Anm. 42), S. 31 – 33; Karl Galinsky (wie Anm. 22), S. 101 – 106. Erasmus von Rotterdam weist in seinem Enchiridion militis christiani von 1503/1518 dem christlichen Tugendstreiter den Weg in den Himmel und verknüpft damit das Beispiel des Tugendhelden Herkules im Sinne des liberum arbitrium – im Gegensatz dazu formuliert Luther seine Lehre vom servum arbitrium auf dem Hintergrund einer Prädestinationslehre, der gerade das an den Taten – der ,Werkgerechtigkeit‘ – orientierte Herkules-Paradigma widersprach. Vgl. Wolfgang Harms: Homo viator in bivio (wie Anm. 19) sowie Klaus Schwarzwälder: Theologia crucis. Luthers Lehre von der Prdestination nach De servo arbitrio 1525, München 1970, bes. S. 145 ff.; Ernst Wilhelm Kohls: Luther oder Erasmus. Basel 1972/78.

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Notwendigkeit112, indem er eine Dialektik entwirft, die sich aus der Natur selbst entwickelt. Darin ist er dem monistischen Grundkonzept der Stoa viel näher als Schiller, und zugleich versucht er die Problemspannung, die im stoischen Determinismus liegt, zu überwinden. Ganz im Sinne des stoisch-monistischen Fundamentalkonzepts der Allnatur, der v¼sir t_m fkym, die eben deshalb als „Schicksal“ alles bestimmt, aber im Widerspruch zu der Inkonsequenz, die im stoisch moralisierenden Imperativ der Prodikos-Fabel liegt, hebt er den immanenten Dualismus der Entscheidung zwischen „Tugend“ und „Lust“ auf, um schließlich sogar eine Synthese zwischen beiden Daseinsmöglichkeiten herzustellen. Viermal exponiert er den Begriff „Lust“ in seiner Schicksalshymne direkt, indem er die voluptas zu diesem Zweck gründlich umkodiert. „Es kann die Lust der goldnen Ernte / Im Sonnenbrande nur gedeih’n“, lautet die programmatische Sentenz am Beginn der dritten Strophe (V. 17 f.); wiederum sentenzhaft beginnt die vierte Strophe mit dem Vers: „Der Not ist jede Lust entsprossen“ (V. 25), und sie verbindet mit der Vorstellung der „Lust“ alsbald die des Genusses: „Und unter Schmerzen nur gedeiht / Das Liebste, was mein Herz genossen“ (V. 26 f.). Das „Herz“, das „Liebste“ und vollends die sich anschließende Vision der aus „tiefer Flut“ aufsteigenden Liebesgöttin Aphrodite (V. 32: „Cypria“) – das alles verträgt sich mit der stoischen Orthodoxie so wenig wie die Einbeziehung von Lust und Genuß, auch wenn die voluptas hier auf bezeichnende Weise veredelt erscheint. Nicht wörtlich-begrifflich, aber indirekt und wiederum zusammen mit der „Not“ kommt die Lust am Beginn der folgenden fünften Strophe zur Sprache, wenn es heißt, daß die Dioskuren – Kastor und Pollux als idealtypisches Freundespaar – zwar „durch Not“ vereinigt, aber doch vom Jugendtraum „süß berauscht“ (V. 33 f.) ihren Bund beschworen. Die vorletzte Strophe schließlich steigert diese so konsequent durchgeführte Motivik zum Höchsten in den Versen (77 – 80): „Beflügelt von dem Sturme, erschwinge / Mein Geist des Lebens höchste Lust, / Der Tugend Siegeslust verjünge / Bei kargem Glücke mir die Brust!“ Nicht nur, daß hier zweimal in dichter Folge die Lust beschworen wird – die Pointe liegt darin, daß „der Tugend Siegeslust“ den in der stoischen Tradition fest verankerten und in der Fabel des Prodikos paradigmatisch repräsentierten Gegensatz von Tugend und Lust (Genuß), von virtus und voluptas aufhebt. Hölderlin entwirft eine 112 Hierzu der Beitrag von Dorothea Frede in diesem Band.

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Synthese aus dem Horizont idealistisch formierten Denkens, das auch noch die „Lust“ zu integrieren vermag113, weil es sie fern vom moralischen Rigorismus in einen vom „Geist“ vermittelten inneren Erfahrungszusammenhang mit der „Tugend“ bringt. Das dürfte auch eine Huldigung an Schiller sein, der gegen Kants rigoristische Antithese von Pflicht und Neigung Einspruch erhob. Zugleich aber geht Hölderlin deutlich weiter. Seine intensive Einbeziehung stoischer Vorstellungen wie seine Berufung auf die stoische Vorbildfigur Herkules, der bei ihm doch immer ein „Sohn der heiligen Natur“ bleibt, erhält gerade durch die gleichzeitige Überformung des schon längst der Kritik verfallenen stoischen Rigorismus eine eigene konzeptionelle Bedeutung. Es handelt sich um Stoa-Rezeption und zugleich um mehr: um lebendige Fortbildung stoischen Denkens. Sie zeigt schon die Spur, der Hölderlin folgte, als er sich schließlich von dem durch Seneca in besonderer Härte aufgenommenen altstoischen Denken zum harmonischen Naturkonzept der mittleren Stoa wandte. Wenige Jahre nach der Schicksalshymne griff er es aus Marc Aurels Selbstbetrachtungen auf, um daraus vor allem für seinen Hyperion eine mit dem zeitgenössischen Pantheismus vermittelte Lebensphilosophie zu gewinnen, die den Dualismus überhaupt aufhebt.114 Die heroische Tugendfigur Herkules hat darin keinen Platz mehr.

113 Vielleicht wirkt hier noch ein Reflex aus einer schon in der Antike geführten Diskussion über die Problematik der schlichten Antithese von Tugend und Lust nach. Xenophon schickt seiner Erzählung der Prodikos-Fabel die Überlegung voran, man könne auch an der (zur Tugend gehörenden) „Mühe“ „Lust“ empfinden (pome?m Bd´yr, II 1, 19). Maximos von Tyros (vgl. Anm. 29) scheint ein spätes Echo dieser Diskussion zu geben, wenn er bemerkt, daß das Leben des Herakles nicht – wie Prodikos nahe lege – eine strikte Alternative zwischen den mit der Areté verbundenen Mühen (di’ !qet/r pºmour) und der Lust (Bdom¶) gewesen sei, vielmehr könne ein Mann an den mühevollen Werken, die er aufgrund seiner Areté vollbringe, genuine Lust und Freude empfinden (Dissertationes 25, ed. Trapp, S. 215). 114 Hierzu mein Beitrag zum Hyperion im vorliegenden Werk.

Laokoon als Prototyp stoischer Schmerzbewältigung? Winckelmanns Deutung im Kontext ästhetischer Kontroversen von Barbara Neymeyr Die berühmte Laokoon-Skulptur, die drei Künstler aus Rhodos vermutlich im ersten Jahrhundert v. Chr. als Gemeinschaftsarbeit schufen, gilt schon lange als kanonisches Meisterwerk der Antike. Zugleich steht diese Statue im Mittelpunkt kontrovers geführter ästhetischer Debatten der Moderne, in denen nicht nur Aspekte intermedialer Vermittlung, sondern auch ethische Konzepte von zentraler Bedeutung sind. Im folgenden will ich einige kulturwissenschaftlich aufschlußreiche Hauptlinien des Laokoon-Diskurses, der von der Antike bis ins 18. Jahrhundert reicht1, herausarbeiten und dabei die unterschiedlichen Theorien, von denen Winckelmanns stoische Deutung besondere Bekanntheit erlangt hat, miteinander konfrontieren. Als man die Laokoon-Gruppe vor 500 Jahren, am 14. Januar 1506, in einem Weinberg am Esquilin in einer unterirdischen Kammer wiederentdeckte, wurde die Marmorskulptur in Rom sofort als sensatio1

Zum kunsttheoretischen Laokoon-Diskurs vgl. auch eine textnahe Darstellung, die Zusammenhänge zwischen Pathos- und Kunstbegriff herausarbeitet: Monika Schrader: Laokoon – „eine vollkommene Regel der Kunst“. sthetische Theorien der Heuristik in der zweiten Hlfte des 18. Jahrhunderts: Winckelmann, (Mendelssohn), Lessing, Herder, Schiller, Goethe. Hildesheim, Zürich, New York 2005. Schrader bezeichnet die „Reflexion auf die Laokoon-Skulptur […] als Kristallisationspunkt für Tendenzen ästhetischer Theoriebildung“ (S. 13). Spätere Kontroversen über Laokoon thematisiert Ernst Osterkamp: Laokoon in Prromantik und Romantik, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2003, S. 1 – 28. Osterkamp konzentriert sich auf Heinses Laokoon-Deutung in Ardinghello und wirft Seitenblicke auf Karl Philipp Moritz, Friedrich Schlegel und Novalis. Angesichts der Vielzahl von Stellungnahmen zur Laokoon-Skulptur konstatiert Osterkamp humoristisch: „Gelegentlich drängt sich der Eindruck auf, es gebe nicht nur eine Laokoon-Gruppe, sondern zwei: Die eine besteht aus Marmor und steht im Statuenhof des Belvedere im Vatikan, die andere besteht aus Papier und repräsentiert einen Diskurs deutscher Gelehrter, Dichter und Künstler in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts“ (ebd., S. 1).

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neller Fund bekannt. Von zahlreichen Schaulustigen bestaunt, galt die Statue, die Papst Julius II. für den Hof seiner Villa am Belvedere erwarb, schon bald als Hauptattraktion der dortigen Antikensammlung. Der phänomenale Erfolg der Laokoon-Gruppe, die rasch als eines der berühmtesten Werke antiker Bildhauerkunst überhaupt anerkannt war, ist auf mehrere Faktoren zurückzuführen: erstens auf ihren guten Erhaltungszustand und zweitens auf ihre expressive Dynamik, die den ästhetischen Maßstäben der Epoche in besonderem Maße entsprach. Drittens evozierte die Laokoon-Skulptur großes Interesse, weil das Sammeln antiker Skulpturen seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zur bevorzugten Form kultureller Repräsentation in der vornehmen römischen Gesellschaft geworden war. Hervorzuheben ist noch ein vierter Erfolgsfaktor: Der Architekt Giuliano da Sangallo, den Papst Julius II. als Gutachter zum Fundort geschickt hatte, rief angesichts der Skulptur aus: „quello è Laocoonte, di cui fa mentione Plinio“.2 Er identifizierte die Laokoon-Gruppe also, indem er sich auf ein literarisches Zeugnis berief: auf die Naturalis Historia von Plinius. In der betreffenden Textpartie nennt Plinius die Namen der drei Bildhauer Hagesandros, Polydoros und Athenodoros, die das damals im Palast des Kaisers Titus befindliche Werk geschaffen hatten. Mit einem enthusiastischen Superlativ apostrophiert er sie als „summi artifices“; ihre Laokoon-Skulptur ist – laut Plinius – allen Werken der Malerei und Bildhauerkunst vorzuziehen („opus omnibus et picturae et statuariae artis praeferendum“).3 Die Autorität der antiken 2

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Vgl. dazu die Belege in einem instruktiven Aufsatz von Luca Giuliani: Winckelmanns Laokoon. Von der befristeten Eigenmchtigkeit des Kommentars, in: Commentaries = Kommentare, hg. von Glenn W. Most, Göttingen 1999 (Aporemata Bd. 4), S. 296 – 322, hier S. 296. Differenziert beschreibt Giuliani die Rahmenbedingungen der Wiederentdeckung der Laokoon-Statue vor dem kulturhistorischen Horizont: vgl. ebd. S. 296 – 299. Zum 500. Jahrestag der Wiederentdeckung der Laokoon-Statue veröffentlichte Luca Giuliani am 14./ 15. Januar 2006 einen Extrakt seines Aufsatzes in der Sddeutschen Zeitung (S. 16). Plinius: Naturalis Historia 36, 37. Plinius würdigt die hervorragenden Bildhauer, die das Kunstwerk, den Laokoon, seine Söhne und die wunderbaren Windungen der Schlangen, alles aus einem einzigen Steinblock schufen („ex uno lapide eum ac liberos draconumque mirabiles nexus de consilii sententia fecere summi artifices Hagesander et Polydorus et Athenodorus Rhodii“). Anfechtbar erscheint allerdings die Klassifikation der Plinius-Stelle als ,Kommentar‘, die Giuliani in seinem Aufsatz wiederholt vornimmt (S. 298 – 301, 312, 320). – Zur Wirkung der Laokoon-Gruppe auf Michelangelo, der für seine um 1515

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Laokoon, Gesamtaufnahme, 1. Jh. vor Chr., Vatikanische Museen

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Laokoon, Detailaufnahme, 1. Jh. vor Chr., Vatikanische Museen

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Quelle trug dazu bei, daß die Laokoon-Gruppe zu einem zentralen Paradigma antiker Kunst überhaupt wurde, und dies um so mehr, als der Name ,Laocoonte‘ zugleich den mythologischen Kontext evoziert.4 Dadurch ergab sich auch ein Bezug zu Vergils Aeneis, einer der prominentesten Dichtungen der römischen Antike; Vergil stellt die Laokoon-Episode im Zusammenhang mit dem Trojanischen Krieg ausführlich dar.5 So ist es kein Zufall, daß Winckelmann 1755 in seiner Schrift Gedancken ber die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst gerade der Laokoon-Skulptur eine herausragende Bedeutung zuschreibt. In der Abhandlung, in der er die „Idealischen Schönheiten“ antiker Meisterwerke als Vorbild auch für die zeitgenössische Kunst propagiert, stellt er fest: „Laocoon war den Künstlern im alten Rom eben das, was er uns ist; des Polyclets Regel; eine vollkommene Regel der Kunst.“6 Einen normativen Rang attestiert Winckelmann der Laokoon-Gruppe, indem er sich auf die „Regel“ des griechischen Bildhauers Polyklet aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. bezieht, einen Kanon für die idealen Proportionen des schönen mensch-

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entstandene Skulptur eines nackten Gefangenen ebenfalls durch Fesselung eine besonders dynamische Konstellation schafft, vgl. Giuliani S. 297 – 298. Zu den unterschiedlichen Versionen des Laokoon-Mythos, insbesondere zu den Gründen für die Bestrafung des Laokoon durch die Schlangen, vgl. Herbert Hunger: Lexikon der griechischen und rçmischen Mythologie mit Hinweisen auf das Fortwirken antiker Stoffe und Motive in der bildenden Kunst, Literatur und Musik des Abendlandes bis zur Gegenwart, 6. Aufl. Reinbek bei Hamburg 1974, S. 230 – 231. Zum mythologischen Kontext und zur Bedeutung der Laokoon-Gruppe für Kunsttheorie und bildende Kunst vgl. Eric M. Moormann und Wilfried Uitterhoeve: Lexikon der antiken Gestalten. Mit ihrem Fortleben in Kunst, Dichtung und Musik, übersetzt von Marinus Pütz, Stuttgart 1995, S. 411 – 413. Vergil: Aeneis 2, 40 – 56, 199 – 245. Winckelmanns Schriften zitiere ich nach der folgenden Ausgabe: Frhklassizismus. Position und Opposition: Winckelmann, Mengs, Heinse, hg. von Helmut Pfotenhauer, Markus Bernauer und Norbert Miller unter Mitarbeit von Thomas Franke, Frankfurt a.M. 1995 (Bibliothek der Kunstliteratur Bd. 2). Winckelmanns Schrift Gedancken ber die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst findet sich in dieser Edition auf S. 13 – 50, die obigen Zitate auf S. 26, 14 – 15. Die Orthographie dieser Ausgabe wird im vorliegenden Aufsatz exakt übernommen. – Der normative Charakter von Winckelmanns Kunstkonzeption erhellt aus seiner apodiktischen Feststellung: „Der eintzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten“ (S. 14). Dieses Postulat enthält ein immanentes Paradoxon, da Mimesis schwerlich als Kriterium unnachahmlicher Größe gelten kann.

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lichen Körpers. Erstaunlicherweise will Winckelmann hier nicht die Statue des Doryphoros, des Speerträgers, durch den Polyklet selbst dieses Ideal vorbildhaft verwirklichte, oder den Apoll von Belvedere als kanonisch verstanden wissen, sondern ausgerechnet den Laokoon, – die Skulptur, die aufgrund des exzeptionellen mythologischen Geschehens, auf dem sie basiert, eine von der Norm extrem abweichende Körperdarstellung bietet. Schon lange vor Winckelmanns Schrift gab eine präzise Wahrnehmung des Kunstwerks begeisterten Betrachtern Anlaß zu Einschätzungen ganz anderer Art. Bald nach der Aufstellung der Statue im Hof des Belvedere schrieb der spätere Kardinal Jacopo Sadoleto 1506 unter Rückgriff auf die in Vergils Aeneis geschilderten Handlungen ein Gedicht in lateinischen Hexametern über die Laokoon-Skulptur. Noch weitere Gelehrte trugen durch ähnliche Gedichte zur Kanonisierung der Statue bei. Sadoleto rühmt in seinen Hexametern den extremen Ausdruck des Schmerzes; zugleich betont er die dadurch bedingte Erschütterung des Betrachters: Quid primum summumve loquar? miserumne parentem Et prolem geminam? […] Vulneraque et veros, saxo moriente, dolores? Horret ad haec animus, mutaque ab imagine pulsat Pectora non parvo pietas commixta tremori. […] Vix oculi suffere valent, crudele tuendo Exitium, casusque feros.7

An die im 16. Jahrhundert zunächst von Sadoleto und seinen Zeitgenossen etablierte Tradition der Laokoon-Rezeption schließt noch am Anfang des 18. Jahrhunderts ein niederländischer Rom-Tourist an; er charakterisiert die Laokoon-Gruppe mit folgenden Worten: „Die allerheftigste Todesangst, der Schrecken, der Grimm und die zärtlichste

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Jacopo Sadoleto: De Laocoontis statua, quae Romae in Vaticano spectatur, in: Jacopo Sadoleto: Opera Bd. III, Verona 1738, S. 245 f. Übersetzung: „Was soll ich als erstes nennen, was am höchsten loben? Den jammervollen Vater und die beiden Kinder? […] Oder die Wunden und den wahren Schmerz im sterbenden Stein? Die Seele des Betrachters erstarrt; vom stummen Standbild aus rührt Mitleid ans Herz mit gewaltigem Zittern. […] Kaum noch ertragen die Augen den Anblick des grausigen Untergangs, des schrecklichen Verderbens.“ – Sadoletos Gedicht wurde zwar erst im Jahre 1532 publiziert; daß er es aber schon lange zuvor geschrieben hatte, dokumentiert ein Brief vom 1. Juli 1506 durch ein Zitat. – (vgl. Giuliani S. 301, 300).

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Liebe“ vereinen sich im „Gesicht des Laokoons“. Ja, man glaubt beinahe „sein heftiges Geschrey und Wehklagen“ zu hören.8 – Dieser Sicht steht die von klassizistischen Prämissen motivierte Laokoon-Deutung Winckelmanns in seiner Erstlingsschrift Gedancken ber die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und BildhauerKunst von 1755 diametral gegenüber. Sie ist durch das stoische AtaraxiaKonzept geprägt. Bis in einzelne Formulierungen hinein läßt sich die Relevanz stoischer Leitvorstellungen nachweisen: Den zentralen Begriff der ,magnanimitas‘ oder ,magnitudo animi‘ übersetzt Winckelmann geradezu wörtlich aus dem Lateinischen ins Deutsche. Zugleich verbindet er die „Grösse der Seele“ mit dem Ideal der ,firmitas animi‘ und der ,constantia sapientis‘. Die stoische Klassifikation der LaokoonSkulptur leitet er mit dem berühmten Passus ein, der den griechischen Meisterwerken eine „edle Einfalt“ und „stille Größe“ attestiert. Durch diese Ouvertüre erhält die anschließende Interpretation der LaokoonStatue als Paradigma stoischer Schmerzbewältigung einen besonderen Rang: Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der Griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt, und eine stille Grösse, so wohl in der Stellung als im Ausdruck. So wie die Tiefe des Meers allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, eben so zeiget der Ausdruck in den Figuren der Griechen bey allen Leidenschaften eine grosse und gesetzte Seele. Diese Seele schildert sich in dem Gesicht des Laocoons, und nicht in dem Gesicht allein, bey dem heftigsten Leiden. Der Schmertz, welcher sich in allen Muskeln und Sehnen des Cörpers entdecket […], äussert sich dennoch mit keiner Wuth in dem Gesichte und in der gantzen Stellung. Er erhebet kein schreckliches Geschrey, wie Virgil von seinem Laocoon singet: Die Oeffnung des Mundes gestattet es nicht; es ist vielmehr ein ängstliches und beklemmtes Seufzen, wie es Sadolet beschreibet. Der Schmertz des Cörpers und die Grösse der Seele sind durch den gantzen Bau der Figur mit gleicher Stärcke ausgetheilet, und gleichsam abgewogen. Laocoon leidet, aber er leidet wie des Sophocles Philoctetes: sein Elend gehet uns bis an die Seele; aber wir wünschten, wie dieser grosse Mann, das Elend ertragen zu können.9

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Bettina Preiß: Die wissenschaftliche Beschftigung mit der Laokoongruppe. Alfter 1992. Vgl. dort im Anhang der Quellentexte: Des Herrn von Blainville Reisebeschreibung durch Italien (1766), Bd. 3, Abt. 1 Hauptstück 19. Die Aufzeichnung über Laokoon stammt vom 28. Oktober 1707. Winckelmann: ebd., S. 30 – 31.

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Hier fällt zunächst einmal auf, daß Winckelmann die Darstellung des ungeheuren Stöhnens („gemitum ingentem“) in Sadoletos LaokoonGedicht zur Formulierung „beklemmtes Seufzen“ abschwächt, also inadäquat wiedergibt. Zu Unrecht beruft sich Winckelmann auf Sadoleto.10 Denn während Sadoleto seine Aufmerksamkeit auf den heftigen Schmerz durch den Biß der Schlange und auf den qualvollen Todeskampf Laokoons konzentriert, betont Winckelmann das stoische Ethos der Selbstbeherrschung und Ataraxie. Mit diesem Konzept, in dem mentale Stärke über das physische Leiden dominiert, begibt er sich in eine Opposition zur überlieferten Laokoon-Rezeption. Die von Winckelmann verwendeten Begriffe korrespondieren in auffälliger Weise mit stoischen Termini: So entspricht die von ihm gepriesene „Ruhe“ und „Grösse der Seele“11 dem Ideal der ,magnanimitas‘ und ,tranquillitas animi‘, das Cicero und Seneca in ihren Schriften propagieren.12 Die stoische Philosophie thematisiert den Schmerz im Rahmen ihrer Lehre von den Affekten und intendiert deren Überwindung durch Seelenruhe (tranquillitas animi). Den Prinzipien der Stoiker zufolge garantiert allein die Unerschütterlichkeit der Seele (,ataraxia‘) ein glückliches Leben, in dem Furcht und Schmerz ihre Bedeutung verlieren. Der Stoiker Chrysipp zählt diese Befindlichkeiten zu den Adiaphora, zu den indifferenten Angelegenheiten. Demgegenüber besteht der Zweck der stoischen Ethik darin, Glück zu erlangen: durch Ataraxia und Apatheia.13 10 Das betont bereits Giuliani (ebd., S. 303 – 304). 11 Geradezu leitmotivisch spricht Winckelmann wiederholt von der „Grösse der Seele“ (S. 31) und von ihrer „Ruhe“ (S. 32), von der „Stärcke des Geistes“ (S. 31), der „grossen Seele“ (S. 31), vom „Edle[n] der Seele“ (S. 32) und von der „grosse[n] und gesetzte[n] Seele“ (S. 30), durch die Laokoon gerade in der Schmerzerfahrung seine ,virtus‘ zu bewähren vermag. 12 Die Bedeutung des stoischen Postulats der tranquillitas animi ist schon daran zu erkennen, daß Seneca eine seiner Schriften mit dem Titel De tranquillitate animi versehen hat. 13 Vgl. Lucius Annaeus Seneca: Philosophische Schriften. Lateinisch und deutsch, 5 Bde, hg., übersetzt und eingeleitet von Manfred Rosenbach, Darmstadt 1980 – 1989. Bd. 1 – 2: Dialoge. Bd. 3 – 4: Ad Lucilium epistulae morales [künftig abgekürzt als Epist.]. Bd. 5: De clementia, De beneficiis. Die Schriften Senecas werden – wie üblich – mit der jeweiligen Absatzziffer zitiert. – Vgl. z. B. Epist. 9,2, wo Seneca den griechischen Begriff Apatheia thematisiert. In Epist. 9,12 betont er die glückliche Selbstgenügsamkeit des Weisen, der das Schicksal verachtet. Weitere Belegstellen: Epist. 32,4; 36,6; 45,9. Der stoische Apatheia-Begriff ist

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Als zentrale stoische Referenztexte fungieren in der kulturhistorischen Tradition die philosophischen Schriften Senecas14, vor allem die Epistulae morales ad Lucilium und De tranquillitate animi, sowie Ciceros Tusculanen. Durch ihre Omnipräsenz im europäischen Bildungswesen war den Schriften Ciceros eine enorme, bis zu Winckelmann reichende Wirkung beschieden. Im zweiten Buch der Tusculanen, das Konzepten des Stoikers Panaitios folgt und für Winckelmann wahrscheinlich zur zentralen Quelle geworden ist15, konzentriert sich Cicero auf das stoische Verhalten gegenüber dem Schmerz. Nachdem er sich im ersten nicht im Sinne eines spannungsfreien Quietismus zu verstehen. Seneca selbst grenzt sich ausdrücklich von einem derartigen Verständnis ab. In Epist. 67, 14 betont er, unerschütterte Muße sei keineswegs mit stoischer Apatheia gleichzusetzen, sondern mit einer Flaute: „in otio inconcusso iacere non est tranquillitas: malacia est.“ Im Kontext dieses Zitats weist Seneca darauf hin, daß die tranquillitas animi in der Auseinandersetzung mit widrigen Konstellationen erst errungen werden muß. Der Weise antizipiert mögliche Schicksalsschläge mit Seelenstärke („animi robore“); vgl. ebd. XI, 6; XIII, 3. Seneca versteht tranquillitas im Sinne des griechischen Begriffs Euthymia (Frohsinn); vgl. ebd. II, 3. Für diesen Zustand setzt er innere Harmonie voraus, Einigkeit mit sich selbst, die durch Abkehr von allen Äußerlichkeiten entsteht (vgl. ebd. II, 4, XIV, 2). In seiner Schrift De tranquillitate animi (IX, 2) rät Seneca zur Mäßigung verschiedenartiger Emotionen: „Discamus continentiam augere, luxuriam coercere, gloriam temperare, iracundiam lenire, […] frugalitatem colere“ („Lernen wir, die Beherrschung zu steigern, die Genußsucht zu zügeln, den Ehrgeiz zu mäßigen, den Jähzorn zu beschwichtigen und die Genügsamkeit zu pflegen“). – Zur stoischen Lösung für die Affektproblematik vgl. Maximilian Forschner: Die stoische Ethik. ber den Zusammenhang von Natur-, Sprach- und Moralphilosophie im altstoischen System, 2. Aufl. Darmstadt 1995, S. 134 – 141. 14 Im Unterschied zu den frühen rigoristischen Stoikern verfährt Seneca eher eklektizistisch. Dieses Verfahren, mitunter wie ein Anhänger Epikurs zu sprechen (Epist. 48, 2: „ego tamquam Epicureus loquor“) legitimiert er mit der Erkenntnis: „Was wahr ist, ist mein Eigentum“ (Epist. 12, 11: „Quod verum est, meum est“). Dabei zeigt er sich auch gegenüber epikureischen Lehren aufgeschlossen und versucht sie sogar mit seinen eigenen Konzepten zu verbinden. Bereits in seinem zweiten Brief erwähnt Seneca ein Diktum Epikurs und betont, er pflege auch in ein fremdes Lager hinüberzugehen, nicht als Überläufer, sondern als Kundschafter (Epist. 2,5: „soleo enim et in aliena castra transire, non tamquam transfuga, sed tamquam explorator“). An zahlreichen Stellen finden Sentenzen Epikurs in Senecas Epistulae morales Eingang; vgl. z. B. Epist. 7,11; 8,7; 9,1; 12,11; 16,7; 18,9; 48,2. In Epist. 8,7 würdigt Seneca ausdrücklich Epikurs Postulat, man müsse der Philosophie dienen, um die wahre Freiheit zu erlangen. – Zu Senecas eklektizistischem Verfahren vgl. auch Ilsetraut Hadot: Seneca und die griechisch-rçmische Tradition der Seelenleitung. Berlin 1969, S. 55 ff. 15 Vgl. Giuliani (ebd.), S. 306 – 307.

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Buch der Tusculanen mit der Problematik der Todesfurcht auseinandergesetzt hat, geht er im zweiten Buch der Frage nach, wie man den Geist formieren könne, um den Schmerz zu ertragen. Das stoische Rezept zielt auf Schmerzbewältigung durch Vernunft und Willenskraft: „Totum igitur in eo est, ut tibi imperes. […] atque haec cogitatio, quid patientia, quid fortitudine, quid magnitudine animi dignissimum sit, non solum animum comprimit, sed ipsum etiam dolorem nescio quo pacto mitiorem facit“.16 Im weiteren Verlauf seiner Darlegungen verlangt Cicero von einem tapferen und weisen Menschen, daß er im Schmerz nicht einmal stöhne, außer um die Seele zum Widerstand zu festigen: „si gemitus in dolore ad confirmandum animum valebit, utemur“.17 Zwar nimmt Cicero in den Tusculanen nicht explizit auf Laokoon Bezug, aber Winckelmann scheint auf ein anderes Beispiel aus dieser Schrift zurückzugreifen: Den vor Schmerzen schreienden Sophokleischen Protagonisten Philoktet, den Cicero als Negativbeispiel exponiert18, würdigt Winckelmann wie Laokoon als positives Paradigma stoischen Verhaltens, und zwar gemäß der Maxime stoischer Affektbesiegung und damit analog zu den strengen Wertungsprinzipien Ciceros, der in seinen Tusculanen erklärt: „ingemescere non numquam viro concessum est, idque raro, eiulatus ne mulieri quidem“.19 Gerade dieses stoische Postulat, das Leiden tapfer zu ertragen, möglichst ohne jede stärkere Schmerzäußerung, kritisiert Schopenhauer 1819 in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung mit Entschiedenheit; dabei nimmt er explizit auf die Laokoon-Skulptur und 16 Vgl. Marcus Tullius Cicero: Gesprche in Tusculum. Lateinisch-deutsch mit ausführlichen Anmerkungen neu hg. von Olof Gigon, 2. Aufl. München 1970. [Im folgenden zitiert mit der Sigle Tusc. sowie mit nachgestellter römischer Buchziffer und arabischer Absatzzahl.] – Tusc. II,53: „Alles liegt also daran, daß du dich selbst beherrschest. […] Und dieser Gedanke, was der Ausdauer, der Tapferkeit, der Seelengröße würdig sei, festigt nicht nur die Seele, sondern macht auf irgendeine Weise auch den Schmerz milder.“ 17 Cicero: Tusc. II,57. 18 Cicero: Tusc. II,55: „sed hoc idem in dolore maxume est providendum, ne quid abiecte, ne quid timide, ne quid ignave, ne quid serviliter muliebriterve faciamus, in primisque refutetur ac reiciatur Philocteteus ille clamor“ („Man muß beim Schmerz vor allem darauf achten, nichts verächtlich, ängstlich, feige, sklavisch und weibisch zu tun, und vor allem muß jenes Geschrei des Philoktetes abgelehnt und verworfen werden“). 19 Cicero: Tusc. II, 55: „Zu seufzen ist dem Mann zuweilen, wenn auch selten, gestattet, zu heulen nicht einmal einer Frau“.

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ihre kontroverse Rezeption Bezug: Schopenhauers Einschätzung zufolge machte Winckelmann „den Laokoon zu einem Stoiker, der es [für] seiner Würde nicht gemäß hält secundum naturam zu schreien, sondern zu seinem Schmerz sich noch den nutzlosen Zwang auflegt, [sich] die Äußerung desselben zu verbeißen“.20 Damit diagnostiziert Schopenhauer bereits die projektive Überformung Laokoons durch Winckelmanns stoische Deutung. Als „vortreffliche Beschreibung“ läßt er Winckelmanns Perspektive auf die Laokoon-Skulptur nur unter der Voraussetzung gelten, daß man „vom Unterlegen stoischer Gesinnung abstrahiert“21. Mit dieser positiven Wertung nimmt er auf die spätere, detailliertere Laokoon-Darstellung in Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums Bezug. Bereits im Jahre 1766 formuliert Lessing in seiner Laokoon-Schrift, die mit kritischem Rekurs auf Winckelmann die Spezifika von Literatur und bildender Kunst darstellt, Vorbehalte gegenüber dem stoischen Ethos. Er bedauert zunächst, daß ein Laokoon-Drama des Sophokles nicht erhalten geblieben ist. Dann fährt er fort: „So viel bin ich versichert, daß er den Laokoon nicht stoischer als den Philoktet und Herkules, wird geschildert haben. Alles Stoische ist untheatralisch; und unser Mitleiden ist allezeit dem Leiden gleichmäßig, welches der interessierende Gegenstand äußert“.22 Hier verbindet Lessing sein auf die Aristotelische Poetik zurückgreifendes Mitleidskonzept, das er ausführlich in der Hamburgischen Dramaturgie thematisiert (74. bis 78. Stück), mit einer rezeptionsästhetischen Intention: Für „untheatralisch“ hält er das stoische Ethos, weil es bei einer Drameninszenierung empathische Reaktionen des Zuschauers eher blockiert als fördert. Das Mitleid der Rezipienten entspricht jeweils der Intensität des Leidens, das die Schauspieler auf der Bühne darstellen.

20 Arthur Schopenhauer: Smtliche Werke, hg. von Wolfgang Frhr. von Löhneysen. Fünf Bände, Darmstadt 1976 – 1982. Bd. 1: Die Welt als Wille und Vorstellung I: S. 319. 21 Ebd. S. 322. – Zu Schopenhauers ambivalentem Verhältnis zum Stoizismus vgl. meinen Aufsatz im vorliegenden Sammelwerk. 22 Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon: oder ber die Grenzen der Malerei und Poesie, in: Gotthold Ephraim Lessing: Werke, hg. von Herbert G. Göpfert, 8 Bände, München 1970 – 1979. Bd. 6: Kunsttheoretische und kunsthistorische Schriften, hg. von Albert von Schirnding. München 1974, S. 7 – 187, hier S. 16. Zu Lessings Berufung auf Sadoleto und zu seiner Auseinandersetzung mit Winckelmann vgl. Giuliani (ebd.), S. 312 – 313.

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Auf andere Weise zeichnet sich auch bei Winckelmann ein Zusammenhang von ethischen Prämissen und ästhetischer Programmatik ab. Denn für seine Laokoon-Deutung ist die Frage relevant, wie sich die stoische ,virtus‘ bei extremer Schmerzerfahrung im Verhalten einer Person ausdrückt, oder konkret: wie sie sich in der äußeren Erscheinung der Laokoon-Skulptur manifestiert, in der die spannungsreiche Situation gleichsam petrifiziert ist. Das ethische Postulat der Stoiker übernimmt Winckelmann, indem er in der Laokoon-Partie seiner Schrift Gedancken ber die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst nicht nur auf die ,magnanimitas‘ und die ,firmitas animi‘ anspielt, sondern auch die „Ruhe“, die ,tranquillitas animi‘ thematisiert23, die sich in der Beherrschung des Schmerzes zeigt. Zugleich zielt seine Intention darauf, dieses stoische Ethos ins Ästhetische zu transformieren. Winckelmann betont die dynamische Konstellation von physischem Leiden und mentaler Stärke. Den „Schmertz des Cörpers“ und die „Grösse der Seele“ sieht er durch „den gantzen Bau der Figur“ zum Ausdruck gebracht.24 Eine besondere kompositorische Leistung der drei Bildhauer besteht demnach darin, die spannungsreiche Harmonie antagonistischer Energien in kunstvoller Balance abzubilden. Das Ethos des Heroisch-Voluntativen, das die Stoiker mit dem Postulat der ,virtus‘ intendieren, verbindet Winckelmann mit einem klassischen Ideal der Mitte. In ihm erhält das ethische Substrat der stoischen Konzepte eine spezifisch ästhetische Funktion. Bezeichnenderweise spricht Winckelmann kurz vor der Laokoon-Partie explizit von der „sanften Harmonie des Gantzen“.25 Die regulative Instanz, die eine solche Harmonie garantiert, findet Winckelmann, indem er sich auch am ästhetischen Platonismus italienischer Kunsttheoretiker orientiert. Bellori, einer der einflußreichsten Kunsttheoretiker im 17. Jahrhundert, dessen Schriften nachweislich auch Winckelmann rezipierte, führt die Vollkommenheit klassischer

23 In seinen Gedancken ber die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst schreibt Winckelmann: „Im Laocoon würde der Schmertz, allein gebildet, Parenthyrsos gewesen seyn; der Künstler gab ihm daher […] eine Action, die dem Stand der Ruhe in solchem Schmertz der [sic!] nächste war“ (ebd., S. 31 – 32). 24 Winckelmann: ebd., S. 31. 25 Winckelmann: ebd., S. 29.

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Kunst auf „una certa idea“ zurück.26 Winckelmann beruft sich allerdings nicht nur auf ein Platonisches „Urbild“, die „Idealische Schönheit“ und eine künstlerische Produktion „nach Idealischen Begriffen“27, sondern auch auf die Weisheit als regulatives Prinzip.28 Die für die stoische Philosophie zentrale Vorbildfigur des Weisen, des ,sapiens‘, verbindet er mit dem griechischen Terminus ,sophrosyne‘, der Besonnenheit und Maß bezeichnet.29 Indem Winckelmann den primär ethisch konnotierten Begriff ,Weisheit‘ in sein ästhetisches Konzept integriert, ordnet er ihm eine wichtige künstlerische Vermittlungsfunktion zu: „Die Weisheit reichte der Kunst die Hand“30 – so Winckelmanns Erklärung für die Vollkommenheit der griechischen Kunst, deren Schöpfer seines Erachtens „Künstler und Weltweisen [sic]“ in Personalunion waren.31 „Weisheit“ akzentuiert er in seinen Ausführungen zum Laokoon ästhetisch: als Sensorium für Maß und Mitte, das Extreme zu vermeiden hilft und dadurch Kunst in klassischer Harmonie ermöglicht. Das erhellt ex negativo auch aus Winckelmanns Feststellung: „Alle Handlungen und Stellungen der Griechischen Figuren, die mit diesem Character der Weißheit nicht bezeichnet, sondern gar zu feurig und zu wild waren, 26 Vgl. dazu S. 433 im Kommentar des in Anm. 6 genannten FrühklassizismusBandes. Belloris Idea (S. 11 f.) zufolge gestalteten die Bildhauer der Antike ihre Werke nach einer „bewunderungswürdigen Idee“; daher sei es „unbedingt nötig“, die „vollendetsten“ antiken Bildhauer zu studieren. Winckelmann benutzte in Dresden die Bellori-Ausgabe von 1728 und legte während der Lektüre auch Exzerpte an. In seiner Schrift Gedancken ber die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst zitiert er aus einem Brief Raffaels, der über sich selbst mitteilt: „Da die Schönheiten […] unter dem Frauenzimmer so selten sind, so bediene ich mich einer gewissen Idee in meiner Einbildung“ (ebd., S. 20). Anders als Winckelmann, der „die Nachahmung der Alten“ als „eintzige[n] Weg“ zur Größe betrachtet (ebd., S. 14), erkennt Bellori auch Künstler an, die „das Studium der Antiken verwerfen“ (vgl. Kommentar [Anm. 6], S. 433). 27 Winckelmann: ebd., S. 20 – 21. 28 Winckelmann: ebd., S. 31. 29 Vgl. dazu Cicero: Tusc. III,15 – 16: Hier charakterisiert Cicero die Seele des Weisen durch die Fähigkeit, die Vernunft bestmöglich anzuwenden („ut ratione optime utatur“), die ihm jede Verwirrung der Seele („perturbatio […] animi“) erspart. Anschließend geht Cicero auf die von den Griechen als Sophrosyne bezeichnete Tugend ein; er übersetzt diesen Begriff durch temperantia, moderatio sowie modestia. 30 Winckelmann: ebd., S. 31. 31 Winckelmann: ebd., S. 31.

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verfielen in einen Fehler, den die alten Künstler Parenthyrsos nannten“.32 Mit diesem ursprünglich aus der Rhetorik stammenden Terminus ist ein übertriebenes Pathos gemeint. Die Grundtendenz von Winckelmanns epochaler Erstlingsschrift Gedancken ber die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst zielt auf eine Abkehr von barockem Überschwang und pathetischer Exzentrizität, die seines Erachtens auch im „gemeinste[n] Geschmack der heutigen sonderlich angehenden Künstler“ Ausdruck findet: Sie inszenieren „ungewöhnliche Stellungen und Handlungen, die ein freches Feuer begleitet“.33 Künstlerische Exuberanz kritisiert Winckelmann ebenso wie Defizienzphänomene. Den „Schwulst“ wie das allzu „Magere“34 will er mithilfe eines ästhetischen Programms vermeiden, das von einem klassizistischen Stilideal geprägt ist; er plädiert für die Einhaltung von Maß und Harmonie.35 In diesem Zusammenhang erfüllt die Adaptation stoischer Vorstellungsmuster und Denkkategorien eine spezifische Funktion: Winckelmann greift damit auf eine etablierte Tradition der antiken Philosophie zurück. Er aktualisiert den stoischen Diskurs, indem er ihn zugleich ins Ästhetische transformiert und das antike Konzept durch den neuen Argumentationskontext modernisiert. Die „grosse und gesetzte Seele“, die stoische ,magnanimitas‘, verbindet Winckelmann mit seinem

32 Winckelmann: ebd., S. 31. Im Kommentar des Frühklassizismus-Bandes (ebd., S. 444) wird darauf hingewiesen, daß die Parole der ,edlen Einfalt‘ schon lange vor Winckelmann gebräuchlich war; Belege finden sich u. a. bei Breitinger, Möser, Gellert, Uz, Gleim, Hagedorn sowie bei französischen und englischen Autoren. – Vgl. auch Lessing, der in seiner Schrift Laokoon: oder ber die Grenzen der Malerei und Poesie im Zusammenhang mit einem expliziten Winckelmann-Zitat auf die Problematik des Parenthyrsos eingeht und nach der Feststellung „Parenthyrsus war ein rhetorisches Kunstwort“ kritisch anmerkt: „ich zweifle sogar, ob sich überhaupt dieses Wort in die Malerei übertragen läßt. Denn in der Beredsamkeit und Poesie gibt es ein Pathos, das so hoch getrieben werden kann als möglich, ohne Parenthyrsus zu werden; und nur das höchste Pathos an der unrechten Stelle, ist Parenthyrsus. In der Malerei aber würde das höchste Pathos allezeit Parenthyrsus sein […]“ (ebd., S. 183). 33 Winckelmann: ebd., S. 32. 34 Winckelmann: ebd., S. 26. 35 Giuliani betont, daß die Vorstellung von antiker Humanität und von der für sie charakteristischen Ruhe und Affektmilderung bei Lesern des späten 18. Jahrhunderts durch Winckelmanns stoische Laokoon-Deutung maßgeblich beeinflußt worden sei (ebd., S. 310).

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ethisch-ästhetischen Ideal der „edle[n] Einfalt“ und „stille[n] Grösse“36, um diesem eine besondere Legitimation zu verschaffen. – An dieser Stelle drängt sich eine brisante Frage auf: Ist die einflußreiche stoische Laokoon-Deutung in Winckelmanns Erstlingsschrift, der durch mehrere Übersetzungen ein europäisches Echo beschieden war, eigentlich adäquat? – Lassen die auffällige Dynamik dieser Skulptur und die extreme Körperhaltung der drei Figuren, die das klassische Ideal geradezu konterkarieren, nicht eher die auf das Pathos konzentrierte Laokoon-Deutung Sadoletos plausibel erscheinen? Und spricht nicht alles dafür, der Argumentation des späteren WinckelmannKritikers Aloys Hirt zu folgen, der ein ganz anderes – gerade nicht stoisches – Laokoon-Bild entwirft? – In seinem Laokoon-Aufsatz, der 1797, also 42 Jahre nach Winckelmanns Erstlingsschrift, in der von Schiller herausgegebenen Zeitschrift Die Horen erschien, schreibt Aloys Hirt: Wäre die Absicht des Künstlers gewesen, einen gemilderten Ausdruck, ein Seufzen auf dem Gesicht Laokoon’s zu bilden: so müßte man in der Bewegung sowohl, als in der Dehnung der Glieder eben diese Milderung erblicken. Allein in dem ganzen Akte von der Scheitel bis zur Zehe ist eine Anstrengung verbreitet, die das höchste Naturvermögen in vollster Empörung ausdrükt, und die sich nach lange versuchtem Widerstreben, und schon erschöpften Kräften in dem verzweiflungsvollsten Ringen zwischen Leben und Tod denken läßt. Man sehe nur […] das fürchterliche Zusammenpressen der Stirne, das Zuken in den Nasenmuskeln und Wangen: kein Schmerz, kein Widerstreben, kein Entsetzen kann den Ausdruck schrecklicher mahlen: Laokoon schreiet nicht, weil er nicht schreien kann. Der Streit mit den Ungeheuern beginnt nicht, er endet […]. Das Krampfartige, die höchste Spannung, die wüthendsten Zukungen zeigen sich in allen Gliedern. Der Kampf hat die äußersten Kräfte des Elenden erschöpft […].37

36 Winckelmann: ebd., S. 30. 37 Aloys Hirt: Laokoon, in: Die Horen 1797, Bd. 12, Stück 10, S. 1 – 26, hier S. 8 f. – Schopenhauer erhebt in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung einen Prioritätsanspruch für seinen Beitrag zu der kontroversen Debatte darüber, warum Laokoon trotz extremer Schmerzen „nicht schreiet“ (ebd. [Anm. 20], Bd. 1: Die Welt als Wille und Vorstellung I: S. 319). Er kritisiert zunächst Winckelmanns stoische Interpretation der Laokoon-Skulptur, referiert sodann Lessings ästhetische Deutung sowie Hirts physiologische Argumentation und grenzt sich anschließend von diesen Konzepten mit einer gattungspoetologisch ansetzenden These ab: Seines Erachtens liegt die in der Literatur und auf der Theaterbühne durchaus mögliche Darstellung des Schreiens „gänzlich außer dem Gebiete der Skulptur“, weil die mimische Verzerrung des Gesichts

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Die detaillierte Beschreibung der Skulptur in Hirts Laokoon-Aufsatz läßt auf präzise Autopsie schließen. Und genau das kann man über Winckelmann zu der Zeit, in der er sein Erstlingswerk konzipierte, nicht sagen! Diese heutzutage erstaunlich anmutende Tatsache ist aus den spezifischen biographischen Rahmenbedingungen zu erklären, unter denen Winckelmanns Schrift Gedancken ber die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst entstand. In Dresden, wo er die Abhandlung 1755 verfaßte, existierte zwar eine Antikensammlung, nicht aber ein Gipsabdruck38 der in Rom befindlichen Laokoon-Gruppe. Winckelmann bekam sie erst nach der Publikation seiner Gedancken ber die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst und seinem anschließenden Umzug nach Rom zum ersten Mal zu Gesicht. Als er seine Abhandlung verfaßte, kannte er lediglich ältere Beschreibungen der Laokoon-Skulptur und Darstellungen auf Kupferstichen.39 Daß Winckelmann 1755 dennoch ausführlich auf die LaokoonSkulptur einging, ist wohl durch deren enormen Bekanntheitsgrad zu erklären. Schon in der Anfangspartie seiner Schrift sprach er ihr einen singulären Rang als „vollkommene Regel der Kunst“ zu.40 Damit gab er zu erkennen, daß er dieses Meisterwerk in einer Abhandlung, die sich auf die paradigmatische Bedeutung antiker Kunst konzentriert, für schlechterdings unentbehrlich hielt. Aufgrund fehlender Autopsie konnte Winckelmann auf die Statue den stoischen Habitus projizieren,

ohne den hörbaren Schrei selbst bloß den „lächerlichen Anblick einer ohne Wirkung bleibenden Anstrengung“ hervorriefe (ebd., S. 320 – 321). 38 Erst 1784 kam durch den Nachlaß von Anton Raphael Mengs auch ein Abguß der Laokoon-Skulptur nach Dresden. Vgl. dazu Martin Raumschüssel: Die Dresdner Sammlung antiker Skulpturen im 18. Jahrhundert, in: Glyptothek Mnchen 1830 – 1980. Jubiläumsausstellung zur Entstehungs- und Baugeschichte. Katalog, hg. von Klaus Vierneisel und Gottlieb Leinz, München 1980, S. 356. Weitere Detailinformationen gibt Giuliani in seinem Aufsatz (ebd., S. 304 – 305). 39 Nicht nur die zweidimensionale Reproduktion führt zu Vergröberungen. Hinzu kommt, daß viele der Kupferstiche, die als potentielle Vorlagen für Winckelmann in Betracht zu ziehen sind, die Mimik Laokoons sehr abgemildert darstellen. Die für Winckelmann maßgebliche Vorlage konnte bislang nicht identifiziert werden. Mehrere konkrete Möglichkeiten nennt Giuliani (S. 306). 40 Winckelmann: ebd., S. 15.

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der seinen eigenen ästhetischen Prinzipien entsprach.41 Erst mit der viel ausführlicheren Laokoon-Darstellung in seiner Geschichte der Kunst des Alterthums von 1764, die auf der präzisen und zugleich empathischen Wahrnehmung des Originals im Belvedere in Rom basiert, rückte er ein Stück weit von der stoischen Interpretation der Frühschrift ab.42 41 Giuliani weist darauf hin, daß die Vatikanische Antikensammlung über Jahrzehnte hinter einem Holzverschlag untergebracht und nur mit Sondergenehmigung zu besichtigen war (ebd., S. 305, 312). 42 Der Aussage in der Abhandlung Gedancken ber die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst, in der Winckelmann den Gesichtsausdruck „Laocoons […] bey dem heftigsten Leiden“ beschreibt (S. 30), entspricht zwar seine Darstellung in der Geschichte der Kunst des Alterthums: „Laocoon ist eine Natur im höchsten Schmerze“ (S. 190). Hier folgt dann aber – im Unterschied zum Frühwerk – eine sehr differenzierte Darstellung seiner Mimik und Haltung, in der Winckelmann den „Streit zwischen Schmerz und Widerstand“ (S. 191) herauszuarbeiten versucht: „indem sein Leiden die Muskeln aufschwellet, und die Nerven anziehet, tritt der mit Stärke bewaffnete Geist in der aufgetriebenen Stirne hervor […].“ Und nach einer Deutung, die das Mitleid Laokoons mit seinen Kindern betont, fährt Winckelmann mit einer Beschreibung der Mimik fort: „Der Mund ist voll von Wehmuth, und die gesenkte Unterlippe schwer von derselben; in der überwerts gezogenen Oberlippe aber ist dieselbe mit Schmerz vermischet, welcher mit einer Regung von Unmuth, wie über ein unverdientes unwürdiges Leiden, in die Nase hinauftritt […]. Unter der Stirn ist der Streit zwischen Schmerz und Widerstand, wie in einem Punkte vereiniget, mit großer Weisheit gebildet: denn indem der Schmerz die Augenbra[u]nen in die Höhe treibet, so drücket das Sträuben wider denselben das obere Augenfleisch niederwerts, und gegen das obere Augenlied zu, so daß dasselbe durch das übergetretene Fleisch beynahe ganz bedeckt wird. Die Natur, welche der Künstler nicht verschönern konnte, hat er ausgewickelter, angestrengeter und mächtiger zu zeigen gesuchet: da, wohin der größte Schmerz geleget ist, zeiget sich auch die größte Schönheit“ (S. 190 – 191). Wie in der Erstlingsschrift von 1755 spricht Winckelmann Laokoon hier eine „bewußte Stärke des Geistes“ zu; allerdings differieren die Aussagen über das Leiden: In der Geschichte der Kunst des Alterthums beschreibt er den Schmerz des Laokoon mit großer Prägnanz, während er neun Jahre früher noch formuliert hatte: „dieser Schmertz […] äussert sich dennoch mit keiner Wuth in dem Gesichte“ (S. 30). Ja, er spielt sogar auf das stoische Ideal der ,tranquillitas animi‘ an, wenn er 1755 über die dynamisch-spannungsreiche Körperhaltung der Figuren schreibt: „Im Laocoon würde der Schmertz, allein gebildet, Parenthyrsos gewesen seyn; der Künstler gab ihm daher […] eine Action, die dem Stand der Ruhe in solchem Schmertz der [sic!] nächste war“ (S. 32). – So sehr sich die spätere Perspektive von der früheren unterscheidet: eine explizite Revision der auf fragwürdiger Basis entstandenen, aber berühmt gewordenen Laokoon-Interpretation von 1755 hat Winckelmann auch später nie vollzogen.

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In auffälliger Weise divergieren Winckelmanns Wertungskriterien in der Geschichte der Kunst des Alterthums von 1764. Zwar vertritt er im zentralen, systematischen Teil dieses Werks die klassizistische Überzeugung, künstlerischer Ausdruck und Schönheit seien inkompatibel, weil forcierte Expressivität die ästhetische Qualität eines Kunstwerks in Frage stelle; dem vollendeten Werk komme die Funktion zu, die Gegenpole in harmonischer Balance zu vermitteln. Aber im konkreteren Kontext seiner Laokoon-Deutung formuliert er im selben Werk dann eine konträre These: „Die Natur, welche der Künstler nicht verschönern konnte, hat er ausgewickelter, angestrengeter und mächtiger zu zeigen gesuchet: da, wohin der größte Schmerz geleget ist, zeiget sich auch die größte Schönheit.“43 Diese auffällige Modifikation der zuvor noch klassizistisch-rigiden Wertungsmaßstäbe ist vermutlich ein Resultat ästhetischer Sensibilisierung durch die Wahrnehmung der originalen Laokoon-Skulptur. Dafür spricht auch die besondere Präzision und Anschaulichkeit der späteren Beschreibung. Das klassizistische Ideal des Maßes, das Winckelmann dazu veranlaßte, eine Polarität von Schönheit und Ausdruck vorauszusetzen, wird relativiert, wenn er gerade das Maximum des Schmerzes auch als Zenit der Schönheit betrachtet. Die Prämissen seiner ästhetischen Theorie suspendiert er nun offenbar aufgrund genauerer Wahrnehmung des konkreten Werkes. In der Folgezeit schärfte die neuartige Prägnanz von Winckelmanns Kunstdarstellung den Blick für Nuancen des Ausdrucks, so daß die Leser den Widerspruch zwischen Winckelmanns Laokoon-Darstellung und dem konkreten Kunstwerk diagnostizieren konnten.44 Wilhelm Heinse etwa wendet sich entschieden gegen eine durch klassizistischen Dogmatismus verfälschte Beschreibung der Laokoon-Skulptur, indem er geistreich-respektlos gegen das Votum der zeitgenössischen Kunstautoritäten polemisiert: „Ich weiß nicht, ob die Gruppe Laokoons wirklich so schön ist, als man sie macht; mir kömmt sie immer je mehr und mehr ich sie betrachte gekünstelt vor, und wie eine Tanzmeisterstellung, als ob die Schlangen abgerichtet wären, die eine oben herein durch die Arme, und die andere zwischen den Beinen hinauf zu fahren, und den Vater mit den zwey Söhnchen zu einem marmornen Sonnenfächer gleichsam zu flechten; und damit er einen Stil hat, so muß 43 Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums, S. 191. Vgl. dazu Giuliani (ebd.), S. 308 – 309. 44 Vgl. Giuliani: ebd., S. 315 – 316.

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der Papa auf dem Altar sitzen. Im Gesichte kan ich die Erhabenheit auch noch nicht so überschwenglich finden; und in den Gesichtern der zwey Buben ist ohne dieß Grimaße, und keine wahre Natur.“45 Auch die expressive Beschreibung der Skulptur, die Aloys Hirt in seinem Laokoon-Aufsatz präsentiert, beruht auf präziser Beobachtung. Seine Beurteilungskriterien verraten Distanz zum klassizistischen Dogmatismus: „Was die Alten unter Vollkommenheit oder Schönheit der Kunst verstanden, [war] nichts anders […] als Karakteristik“.46 Hirt räumt dem Individuell-Charakteristischen den Primat vor einem traditionellen normativen Ideal der Schönheit ein. Goethe reagiert in seiner Abhandlung ber Laokoon, die 1798 in den Propylen erschien, zunächst zustimmend auf Hirts Laokoon-Aufsatz. Allerdings insistiert er auf dem Konzept des Maßes, das er auch für die Laokoon-Skulptur nach wie vor als gültig ansieht. Dabei kodiert er den Begriff des Maßes um, indem er ihn nicht inhaltlich, sondern formal versteht: nicht als Mäßigung der Expressivität, sondern im Sinne der ,Kunstgesetze‘ „Ordnung, Faßlichkeit, Symmetrie, Gegenstellung etc.“, die dem Werk trotz aller Dynamik „eine gewisse Ruhe und Einheit“ verleihen.47 Auf diese Weise kann selbst „der höchste pathetische Ausdruck“, „das Extrem eines physischen und geistigen Leidens“, mit „Maß“ dargestellt werden.48 Und so attestiert Goethe „der bewegten herrlichen Gruppe des Laokoon“ explizit, sie sei „ein Muster […] von Symmetrie und Mannigfaltigkeit, von Ruhe und Bewegung, von Gegensätzen und Stufengängen“.49 45 Wilhelm Heinse: Smtliche Werke, hg. von Carl Schüddekopf, Leipzig 1903 – 1910. Bd. 8,1: S. 536. Zur Laokoon-Deutung Heinses vgl. Osterkamp (Anm. 1). 46 Hirt: ebd., S. 23. Hirt versucht die Gegensätze zu vermitteln, indem er den Wahrheitsbegriff als Bindeglied exponiert: „Wahrheit, als das erste Requisitum der Karakteristik, muß also in jedem Kunstwerk herrschen. Sie bleibt und ist das Grundgesetz des Schönen, wie des Guten“ (ebd., S. 23 f.). 47 Goethes Abhandlung ber Laokoon zitiere ich nach: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden [=HA], hg. v. Erich Trunz. Bd. 12: Schriften zur Kunst, Schriften zur Literatur, Maximen und Reflexionen, 12. Aufl. München 1994, S. 56 – 66, hier S. 57. – Giuliani sieht Goethes Konzept durch ästhetische Theorien beeinflußt, die Kant in seiner Kritik der Urteilskraft entwirft (vgl. ebd., S. 319). 48 Goethe: ebd., S. 62, 57. 49 Goethe: ebd., S. 59, 58. Zu Goethes kritisch-konstruktiver Auseinandersetzung mit der Tradition der Laokoon-Deutung vgl. den differenzierten Aufsatz von Inka Mülder-Bach: Sichtbarkeit und Lesbarkeit. Goethes Aufsatz „ber Lao-

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Schiller lobt an Goethes Aufsatz ber Laokoon „eine bewunderungswürdige Klarheit“.50 In seiner eigenen Abhandlung ber das Pathetische zitiert er allerdings ausführlich Winckelmanns Laokoon-Darstellung aus der Geschichte der Kunst des Alterthums. 51 Denn hier sieht Schiller sein eigenes ästhetisches Konzept bestätigt: den „Kampf der Intelligenz mit dem Leiden der sinnlichen Natur“, die Opposition von „Naturzwang und Vernunftfreiheit“.52 Deshalb betrachtet er die Laokoon-Skulptur als willkommenen Anlaß, um „den Begriff des Pathetischen daraus zu entwickeln.“53 Das charakteristische Spannungsverhältnis beschreibt Schiller folgendermaßen: Einerseits erkennt der Mensch die destruktive und „mächtige Naturkraft“ aufgrund des „schwachen Widerstehungsvermögen[s]“ seiner Physis „als furchtbar“, andererseits aber vermag er sich der „absolute[n] Unabhängigkeit“ seines Willens „von jedem Natureinfluß“ bewußt zu werden54, so daß „sich die Selbständigkeit des Geistes im Zustand des Leidens offenbaren“ kann.55 Die Laokoon-Skulptur betrachtet Schiller als Prototyp eines pathetisch-erhabenen Kunstwerks. Denn in ihr manifestieren sich seines Erachtens „die beiden Fundamentalgesetze aller tragischen Kunst“: die „Darstellung der leidenden Natur“ und die „Darstellung des moralischen Widerstandes gegen das Leiden“.56 Das stoische Programm der Affektbesiegung, das Winckelmann schon 1755 in seiner Laokoon-Darstellung propagiert, steigert Schiller über die ästhetische Dimension und deren Vermittlung mit ethischen Kategorien hinaus zu einem anthropologischen Konzept: Das aufklärerische Vernunftpostulat und die idealistische Freiheitsvorstellung verbindet er mit dem Anspruch auf eine Selbstbestimmung des Menschen. Im Vergleich zu Winckelmanns Frühschrift Gedancken ber die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst

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koon“, in: Das Laokoon-Paradigma. Zeichenregime im 18. Jahrhundert, hg. von Inge Baxmann, Michael Franz und Wolfgang Schäffner in Zusammenarbeit mit Bernhard Siegert und Robert Stockhammer, Berlin 2000, S. 465 – 479. So Schiller am 10. Juli 1797 in einem Brief an Goethe (HA 12: S. 596). Schillers ästhetische Schriften zitiere ich nach der Frankfurter Ausgabe: Friedrich Schiller: Werke und Briefe in zwçlf Bnden, hg. von Otto Dann u. a., Frankfurt a.M. 1988 – 2004. Bd. 8: Theoretische Schriften, hg. von Rolf-Peter Janz, S. 434 – 435. Schiller: ebd., S. 435. Schiller: ebd., S. 436. Schiller: ebd., S. 436. Schiller: ebd., S. 440. Schiller: ebd., S. 422, 426.

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transformiert Schiller das stoische Substrat in ein von größerer Dynamik bestimmtes Konzept, wenn er das Gefühl des Pathetisch-Erhabenen aus einem Kampf um die „Autonomie unserer Willensbestimmungen“ hervorgehen sieht.57 Dem Dramatiker Schiller lag daran, die konfliktbedingte Spannung zu radikalisieren, während Winckelmann aufgrund seines klassizistischen Harmonieideals die Affekte in der Frühschrift noch abzumildern versuchte. Bei der Laokoon-Beschreibung in der Geschichte der Kunst des Alterthums allerdings kontrastiert Winckelmann den physischen Ausdruck des Leidens selbst bereits mit der „bewußte[n] Stärke des Geistes“.58 Daß Schiller gerade diese Partie zitiert, ist konsequent. Denn hier zeichnet sich die Affinität zu seiner eigenen Ästhetik des Pathetisch-Erhabenen besonders deutlich ab. In der Anfangspartie seiner Schrift ber das Pathetische formuliert Schiller programmatisch seine Leitvorstellung: „Das Sinnenwesen muß tief und heftig leiden; Pathos muß da sein, damit das Vernunftwesen seine Unabhängigkeit kund tun und sich handelnd darstellen könne“.59 Hier rekurriert er auf die auch von den Stoikern betonte Bedeutung der Rationalität. Sie ermöglicht ein Ethos der Autarkie, mit dem sich Leidenserfahrungen bewältigen lassen. Wie entschieden Schiller sein Konzept des Erhabenen und Pathetischen mit dem stoischen Ideal ,fortunae resistere‘ verbindet, zeigt schon das Postulat einer „Seelenstärke“, die zum Widerstand gegen das Schicksal befähigt. Sie entspricht der stoischen „firmitas animi“.60 In diesem Kontext findet sich sogar eine explizite Seneca-Reminiszenz: Im Rahmen seiner Darlegungen zum Pathetisch-Erhabenen schreibt Schiller: „Ein tapfrer Geist, im

57 Schiller: ebd., S. 437. Vgl. auch die anthropologische Definition in Schillers Schrift ber das Erhabene: „der Mensch ist das Wesen, welches will“ (ebd., S. 822). Zu Schillers stoischem Ethos vgl. meinen Aufsatz im vorliegenden Sammelwerk. 58 Vgl. dazu den Beleg in Anmerkung 42. 59 Schiller: ebd., S. 423. 60 Vgl. z. B. Seneca: Epist. 67,14. Hier betont Seneca die Herausforderung des Menschen durch Angriffe des Schicksals, die ihm Gelegenheit geben, die Festigkeit seiner Seele zu erproben („firmitatem animi tui temptes“). Im Vergleich dazu erscheint ihm ein sorgenfreies Leben wie ein totes Meer („Demetrius […] vitam securam et sine ullis fortunae incursionibus mare mortuum vocat“). Laut Epist. 63,1 gelingt Seelenstärke dem, der sich schon weit über das Schicksal erhoben hat („sed cui ista firmitas animi continget nisi iam multum supra fortunam elato?“)

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Kampf mit der Widerwärtigkeit, sagt Seneka [sic], ist ein anziehendes Schauspiel selbst für die Götter.“61

61 Schiller: ebd., S. 440. Schiller rekurriert hier auf Senecas Schrift De providentia II,8. Der Kommentar der Frankfurter Schiller-Ausgabe (Bd. 8: S. 1366) bietet eine falsche Titel- und Stellenangabe: De divina providentia II,9.

Cato als Repräsentant stoisch formierten Republikanertums von der Antike bis zur Französischen Revolution von Barbara Beßlich Marcus Porcius Cato Uticensis (95 – 46 v. Chr.) war als römischer Feldherr und Staatsmann der hartnäckigste Gegner Caesars in der Endphase der römischen Republik. Der Urenkel Catos des Älteren kämpfte unermüdlich für das Senatsregiment, die Optimatenpartei und den Erhalt der Republik. Er galt seiner Zeit als Endgestalt, die in vorbildhafter Weise römische Tugendtraditionen hütete und das Leben nach der Lehre der Stoa gestaltete. Sein Freitod in Utica – nachdem Cäsar 46 v. Chr. die Schlacht von Thapsus gewonnen hatte – spaltete das Urteil der Nachwelt einerseits in Bewunderer, die in Cato den Inbegriff altrömischer Tugenden, heroisch republikanischen Widerstands und stoischer Ideale sahen, und andererseits in Kritiker, die seine Vehemenz als Halsstarrigkeit, seine Ideale als anachronistisch und seinen Selbstmord als nicht gerechtfertigt interpretierten. Der Historiker Theodor Mommsen nannte den jüngeren Cato dementsprechend einen „Don Quichotte der römischen Aristokratie“.1 Cato als großer Verlierer der Geschichte verkörperte altrömische Sittenstrenge, Wahrheits- und Freiheitsliebe: Trotz oder gerade wegen seines Scheiterns zu Lebzeiten wurde er posthum zum Sinnbild stoisch formierten Republikanertums. Cato Uticensis hatte früh Kontakt zu den Stoikern Antipatros von Tyros und zu Athenodoros von Kordylion, den er überzeugen konnte, mit ihm nach Rom zu kommen. Als Quaestor (65/64 v. Chr.) war Cato höchst korrekt, als Volkstribun kämpfte er gegen die Korruption, und als Senator vertrat er während der Catilinarischen Verschwörung mit Verve die Anklage und forderte rhetorisch imposant und erfolgreich 63 v. Chr. die Todesstrafe für Catilina.2 Als Dauerredner und Störfaktor 1 2

Theodor Mommsen: Rçmische Geschichte. Leipzig 61875, Bd. 3, S. 167. Zur Biographie Catos vgl. Rudolf Fehrle: Cato Uticensis. Darmstadt 1983. Matthias Gelzer: Cato Uticensis, in: Ders.: Kleine Schriften. Wiesbaden 1963, Bd. 2, S. 257 – 285. Elke Stein-Hölkeskamp: Marcus Porcius Cato. Der stoische

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gegenüber dem Triumvirat gefürchtet, wurde Cato 58 v. Chr. als Quaestor pro Praetore nach Zypern gesandt, damit er nicht mehr in Rom gegen Caesar agieren konnte. Cato unterwarf Zypern erfolgreich und kehrte nach Rom zurück, wo sich sein Widerstand gegen Caesar und Pompeius immer mehr verschärfte. Erst in der Situation des drohenden Bürgerkriegs unterstützte Cato Pompeius gegen Cäsar. Cato war zuständig für Truppenaushebungen in Sizilien, hielt in einer Schlacht 48 v. Chr. für Pompeius gegen Caesar Dyrrhachion, bevor Pompeius bei der Schlacht von Pharsalos geschlagen wurde. Nach Pompeius’ Tod zog sich Cato nach Afrika zurück und organisierte dort als Kommandant von Utica, nachdem er bei der Führung der Provinz freiwillig hinter Caecilius Metellus Pius Scipio zurückgetreten war, die militärisch-republikanische Front gegen Caesar. Als Scipio in der Schlacht bei Thapsos (von der Cato abgeraten hatte) am 6.4. 46 v. Chr. gegen Caesar verlor, sicherte Cato den Abzug der Senatoren aus Utica und ermöglichte den Bügern von Utica, sofern sie dies wünschten, die Stadt zu verlassen, bevor Caesar sie einnahm. Die Hoffnung auf einen erfolgreichen militärischen Widerstand gegen Caesar hatte sich zerschlagen; das Angebot, bei Caesar um Fürsprache zu bitten, lehnte Cato ab. Flucht und Exil kamen gleichfalls nicht für ihn in Frage. Plutarch berichtet ausführlich von Catos letztem Abend, an dem er Platons Phaidon gelesen, nach seinem Schwert verlangt und schließlich nach einem kurzen Schlaf den Entschluß zum Selbstmord ausgeführt habe. Nachdem er allein war, zog er das Schwert und stieß es sich unter der Brust in den Leib. Da er jedoch mit der geschwollenen Hand nicht stark genug hatte zustoßen können, verschied er nicht sogleich, sondern fiel mit dem Tode ringend vom Bette. […] Alsbald stürzte der Sohn mit den Freunden herein. Sie fanden ihn in seinem Blute liegen, die Eingeweide hingen ihm größtenteils zum Leibe heraus, aber er lebte noch und hatte die Augen offen. Alle waren gelähmt vor Entsetzen, der Arzt jedoch trat an ihn heran und versuchte, die Eingeweide, welche unverletzt geblieben waren, wieder an ihren Ort zu bringen und die Wunde zuzunähen. Da kehrte Cato, der sich ein wenig erholt hatte, das Bewußtsein zurück, er stieß den Arzt von sich, griff mit den Händen in die Wunde, zerriß die Eingeweide und starb.3

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Streiter fr die verlorene Republik, in: Von Romulus zu Augustus. Große Gestalten der rçmischen Republik, hg. v. Karl-Joachim Hölkeskamp u. Elke Stein-Hölkeskamp, München 2000, S. 292 – 306. Plutarch: Cato minor, 70. (Plutarch: Große Griechen und Rçmer, eingleitet und übersetzt von Konrat Ziegler. Bd. IV. Zürich 1957, S. 432.)

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Dieser von Plutarch detailliert und drastisch beschriebene Selbstmord bildet immer wieder den Ausgangspunkt, um Catos Handeln als Stoiker und Politiker zu reflektieren. Catos Freitod war politisch ein Protest gegen Caesar und demonstrierte philosophisch den freien Willen, sich im Tod seine Tugend zu bewahren. Ob Catos stoischer Kampf für die verlorene Republik und sein Freitod eher als heroisch-idealistisches Fanal oder als politische Kurzsichtigkeit zu interpretieren ist, blieb in Antike und Neuzeit umstritten. Wenn auch kaum jemand umhin kam, Cato Selbstbeherrschung, Tatkraft, Fleiß und Zuverlässigkeit zu attestieren, so fallen doch auch schon zu Lebzeiten Catos die Hinweise auf, die seine Festigkeit als Starrsinn, seinen Idealismus als rückwärtsgewandte Weltfremdheit werteten.4 Mag Catos Aufbegehren gegen den Untergang der Republik auch kurzfristig erfolglos gewesen sein, so schrieb sich langfristig jedoch die Erinnerung an Catos Widerstand so intensiv in das kulturelle Gedächtnis des römischen Imperiums ein, daß sie auch politische Folgen zeitigte, wenn etwa Augustus den Prinzipat als Wiederherstellung der Republik inszenierte.5 Als pater patriae gepriesen, wurde Cato die gesamte römischen Antike hindurch nachdrücklich erinnert. Philosophisch wurde Cato für die späte Stoa zu einer Symbolfigur, die demonstrierte, daß die stoische Lehre eine vita activa meinen konnte, die selbst im Falle der politischen Aussichtslosigkeit Ausharren und Protest gestattet.6 Gravitas, Severitas und Constantia sind die Begriffe, die Cato immer wieder zugeordnet werden. – Im folgenden soll knapp skizziert werden, wie sich der stoische Cato-Mythos in der antiken Literatur formiert,7 um daran anschließend das Fortleben 4 5 6 7

Vgl. etwa Cicero: Ad Atticum 2, 1, 8, auf den weiter unten (wie Anm. 10) genauer eingegangen wird. Ähnlich bereits Cicero: Pro Murena 61. Vgl. auch Matthias Gelzer (wie Anm. 2), S. 285, der die Mobilisierung gegen Cäsar vor allem dem Nachwirken von Catos Widerstand zuschreibt: „Hinter dem erdolchten Cäsar reckte sich Catos mächtiger Schatten“. Vgl. Hermann Tränkle: Cato von Utica und der Tugendwandel in der rçmischen Stoa, in: Ethische Perspektiven. Wandel der Tugenden, hg. v. Hans-Jürg Braun. Zürich 1989, S. 47 – 59. Vgl. hierzu Robert J. Goar: The Legend of Cato Uticensis from the First Century B. C. to the fifth Century A. D.. With an Appendix on Dante and Cato. Brüssel 1987. Goar kann in vielem anknüpfen an Wilhelm Hemmen: Das Bild des M. Porcius Cato in der antiken Literatur, Diss.masch. Göttingen 1954. Eine Stellensammlung bietet die lateinische Dissertation von Bernhard Busch: De M. Porcio Catone Uticensi quid antiqui scriptores aequales et posteriores censuerint. Münster 1911. Vgl. auch Piero Pecchiura: La figura di Catone Uticense nella letteratura latina. Torino 1965.

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Catos in der Literatur der Neuzeit beschreiben zu können. Dabei konzentriert sich die Darstellung auf das Cato-Bild der Aufklärung, denn innerhalb der Dramatik des 18. Jahrhunderts wird Cato erneut zu einer Gestalt, mit der sich neostoizistische Tugendideale und politische Konstellationen diskutieren lassen.

I Zu Lebzeiten Catos sind die Äußerungen Ciceros, Caesars und Sallusts von zentraler Bedeutung. Ciceros Rede Pro Murena aus dem Jahr 63 v. Chr. bietet die früheste erhaltene Charakteristik Catos. Cato war selbst als Ankläger gegen den designierten Konsul L. Licinius Murena aufgetreten, also mußte Cicero in seiner Verteidigungsrede gegen Cato Stellung beziehen. Cicero satirisiert in seiner Rede vor allem Catos altstoischen Tugendrigorismus als überzogen. Dennoch ist hervorzuheben, daß Cicero Cato auch schon würdigt mit Begriffen wie honestas, gravitas, temperantia und magnitudo animi.8 Damit wird Cato zum Vorbild einer römisch-stoischen Tugend, die sich einer vita activa verschreibt. Cicero erklärt Cato superlativisch zum „gravissimus atque integerissimus vir“.9 Nach Catos Tod verfaßte Cicero sogleich (nicht erhaltene) Laudes Catonis, in denen er sich bemühte, Catos Tugend in einer Weise zu preisen, daß sie auch von politischen Gegnern Catos goutiert werden konnte. Gleichwohl muß betont werden, daß Cicero sehr wohl ein offenes Auge für die Ambivalenz von Catos virtus hatte. In diesem Sinn schrieb Cicero bereits 60 v. Chr. an Atticus: „Gewiß, unseren Cato schätze ich nicht weniger als Du; aber in seiner anständigen Gesinnung und unerschütterlichen Zuverlässigkeit richtet er doch zuweilen in der Politik Unheil an. Er stellt Anträge, als ob er sich in Platons Idealstaat und nicht in Romulus’ Schweinestall befände.“10 Mit einem Begriff Max Webers 8 Cicero: Pro Murena 60. Cicero greift nicht so sehr Cato direkt, sondern die stoische Philosophie als Grundlage von Catos Anklage an. Cicero wirft Cato vor, die weltfremde stoische Philosophie zu energisch auf die Politik angewendet zu haben. Vgl. hierzu Joachim Adamietz: Einleitung, in: Cicero: Pro Murena. Mit einem Kommentar hg. v. Joachim Adamietz. Darmstadt 1989, S. 1 – 39, hier S. 10 f. 9 Cicero: Pro Murena 3. 10 Cicero: Ad Atticum 2, 1, 8: „Nam Catonem nostrum non tu amas plus quam ego; sed tamen ille optimo animo utens et summa fide nocet interdum rei

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erscheint hier bei Cicero Cato als ein ,Gesinnungsethiker‘, dem die idealistischen Intentionen seines Handelns wichtiger sind als dessen Folgen. Cato als ,Gesinnungsethiker‘ ordnet sein Handeln nicht erfolgsorientiert und mit Augenmaß (wie Max Webers ,Verantwortungsethiker‘),11 sondern er stellt den idealistischen Zweck über den erreichbaren Erfolg, und das kann, so Cicero, „zuweilen in der Politik Unheil“ anrichten. Caesar griff in den Streit um das publizistische Nachleben ein und verfaßte gegen Ciceros Pro-Cato-Schrift einen bösen (nicht erhaltenen) Anticato. Sallust stellt in seiner Monographie über die Catilinarische Verschwörung einen ganz politisierten Cato vor, der vor allem als Gegner Caesars erscheint.12 Während Sallust also den Antagonismus von Caesar und Cato politisch auflädt, bemüht sich Cicero nach Catos Tod dagegen, mit Catos Tugenden ein moralisches Programm der Gegner Caesars zu formulieren. Schrittweise löst sich das Cato-Bild von einer konkreten politischen Zuschreibung und der virtus-Begriff wird zunehmend entpolitisiert. Als Vorbild stoisch-sittlicher Vollendung erscheint Cato in Ciceros späteren Schriften. Cato wird schließlich zum perfectissimus Stoicus.13 In augusteischer Zeit ermöglicht dieses Zusammendenken von Cato und stoischer virtus das Fortleben des Mythos unter anderen politischen Bedingungen. Horaz preist Catos Tod als „nobile letum“14 und stilisiert Cato allgemein zum Tugendvorbild für den Prinzipat des Augustus. Vergil hebt Catos iustitia hervor; er sieht in ihm das Urbild der Gerechtigkeit. Cato übt in der Aeneis im Reich der Seligen Herrschaftsfunktionen aus; er „gibt die Rechtsnormen“.15 Valerius Maximus preist

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publicae; dicit enim tamquam in Platonis Politeia, non tamquam in Romuli faece sententiam“ (Übersetzung Helmut Kasten). Max Weber definiert folgendermaßen: „Es ist ein abgrundtiefer Gegensatz, ob man unter der gesinnungsethischen Maxime handelt – religiös geredet –: ,der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim‘, oder unter der verantwortungsethischen: daß man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat.“ (Max Weber: Politik als Beruf, in: Ders.: Wissenschaft als Beruf, Politik als Beruf, hg. v. Wolfgang J. Mommsen. Tübingen 1992, S. 237 [Gesamtausgabe I, 17]). Vgl. Karl Büchner: Zur Synkrisis Cato-Caesar in Sallusts „Catilina“, in: Grazer Beitrge 5, 1976, S. 37 – 57. Vgl. Cicero: Brutus 118. Horaz: Carmina et epodon liber I 12, 35 – 36. Vgl. Vergil: Aeneis VIII, 670: („his dantem iura Catonem“). Übersetzung im Text von Edith und Gerhard Binder.

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Cato als den sittlich hervorragenden römischen Bürger und feiert ihn als Märtyrer der Freiheit. Catos Taten werden darüber hinaus als Exempla für stoische Tugend in den Rhetorenschulen behandelt.16 Senecas Enthusiasmus formt die Persönlichkeit Catos in neronischer Zeit zum Vorbild stoischer Ausgeglichenheit schlechthin und spricht von „jene[m] Cato, der sittlichen Vollkommenheit lebendiges Ebenbild“.17 Seneca preist Cato als Muster der Standhaftigkeit. Er sieht bei ihm die Festigkeit des Weisen, die die Stoa fordert. Cato habe die Fähigkeit besessen, nicht zu erzürnen oder sich rächen zu wollen; seine Affektbeherrschung gilt als beispielhaft.18 Auch im Umgang mit Materiellem hat Cato für Seneca eine vorbildliche Distanz und Unabhängigkeit bewiesen.19 Senecas De constantia sapientis präsentiert Cato in kulturkritischer Absicht, um eine Gegenfigur gegen Dekadenz, Verweichlichung und Luxus der Gegenwart zu modellieren. Das ist kaum noch politisch, sondern eher sittenkritisch zu verstehen. Seneca kommentiert in mahnender Absicht eine Abstiegsgeschichte. Er vergleicht Cato mit Odysseus und Herkules und weist dem historischen Cato für das gegenwärtige Rom eine ähnliche Vorbildfunktion zu, wie sie die mythologischen Figuren Odysseus und Herkules für die Griechen eingenommen hätten.20 Seneca erklärt Cato zum Helden einer entzauberten Spätzeit: Cato ist für Seneca eben nicht „in ein Zeitalter geraten, in dem man glauben konnte, der Himmel laste auf den Schultern eines einzigen, denn schon war der alte Glaube dahin und die Zeiten zu höchstem Raffinement fortgeschritten“.21 In einer Antimetabole formuliert Seneca die Verflochtenheit von Catos Leben mit dem Ideal der altrömischen libertas, die mit seinem Tod ebenfalls sterbe: „Weder nämlich 16 Vgl. hierzu Rudolf Wehrle (wie Anm. 2), S. 24 – 27. 17 Seneca: De tranquillitate animi XVI, 1: „Cato ille, virtutum viva imago“, (diese und alle weiteren Seneca-Übersetzungen von Manfred Rosenbach). Zum Cato-Bild unter Nero vgl. Walter Wünsch: Das Bild des Cato von Utica in der Literatur der neronischen Zeit. Diss.masch. Marburg 1949. 18 Vgl. Seneca: De ira, liber secundus XXXII, 2 f. 19 Vgl. Seneca: De vita beata XXI, 2 f. Dies ist wohl auch gegen Cäsars Bemühen gerichtet, Cato Gewinnsucht nachzuweisen. Vgl. Plutarch: Cato minor 52. 20 Vgl. Seneca: De constantia sapientis II, 2. Zu Herkules als mythologischer Figur, auf die sich die Stoa immer wieder bezieht, vgl. den Beitrag von Jochen Schmidt im vorliegenden Handbuch. 21 Cato „nec in ea tempora incidit quibus credi posset caelum umeris unius inniti, excussa iam antiqua credulitate et saeculo ad summam perducto sollertiam.“ (De constantia sapientis II, 3)

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lebte Cato nach dem Tode der Freiheit weiter noch die Freiheit nach dem Tode Catos“.22 Cato wird den alltäglichen Maßstäben entrückt und rhetorisch über die Normalvorbilder gesetzt: „Übrigens gerade dieser Cato […] – vielleicht steht er oberhalb unseres Idealbildes.“23 Den Vorwurf, daß Catos Ende zum langweiligen Exemplum in der Rhetorenschule verkommen sei, läßt Seneca nicht gelten und erzählt selbst dagegen noch einmal in den Epistulae morales ausführlich vom letzten Abend Catos.24 Cato bietet für Seneca auch die Möglichkeit, das eigene Schicksal unter Nero historisch versetzt zu spiegeln. Der Untergang der res publica zu Catos Zeiten wird zur Projektionsfläche, um die Makel des Prinzipats zu reflektieren.25 Cato wird bei Seneca einerseits zum Beispiel für den selbstlosen politischen Freiheitskampf, der von der eigenen Person absieht: „Nicht nämlich frage es sich, ob Cato frei, sondern ob er unter Freien sei.“26 Andererseits preist Seneca Cato als den Unwandelbaren, der in unsicheren Zeiten der permanenten Veränderung als einziger sich treu bleibt.27 Catos politische Position in der Auseinandersetzung zwischen Caesar und Pompeius interpretiert Seneca als altruistisch und überparteiisch.28 Seneca setzt ihn nicht nur von Caesar, Pompeius und der aufgebrachten plebs ab, er trennt ihn sogar von der Optimatenpartei ab und identifiziert Catos Position mit der des Staates selbst: „Wenn du im Geiste dir ein Bild von jener Zeit machen willst, wirst du auf der einen Seite das Volk sehen und die ganze auf Revolution erpichte Masse, auf der anderen die Optimaten und den

22 Seneca: De constantia sapientis II, 3: „neque enim Cato post libertatem vixit, nec libertas post Catonem.“ 23 Seneca: De constantia sapientis VII, 1: „ceterum hic ipse M. Cato […] ueror ne supra nostrum exemplar sit.“ 24 Seneca: Epistulae morales 24, 6 – 9. 25 Vgl. hierzu Walter Wünsch (wie Anm. 17), S. 129 f. 26 Seneca: Epistulae morales 95, 71: „Non enim quaeri an liber Cato, sed an inter liberos sit“. 27 „Nemo mutatum Catonem totiens mutata re publica vidit: eundem se in omni statu praestitit, in praetura, in repulsa, in accusatione, in provincia, in contione, in exercitu, in morte.“ („Niemand hat Cato gewandelt gesehen, obwohl der Staat sich so oft gewandelt hat: derselbe war er in jeder Situation, im Amt des Prätors, bei seiner Wahlniederlage, bei der Anklage, in der Provinz, in der Volksversammlung, in der Armee, bei seinem Tode.“) Seneca: Epistulae morales 104, 30. 28 „Solus Cato fecit aliquas et rei publicae partes.“ („Cato allein hat eine andere Partei gebildet, die des Staates“) (Seneca: Epistulae morales 104, 30).

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Ritterstand, also was es immer im Staat an Ehrwürdigem und Erwähltem gab, und zwei allein in der Mitte – den Staat und Cato.“29 Solchermaßen entpolitisiert und über die Parteien gehoben, wird Catos Leben und Sterben zur Tugenddemonstration in schwierigen Zeiten. In De Providentia wird Cato sogar für Jupiter zum Vorbild erklärt (II, 9) und Catos Selbstmord, bei dem erst die zweite Verwundung zum Tod führte, als göttliche Prüfung bewertet.30 Dementsprechend hätten die Götter „cum magno […] gaudio“ Catos letzte Nacht beobachtet.31 Seneca überhöht so Catos Selbstmordentschluß zur gottgewollten Angelegenheit. Nicht trotz, sondern wegen seines Selbstmordes nimmt Cato bei Seneca eine derart vorbildhafte Stellung ein, daß er das Beiwort „sanctus“ erhält.32 Der Selbstmord ist Ausdruck persönlicher Freiheit und demonstriert Catos Unabhängigkeit von äußeren Umständen. Catos Selbstmord wird dem stoischen Autarkiepostulat gemäß interpretiert. Denn wenn ein Weiterleben die virtus hemmen würde, ist dem Stoiker der Selbstmord als Akt der Willensfreiheit gestattet. Der Begriff der libertas ist nicht mehr so sehr politisch, sondern existentiell persönlich konzipiert als Freiheit, über das eigene Leben und Sterben zu gebieten. Bei Seneca hat Cato einen Ausweg gefunden; „mit einer Hand wird er der Freiheit einen breiten Weg bahnen. Dieses Schwert, auch im Bürgerkrieg rein und ohne Schuld geblieben, wird endlich 29 Seneca: Epistulae morales 104, 31: „Si animo complecti volueris illius imaginem temporis, videbis illinc plebem et omnem erectum ad res novas vulgum, hinc optumates et equestrem ordinem, quicquid erat in civitate sancti et electi, duos in medio relictos, rem publicam et Catonem.“ 30 Vgl. Seneca: De Providentia II, 12: „Deshalb, glaube ich, war zu wenig genau und wirksam die Verwundung: nicht war es den unsterblichen Göttern genug, ein einziges Mal Cato zu sehen; zurückgehalten und zurückgerufen wurde seine Tapferkeit, um sich in noch schwierigerer Lage zu bewähren: nicht nämlich sucht man beim ersten Versuch den Tod mit solchem Mut wie beim zweiten. Warum sollten die Götter nicht gerne sehen, wie ihr Zögling ein so leuchtendes und denkwürdiges Ende nahm? Der Tod weiht jene, deren Ende auch die rühmen, die es fürchten.“ („Inde crediderim fuisse parum certum et efficax vulnus: non fuit diis immortabilis satis spectare Catonem semel; retenta ac revocata virtus est, ut in difficiliore parte ostenderet: non enim tam magno animo initur quam repititur. Quidni libenter spectarent alumnum suum tam claro ac memorabili exitu evadentem? Mors illos consecrat, quorum exitum et qui timent laudant.“) 31 Seneca: De Providentia II, 11. 32 Vgl. Seneca: Ad Marciam de consolatione XXII, 2; dort nennt Seneca einen Verstorbenen „non […] sanctior quam Cato“.

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einen guten und edlen Dienst leisten: Freiheit, die es dem Vaterland nicht geben konnte, wird es Cato geben.“33 Senecas Neffe Lucan beschreibt in der Pharsalia Cato als Verkörperung unbeugsamen Widerstands auf verlorenem Posten. Mit dem Satz, „Der Sieger hatte die Götter auf seiner Seite, doch der Verlierer einen Cato“34, degradiert Lucan in seinem Epos die Götter zur Partei, der Cato gleichberechtigt gegenübersteht. Bei Lucan verkörpert Cato virtus, während Caesar mit fortuna assoziiert wird. Während Seneca Catos Wesen als mehr von stoischer virtus als von konkreten (partei-)politischen Absichten geprägt vorstellte, erscheint Cato bei Lucan wieder deutlich politisch konturiert. Cato hält nicht nur stoisch stand, er ist ein politischer Mann der vita activa. Bei Lucan handelt Cato so selbstbestimmt, daß er nicht mehr Orakel befragen muß.35 Im neunten Buch der Pharsalia erscheint Cato sowohl als ein perfekter stoischer Weiser als auch als ein römischer Republikaner. Lucan fordert seine römischen Leser auf, Cato als wahren pater patriae zu vergöttlichen. Im prophetischen Ton verkündet Lucan: „Hier hast du, Rom, den echten Vater des Vaterlands, den Mann, der eines Heiligtums in deinen Mauern wie kein anderer wert ist, bei dem zu schwören nie als schmählich gelten wird und den du, wenn du je – in meinen Tagen oder später – mit befreitem Nacken aufrecht stehst, zum Gott erheben wirst.“36 Eine solche Aufforderung zur Vergöttlichung stoischen Republikanertums war deutlich als politische, als eine antineronische Aussage zu verstehen. Petronius’ Darstellung des Bürgerkriegs versucht, Lucans Heroisierung Catos wieder zu relativieren, und auch Martial distanziert sich von dem stereotyp gewordenen Tugendhelden.37 Plutarchs Cato-Biographie, welche die einzig überlieferte zusammenhängende Lebensbeschreibung Catos während der Antike darstellt, betont Catos Ansehen und seine Wirkung auf die Umgebung. Gleichwohl erscheint hier Cato auch als dickköpfig, schrullig und schwerhörig. Catos Selbstmord je33 Seneca: De Providentia II, 10: „Cato qua exeat habet; una manu latam libertati viam faciet. Ferrum istud, etiam civili bello purum et innoxium, bonas tandem ac nobiles edet operas: libertatem, quam patriae non potuit, Catoni dabit.“ 34 Lucan: Bellum Civile I, 128: „Victrix causa deis placuit, sed victa Catoni“ (Lucan-Übersetzungen von Wilhelm Ehlers). 35 Vgl. Lucan: Bellum Civile IX, 573 – 584. 36 Vgl. Lucan: Bellum Civile IX, 601 – 604: „Ecce parens verus patriae, dignissimus aris, / Roma, tuis, per quem numquam iurare pudebit, / Et quem, si steteris umquam cervice soluta, / Nunc, olim, factura deum es.“ 37 Vgl. hierzu Robert J. Goar (wie Anm. 7), S. 61 ff.

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doch wird als philosophische und auch als politische Tat gewürdigt. Indem Cato sich tötet, bewahrt er die eigene moralische Integrität und protestiert zugleich gegen Caesar. Plutarch schildert Catos Selbstmord als rationale und eigenbestimmte Entscheidung, das Gegenteil einer Verzweiflungstat. Auch die Versuche seiner Umgebung, ihn vom Selbstmord abzubringen, zeigen keine Wirkung, ein weiteres Zeugnis von Catos constantia.38 Cassius Dio wiederum demonstriert, wie man zugleich die Monarchie bejahen und Cato Bewunderung zollen kann, ein Beweis, daß der stoische Tugendheld argumentativ vom Republikanismus abgetrennt werden konnte. Während Cato als stoischer Tugendheld durchaus (über Seneca vermittelt) bei den christlichen Schriftstellern der Spätantike positiv in Bildungsreminiszenzen aufgerufen wird, kritisieren die Kirchenväter seinen Selbstmord. So ist Cato hier zugleich Exemplum für severitas (seiner Tugend wegen) und superbia (seines Freitods wegen). Catos strenges Ethos der Pflicht und des Rechts ließ sich in die christliche Lehre integrieren, die Autarkie gegenüber dem eigenen Leben hingegen nicht. Tertullian kritisiert darüber hinaus Catos Streben nach Ruhm (gloria), verwechselt dabei allerdings den jüngeren mit dem älteren Cato. Lactantius verurteilt Cato besonders scharf und bewertet in den Divinae Institutiones den Selbstmord Catos als eitles Sokrates-Imitat. Während für Seneca der Selbstmord Catos Zeichen seiner Patientia war, denn Cato ertrug seinen qualvollen Tod vorbildlich, wird der Selbstmord bei den Kirchenvätern zum Mangel an Patientia, denn Cato ertrug es nicht, unter Caesars Herrschaft weiter zu leben. Auch Augustinus setzt sich in De civitate Dei ausführlich mit Catos Selbstmord auseinander. Augustinus gesteht zu, daß Cato als „hochgebildet und rechtschaffen“39 gilt, gibt aber nicht der Folgerung recht, daß daher „was er [i.e. Cato] tat, richtig gewesen“ sei oder sein könne.40 Cato habe wohlmeinende und kompetente Beratung von Freunden in dieser existentiellen Entscheidungssituation gehabt und dennoch sich falsch entschieden. Augustinus kritisiert vor allem, daß Cato nicht für sich und seinen Sohn gleiche Maßstäbe gelten läßt: Während Cato das 38 Vgl. Plutarch: Cato minor 67 – 71. 39 „doctus et probus“, vgl. Augustinus: De Civitate Dei I, 23 (Übersetzung von Wilhelm Thimme). 40 Augustinus: De Civitate Dei I, 23 („non quia solus id fecit, sed quia vir doctus et probus habebatur, ut merito putetur etiam recte fieri potuisse vel posse quod fecit“).

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Leben seines Sohnes Caesars Gnade anvertraute, wählte er für sich den Selbstmord. Augustinus folgert daraus, daß Cato Caesar „den Ruhm [der Begnadigung] mißgönnte, oder daß er, um mich milder auszudrücken, sich dessen schämte“.41 Daß Cato gegen Caesar militärisch verloren hat, macht Augustinus darüber hinaus zum Argument, um Regulus über Cato zu stellen, da Regulus zumindest einmal siegreich gegenüber den Puniern gewesen sei, bevor er von ihnen geschlagen wurde.42 Im Mittelalter galt Cato weiterhin als entschlossener Verteidiger der römischen Freiheit gegen den Tyrannen Caesar. In Dantes Divina Commedia erscheint Cato dann als Wächter des Läuterungsbergs. Trotz seines Selbstmords muß Cato nicht als Verdammter in einem der Höllenkreise darben. Dante holt Cato aus dem Limbus der edlen Heiden und erhebt ihn zum Wächter über das gesamte Purgatorium; Cato selbst steht im Vorpurgatorium. Damit kompensiert Catos stoische Freiheitsliebe für Dante in gewisser Weise den christlich verurteilten Selbstmord. Cato ist bei Dante eine Grenzfigur, die das Purgatorium abschirmt. Dante kann hier an Vergils Aeneis anknüpfen, die Cato zum Richter der Seligen in der Unterwelt erhoben hatte.43 Im ersten Gesang des Purgatorio treffen die Figuren Dante und Vergil am Fuße des Läuterungsberges auf Cato, der bei der Höllenfahrt Christi erlöst wurde, weil er ein Vorbild römischer Tugend war. Dante und Vergil bitten um Durchlaß, die ihnen von Cato gewährt wird. Die Gestalt des greisen Cato wird von Dante respektvoll beschrieben; sie scheint „wert, mit solcher Ehrfurcht anzuschauen, / Wie jeder Sohn sie seinem Vater schuldet“.44 Vergil signalisiert Dante, gegenüber dem streng und würdevoll sprechenden Purgatoriumswächter Cato „Knie und Stirn in Ehrfurcht [zu] beugen“.45 Vergil erläutert Cato Dantes Absichten und 41 Augustinus: De Civitate Dei I, 23 („quid ergo, nisi quod filium quantum amavit, cui parci a Caesare et speravit et voluit, tantum gloriae ipsius Caesaris, ne ab illo etiam sibi parceretur, ut ipse Caesar dixisse fertur, invidit, ut aliquid nos mitius dicamus, erubuit?“) 42 Augustinus: De Civitate Dei I, 24. 43 Vergil: Aeneis VIII, 670. 44 Dante: Die gçttliche Komçdie, übersetzt von Hermann Gmelin, Anmerkungen von Rudolf Baehr, Nachwort von Manfred Hardt. Stuttgart 2001, S. 138: Der Läuterungsberg, 1, 32 f. („degno di tanta reveranza in vista, che più non dèe a padre alcun figliuolo.“) 45 Dante : Die gçttliche Komçdie (wie Anm. 44), S.138: Der Läuterungsberg 1, 51. („reverenti mi fè le gambe e ’l ciglio.“)

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bezieht Dantes Schicksal mit dem Begriff der Freiheitssuche auf das Leben Catos: „Die Freiheit will er [i.e. Dante] suchen, die so teuer / Wie der wohl weiß, der ihr sein Leben opfert. / Du weißt es, denn für sie war dir nicht bitter / In Utica der Tod, wo du gelassen / Das Kleid, das einst am Jüngsten Tag erstrahlet“.46 Cato erlangt hier christliche Heilsgewißheit, am jüngsten Tag leiblich aufzuerstehen. Ausgesprochen wird dies von Vergil, der bei Dante von der Erlösung ausgeschlossen bleibt. Dantes Cato ist ein christianisierter, ein heiliger Mann, ein Märtyrer der Freiheit; und er verfügt in vorbildlicher Weise über die Kardinaltugenden der Klugheit, Gerechtigkeit, Mäßigkeit und der Tapferkeit.

II In neostoizistischen Zusammenhängen wird Catos Leben und Sterben seit dem 16. Jahrhundert reflektiert. Für die Beurteilung von Catos Selbstmord wird dabei eine Unterscheidung wichtig, die Justus Lipsius in De constantia in publicis malis (1584) unternimmt. Lipsius differenziert zwischen einer wahren und einer falschen constantia.47 Die falsche 46 Dante: Die gçttliche Komçdie (wie Anm. 44), S. 139: Der Läuterungsberg 1, 71 – 75. („libertà va cercando, ch’è sì cara, / come sa chi per lei vita rifiuta. / Tu ’l sai, chè non ti fu per lei amara / in Utica la morte, ove lasciasti / la vesta ch’al gran dì sarà sì chiara.“) 47 Justus Lipsius: Von der Bestendigkeit. Faksimiledruck der deutschen Übersetzung des Andreas Virtius nach der zweiten Auflage von 1601. Mit den wichtigsten Lesarten der ersten Auflage von 1599, hg. v. Leonard Forster. Stuttgart 1965, S. 10 f.: „Die Bestendigkeit / nenne ich allhier eine rechtmessige vnnd unbewegliche stercke des gemts / die von keinem eusserlichen oder zufelligen dinge erhebt oder vntergedrckt wird. Ich habe gesagt eine Stercke / vnd verstehe eine Standhafftigkeit / so dem Gemüt eingepflantzt ist / Nicht von dem Wahn / sondern von dem Verstand vnd der gesunden Vernunfft. Dann ich vor allen dingen die Hartneckigkeit will ausgeschlossen haben / welche auch zwar eines eigensinnigen Gemüts stercke ist / aber von dem Winde der Hoffart oder Rhumrettigkeit auffgetrieben“. Vgl. die lateinische Fassung: „CONSTANTIAM hic appello, RECTUM ET IMMOTUM ANIMI ROBUR, NON ELATI EXTERNIS AUT FORTUITIS, NON DEPRESSI. Robur dixi; & intellego firmitudinem insitam animo, non ab Opinione, sed a iudicio & recta Ratione. Exclusam enim ante omnia volo Peruicaciam (siue ea melius pertinacia dicitur:) quae & ipsa obstinate animi robur est, sed a superbiae aut gloriae vento: & robur etiam dutaxat in una parte.“ ( Justus Lipsius: De Constantia / Von der Standhaftigkeit. Übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort von Florian Neumann. Mainz 1998, S. 26 ff.)

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constantia entpuppt sich dabei als zu verurteilende Hartnäckigkeit. So kann aus der Tugend der constantia das Laster des Starrsinns werden.48 In Montaignes Essais (1580 – 88) ist ein eigenes Kapitel Cato dem Jüngeren gewidmet. Montaigne wettert gegen den Tugendverfall seiner eigenen Zeit und vermißt Gerechtigkeitssinn und Tapferkeit in der Gegenwart. Beispiel für eine solche falsche, beklagenswerte Haltung ist es, wenn Autoren „hochherzige Taten der Antike verdunkeln, in dem sie ihnen irgendeine niedrige Auslegung geben und nichtige Anlässe und Gründe unterschieben.“49 Montaigne dagegen plädiert dafür, die „von den Weisen einmütig zu Vorbildern der Menschheit erkornen außergewöhnlichen Gestalten“ weiterhin zu preisen, und er konkretisiert dieses allgemeine Vorhaben an der Gestalt Catos.50 Cato ist für Montaigne „wahrlich ein Vorbild gewesen, das die Natur auserwählte, um zu zeigen, zu welcher Vollendung menschliche Tugend und Charakterfestigkeit gelangen können.“51 Damit schreibt Montaigne das stoische Ideal der constantia fort, und er zitiert unterstützend hierfür Horaz, Vergil und Lucan. Gleichwohl stellt Montaigne an anderer Stelle der Essais Sokrates über Cato, denn bei Cato sieht er gewisse Überspanntheiten der Tugend: „In den großen Taten seines Lebens und im Sterben meint man ihn stets auf hohem Rosse zu sehen“.52 Hier zeigt 48 Zu solchen Umdeutungen im Neostoizismus, die allerdings auch schon ansatzweise bei Cicero (Pro Murena 61) reflektiert werden, vgl. allgemein Günter Abel: Stoizismus und Frhe Neuzeit. Zur Entstehungsgeschichte modernen Denkens im Felde von Ethik und Politik. Berlin, New York 1978. 49 Michel de Montaigne: Essais. Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett. Frankfurt a. M. 1998, S. 121 (Kap. I, 37: ber Cato den Jngeren). Vgl. das frz. Original: „faire les ingenieux à obscurcir la gloire des belles et genereuses actions anciennes, leur donnant quelque interpretation vile et leur controuvant des occasions et des causes vaines“ (Montaigne: Essais. Édition conforme au texte de l’exemplaire de Bordeaux avec les additions de l’édition posthume, les principales variantes, une introduction, des notes et un index par Maurice Rat. Paris 1962, Bd. 1, S. 260 f.). 50 Michel de Montaigne: Essais (wie Anm. 49), S. 122 („Ces rares figures, et triées pour l’exemple du monde par le consentement des sages“ [wie Anm. 49], S. 261). 51 Michel de Montaigne: Essais (wie Anm. 49), S. 122 („veritablement un patron que nature choisit pour montrer jusques où l’humaine vertu et fermeté pouvoit atteindre“ [wie Anm. 49], S. 261). 52 Michel de Montaigne: Essais (wie Anm. 49), III, 12, S. 522 („aux braves exploits de sa vie, et en sa mort, on le sent tousjours monté sur ses grands chevaux“ [wie Anm. 49], Bd. 2, S. 485). Vgl. auch ebd. II, 11, S. 212: „Cato möge mir bitte verzeihen: Sein Tod ist zwar härter und tragischer, doch dieser

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sich, wie bei Lipsius, die Abkehr von einem allzu rigide konzipierten Stoizismus. Im 17. Jahrhundert schreibt George Chapman sein Römerdrama Caesar and Pompey (1631), in dem Cato zwischen dem hochmütigen Caesar und dem strauchelnden Pompeius als eigentlicher Held erscheint, der durch seinen stoischen Freitod Caesar gleichsam besiegt.53 Cato ist ein weiser und ehrenhafter „senecal man“, der von Chapman in didaktischer Absicht mit einer korrupten Umwelt konfrontiert wird. Mit Cato wird hier ein Beispiel würdevollen Standhaltens in einer fragwürdigen Welt ausgestaltet. Im deutschen Barock schreiben sich zwei Traditionslinien fort: Sowohl der Einwand der Kirchenväter gegenüber Catos Selbstmord (mit Lipsius interpretierbar als falsche constantia) wird reflektiert als auch die Möglichkeit, mit Catos republikanischem Widerstand Herrscherkritik zu formulieren. Martin Opitz kritisiert im zweiten Buch der Trost-Gedichte in Widerwertigkeit Deß Kriegs Catos Selbstmord folgendermaßen: „Ist Cato gleich berühmet / So fällt er endlich doch in Vngerechtigkeit / Vmb daß er auß der Welt sich reißet vor der Zeit.“54 Catos Tugenden der constantia und fortitudo vermögen für Opitz nicht, die superbia des Selbstmords zu kompensieren: Es ist wol Lobens werth / daß er den greissen Haaren / Den Augen die für nichts noch je erschrocken waren Zur Schmach / dem Cesar nicht zu Fusse fallen wil Vnd vberwunden seyn / das Ander’ ist zu vil. Er sticht sich erstlich selbst / vnd als man jhn verbunden / Muß doch das Pflaster fort / er reißet in die Wunden / Wirfft / wie ein toller Hund / die Daermer in die Schoß / Vnd laeßt den stoltzen Geist auß seinem Kercker loß. Ein Kriegsmann darff nicht fort / es sey dann zugegeben Durch seinen Capitain: Wir sollen auß dem Leben / Es gehe / wie es will / auch eher nicht entfliehn / Biß vns deß Lebens Herr erlaubet fortzuziehn.55 hier [i.e. der Tod des Sokrates] unsagbar schöner.“ („Caton me pardonnera, s’il luy plaist; sa mort est plus tragique et plus tendue, mais cette-cy est encore, je ne sçay comment, plus belle.“ [wie Anm. 49], Bd. 1, S. 467). 53 George Chapman: Caesar and Pompey, in: Ders.: The Plays, edited by Allan Holoday, Cambridge 1987, Bd. 2, S. 529 – 610. Vgl. hierzu auch Richard S. Die: Chapman’s „Caesar and Pompey“ and the Uses of history, in: Modern Philology 82, 3 (1985), S. 255 – 268. 54 Martin Opitz: Trost-Gedichte In Widerwertigkeit Deß Kriegs: Das Andere Buch, in: Ders.: Gedichte, hg. v. Jan-Dirk Müller. Stuttgart 1985, S. 69. 55 Martin Opitz: Trost-Gedichte In Widerwertigkeit Deß Kriegs (wie Anm. 54), S. 69.

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Zwar erfüllt Cato, indem er „für nichts noch je erschrocken“ war, die Tugend der fortitudo und auch seine Unwandelbarkeit, sich Caesar bis zum Schluß nicht ergeben zu wollen, wird gelobt; aber den Selbstmord, „das Ander‘“, läßt Opitz nicht durchgehen, es „ist zu vil“. Der Selbstmord ist nicht nur eine Freveltat des „stolzen Geist[es]“, der sich des Hochmuts vor Gott schuldig macht. Indem Cato sich die Wunde zum zweiten Mal aufreißt, gebärdet er sich „wie ein toller Hund“, läßt also die Affektkontrolle fahren und verstößt so bei Opitz nicht nur gegen das christliche Gebot, sondern auch gegen stoische Grundprinzipien. Dies macht Opitz’ Kritik doppelt scharf: Weder habe Cato nach christlichen Maßstäben recht gehandelt, noch nach dem eigenen Ideal der stoischen Affektkontrolle. Während Opitz aus einer christlichen Tradition heraus argumentiert und politische Implikationen über Herrschaftsformen außer Acht läßt, beschäftigt Hoffmannswaldau am Cato-Stoff vor allem dessen Potential zu aktualisierender Herrschaftskritik. Seine poetische Geschichtsrede Cato präsentiert ein Rollengedicht, in dem Hoffmannswaldau Cato im Moment seines Selbstmordentschlusses sprechen läßt. Der lyrische Monolog umfaßt elf sechsversige Strophen im Alexandriner gehalten. Während Opitz souverän und distanziert in der dritten Person Singular über Catos Verhalten urteilte, läßt Hoffmannswaldau Cato unmittelbar selbst sprechen, und dies in kraftvoller und scharf anklagender Weise gegen Caesar. Das Gedicht bilanziert weniger Catos Leben als daß es Caesar attackiert. „Freyheit“ als Schlüsselwort strukturiert das Gedicht und wird sechsmal (V. 11,17, 37, 51, 55, 63) genannt. Im historischen Gewand Catos formuliert der Lutheraner Hoffmannswaldau hier einen Protest gegen die rekatholisierende Reichspolitik und ein Plädoyer für die Religionsfreiheit.56 Dies geschieht mit drastischen Metaphern und den Zentralgedanken der Stoa: Der Freyheit steiffe Fahn die pflantz’ ich in die wunden / Durch meine Därme wird der Caesar selbst gebunden / Hir stirbt sein freches Wort; ich thue was ich will. Er kann nur / wolt er gleich / mir nicht das Leben schencken /

56 Vgl. hierzu Marie-Thérèse Mourey: „…und Csar, deinen Ruhm vertilgen von der Erden…“. Hoffmannswaldaus ,Cato‘ als Sinnbild der schlesischen Ablehnung der kaiserlich-kçniglichen Macht, in: Der Frst und sein Volk. Herrscherlob und Herrscherkritik in den habsburgischen Lndern der frhen Neuzeit, hg. v. Pierre Béhar u. Herbert Schneider. St. Ingbert 2004, S. 243 – 267.

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Er kann nur /wolt er gleich / mich nicht durch Marter kräncken / Sein unbegränzte Macht schau’t hier ein rothes Ziel.57

Dieser Cato lebt stoisch selbstbestimmt („ich thue was ich will“) und unabhängig von Gnade oder Folter. Sein Selbstmord erscheint nicht als Konsequenz der Resignation, sondern als Akt der Freiheit und als politisches Fanal. Der stoische Weise stirbt hier nicht nur, um seine Integrität zu wahren, sondern verbindet mit seinem Selbstmord rebellische Absichten, die Hoffmannswaldau in dem extremen Bild der Därme Catos als Fesseln Caesars ausgestaltet. Durch die poetische Form des Rollengedichts, in der nur Catos eigene Position hörbar wird, sieht sich Hoffmannswaldau der Verpflichtung enthoben, die christlich geforderte Kritik am Selbstmord zu formulieren. Hoffmannswaldaus Cato ist ein politischer Rebell, dessen Tat unwidersprochen bleibt. Im 18. Jahrhundert wird der Cato-Stoff vielfach Thema republikanischer Trauerspiele; deren „Gegenstand ist die Republik in Gefahr, wobei der republikanische Heros sich als Widerpart des (potentiellen) Tyrannen für die Errichtung, Erhaltung oder Wiederherstellung der Republik einsetzt“.58 Der republikanische Heros verdient dabei Bewunderung. Cato wird zum bürgerlichen Helden, der gegen feudale Ausschweifung kämpft. Die antiabsolutistische Stoßrichtung wurde moralisch überwölbt. Der Neostoizismus diente oft dazu, dem moralisierten Patriotismus eine würdevolle Tradition zu stiften. Joseph Addisons klassizistische Tragödie Cato (1713) feierte dementsprechend Cato als Freiheitsheld und legte es nahe, Parallelen zwischen der englischen Nation und Rom zu ziehen. Addisons Cato, George Washingtons Lieblingsdrama, war ein enormer Publikumserfolg, denn sowohl die Whigs als auch die Tories konnten sich mit diesem Cato identifizieren.59 Addison bemühte sich in klassizistisch

57 Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau: Cato, in: Ders.: Gedichte, Auswahl und Nachwort v. Manfred Windfuhr. Stuttgart 1994, S. 118 ff., hier S. 119. 58 Peter Hess: Vom republikanischen zum brgerlichen Trauerspiel. Zu Patzkes VirginiaDrama und dessen Einfluß auf Lessing, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 221, 1984, S. 43 – 53, hier S. 44. 59 Joseph Addison: Cato. A Tragedy. London 1713. 1720 – 23 erschienen Cato’s letters, 144 Essays von John Trenchard und Thomas Gordon, Whigs, die die Tyrannis verdammten, Gewissensfreiheit und Redefreiheit reklamierten. Cato diente Trenchard und Gordon als Pseudonym, um ihre Zweifel an der Legitimität tyrannischer Macht anzumelden. Cato’s letters beeinflußten die amerikanischen Revolutionäre entscheidend. Noch heute gibt es in Washington das

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strenger Form, zugleich stoische Römertugenden und englische politische Ideale zu feiern. Hatte Chapman 1631 noch ohne politische Aktualisierung seinen Cato als stoischen Tugendhelden in der Tradition Senecas sprechen lassen, so spiegelt Addison die Glorious Revolution (1688) als assoziative Bezugsfolie in sein Drama ein. Catos Plädoyer für einen starken Senat sollte als proparlamentarische Aussage lesbar werden. Für das Freiheitspathos Catos konnten sich viele Engländer begeistern, die sich nach dem Ende der Regierung Queen Annes (1714) über den Fortbestand der parlamentarisch gezügelten Monarchie Gedanken machten. Pope hatte für den Cato Addisons ein Vorwort verfaßt und sprach dort bewundernd vom „God-like Cato“. Während in England vor allem das Freiheitspathos von Addisons Cato goutiert wurde, lobte Voltaire in seinen Lettres anglaises (1733) die klassizistische Form des Dramas: „Der erste Engländer, welcher ein vernünftiges Stück verfaßt und durchgängig anmutig geschrieben hat, ist der berühmte Addison. Sein ,Cato von Utica‘ ist ein Meisterstück, was die Worte und die Schönheit der Verse betrifft.“60 Während Addison eine republikanische Tragödie verfaßte, die im öffentlichen Raum spielte und der nur lose und zusammenhangslos Liebeshandlungen assoziiert waren,61 ergänzte der Franzose Deschamps den Stoff in seinem Drama Caton d’Utique (1715) um eine private Handlung, die mit der öffentlichen direkt verquickt ist.62 Deschamps macht Caesar, der bei Addison gar nicht auftritt, zusätzlich zum Geliebten von Catos Tochter. Johann Christoph Gottsched, auf der Suche nach einem geeigneten Stoff für eine beispielhafte neue deutsche Tragödie im Zeichen der Aufklärung, kompilierte Addisons und Deschamps Fassungen: Er ökonomisch-politische Cato Institute, das sich von Trenchards und Gordons Cato’s letters her den Namen gibt. 60 Voltaire: Briefe aus England, hg. u. sprachlich eingerichtet v. Horst Lothar Teweleit, Berlin 1987, S. 91. „Le premier Anglais qui ait fait une pièce raisonnable et écrite d’un bout à l’autre avec élégance est l’illustre M. Addison. Son Caton d’Utique est un chef-d’œuvre pour la diction et pour la beauté des vers.“ (Voltaire: Lettres philosophiques, avec le texte complet des remarques sur les Pensées de Pascal. Introduction, notes, choix de variantes et rapprochements par Raymond Naves. Paris 1951, S. 108). 61 Schon Voltaire bemäkelte, „dieses so gut geschriebene Werk wird durch eine abgeschmackte Liebesbegebenheit verunstaltet, welche eine tötende Langeweile über das ganze Stück breitet.“ (Voltaire [wie Anm. 60], S. 91). „Cet ouvrage si bien écrit est défiguré par une intrigue froide d’amour, qui répand sur la pièce une langeur qui la tue“ (wie Anm. 60), S. 109. 62 François Michel-Chrétien Deschamps: Caton d’Utique. La Haye 1715.

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übernahm die ersten dreieinhalb Akte von Deschamps, die letzten eineinhalb von Addison und stellte mit diesen Übersetzungen die erste deutsche Originaltragödie Der sterbende Cato zusammen.63 Bereits 1726 äußerte Gottsched die Auffassung, daß „Cato nicht als ein unüberwindlicher Weiser gestorben“ sei.64 Und diese Auffassung wurde maßgeblich für sein Drama Der sterbende Cato (1732). In der Vorrede zum Drama erläutert Gottsched, daß Cato zwar „zu allen Zeiten vor ein ganz besonderes Muster der stoischen Standhaftigkeit und der patriotischen Liebe zur Freiheit gehalten worden“ sei.65 Dennoch konzipiert Gottsched seinen Cato als einen mittleren Helden, der zwar „sehr tugendhaft gewesen [sei], doch so wie es Menschen zu sein pflegen; daß sie nemlich noch allezeit gewisse Fehler an sich haben, die sie unglücklich machen können.“66 Catos Fehler, den Gottsched dramenästhetisch als aristotelische hamartia begreift, ist eine zu weit getriebene constantia, die, wie Lipsius interpretiert hatte, in Starrsinn umschlagen konnte: Cato, so Gottsched, „treibet seine Liebe zur Freiheit zu hoch, so daß sie sich in einen Eigensinn verwandelt.“67 Damit war Gottscheds Cato nicht mehr ein barocker Märtyrer, der fehlerfrei für seine Ideale in den Tod geht, sondern ein irrender und fehlender mittlerer Held.68 63 Rund 174 der 1648 Verse stammen von Gottsched, der übrige Text montiert Übersetzungen von Addison und Deschamps. Bei Deschamps schätzte Gottsched die strengere Einhaltung der tektonischen Geschlossenheit, bei Addison fand er den Tod Catos angemessener behandelt, denn Deschamps ließ Cato „nicht als einen Weltweisen, sondern als einen Verzweifelten sterben“, so Gottsched in der Vorrede zu seinem Drama: Johann Christoph Gottsched: Vorrede, in: Ders.: Der sterbende Cato, hg. v. Horst Steinmetz. Stuttgart 2002, S. 15. Zum Originalitätsbegriff vgl. Heide Hollmer: Anmut und Nutzen. Die Originaltrauerspiele in Gottscheds „Deutscher Schaubhne“. Tübingen 1994, S. 110 ff. 64 Johann Christoph Gottsched: VIII. Akademierede: Cato ist nicht als ein unberwindlicher Weiser gestorben, in: Ders.: Ausgewhlte Werke, hg. v. P. M. Mitchell Bd. 9, Tl. 2: Gesammelte Reden, bearb. von Rosemary Scholl, Berlin, New York 1976, S. 483 – 491, vgl. dort S. 487: „Mein Satz ist dieser: Cato ist von seinen eigenen Leidenschaften beunruhiget, bestürmet und besieget worden.“ 65 Johann Christoph Gottsched: Vorrede (wie Anm. 63), S. 10. 66 Johann Christoph Gottsched: Vorrede (wie Anm. 63), S. 17. 67 Johann Christoph Gottsched: Vorrede (wie Anm. 63), S. 17. Zu dieser Argumentation vgl. überzeugend Albert Meier: Dramaturgie der Bewunderung. Untersuchungen zur politisch-klassizistischen Tragçdie des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1993, S. 100 ff. 68 Gottscheds Cato ist zudem ein mittlerer Held mit Familie. Die Figurenkonstellation von Vater und Tochter verweist dabei durchaus schon auf das bür-

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So harsch und vernichtend die spätere Kritik an Gottscheds Drama war, so erfolgreich war es im Moment seines Erscheinens. Als erste deutsche Originaltragödie gefeiert, erlebte sie bis 1757 allein zehn Auflagen. Gottscheds Bemühen um Regelgemäßheit drückte sich nicht nur in der Einhaltung der drei Einheiten aus, sondern auch in der Wahl des (oft sehr spröde gebrauchten) Alexandriners. Als Mustertragödie des Leipziger Rationalismus verfolgte Der Sterbende Cato moralisch-didaktische Absichten. Der Cato-Stoff wurde pädagogisiert. Catos Tugendwahn wurde im vierten Akt für den Zuschauer vollends deutlich, wenn Cato angesichts der Leiche seines Sohnes, nicht um ihn weint, sondern zur Trauer um Rom auffordert: „Es scheint, ihr könnet euch der Tränen nicht erwehren, / Da nur ein Jüngling fällt. Rom, Rom, erfodert Zähren!“69 Im Sterben erkennt Gottscheds Cato, daß sein Fehler ein „zu viel“ an Tugend bedeutet: „Ihr Götter! hab ich hier / Vielleicht zu viel getan: Ach! So vergebt es mir! / […] / Der Beste kann ja leicht vom Tugendpfade wanken.“70 Aus Addisons „god-like Cato“ wird hier ein Cato mit Fehlern, der sich nicht in stoischer Selbstsicherheit, sondern im Tugendrigorismus umbringt. Während Addisons Cato wirkungsästhetisch Bewunderung und Lob evozierte, spekuliert Gottsched auf ein Publikum, das den Fehler dieses mittleren Helden erkennt und kritisiert. „Schrecken und Erstaunen“71 sind dabei Mittel zum Zweck einer rationalen Erkenntnis dieses charakterlichen Defizits. Während Catos Stoizismus also im Verlauf der Handlung in fehlgegangenen Tugendwahn umschlägt, vermag der Zuschauer den Antagonisten Caesar fast als besseren Stoiker als Cato wahrzunehmen. Im dritten Akt läßt Gottsched gegen die historische Realität Caesar und Cato in Utica aufeinandertreffen. Hier fällt Caesar in seiner Selbstcharakterisierung als affektbeherrschter autarker Stoiker auf. Caesar beschreibt sich selbst als „ein[en] Mann, / Der auch sein eigen Herz zur gerliche Trauerspiel voraus. Vgl. hierzu Sabine Doering: Mrtyrer mit Familie. Gottscheds „sterbender Cato“ im Gattungsspektrum des Aufklrungsdramas, in: Resonanzen. Festschrift fr Hans Joachim Kreutzer, hg. v. Sabine Doering, Waltraud Maierhofer u. Peter Philipp Riedl. Würzburg 2000, S. 47 – 59. 69 Johann Christoph Gottsched: Der sterbende Cato (wie Anm. 63), IV. Akt, V. 1351 f., S. 72. Dieses Bekenntnis Catos wird von dem Parther Artabanus erstaunt kommentiert: „Den Sohn beweint er nicht; um Rom vergießt er Tränen!“ V. 1359, ebd. 70 Johann Christoph Gottsched: Der sterbende Cato (wie Anm. 63), V. Akt, V. 1637 – 1640, S. 84. 71 Johann Christoph Gottsched: Vorrede (wie Anm. 63), S. 17.

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Not bezwingen kann“.72 Er verbietet sich Rache73 und demonstriert weit mehr Gelassenheit als Cato. Gottsched hat dies im nachhinein als eine bloße Scheintugend Caesars dargestellt;74 aber dies ist dem Dramentext selbst nicht unbedingt zu entnehmen. Nachdem Gottscheds Cato zwölf Jahre lang die deutschen Bühnen beherrscht hatte, entzündete sich an dieser Tragödie ein Literaturstreit, der nicht nur den sterbenden Cato, sondern vor allem auch dessen Autor und sein frühaufklärerisches rationalistisches Literaturkonzept angriff.75 Die als Cato-Kontroverse in die deutsche Literaturgeschichte eingegangene Debatte, an deren Ende das vernichtende Fazit Lessings steht,76 rechnet mit Gottscheds Regelwahn ab, demaskiert den Schematismus seiner Szenenanordnung und versucht dagegen eine neue sensualistische Literaturauffassung zu etablieren.77 All dies bedeutet prinzipiell keine 72 Johann Christoph Gottsched: Der sterbende Cato (wie Anm. 63), III. Akt, V. 701 f. S. 47. 73 „Weit schöner aber ists, im Siege sich vergnügen / Und seiner Rachbegier vernünftig Einhalt tun! / Der Römer Ehre muß im Wüten nicht beruhn“ (III. Akt, V. 720 ff., S. 48.) 74 Johann Christoph Gottsched: Bescheidene Antwort auf die vorhergehenden kritischen Gedanken ber den ,Sterbenden Cato’, in: Ders.: Der Sterbende Cato (wie Anm. 63), S. 95 – 114, hier S. 102: „Cäsar fällt mit seiner politischen Gelassenheit mehr ins Auge. Aber es ist nur eine Scheintugend. Es ist lauter Rachgier und Herrschsucht, was ihn treibet. Seine Gnade ist nur Verstellung, um auch damit etliche Widerspenstige unter das Joch zu bringen“. 75 Renate von Heydebrand: Johann Christoph Gottscheds Trauerspiel ,Der sterbende Cato‘ und die Kritik. Analyse eines Krftespiels, in: Rezeption und Produktion zwischen 1570 und 1730. Festschrift fr Gnther Weydt zum 65. Geburtstag, hg. v. Wolfdietrich Rasch, Hans Geulen und Klaus Haberkamm. Bern und München 1972, S. 553 – 569. Martin Brunkhorst: Die Cato-Kontroverse. Klassizistische Kritik an Addison, Deschamps und Gottsched, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 20 (1979), S. 71 – 87. 76 „Es wäre zu wünschen, daß sich Herr Gottsched niemals mit dem Theater vermengt hätte. […] Er verfaßte, wie ein Schweitzerischer Kunstrichter sagt, mit Kleister und Schere, seinen Cato.“ (Gotthold Ephraim Lessing: 17. Literaturbrief vom 16. Februar 1759, in: Ders.: Werke und Briefe in zwçlf Bnden, hg. v. Wilfried Barner, Bd. 4: Werke 1758 – 1759, hg. v. Gunter E. Grimm, Frankfurt a. M. 1997, S. 499 f., hier S. 499). 77 Besonders böse in der Attacke etwa bei Johann Jakob Bodmer: Sinnliche Erzehlung von der mechanischen Verfertigung des Original=Stckes von Cato, in: Ders.: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvoller Schriften. Zürich 1741 – 44, Bd. VIII, S. 80 – 96, sowie die Parodie Gottsched, ein Trauerspiel in Versen oder der parodirte Cato, in: Johann Christoph Gottsched und die Schweizer Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger, hg. v. Johannes Crüger. ND Darmstadt 1965, S. 127 – 152.

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Kritik am Cato-Stoff, und daher wird hier auch nicht genauer darauf eingegangen. Gleichwohl wirkt die umgreifende Kritik am Autor auch auf die Rezeption des Stoffes zurück. In den 1760er Jahren, nach Lessings ultimativer Abrechnung mit Gottsched, noch ein Cato-Drama zu verfassen, konnte zumindest in Deutschland literarische Rückwärtsorientierung verraten. Während dergestalt der Cato-Stoff in Deutschland ab den späten 1750er Jahren literarisch rückläufig war, gab es in Frankreich in der Mitte des 18. Jahrhunderts einen prominenten Cato-Anhänger: Für Rousseau ist Cato seiner Vaterlandsliebe wegen das ideale Vorbild für den Bürger. Und wenn Montaigne noch Sokrates vor Cato stellte, so dreht Rousseau in seinem Discours sur l’conomie politique (1755) die Rangfolge um: „Wagen wir es, selbst Sokrates dem Cato gegenüberzustellen: der eine war mehr Philosoph und der andere mehr Staatsbürger.“78 Das Stoische tritt in der Betrachtung Rousseaus in den Hintergrund, und die politische Kontur Catos wird wieder schärfer. Rousseau vergleicht den historischen Ort von Sokrates und Cato: „Athen war schon verloren, und Sokrates hatte kein andres Vaterland mehr als die ganze Welt: Cato trug seines noch immer in der Tiefe des Herzens, er lebte nur für es und konnte es nicht überleben.“79 Damit ist Catos Selbstmord für Rousseau patriotisch-politisch gerechtfertigt, und das formuliert Rousseau vor allem gegen Voltaire, der in La mort de Csar Catos Tod für überflüssig erklärt hatte. Aus dem historischen Vergleich von Sokrates und Cato ergibt sich für Rousseau: „Die Tugend des Sokrates ist die des weisesten aller Menschen: aber zwischen Caesar und Pompejus erscheint Cato als ein Gott unter den Sterblichen.“80 Cato steht für Rousseau auch über So78 Jean-Jacques Rousseau: Abhandlung ber die politische konomie, in: Ders.: Kulturkritische und politische Schriften, hg. v. Martin Fontius, Berlin 1989, Bd. 1, S. 333 – 377, hier S. 351. „Osons opposer Socrate même à Caton: l’un étoit plus philosophe, et l’autre plus citoyen.“ ( Jean-Jacques Rousseau: Œuvres compltes. Édition publiée sous la direction de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond. Paris 1964, Bd. 3, S. 239 – 278, hier S. 255). 79 Jean-Jacques Rousseau: Abhandlung ber die politische konomie (wie Anm. 78), S. 351. („Athènes étoit déjà perdue, et Socrate n’avoit plus de patrie que le monde entier: Caton porta toujours la sienne au fond de son coeur; il ne vivoit que pour elle et ne put lui survivre.“ [wie Anm. 78], S. 255). 80 Jean-Jacques Rousseau: Abhandlung ber die politische konomie (wie Anm. 78), S. 351. („La vertu de Socrate est celle du plus sage des hommes: mais entre César et Pompée, Caton semble un dieu parmi des mortels.“ [wie Anm. 78], S. 255).

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krates, weil Catos Taten die größere Breitenwirkung und spezifisch politischere Reaktion erzielte: „Der eine belehrt einige Einzelpersonen, bekämpft die Sophisten und stirbt für die Wahrheit; der andere verteidigt den Staat, die Freiheit, die Gesetze gegen die Eroberer der Welt und verläßt schließlich die Erde, als er dort kein Vaterland mehr erblickt, dem er dienen könnte.“81 Dementsprechend gilt Cato auch für Rousseaus eigene Gegenwart als geeignete Leitfigur, die praxisnah und konkret politisch in Belangen der Staatsführung als antikes Vorbild der Aufklärung gelten kann: Ein würdiger Schüler des Sokrates wäre der tugendhafteste seiner Zeitgenossen; ein würdiger Nacheiferer des Cato wäre deren größter. Die Tugend des ersten würde ihm sein Glück bereiten, der zweite würde sein Glück in dem aller suchen. Wir würden belehrt von dem einen und geführt von dem anderen, und dies allein würde den Vorrang entscheiden: denn man hat niemals ein Volk von Weisen hervorgebracht, hingegen ist es nicht unmöglich, ein Volk glücklich zu machen.82

Cato als patriotisches Vorbild für jedermann zur allgemeinen Wohlfahrt in aufgeklärten Zeiten, gegenüber einem elitärer zugeschnittenen Sokrates – dies ist die politische Quintessenz, in der mit Cato der pursuit of happiness einlösbar erscheint. In anderem Zusammenhang modelliert Rousseau Cato in kulturkritischer Absicht als den von der ihn umgebenden Dekadenz nicht Verdorbenen. Auch damit dient Cato wieder als Vorbild der Gegenwart; es soll dazu helfen, „den Lastern ihres Jahrhunderts zu widerstehen und den furchtbaren Grundsatz derer zu verabscheuen, die mit der Mode gehen“.83 Im mile (1762) charakte-

81 Jean-Jacques Rousseau: Abhandlung ber die politische konomie [wie Anm. 78], S. 351. („L’un instruit quelques particuliers, combat les sophistes, et meurt pour la vérité: l’autre defend l’état, la liberté, les lois contre les conquérans du monde, et quitte enfin la terre quand il n’y voit plus de patrie à server“ [wie Anm. 78], S. 255). 82 Jean-Jacques Rousseau: Abhandlung ber die politische konomie (wie Anm. 78), S. 351. („Un digne élève de Socrate seroit le plus vertueux de ses contemporains; un digne émule de Caton en seroit le plus grand. La vertu du premier feroit son bonheur, le second chercheroit son bonheur dans celui de tous. Nous serions instruits par l’un et conduits par l’autre, et cela décideroit de la préférence: car on n’a jamais fait un peuple de sages, mais il n’est pas impossible de rendre un peuple heureux.“ [wie Anm. 78], S. 255). 83 Jean-Jacques Rousseau: Letzte Antwort des Genfers Jean-Jacques Rousseau, in: Ders.: Kulturkritische und politische Schriften (wie Anm. 78), S. 125 – 152, hier S. 142. („résister aux vices de leur siècle et à détester cette horrible maxime des

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risiert Rousseau Cato auch als pädagogisches Vorbild, weil seine Moral und Integrität eher als Identifikationsangebot für die Jugend tauge als Caesars Sieg. Im Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars wird dies in rhetorischen Fragen formuliert: „Wenn es keine Moral im menschlichen Herzen gibt, woher kommt dann diese Begeisterung für heroische Taten und diese Liebeswallung für große Seelen? […] Warum möchte ich lieber Cato sein, der seine Eingeweide zerfleischt, als der triumphierende Caesar?“84 Rousseaus Beschäftigung mit Cato stellt philosophisch einen letzten Höhepunkt der Cato-Rezeption dar. Mit stoischer Ruhe und der Darstellung eines märtyrergleichen Selbstmords angesichts der drohenden Tyrannis ließ sich eher schlecht als recht eine Revolution propagieren. Unwandelbarkeit als stoisches Ideal paßte nicht zu revolutionärem Umsturz. Cato galt als Bewahrer republikanischer Traditionen, nicht als ihr revolutionärer Inaugurator. Und so findet man am Anfang der Französischen Revolution auch eher den Tyrannenmörder Brutus als aufgerufenen Freiheits-Helden der Antike. Brutus, als Catos Schwiegersohn, kommt es dann zu, die heldenhaften Absichten Catos in die Tat umzusetzen.85 Aber mit Cato konnte vor dem Verfall einer Republik gewarnt werden. Cato war ein Held des Staatsnotstands. Gegen Ende der Französischen Revolution häufen sich während der Jakobiner-Herrschaft (1793/94) und des Digens à la mode“ [Dernire Rponse de J.–J. Rousseau de Genve, in: Ders.: Œuvres compltes [wie Anm. 78], Bd. 3, S. 71 – 96, hier S. 87). 84 Jean-Jacques Rousseau: Emil oder ber die Erziehung. Vollständige Ausgabe in neuer deutscher Fassung besorgt von Ludwig Schmidts. Paderborn 111993, S. 302. „S’il n’y a rien de moral dans le cœur de l’homme, d’où lui viennent donc ses transports d’admiration pour les actions héroïques, ces ravissements d’amour pour les grandes âmes? […] Pourquoi voudrais je être Caton qui déchire ses entrailles, plutôt que César triomphant?“ ( Jean-Jacques Rousseau: mile ou de l’ducation. Introduction, bibliographie, notes et index analytique par François et Pierre Richard. Paris 1961, S. 350). 85 Vgl. etwa das Drama von Louis Poisinet de Sivry: Caton d’Utique. Tragdie. Paris 1789, in dem Cato Brutus mit auf den Weg gibt: „Sois citoyen, Brutus, sois Romain, sois plus qu’homme / Et jure dans sa main la liberté de Rome.“ (ebd., Acte II, Scène 3). Abel Boyer hatte bereits 1713 Addisons Cato ins Französische übersetzt ( Joseph Addison: Caton. Tragdie de l’anglais par A. Boyer. Amsterdam 1713). Louis Claude Chéron de La Bruyères Caton d’Utique (1789) steht noch ganz in Addisons Schuld und preist den Tugendhelden noch unter stoischen Auspizien (L. C. Chéron de La Bruyère: Caton d’Utique. Tragdie en trois actes et en vers imite d’Addison. Paris 1789). Vgl. Jacqueline Fabre: Caton d’Utique ou le dernier des romains. tudes des pices consacres au hros rpublicain entre 1789 et 1798, in: La Rvolution franÅaise et l’antiquit, hg. v. R. Chevallier, Tours 1991, S. 75 – 89.

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rektoriums (1795 – 1799) französische Cato-Dramen, die Catos republikanisches Konzept mit Caesars tyrannischen Absichten konfrontieren. Je mehr sich die französische Republik antiker Traditionen bedient, das römische Tugendpathos rezipiert und mit der Konsularverfassung schließlich die römische Staatsform zitiert,86 desto aktueller wurde der Cato-Stoff wieder. Während zu Beginn der Revolution tranquillitas animi eher hinderlich erschienen war, wurde in Zeiten größter Unsicherheit constantia wieder zur Zielvorstellung. Dabei konnten die französischen Dramen an Seneca anknüpfen, der die Leitbegriffe virtus und libertas verknüpft und Cato angemessen hatte. Catos Stoizismus bot Möglichkeiten, im antikisierenden Gewand politische Zügelung zu propagieren. Das konnte zu seltsamen dramatischen Lösungen führen, wenn etwa Caesar am Totenbett Catos reumütig erscheint und hören muß, wie der sterbende Cato somnambul den Tod Caesars prophezeit.87 Während des Direktoriums konnte mit dem Hinweis auf Cato vor royalistischen Verschwörungen gewarnt werden. Der Cato-Mythos bilanzierte in Frankreich am Ende der Revolution die bürgerkriegsgleichen Zustände, und so war es auch nur folgerichtig, daß die Académie française, nach revolutionsbedingter Lücke, 1796 erstmals wieder den Prix de Rome ausschrieb mit dem Thema Catos Tod. 1797 gewannen dann Pierre-Narcisse Guérin, Pierre Bouillon und LouisAndré Bouchet mit ihren Cato-Gemälden den Prix de Rome. Während bildkünstlerisch Cato vor allem im 16. und 17. Jahrhundert mit dem Motiv des Tods des Philosophen präsent war,88 weist das

86 Vgl. hierzu Claude Mossé: L’Antiquit dans la Rvolution franÅaise. Paris 1989. 87 So bei François-Just-Marie Raynouard: Caton d’Utique. Tragdie en trois actes. Paris an II (1792/93); in dieser Schlußlösung zeigte sich Raynouard von Metastasio beeinflußt. Vgl. auch die Dramen von J. Victor Campagne: Caton. Tragdie en cinq actes. Paris an III (1794/95). A. P. Tardieu de Saint-Marcel: Caton d’Utique. Tragdie en trois actes. Paris an IV (1796). Lyon-François Des Roys: Le dernier des Romains. Tragdie en cinq actes. Paris an VII (1798). J. Courtier de Trocy: La mort de Caton. Tragdie en trois actes. O.O. an VII (1798). 88 Der Selbstmord Catos wird bildkünstlerisch im 16. Jahrhundert in Italien dargestellt von Beccafumi und Giovanni Battista Grassi (1569), im 17. Jahrhundert von Giovanni Francesco Barbieri (1637/1641), Gioacchino Assereto, Pietro Testa (1648), Giovanni Battista Langetti, Francesco Rosa, Luca Giordano (1677), Paolo de Matteis, Antonio Molinari, Giovanni Battista Tiepolo, Corrado Giaquinto, Giambettino Cignaroli, Gaetano Gandolfi. In den Niederlanden hat Mathijs Stomer den Selbstmord Catos gemalt, und in Deutschland gibt es Gemälde von Johann Heinrich Schönfeld, Johann Carl Loth, Daniel

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18. Jahrhundert eine beachtliche Zahl von Cato-Opern auf, und das hängt ganz wesentlich damit zusammen, daß Pietro Metastasio, der Addisons Cato kannte, 1728 das Libretto Catone in Utica verfaßte.89 Während Barthold Feinds früheres Cato-Libretto L’Amore verso la Patria, Die Liebe gegen das Vaterland. Oder: Der sterbende CATO (1715) kaum Komponisten fand,90 wurde Metastasios Vorlage 38 mal vertont.91 Die Vorliebe der Opera seria, die Tugend des aufgeklärten Herrschers im antikisierten Gewand zu preisen, konnte sich hier in stoische Traditionen einschreiben. Die prominentesten musikalischen Bearbeitungen von Metastasios Libretto stammen von Vivaldi (1737), Johann Adolf Hasse (1732), Johann Christian Bach (1761) und Giovanni Pasiello (1789).92

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Seiter und Johann Michael Rottmayr. In Frankreich sind Charles Lebruns und Gabriel Lemonniers Barockgemälde zu nennen. Pietro Metastasio: Catone in Utica (1728), in: Ders.: Tutte le opere. A Cura di Bruno Brunelli. Mailand 1953, S. 125 – 189. Barthold Feind: L’Amore verso la Patria, Die Liebe gegen das Vaterland. Oder: Der sterbende CATO. Musikalisches Schauspiel. Hamburg 1715. Feind orientierte sich hierbei an dem Libretto von Matteo Noris (Catone Uticense [1701]). Vertont wurde Feinds Libretto von Reinhold Keiser. Vgl. Franz Stieger: Opernlexikon, Teil III: Librettisten, Bd. 2, Tutzing 1980, S. 613 u. Teil I: Titelkatalog, Bd. 1. Tutzing 1975, S. 222. Bis 1750 entstanden zu Metastasios Libretto Opern von Leonardo Vinci (Roma 1728), Leonardo Leo (Venedig 1729), Johann Adolf Hasse (Turin 1732), Giovanni Maria Marchi (Mailand 1733), Pietro Torri (München 1736), Geminiano Giacomelli (Wien 1736), Antonio Vivaldi (Verona 1737), Guido Romualdo Duni (Florenz 1739), Rinaldo da Capua (Lissabon 1740), Giovanni Verocai (1743), Karl Heinrich Graun (Berlin 1744), Gaetano Latilla (Rom 1747). Nur drei Libretti Metastasios enden tragisch, ohne den an sich für die Opera seria obligatorischen lieto fine: Catone in Utica gehört dazu, und das trug ihm auch Kritik ein. Metastasio reagierte auf die Kritik, indem er einen zweiten Schluß verfaßte, in dem Catone aus Gründen der Dezenz hinter der Bühne starb. Metastasio hatte die Handlung auf sechs Personen reduziert. Catone und Cesare stehen sich antagonistisch gegenüber. Die meisten dieser Cato-Opern (auch noch die aus dem späten 18. Jahrhundert) komponierten Catone für eine Tenorbesetzung, Cesare hingegen für einen Soprankastraten. Damit ergab sich eine eigentümliche Überkreuzung von politischer und musikalischer Modernität: Während der konservativ auf den alten Idealen der Republik beharrende Catone musikalisch nach dem neuen Ideal der Natürlichkeit als Tenor sang, wurde der politisch revolutionäre Cesare nach einem spätbarocken Stimmideal besetzt. Solchermaßen gewann der Titelheld Catone nicht nur über Metastasios Text, sondern auch über die musikalische Gestaltung einen Modernitätsschub gegenüber Cesare. Am Ende der Oper kapituliert Cesare vor der Haltung Catones mit den Worten: „Se costar mi deve / I giorni di Catone il serto, il

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Wenn Lessing im XVII. Literaturbrief 1759 apodiktisch mit Gottsched abrechnete und den sterbenden Cato mit Worten Bodmers als „mit Kleister und Schere“ verfertigt verwarf,93 so bedeutete dies nicht nur für lange Zeit das literaturgeschichtliche Todesurteil für Gottscheds klassizistische Mustertragödie der Frühaufklärung, sondern markiert darüber hinaus auch ein allgemein abnehmendes Interesse am Cato-Stoff in Deutschland. Wenn auch noch weiterhin Cato-Opern nach Metastasios Libretto komponiert werden,94 und Johann Heinrich Merck sogar noch einmal 1763 Addisons Cato erneut übersetzte (dieses mal in Prosa),95 so sind dies doch vor allem Ausläufer einer Konjunktur, die in Frankreich am Ende, in Deutschland bereits um die Mitte des 18. Jahrhunderts einen Abschluß findet. Wielands dilatorische Überlegungen, in den 1770er Jahren einen Anticato zu verfassen, sind hierfür ein repräsentativer Beleg: Sie zeigen nicht nur, wie sehr mittlerweile Catos tugendreicher Kampf als unzeitgemäß eingeschätzt wird.96 Die Tatsache, daß dieser Anticato nie ausgeführt wurde (es blieb bei einem Vorbericht zum Anti-Cato [1773]), demonstriert darüber hinaus, daß der Diskurs so ausgereizt war, daß es nicht einmal mehr einer heftigen Gegendarstellung bedurfte. Cato war auch ohne Wielands Anticato am Ende des 18.

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trono, / Ripigliatevi, o numi, il vostro dono“ und wirft seinen Lorbeerkranz von sich. Metastasio: Catone in Utica (wie Anm. 89), S. 189. („Ah! Wenn mich die Tage von Cato den Kranz, den Thron kosten müssen, nehmt zurück, o Götter, Eure Gabe.“) Dies als Abgesang auf eine ältere Stimmästhetik zu werten, mit der der Soprankastrat Cesare die Bühne verläßt, mag überinterpretiert sein; nichts desto trotz wird aus der Tenor-Rolle Catone hier ein Vorläufer von Mozarts Titus, der in La Clemenza di Tito einen ähnlich weisen und vorbildhaften Staatsmann verkörpert. Vgl. Anm. 76. Nach 1750 entstanden zu Metastasios Libretto musikalische Bearbeitungen von Giovanni Ferandini (München 1753), Francesco Poncini (Parma 1755), Vincenzo Legrenzio Ciampi (Venedig 1756), Florian Leopold Gassmann (Venedig 1761), Gianfrancsco De Maio (Turin 1763), Johann Christian Bach (Neapel 1761), Nicolo Piccinni (Mannheim 1770), Bernardino Ottani (Neapel 1777), Francesco Antonelli (Neapel 1784), Gaetano Andreozzi (Cremona 1786), Giovanni Pasielleo (Neapel 1789), Peter Winter (Venedig 1791). Johann Heinrich Merck: Cato, ein Trauerspiel von Addison. Frankfurt, Leipzig 1763. Vgl. auch das späte Drama von August Lamey: Cato’s Tod. Straßburg 1799. Christoph Martin Wieland: Vorbericht zum Anti-Cato, in: Der Teutsche Merkur 1773, Bd. 3. August, S. 99 – 129. Wieland benutzt hier den durch Theodor Mommsen populär gewordenen Vergleich von Cato und Cervantes’ Don Quichote. Hierzu vgl. ausführlich im vorliegenden Band Dieter Martin: Christoph Martin Wielands Auseinandersetzung mit dem Stoizismus.

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Jahrhunderts, nach der Französischen Revolution literaturgeschichtlich überholt.97 Das 19. Jahrhundert wird vor allem ein Jahrhundert der CaesarBegeisterung, und dementsprechend geht das Interesse und die Sympathie für Cato deutlich zurück. Catos Tod ist nicht mehr Thema einer literarischen Avantgarde, aber hält sich als Lehrstoff am humanistischen Gymnasium. Der junge Georg Büchner verfaßte als Gymnasiast 1830 für die Schule eine rhetorisch musterhafte Rede zur Verteidigung des Kato von Utika, in der er in Anlehnung an Plutarch, Sallust und Lucan die historische Vorlage nutzt, um die zeitgeschichtliche Situation nach der Juli-Revolution zu reflektieren.98 Büchner verurteilt die Wertung von Catos Selbstmord nach christlichen Maßstäben, weil ein solcher Anachronismus historisch ungerecht sei. Cato als „Gigant unter Pygmäen“ und „Heros einer untergegangnen Heldenzeit“ wird zur kulturkritischen Sonde,99 um die Epigonalität der eigenen Zeit zu ermessen. Cato stirbt bei Büchner nicht für Rom, da dieses Rom ein spätzeitlich-dekadentes ist. Er stirbt für die Idee der Freiheit an sich,100 auch dies ein Gedanke, mit dem Büchner Catos Vorbild für die Gegenwart transparent zu machen suchte. Während Büchner sich in seiner gymnasialen Rede noch von Catos Kampf für die Freiheit begeistert zeigte, relativierte das Revolutionsdrama Dantons Tod diesen Enthusiasmus: Dort ließ Büchner seinen Danton den Tugend-Terroristen Robespierre zu den „gespreizte[n] Katonen“ rechnen, die im blinden Fanatismus das politische Augenmaß verlieren.101 97 Herder erwähnte abschätzig nebenbei das Beispiel „jenes Kato, / Der im Zorne sich die Wunden aufriß“ und verurteilte dergestalt den Selbstmord als antistoische Affekthandlung. ( Johann Gottfried Herder: Der Schiffbruch, in: Ders.: Smmtliche Werke, hg. v. Bernd Suphan, Bd. 28. Berlin 1884, S. 229). 98 Zu Büchners Quellen vgl. Susanne Lehmann: Georg Bchners Schulzeit. Ausgewhlte Schlerschriften und ihre Quellen. Tübingen 2005, S. 115 – 165. 99 Georg Büchner: Kato von Utika, in: Ders.: Smtliche Werke, Briefe und Dokumente, hg. v. Henri Poschmann, Bd. 2: Schriften, Briefe, Dokumente, hg. v. Henri Poschmann unter Mitarbeit von Rosemarie Poschmann, Frankfurt a. M. 1999, S. 30 – 38, hier S. 32 f. 100 „Und war auch Rom der Freiheit nicht wert, so war doch die Freiheit selbst wert, daß Kato für sie lebte und starb.“ (Georg Büchner: Kato von Utika [wie Anm. 99], S. 34). 101 Der Plural („Katonen“) zielt sowohl auf den Tugendrigorismus Catos des Älteren als auch auf den von Cato Uticensis. Vgl. Georg Büchner: Dantons Tod, in: Ders.: Smtliche Werke (wie Anm. 99), Bd. 1: Schriften, hg. v. Henri Poschmann unter Mitarbeit von Rosemarie Poschmann. Frankfurt a. M. 1992, S. 16.

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Im späten 19. Jahrhundert bleibt als Fazit vor allem Theodor Mommsens Urteil meinungsbildend: Der charakterisierte Cato als „Wolkenwandler im Reich der abstrakten Moral“, der „Gewalt der Phrase“ untertan und teils „beherrscht von den Redensarten der Stoa, wie sie in abstrakter Kahlheit und geistloser Abgerissenheit in der damaligen vornehmen Welt in Umlauf waren“.102 Erst das 20. Jahrhundert wird sich wieder um eine ausgleichende Beurteilung Catos bemühen. Das allerdings geschieht dann in geschichtswissenschaftlichen Zusammenhängen und nicht mehr aus der ethisch-philosophischen Absicht heraus, Cato als Repräsentanten stoisch formierten Republikanertums als Vorbild für die eigene Gegenwart zu mobilisieren.

102 Theodor Mommsen (wie Anm. 1), S. 166.

Der Tod des Philosophen Seneca Stoische probatio in Literatur, Kunst und Musik von Bernhard Zimmermann I. „Est enim animi medicina philosophia“ – mit dieser prägnanten Formulierung definiert Cicero in den Tusculanen (III 3, 6) die Aufgabe der hellenistischen Philosophenschulen, insbesondere der Stoiker1 und Epikureer, mit ihren Lehren den Menschen Hilfe zur Lebensbewältigung zur Verfügung zu stellen. Hauptziel ist es, den Menschen die Angst vor zukünftigem Leid, Schmerzen und vor allem dem Tod als dem angeblich größten aller Übel zu nehmen, da Sorge und Angst die innere Ruhe, die tranquillitas animi, stört und somit ein glückliches Leben (vita beata) vereitelt.2 Philosophie tritt an die Stelle der Religion; sie ist der sichere Hafen,3 in dem ein Mensch, geschüttelt von den Schlägen der Willkür des Zufalls (fortuna, casus) Zuflucht finden kann.4 Ihr als gleichsam einer Göttin muß der Mensch sich bedingungslos ausliefern. In der feststehenden Form der hymnischen Anrufung, des Hymnos kletikos,5 ruft Cicero in den Tusculanen (V 2, 5 f.) die personifizierte Philosophia an:6

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Vgl. zur stoischen Ethik vor allem Maximilian Forschner: Die stoische Ethik, Darmstadt 21995. Vgl. dazu meinen Beitrag „Philosophie als Psychotherapie“ in diesem Band. Zur Philosophie als medicina animi vgl. Fritz Wehrli: Ethik und Medizin. Zur Vorgeschichte der aristotelischen Mesonlehre, in: Museum Helveticum 8, 1951, S. 36 – 62. Das Bild des sicheren Hafens gehört zum Allgemeingut philosophischer Protreptik, vgl. das Proömium von Lucrez II 1 – 13. Der portus philosophiae wird breit ausgeführt von Augustin in De vita beata 1, 1 f. Cicero: Tusc. V 2, 5: „cuius (sc. philosophiae) in sinum cum a primis temporibus aetatis nostra voluntas studiumque nos compulisset, his gravissimis casibus in eundem portum, ex quo eramus egressi, magna iactati tempestate confugimus.“

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o vitae philosophia dux, o virtutis indagatrix expultrixque vitiorum! Quid non modo nos, sed omnino vita hominum sine te esse potuisset? Tu urbis peperisti, tu dissipatos homines in societatem vitae convocasti, tu eos inter se primo domiciliis, deinde coniuguiis, tum litterarum et vocum communione iunxisti, tu inventrix legum, tu magistra morum et disciplinae fuisti; ad te confugimus, a te opem petimus, tibi nos, ut antea magna ex parte, sic nunc penitus totosque tradimus. est autem unus dies bene et ex praeceptis tuis actus peccanti immortalitate anteponendus. cuius igitur potius opibus utamur quam tuis, quae et vitae tranquillitatem largita nobis es et terrorem mortis sustulisti?

Philosophie, Führerin des Lebens, die du der Tugend nachspürst und die Laster austreibst! Was hätten nicht nur wir, sondern überhaupt das Leben der Menschen ohne dich sein können? Du hast Städte geschaffen, du hast die zerstreut lebenden Menschen zu einem gemeinschaftlichen Leben zusammengerufen, du hast sie untereinander zuerst durch Behausungen, dann durch Ehen, schließlich durch den gemeinschaftlichen Besitz der Schrift und Sprache verbunden, du warst die Erfinderin der Gesetze, du die Lehrerin der Sitten und Lebensführung; zu dir nehmen wir Zuflucht, bei dir suchen wir Hilfe, dir liefern wir uns, wie wir es früher zum großen Teil getan haben, nun vollkommen und uneingeschränkt aus. Es ist aber ein einziger Tag, gut und nach deinen Lehren verbracht, einer lasterhaften Unsterblichkeit vorzuziehen. Wessen Hilfe sollen wir also mehr benutzen als deine, die du uns sowohl die Ruhe des Lebens geschenkt als auch die Furcht vor dem Tod genommen hast? Philosophie ist kulturschaffende Kraft und Lebenshilfe in einem. Sie gibt dem Menschen die Kraft, die Angst vor dem Tod zu überwinden und damit ein Leben in Ruhe zu führen. Ähnlich klingt das Lob der Philosophie bei Seneca, der unüberhörbar ihre Funktion als Lebenshilfe betont (Epistulae morales 16, 3):

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Der Anruf der Philosophie weist alle wichtigen Teile eines kletischen Hymnos auf: die Epiklese im Vokativ, die Prädikationen, die Aufzählung der Technai und Dynameis. Vgl. dazu Eduard Norden: Agnostos Theos. Untersuchungen zur Formengeschichte religiçser Rede, Darmstadt 41956. Ciceros Gebet an die Philosophie steht in der Tradition von Kleanthes’, ebenfalls in der kletischer Form verfaßten Zeus-Hymnos: siehe Stoicorum Veterum Fragmenta (SVF), ed. Ioannes ab Arnim, Leipzig 1905 (Stuttgart 1964), Bd. I, Nr. 537. Kleanthes wiederum stellt sich in die Nachfolge des aischyleischen Zeus-Hymnos im Agamemnon 160 – 183; Eduard Fraenkel (Aeschylus. Agamemnon, Vol. II, Oxford 1950, S. 100) betont, daß Aischylos die traditionellen hymnischen Elemente umgeformt habe „in the service of a more sublime religious feeling“.

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animum format et fabricat, vitam disponit, actiones regit, agenda et omittenda demonstrat, sedet ad gubernaculum et per ancipitia fluctuantium dirigit cursum. sine hac nemo intrepide potest vivere, nemo secure: innumerabilia accidunt singulis horis, quae consilium exigant, quod ab hac petendum est. Die Seele bildet und gestaltet sie, das Leben ordnet sie, die Handlungen lenkt sie, was zu tun und zu lassen ist, zeigt sie, sie sitzt am Steuer und lenkt den Kurs durch die Gefahren der Wogen. Ohne sie kann niemand furchtlos leben, niemand unbesorgt: Unzähliges geschieht stündlich, was Rat erfordert, den man bei ihr einholen muß.

Die Mittel, die die Philosophie zur Lebensbewältigung und vor allem zur Überwindung der Todesfurcht bereitstellt, sind einerseits die Dialektik, mit deren Hilfe Cicero die Lehren der philosophischen sectae kritisch hinterfragt, und naturwissenschaftliche Kenntnisse, andererseits vor allem jedoch Exempla – positive wie negative –, die sich der Mensch vor Augen halten soll. Im Zentrum von Ciceros und Senecas Philosophie steht also nicht der sapiens, der keiner Ermunterung, Ermahnung oder Orientierung bedarf, sondern der pqojºptym, der sich um die Philosophie bemüht, aber noch nicht das Ziel erreicht hat, ein völlig der Philosophie gewidmetes Leben in vollkommener innerer Ruhe und Unabhängigkeit (aqt²qjeia) 7 zu führen, sondern immer wieder von den Dingen der Welt, den !di²voqa in der stoischen Terminologie, in den Bann gezogen wird. Hauptquelle der Beunruhigung ist die Angst vor Schmerz und Tod. Da diese aber keine tatsächlichen Übel sind, sondern falschen Vorstellungen entspringen, muß die Philosophie zunächst Aufklärungsarbeit leisten. Sie befreit den Menschen von seinen Irrmeinungen und gibt ihm Hilfsmittel zur Hand, um die irrigen Vorstellungen aus seinem Gedächtnis zu verbannen. Der Schutzwall, der das Eindringen des Irrglaubens verhindert, ist die „praemeditatio futurorum malorum“ (Cicero: Tusc. III 14, 29; Seneca: Epist. 24, 2),8 schon im voraus ständig 6 7

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Die Übersetzungen stammen, wenn nicht anders vermerkt, vom Verfasser. Das Grunddogma, daß der Weise sich selbst genüge und keiner äußeren Güter bedürfe, ist häufig bezeugt; vgl. die Texte in SVF III, Nr. 49 ff. („Virtutem sufficere ad vitam beatam“). Zur Definition von Autarkie vgl. SVF III, Nr. 67. Inbegriff der Autarkie ist in der Nachfolge des Kleanthes in der stoischen Lehre Zeus; vgl. Epiktet: Dissertationes III 13, 7. Vgl. dazu Pierre Hadot: Philosophie als Lebensform. Geistige bungen in der Antike, Berlin 1991, S. 72 ff. (mit Bezug auf Mark Aurel); Ilsetraut Hadot: Seneca und die griechisch-rçmische Tradition der Seelenleitung, Berlin 1969, S. 61 – 71 (zu den Stoikern im allgemeinen); Wolfgang-Rainer Mann: Learning how to die: Seneca’s

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künftige Übel in der Vorstellung durchzuspielen, was den Schmerz und das Leid, sollten sie tatsächlich einmal eintreten, beträchtlich mindere. Cicero (Tusc. III 14, 30) führt als Exemplum den Philosophen Anaxagoras an, der auf die Nachricht vom Tod seines Sohnes gesagt haben soll: „Ich wußte, daß ich einen Sterblichen gezeugt hatte.“ Philosophie als Lebenshilfe, insbesondere als Mittel zur Überwindung der Todesfurcht, steht im Zentrum von Senecas Epistulae morales, wie es die Aufgabenbeschreibung der Philosophie in Epist. 30, 3 ganz deutlich macht: hoc philosophia praestat, in conspectu mortis hilarum ‹esse› et in quocumque corporis habitu fortem laetumque nec deficientem quamvis deficiatur. Das gewährt die Philosophie: angesichts des Todes heiter und, in welcher körperlichen Verfassung man auch ist, tapfer und fröhlich zu sein und nicht aufzugeben, mag man auch am Ende sein.

Der, der sein Leben nach den Lehren der Philosophie ausrichtet, vermag seinen eigenen Tod wie den eines Fremden distanziert und gleichsam von außen zu betrachten. Dies, so fährt Seneca fort, ist etwas Großes und muß lange eingeübt werden, wenn die letzte Stunde geschlagen hat, gefaßt und gleichmütig („aequo animo“) aus dem Leben zu scheiden. Ein Zeichen einer gefestigten Einstellung ist es, gelassen und ruhig den Tod zu erwarten, nicht ihn mit Vehemenz zu fordern (Epist. 30, 12). So gilt es – und damit schließt Seneca den Brief –, ständig an die Nichtigkeit des Todes zu denken und sich darin einzuüben, den Tod nicht zu fürchten (Epist. 30, 18) oder ihn gar zu verachten (Epist. 36, 8). Diese meditatio mortis,9 diese Einübung in das Sterben, drückt sich in einer ständigen inneren adhortatio aus, die zur tranquillitas animi führt, da man auf das Sterben vorbereitet ist

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use of Aeneid 4. 653 and Epistulae Morales 12. 9, in: Seeing Seneca as whole. Perspectives on philosophy, poetry and politics, hg. von Katharina Volk und Gareth D. Williams, Leiden 2006, S. 103 – 122. Es gibt ein stoisches Schrifttum ,von der Übung‘ (peq· !sj¶seyr, vgl. auch SVF I, Nr. 409 Z. 9), das sich mit diesen geistigen Exerzitien befaßte, vgl. z. B. Epiktet: Dissertationes III 12; Diogenes Laertios VII 166 f. Zum Einfluß der stoischen Praxis auf das Christentum vgl. Paul Rabbow: Seelenfhrung. Methodik der Exerzitien in der Antike, München 1954. Daß insbesondere die Jesuiten die Exerzitien pflegten und weiterentwickelten, nimmt angesichts der Bedeutung von Seneca im Lehrplan der Jesuitenschulen nicht Wunder. Vgl. dazu auch Michael von Albrecht: Wort und Wandlung. Senecas Lebenskunst, Leiden 2004, S. 160 f. und Karl Rahners Vorwort zu: Ignatius von Loyola: Geistliche bungen, Freiburg 1966, S. 9 f. Vgl. P. Hadot (wie Anm. 8), S. 31 f.

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(Epist. 54, 6 f.: „non trepidabo ad extrema, iam praeparatus sum“).10 Die innere Selbstansprache kann die Form der täglichen Gewissenserforschung,11 der Rechenschaftsablegung vor sich selbst annehmen, wie es mit der eigenen Lebensführung steht (Epist. 16, 2). Wenn man die Natürlichkeit des Todes akzeptiert, also dem Ideal des stoischen naturgemäßen Lebens (secundum naturam vivere) 12 folgt, wird man den Tod nicht als drohende Notwendigkeit (necessitas) fürchten, sondern ihm willig folgen. Denn gut zu sterben („bene mori“) 13 ist gleichbedeutend mit gern zu sterben („libenter mori“) (Epist. 61, 2 f.), und „bene mori“ wird an anderer Stelle (Epist. 70, 6) im Zusammenhang mit Reflexionen über den Freitod als „effugere male vivendi periculum“ definiert, als die Flucht vor der Gefahr eines schlechten, also unwürdigen Lebens.14 Als etwas Großes wird angesehen, ehrenhaft, mit Verstand und tapfer in den Tod zu gehen (Epist. 77, 5). Die Bedeutung von Vorbildern, die in großer Zahl in jeder Epoche zur Verfügung stehen (Epist. 24, 3), im Rahmen dieser praecepta ist nicht zu übersehen: Sie sollen dem Hilfe Suchenden verdeutlichen, daß man tatsächlich nach den abstrakten philosophischen Lehren leben kann, daß die philosophische Einstellung eines Menschen sich nicht in den Worten, sondern den Taten äußert (Epist. 16, 3: „non in verbis, sed in rebus est“).15 Erst die Bewährung in der Praxis (probatio) zeigt den Erfolg der philosophischen Ausbildung, erst sie zeigt, ob man nur in der geistigen Aneignung eines philosophischen Lehrgebäudes oder wirklich in der Lebensführung, in der Anwendung der praecepta auf das eigene Leben, Fortschritte gemacht hat (Epist. 16, 2: „illud ante omnia vide, utrum in philosophia an ipsa vita profeceris“).16 10 Vgl. Epist. 61, 2: „paratus exire sum“; 63, 15; 70, 18; 82, 8; De tranquillitate animi 11, 6. 11 Vgl. I. Hadot (wie Anm. 8), S. 69 f. 12 Vgl. Maximilian Forschner: ber das Handeln im Einklang mit der Natur. Grundlagen sittlicher Verstndigung, Darmstadt 1998. 13 Vgl. Anm. 19. 14 Vgl. De tranquillitate animi 11, 4: „male vivet qui nesciet bene mori“ („Ein schlechtes Leben wird der führen, der nicht gut zu sterben versteht“). 15 Vgl. Epist. 20, 2: „facere docet philosophia, non dicere“ („Handeln lehrt die Philosophie, nicht reden“). Zur notwendigen Übereinstimmung von Lehre und Lebensführung vgl. auch Epist. 24, 19; 52, 8; 75, 4; 108, 36. 16 Vgl. auch Epist. 20, 1 f.: „Illud autem te, mi Lucili, rogo atque hortor, ut philosophiam in praecordia ima demittas et experimentum profectus tui capias non oratione nec scripto, sed animi firmitate, cupiditatum deminuitione: verba rebus proba“. Es ist deutlich, daß sich diese Mahnungen (adhortationes) an den

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Der Tod als sicherer, Ruhe gewährender Hafen17 steht im Mittelpunkt von Senecas siebzigstem, dem Freitod18 gewidmeten Brief an Lucilius: Nicht zu leben sei ein Gut, sondern gut zu leben.19 Deshalb dürfe es sich ein Philosoph oder jemand, der sich um die Philosophie bemühe, nicht zur Maxime machen, solang wie möglich am Leben zu bleiben, sondern nur so lange, wie er es mit seinen ethischen Grundsätzen vereinbaren könne. Denn es komme allein auf die Qualität, nicht auf die Dauer des Lebens an. Der Selbstmord gebe jedem – nicht nur dem Philosophen, sondern auch dem ungebildetsten und rohesten Menschen – die Möglichkeit, dem Schicksal zu entkommen. Die Entscheidung, ob es besser sei, aus dem Leben zu scheiden oder nicht, soll in einer Art epikureischer Güterabwägung getroffen werden; allgemeingültige Regeln lassen sich nicht aufstellen. Man solle sich allerdings immer bewußt sein, daß ein langes Leben nicht unbedingt ein Gut sei, wohl aber ein sich in die Länge ziehender Tod ein großes Übel. Alle Äußerlichkeiten wie das decorum, die Angemessenheit der Todesart, zählten nicht; wichtig sei nur, sich möglichst schnell und einfach dem Spiel der Fortuna zu entziehen, wozu die Natur unzählige Wege zur Verfügung stelle – man könnte geradezu von „secundum naturam mori“ sprechen.

II. Die Schilderung von Senecas Tod in den Annalen des Tacitus (XV 60 – 64) zeigt in eindrucksvoller Weise, wie diese von Seneca in den Epistulae morales geforderte probatio, wie das Verhältnis von Wort und Tat bei dem Philosophen selbst aussieht. Gavius Silvanus berichtet Nero, pqojºptym (lateinisch proficiscens in Ciceros Übersetzung, die Seneca über-

nimmt), der sich ständige aufs neue zu bewähren hat (probatio, experimentum) und nicht an den Weisen gerichtet sind. 17 Vgl. zu dieser Vorstellung auch Seneca: Agamemnon 589 – 595: „Heu quam dulce malum mortalibus additum / vitae dirus amor, cum pateat malis / effugium et miseros libera mors vocet, / portus aeterna placidus quiete. / nullus hunc terror nec impotentis / procella Fortunae movet aut iniqui / flamma Tonantis.“ 18 Vgl. dazu vor allem die immer noch grundlegende Untersuchung von Rudolf Hirzel: Der Selbstmord (1908), Darmstadt (Sonderausgabe) 1967. 19 Die Devise „gut leben“, „bene vivere“, meint sowohl die Lebensqualität als auch vor allem die moralische Komponente, da ein gutes Leben nur ein Leben sein kann, das sich nach moralischen Grundsätzen richtet, wobei diese in Senecas philosophischer Lebenshilfe nicht unbedingt stoisch sein müssen.

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daß er Seneca, den er über sein Gespräch mit Pisos Vertrautem Natalis und über eine verfängliche, jedenfalls doppeldeutige Aussage Senecas befragt habe,20 in völliger Gefaßtheit angetroffen habe (Ann. XV 61, 2: „tum tribunus nulla pavoris signa, nihil triste in verbis eius aut vultu deprensum confirmavit“).21 Seneca zeigt sich also ganz in der Verfassung, die er in De constantia sapientis 19, 2 als wahre Freiheit beschreibt – man könnte den Zustand auch als Autarkie im stoischen Sinne bezeichnen: Non est autem libertas nihil pati, fallimur: libertas est animum superponere iniuriis et eum facere se ex quo solo sibi gaudenda veniant, exteriora diducere a se, ne inquieta agenda sit vita omnium risus, omnium linguas timenti. Nicht bedeutet Freiheit, nichts zu erdulden; dies ist ein Irrtum: Freiheit bedeutet, sich innerlich über alle Unbilden zu erheben und sich zu dem zu machen, aus dem man seine Freuden schöpft, das Äußere als nicht relevant für sich zu betrachten, um nicht ein Leben in Unruhe voller Furcht vor allgemeinem Gelächter, vor allgemeinem Geschwätz führen zu müssen.

Seneca kämpft gegen das Unabwendbare nicht an, er akzeptiert das fatum, das ihm durch die „fatali omnium ignavia“ (Ann. XV 61, 4),22 die allgemeine schicksalhafte Feigheit und Untätigkeit, den Tod bestimmt.23 Unerschrocken („interritus“) will er sein Testament abfassen. Als ihm dies abgeschlagen wird, hinterläßt er seinen anwesenden Freunden das Bild seines Lebens als letzten Willen (Ann. XV 62, 1:

20 Es geht um Senecas Aussage „ceterum salutem suam incolumitate Pisonis inniti“ („Im übrigen beruhe sein Wohlergehen auf Pisos Unversehrtheit“), die politisch, aber auch nur als urbane Grußformel ausgelegt werden kann. Seneca relativiert denn auch, von Gavius Silvanus befragt, seine Aussage; vgl. Erich Köstermann: Cornelius Tacitus, Annalen, Bd. IV: Buch 14 – 16, Heidelberg 1968, S. 297 f. 21 Zu den physiognomischen Merkmalen von Affekten vgl. De ira 1, 1, 3 f. 22 „fatalis“ kann natürlich aus dem Zusammenhang in der abgeschwächten Bedeutung „verhängnisvoll, Verderben bringend“ verstanden werden, aber im Kontext der stoischen Terminologie, die Tacitus durchgängig in der Todesszene anwendet, klingt sicher die stoische fatum-Konzeption an. 23 Seneca folgt mit der Gleichsetzung von fatum und Zeus Kleanthes’ Gebet (SVF I, Nr. 527), das Epiktet im Encheiridion (53) zitiert und das er selbst ins Lateinische übertragen hat (Epist. 107, 10): „duc, parens celsique dominator poli, / quocumque placuit; nulla parendi mora est. / adsum impiger. Fac nolle, comitabor gemens, / malusque patiar, quod pati licuit bono. / ducunt volentem fata, nolentem trahunt.“

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„imaginem vitae suae“).24 Er inszeniert seinen erzwungenen Selbstmord gleichsam für die Öffentlichkeit, sich selbst stilisiert er zum Exemplum stoischer constantia angesichts des nahen Todes (vgl. Ann. XV 63, 1: „velut in commune disseruit“; XV 63, 3). Der dramatische Charakter wird durch Tacitus’ Erzähltechnik deutlich herausgehoben, besonders durch den Wechsel von indirekten und direkten Reden. Die verzweifelten, weinenden Freunde ermahnt Seneca in der Form der consolatio,25 in der schweren Lage die philosophischen Lehrsätze („praecepta sapientiae“), mit denen sie sich jahrelang theoretisch befaßt hätten, nicht zu vergessen, vor allem nicht die Gefaßtheit gegen drohende Übel zu verlieren.26 Den Stil der consolatio beibehaltend, tröstet er seine Frau, die jedoch den Linderungsmitteln der Philosophie („delenimenta philosophiae“) den exemplarischen, heroischen Tod vorzieht (Ann. XV 63, 2).27 Mit dem für die Nachwelt inszenierten Tod stellt sich Seneca ganz bewußt in die Nachfolge des Sokrates.28 Tacitus evoziert die SokratesNachfolge Senecas durch ständige Anklänge an den platonischen Phaidon: 29 Der Gelassenheit des Philosophen30 stehen die Tränen und die 24 Die taciteische Formulierung gibt, wörtlich genommen, den Anstoß für künstlerische Darstellungen von Senecas Tod. 25 Vgl. meinen Beitrag „Philosophie als Psychotherapie“ in diesem Band. 26 Ann. XV 62, 2: „simul lacrimas eorum modo sermone, modo intentior in modum coercentis ad firmitudinem revocat, rogitans ubi praecepta sapientiae, ubi tot per annos meditata ratio adversum imminentia?“ Es liegt der für die Konsolationsliteratur übliche Teil der obiurgatio vor. 27 Daß die Frau dem Mann in den Tod vorangeht, gehört zu den zumeist stoisch oder kynisch geprägten Selbstmordritualen der Kaiserzeit; so Sextia, die Gattin des Scaurus (Tacitus: Ann. VI 29); Arria (Plinius: Epist. III 16); Arria minor (Tacitus: Ann. XVI 35); vgl. auch Pseudo-Seneca: Hercules Oetaeus 897: „praegredi castae solent“; vgl. Hirzel (wie Anm. 18), S. 113 Anm. 4. 28 Vgl. Epist. 70, 9 zu Sokrates’ vorbildlichem Verhalten angesichts des Todes. Seneca betont, daß Sokrates durchaus die Möglichkeit gehabt hätte, durch einen ,Hungerstreik‘ Selbstmord zu begehen, aber trotzdem 30 Tage aushielt – aus Gesetzestreue und um sich seinen Freunden in den letzten Tagen und Stunden („ut fruendum amicis extremum Socraten daret“) nicht zu entziehen. Diesen „Genuß“ der letzten Stunden seines Lebens gewährt auch Seneca seinen Vertrauten. 29 Zum Schluß des Phaidon vgl. Dorothea Frede: Platons ,Phaidon‘, Darmstadt 1999, S. 168 – 173; Theodor Ebert: Platon, Phaidon, Göttingen 2004; S. 455 – 463 (Platon, Werke, Übersetzung und Kommentar I 4). 30 Wie bei Seneca wird auch bei Sokrates die Gesichtsfarbe und seine Unerschrockenheit betont (Phaidon 117b2 – 6).

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Verzweiflung der anwesenden Freunde entgegen, die ermahnt werden, ihr Leben nach dem des Sterbenden auszurichten. Die Anklänge sind vor allem in der Schlußszene (Ann. XV 64, 3 f.) nicht zu überhören, als Seneca den Arzt Statius Annaeus bittet, ihm, um den Tod endlich herbeizuführen, den Schierlingsbecher zu reichen, mit dem in Athen die Verurteilten zu Tode gebracht wurden („venenum, quo d‹am›nati publico Atheniensium iudicio exstinguerentur“). Allerdings zeigt das Gift bei Seneca keine Wirkung, und das Trankopfer wird nicht Asklepios, sondern Iuppiter liberator dargebracht. Gerade in dieser Szene tritt ein gravierender Unterschied zwischen Sokrates’ und Senecas Tod, zwischen Platons und Tacitus’ Schilderung der letzten Stunden zu Tage: Platon setzt immer wieder das Mittel der Ironie ein, um das Pathos und die Tragik der Abschiedsworte zu mindern, z. B. in 115a5 – 9: Sokrates wendet sich lächelnd an Simmias und Kebes mit den Worten, wenn er Tragödienschauspieler wäre, würde er jetzt sagen, das Schicksal rufe ihn; doch für ihn sei es Zeit, ins Bad zu gehen, um nach seinem Tod den Frauen keine unnötige Arbeit zu machen.31 Tacitus dagegen verwendet die tragische Ironie – Senecas Sokrates-Nachfolge scheitert an seiner körperlichen Konstitution, die das Gift keine Wirkung entfalten läßt – zur Steigerung des Pathos der Szene.32 Auch die implizite Botschaft des platonischen Phaidon und der Schilderung des Tacitus ist vergleichbar: Platon widerlegt durch die Darstellung der letzten Handlungen und Worte des Sokrates viel deutlicher, als wenn er dies explizit in apologetischer Form getan hätte, den Vorwurf der Asebie, der Sokrates zum Verhängnis wurde. Tacitus zeigt in der Schilderung der letzten Stunden Senecas, daß der Philosoph seine härteste probatio besteht und daß philosophische Theorie, wie sie vor allem der 70. Brief an Lucilius formuliert, und praktische Lebensführung nicht in Widerspruch zueinander stehen. Er widerlegt damit Seneca feindlich gesinnte Autoren.33 Dazu paßt auch, daß Seneca selbst 31 Vgl. Ebert (wie Anm. 29), S. 453. 32 Er verfährt damit der tragischen Dichtkunst Senecas entsprechend, die man als Pathetisierung griechischer Modelle bezeichnen könnte (vgl. Karlheinz Trabert: Studien zur Darstellung des Pathologischen in den Tragçdien des Seneca, Diss. Erlangen 1953). Zur dramatischen, tragischen Struktur der Annalen vgl. Clarence W. Mendell: Der dramatische Aufbau von Tacitus Annalen (1935), in: Tacitus, hg. von Viktor Pöschl, Darmstadt 21986, S. 449 – 512, hier 480 f. (mit dem Hinweis auf Senecas Dramaturgie). 33 Eine gehässige Variante liegt vor bei Dio LXII 25, 1 f., nach der Seneca seine Frau mit Bezug auf die praecepta philosophiae zwingt, mit ihm in den Tod zu

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in den letzten Stunden seines Lebens nicht nachläßt, als Philosoph zu wirken34 und sein philosophisches Testament den herbeigerufenen Sekretären in die Feder diktiert – in derselben stilistischen Eleganz, deren er sich zeit seines Lebens befleißigt hatte. Auch in der Todesstunde verläßt ihn seine Eloquenz nicht (Ann. XV 63, 3 „et novissimo quoque momento suppeditante eloquentia“). Selbst in !di²voqa wie Stil und Rhetorik bleibt der Stoiker, völlig der von ihm vertretenen Lehre entsprechend, ganz derselbe, ganz sich gleich.35 Vor dem Hintergrund des platonischen Phaidon, in dem Sokrates seinen Freund Kriton dem Gott Asklepios einen Hahn zu opfern heißt,36 enthält das Opfer an Iuppiter liberator, das Seneca vornimmt (Ann. XV 64, 4), eine politische Aussage und wird zum Beweis für die von ihm im Gespräch mit Gavius Silvanus in Anspruch genommene libertas, seinen unbeugsamen Freiheitssinn (Ann. XV 61, 1): Iuppiter soll Seneca endlich von den Todesqualen befreien, aber vor allem den römischen Staat von dem Tyrannen. Diese politische Aussage wird um so deutlicher, wenn man Iuppiter liberator mit Zeus Eleutherios gleichsetzt, der in Griechenland als Befreier von Tyrannei und Barbarei verehrt wurde;37 sie wird geradezu maliziös, wenn Nero tatsächlich eine besondere Beziehung zu Iuppiter liberator gehabt hat; denn das „Attribut des Gottes begegnet nur hier und auf Nero-Münzen /…/, ferner in einem alten Kalen-

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gehen, und nur das Eingreifen der Soldaten sie am Leben erhält. Vgl. Köstermann (wie Anm. 20), S. 303: „Auf welchen Autor diese bösartige Verzerrung zurückzuführen ist, wird kaum zu klären sein (man könnte eher an Cluvius Rufus denken als an Plinius)“. Vgl. auch Winfried Trillitzsch: Seneca im literarischen Urteil der Antike, Bd. I: Darstellung, Amsterdam 1971, S. 116: „Die Beschreibung des Todes Senecas nimmt bei Dio nur einen geringen Raum ein und wirkt gegenüber der großartigen Schilderung des Tacitus eher wie eine Karikatur.“ Das dem Selbstmord vorangehende Gespräch in der Nachfolge von Platons Phaidon wird in der Kaiserzeit geradezu zur Manier; vgl. Hirzel (wie Anm. 18), S. 115 f. Deshalb können die von Tacitus in Ann. XV 67, 3 berichteten letzten Worte des Subrius Flavus in einer schnörkellosen, ungekünstelten militärischen Diktion nicht als Kritik am Pathos Senecas gelesen werden. Wie der Philosoph bleibt auch der Offizier angesichts des Todes derselbe, der er zeit seines Lebens war. Natürlich verweist das Diktat Senecas in den Todesstunden auf einen Hauptunterschied zwischen ihm und Sokrates: Seneca war schreibender Philosoph. Zu dem vieldiskutierten Asklepios-Opfer vgl. zuletzt Ebert (wie Anm. 29), S. 459 f. Vgl. Albert Henrichs: Zeus, in: Der Neue Pauly, Bd. 12/2, Stuttgart, Weimar 2002, Sp. 782 – 789, hier Sp. 784.

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der“.38 Schließlich vermittelt die Iuppiter-Libation eine philosophische Aussage, ist doch der höchste der Götter in Kleanthes’ Zeus-Hymnos (SVF I 537) der Gott der traditionellen Volksreligion, gleichzeitig jedoch „der ordnende Feuer-Gott Heraklits und die mit Vorsehung sorgende Gottheit der Stoiker“.39 Seneca stellt sich in Tacitus’ Bericht zwar eindeutig in die Nachfolge des Sokrates, durch die bewußte Durchbrechung der Phaidon-Szenerie macht er sich jedoch zum römischen Sokrates, zu einem stoischen Sokrates und schafft damit, wie die weitere Schilderung des Tacitus in den Annalen zeigt, ein neues Vorbild des Philosophen-Todes: sich selbst.40

III. Und Senecas Exemplum wirkte: Nach dem Tribunen Subrius Flavus (Ann. XV 67) ist das nächste Beispiel an Standhaftigkeit („proximum constantiae exemplum“) der Centurio Sulpicius Asper (Ann. XV 68, 1). Silanus erträgt sein Geschick „sapienter“, also ganz den praecepta sapientiae entsprechend, und stirbt in heftiger Gegenwehr gegen die Schergen einen ehrenhaften Soldaten-Tod, die todbringenden Wunden auf der Brust (Ann. XVI 9, 2 „volneribus adversis tamquam in pugna caderet“). Stoisch ist auch der Tod des L. Verus, seiner Schwiegermutter Sextia und seiner Tochter Pollitta (Ann. XVI 10 f.), bei deren gemeinsamem Selbstmord fortuna die natürliche Reihenfolge, dem Alter entsprechend, wahrte. Anteius nimmt Gift, und als dies nicht wirken will, öffnet er sich – in direkter Seneca-Nachfolge – zur Beschleunigung des Todes die Adern (Ann. XVI 14, 3). Der hochangesehene Soldat Ostorius zeigt die oftmals vor Feinden bewiesene Tapferkeit gegen sich selbst: Weil das Blut aus den aufgeschnittenen Adern zu langsam fließt, läßt er einen Sklaven einen Dolch unbeweglich hochhalten und drückt

38 Köstermann (wie Anm. 20), S. 308. 39 Die hellenistischen Philosophen, hg. von Arthur A. Long und David N. Sedley, Stuttgart – Weimar 2000, S. 396. 40 Man geht wohl nicht zu weit, wenn man Senecas Verhalten unter dem für die römische Literatur und Philosophie prägenden Aspekt der aemulatio mit den Griechen liest. Vgl. dazu auch Bernhard Zimmermann: Cicero und die Griechen, in: Rezeption und Identitt, hg. von Bettina Rommel und Gregor Vogt-Spira, Stuttgart 1999, S. 240 – 248

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dessen Hand in seine Kehle (Ann. XVI 15, 3).41 Die Art und Weise, wie all diese Personen sterben, vor allem, wie sie ihren Tod durch die ihnen gerade zur Verfügung stehenden Mittel beschleunigen, entspricht ganz und gar den praecepta, die Seneca in Epist. 70 hinsichtlich des Selbstmordes gibt: (6) citius mori aut tardius ad rem non pertinet, bene mori aut male ad rem pertinet; bene autem mori est effugere male vivendi periculum. /…/ (24) nihil obstat erumpere et exire cupienti: in aperto nos natura custodit. Cui permittit necessitas sua, circumspiciat exitum mollem; cui ad manum plura sunt per quae sese adserat, is dilectum agat et qua potissimum liberetur consideret: cui difficilis occasio est, is proximam quamque pro optima arripiat, sit licet inaudita, sit nova. Non deerit ad mortem ingenium cui non defuerit animus. (6) Schneller oder langsamer zu sterben tut nichts zur Sache, gut oder schlecht zu sterben dagegen sehr wohl; gut zu sterben aber heißt, der Gefahr, schlecht zu leben, zu entkommen. /…/ (24) Nichts hindert einen daran, wenn man nur will, aus dem Leben auszubrechen und hinwegzugehen: Die Natur bewacht uns auf freiem Feld.42 Wem es die Notlage, in der er sich befindet, erlaubt, der soll nach einem erträglichen Ausgang Ausschau halten; wer mehrere Möglichkeiten, um Hand an sich zu legen, hat, der soll die Auswahl treffen und sich überlegen, auf welchem Weg er sich am ehesten die Freiheit verschaffen kann: für wen es dagegen schwierig ist, eine Möglichkeit zu finden, der soll die gerade am nächsten liegende als die beste an sich reißen, mag sie auch nie gehört, mag sie auch neu sein. Es wird zum Tod nicht der Erfindungsreichtum fehlen, wem der Mut nicht fehlt.

In der Reihe der durch Neros saevitia erzwungenen Selbstmorde fügt Tacitus als Ruhepunkt seiner Erzählung von Grausamkeiten des Princeps einen auktorialen Kommentar ein (Ann. XVI 16). Der Text ist kontrovers diskutiert – vor allem was Tacitus’ Bewertung der ums Leben gekommenen angeblichen oder tatsächlichen Verschwörer angeht.43 Wichtig ist, daß Tacitus ihnen durch seine Schilderung einen 41 Er stirbt – so könnte man sagen – einen heroisch-tragischen Tod, dem des sophokleischen Aias vergleichbar. 42 Sc. „so daß wir problemlos entkommen können“. 43 Vor allem gibt die Formulierung „patientia servilis“ („ein geradezu sklavenartiges Aushaltevermögen“) Anlaß zur Diskussion. Ich kann darin, vor allem im Kontext der Erzählung – der Autorkommentar folgt auf die Schilderung des Heldentodes des Ostorius – keine Kritik an den Individuen herauslesen, die Nero zum Opfer fielen. Vielmehr ist es eine komprimierte Gesellschaftsanalyse, die Tacitus bietet: Ein Regime wie das Neros führt zu „patientia servilis“, aus der individuelles heldenhaftes Verhalten nicht heraushelfen kann. Man lese nur

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ehrenden Nachruf, eine laudatio funebris in der Tradition der griechisch-römischen Geschichtsschreibung widmet, um auch denen, die nicht wie Seneca selbst für ihr Nachleben gesorgt hatten, ein individuelles Gedenken zu gewähren (Ann. XVI 16, 2 „habeantque propriam memoriam“). Mit Kapitel 17 des 16. Buches setzt der Totentanz von neuem ein. Der erhaltene Rest ist ein Meisterwerk der Kompositionskunst des Tacitus: Auf den summarisch behandelten Tod von Annaeus Mela, Senecas leiblichem Bruder und Lucans Vater, und Cerealis Anicius (Ann. XVI 17) – gleichsam die Ouverture der nächsten Erzählsequenz – folgt der Selbstmord Petrons (Ann. XVI 18 – 20), bevor mit Soranus’ und vor allem Thraseas Tod der Höhepunkt erreicht und der Kreis zurück zu Senecas Selbstmord geschlagen wird. Petrons Tod ist in jeder Hinsicht als Gegenstück zur Seneca-Szene, vor allem aber zu Platons Phaidon zu sehen. Petron unterhält sich mit den Anwesenden nicht über die Unsterblichkeit der Seele und ermahnt sie nicht mit philosophischen Sprüchen, sondern läßt sich leichte Verse und Gedichte rezitieren. Den Ruhm der constantia zu erlangen liegt ihm fern. Er beschleunigt seinen Tod nicht, sondern zögert ihn immer wieder durch Verbinden der Schnittwunden absichtlich hinaus (Ann. XVI 19, 2 f.).44 So bleibt Petron, der arbiter elegantiae,45 ganz wie Seneca auch im Sterben sich gleich. Tacitus deutet in dieser Szene an, daß es neben der vorherrschenden stoischen constantia andere Einstellungen gab, die auf anderen Wegen – mag man sie im Falle Petrons epikureisch oder trivialepikureisch nennen – zu einem ebenso ehrenvollen Tod führten. Das Finale der Grausamkeit wird von Tacitus mit der Formulierung „Nero virtutem ipsam exscindere concupivit“ („Nero hatte das Verlangen, die Tugend an und für sich auszulöschen“, Ann. XVI 21) Ann. XVI 4, 4, wo Tacitus das Verhalten des Pöbels bei Neros Auftritt als Kitharöde beschreibt: „crederes laetari, ac fortasse laetabantur per incuriam publici flagitii“ („man hätte meinen können, sie freuten sich, und vielleicht freuten sie sich tatsächlich aus Unbekümmertheit um die öffentliche Schande [sc. die der Auftritt des Princeps im Theater darstellte])“. Fragen kann man sich allerdings, ob die patientia Symptom der stoischen Einstellung der Opfer ist, die alles Äußere als unerheblich zur Eudaimonia betrachten, Anzeichen vielleicht sogar der stoisch-kynischen Todessehnsucht, die Hirzel (wie Anm. 18, S. 116 – 118) bespricht und Lukian in seinem Peregrinus Proteus parodiert. 44 Vgl. dagegen Senecas Aussage in Epist. 70, 12: „non utique melior est longior vita, sic peior est utique mors longior.“ 45 Zur Identifizierung des taciteischen Petrons mit dem Autor des Satyrikon vgl. Martin S. Smith: Petronius, Cena Trimalchionis, Oxford 1975, 213 f.

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eingeleitet. Traditionelle römische und philosophisch-stoische virtus fließen in der Person Thraseas zusammen. Dramatisch, zunächst in indirekter, dann in direkter Rede, wird die Verleumdung des Capito Cossutianus wiedergegeben. Die gegen Thrasea erhobenen Vorwürfe, vor allem sein mangelndes Interesse an den Iuvenaliaspielen und Neros künstlerischen Ambitionen, erhalten vor der Folie von Ann. XVI 3 f.46 einen positiven Anstrich, die Anschuldigung, er achte nicht religiöse Bindungen und Riten und Gesetze, verweist auf die gegen Sokrates erhobene Anklage. Die Pervertiertheit bei Hofe wird auch im Falle des Barea Soranus deutlich, den Nero aufgrund seiner Gerechtigkeit und seines Fleißes haßt, und darin, daß Nero seine kaiserliche Größe durch die Ermordung herausragender Männer, gleichsam durch königliche Verbrechen, allen kundtun will (Ann. XVI 23, 2). Die Situation, die in Rom herrscht, ist mit der in Kerkyra vergleichbar, die Thukydides in der Pathologie (III 82) schildert: Der Bürgerkrieg führte zu einer Umwertung aller bisher geltenden moralischen Vorstellungen und damit zur Auflösung der Gesellschaft. Thrasea bleibt seiner lebenslangen Einstellung treu (Ann. XVI 26, 47 5) und ragt damit aus der Schar der schweigend zugrunde Gehenden 46 Vgl. Anm. 43. 47 Er ist auch im Tod ganz er selbst; vgl. Seneca: Epist. 20, 1: „qui aliquando fias tuus“. Vgl. auch die Schilderung von Hercules’ ganz und gar stoischem Flammentod im pseudosenecanischen Hercules Oetaeus (zur Forschungslage vgl. Christine Walde: Herculeus labor. Studien zum pseudosenecanischen Hercules Oetaeus, Frankfurt/M. u. a. 1992, S. 243 – 251) V. 1693 „iacuit securus“, 1763 f. „at ille medias inter exurgens faces, / semiustus ac laniatus, intrepidus tuens“, 1741 „immotus, inconcussus“, 1746 „tam placida frons est, tanta maiestas viro“, 1751 „intrepidus ferox“ – ein Verhalten, das sich durch seine virtus selbst den Weg zum Himmel bahnt (1971). Man vgl. auch den Tod des Astyanax und der Polyxena in Senecas Troades, der eine große Ähnlichkeit mit der erzwungenen Selbstmordserie in Tacitus’ Annalen aufweist: „intrepidus animo“ (1093), „ferox“ (1098), „sponte sua desiluit“ (1102), „animus … fortis“ (1146, 1153), „nec tamen moriens adhuc / deponit animos“ (1157 f.). Die zuschauenden Griechen und Trojaner werden wie im Theater (1125 „theatri more“) durch Mitleid gerührt und bewegt (1144 – 1148: „hos movet formae decus, / hos