Mediale Erregungen?: Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart (Studien Und Texte Zur Sozialgeschichte Der Literatur) [1 ed.] 3484351187, 9783484351189 [PDF]

The debate on the use and drawbacks of the sociology of literature unleashed by Bourdieu??s seminal work ""The

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German Pages 368 [377] Year 2009

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Table of contents :
Frontmatter
......Page 2
Inhaltsverzeichnis......Page 6
Mediale Erregungen?......Page 10
Autonomie, Markt und Aufmerksamkeit......Page 20
Provokation und posture......Page 32
Autonomie und/oder Aufmerksamkeit?......Page 54
Handkes Endspiel......Page 74
Anreger und Aufreger......Page 86
Von Bitterfeld nach Berlin......Page 118
Avantgarde, Retrogarde oder zurück zu Gutenberg?......Page 132
»Gut, habe ich gesagt, mache ich halt auf berühmten Dichter«......Page 148
Die Kinder der Quoten......Page 162
Positionen – Positionierungen – Zuschreibungen......Page 178
Feldspieler und Spielfelder......Page 198
Stigma und Skandal......Page 214
»Das ist Kunst, Mann!«......Page 230
»Deutschlands literarischer Superstar«?......Page 242
Medien zwischen Struktur und Handlung......Page 262
Der Großschriftsteller als Fernsehstar......Page 278
Die Kunst der Inszenierung......Page 298
Vom Bubblegum zum Holocaust......Page 318
Von der Produktion zur Rezeption......Page 340
Register
......Page 370
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Mediale Erregungen?: Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart (Studien Und Texte Zur Sozialgeschichte Der Literatur) [1 ed.]
 3484351187, 9783484351189 [PDF]

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Zitiervorschau

STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR

Herausgegeben von Norbert Bachleitner, Christian Begemann, Walter Erhart und Gangolf H&binger

Band 118

Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart

Herausgegeben von Markus Joch, York-Gothart Mix und Norbert Christian Wolf gemeinsam mit Nina Birkner

Max Niemeyer Verlag T&bingen 2009

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Die Tagung wurde aus Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des 8sterreichischen Kulturforums Berlin gefçrdert, die vorliegende Publikation aus Mitteln des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Sonderforschungsbereiches 626 »>sthetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der K&nste« unterst&tzt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet &ber http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-35118-9

ISSN 0174-4410

F Max Niemeyer Verlag, T&bingen 2009 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich gesch&tzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulJssig und strafbar. Das gilt insbesondere f&r VervielfJltigungen, Kbersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbestJndigem Papier. Satz: Martin Dieringer, Berlin Gesamtherstellung: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten

Inhaltsverzeichnis

Markus Joch, York-Gothart Mix und Norbert Christian Wolf Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart. Einleitung

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Georg Franck Autonomie, Markt und Aufmerksamkeit. Zu den aktuellen Medialisierungsstrategien im Literatur- und Kulturbetrieb .

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Michael Billenkamp Provokation und posture. Thomas Bernhard und die Medienkarriere der Figur Bernhard

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Norbert Christian Wolf Autonomie und/oder Aufmerksamkeit? Am Beispiel der medialen Erregungen um Peter Handke, mit einem Seitenblick auf Marcel Reich-Ranicki . . . .

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Karl Wagner Handkes Endspiel: Literatur gegen Journalismus .

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Markus Joch Anreger und Aufreger. Wie Hans Magnus Enzensberger überrascht und in welchen Medien

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Dirk Niefanger Von Bitterfeld nach Berlin. Monika Marons strategisches Schreiben .

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York-Gothart Mix Avantgarde, Retrogarde oder zurück zu Gutenberg? Selbst- und Fremdbilder der unabhängigen Literaturszene in der DDR

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VI

Inhaltsverzeichnis

Beatrix Müller-Kampel »Gut, habe ich gesagt, mache ich halt auf berühmten Dichter«. Habitusmanagement und Stigmapolitik bei Werner Schwab (1958–1994) 139 Uta Degner Die Kinder der Quoten. Zum Verhältnis von Medienkritik und Selbstmedialisierung bei Elfriede Jelinek .

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Verena Holler Positionen – Positionierungen – Zuschreibungen. Zu Robert Menasses literarischer Laufbahn im österreichischen und deutschen Feld . . .

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Doris Moser Feldspieler und Spielfelder. Vom Gewinnen und Verlieren beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb . . . . . . .

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Thomas Wegmann Stigma und Skandal oder ›The making of‹ Rainald Goetz

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Nina Birkner »Das ist Kunst, Mann!« Selbstreflexion und Selbstinszenierung in zeitgenössischen Künstlerdramen von Igor Bauersima, Réjane Desvignes, Albert Ostermaier und Falk Richter . . . .

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Wilhelm Haefs »Deutschlands literarischer Superstar«? Daniel Kehlmann und sein Erfolgsroman Die Vermessung der Welt im literarischen Feld .

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Andreas Dörner und Ludgera Vogt Medien zwischen Struktur und Handlung. Zum Strukturdeterminismus in Bourdieus Kulturtheorie und möglichen Alternativen . . . . .

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Jochen Strobel Der Großschriftsteller als Fernsehstar. Heinrich Breloers Fernsehproduktion Die Manns

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Nina Zahner Die Kunst der Inszenierung. Die Transformation des Kunstfeldes der 1960er Jahre als Herausforderung für die Kunstfeldkonzeption Pierre Bourdieus

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Inhaltsverzeichnis

Thomas Becker Vom Bubblegum zum Holocaust. Art Spiegelmans MAUS .

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Joseph Jurt Von der Produktion zur Rezeption. Die Aufnahme französischer Gegenwartsliteratur im deutschsprachigen Raum. Das Beispiel Jean-Luc Benoziglio . . . . . . . . . .

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Markus Joch (Berlin), York-Gothart Mix (Marburg) und Norbert Christian Wolf (Berlin/Salzburg)

Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart. Einleitung Seit fast zwei Jahrzehnten betonen kulturökonomische Diagnosen, dass der Wert künstlerischer Produktionen sich in der Moderne weniger an einer möglichst authentischen Repräsentation außerkünstlerischer Wirklichkeiten bemisst als an einem für wertvoll erachteten Abstand zum vorgefundenen Status quo der künstlerischen Darstellungsmittel.1 Unter den Produzenten und mehr noch unter den professionellen Beobachtern festigt sich das Bewusstsein, dass ein Werk erst dann in den Rang des beachtenswerten ›Neuen‹ rückt, wenn es im Vergleich zum Bestehenden eine valorisierbare Differenz markiert. Damit verliert die etablierte Unterscheidung in der Doppelcodierung künstlerischer Produkte – Bedeutung und Ware – an Trennschärfe. Bedeutung entsteht primär aus dem Abstand zum Standardisierten, der Abstand wiederum stellt einen Warenwert dar, der sich jedoch nicht direkt in Geldwert übersetzen lässt, sondern in Währungen eigener Art notiert: ›symbolisches Kapital‹2 bzw. ›Aufmerksamkeit‹.3 Weit umstrittener als die relationale Konzeptualisierung künstlerischen Werts ist die Frage, welche Benennungsinstanzen mit welchem Gewicht und welcher Legitimation den jeweiligen Wert konkret bestimmen. Bourdieu hat mit der vorrangig am Beispiel der Literatur gewonnenen Unterscheidung zwischen einem Subfeld der Massenproduktion, das dem Diktat der kommerziellen Nachfrage unterliegt, und einem Subfeld der eingeschränkten Produktion, in dem die Anerkennung durch andere Künstler und/oder verständige Kritikinstanzen schwerer wiegt als der schnelle Verkaufserfolg,4 ein historisch deskriptives Modell vorgelegt, das zudem normative Implikationen hat: Deskriptiv ist sein Modell insofern, als die in Deutschland seit der Weimarer Klassik,5 in Frankreich seit Flaubert und Baude1

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Vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999 (frz. 1992); Boris Groys: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. München, Wien: Carl Hanser 1992. Vgl. Pierre Bourdieu: Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital – Soziales Kapital. In: P. B.: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Schriften zu Politik & Kultur 1. Hg. von Margareta Steinrücke. Hamburg: VSA 1992, S. 49–79. Vgl. Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. München, Wien: Carl Hanser 1998; Georg Franck: Mentaler Kapitalismus. Eine politische Ökonomie des Geistes. München, Wien: Carl Hanser 2005. Vgl. Pierre Bourdieu (Anm. 1), S. 344–350. Vgl. Norbert Christian Wolf: Goethe als Gesetzgeber. Die struktur- und modellbildende Funktion einer literarischen Selbstbehauptung um 1800. In: »Für viele stehen, indem man für sich steht«. Formen literarischer Selbstbehauptung in der Moderne. Hg. v. Eckart Goebel u. Eberhard Lämmert. (LiteraturForschung) Berlin: Akademie 2004, S. 23–49; Norbert Christian Wolf: Gegen den Markt. Goethes Etablierung der »doppelten Ökono-

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Markus Joch, York-Gothart Mix und Norbert Christian Wolf

laire6 eingeführte Vorstellung eines im Wortsinn auto-nomen, sich selbst das Gesetz gebenden Universums nicht nur von anderen Autoren geteilt wurde und wird, sondern in internen Institutionen der Bewertung und Auslese verankert ist. Die Literaturwissenschaft, die ambitionierte Literaturkritik und renommierte Preiskomitees favorisieren nach wie vor Qualitätskriterien, die von kommerziellen Prämierungen unabhängig sind. Die Traditionslinie von Verlegern, die kurzfristiger Gewinnmaximierung symbolisches Kapital vorziehen, das sich erst langfristig in ökonomisches Kapital umwandeln lässt, oder die gemischt kalkulieren, reicht in Deutschland von Julius Campe über Kurt Wolff und Paul Cassirer bis zu Siegfried Unseld.7 Einen normativen Zug gewinnt Bourdieus Beschreibung insofern, als er die vom ökonomischen Kalkül relativ unabhängigen sozialen Universen als historische Errungenschaften verteidigt, die er gegen Ende des 20. Jahrhunderts zunehmend einem Zerstörungswerk ausgesetzt sieht.8 Das journalistische Feld und besonders dessen potenteste Institution, das Fernsehen, stuft er als Instanzen ein, die der Literatur (wie der Wissenschaft) zunehmend externe Bewertungskriterien aufzwingen (Tagesaktualität, Kürze, Marktgängigkeit etc.)9 – und wird dabei mittlerweile in Deutschland von so unerwarteten ›Fernsehkritikern‹ wie Marcel Reich-Ranicki10 und Elke Heidenreich sekundiert. Die vehemente Abgrenzung autonomer Produktion und Rezeption von der Spekulation auf massenmediale Resonanz ist nicht unwidersprochen geblieben. Autonomie, so die Gegenposition Georg Francks, hänge davon ab, ob ein interner Markt der Beachtung existiert. Zumindest im avantgardistischen Sektor müssen erst die Mitproduzenten und die professionellen Meinungsbildner überzeugt werden, bevor man den Weg zum breiteren Publikum findet. Ein rigoroser Widerstand gegen den Sog des massenmedialen Markts aber negiere »die Chance, an der Mengenexpansion der zahlenden Aufmerksamkeit zu partizipieren. Das Risiko, auf das man sich einläßt, ist die Existenz am unbedeutenden Rand des Geschehens.«11 Der vorliegende Band setzt an beiden Brennpunkten der kulturökonomischen Debatte an: Er thematisiert zum einen die Logik der feldinternen Vergabe

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mie«. In: Markt. literarisch. Hg. von Thomas Wegmann. (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge 12) Bern u. a.: Peter Lang 2005, S. 59–74. Vgl. Pierre Bourdieu (Anm. 1), S. 98–186. Vgl. York-Gothart Mix: Intellektualität als Mission. Heinrich Mann und Paul Cassirer. In: Ein Fest der Künste. Paul Cassirer. Hg. von Rahel E. Feilchenfeldt und Thomas Raff. München: Beck 2006, S. 177–186; York-Gothart Mix: Markt und Urheberrecht. In: Handbuch Literaturwissenschaft. Bd. 1. Hg. von Thomas Anz. Stuttgart, Weimar: Metzler 2007, S. 501–509; Markus Joch: Emotion und Einkommen. In: literaturkritik.de vom Juni 2007 (http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id= 10820&ausgabe=200706, 26. 11. 2008). Vgl. ebd., S. 530–534. Vgl. Pierre Bourdieu: Über das Fernsehen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998. Vgl. zu dessen eigener Praxis Markus Joch: Jurek Beckers »Amanda herzlos« im »Literarischen Quartett«. In: Rhetorik der Erinnerung. Literatur und Gedächtnis in der ›geschlossenen Gesellschaft‹ des Realsozialismus. Hg. von Carsten Gansel. Göttingen: V & R unipress 2009, S. 363–388. Georg Franck: Mentaler Kapitalismus (Anm. 3), S. 164.

Mediale Erregungen? – Einleitung

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symbolischen Kapitals, zum anderen, wie sich die Positionskämpfe und Abgrenzungsbestrebungen zum massenmedialen Umfeld verhalten. Als Gegenstand bietet sich die Gegenwartsliteratur an, wobei 1968 und 1989 als historische Zäsuren dienen können. Wie nüchterne Autoren und Publizisten – etwa Hans Magnus Enzensberger oder Franz Fühmann – frühzeitig erkannt haben, hat in Deutschland die Literatur seit den siebziger Jahren, spätestens aber seit 1989, die Stellung als dominierender Ort kultureller Selbstverständigung und als Instanz generalisierender Weltdeutung eingebüßt.12 Der relative Anteil an gesamtgesellschaftlicher Beachtung sinkt seitdem. Zugleich aber nimmt, aller Krisenreden ungeachtet, die Zahl literarischer Anbieter zu. Durch das Zusammenspiel beider Faktoren hat sich der Kampf um die knappe Ressource Aufmerksamkeit zugespitzt. Eine kritische Analyse der Durchsetzungsstrategien und Erfolgschancen verschiedener Akteure steht indes noch aus: Trifft es zu, dass ästhetischer wie literaturpolitischer Eigensinn nur um den Preis der medialen Marginalisierung zu haben ist, dass also Autonomieanspruch und Streben nach Aufmerksamkeit tendenziell in einen Zielkonflikt geraten? Oder sind die Vermeidung von Modethemen, die Abstinenz von tagesaktuellen Stellungnahmen wie die bewusste Verknappung von Fernsehpräsenz Wege, spezifisch literarisches Prestige zu gewinnen und zu verteidigen? Bedarf Letzteres überhaupt massenmedialer Verstärkung? Umgekehrt ist zu diskutieren, inwieweit sich die Grenze zwischen ›hoher‹ und populärer Literatur, Long- und Bestsellern, feldinternen Konsekrationsinstanzen und massenmedialer Literaturverarbeitung (Kulturjournalismus) relativiert hat bzw. an welchen Orten und inwiefern sich graduelle Übergänge zwischen den Fronten abzeichnen. Um eine kulturräumliche Hypostasierung zu vermeiden, scheint es angebracht, die im deutschen Rahmen beobachteten Phänomene durch die nicht immer deckungsgleichen Tendenzen in Österreich und in der deutschsprachigen Schweiz zu kontrastieren. Führen dort andere Konstellationen des literarischen Feldes zu strukturell anderen Phänomenen? Die Tagung, deren Ergebnisse im Folgenden vorgestellt werden, hat verschiedene Untersuchungsachsen verfolgt; dazu zählen sowohl textinterne als auch textexterne Fragestellungen. Folgende Probleme lassen sich konstatieren: 1. Individuelle Karrieremuster. Dass beispielsweise Peter Handke sein ursprüngliches symbolisches Kapital jahrzehntelang hat wahren können, verdankt sich durchgängig antizyklischen Positionierungen, etwa der Strategie, formale Experimente gegen die ›formvergessene‹ Gesinnungsliteratur der Gruppe 47 ins Feld zu führen oder Innerlichkeit als Einspruch gegen die Politisierungsnorm der Studentenbewegung zu propagieren. Der ästhetisierte Klassizismus Handkes geriert sich de facto als Positionsnahme gegen den Neuen Subjektivismus. Thomas Bernhards Künstler-Trilogie (Holzfällen, Der Untergeher, Alte Meister) hingegen kennzeichnet eine elitär gefärbte Reinheitsrede – gemeint ist Bernhards Differenzierung zwischen exzeptionellen Geistesmenschen und den so genannten Staatspfründner12

Vgl. Hans Magnus Enzensberger: Mittelmaß und Wahn. Gesammelte Zerstreuungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 42ff., 53ff.; Franz Fühmann: Essays, Gespräche, Aufsätze 1964–1981. Hg. von Ingrid Prignitz. Rostock: Hinstorff 1993.

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Markus Joch, York-Gothart Mix und Norbert Christian Wolf

existenzen. Andere Werkteile (Auslöschung, Heldenplatz) sind wiederum für politische Lesarten anschlussfähig (Antifaschismus, Antiprovinzialismus). Gleichermaßen ist die Frage zu stellen, ob es sich bei der Literatur-Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek um eine singuläre Exponentin manieriert-egozentrischer linker Selbststilisierung handelt, die einer um Jahrzehnte verspäteten Avantgarde-Poetik anhängt, wie die jüngere (Tages-)Kritik fragt, oder um eine auch ästhetisch provokante Vorkämpferin für emanzipatorische Ideale. Wie ist Werner Schwabs Motto »Management + Legende + Text = Sieg + Spaß« im Kontext eines nonkonformistischen Literaturbetriebs zu bewerten? Kann im Feld der österreichischen Literatur von besonderen Bedingungen und – daraus resultierend – von spezifischen Darstellungsformen ausgegangen werden, wie Verena Holler behauptet?13 2. Staatskunst und Autonomie. Um im heteronom verfassten sozialen Raum der DDR möglichst autonom agieren zu können, verlegten sich die unter dem Label ›Prenzlauer Berg‹ firmierenden Autoren, genauer: die von den späteren StasiEnthüllungen unbetroffenen wie Uwe Kolbe, auf Minimalauflagen bis zum handschriftlichen Unikat, mithin auf eine production restreinte ganz eigener Art. Nach der Wende ist im bundesdeutschen literarischen Feld eine gewisse Dominanz von Autoren ostdeutscher Herkunft beobachtbar (Thomas Brussig, Jana Hensel, Ingo Schulze, Wolfgang Hilbig, Monika Maron, Durs Grünbein u. a.), was eine kulturräumliche Vertiefung und Erweiterung des Begriffs ›kulturelles Kapital‹ nahelegt: War die DDR der letzte Zufluchtsort eines seitdem verschwundenen Bildungsbürgertums, wie seit dem Erfolg von Uwe Tellkamps Roman Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land vom Feuilleton so gern behauptet wird? Zählen zu habituell inkorporierten Fähigkeiten auch durch einen plötzlichen Systemwechsel herbeigeführte Erfahrungsvorsprünge? Konsekrierte Autoritäten wie Christa Wolf wurden in der Literaturdebatte nach 1989 demontiert,14 während Volker Braun als einer der konsequentesten Verfechter einer sozialistischen Utopie in der Bundesrepublik mit wichtigen Literaturpreisen bedacht wird. 3. Selbstreflexion und Selbstinszenierung in Theater und Film. In zeitgenössischen Theatertexten und Verfilmungen findet eine Reflexion über den Kampf um Aufmerksamkeit, über die Durchsetzungsstrategien im literarischen Feld und über die Grenze zwischen ›hoher‹ und populärer Kunst statt. Damit verbunden ist eine medienwirksame Thematisierung des Problems künstlerischer Identität und Wertung. Beispiele dafür sind Neil LaButes Das Maß der Dinge, Igor Bauersimas und Réjane Desvignes Tattoo, Albert Ostermaiers The Making Of. B.-Movie oder Falk Richters Gott ist ein DJ. Wo liegen die thematischen Brüche zur altehrwürdigen Tradition des Künstlerdramas im 20. Jahrhundert? 4. Mediale Literaturvermittlung (Literaturtalk und Fernsehreihen). Das von Marcel Reich-Ranicki ins Leben gerufene Literarische Quartett lässt sich mit sei13

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Vgl. Verena Holler: Felder der Literatur. Eine literatursoziologische Studie am Beispiel von Robert Menasse. Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang 2003; dazu auch der Beitrag Hollers im vorliegenden Band. Vgl. Markus Joch: »Es geht nicht um Christa Wolf«? Die Logik des deutsch-deutschen Literaturstreits. In: NachBilder der Wende. Hg. von Inge Stephan und Alexandra Tacke. Köln u. a.: Böhlau 2008, S. 17–32.

Mediale Erregungen? – Einleitung

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ner beispiellosen Erfolgsgeschichte nicht nur als kommerzielle Einflussgröße thematisieren, sondern auch als Einführung agonal angelegten Literatainments mit starkem Zug zur binären Codierung (gutes Buch vs. schlechtes Buch). Offen bleibt, ob Letztere die überregionale Großkritik in elektronischen und Printmedien affiziert oder im Gegenteil zur Abgrenzung bzw. zu ostentativen Distanzierungen gereizt hat. Das Beispiel Alexander Kluges zeigt, wie schriftstellerisches Prestige ins Feld des Fernsehjournalismus konvertiert werden kann, um dort einen Gegenpol zu installieren, an dem der Aufmerksamkeitsgewinn bei einer schmalen und umso treueren Klientel mehr zählt als die Einschaltquote. Reduzieren Fernsehverfilmungen von literarischen Werken oder Thematiken wie Jahrestage oder Die Manns das konsekrierte Werk von (Groß-)Schriftstellern zur tagesaktuell verkürzten Legitimationsästhetik? 5. Literaturwettbewerbe und Literaturkritik. Von Interesse ist ihr Charakter als Börse, Event und Ritual (exemplarisch etwa der Ingeborg-Bachmann-Preis), die personelle Zusammensetzung und die Urteilskriterien der Jurys, schließlich die – wie immer real messbare – Auswirkung auf Schriftstellerkarrieren. Die Wirkungsweise einer Konsekrationsmacht lässt sich am steilen Aufstieg des BüchnerPreisträgers Durs Grünbein verfolgen, der auf Unterstützung durch das Fernsehen verzichten kann, hat er doch das literaturpolitisch fast allmächtige Feuilleton der FAZ auf seiner Seite. Andererseits ist das relative Gewicht der auszeichnenden Instanzen mittlerweile selbst Gegenstand scharfer Kontroversen (LiteraturNobelpreis als ›Starsystem für Laien‹, so Dietrich Schwanitz). 6. Die ›hohe‹ und die Popkultur. Rainald Goetz und Peter Glaser, der deutsche und der österreichische Autor, wurden bereits Mitte der achtziger Jahre als Popliteraten vermarktet, konnten aber in äußerst traditionsreichen und renommierten Verlagshäusern publizieren (Suhrkamp bzw. Kiepenheuer & Witsch). Spricht das dafür, dass die Grenze zwischen ›hoher‹ und populärer Kultur längst gefallen ist, wie von den erklärten Gegnern der Bourdieu’schen Unterscheidung zwischen ›eingeschränkter‹ und ›massenweiser‹ Produktion, die einer ›Entgrenzung‹ im Zeichen der Postmoderne das Wort reden, so gern behauptet wird? Das Zeitintervall in der Konsekration Peter Glasers, der den Bachmann-Preis mit 20 Jahren Verspätung erhielt, spricht eher für ›Semipermeabilität‹. Derartige Fragestellungen werden in den einzelnen Beiträgen des vorliegenden Bandes verfolgt. Textinterne und textexterne Aspekte bilden dabei im Sinn von Bourdieu keinen unüberbrückbaren Gegensatz, sondern sollen als komplementäre Strukturen aufeinander bezogen bleiben. Sie sind also miteinander vereinbar und in reziproker Korrelation zu denken. Literaturbezogene Studien werden durch Arbeiten ergänzt, die sich auf verwandte und benachbarte Künste beziehen (Comic, bildende Kunst). Der Beitrag von Georg Franck Autonomie, Markt und Aufmerksamkeit. Zu den aktuellen Medialisierungsstrategien im Literatur- und Kulturbetrieb analysiert die von Bourdieu konkretisierte ökonomische Diskrepanz zwischen ästhetischer Autonomie und der differenten Marktdynamik von grande diffusion und production restreinte unter dem Aspekt einer Akkumulation des immateriellen Ka-

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Markus Joch, York-Gothart Mix und Norbert Christian Wolf

pitals gewährter Beachtung. Die Frage, in welcher Relation der Prozess der Kanonisierung und das ›Rating und Ranking‹ stehen, wird unter den Vorzeichen einer Selbstpotenzierung medialer Aufmerksamkeit und der Zyklen modischer Kontrasignaturen erhellt. Die durch Literaturskandale beglaubigte Korrelation zwischen provokativer Selbstinszenierung, medialer Resonanz und der Konstruktion und Akzeptanz eines sich scheinbar stringent entwickelnden, konsistenten Werk- und Autorbildes führen Michael Billenkamp (Provokation und posture. Thomas Bernhard und die Medienkarriere der Figur Bernhard), Norbert Christian Wolf (Autonomie und/oder Aufmerksamkeit? Am Beispiel der medialen Erregungen um Peter Handke, mit einem Seitenblick auf Marcel Reich-Ranicki) und Karl Wagner (Handkes Endspiel: Literatur gegen Journalismus) vor Augen. Beide Autoren, Thomas Bernhard und Peter Handke, machen den »prekären Status des Schriftstellers und Intellektuellen unter massenmedialen Bedingungen« zu einem Kardinalthema ihres Werks. Das Spiel auf der Klaviatur einer Ökonomie medialer Aufmerksamkeit ist jedoch doppelbödig und ambivalent: Man nutzt den Sensationsjournalismus und distanziert sich gleichzeitig kritisch von ihm. Die Aura intellektueller Unabhängigkeit resultiert partiell aus einer Funktionalisierung des Boulevards, ohne dabei jenen künstlerischen Eigensinn preiszugeben, der sich als schriftstellerische Behauptung einer autonomen Position präsentiert, indem er die ›ökonomische Ökonomie‹ des normalisierten und normalisierenden Massenmarkts auf den Kopf stellt. Markus Joch zeichnet nach, wie es Hans Magnus Enzensberger als Lyriker und Essayist zum Großverdiener in der Ökonomie der Aufmerksamkeit gebracht hat. Die posture literarpolitischer Flexibilität und die Fähigkeit, innerhalb journalistischer Umgebung Distanz zur selben zur Geltung zu bringen, verhelfen ihm zu einem Grad an Beachtung, der Fernsehauftritte entbehrlich macht (Anreger und Aufreger. Wie Hans Magnus Enzensberger überrascht und in welchen Medien). Das selbstreferenzielle Echo journalistischer Konsekration und die Eigendynamik des Interesses an ästhetischen Kontrastsignaturen korrelieren mit der Positionierung Monika Marons und der Autoren des Prenzlauer Bergs im literarischen Feld der Bundesrepublik. Dirk Niefanger rückt in seiner Untersuchung Von Bitterfeld nach Berlin. Monika Marons strategisches Schreiben die ›Werkpolitik‹ der Autorin in das Zentrum des Interesses, York-Gothart Mix beschreibt unter der Überschrift Avantgarde, Retrogarde oder zurück zu Gutenberg? Selbst- und Fremdbilder der unabhängigen Literaturszene in der DDR die Probleme der Kanonisierung und Klassifikation legitimer und illegitimer Oppositionsliteratur aus der Spätphase der DDR. Werkpolitik erweist sich bei dem österreichischen Theaterautor und Künstler Werner Schwab als ›Stigmapolitik‹. Beatrix Müller-Kampels Studie »Gut, habe ich gesagt, mache ich halt auf berühmten Dichter«. Habitusmanagement und Stigmapolitik bei Werner Schwab (1958–1994) zeigt, in welchem Maße die Vita des Grazer Enfant terrible dazu gedient hat, den »traditionellen künstlerischen Schöpfer-Habitus illusionistisch anzureichern«. Selbstaussagen, Interviews, Rezensionen, Kritiken und Porträts eines skandalisierend-konsekrierenden Journalismus lassen Schwab als poète maudit mit strikt antiökonomischem Gestus erscheinen. Das von Müller-Kampel analysierte Moment der Stigmatisierung scheint auch auf Elfriede Jelinek und ihr Werk zuzutreffen. Kalkulierter als

Mediale Erregungen? – Einleitung

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bei Schwab lassen sich, wie Uta Degner in ihrem Aufsatz Die Kinder der Quoten. Zum Verhältnis von Medienkritik und Selbstmedialisierung bei Elfriede Jelinek darlegt, die Strategien der Nobelpreisträgerin aber »als eine Verlängerung ihrer Literatur, als kohärenter Ausdruck ihrer Poetik verstehen«. Auch in den Beiträgen von Verena Holler und Doris Moser geht es um die Problematik von Autorpositionierungen im österreichischen und deutschen Literaturbetrieb. Hollers Essay Positionen – Positionierungen – Zuschreibungen. Zu Robert Menasses literarischer Laufbahn im österreichischen und deutschen Feld unterstreicht die argumentative Diskrepanz der kulturnational grundierten Voten medialer Konsekrationsinstanzen am Beispiel Menasses. Mosers Untersuchung Feldspieler und Spielfelder. Vom Gewinnen und Verlieren beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb analysiert das Prozedere und die Vergabemodi des wichtigsten deutschsprachigen Literaturfestivals unter den Vorzeichen einer Differenz zwischen dem angestrebten ›Gewinn symbolischen Kapitals‹ und einer bloßen Akkumulation von Aufmerksamkeit. Den 1983 von Rainald Goetz beim Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb inszenierten Skandal nimmt Thomas Wegmann zum Anlass, im Kontext der symbolischen und performativen Dimensionen nach der Korrelation von Autorschaft und Aufmerksamkeit zu fragen. In seinen Ausführungen mit dem Titel Stigma und Skandal oder ›The making of‹ Rainald Goetz hebt Wegmann hervor, dass sich die Selbstpositionierung dieses Autors »nicht abseits des Literaturbetriebs, sondern inmitten seiner medialen Voraussetzungen« realisiert. Die von Wegmann beschriebene Problematik sieht Nina Birkner in programmatischen Künstlerdramen des ausgehenden 20. Jahrhunderts exemplifiziert. Das Zitat im Titel ihres Beitrags »Das ist Kunst, Mann!« Selbstreflexion und Selbstinszenierung in zeitgenössischen Künstlerdramen von Igor Bauersima, Réjane Desvignes, Albert Ostermaier und Falk Richter umreißt das Kernproblem: Im aktuellen Künstlerdrama »lässt sich die production restreinte nicht präzise von den kommerziellen Produkten der Kulturindustrie abgrenzen«. Das Verhältnis von sensationellem kommerziellen Erfolg, medialer Beachtung und literarästhetischer Konsekration analysiert Wilhelm Haefs in seinem Aufsatz »Deutschlands literarischer Superstar«? Daniel Kehlmann und sein Erfolgsroman Die Vermessung der Welt im literarischen Feld. Haefs hebt hervor, dass der Autor keine der gängigen ›Selbstinszenierungsgesten‹ pflegt, die breite Akzeptanz des Romans beruht auf konkretisierbaren Erzählstrategien, seinem distinkten Anspruch und seiner reflektierten Poetik. Kehlmann verweigert sich dezidiert allen »Vereinnahmungsstrategien und Inszenierungsmechanismen des literarischen Marktes«. Angesichts so unterschiedlicher Formen der Selbstpositionierung stellt sich die Frage nach medialen Inszenierungsvarianten nicht allein vor dem Hintergrund der traditionellen Literaturvermittlung auf dem Printmedienmarkt. In ihrem kontrastiven Diskussionsbeitrag Medien zwischen Struktur und Handlung. Zum Strukturdeterminismus in Bourdieus Kulturtheorie und möglichen Alternativen sehen Andreas Dörner und Ludgera Vogt die in der literaturwissenschaftlichen Praxis erprobten methodologischen Prämissen in Hinsicht auf die Telemedien betont kritisch. Dörner und Vogt insistieren auf der liberalistischen Axiomatik individueller

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Markus Joch, York-Gothart Mix und Norbert Christian Wolf

Autonomie und sehen im Gegensatz zu den jüngst publizierten, bisher aber in der Medienwissenschaft kaum diskutierten Thesen des Sozialpsychologen Helmut Lukesch und des Hirnforschers Manfred Spitzer keinerlei Korrelation zwischen dem Konsum visueller Medien und sozialer Praxis. Die in Frankreich bereits 1996 durch Bourdieus provokative Streitschrift Sur la télévision und in Deutschland erst Jahre später durch Marcel Reich-Ranicki 2008 zugespitzte öffentliche Diskussion über die intellektuellen Defizite des Fernsehens ist angesichts ihrer theoretischen und empirisch noch zu verifizierenden Implikationen nach wie vor offen. Unter anderen Vorzeichen als Dörner und Vogt untersucht Jochen Strobel in seinem Aufsatz Der Großschriftsteller als Fernsehstar. Heinrich Breloers Fernsehproduktion ›Die Manns‹ den von Bourdieu beschriebenen telemedialen effet de réel. Die Reduktion auf einen publikumswirksamen, episodischen und sensationsjournalistisch grundierten Plot »Harmonie, Störung der Harmonie, Konflikt, Konfliktlösung« macht das Œuvre von Thomas, Heinrich, Klaus und Erika Mann für den Zuschauer von Anfang an überflüssig: »Man braucht das Werk nicht mehr, um die Familie bedeutend zu finden.« Als ähnlich differenziert erweist sich die Diskussion über die Reichweite der feldtheoretischen Prämissen Bourdieus bei der kulturwissenschaftlichen Analyse der Popart und des Comic. Nina Zahners Überlegungen mit dem Titel Die Kunst der Inszenierung. Die Transformation des Kunstfeldes der 1960er Jahre als Herausforderung für die Kunstfeldkonzeption Pierre Bourdieus rücken ebenso wie Thomas Beckers Beitrag Vom Bubblegum zum Holocaust. Art Spiegelmans MAUS die massenmedial beglaubigte Konsekration einer substanzielle Werte und Normen der production restreinte relativierenden Populärkultur in den Vordergrund. Die von Becker thematisierte Problematik des internationalen Kulturtransfers behandelt auch Joseph Jurt in seinem Aufsatz Von der Produktion zur Rezeption. Die Aufnahme französischer Gegenwartsliteratur im deutschsprachigen Raum. Das Beispiel Jean-Luc Benoziglio. Im Rekurs auf Bourdieu zeigt Jurt, dass die »Importe aus einem anderen Land für eigene Zwecke instrumentalisiert werden«. Die Aspekte dieses Transferprozesses sind für den Autor keine antizipierbare Größe mehr, Buchmarkt und literarisches Feld sind keineswegs kongruent, eine entscheidende Bedeutung kommt der Literaturkritik zu. Der Sammelband Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart führt die Vielschichtigkeit, Bandbreite und Aktualität feldtheoretisch inspirierter Analysen vor15 und zeigt einmal mehr die Notwendigkeit, die in der postmodernen Literaturwissenschaft kultivierte These Il n’y a pas de hors-texte zu problematisieren. Die hier versammelten Aufsätze wurden mit Ausnahme der Beiträge von Michael Billenkamp, Andreas 15

Er ist in dieser Hinsicht eine Folgepublikation von: Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis. Hg. von Markus Joch und Norbert Christian Wolf. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 108) Tübingen: Niemeyer 2005. Dass die neueren Studien zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur sich verstärkt auf Bourdieus soziologische Feldtheorie stützen, zeigen auch die Arbeiten von Wolfgang Emmerich, etwa: Das literarische Feld Deutschland – 15 Jahre nach der Wende. In: Revista de Filología Alemana 14 (2006), S. 113–130.

Mediale Erregungen? – Einleitung

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Dörner und Ludgera Vogt, Dirk Niefanger, Jochen Strobel, Karl Wagner und Nina Zahner 2007 auf dem internationalen Symposion Autonomie, Markt und Aufmerksamkeit um 2000. Aktuelle Medialisierungsstrategien im Literatur- und Kulturbetrieb im Literaturhaus Berlin vorgestellt und diskutiert. Die Herausgeber danken der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Freien Universität Berlin, der Humboldt-Universität zu Berlin und dem Österreichischen Kulturforum Berlin für die Unterstützung dieses Projekts. Die Drucklegung der Tagungsakten wurde mit Mitteln aus dem DFG-finanzierten Sonderforschungsbereich 626 »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« gefördert. Berlin und Marburg im Dezember 2008

Georg Franck (Wien)

Autonomie, Markt und Aufmerksamkeit Zu den aktuellen Medialisierungsstrategien im Literatur- und Kulturbetrieb

Im Diskurs der Kunst stellen Autonomie und Markt einen fundamentalen Gegensatz dar. Unter der Autonomie der Kunst wird verstanden, dass künstlerische Qualität etwas anderes ist als die Bewertung, die das Werk im Handel auf den einschlägigen Märkten erfährt. Künstlerische Qualität und Marktgängigkeit, so die gängige Meinung, variieren unabhängig – wenn nicht gar mit einer Tendenz zur Gegenläufigkeit – voneinander. Gewinnt der Markt im kulturellen Betrieb an Bedeutung, dann wird das reflexartig mit minderer Qualität assoziiert. Aus ökonomischer Sicht versteht sich diese Annahme eines Antagonismus nicht ganz von selbst. Vielmehr stellt der Betrieb der Kultur selbst ein System von Märkten – wenn freilich nicht immer kommerziellen Märkten – dar. Das Verhältnis von Markt und Autonomie erscheint als Frage, wie sich Märkte verschiedener Art differenzieren. Diese Differenzierung ist nicht nur vielschichtig, sondern auch ausgesprochen beweglich. Die aktuellen Medialisierungsstrategien erscheinen als Ausdruck dieser Beweglichkeit. Die einst sicher vermeinte Grenze zwischen Kultur und Kommerz verwischt zusehends. In der Informations- und Mediengesellschaft fällt ein erheblicher Teil des alltäglichen Warenkonsums unter die Rubrik kultureller Konsum. Marktgängige Waren wollen markiert und beworben werden. Die Werbung hat aufgehört, bloß Produktinformation zu sein. Das Marketing und die Kreation von Marken erzählen Geschichten und malen Bilder. Birger Priddat hat die Formel aufgestellt: Produktion = G + L, K. Produktion ist die Parallelproduktion von Gut (G) plus Literatur (L) und Kunst (K).1 Die Einbettung der Güterproduktion in die kulturelle Produktion ist zur Voraussetzung des kommerziellen Erfolgs geworden. Damit nicht genug. Auch die herkömmliche kulturelle Produktion erlebt eine immer stärkere Einbettung in die Parallelproduktion kommerzieller Werbung. Kein Konzert- und Theaterprogramm, kein Museumsbetrieb und kein wissenschaftlicher Kongress mehr ohne Sponsoring. Der Staat zieht sich aus der Finanzierung des kulturellen Angebots zurück, nach rückt die Werbewirtschaft. Die Massenmärkte des kulturellen Konsums, das heißt die ›Medien‹ in ihren technisch fortgeschrittenen Formen, leben nur noch von der Werbung. Das private Fernsehen und das Internet bieten Information gratis an, um nur an die Aufmerksam1

Birger P. Priddat: Kommunikative Steuerung von Märkten. Das Kulturprogramm der Ökonomie. In: Gerold Blümle/Nils Goldschmidt/Rainer Klump/Bernd Schauenberg/ Harro von Senger (Hg.): Perspektiven einer kulturellen Ökonomik. (Kulturelle Ökonomik 1) Münster: LIT 2004, S. 343–359, hier S. 343.

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keit eines möglichst großen Publikums zu kommen. Finanziert wird das Angebot durch den Verkauf der Attraktionsleistung an die Werbewirtschaft. Die kulturellen Märkte waren immer schon solche, auf denen Informationen angeboten und mit Aufmerksamkeit bezahlt wurden. Herkömmlich war es nur so, dass das kulturelle Angebot nicht einfach gratis war und dass der Tausch, bei dem kein Geld fließt, als Markt kaum wahrgenommen wurde. Die Vorbehalte gegen den Markt waren Vorbehalte gegen die Behandlung von Kunst als Ware. Seitdem die Medien den Ton angeben, ist klar geworden, dass die Commodifizierung der Kultur auch ohne den Verkauf gegen Geld funktioniert. Commodifizierung bedeutet, dass der Tauschwert den Gebrauchswert überlagert. Das entscheidend Neue an den aktuellen Medialisierungsstrategien im Literatur- und Kulturbetrieb ist, dass der Tauschwert nicht dem Geldwert gleichzusetzen ist. Auf den Märkten des direkten Tauschs von Information gegen Aufmerksamkeit hat die Aufmerksamkeit die Rolle der Währung übernommen. Die Einheiten der Währung heißen Auflage, Quote, Besucherzahl. Die Aufmerksamkeit ist, wenn derart entindividualisiert und homogenisiert, in Geld konvertibel. Den Wechselkurs bestimmen die Märkte, an denen die Attraktion von Aufmerksamkeit als Dienstleistung gehandelt wird. In der Mediengesellschaft werden die Schnittstellen zwischen der Aufmerksamkeitsökonomie und der Geldwirtschaft zu den Brennpunkten sowohl des Kulturbetriebs wie auch der kommerziellen Wirtschaft. Es ist hier, wo die Sponsorengelder fließen und wo das Know-how für das Ansprechen großer Publika erhältlich ist. Hier in der Nähe liegen die Wachstumspole der kommerziellen Wirtschaft: die Mode, die Kulturindustrien, der Zuschauersport, die kommerzielle Verwertung wissenschaftlicher Information. Zu den Branchen, die traditionell an der Schnittstelle zwischen der Aufmerksamkeitsökonomie und der Geldwirtschaft angesiedelt waren, gehört auch das Verlagswesen. Dieses gerät nun, ob es will oder nicht, in den Sog der neuen Industrien in der gemischten Ökonomie der Aufmerksamkeit und des Geldes. Nach gängigem Verständnis sollte dieser Sog das Niveau des kulturellen Angebots in Mitleidenschaft ziehen. Zu den Grundsätzen unseres kulturellen Selbstverständnisses zählt, dass das Niveau sinkt, wenn die Autonomie der kulturellen Produktion leidet. Kunst, Literatur, wissenschaftliche Erkenntnis sollen um ihrer selbst willen geschehen, keinen heterogenen Interessen dienen. Das Schielen nach dem Markt, nach dem Erfolg beim Publikum, verleitet zu Kompromissen und endet im Populismus. Der kompromisslose Dienst an der Sache ist das Merkmal der hohen Kultur. Was heißt, dass die Kunst keinen heteronomen Interessen dienen soll? Es kann nicht heißen, dass sie gar keinen Wünschen, Bedürfnissen, Verlangen dienen darf. Natürlich soll sie Wünsche erfüllen und Bedürfnisse befriedigen, sonst hätte sie keinen Sinn. Es sind nur eben Wünsche, Bedürfnisse und Verlangen, die nicht von vornherein schon genau wissen, was sie wollen. Es sind Bedürfnisse der Aufmerksamkeit, Wünsche des Erlebens, Verlangen des Verstehens. Die wissen zwar, dass, sie wissen aber nicht von vornherein, was es genau ist, das sie wollen. Sie wollen etwas Neues erleben, sie wollen überrascht werden. Die Kunst ist das große

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Labor zur Erforschung von Verlangen, die das Bewusstsein wohl hat, aber erst kennenlernt, indem sie in Erfüllung gehen. Man kann nicht Neues erleben und schon genau wissen wollen, was es denn ist, das man erleben wird. Man kann nur überrascht werden, indem die Erwartung, die man hatte, korrigiert wird. Die Korrektur, die wir von der Kunst erwarten, betrifft nicht nur unsere Erwartungen an die Welt, sondern auch diejenigen an uns selbst. Wir möchten gerne über uns selbst staunen, wir wollen vor Augen geführt bekommen, dass wir empfindlicher, sensibler, intelligenter sind, als wir uns eigentlich zugetraut hatten. Authentisch ist die Kunst, an der die Kapazität des bewussten Erlebens wächst. Die Autonomie der Kunst bietet, wenn man sie so besieht, wenig Anhaltspunkte für eine Objektivierung. Sie bleibt eine Angelegenheit des subjektiven Erlebens. Das ist in gewisser Hinsicht schlüssig, insgesamt aber unbefriedigend. Es ist schlüssig insofern, als sich die Autonomie nicht messen lässt. Es ist aber unbefriedigend insofern, als erstens die Beziehung zum Markt zur Debatte steht, und als zweitens eine Autonomie, die jeder Operationalisierung entzogen, eine Sache bloß subjektiven Dafürhaltens wäre. Es wäre dann witzlos, das Niveau der kulturellen Produktion auf die Produktionsverhältnisse zu beziehen. Unbefriedigend wäre dies nicht nur aus der Sicht der Kultur- und Sozialwissenschaften. Es widerspräche auch der Intuition, dass künstlerischer Rang durchaus einer gewissen Objektivierung fähig ist. Immerhin existieren ein Katalog von klassischen Werken und ein Prozess der Kanonisierung. Es trifft auch zu, dass bestimmte Sparten – nämlich Teilmärkte – des Kulturbetriebs ein höheres Prestige als andere genießen. Schließlich hält sich der Unterschied zwischen hoher und populärer Kultur, wobei der Anspruch der Hochkultur ganz eng mit demjenigen der Autonomie assoziiert ist. Also war es nur schlüssig, dass an dieser Binnendifferenzierung des Kulturbetriebs diejenige sozialwissenschaftliche Rekonstruktion ihren Ansatzpunkt fand, die dem subjektiven Anspruch der Autonomie bisher wohl am nächsten gekommen ist: die kulturelle Ökonomie Pierre Bourdieus.

1. Kultureller Konsum und kulturelles Kapital Bourdieu macht zunächst einmal2 die Beobachtung, dass das Prestige der sogenannten hohen Kultur mit den Mitteln der sozialen Distanzierung zu tun hat, die sie denjenigen bietet, die die nötige Bildung und Erziehung mitbringen. Er beschreibt die Mittel der Distanzierung einschließlich der Bildung mit dem Begriff des kulturellen Kapitals. Das kulturelle ist immaterielles, symbolisches Kapital, das nichtsdestotrotz reale Wirkung tut. Es bezeichnet, was diejenigen den anderen voraushaben, die erstens durch kultivierende Einflüsse privilegiert sind und es zweitens verstehen, aus diesem Privileg sozialen Gewinn zu schlagen. 2

In Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982.

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Damit tut sich die interessante Möglichkeit auf, die Differenzierung innerhalb des Kulturbetriebs mit Hilfe der Unterscheidung von Konsum- und Kapitalmärkten zu beschreiben. Von dieser Möglichkeit macht Bourdieu intensiven Gebrauch in den Regeln der Kunst,3 einer groß angelegen Rekonstruktion der Entwicklung des französischen Literaturbetriebs im 19. Jahrhundert zu einer sprichwörtlich hohen Kultur. Bourdieu ›operationalisiert‹ den Begriff der Kunst, die um ihrer selbst willen geschieht, als diejenige Sparte der literarischen Produktion, für die sich die Literaten selbst und solche Kritiker interessieren, die selbst der literarischen Zunft angehören. Die Literaten sind keine gewöhnlichen Konsumenten. Sie interessieren sich nicht für den Unterhaltungswert der Literatur. Sie sind auf der Suche nach Produktionsmitteln, das heißt nach Vorbildern und Inspiration für die eigene Produktion. Literatur als vorproduziertes Produktionsmittel der literarischen Produktion, das ist kulturelles Kapital im ganz wörtlichen Sinn. Bourdieu beschreibt die Entwicklung zur Hochkultur als eine, in der die internen Märkte für kulturelles Kapital zunehmend wichtiger als die Konsummärkte wurden. Die Entwicklung bestand, kurz gesagt, darin, dass es zu Beginn die Stückeschreiber, später die Romanciers und schließlich die Lyriker waren, die den Ton im literarischen Diskurs angaben.4 Die Stückeschreiber müssen auf dem Konsummarkt der Theater- und Opernaufführungen reüssieren. Die Romanciers bedienen zwar ein konsumierendes Publikum, werden aber auch von anderen Romanciers rezipiert – und vor allem rezensiert. Die Lyriker sind diejenigen unter den Literaten, die den kleinsten Markt – um nicht zu sagen, fast nur den internen Markt für kulturelles Kapital – bedienen. Lyrik wird vor allem von andern Lyrikern gelesen. Mit diesem Wandel der maßgeblichen Märkte beschreibt Bourdieu den institutionellen Pfad einer Emanzipation. Er zeigt, wie sich der Literaturbetrieb aus dem Sog der Kommerzialisierung befreien konnte. Allerdings wird da keine Emanzipation vom Markt an sich beschrieben, sondern eine Differenzierung und Verschiebung der Vorrangstellung innerhalb des Systems der kulturellen Märkte. Ein kleiner Spezialmarkt für kulturelles Kapital übernahm die Bewertungsfunktion, die einmal die allgemeinen Publikumsmärkte innehatten. Wie konnte das geschehen? Bourdieu belegt die Entwicklung materialreich und liefert eine überzeugende historische Rekonstruktion. Eine ökonomische Erklärung im engeren Sinn liefert er nicht. Der Grund, warum er eine solche nicht liefern kann, liegt nicht in der Komplexität der Materie – alle Märkte sind äußerst komplexe Gebilde –, sondern in seinem Gebrauch des Begriffs Kapital. Bourdieu verwendet ›Kapital‹ nicht im Sinn der kapitaltheoretischen Terminologie, sondern mehr oder weniger metaphorisch. Kapital nennt er die Durchsetzungsmittel, die es ihren Besitzern erlauben, soziale Distanz herzustellen. Es bleibt unklar, wie diese Distinktionsmittel in die kulturelle Produktion eingehen und wie die Distinktionsgewinne gemessen und somit verglichen werden können. Damit bleibt die Leistungsfähigkeit, die der Kapitalbegriff eigentlich hätte, ungenutzt. Die Stärke des 3

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Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999. Ebd., S. 188ff.

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terminologischen Begriffs liegt darin, dass er die Verbindung zwischen der Produktivität zur einen und der Verteilung des sozialen Produkts zur anderen Seite herstellt. Produktivität geht letzten – aber eben auch nur letzten – Endes auf den Gebrauchswert zurück, den das Produkt stiftet. Dieser Gebrauchswert ist – wie das Erlebnis, das ein Stück Literatur vermittelt – durch und durch subjektiv und kann nicht einmal intersubjektiv verglichen werden. Operational kann der Gebrauchswert nur werden, indem er in Tauschwert übersetzt wird. Die Übersetzung erfolgt dadurch, dass die subjektive Bereitschaft, für den Genuss der fraglichen Sache auf alternativ mögliche Genüsse zu verzichten, abgefragt wird. Wenn diese Verzichtbereitschaft als Zahlungsbereitschaft verstanden wird, dann wird die Antwort im Allgemeinen ehrlich sein, denn es hat in diesem Medium keinen Sinn zu lügen. Wenn die Antwort darüber hinaus in einem homogenen Zahlungsmittel geäußert wird, dann kann die subjektive Wertschätzung intersubjektiv verglichen und sozial aggregiert werden. Das Sozialprodukt, die kollektive Wertschöpfung kann dann als die Summe der Einkommen, die Produktivität eines Produktionsmittels als das Einkommen bestimmt werden, das mit seiner Hilfe zusätzlich geschöpft wird. Um diese Bestimmung auf das kulturelle Kapital zu übertragen, ist es zunächst einmal nötig, das Zahlungsmittel zu benennen, in dem sich die Nachfrage in Sachen kultureller Konsum äußert. Das kulturelle Angebot besteht aus Informationsgütern, deren Konsum nie nur Geld, sondern immer auch Zeit und Aufmerksamkeit kostet. Vergleicht man die Ausgaben für einen Theater- oder Opernbesuch mit denen für die Lektüre eines Romans oder eines Lyrikbandes, dann sieht man, wie Zeit und Aufmerksamkeit wichtiger, nämlich selektiver werden als das Geld. Mit allem, wofür wir unsere Zeit und Aufmerksamkeit ausgeben, verzichten wir auf die Wahrnehmung alternativer Angebote. Sobald die Aufmerksamkeit in homogenen Einheiten – wie etwa Auflagenhöhen – gemessen wird, wird die Aufmerksamkeit zum Zahlungsmittel, dessen Verteilung Auskunft über die Produktivität der kulturellen Produzenten gibt. Im 19. Jahrhundert geschah genau dies: Die Aufmerksamkeit lief dem Geld den Rang als Rationierungsmittel des kulturellen Konsums ab. Bücher wurden zur Massenware und entsprechend billig. Kunst wurde durch Museen und öffentliche Ausstellungen zugänglich, deren Eintrittsgelder kein Hindernis mehr für die Wahrnehmung darstellten. Wichtiger wurde die freie Kapazität des bewussten Erlebens. Die Bildung wurde zum asset. Wichtig wurden die Investitionen von Zeit und Aufmerksamkeit, die in die Bildung der Kapazität bewussten Erlebens getätigt wurden. Bedeutend wurde das kulturelle Kapital in der Form der investierten Zeit und Aufmerksamkeit in die subjektive Verständnis- und Urteilsfähigkeit. Und wichtiger als das materielle Einkommen wurde nun auch auf der Seite der Produzenten das Einkommen an Aufmerksamkeit. Wichtiger als der Reichtum an Geld wurden das Renommee, die Reputation, die Prominenz – also der Reichtum an Beachtung. So kam es überhaupt zu einer nachhaltigen Ausdifferenzierung von Kultur und Kommerz. So kam es, dass die Verselbständigung des kulturellen Betriebs zu einer dauerhaften Erscheinung wurde. So kam es auch, dass die Basis für eine weitere Differenzierung innerhalb des Systems der kulturellen Märkte gelegt wurde.

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Sobald nämlich Märkte entstehen, auf denen die Einkünfte an Aufmerksamkeit im Vordergrund stehen, kommt eine Eigenheit der bezahlenden Aufmerksamkeit zur Geltung, die das Geld nicht kennt. Beim Geld ist völlig gleich, woher es kommt. Bei der Aufmerksamkeit ist das nicht so. Weder im direkt zwischenmenschlichen Tausch von Beachtung noch in der anonymen Öffentlichkeit ist es gleichgültig, wer achtgibt. Im zwischenmenschlichen Tausch zählt die Wertschätzung, die die Partner füreinander hegen, in der anonymen Öffentlichkeit zählt der kolportierte Reichtum derer, die die Stimme erheben. Es ist etwas anderes, wenn ein prominenter Kritiker sein Urteil spricht, als wenn irgendjemand urteilt – und zwar unabhängig von den Argumenten, die vorgebracht werden. Diejenigen, die bekannt dafür sind, dass sie reich an Beachtung sind, sprechen mit anderem Gewicht. Ganz besonderes Gewicht erhält auf diese Weise das Urteil derer, die von denen beachtet werden, die ihrerseits bekannt sind. Von diesem Zuwachs an Autorität profitierten die Romanciers, die, bekannt geworden, ihrerseits zu Kritikern und Rezensenten wurden. Sie konnten fördern und verdammen, wie das sonst niemand konnte. Sie konnten sich dem Urteil des allgemeinen Publikums entgegenstemmen und Autoren durchdrücken, die bei der breiten Masse durchfielen. Auch und gerade davon geben die Regeln der Kunst reiches Zeugnis. Weil es mit Baudelaire, Verlaine und Mallarmé vor allem Dichter waren, auf die die Literaten blickten, wurden es schließlich die Lyriker, die den Ton angaben. Sie erhielten die höchsten Weihen in der Form derjenigen Beachtung, in die am meisten Beachtung verpackt ist. Diese Weihen existierten keineswegs nur in der Einbildung gewisser Leute. Sie wurden vielmehr effektiv in der eigenen Kraft zur Konsekration. Die Instanz der Kulturpäpste trat auf den Plan. Auch diese Genese wird bei Bourdieu ausführlich beschrieben – nur eben nicht in Begriffen des Einkommens und der Kapitalisierung des Reichtums an Beachtung. Bourdieu sieht sich genötigt, zur Beschreibung der besonderen Rolle, die das Prestige, die Reputation, die Prominenz, der Ruhm spielen, eine weitere Form des immateriellen Kapitals – er nennt es soziales Kapital – einzuführen. Er sieht sich aber zu einer abenteuerlichen Theorie der Übersetzung von kulturellem in soziales Kapital veranlasst, weil er das Einkommen außer Acht lässt, das beide Kapitalarten gleichmäßig bewertet.5 Das hat Folgen über sein eigenes Werk hinaus. Das bedeutet nämlich, dass seine Operationalisierung des Begriffs autonomer Kunst nicht geeignet ist, auf die Verhältnisse übertragen zu werden, in denen die Beachtung zur neuen Währung wird. Durch die technischen Medien haben genau diejenigen Märkte enorm an Bedeutung gewonnen, die sich im 19. Jahrhundert von der kommerziellen Sphäre emanzipieren konnten. Sie haben nun aber Bedeutung als eben solche Märkte gewonnen, auf denen Information geboten und direkt mit Aufmerksamkeit bezahlt 5

Siehe Pierre Bourdieu: Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital – Soziales Kapital, in: P. B.: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hg. von Margarete Steinrücke. (Schriften zur Politik und Kultur 1) Hamburg: VSA-Verlag 1997, S. 49–79. Zur Kritik siehe Georg Franck: Mentaler Kapitalismus. Eine politische Ökonomie des Geistes. München, Wien: Carl Hanser 2005, Kap. 2.

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wird. Durch die technischen Medien wurde diesen Märkten eine Infrastruktur eingezogen, die die Bevölkerung flächendeckend mit Informationen versorgt, um Aufmerksamkeit aus ihr herauszuholen. Direkte Folge dieses technischen Wandels ist, dass unvergleichlich mehr Aufmerksamkeit zusammenkommt, registriert und umverteilt wird als vordem. Eine weitere Folge ist, dass die Einkünfte, die vordem nur informell registriert und nur beiläufig kolportiert wurden, nun ausdrücklich gemessen und verbucht werden. So wie die Auflage, die Zuschaltquote und das Zählwerk am Internetportal die Einkünfte des Mediums registrieren, werden die Einkünfte der präsentierten Personen in der Präsentationsfläche und Präsentationszeit gemessen, die das Medium investiert. Ironischerweise kommt es so dazu, dass gerade diejenigen Medien von der Kommerzialisierung eingeholt werden, die sich am klarsten vom Verkauf der Information gegen Geld emanzipiert hatten. Auf den medialisierten Märkten wird die gezollte Aufmerksamkeit regelrecht monetarisiert, der Reichtum an Beachtung regelrecht kapitalisiert. Als anonymisiertes und homogenisiertes Zahlungsmittel ist die Aufmerksamkeit direkt in Geld konvertibel. Der Reichtum an Beachtung, welcher der Stimme seines Besitzers in der Abstimmungsfunktion des Markts besonderes Gewicht verleiht, verzinst sich, wo es um die Kraft geht, Tauschwert abzuschöpfen. Je größer der Reichtum und je allgemeiner bekannt er ist, umso mehr wird der Besitzer, die Besitzerin beachtet nur deshalb, weil er beziehungsweise sie so reich an Beachtung ist. Die Medien vermarkten diese Attraktivität und setzen sie direkt zur Maximierung der Auflage, Quote usw. ein. Was als elitäre Auszeichnung auf den kleinen und feinen Märkten der literarischen Kritik begann, findet seine Fortsetzung in den gröbsten Formen des Populismus in den Massenmedien. So dialektisch ist der Weltlauf. Schließlich lässt diese Fortsetzung die kleinen und feinen Märkte selbst nicht unberührt. Längst steht der Kultur- und Literaturbetrieb unter dem Einfluss des Fernsehens. Nicht, dass das Fernsehen die Literatur verdrängt hätte, es erscheint mehr Literatur denn je. Ein wichtiger – manche meinen der wichtigste – Teil der literarischen Kritik ist aber ins Fernsehen abgewandert. Sie muss sich dort als Quoten-Bringerin verdingen und bewähren. Dass sie das überhaupt kann, spricht einerseits für einen robusten Konsumentenmarkt der Literatur, andererseits aber auch dafür, dass die Kritik sich dem Interesse des lesenden Publikums zuneigt. Die Kritiker, die im Fernsehen gezeigt werden, sollen zwar als Fachleute ausgewiesen und möglichst prominent sein, sie müssen aber auch dem Wunsch eines möglichst breiten Publikums nach einschlägiger Beratung entgegenkommen. Es reicht jedenfalls nicht, dass sich die Kenner in ihren Ansprüchen untereinander bestätigen. Nach den Maßstäben, die der Bourdieu’schen Theorie inhärent sind, kann der Sog, den das Fernsehen entfacht, nur Verfall und Niedergang mit sich bringen. Die Autonomie einer Kunst, die sich vor allem an andere Künstler richtet, ist im Massengeschäft mit der Publikumsattraktion nicht vorgesehen. Sobald die Quote das Sagen hat, hat der Tauschwert die hohe Kultur der Selbstbezüglichkeit eingeholt. Es zählt dann wieder das breite Publikum. Wir sind dann wieder zurück bei dem Konsumentenmarkt, von dessen Zurückdrängung die Entwicklung der

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einstigen Hochkultur ihren Ausgang genommen hatte. Bourdieu vermochte im Fernsehen denn auch nichts als einen Kultur- und Sittenverfall zu erkennen.6 Die Frage ist, ob sich aus der Sicht der Ökonomie der Aufmerksamkeit7 dieses Verdikt bestätigt oder relativiert. Bestätigt wird zweifellos das Gewicht, das dem Tauschwert zugewachsen ist. Auch und gerade in der Beurteilung künstlerischer Qualität haben Rating und Ranking das Argument verdrängt. Ein Unterschied taucht nun allerdings bei der Frage auf, ob die Vorherrschaft des Tauschwerts die Urteilskraft, die im Betrieb verkörpert ist, hintertreibt. Immerhin gründete ja auch schon die Reputation der Fachleute, die in der Hochkultur das Sagen hatten, auf der Beachtung, die sie einnahmen. Noch nie gab es einen unabhängigen Maßstab für künstlerische Qualität. Immer ging die Geltung eines Qualitätsurteils auf die öffentlich registrierte Bereitschaft eines Kreises von Interessierten, Aufmerksamkeit auszugeben, zurück. Nur dort, wo die Kennerschaft ihrerseits öffentliche Beachtung fand, fielen die Stimmen der Kenner stärker als die anderer ins Gewicht. Die Bewertung durch die Bereitschaft, Aufmerksamkeit auszugeben, ist mit der Durchsetzung des Werks nicht abgeschlossen. Vielmehr steht der eigentliche Test noch bevor. Die Abstimmung geht weiter bis hin zur Auswahl der Werke, die kanonisch werden. Die Durchsetzung eines Werks auf einem kulturellen Markt stellt nur die erste Stufe einer Leiter dar, deren letzte Stufe der Gradus ad Parnassum ist. Das abschließende Ergebnis der Abstimmung auf den kulturellen Märkten ist der Katalog der klassischen Werke. Nur dann, wenn diese Auswahl an Missgriffen litte, wäre der Einwand gegen die Vorherrschaft des Tauschwerts substanziell. Für die Auswahl der Klassiker ist kein Gremium von Fachleuten zuständig, sie organisiert sich vielmehr selbst. Klassiker wird man/frau in einer selbst schon klassischen Karriere. Am Beginn steht die erwähnte Durchsetzung auf dem einschlägigen Markt. Das Werk muss verlegt, aufgeführt und besprochen werden. Der Autor, die Autorin muss Aufmerksamkeit verdienen – und zwar so viel, dass auffällt, dass er beziehungsweise sie so viel verdient. Das Werk muss zum Begriff werden. Nur Werke, die zunächst einmal bekannt geworden sind, können es dereinst einmal zum Klassiker bringen. Mehr noch, nur Werke, die regelrecht in Mode kamen, werden den Gradus ad Parnassum schaffen. Deshalb sieht die zweite Stufe auf der Karriereleiter vor, dass das Werk in Mode kommt. In Mode zu kommen, bedeutet, dass die Beachtung sich selbst verstärkt. Es geben nun nicht mehr nur diejenigen acht, die ein ursprüngliches Interesse haben, sondern auch diejenigen, die darauf achten, worauf die andern achtgeben. Die Mode führt zur dritten, zur entscheidenden Stufe. Mode bedeutet nicht nur Selbstverstärkung, sondern auch Selbstzerstörung. Jede Mode überlebt sich, endet in Sättigung und Überdruss. Die dritte Stufe ist die der inflationären Verbreitung. Sie ist diejenige, auf der sich aller Neuigkeits- und Seltenheitswert, den das Werk einmal hatte, verbraucht. 6 7

Siehe Pierre Bourdieu: Über das Fernsehen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998. Siehe Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. München, Wien: Carl Hanser 1998.

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Wenn der Neuigkeits- und Seltenheitswert alles war, was das Werk zu bieten hatte, dann war’s das. Das Werk geht dann mit seiner Mode unter. Als letzte Stufe auf der Leiter zum Parnass ist daher der Test vorgesehen, ob das Werk die Kraft hat, aus dem Säurebad der Inflation wieder aufzuerstehen. Das Werk ist inzwischen historisch, die Protagonisten sind alt oder tot. Die Interessen, die einst die Mode gepusht haben, sind erlahmt. Mit der Wiederauferstehung eines in die Jahre gekommenen Werks ist weder viel Geld noch viel Aufmerksamkeit zu verdienen. Und doch wird ein Werk nur dadurch zum Klassiker, dass es immer noch Aufmerksamkeit verdient: dass es weiter gelesen, besucht oder aufgeführt wird, dass es noch und noch einmal besprochen, wieder und wieder präsentiert, dass es zum Gegenstand von Dissertationen und Anthologien wird, dass es schließlich in Lehrbüchern und Lehrplänen auftaucht. Indem die kulturellen Märkte diese Karriere organisieren, leisten sie mehr, als alle Expertengremien dieser Welt vermöchten: Sie ermitteln die Qualität, die ein, wie es einmal hieß, interesseloses Wohlgefallen erregen. Sie ermitteln, was sogar noch mehr ist: einen verbindlichen Standard künstlerischer Qualität. Der Katalog der klassischen Werke ist so stabil wie wenig in unserer Kultur. Die Objektivität der Geltung, die die Klassiker der literarischen, bildenden und performativen Künste genießen, kann es leicht mit derjenigen wissenschaftlicher Theorien aufnehmen. Theorien kommen und gehen. Der Katalog der klassischen Werke steht. Dabei ist dieser Katalog gar nichts Starres, nichts Sakrosanktes. Auch Klassiker leben nur, solange sie gesichtet, besucht, ausgestellt, besprochen, verglichen – kurz: beachtet werden. Klassiker ist nicht, was im Archiv verschwunden ist, sondern, was immer noch Aufmerksamkeit verdient. So ist denn auch der Katalog in ständig leichter Bewegung. Ständig wird umsortiert und schwankt die relative Wertschätzung. Das äußerst Bemerkenswerte ist nun aber die Endgültigkeit der einmal getroffenen Auswahl. Einmal zum Klassiker aufzusteigen, heißt, von da an fester Bestandteil des Katalogs zu sein. Die Platzierung wechselt, die Auswahl bleibt. Ironischerweise ist es dasselbe Segment der kulturellen Märkte, welches die Klassiker kürt und welches mit der Medialisierung wächst. Es ist das Segment, auf dem Information angeboten und direkt mit Aufmerksamkeit bezahlt wird. Weil dieses Segment so gar nicht neu ist, sondern immer schon fester Bestandteil des Kulturbetriebs war, geht die Funktion der kulturellen Märkte grundsätzlich weiter als die der kommerziellen. Die kulturellen Märkte bewerten auch dort, wo keine Kunst gehandelt wird, und sie ermitteln nicht nur den aktuellen, sondern auch den bleibenden Wert. Die Ermittlung des bleibenden Werts vollzieht sich auf dem Weg, dass Neuigkeitswert zunächst auf- und dann abgebaut wird. Der Abbau enthüllt, ob da noch ein anderer, haltbarer Wert ist. Ironischerweise sind es sogar dieselben Züge in der Dynamik des Marktgeschehens, die für die Auswahl der bleibenden Werte maßgeblich und Gegenstand der Verstärkung durch die Medialisierung sind: die Durchsetzung einer Schöpfung mittels Neuigkeitswert, die Selbstverstärkung und anschließende Selbstzerstörung der Mode. Es sieht so aus, als stünden wir vor einer abgrundtiefen Ambivalenz. Das Beste, das die kulturellen Märkte leisten, ist gleichen Ursprungs wie das Elend der massenmedialen Banalisierung.

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2. Der gar nicht so klare Effekt der Medialisierung Der Unterschied zwischen den Märkten der Trivialkultur und den Märkten der Hochkultur ist nicht, dass dort die breite Masse und hier eine Elite bedient würden. Der Unterschied ist, dass aus dem Auf- und Abbau von Neuigkeitswert dort keine weiteren Schlüsse und hier entscheidende Schlüsse gezogen werden. Der Aufbau und Verschleiß von Neuigkeitswert ist der Testbetrieb jenes Labors zur Erforschung der Wünsche, die das Bewusstsein wohl ahnt, aber erst kennenlernt, indem sie in Erfüllung gehen. Es ist hier, wo wir lernen können, über uns selbst zu staunen, wo wir erfahren, dass wir empfindlicher, sensibler, intelligenter sind, als wir uns eigentlich zugetraut hatten. Aus dem Säurebad der Inflation entsteigt die Kunst, an der die Kapazität des bewussten Erlebens wächst. Zieht man die Grenze zwischen trivialer und hoher Kultur so, dann wechseln alle Disziplinen, die beginnen, Klassiker auszubilden, ins Fach der autonomen Kunst. Ob Jazz oder Design, ob Film oder Pop: Entscheidend ist dann nicht mehr der Distinktionsgewinn, den der kulturelle Konsum vermittelt, entscheidend für den Rang der Disziplin ist dann vielmehr, ob es zur Ermittlung einer kanonischen Qualität kommt. Entscheidend ist dann auch nicht, ob die Kunst nur um ihrer selbst willen geschah, wichtiger ist die Frage, ob sich ein Auswahlprozess mit so langem Atem organisiert, dass herauskommt, wonach den Wünschen, die nicht von vornherein wussten, was sie wollen, eigentlich ist. Die Architektur zum Beispiel ist keine zweckfreie Kunst. Sie ist aber eine klassische Disziplin der autonomen Kunst, weil die Kür von Klassikern seit der Antike funktioniert. Überall, wo die Ermittlung klassischer Qualität noch funktioniert, ist es zumindest voreilig, von einem Niedergang der Disziplin zu sprechen. Das heißt nicht, dass die Medien keinen Einfluss auf die klassischen Disziplinen autonomer Kunst nähmen, solange nur die Kür von Klassikern funktioniert. Es gilt dann aber, den Einfluss nach den Abschnitten zu differenzieren, den die Karriere eines Werks durchläuft. Es kann dann sein, dass der Einfluss in der Einführungs- und Durchsetzungsphase erheblich, in der Phase der Inflation überwältigend, für das Leben danach hingegen unmaßgeblich ist. Es käme dann darauf an, den Zusammenhang zwischen Medienpräsenz, Werbung und der effektiven Nachfrage sowie den Einfluss abschätzen zu können, den die kolportierte Prominenz des Autors, der Autorin auf den Absatz nimmt. Die Daten für die Schätzung dieser Zusammenhänge wären eigentlich verfügbar, weshalb es müßig ist zu spekulieren. Auch das Format für die Hypothesenbildung und die Prozedur des Testens existiert. Es liegt eine einschlägige Untersuchung des US-amerikanischen Markts für Kinofilme vor. Arthur de Vany und Mitarbeiter haben diesen Markt als einen Informationsmarkt im hier relevanten Sinn modelliert und das Modell ökonometrisch getestet.8 Der Markt für Kinofilme ist wie der Buchmarkt ein Informationsmarkt in dem Sinn, dass die Nachfrager zwar wissen, dass, aber nicht genau wissen, was es ist, das sie wollen. Kinobesucher wollen 8

Arthur de Vany: Hollywood Economics. How Extreme Uncertainty Shapes the Film Industry. London, New York: Routledge 2004.

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etwas Neues erleben, sie wollen überrascht werden. Und sie wollen etwas Neues nicht nur über die Welt, sondern auch über sich selbst erfahren. Das macht die Nachfrage höchst instabil und zwingt, von der (in der theoretischen Ökonomie üblichen) Annahme stabiler Präferenzordnungen abzugehen. Die Nachfrage ist in de Vanys Modell ein chaotischer Prozess, der allerdings an stabile Prozesse – wie zum Beispiel den gewohnten Gang ins Kino – gekoppelt ist. Der Test dieses Modells anhand der Daten zur Besetzung mit Stars, zu den Ausgaben für Werbung, zum Urteil der Kritik, zu den Besucherzahlen lehrt, den üblichen Vermutungen zu misstrauen. So sind etwa die Ausgaben für Werbung und teure Stars nicht entscheidend dafür, ob ein Film zum Renner wird. Was diese Ausgaben verhindern können, ist lediglich, dass aus einem laschen Anfangserfolg ein großer Flop wird. Nicht einmal die Kritik ist entscheidend für den anhaltenden Erfolg. De Vany und andere vermuten, dass es die Unsicherheit der Nachfrage mit sich bringt, dass die Flüsterpropaganda, der Ratschlag von Mund zu Mund, die entscheidende Rolle übernimmt. Im Fall, dass Ähnliches für die Literatur zutreffen sollte, wäre der Einfluss der Medialisierung beschränkt. Höchst interessant wäre dann allerdings die einschlägige Untersuchung. Nicht nur um zu erfahren, was die Medialisierung tatsächlich anrichtet, sondern auch deshalb, weil der Literaturbetrieb darauf wartet, in neuer Perspektive wahrgenommen zu werden. Wir haben mit einem der für die Informationsgesellschaft so typischen Prozesse zu tun, die höchste Instabilität und bemerkenswerte Stabilität vereinen. Eine Nachfrage, die nicht weiß, was sie will, und ein Wellengang von Moden, die sich selbst zerstören, arbeiten zusammen in einem Prozess, der in die Selbstorganisation eines Katalogs von Werken mündet, deren Geltung unumstritten ist. Prozesse mit dieser Art Dynamik sind neu im Fokus der Sozialwissenschaften. Sie sind auch neu für die Kunstsoziologie. Sie sind aber der Schlüssel zum Verständnis des sozialen Phänomens autonomer Kunst und zur sozialen Objektivierung künstlerischer Qualität.

Michael Billenkamp (Leipzig)

Provokation und posture Thomas Bernhard und die Medienkarriere der Figur Bernhard

»Stinktier«, »Drecklump«, »Psychopath«, »Idiot«, »Roter Hetzer«:1 Dies ist nur eine kleine Auswahl der Beschimpfungen, mit denen Thomas Bernhard (1931– 1989) im Vorfeld der Uraufführung seines Dramas Heldenplatz (1988) von seinen Landsleuten attackiert worden ist. Noch heute, fast zwanzig Jahre nach seinem Tod, verbinden viele Österreicher mit dem Namen Bernhard vor allem die Provokationen, die die Arbeit des Autors begleitet und die ihm dem Ruf als Enfant terrible der österreichischen Literaturszene eingebracht haben. Wie für seine Vorläufer in Österreichs literarischem Feld – Karl Kraus, Robert Musil oder Ödön von Horváth –, so ist auch für Bernhards Arbeit eine ausgeprägte Hassliebe zu seiner Heimat kennzeichnend. Tiraden gegen Staat und Mitbürger sind zum unverwechselbaren Charakteristikum seiner Werke geworden. Die Angriffe sind jedoch nicht nur bloße Selbstinszenierung, sondern Teil einer Strategie, die – so die These dieses Aufsatzes – strikt am Erfolg auf dem literarischen Markt orientiert ist. In seinen Arbeiten hat sich Bernhard stets als Außenseiter und Autodidakt inszeniert, ein Bild, das von der Kritik und von vielen Bernhard-Forschern übernommen worden ist und bis heute das Verständnis seines Werks prägt. Aufgabe der nachfolgenden Ausführungen wird es sein, Bernhards Selbstdarstellung zu hinterfragen und zu korrigieren. Zunächst sollen Bernhards Aufstieg im literarischen Feld der Nachkriegszeit, seine Selbstinszenierung in der Autobiografie und die von ihm heraufbeschworenen Skandale betrachtet werden. Dabei wird sich zeigen, dass sich Bernhard bewusst für die Rolle des Skandalautors entschieden hat, um sich so ein Maximum an Aufmerksamkeit zu sichern und darüber seinen Marktwert als Autor zu steigern. Mit Vorurteilen und Anfeindungen hat Bernhard von den ersten journalistischen Arbeiten für das Demokratische Volksblatt Anfang der 50er Jahre bis hin zum finalen Eklat mit Heldenplatz zu kämpfen gehabt. Nicht alle Skandale sind auf ein Kalkül Bernhards zurückzuführen: Für den ›Notlichtskandal‹ während der Salzburger Festspiele 1972 ist nicht Bernhards Stück Der Ignorant und der Wahnsinnige (1972) der Auslöser gewesen, sondern das Verhalten des Regisseurs Claus Peymann während der Probenphase.2 Weniger eindeutig ist der Fall bei Bernhards 1

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Burgtheater Wien (Hg.): Heldenplatz. Eine Dokumentation. Wien: Burgtheater 1989, S. 26, 54, 79, 175. So nennt Peymann die Festspiele in einem Interview eine »ganz schicke Scheiße« (zitiert nach Hans Widrich: Thomas Bernhard und die Salzburger Festspiele. In: Manfred Mittermayer/Sabine Veits-Falk [Hg.]: Thomas Bernhard und Salzburg. 22 Annäherungen. Salzburg: Salzburger Museum Carolino Augusteum, Thomas Bernhard Nachlassverwaltung GmbH 2001, S. 263–267, hier S. 264). Des Weiteren fordert er von der Festspiellei-

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Staatspreisrede 1968, die Ernst Fischer zum Anlass genommen hat, um von dem Beginn einer neuen Ära in Österreichs Literaturlandschaft zu sprechen: Wenn es denn eines prägnanten Datums bedarf, das den Anbruch einer Epoche sinnfällig macht, dann könnte dies der 4. März 1968 sein, der Tag der Verleihung des Österreichischen Staatspreises an Thomas Bernhard [. . .]. Der Schriftsteller hatte sich (und seinesgleichen) selbstbewußt als eine kritische Instanz der Öffentlichkeit präsentiert, mit der künftig zu rechnen war. In der Rückschau will es scheinen, als sei mit dem Eklat ein Riß in der heilen Kulturwelt Österreichs entstanden: Mit einem Schlag war ein Spannungsfeld eröffnet, das bis in die unmittelbare Gegenwart herauf den Raum festlegte, in dem die Schriftsteller ihre Rolle finden und definieren mußten.3

Bernhard hat den Skandal um die Staatspreisverleihung Jahre später in seinem autobiografisch angelehnten Prosatext Wittgensteins Neffe (1982) thematisiert. Sein Alter Ego behauptet darin, dass es sich bei dieser Rede nur um »eine kleine philosophische Abschweifung« gehandelt habe, in der er »nichts anderes« gesagt habe, »als daß der Mensch armselig und ihm der Tod sicher sei«.4 Bernhard unterschlägt allerdings, dass seine Worte vom Zuhörer ein beträchtliches Maß an inkorporiertem Kulturkapital erfordern, um die intertextuellen Bezüge5 entsprechend der Intention des Autors deuten zu können. Der Unterrichtsminister Theodor PifflPerˇcevi´c war aber nicht in der Lage, diese Syntheseleistung zu vollziehen und hat Bernhards Aussagen als Beleidigung und Angriff auf das österreichische Volk aufgefasst.6 Angesichts der Divergenz zwischen vermeintlicher Intention und unmittelbarer Rezeption von Bernhards Ansprache stellt sich die Frage, ob es sich bei dem Skandal um ein Missverständnis zwischen dem Autor und den anwesenden Gästen oder um eine bewusste Strategie des Schriftstellers gehandelt hat. Eine Klärung dieses Problemfeldes ist von grundsätzlicher Bedeutung, denn es hieße, dem Autor Kalkül beim Verfassen seiner Arbeiten unterstellen zu können. Um diese

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tung echten Champagner für die Proben, anstatt sich mit einer günstigeren ›Probenlösung‹ zu begnügen. Der wochenlang schwelende Konflikt zwischen dem künstlerischen Team um Peymann und der Leitung der Festspiele entzündet sich schließlich an dem Umstand, dass sich die Leitung der Festspiele weigert, die im Stück vorgesehene vollständige Dunkelheit auf der Bühne durch das Abschalten des Notlichts im Zuschauerraum zu gewährleisten. Daraufhin untersagt Bernhard in Absprache mit Peymann und den Schauspielern weitere Aufführungen seines Stückes in Salzburg. Ernst Fischer: Die österreichische Literatur im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. In: Herbert Zeman (Hg.): Geschichte der Literatur in Österreich. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1994ff. Bd. 7: Das 20. Jahrhundert. Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1999, S. 433–536, hier S. 433f. Thomas Bernhard: Wittgensteins Neffe. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, S. 116. Vgl. Michael Billenkamp: Thomas Bernhard. Narrativik und poetologische Praxis. Heidelberg: Carl Winter 2008, S. 91ff., 311, 314. Folgende Sätze lösten bei dem Unterrichtsminister Empörung aus: »Wir sind Österreicher, wir sind apathisch; wir sind das Leben als das gemeine Desinteresse am Leben, wir sind in dem Prozeß der Natur der Größenwahn-Sinn der Zukunft. [. . .] Mittel zum Zwecke des Niedergangs, Geschöpfe der Agonie, erklärt sich uns alles, verstehen wir nichts« (Thomas Bernhard: Der Wahrheit und dem Tod auf der Spur. Zwei Reden. In: Neues Forum 15 [1968] 173, S. 347–349, hier S. 349).

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Frage zu beantworten, gilt es, auf die Strukturen des literarischen Feldes im Nachkriegsösterreich einzugehen, da – und das zeigt nicht nur die entrüstete Reaktion des Ministers, sondern ebenso Ernst Fischers These von einer Zäsur – von einem offiziellen Staatspreisträger jener Zeit eine andere, wohlwollendere Haltung zu seiner österreichischen Heimat erwartet wurde. Die Resonanz, die der Eklat um den Staatspreis in den Medien und auf staatlicher Seite gefunden hat, offenbart, dass in dieser Phase der noch jungen Zweiten Republik kaum von einer Autonomie des künstlerischen Feldes gesprochen werden kann.

1. Die österreichische Literatur der Nachkriegszeit und die harmoniesüchtige Ästhetik der Sozialpartnerschaft Die österreichische Literatur ist nach 1945 geprägt von einer staatlich vorgegebenen, konservativen Kulturpolitik, die Karl Müller als »traditionalistischen Antimodernismus«7 bezeichnet. Georg Jäger und Ernst Fischer sprechen von »der politischen Lebenslüge vom ›befreiten‹ Österreich«,8 deren Auswirkungen auf das zeitgenössische Literaturleben deutlich abzulesen sind: »Von einer ›Stunde Null‹, einem ›Kahlschlag‹, konnte 1945 in Österreich noch weit weniger die Rede sein als in Deutschland, eine ›Trümmerliteratur‹ hat sich hier kaum in Ansätzen herausgebildet.«9 Die Nachkriegsregierung versäumt es, die während des nationalsozialistischen Regimes ins Ausland geflohenen Autoren wie Hermann Broch, Max Brod, Ferdinand Bruckner, Elias Canetti oder Erich Fried im Sinne eines Bekenntnisses zur eigenen Vergangenheit in die Heimat zurückzuholen. Im Mittelpunkt der neuen Identitätssuche steht stattdessen die Rückbesinnung auf die vergangene habsburgische Größe. Diese dient als kulturpolitische Flucht, was dem Heimatroman und dessen bereits im Nationalsozialismus aktiven Vertretern entscheidenden Vorschub leistet.10 Den weitgehenden Verzicht auf eine literarische Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und die Tatsache, dass an Stelle eines künstlerischen Neuanfangs weiterhin jene Autoren ausgezeichnet werden, die sich kurz zuvor noch bereitwillig »an Jubel-Anthologien zum ›Anschluß‹ an Hitler-Deutschland«11 beteiligt haben, begründet Klaus Amann mit drei Thesen. Als Erstes nennt er eine infolge des ›Kalten Krieges‹ »allmähliche politische Klimaverschlechterung, [. . .] von der im offiziellen Kulturbereich die konservativen 7

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Karl Müller: Zäsuren ohne Folgen. Das lange Leben der literarischen Antimoderne Österreichs seit den 30er Jahren. Salzburg: Otto Müller 1990, S. 44. Ernst Fischer/Georg Jäger: Von der Wiener Gruppe zum Wiener Aktionismus – Problemfelder zur Erforschung der Wiener Avantgarde zwischen 1950 und 1970. In: Herbert Zeman (Anm. 3), S. 617–683, hier S. 619. Ebd., S. 619. Klaus Amann: Vorgeschichten. Kontinuitäten in der österreichischen Literatur von den dreißiger zu den fünfziger Jahren. In: Friedbert Aspetsberger u. a. (Hg.): Literatur in der Nachkriegszeit und der fünfziger Jahre in Österreich. Wien: Österreichischer Bundesverlag 1984, S. 46–58, hier S. 47. Ebd., S. 47.

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Kräfte«12 profitieren. Als Zweites führt er profane Gründe an: Da gerade die jüngere Generation nicht über die entsprechenden Artikulationsmöglichkeiten verfügt, kann sie sich nicht im Kunst- und Kulturbetrieb etablieren und für einen prestigeträchtigen Preis empfehlen. Dies ist für Fischer ein spezifisch österreichisches Problem: »Österreich war im gesamten 20. Jahrhundert kein ausgesprochenes Verlagsland und ist auch in den vergangenen Jahrzehnten keines geworden; in der Titelproduktion pro Kopf der Bevölkerung liegt es klar hinter der Bundesrepublik und eklatant hinter der Schweiz zurück.«13 Für die jüngere Generation ist es schwierig, in die verfestigten Machtstrukturen des Feldes einzudringen, da ihnen nicht ausreichend Publikationsplattformen zur Verfügung stehen und die wenigen vorhandenen von etablierten Autoren besetzt werden. Neben diesem Mangel wird der Rückgriff auf ideologisch vorbelastete Autoren auch durch den Umstand erleichtert, dass Österreich von den Alliierten als Opfer Nazi-Deutschlands anerkannt wird: Ebendiese Anerkennung hat den Weg freigemacht zu einem Rückgriff auf die Traditionen der Zeit vor 1938, zu einer Rehabilitierung der politischen Kräfte und Funktionsträger, die im Zeichen des ›Ständestaates christlicher Prägung‹ seit 1934 unter Ausschaltung aller Opposition ein autoritäres Regime und einen an Provinzmaßstäben orientierten Kulturapparat installiert hatten.14

Drittens nennt Amann den »›sozialhygienische[n]‹ Aspekt des Vergessens und des Vergessenwollens«.15 Amann sieht hier eine Parallele zwischen der literarischen und der gesellschaftlichen Situation, wie sie auch einer der wenigen Heimkehrer, der Autor und Philosoph Günther Anders, in seinem Tagebuch beschreibt: Der heutige Zustand verhöhnt den blutigen Ernst der vergangenen zwölf Jahre, er macht ihn ungültig und degradiert ihn zu einem Schauspiel; und das Schauspiel ist eben abgesetzt, weil ein anderes nun auf dem Spielplan steht. Dabei darf man niemandem wegen dieses Arrangements heute Vorwürfe machen. Der Zustand ist, wenn die Leute weiterleben sollen, vermutlich unvermeidlich. Vielleicht hätte es unmittelbar nach der Katastrophe Möglichkeiten gegeben. Aber heute ist es zu spät.16

Es ist nicht zu bezweifeln, dass sich die österreichische Öffentlichkeit nach 1945 auf einen antideutschen Nenner verständigt und seinen von den Alliierten zugestandenen Opferstatus als identitätsstiftende Leitlinie für die Zweite Republik kultiviert. In der Mehrheit sieht sie deshalb auch keine Notwendigkeit zu einem radikalen Bruch mit der heimischen Tradition und ihren vorbelasteten Repräsentanten. Für Autoren, die diesen Konsens in Frage stellen und eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit fordern, bleibt kaum Spielraum. Zwar ist Helmut Qualtingers Herr Karl (1961) ein früher Versuch, die Rolle des opportunistischen Mitläufers im Dritten Reich in der Fernsehöffentlichkeit zu thematisieren, doch 12 13 14 15 16

Ebd., S. 57. Ernst Fischer (Anm. 3), S. 443. Ernst Fischer/Georg Jäger (Anm. 8), S. 618. Klaus Amann (Anm. 10), S. 57. Günther Anders: Die Schrift an der Wand. Tagebücher 1941–1966. München: C. H. Beck 1967, S. 160f.

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erst die Wahl Kurt Waldheims zum Präsidenten 1986 und der 50. Jahrestag der Annexion Österreichs durch das Deutsche Reich 1988 – mit den Skandalen um Heldenplatz und der Enthüllung des Mahnmals gegen Krieg und Faschismus von Alfred Hrdlicka – haben in der österreichischen Gesellschaft zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Opferstatus und der Schuldfrage während des Nationalsozialismus geführt.

2. Thomas Bernhards erste Versuche einer Selbstpositionierung Zeitgleich mit den restaurativen Bestrebungen der österreichischen Kulturpolitik Anfang der 50er Jahre beginnt Bernhard seine journalistische Tätigkeit für das Demokratische Volksblatt in Salzburg – das Parteiorgan der Sozialistischen Partei. Vor dem gesellschaftspolitischen Hintergrund überrascht es nicht, dass die ersten Reportagen den Willen Bernhards erkennen lassen, sich dem Leitbild einer Rückbesinnung auf die habsburgische Geschichte und Tradition anzupassen. In seinem Bericht Volkstanz um den Maibaum preist er etwa den »Triumph des heimischen Brauchtums« als »ein immer wieder herzerfrischendes Fest«.17 Neben der Notwendigkeit und Pflege heimatlicher Gepflogenheiten – »Jedes Land hat seine Vergangenheit, seine Lieder und Tänze, Spiele und Trachten und nur aus dem Althergebrachten können wir [. . .] neue wirkliche Impulse schöpfen«18 – lobt Bernhard das literarische Werk seines 1949 verstorbenen Großvaters, des Heimatdichters Johannes Freumbichler. Bernhard verbringt große Teile seiner Kindheit und Jugend bei dem erfolglosen Schriftsteller, der entscheidenden Anteil an der Erziehung des Knaben und auch großen Einfluss auf dessen künstlerische Entwicklung hat.19 Gerade die Prosa aus Bernhards Frühphase lässt unmittelbare intertextuelle Bezüge auf das Werk des Großvaters erkennen.20 Arbeiten wie Von einem Nachmittag in einer großen Stadt (1952), Großer, unbegreiflicher Hunger (1953), Die verrückte Magdalena (1953) oder Die Landschaft der Mutter (1954), die topisch das Land gegenüber der Stadt idealisieren, stehen in direkter Nachfolge Freumbichlers. Gleichzeitig fügen sich diese Texte nahtlos in die konservative Ausrichtung der Zweiten Republik ein, da Themen wie Kriegsvergangenheit, 17

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Thomas Bernhard: Volkstanz um den Maibaum. In: Demokratisches Volksblatt vom 4. 5. 1954. Thomas Bernhard: Der Advent wird eingeblasen. In: Demokratisches Volksblatt vom 28. 11. 1953. Vgl. Caroline Markolin: Die Großväter sind die Lehrer. Salzburg: Otto Müller 1988; Martin Huber/Manfred Mittermayer/Peter Karlhuber (Hg.): Thomas Bernhard und seine Lebensmenschen. Der Nachlaß. (Sonderband in der Reihe »Literatur im StifterHaus« 2001) Wien, Linz: Adalbert-Stifter-Institut des Landes Oberösterreich 2001; Bernhard Judex: Der Schriftsteller Johannes Freumbichler 1881–1949. Leben und Werk von Thomas Bernhards Großvater. Wien: Böhlau 2006. Vgl. Bernd Seydel: Die Vernunft der Winterkälte. Gleichgültigkeit als Equilibrismus im Werk Thomas Bernhards. Würzburg: Königshausen & Neumann 1986; Eva Marquardt: Gegenrichtung. Entwicklungstendenzen in der Erzählprosa Thomas Bernhards. Tübingen: Niemeyer 1990.

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Zerstörung, Tod, Elend oder Hunger konsequent ausgespart werden. Bernhards Arbeiten aus den 50er Jahren sind von dem Bestreben gekennzeichnet, das Andenken an den von ihm bewunderten Freumbichler zu bewahren. Konsequenterweise setzt er »Anfang der fünfziger Jahre genau dort an [. . .], wo er seinen Großvater als kraftvollen, bilderreichen Erzähler stehen sah«21 . Diese Prosatexte tragen außerdem den Erfordernissen und der Ausprägung des Feldes Rechnung. Bernhard betritt die literarische Bühne also nicht, wie es das Spätwerk oder der eingangs geschilderte Skandal zur Verleihung des Österreichischen Staatspreises vermuten lassen, als Revolutionär und provokanter Avantgardekünstler, sondern er sieht seine künstlerische Heimat in der Nähe der orthodoxen Bewahrer heimatlicher Dichtung.22 Bernhards konservative Überzeugung erfährt erst im Zuge seines Schauspielstudiums am Salzburger Mozarteum (1955–1957) eine Veränderung. Sein Studium fällt in eine Zeit, in der sich jenseits der offiziellen Kulturpolitik auch eine Avantgardebewegung in Wien zu etablieren beginnt. Besonders hervorzuheben ist in diesem Kontext die sich 1952/53 konstituierende ›Wiener Gruppe‹ um H. C. Artmann, Gerhard Rühm, Konrad Bayer, Oswald Wiener und Friedrich Achleitner. Sie markiert »den Beginn einer über fast zwei Jahrzehnte andauernden, in Intensität, Varietät und Konsequenz bemerkenswerten Avantgardebewegung in Wien«.23 Neben einem »Hang zur Selbstinszenierung, zur Selbstdistanzierung im Rollenspiel und [. . .] Instrumentalisierung der gesamten Lebenspraxis«24 ist das Kennzeichen der ›Wiener Gruppe‹ eine »progressiv radikale Einstellung zur Kunst«25 , die sich in einer umfassenden sprachlichen Experimentierlust äußert. Jäger und Fischer machen deutlich, dass sich die Strukturen des literarischen Feldes in Österreich erst mit und in Nachfolge der ›Wiener Gruppe‹ tiefgreifend verändern: Die Enge und der Konservativismus eines Kulturbetriebes, in dem sich noch nie (auch vor 1934 nicht) eine Avantgardeszene von Bedeutung hatte etablieren können, hatte zur Folge, daß der Durchbruch eruptiv geschah, konfliktreich verlief und radikale Formen annahm.26

Erst nach Ende seines Studiums am Mozarteum macht Bernhard durch Vermittlung des Avantgardekomponisten Gerhard Lampersberg Bekanntschaft mit der ›Wiener Gruppe‹. Über drei Jahre dauert die Freundschaft mit dem Ehepaar Lampersberg, das sich im Kärntnerischen Maria Saal mit dem ›Tonhof‹ einen wichtigen Künstlertreffpunkt geschaffen hat. Wie die Arbeiten für das Demokratische Volksblatt sind auch die Texte, die Bernhard während seines Aufenthalts am ›Tonhof‹ verfasst, von der Absicht gekennzeichnet, sich künstlerisch in sein neues Umfeld zu integrieren. Beispielhaft angeführt sei Lampersbergs Auftrag an Bernhard, für ihn ein Opernlibretto zu schreiben, das sich formal und stilistisch an Artmanns 21 22 23 24 25 26

Ebd., S. 49. Vgl. Michael Billenkamp (Anm. 5), S. 49ff. Ernst Fischer/Georg Jäger (Anm. 8), S. 620. Ebd., S. 625. Ebd., S. 628. Ebd., S. 628.

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der knabe mit dem brokat orientieren soll. Mit die rosen der einöde (1959) liefert Bernhard einen Text, der einen deutlichen Bruch mit seiner bisherigen literarischen Produktion darstellt. Der Überschuss an Rhetorik, der die Lyrik und die Prosatexte seiner Frühphase kennzeichnet, verschwindet in den Jahren am ›Tonhof‹ zu Gunsten einer verknappten Sprache. Eine Handlung ist nur von »Auserwählten«27 nachvollziehbar, denn Bernhard reduziert die traditionelle Syntax auf einzelne Worte und Laute. Für Bernhards Sprachexperimente jener Phase gilt, so wie für seine Anlehnungsversuche an das Genre des Heimatromans zuvor, dass sie auf keine größere Resonanz stoßen. Die Arbeiten aus der Zeit am ›Tonhof‹ sind vom demonstrativen Bemühen des Autors geprägt, sich über die Aneignung der konkreten Poesie im literarischen Feld zu etablieren. Michael Töteberg stellt im Hinblick auf Bernhards Sprachexperimente fest: [S]eine Sprachbehandlung war nie so radikal, daß er wie die Vertreter der konkreten Poesie die Worte ihres Sinnzusammenhangs beraubte. Schließlich war seine Haltung grundverschieden: Ihm fehlte damals noch das Vermögen, Metaphysik mit Ironie und Witz zu verbinden – ›Die Rosen der Einöde‹ zeugen von blutigem Ernst und Kunstanstrengung.28

Der Bruch mit dem Ehepaar Lampersberg Ende der 50er Jahre beeinflusst Bernhards weitere künstlerische Entwicklung.

3. Hinwendung zur Prosa als Wendepunkt Ab 1960 beendet der Schriftsteller seine am ›Tonhof‹ erprobten und nur mit mäßiger Aufmerksamkeit bedachten avantgardistischen Schreibversuche, und er verzichtet auch auf einer Karriere als Lyriker. Nun konzentriert er sich ausschließlich auf die Prosa. Bernhards langjähriger Freund und Lektor des Insel-Verlags, Wieland Schmied, wertet diese Entscheidung als Ausdruck für das Streben des Autors, sich um jeden Preis durchsetzen zu wollen: [E]r meinte, den ganz großen – ja, Durchbruch ist auch so ein abgegriffenes Wort – nur erreichen zu können durch Prosa. Und deswegen hat er ganz bewußt die frühe Lyrik, die ich sehr schön finde und die er ja später dann auch wieder zu würdigen wußte, [. . .] ganz abgetan und hat sich nur auf die Prosa konzentriert. [. . .] Damit will ich sagen, er wußte, daß für ihn eigentlich nur der ganz große Erfolg in Frage kommt, der [. . .] der ganzen Größe dessen, was er als Dichter leisten konnte, adäquat war. Etwas anderes kam für ihn nicht in Frage.29

Kennzeichen der von Schmied erwähnten Lyrik ist eine übertrieben manierierte Darstellung eines leidenden Ichs. Die einseitige Fokussierung auf die eigene Bio27

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So Bernhard in dem programmatischen Text zu die rosen der einöde, NLTB (= Nachlass Thomas Bernhard, Thomas Bernhard-Archiv, Gmunden) W 71/3. Michael Töteberg: Höhenflüge im Flachgau. Drei Anläufe, dreimal abgestürzt: die Vorgeschichte des Autors Thomas Bernhard. In: Thomas Bernhard. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. München: Edition Text + Kritik 31991, S. 3–10, hier S. 8. Krista Fleischmann: Thomas Bernhard – Eine Erinnerung. Interviews zur Person. Wien: Edition S 1992, S. 19.

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grafie ist auch der Grund dafür, dass sich der Salzburger Otto Müller Verlag nach zwei publizierten Lyrikbänden weigert, Bernhards Gedichtzyklus Frost zu veröffentlichen. In der Ablehnung heißt es, der Autor würde die »ganze Welt nur als Requisit für sein Bedürfnis nach tragischer Eingebildetheit«30 benutzen. Auch wenn Bernhard gegen dieses Urteil in einem Brief Einspruch erhebt,31 so ist seine Abkehr von der Lyrik nicht nur konsequent, sondern auch notwendig: Kein Verlag ist willens, seine Gedichte zu publizieren. Den Vorwurf, dass er in seinen Arbeiten die eigene Biografie zu sehr thematisiere, muss sich Bernhard auch noch bei seinen ersten Romanversuchen gefallen lassen. In dem Ablehnungsschreiben zu seinem Prosamanuskript Tamsweg heißt es, dass er den »Sprung vom Persönlichen in das Allgemeingültige noch nicht vollzogen«32 habe. Nahezu identisch ist die abschlägige Antwort von Otto F. Best, dem damaligen Lektor des Piper Verlags, dem Tamsweg »allzu subjektiv und privat«33 geraten ist. Nicht anders ergeht es Bernhard mit dem gleichfalls unveröffentlicht gebliebenen Manuskript Schwarzach St. Veit, das er 1960 dem S. Fischer Verlag und nach deutlichen Kürzungen und einigen Änderungen 1961 unter dem Titel Der Wald auf der Straße dem Suhrkamp Verlag anbietet. Nach der Absage der beiden Verlage startet Bernhard 1962 mit dem Romanprojekt Frost (1963) einen letzten Versuch, sich auf dem literarischen Markt als Prosaautor zu positionieren. Bernhards Prosavorhaben Frost fällt in eine Zeit, in der Hans Leberts Antiheimatroman Die Wolfshaut (1960) in Österreich für Aufsehen sorgt. Der Roman findet eine beachtliche Resonanz, weil sich Lebert als einer der ersten heimischen Autoren kritisch mit der Rolle Österreichs während des Dritten Reiches auseinandersetzt. Im Mittelpunkt des Romans steht eine »gottverlassene Gegend, eine Gegend, die nichts zu bieten hat und deshalb auch kaum bekannt ist«34 . Dort liegt das Dorf ›Schweigen‹, das Lebert als ein »österreichisches Dorf der frühen Nachkriegszeit mit all seiner brutalen Indolenz, animalischen Triebhaftigkeit und moralischen Verwahrlosung«35 darstellt. Obwohl in Die Wolfshaut Verdrängung und Vertuschung der Verbrechen des Zweiten Weltkriegs die beherrschenden Themen sind, wird der Roman von der Presse überwiegend positiv besprochen und mit Preisen ausgezeichnet.36

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Zitiert nach Manfred Mittermayer/Sabine Veits-Falk (Anm. 2), S. 150. NLTB, B 383/1. Bernhard schreibt darin unter anderem: »Das Ich in meiner Arbeit ist die Kreatur, die eingesetzte, gehetzte, wie das Wild, die seit seinen Anfängen unveränderte Natur, nicht ich, der nichts ist, Nichts! Ich kann nicht manipulieren – ich bin mir sicher, dass jedes Wort in meinem Manuskript eine Wahrheit ist, die ich durchlebt habe, von nirgends herhabe.« NLTB, B 384/2/1. NLTB, B 441/2/2. Hans Lebert: Die Wolfshaut. Hamburg, Wien: Europa 2001, S. 7. Jürgen Egyptien: Der »Anschluß« als Sündenfall. Hans Leberts literarisches Werk und intellektuelle Gestalt. Wien: Sonderzahl 1998, S. 179. Lebert erhält für seinen Roman unter anderem 1961 den Dr.-Theodor-Körner-Preis und im Jahr darauf den Österreichischen Staatspreis sowie ein »Arbeitsstipendium für Roman« von der Österreichischen Gesellschaft für Literatur.

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Bernhard hat nie bestätigt, Die Wolfshaut rezipiert zu haben. Er erklärt sogar, dass es vor Frost nichts Vergleichbares in der Literatur gegeben habe.37 Die signifikanten inhaltlichen und motivischen Überschneidungen zwischen Leberts Roman und Bernhards Frost lassen aber Gegenteiliges vermuten.38 Jürgen Egyptien sieht folgerichtig in Leberts Darstellung der ländlichen Gesellschaft das »Präludium zu den Haßtiraden Thomas Bernhards«39 , und Joachim Hoell glaubt mit Die Wolfshaut ein Modell verwirklicht, das Bernhard erfolgreich auf Frost überträgt.40 Wie bereits während seiner journalistischen Tätigkeit beim Demokratischen Volksblatt und während seiner Versuche als Avantgardekünstler am ›Tonhof‹, so muss auch in Bezug auf Bernhards Debütroman Frost konstatiert werden, dass sich der Autor rasch und pragmatisch neuen Entwicklungen und Tendenzen im literarischen Feld anzupassen versteht. Erst mit Frost gelingt es ihm, »sein Erkennungszeichen«41 innerhalb des Feldes durchzusetzen, was sich anhand der Reaktionen auf den Roman außer- und innerhalb des österreichischen literarischen Feldes belegen lässt.42 Eine zentrale Rolle spielt in diesem Kontext Carl Zuckmayer, der Frost »für eine der stärksten Talentproben« hält, »für eines der aufwühlendsten und eindringlichsten Prosawerke, die seit Peter Weiss von einem Autor der jüngeren Generation vorgelegt worden sind«.43 Zuckmayers überaus positive Kritik legt die Basis für eine singuläre Erfolgsgeschichte, profitiert Bernhard doch direkt vom Konsekrationskapital des im deutschsprachigen Raum so renommierten Autors. Zuckmayers Engagement für den jungen Autor ist allerdings auch vor dem Hintergrund seiner persönlichen Bekanntschaft mit der Familie Freumbichler zu sehen. So bittet Freumbichlers Witwe den Henndorfer Nachbarn Zuckmayer schon 1951, sich für ihren Enkel einzusetzen, der daraufhin einen Posten beim Demokratischen Volksblatt erhält. 1963 wendet sich Bernhard gleich in mehreren Briefen an Zuckmayer und ersucht ihn, den Roman Frost freundlich zu rezensieren. Die Tatsache, dass der Großvater den einzigen literarischen Erfolg der Vermittlung Zuckmayers zu verdanken hatte – dieser vermittelt Freumbichler an den Zsolnay-Verlag –, ist in diesem Zusammenhang ebenfalls von Bedeutung. Seine Position in den 60er Jahren festigt Bernhard nun konsequent dadurch, dass er von 1967 an mindestens einen Prosatext oder einen Theatertext jährlich veröffentlicht. Dank seiner enormen Produktivität erarbeitet er sich eine Sonderstellung im Kulturbetrieb Österreichs, die, ganz der Dynamik des Feldes entsprechend, Neid, Kritik und forcierte 37

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Kurt Hofmann: Aus Gesprächen mit Thomas Bernhard. München: dtv 2004, S. 26: »Man hat ja Vorbilder und Geschichten. Aber ich glaub’, vor dem ›Frost‹ hat’s in dieser Art im Grund wirklich nichts gegeben. Es war erstmalig, diese Art zu schreiben.« Zu den Parallelen siehe u. a. Joachim Hoell: Mythenreiche Vorstellungswelt und ererbter Alptraum. Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard. Berlin: VanBremen 2000. Jürgen Egyptien (Anm. 35), S. 160. Vgl. Joachim Hoell: Thomas Bernhard. München: dtv 2000, S. 78. Pierre Bourdieu: Das literarische Feld. In: Louis Pinto/Franz Schultheis (Hg.): Streifzüge durch das literarische Feld. Konstanz: UVK 1997, S. 33–148, hier S. 88. Für Frost wird Bernhard u. a. 1965 der Bremer Literaturpreis verliehen. Zitiert nach Jens Dittmar: Thomas Bernhard Werkgeschichte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 52.

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Konkurrenz provoziert. Zu den Machterhaltungsstrategien Bernhards gehört es, dass er diejenigen, die sich als Konkurrenten sowohl im Bereich des Theaters als auch auf dem Gebiet der Prosa profilieren, mit vernichtender Geringschätzung abstraft. Ungeachtet seiner überragenden Bedeutung muss Bernhard bis zur Publikation von Frost als literarischer Mitläufer charakterisiert werden, der sich gängigen Strömungen zwar anschließt, aber kaum in der Lage ist, diesen neue Impulse oder eine individuelle Richtung zu verleihen. In seinem Debütroman Frost gelingt es ihm, die frühen Einflüsse zu vereinigen, und er kreiert ein Modell, auf das er in den folgenden Jahrzehnten immer wieder zurückgreifen wird und was ihm wiederholt Kritik eingebracht hat:44 Seine Texte bleiben dem Kardinalthema Österreich verbunden; zudem werden vorrangig intellektuelle Außenseiter, sogenannte ›Geistesmenschen‹ porträtiert, deren philosophische Ausschweifungen sowie gesellschafts- und staatskritische Tiraden von überwiegend anonym bleibenden Erzählern unkommentiert aufgezeichnet werden. Erst mit Die Ursache (1975), dem Beginn des autobiografischen Projekts, entfernt sich Bernhard von diesem Modell und wendet sich ganz der persönlichen Ursachenforschung zu, ehe er mit Alte Meister (1985) und Auslöschung (1986) Mitte der 80er Jahre sein ursprüngliches Konzept wieder aufgreift.

4. Selbststilisierung und autobiografische Reflexion Was Bernhard zu Beginn seiner schriftstellerischen Tätigkeit noch von Seiten der Verlage vorgeworfen wird, dass seine Arbeiten den Sprung vom ›Persönlichen‹ hin zum ›Allgemeingültigen‹ noch nicht vollzogen haben, wird mit dem autobiografischen Projekt zum Kernprogramm seiner Arbeiten nach 1975. Denn Bernhards Introspektion beschränkt sich nicht nur auf die Autobiografie, sondern wird auch in seiner fiktionalen Prosa evident. Stehen in Verstörung (1967) und Frost der Geisteszustand der Protagonisten Saurau und Strauch, in Das Kalkwerk (1970) der Mord Konrads an seiner Frau sowie in Korrektur (1975) der Bau des Kegels und Roithamers Selbstmord noch im Mittelpunkt, so rücken in den Erzählungen und Romanen wie Ja (1978), Beton (1982), Wittgensteins Neffe, Holzfällen oder Auslöschung Figuren ins Zentrum des Geschehens, die signifikante biografische Parallelen zu Bernhard aufweisen. Die zahlreichen persönlichen Anspielungen in seiner Prosa haben in der öffentlichen Wahrnehmung wiederholt zu einer Gleichsetzung von Protagonist und Autor geführt. Darüber hinaus hat Bernhard das Spiel mit der eigenen Identität in seiner Prosa ganz bewusst forciert, wie die folgende Widmung in dem Beton-Manuskript für Krista Fleischmann belegt: Sie werden sich selbst und vieles von damals wiedererkennen, vor allem die Geschichte mit der jungen Frau. Ich habe alles so beschrieben, wie wir es damals erlebt haben. Aber – 44

Bereits 1968 spricht Marcel Reich-Ranicki von einer »nahezu kompletten Austauschbarkeit« in Zusammenhang mit Bernhards Texten (Marcel Reich-Ranicki: Thomas Bernhard. Aufsätze und Reden. Zürich: Ammann 1969, S. 6).

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Sie wissen ja – wichtig ist nicht, WAS man schreibt, sondern WIE man es schreibt. Mir geht es um Kunst, um eine sogenannte musikalische Form, was immer das ist. Alles andere interessiert mich im Grunde überhaupt nicht. Ich erfinde ja nichts, ich glaube, ich habe in meinen Büchern noch nie etwas erfunden, verändert – ja, erfunden – nein.45

Für alle Werke seit den 70er Jahren lässt sich konstatieren, dass sich Bernhard in seiner Prosa kaum noch zu verhüllen sucht. Die Texte lesen sich als Topografie seiner österreichischen Umwelt. Bernhard verwendet authentische Schauplätze, Personen oder Ereignisse aus seinem unmittelbaren Erfahrungsbereich, um sie im Zuge des Arbeitsprozesses – mit den für ihn typischen Mitteln der Übertreibung, dem antithetischen Schreiben und dem ›musikalischen‹ Umgang mit Sprache – seiner Intention entsprechend zu transformieren. Diese Arbeitsweise trifft gleichermaßen auf die Autobiografie zu, denn einer kritischen Überprüfung der von Bernhard geschilderten Erlebnisse halten die Werke von Die Ursache bis Ein Kind (1982) nur auf den ersten Blick stand, wie Louis Huguet in seiner Chronologie46 ausführlich nachgewiesen hat. Bernhard fühlt sich bei seiner Erinnerungsarbeit einzig ›seinen‹ subjektiven Wahrnehmungen verpflichtet,47 weshalb Fakten und Tatsachen bei ihm nur eine untergeordnete Rolle spielen. Erst im finalen Band Ein Kind (1982) offenbart Bernhard anhand der Episode vom gescheiterten Fahrradausflug, wie sein freier Umgang mit der eigenen Vergangenheit zu verstehen ist und welche Kriterien ihm als Maßstab dienen: Ich selbst genoß meinen Bericht so, als würde er von einem ganz anderen erzählt, und ich steigerte mich von Wort zu Wort und gab dem Ganzen, von meiner Leidenschaft über das Berichtete selbst angefeuert, eine Reihe von Akzenten, die entweder den ganzen Bericht würzende Übertreibungen oder sogar zusätzliche Erfindungen waren, um nicht sagen zu müssen: Lügen. [. . .] Wo es mir günstig erschien, hielt ich mich länger auf, verstärkte das eine, schwächte das andere ab, immer darauf bedacht, dem Höhepunkt der ganzen Geschichte zuzustreben, keine Pointe vorwegzunehmen und im übrigen mich als den Mittelpunkt meines dramatischen Gedichts niemals außer acht zu lassen.48

Was in diesen Zeilen zum Ausdruck kommt, ist ein ausgeprägter Wille zur Selbstinszenierung. Für Michaela Holdenried gehören »Selbststilisierung und Selbstrechtfertigung [. . .] im Kontext des ›Identitätsbeweises‹ von jeher zu den Wurzeln des Autobiographischen«.49 Auch Roy Pascal geht mit Bernhard konform, wenn er konstatiert, »daß diese sogenannten Unzulänglichkeiten [Voreingenommenheit, Blindheit, Vergeßlichkeit des Autobiographen] die Mittel sind, durch die eine Autobiographie zur Würde der Kunst aufsteigt, die die poetische im Gegensatz zur 45

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Thomas Bernhard: Werke. Hg. von Martin Huber u. a. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003ff., Bd. 5: Beton. Hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, S. 138ff. Louis Huguet: Chronologie. Johannes Freumbichler/Thomas Bernhard. Weitra: Bibliothek der Provinz 1995. Thomas Bernhard: Werke (Anm. 45), Bd. 10: Autobiographie. Hg. von Martin Huber und Manfred Mittermayer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 46, 135f., 266, 332. Thomas Bernhard: »Ein Kind«. In: Th. B. (Anm. 47), S. 405–509, hier S. 425. Michaela Holdenried: Autobiographie. Stuttgart: Reclam 2000, S. 41.

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historischen Wahrheit verkörpert«50 . Es muss betont werden, dass Bernhards autobiografische Pentalogie nicht etwa einem Willen nach Authentizität und einer chronologischen Aufbereitung der eigenen Vergangenheit geschuldet ist. Sie ist auf der einen Seite eine ›Berufsautobiografie‹ im Sinne einer Genese des Berufswunsches Schriftsteller;51 auf der anderen Seite ist sie Ausdruck für das Verlangen des Autors, ein bestimmtes Bild von sich in der Öffentlichkeit zu etablieren. Über diese Selbstinszenierung hat sich die Vorstellung von Bernhard als einem Autodidakten und Außenseiter verfestigt, dem es, entgegen allen Widrigkeiten, gelungen ist, sich als Schriftsteller im ›kunstfeindlichen Österreich‹52 durchzusetzen. Bernhards Außenseiter negieren in ihrem Selbstverständnis als ›Geistesmenschen‹ jegliche Form von Masse und Norm. Sie verweigern sich grundsätzlich kanonisierten Haltungen und Sichtweisen und grenzen sich bewusst von der Gesellschaft ab, um als Außenstehende Staat, Volk und seine Repräsentanten kritisch hinterfragen zu können. In der Autobiografie wird das Thema ›Außenseiter‹ zum Leitmotiv und zieht sich durch alle fünf Bände: Aufgrund seiner Armut wird Bernhard schon in der Schule von seinen Mitschülern ausgegrenzt.53 Gleiches widerfährt ihm als Bettnässer54 im nationalsozialistischen Schülerheim; als Lehrling zieht es ihn zu den Ausgestoßenen und Aufgegebenen55 in die Scherzhauserfeldsiedlung, das »Stiefkind der Stadt«56 ; selbst als Todkranker im Sterbezimmer des Krankenhauses57 wird er zum Außenseiter, weil er sich nicht dem Willen der Ärzte und Schwestern fügen will; die Überweisung in das Lungensanatorium Grafenhof kommt schließlich einem Ausschluss aus der Gesellschaft58 gleich, doch selbst hier wird Bernhard noch von den übrigen Insassen isoliert, weil er anfangs nicht in der Lage ist, eine ausreichende Menge des von den Ärzten geforderten Auswurfs zu produzieren.59

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Zitiert nach Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. (Sammlung Metzler 323) Stuttgart: Metzler 22005, S. 47. Ebd., S. 33. Vgl. Thomas Bernhard: »Die Kälte«. In: Th. B. (Anm. 47), S. 311–403, hier S. 340: »Hier war es schon wieder, das Beispiel, von welchem ich immer gesprochen habe, immer sprechen werde: der in der Heimat mißachtete, ja verachtete Künstler, der das Weite zu suchen hat. In Österreich werden die hervorragendsten Künstler produziert, um ausgestoßen zu werden in alle Welt, gleich welcher Art ihre Kunst ist, die Begabtesten werden abgestoßen, hinausgeworfen. [. . .] Krank und verzweifelt und weltberühmt kommen die Begabtesten, die Genialen zurück, in jedem Falle zu spät, dann, wenn sie halbtot oder alt sind. Das ist eine alte Geschichte, die ich nicht müde werde immer dann wenigstens anzudeuten, wenn die Gelegenheit dazu da ist.« Thomas Bernhard: »Ein Kind« (Anm. 48), S. 474. Ebd., S. 494. Thomas Bernhard: »Der Keller«. In: Th. B. (Anm. 47), S. 111–213, hier S. 138. Ebd., S. 137. Thomas Bernhard: »Der Atem«. In: Th. B. (Anm. 47), S. 215–310, hier S. 244. Thomas Bernhard: »Die Kälte« (Anm. 52), S. 330. Ebd., S. 316.

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5. Thomas Bernhard als intellektueller Unruhestifter Selbst im Rahmen seiner öffentlichen Auftritte, den Interviews und Leserbriefen60 greift Bernhard auf Positionen zurück, die aus Werken wie Der Theatermacher (1984), Alte Meister oder Heldenplatz bekannt sind: Ohne sich selbst Beschränkungen oder Tabus aufzuerlegen, attackiert Bernhard darin die Funktionselite des Staates und weist mit Nachdruck auf die nationalsozialistische Vergangenheit Österreichs hin. Trotz seiner Kritik beharrt Bernhard auf seiner passiven Beobachterposition und verweigert sich konsequent jeder Mitarbeit. Dabei beruft er sich auf seine künstlerische Autonomie, die er nach außen hin offensiv propagiert und die ein politisches Engagement nicht zulässt. Bernhards Karriereverlauf ist in dieser Hinsicht beispielhaft für Bourdieus Ausführungen61 zur Rolle und Aufgabe des Künstlers als Intellektuellem: Auf Grundlage eben dieser eroberten Autonomie kann nun der Gelehrte oder Schriftsteller aufstehen und sich ins politische Feld begeben, um mit der ganzen Autorität seines spezifischen Kapitals zu sagen, daß eine solche Entscheidung nicht annehmbar ist, daß sie den Werten des Feldes entgegenläuft, im Falle des Schriftstellers den Werten der Wahrheit. Je autonomer man ist, je mehr man über spezifische Autorität verfügen kann, wissenschaftliche oder literarische, gewinnt man auch außerhalb des eigenen Feldes die Autorität, mit einer gewissen symbolischen Wirksamkeit zu sprechen.62

Bernhard handelt stets nach der Prämisse, sich niemals in eine ihn ein- und dadurch beschränkende Abhängigkeit zu begeben, sei diese nun künstlerischer oder politischer Natur. Die Betonung der künstlerischen Autonomie wird zum Leitgedanken seiner öffentlichen Selbstinszenierung, wie etwa im Interview mit Krista Fleischmann deutlich wird: Nur wer wirklich unabhängig ist, kann im Grunde wirklich gut schreiben. [. . .] ich hab’ immer aus eigenem Antrieb gelebt, hab’ nie eine Subvention g’habt, es hat sich um mich nie jemand gekümmert, bis heute nicht. Ich bin gegen jede Subvention, gegen jede Rentnerei, und Künstlern soll man überhaupt keinen Groschen zahlen. Das wäre das Ideale, dann wird vielleicht was draus werden.63 60

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Erinnert sei hier explizit an die Leserbriefe »Die Kleinbürger auf der Heuchelleiter« in: Die Zeit vom 17. 2. 1978 und »Der pensionierte Salonsozialist« in: profil vom 26. 1. 1981, in denen Bernhard gegen die große Koalition polemisiert. Markus Joch schätzt Bourdieus Definition des Intellektuellen folgendermaßen ein: »Die Bourdieu-Schule versteht die Erfindung des Intellektuellen als einen Kristallisationspunkt französischer Gesellschaftsgeschichte, an dem sich unter Literaten, Lehrern und Universitätsangehörigen die gemeinsame Einsicht durchsetzt, dass die institutionalisierte Unabhängigkeit der eigenen Felder mit politischem Widerspruch vereinbar ist« (Markus Joch: Ein unmöglicher Habitus. Heines erstes Pariser Jahrzehnt. In: M. J./Norbert Christian Wolf [Hg.]: Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis. Tübingen: Niemeyer 2005, S. 137–158, hier S. 150). Pierre Bourdieu: Vom Gebrauch der Wissenschaft. Für eine klinische Soziologie des wissenschaftlichen Feldes. Konstanz: UVK 1998, S. 61. Krista Fleischmann: Thomas Bernhard – Eine Begegnung. Gespräche mit Krista Fleischmann. Wien: Edition S 1991, S. 195f.

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Wer als Künstler Aufträge oder Subventionen vom Staat annehme, so Bernhard, kompromittiere sich als Staatskünstler. Vor allem in den Prosatexten Holzfällen und Alte Meister kritisiert der Autor jene Künstler, die aus materiellen Erwägungen ihre Autonomie aufgeben und damit das Privileg der künstlerischen Freiheit an den Staat verkaufen.64 In diesem Zusammenhang verschweigt Bernhard allerdings, dass er am Anfang seiner Karriere selbst auf staatliche Unterstützung angewiesen war. Den Erwerb seines Vierkanthofs in Ohlsdorf hätte er sich ohne das zinslose Darlehen des österreichischen Unterrichtsministeriums nicht leisten können.65 Gleiches gilt für seine Parteizugehörigkeit. Zwar gibt Bernhard bereitwillig darüber Auskunft, dass er während seiner Beschäftigung beim Demokratischen Volksblatt kurzzeitig der SPÖ beigetreten ist, unterschlägt aber seine über fast 14 Jahre hinweg – vom 18. Januar 1974 bis 7. September 1987 – währende Mitgliedschaft bei der ÖVP.66 Der über alle Parteilichkeit und Staatssubventionen erhabene Schriftsteller Bernhard ist also ein Mythos, der von dem Autor lebenslang forciert und von seiner Leserschaft und seinen Interpreten gläubig hingenommen worden ist. Gerade an diesem Punkt wird die Bedeutung medialer Selbstinszenierung für die Positionierung im literarischen Feld deutlich. Mit seiner Fähigkeit, die medialen Ressourcen für sein Streben nach symbolischem Kapital nutzbar zu machen, kann Bernhard als Avantgardist gelten. Dass er bei seiner Arbeit nicht nur intuitiv, sondern auch bewusst den Weg mit und über die Medien geht, zeigt folgendes Zitat des Autors: Die Leute sind ja zu allem zu präparieren. Sie können ein Theater füllen mit bestimmten Leuten, die angereichert worden sind durch Zeitungen und so. Wenn ihnen monate- oder jahrelang gesagt wird, dort kommt das große Ereignis, dann können Sie ja die Leute auch bestechen. [. . .] Bestechen Sie die Leute, und dann kriegen Sie auch das Publikum und Sie kriegen die Kritiker.67

Bedenkt man all diese Aspekte, so lässt sich Georg Jägers Definition des kritischen Intellektuellen nur partiell auf Bernhard beziehen. Laut Jäger zeichnet sich dieser durch folgende Merkmale aus: – Ein Schriftsteller setzt sein Ansehen ein, um sich in einem konkreten Fall politisch zu engagieren. 64

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Erinnert sei hier vor allem an die Auslassungen Regers in Alte Meister (Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, S. 61ff.) und an die des Ich-Erzählers in Holzfällen (Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 253ff.) sowie an Bernhards verbale Angriffe gegen die Kollegen Gerhard Roth und Peter Turrini. Diese geben 1981 zu Ehren von Bruno Kreiskys 70. Geburtstag einen Band mit eigenen Texten heraus. Bernhard rezensiert im Auftrag der Zeitschrift profil (26. 1. 1981) das Buch. Er attackiert darin massiv neben den beiden Autoren auch den Bundeskanzler, womit er für einen weiteren landesweiten Skandal sorgt. Vgl. hierzu Louis Huguet (Anm. 46), S. 433ff. Vgl. Jens Dittmar (Hg.): Sehr gescherte Reaktion. Leserbrief-Schlachten um Thomas Bernhard. 2. verschlechterte Ausgabe. Wien: Verlag der österreichischen Staatsdruckerei 1993, S. 217. Korrekterweise muss festgehalten werden, dass Bernhard Mitglied des Österreichischen Bauernbundes gewesen ist, dieser stellt jedoch die bedeutendste Teilorganisation der ÖVP dar. Kurt Hofmann (Anm. 37), S. 84.

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– Er tut dies im Namen allgemeiner aufklärerischer Werte wie der Wahrheit [. . .] und der republikanischen Grundwerte (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit). – Der Schriftsteller bedient sich der Medien, um Öffentlichkeit herzustellen, und setzt dabei spezifische publizistische und rhetorische Mittel ein (Offener Brief, Appell, Erklärung, Resolution, Gruppenmanifest). – Der Schriftsteller bewährt sein Engagement, indem er persönlich die Konsequenzen trägt (Verurteilung, Exil).68

Der entscheidende Unterschied zwischen Jägers und Bourdieus Thesen und Bernhards Praxis besteht darin, dass sich Letzterer niemals der Allgemeinheit, sondern immer nur sich selbst verpflichtet sieht. Dies wird besonders im zweiten Punkt von Jägers Definition evident: Zwar reklamiert auch Bernhard für sich den Anspruch auf ›Wahrheit‹, nicht jedoch in einem ›republikanischen Sinne‹. Der Begriff ›Wahrheit‹ ist bei ihm kein objektives Kriterium, wie am Beispiel der Autobiografie ausgeführt worden ist. Wahrheit erfährt in seinem Falle vielmehr eine extrem subjektive Konnotation und folgt allein dem Bestreben, ein »wohlgelungenes Kunstwerk«69 zu schaffen. Bernhards Position als Schriftsteller ist damit identisch mit jener seiner Protagonisten: Seine Rolle als intellektueller Außenseiter ermöglicht es ihm, die ›tatsächlichen‹ Verhältnisse in Staat und Gesellschaft zu benennen. Dass zwischen der eigenen Positionierung im kulturellen Feld und dem künstlerischen Schaffen eine Wechselwirkung besteht, macht auch Bourdieu deutlich: Versucht man, den spezifischen Gegenstandsbereich und zugleich die Grenzen einer Soziologie der intellektuellen und künstlerischen Produktion kenntlich zu machen, so hat man sich vor Augen zu halten, daß das System der sozialen Bedingungen, innerhalb derer das künstlerische Schaffen sich als ein kommunikativer Akt vollzieht, genauer gesagt, daß die Position des Schaffenden (die zum Teil selbst wiederum von dem vorangegangenen Werk und dessen Resonanz abhängt) in der Struktur des kulturellen Feldes das Verhältnis zum eigenen Werk und damit das Werk selbst nicht unberührt läßt.70

6. Die Skandale als Produkte einer bewussten Strategie Zur Selbstinszenierung und -stilisierung des Autors Bernhard gehören die Skandale, die den Werdegang des Schriftstellers bis zu seinem Tod 1989 begleitet haben. Diese haben wesentlichen Einfluss auf Bernhards Aufstieg innerhalb des literarischen Feldes und tragen maßgeblich dazu bei, dass der Bekanntheitsgrad des Autors in seiner Heimat ebenso wie im Ausland signifikant zunimmt. Die öffentlich ausgetragenen Dispute um den Autor befördern die Neugier des Publikums und damit den Absatz seiner Bücher. Als Beispiel sei hier die Kontroverse um den Roman Holzfällen angeführt: Den Zahlen aus Jens Dittmars Werkgeschichte zufolge erscheinen Bernhards Romane gewöhnlich in einer Auflagenstärke von etwa 68

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Georg Jäger: Der Schriftsteller als Intellektueller. Ein Problemaufriß. In: Sven Hanuschek/Therese Hörnigk/Christine Malende (Hg.): Schriftsteller als Intellektuelle. Politik und Literatur im Kalten Krieg. Tübingen: Niemeyer 2000, S. 1–25, hier S. 15. Thomas Bernhard: Ein Kind. In: Th. B. (Anm. 47), S. 425. Pierre Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 76.

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30 000 Exemplaren – diese Rechnung trifft auf Alte Meister71 und Auslöschung72 zu, die in jeweils drei Auflagen zu je 10 000 Stück publiziert werden. Infolge der eingereichten Klage Lampersbergs gegen den Autor und der darauf folgenden Beschlagnahmung des Werkes in Österreich erreicht Holzfällen eine für Bernhard einmalige Auflagenstärke von 50 000 Exemplaren allein im Erscheinungsjahr 1984.73 Einzig mit dem Stück Heldenplatz gelingt Bernhard ein vergleichbarer Erfolg. Die Zahl von 40 000 Exemplaren74 kann angesichts der Diskussionen um die Uraufführung 1988 auch kaum verwundern. Bernhard weist in diversen Stellungnahmen darauf hin, dass Provokationen zum festen Bestandteil seiner Selbstdarstellung gehören. Seine Bemerkung »Ich schreibe, um zu provozieren«75 kann als das Credo seiner Arbeit bezeichnet werden. Gleichzeitig sollten jedoch auch die monetären Interessen hinter den heraufbeschworenen Eklats nicht unterschätzt werden. Die Angst, eines Tages nicht mehr schreiben zu können, verfolgt den Schriftsteller sein Leben lang.76 In einem seiner letzten Interviews gesteht Bernhard, wie wichtig es ihm sei, dass er »auf der Bank noch Geld« habe und »leben« könne.77 Auf Krista Fleischmanns direkte Frage, welche Rolle das Thema Geldverdienen für ihn spiele, antwortet er: »Eine große Rolle. Außerdem bin ich g’lernter Kaufmann – da wär’ ich ja irrsinnig – das macht ja jedem Menschen Spaß«.78 Mit Ausnahme von Holzfällen und Alte Meister sind es vor allem die Theatertexte, die Skandale verursachen. Der Erfolg, der seinen dramatischen Arbeiten beschieden ist, ist nicht zuletzt der kongenialen Partnerschaft mit dem Regisseur Peymann geschuldet. Dieser versteht es, eine Bernhard-Aufführung als gesellschaftspolitisches Ereignis zu inszenieren, das, wie im Falle von Heldenplatz, bereits Wochen vor der Uraufführung die Berichterstattung in den Medien beherrscht. Dass Peymanns Fähigkeit, die Neugierde des Publikums vor der Premiere durch gezielte Provokationen zu schüren, im Sinne des »g’lernten« Kaufmanns ist, betont Bernhard, wenn er auf die finanzielle Rentabilität seiner Theaterstücke eingeht: »Wenn ich Geld verdien’, sind’s nur die Stücke, oder wie man’s halt nennen will. Ich weiß nicht, ob das Stücke sind, das ist auch wurscht, es ist halt was fürs Theater, Schluß«.79 Dementsprechend legt Bernhard großen Wert auf eine professionelle Umsetzung seiner Dramen. Nur ausgewählte Bühnen wie das 71 72 73 74 75

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Jens Dittmar (Anm. 43), S. 291. Ebd., S. 305. Ebd., S. 270. Ebd., S. 330. Jean-Louis de Rambures: Ich bin kein Skandalautor. In: Sepp Dreissinger (Hg.): Von einer Katastrophe in die andere. 13 Gespräche mit Thomas Bernhard. Weitra: Bibliothek der Provinz 1992, S. 119–123, hier S. 122. Derartige Äußerungen finden sich bei Krista Fleischmann (Anm. 29), S. 66, und Kurt Hofmann (Anm. 37), S. 146: »Die Angst habe ich immer. Das verfolgt mich immer, daß ich nichts mehr schreiben und nichts mehr tun kann«. Asta Scheib: Von einer Katastrophe in die andere. In: Sepp Dreissinger (Anm. 75), S. 136– 153, hier S. 151. Krista Fleischmann (Anm. 63), S. 184f. Kurt Hofmann (Anm. 37), S. 83.

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Burgtheater oder die Salzburger Festspiele kommen für eine Aufführung in Frage, und selbst hier überlässt er nichts dem Zufall: Bernhard besteht beispielsweise darauf, vor dem eigentlichen Schreibprozess über alle relevanten Fakten der Inszenierung – Aufführungsort, Besetzung und Regisseur – Bescheid zu wissen. So schreibt Bernhard im Vorfeld zur geplanten Uraufführung von Die Macht der Gewohnheit (1974) dem Leiter der Salzburger Festspiele Josef Kaut: »Dass ich jetzt auch weiss [sic!], ich kann für das LANDESTHEATER schreiben, ist der grösste [sic!] Vorteil, den ich in der ganzen Komposition jetzt haben kann«.80 Es ist ein wesentliches Charakteristikum von Bernhards dramatischer Produktion, die Stücke explizit an die Bedingungen des Aufführungsortes anzupassen. Insofern sind bei einer Analyse von Bernhards Theaterarbeiten Aspekte wie der Aufführungszeitpunkt und das gesellschaftliche, politische und historische Umfeld der Inszenierung einzubeziehen. Als Bernhard beispielsweise 1965 von Josef Kaut den Auftrag erhält, für die Salzburger Festspiele ein Stück zu schreiben, ist seine ursprüngliche Konzeption eine »Art Anti-Jedermann, eine Tafel mit Leuten, ein Fest, aber Verkrüppelte«81 . Das Drama ist als provokanter Gegenentwurf zum parallel auf dem Domplatz gespielten Jedermann (1911) von Hugo von Hofmannsthal entworfen. Kaut ahnt, welcher Zündstoff in dem Stoff steckt, und lehnt diesen schließlich ab. Am 10. Dezember 1965 teilt er Bernhard mit: Das Stück habe ich selbst gelesen und es ist auch von zwei Dramaturgen geprüft worden, doch konnten wir uns leider nicht entschließen, es im Rahmen der Salzburger Festspiele aufzuführen und zwar allein aus dem Grunde, weil uns der Inhalt für eine sommerliche Festspielaufführung zu düster erscheint. Ich selbst finde das Stück an sich ausgezeichnet, doch haben wir bei den Festspielen gewisse Rücksichten auf die Nerven unserer empfindsamen Gäste zu nehmen.82

In den folgenden fünf Jahren überarbeitet Bernhard das Drama mehrmals, ehe es 1970 in Hamburg zur Uraufführung gelangt (Ein Fest für Boris). Die Motive des Festes und der Tafel bleiben zwar erhalten, doch ansonsten hat sich Bernhard von der Jedermann-Dramaturgie weitgehend entfernt. Nach dem Skandal von Der Ignorant und der Wahnsinnige und dem Publikumserfolg von Die Macht der Gewohnheit (1974) erhält Bernhard 1976 erneut den Auftrag, ein Stück für die Salzburger Festspiele zu schreiben. Ausgeprägter noch als in den Vorgängerarbeiten nimmt Bernhard in Die Berühmten auf den Festspielbetrieb Bezug und bedient sich der Biografien ehemaliger Festspielgrößen wie Max Reinhardt, Arturo Toscanini, Richard Tauber oder Richard Mayr. Wie schon in Ein Fest für Boris legt es Bernhard mit Die Berühmten auf einen Skandal an. Als die Festspielleitung von Bernhards Konzeption erfährt, weigert sich diese, Die Berühmten anzukündigen, solange sie den vollständigen Wortlaut nicht vorliegen hat. Bernhard fasst dies als Affront und Vertrauensbruch auf, kündigt daraufhin seinen Vertrag und bricht mit den Festspielen. Das Stück gelangt schließlich 1976 bei den Wiener Festwochen zur Uraufführung, ohne dass es Bernhard auf den neuen Aufführungsort oder die 80 81 82

Manfred Mittermayer/Sabine Veits-Falk (Anm. 2), S. 234. Ebd., S. 250. Ebd., S. 232.

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veränderten Aufführungsbedingungen hin bearbeitet hätte. In Wien können Die Berühmten weder Publikum noch Presse überzeugen. Rückblickend wird deutlich, dass es außerhalb des Festspielkontexts seine ursprünglich intendierte Wirkung nicht annähernd hat entfalten können, weshalb das Stück zur Farce verblasst und über »die Witzchen einer Stammtischrunde«83 nicht hinauskommt. Anhand der Theaterarbeiten wird einmal mehr deutlich, dass der Autor die Wirkung seiner Texte bereits im Vorfeld abschätzt. Vergleichbares zeigen seine öffentlichen Stellungnahmen in Form von Leserbriefen und Essays.

7. Essayistik als Provokation Zu Bernhards wichtigsten Essays zählt die bereits 1966 publizierte Politische Morgenandacht84 . Dabei handelt es sich um die Antwort auf eine Rundfrage der Zeitschrift Wort in der Zeit zur ›Ver-Politisierung unserer Kultur‹. Der Autor nutzt die Gelegenheit zu einem Rundumschlag gegen den österreichischen Staat und seine Bevölkerung: Unser Volk ist ein Volk ohne Vision, ohne Inspiration, ohne Charakter. Intelligenz, Phantasie sind ihm keine Begriffe. Ein Volk von Schleichhändlern und Dilettanten, zeugt es sich in jedem Augenblick in seinem alpenländischen Exklusivschwachsinn fort. Es exaltiert sich auf dem ihm verbliebenen Miniaturterritorium (einer Mischung aus Freilichtmuseum für ordinäre Weltenbummler und Irrenanstalten) in der fürchterlichsten Verkrampfung der ihm zum Selbstzweck gewordenen Mimikry. [. . .] Die Wahrheit ist, daß die Republiken mit einer Präzision, die uns noch im nachhinein zu Erfrorenen machen müßte [. . .], Österreich vor aller Welt lächerlich gemacht und zerstört haben, und daß wir in den letzten beiden Jahrzehnten z. B. von einer pervers-impotent-nazistischen Zweiparteiendiktatur, die im Parlament, dem sogenannten Hohen Haus der Republik, ihre Schmutzwäscheberge gewaschen hat, in einen noch tieferen Abgrund geführt worden sind.85

Wider Bernhards Intention verhallen seine Tiraden gegen den österreichischen Staat ungehört. Der Schriftsteller ist 1966 zwar kein Unbekannter mehr, doch hat er zu diesem Zeitpunkt noch nicht die Akzeptanz im literarischen Feld erlangt, die eine größere Aufmerksamkeit gewährleisten würde. Darüber hinaus ist das Medium Wort in der Zeit als Literaturzeitschrift nur Fachleuten ein Begriff und deshalb für das Initiieren eines weitreichenden Skandals nicht geeignet. Aus dem Scheitern der Politischen Morgenandacht zieht Bernhard die Konsequenz, seine Leserbriefe und essayistischen Stellungnahmen nicht mehr in Zeitschriften zu veröffentlichen, die nur feldspezifisch von Interessierten und Kollegen rezipiert werden, sondern in auflagenstarken Tageszeitungen und Magazinen, um dadurch eine breite Resonanz sicherzustellen.86 Bernhard weiß um die Mechanismen des 83 84 85 86

Paul Blaha: Die Perfidie des Künstlers. In: Die Weltwoche vom 16. 6. 1976. Thomas Bernhard: Politische Morgenandacht. In: Wort in der Zeit 12 (1966) 1, S. 11–13. Ebd., S. 12f. So mit dem bereits erwähnten Text »Der pensionierte Salonsozialist« in: profil vom 26. 1. 1981 oder dem Essay »Die Kleinbürger auf der Heuchelleiter« (Anm. 60), der nicht,

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Marktes. Er versteht es, die Medien für seine Zwecke – Steigerung der eigenen Bekanntheit und damit auch des Absatzes seiner Bücher – einzusetzen. Auch dieser Umstand führt dazu, dass Bernhard zu einer Ausnahmeerscheinung im literarischen Feld wird. Laut Bourdieu ist der Erfolg eines Kunstproduktes beim Publikum »auf das Zusammentreffen partiell unabhängiger Kausalreihen zurückzuführen und fast nie – und jedenfalls nie vollständig – auf ein bewußtes Streben nach Anpassung an die Erwartungen der Kundschaft oder auf die von Auftrag und Nachfrage ausgelösten Zwänge«.87 Wenn ein Werk die Zustimmung des Publikums findet, so resultiert dies aus der Homologie88 zwischen dem Habitus und dem Feld und ist nicht etwa der ›zynischen Berechnung‹ des Produzenten geschuldet. Da dem Künstler seine strategischen Motivationen selbst nicht bewusst sind, können diese »erst in der retrospektiven Analyse (re)konstruiert werden«89 . Für Bernhard gilt aber, dass der Autor die Wirkung seiner Texte sehr wohl im Vorfeld überdenkt. Zwar lässt sich im Bourdieu’schen Sinne feststellen, dass Bernhard nach seinen gescheiterten Versuchen als Avantgarde- und Heimatdichter für Außenstehende tatsächlich weitgehend unvermittelt auf seinen für ihn charakteristischen Stil ›stößt‹.90 Doch seine frühen Prosaarbeiten wie auch seine Anlehnung an Leberts Die Wolfshaut und seine ersten dramatischen Versuche belegen, dass er sich von Anfang an sehr bewusst mit den Bedingungen des Erscheinungs- beziehungsweise Aufführungsortes und damit auch mit der Erwartungshaltung der Rezipienten auseinandersetzt. Bourdieus Theorie vom kulturell Unbewussten, so muss korrigierend festgehalten werden, behält nur so lange ihre Gültigkeit, wie das literarische Feld von medialer Einflussnahme unberührt bleibt. Mit der zunehmenden Medienpräsenz im 20. Jahrhundert nimmt die Autonomie des literarischen Feldes proportional ab. Heute ist ein Aufstieg innerhalb dieses Feldes ohne die entsprechende Präsenz in Fernsehen, Zeitung und Internet nicht mehr denkbar. Bourdieu thematisiert zwar die mediale Einflussnahme auf die Autonomie eines Feldes, allerdings beschränkt er sich in seinen Ausführungen auf das intellektuelle Feld: Und das intellektuelle Feld wird immer öfter zum Ort spezifischer Putsche – dessen, was man ›Mediencoups‹ nennt –, wie die journalistischen Umfragen, die auf manipulierte Klassifizierungen abzielen oder die unzähligen Preisträgerlisten, die die Zeitschriften

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wie eigentlich vorgesehen, in einer vom Salzburger Residenz Verlag geplanten Anthologie Glückliches Österreich, sondern in der Wochenzeitung Die Zeit am 17. 2. 1978 erscheint und für reichlich Gesprächsstoff in Bernhards Heimat sorgt. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 396. Vgl. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, S. 367ff. Markus Joch/Norbert Christian Wolf: Einleitung. In: M. J./N. Chr. W. (Anm. 61), S. 1– 24, hier S. 7. Diese Zufälligkeit muss allerdings im Hinblick auf den ersten Abschnitt dieses Aufsatzes relativiert werden: Die Nähe von Frost zu Leberts Die Wolfshaut ist als signifikant zu bezeichnen, und es ist anzunehmen, dass Bernhard der Erfolg und die Aufmerksamkeit, die Lebert mit seinem Roman in den Feuilletons genießt, nicht verborgen geblieben ist.

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Michael Billenkamp anläßlich von Jahrestagen veröffentlichen usf., oder auch die regelrechten Pressekampagnen, die darauf abzielen, bestimmten Autoren, Werken, Schulen, Kredit zu verschaffen und andere in Mißkredit zu bringen. Allgemeiner gesagt, macht sich der Einfluß des Journalismus, mit seinen weltläufigen Kriterien – Lesbarkeit, Aktualität, Neuigkeitswert usf. – auf die kulturelle Produktion immer stärker geltend, namentlich mittels des Drucks, den er auf die Veröffentlichungspraxis ausübt (was dazu führt, daß die Fähigkeit, dem Produkt eine ›fernsehgerechte‹ Form zu geben, zu einem Maßstab intellektueller Kompetenz wird). [. . .] Ebenso wird ein immer bedeutenderer Teil der kulturellen Produktion in seinem Erscheinungsdatum, seinem Gegenstand, seinem Titel, seinem Format, seinem Umfang, seinem Gehalt, seinem Stil, auf die Erwartungen der Journalisten zugeschnitten, die das Produkt dadurch überhaupt erst existent machen, daß sie über es reden.91

Bourdieu klammert aus seinen Betrachtungen aus, dass nicht nur das intellektuelle Feld – und seine Beobachtungen gelten in gleichem Maße für das literarische – an Autonomie verliert, sondern dass auch der umgekehrte Fall eintreten kann: Der Intellektuelle kann die Medien mit ihren spezifischen Mechanismen der Berichterstattung ebenso für seine Zwecke instrumentalisieren. Dies impliziert jedoch, dass ein Intellektueller sehr wohl ›berechnend‹ agieren kann. Zweifellos hat in den vergangenen Jahren eine generelle Assimilierung sowohl des künstlerischen als auch des intellektuellen Feldes an die Formen medialer Präsentation stattgefunden. Bernhard ist auf diesem Gebiet als Vorläufer und wichtiger Wegbereiter zu bezeichnen: Er beginnt früh, die mediale Berichterstattung für die eigenen Zwecke zu nutzen – erinnert sei hier an seine Versuche, durch seine Reportagen für das Demokratische Volksblatt das Werk seines Großvaters in das Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken.92 Vor diesem Hintergrund muss Bernhards Intention in Bezug auf seine Autobiografie differenziert werden. Mit seiner Pentalogie liefert Bernhard nicht nur eine Anleitung dafür, wie die Prosa in seinem Sinne zu lesen und zu interpretieren ist, sondern er beeinflusst damit auch das Bild, das von seiner Person in der Öffentlichkeit kursiert. Bernhard inszeniert sich als Außenseiter und Ausgestoßener, als Individualist und intellektueller Autodidakt, der sich zeitlebens erbittert gegen jegliche staatliche und institutionelle Einflussnahme verwahrt hat. Dieses Bild bekräftigt der Autor in seiner Autobiografie, in seinen Prosa- und Theatertexten und in seinen öffentlichen Äußerungen. Er gefällt sich in der Rolle des Einzelkämpfers und beansprucht diesen Part im literarischen Feld exklusiv für sich. Mit seinen Stellungnahmen sucht Bernhard weder den Dialog noch den kritischen Diskurs, sondern die Provokation und fordert damit den Widerspruch der Öffentlichkeit heraus. Die frappante Übereinstimmung von Bernhards Selbstdarstellung als Schriftsteller und den Protagonisten seiner Prosa findet in der Gleichsetzung von Autor und Werk in der öffentlichen Wahrnehmung ihren Niederschlag. 91 92

Pierre Bourdieu: Die Intellektuellen und die Macht. Hamburg: VSA 1991, S. 56f. Vgl. Bernhards Berichte: Vor eines Dichters Grab. In: Salzburger Volksblatt vom 12. 7. 1950; Friedrich Friedel – Ein vergessener Salzburger Dichter. In: Demokratisches Volksblatt vom 30. 1. 1952; Hochsommerliches Henndorf. In: Demokratisches Volksblatt vom 9. 7. 1952; Von Wirtshäusern, Wiesen und Feldern. In: Demokratisches Volksblatt vom 22. 7. 1953.

Provokation und posture

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Jérôme Meizoz führt in seinem Aufsatz über den Rollencharakter in der medialen Selbstdarstellung93 den Begriff »posture«94 ein. Dabei handelt es sich um eine persönliche Art, eine Rolle oder einen Status anzunehmen bzw. innezuhaben: ein Autor erspielt oder erstreitet seine Position im literarischen Feld über verschiedene Modi der Darstellung seiner selbst und seiner postures.95

Der Begriff der ›posture‹ schließt laut Meizoz zwei voneinander untrennbare Dimensionen ein: Erstens eine nicht-diskursive, die die Gesamtheit der non-verbalen Verhaltensweisen im Rahmen der Selbstpräsentation umfasst (Kleidung, Gebaren etc.), und zweitens eine diskursive Dimension, die des diskursiven Ethos.96

Wie kaum ein anderer Autor versteht es Bernhard – im Sinne seiner postures – seine Person in seine Werke einzuschreiben und sich gleichzeitig von allen seinen Figuren zu distanzieren. Dies gilt in gleichem Maße für seine fiktiven wie auch autobiografischen Texte. Die Parallelen zwischen Autor und Figuren sind regelmäßig Teil der öffentlichen Debatten und führen zu einer hohen Medienpräsenz des Autors, die sich wiederum positiv auf Bernhards Erfolg auf dem literarischen Markt auswirkt. Mehrfach korrigiert Bernhard seine künstlerische Auffassung: Zunächst bemüht er sich, das Andenken an Freumbichler zu bewahren; dann versucht er, sich in einem restaurativen Umfeld als konservativer Heimatdichter und schließlich als Avantgardekünstler zu etablieren, ehe er sich mit Frost als Autor durchsetzen kann. Parallel zu Bernhards künstlerischer Entwicklung verläuft sein Aufstieg zum autonomen Künstler innerhalb des Feldes. Dieser steht in unmittelbaren Zusammenhang mit seiner Selbstpositionierung als Provokateur: Bernhard kreiert in seinen Werken von sich das Bild eines eigensinnigen und kritischen Dichters, ein Bild, das er in seinen Leserbriefen und Interviews bekräftigt. Mit Beginn des autobiografischen Projekts Mitte der 70er Jahre, das hat dieser Aufsatz gezeigt, verschwimmt die Grenze zwischen fiktivem und autobiografischem Ich bis zur Unkenntlichkeit, was sich auch auf die Rezeption seiner Prosa auswirkt: In Bernhards Spätwerk, das belegen die Skandale zu Holzfällen, Alte Meister und Heldenplatz, wird jede Aussage seiner Figuren zu einer persönlichen Stellungnahme des Autors simplifiziert. Bernhard hat durch sein Schreiben einen ›fiktiven Bernhard‹ erschaffen, der in der Öffentlichkeit zumeist mit dem realen gleichgesetzt worden ist, tatsächlich aber das Produkt einer forcierten und erfolgreichen Selbstinszenierung ist. Bernhards Strategien der Selbstinszenierung und -positionierung haben sich, das zeigt das Beispiel Elfriede Jelinek, als bahnbrechend erwiesen.97

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Jérôme Meizoz: Die posture und das literarische Feld. In: Markus Joch/Norbert Christian Wolf (Anm. 61), S. 177–188. Der Begriff ließe sich mit ›Pose‹, ›Haltung‹, ›Rolle‹ oder ›Selbstdarstellung‹ ins Deutsche übersetzen. Jérôme Meizoz (Anm. 93), S. 177. Ebd., S. 178. Der Verfasser dankt dem Herausgebergremium für Anregungen und Hinweise.

Norbert Christian Wolf (Berlin/Salzburg)

Autonomie und/oder Aufmerksamkeit? Am Beispiel der medialen Erregungen um Peter Handke, mit einem Seitenblick auf Marcel Reich-Ranicki

Die folgenden Überlegungen beschränken sich darauf, die Relevanz der Frage nach Autonomie und Aufmerksamkeit in der Gegenwartsliteratur am Beispiel eines Großmeisters der Beachtungsökonomie zu veranschaulichen, dessen Fall im Frühjahr/Sommer 2006 anlässlich der Zuerkennung, öffentlichen Infragestellung und schließlichen Ablehnung des Heinrich-Heine-Preises wieder einmal leidenschaftlich diskutiert worden ist. Der schriftstellerische Werdegang Peter Handkes scheint die These Georg Francks zu bestätigen, »daß der Kulturbetrieb als ganzer in das Spannungsfeld zwischen den Massenmedien und dem Finanzwesen der Beachtlichkeit gerät«1 . Dies habe für ›ernsthafte‹ Kunstschaffende, die auf Autonomie pochen, eine fatale Konsequenz: »Mit dem Festhalten an den rigorosen Maßstäben vertut man die Chance, an der Mengenexpansion der zahlenden Aufmerksamkeit zu partizipieren. Das Risiko, auf das man sich einläßt, ist die Existenz am unbedeutenden Rand des Geschehens.«2 Angesichts dieser recht abgebrüht daherkommenden Behauptung stellt sich die Frage, ob Aufmerksamkeitsgewinne notwendig mit einem Verlust an künstlerischer Autonomie erkauft werden bzw. ob Letztere in der postmodernen Mediengesellschaft gänzlich obsolet geworden ist, wie in den vergangenen Jahren nicht nur Franck suggeriert hat. Gerade die erbitterten Debatten um die Preiswürdigkeit Handkes bzw. um die Qualität seines literarischen und essayistischen Œuvres insgesamt zeigen indes, dass die Auseinandersetzung um künstlerische Autonomie und ethisch-politische Verantwortlichkeit sowie um Verweigerungs- oder Unterwerfungsgesten gegenüber der herrschenden Doxa des journalistischen und des Machtfeldes nach wie vor einen zentralen Stellenwert in der medialen Aufmerksamkeitsökonomie beanspruchen kann. Einschlägig ist der Streit um Handkes ästhetische und politische Stellungnahmen zu den jüngeren Balkankriegen aber auch insofern, als es sich hier um einen besonders eindringlichen Fall ästhetischer und intermedialer Grenzüberschreitung – und somit einer avancierten künstlerischen Medialisierungsstrategie – handelt.

1. Der seit 1972 verliehene Düsseldorfer Heine-Preis, dessen Ausstattung 2006 auf 50 000 Euro angehoben wurde, zählt zu den renommiertesten Konsekrationsin1

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Georg Franck: Mentaler Kapitalismus. Eine politische Ökonomie des Geistes. München, Wien: Carl Hanser 2005, S. 163. Ebd., S. 164.

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Norbert Christian Wolf

stanzen des deutschsprachigen literarischen Feldes.3 Die am 20. Mai 2006 mit Zweidrittelmehrheit gefallene Entscheidung der Preisjury zugunsten des längst konsekrierten Handke bedeutete eine neuerliche symbolische Weihe des spätestens seit seinen Streitschriften zum Balkankrieg extrem umstrittenen Autors. Die negativen Reaktionen ließen erwartungsgemäß nicht lange auf sich warten. So erklärte Hubert Spiegel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wenig überraschend, die Entscheidung, Peter Handke auszuzeichnen, falle »nicht nur aus dem Rahmen des Üblichen«, sondern sei »unerhört«.4 Ebenfalls in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wurde folgendes Urteil des Kritikerpapstes Marcel Reich-Ranicki kolportiert, der sich schon seit Beginn der Karriere des österreichischen Schriftstellers als dessen vielleicht vehementester Gegner profiliert hat: »Die Auszeichnung Peter Handkes mit dem Heine-Preis ist eine empörende Beleidigung und Verhöhnung des Dichters Heine«.5 Warum der selbst keineswegs zimperliche Heine durch eine Ehrung Handkes verhöhnt und beleidigt sein sollte, blieb freilich im Dunkeln. Genauer betrachtet, sprach Reich-Ranicki mit diesen Worten wohl weniger im Namen Heines, sondern allererst im eigenen Namen, wie noch auszuführen sein wird. Bezeichnend sind aber nicht nur die harschen Urteile, sondern auch die Einsätze und Argumente in der medialen Debatte um den österreichischen Autor. So hat der Filmemacher Wim Wenders in seiner Verteidigung Handkes dessen »höchst persönliche, höchst gefühlte« Einmischung zum Stein des Anstoßes erklärt,6 also mit der programmatischen Subjektivität des Autors eine genuine Errungenschaft der autonomen westlichen Kunst. Die Schriftstellerin Marlene Streeruwitz ließ ebenfalls mit Blick auf die Autonomieproblematik verlautbaren, eine Aberkennung der Düsseldorfer Auszeichnung weise den »Weg zu Zensur und Unfreiheit«,7 ja bedeute gar »das Ende der Aufklärung« und »das Ende der Kunst, wie wir sie kennen«8 – ganz so, als ob Aufklärung und Kunst nicht schon zigmal öffentlichkeitswirksam zu Grabe getragen worden wären. Weshalb also die Aufregung, wenn die Autonomie der Kunst keine Frage mehr ist, über die sich die Gemüter erhitzen, wie manche postmoderne Theoretiker zu behaupten nicht müde werden? 3

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Vgl. die damalige Pressemitteilung der Landeshauptstadt Düsseldorf: »Der Heine-Preis zählt zu den bedeutendsten Literatur- und Persönlichkeitspreisen in Deutschland. Er wird seit 1972 verliehen, war bislang mit 25 000 Euro dotiert und wurde ab 2006 auf 50 000 Euro angehoben. Zusammen mit dem Goethe-Preis der Stadt Frankfurt und dem Joseph-Breitbach-Preis (Mainz) hält er mit dieser finanziellen Ausstattung den Spitzenplatz im deutschsprachigen Raum.« (http://www.duesseldorf.de/top/thema010/ kultur/beitraege/heinepreis, 6. 6. 2006.) Hubert Spiegel: Preis für Peter Handke. Heine wird verhöhnt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. 5. 2006. Ebd. Wim Wenders: Ein Urteil auf der Grundlage von Hörensagen. Über den Autor Peter Handke richten auch Menschen, die nicht ein einziges seiner Bücher gelesen haben. In: Süddeutsche Zeitung vom 2. 6. 2006. Vgl. Ulrich Weinzierl: Epigonen und Mitläufer. Österreich erregt sich über das Düsseldorfer Gezerre um den Heinrich-Heine Preis. In: Die Welt vom 1. 6. 2006. [SZ-Redaktion:] Handke-Debatte. Kulturausschuss empfiehlt Denkpause. In: Süddeutsche Zeitung vom 2. 6. 2006.

Autonomie und/oder Aufmerksamkeit?

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Das Gegenteil ist ganz offensichtlich der Fall: So urteilt der serbische Autor Bora Cosic, Handke habe kein Recht, den Heine-Preis zu erhalten, »weil er zu einem Gewicht auf der Waage von Interessen« geworden sei, »die sehr wenig mit der Sache der Literatur zu tun« haben.9 In diametralem Gegensatz dazu ist für die Literaturkritikerin Sigrid Löffler »das Düsseldorfer Hysterienspiel nicht bloß ein Dada-Spektakel, dargeboten von den ausgewiesenen Literaturkennern im Stadtrat und in der Landesregierung und verstärkt durch den Chor so prominenter Handke-Exegeten wie Jürgen Rüttgers oder Fritz Kuhn; die Skandalisierung Handkes scheint vielmehr ein willkommener Anlass gewesen zu sein, um intern politische Rechnungen unter alten Feinden zu begleichen«.10 Mit anderen Worten: Während Cosic meint, Handke selbst habe seine künstlerische Autonomie durch seine politischen Stellungnahmen verspielt, ordnen Löffler zufolge erst seine Gegner die Kriterien und Konfliktlinien des politischen Feldes denen der Literatur über und verstoßen somit auf eklatante Weise gegen den künstlerischen Anspruch auf Autonomie, könne es doch »nicht bestritten werden«, dass Handke »einer der bedeutendsten Autoren der Gegenwart« sei und allein deshalb den Heine-Preis wie kaum ein anderer »verdient hätte«.11 Es fällt jedenfalls auf, dass sich sowohl Gegner wie Verteidiger des Autors auf das lange Zeit totgesagte Postulat künstlerischer Autonomie berufen. Am Ausgangspunkt all dieser Debatten stand just ein medienkritischer Text, der in seiner Verfahrensweise – und auch in seiner Einseitigkeit – durchaus in die Tradition eines Karl Kraus gestellt werden kann:12 Handke wollte in seinem ersten und zentralen Serbien-Essay, der Winterlichen Reise, freilich keine »von der ersten Realität absehende Medienkritik«13 formulieren, sondern wandte sich gegen die nivellierten »Meldungen und Meinungen« der Massenmedien und klagte eine 9

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Bora Cosic: Heinrich Handke. Warum dem Dichter Peter Handke der Heine-Preis nicht zusteht. In: Der Tagesspiegel vom 3. 6. 2006. Sigrid Löffler/Jean-Pierre Lefèbvre: Warum wir aus der Jury des Heinrich-Heine-Preises austreten. In: Süddeutsche Zeitung vom 2. 6. 2006. Ebd. Vgl. dazu den Beitrag von Karl Wagner im vorliegenden Band, daneben den sehr informativen Aufsatz von Ulrich Breuer: Parasitenfragen. Medienkritische Argumente in Peter Handkes Serbienreise. In: U. B./Jarmo Korhonen (Hg.): Mediensprache Medienkritik. (Finnische Beiträge zur Germanistik 4) Frankfurt am Main, Berlin, Bern u. a.: Peter Lang 2001, S. 285–303; dort weitere Literaturhinweise sowie eine Kritik der bis dahin erschienenen Forschungsbeiträge. Unter den zahlreichen wissenschaftlichen Artikeln zu Handkes Serbien-Texten seien ferner erwähnt: Matthias Schöning: Ist der Autor kein Medium? Medienkritik und Serbienengagement Peter Handkes. In: Juni. Magazin für Literatur und Politik 32 (2000), S. 159–169; Arno Dusini: Noch einmal für Handke. Vom Krieg, von den Worten, vom Efeu. In: Klaus Amann/Fabjan Hafner/Karl Wagner (Hg.): Peter Handke. Poesie der Ränder. Mit einer Rede Handkes. (Literaturgeschichte in Studien und Quellen 11) Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2006, S. 81–97; Susanne Düwell: Der Skandal um Peter Handkes ästhetische Inszenierung von Serbien. In: Stefan Neuhaus/ Johann Holzner (Hg.): Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 577–587. Peter Handke: Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien. Frankfurt am Main: Suhrkamp 31996, S. 29.

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authentische »Augenzeugenschaft« ein.14 Er untersuchte das intrikate Verhältnis von Bildern und Legenden15 und kam zum Ergebnis, der gängige mediale »Blickoder Berichtswinkel« setze die dargestellte Realität »in eine Pose«.16 Dieser medial erzeugten ›Pose‹ stellte er freilich eine andere, eine literarisch inszenierte Pose entgegen, die in ihrer hochgradig artifiziellen Motivauswahl und Motivgestaltung nicht zuletzt auf die ästhetisierte Bilderwelt des Kinos zurückgriff, insbesondere auf Emir Kusturicas vieldiskutierten Autorenfilm Underground.17 Insistierend und irritierend berief sich Handke allein auf seine subjektive »Sprach- und Bildempfindlichkeit«,18 die sich bei genauerer Betrachtung indes als mehrfach intermedial codiert erweist: So suggerierte er eine genetische Abhängigkeit der »üblichen Zeichnung des Radovan Karadži´c« von »›Dr. Strangelove‹ (oder Dr. Seltsam)« aus Stanley Kubricks gleichnamigem Film.19 Er unterstellte den attackierten Medien somit ein intermediales Verfahren, das seinerseits nicht nur seine eigene ästhetisierende Darstellung des serbischen Alltags während des EU-Boykotts, sondern auch Handkes literarische Texte auf charakteristische Weise prägt – man denke nur an seinen Versuch über die Jukebox20 , an die Rolle der Filme von John Ford im Erzähltext Der kurze Brief zum langen Abschied21 oder eines Jimmy-Reed-Songs in Die linkshändige Frau22 , um recht willkürlich ein paar Beispiele zu nennen. Am erzählerischen und essayistischen Werk Handkes lässt sich zeigen, inwiefern spezifische Formen von intermedialer Grenzüberschreitung insbesondere zu populären Genres als Einsatz in feldinternen und feldübergreifenden Auseinandersetzungen fungieren können und dem mit ihnen operierenden Autor zugleich einen enormen Aufmerksamkeitsgewinn verschaffen, sind die angespielten Werke doch von recht allgemeiner Prominenz. Darüber hinaus erweist sich Handkes Behauptung einer voraussetzungslosen ästhetischen Erfahrung der serbischen Alltagswelt unter weitgehender Ausblendung der spezifischen sozialen und politischen Zwänge unter dem Miloševi´c-Regime als Radikalisierung einer ästhetischen Distinktionsstrategie, die mit sämtlichen gesellschaftlichen Übereinkünften zu brechen sucht und auch den Bereich der Politik allein unter genuin ästhetischen Gesichtspunkten zu fassen bereit ist. Als Gründe für die von Handkes Serbien-Texten ausgehende Irritation und in der Folge für die durch sie erregte enorme mediale Aufmerksamkeit sind darüber hinaus wohl zum einen die aus der skizzierten Ästhetisierungsstrategie resultierende, offen zur Schau getragene Einseitigkeit und Radikalität zu nennen. Handke spricht etwa unverblümt von den »Tendenzkartätschen« und »Haßleitartikler[n]« 14 15 16 17 18 19 20 21

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Ebd., S. 13. Vgl. ebd., S. 39. Ebd., S. 41. Ebd., S. 24. Ebd., S. 43. Ebd., S. 44. Vgl. Peter Handke: Versuch über die Jukebox. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990. Vgl. Peter Handke: Der kurze Brief zum langen Abschied. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972, S. 186–195. Vgl. Peter Handke: Die linkshändige Frau. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, S. 101f.

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der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.23 Ungeachtet der damit vertretenen heterodoxen politischen Position scheint solche Ausdrucksweise kaum dazu angetan, Sympathien unter den so bezeichneten Journalisten zu gewinnen; sie erzwingt vielmehr geradezu deren empörte öffentliche Gegenreaktion. Zum anderen spielt Handkes geschickte Publikationsstrategie für die ihm entgegengebrachte Beachtung eine entscheidende Rolle: Die Winterliche Reise erschien zuerst Anfang 1996 in zwei Wochenendbeilagen der Süddeutschen Zeitung,24 also in dem deutschen Qualitätsblatt, das die höchste Auflage erzielt und zugleich die wichtigste Konkurrenz zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung darstellt, und nur wenige Monate später, als die Wogen noch nicht geglättet waren, in Form einer eigenständigen Buchveröffentlichung im renommierten Suhrkamp Verlag. Eine solche Publikationspraxis lässt sich wohl als optimale Verwertung bezeichnen. Zuletzt spielt auch Handkes charakteristische schriftstellerische »Doppelstrategie« eine Rolle, wie Gregor Dotzauer im Berliner Tagesspiegel missbilligend bemerkt hat: »Handke posiert als Dichter und Seher, zugleich agiert er als Journalist, der Reportern und politischen Kommentatoren die Leviten liest« – »[b]eide Rollen zusammen« seien aber »nicht zu haben«, ja die »Rückverwandlung« einer durchaus berechtigten poetischen Wahrheit »in medientaugliche Pointen« sei »der größte Skandal dieser Tage«.25 Bezeichnend an diesem harschen Urteil ist die Verstimmung über Handkes offensichtliches Ansinnen, den auch von Pierre Bourdieu diagnostizierten26 wachsenden Einfluss des journalistischen Feldes auf andere, vordem autonomere Felder kultureller Produktion zu konterkarieren – einen Einfluss, der bisweilen Züge einer regelrechten Hegemonie annimmt: Handke geht es in seinen prekären Serbien-Texten offenbar auch darum, der Funktionsweise des immer stärker ausschließlich den Anforderungen eines homogenisierenden Massenmarktes unterworfenen journalistischen Feldes ein konträres künstlerisches Kalkül entgegenzusetzen, das auf Autonomie pocht, nachdem in den Massenmedien wie dem Fernsehen die zunehmende Konkurrenz »keineswegs automatisch Originalität und Abwechslung hervorbringt«, wie von neoliberalen Ideologen gern suggeriert wird, sondern im Gegenteil »oft zur Uniformisierung des Angebots« führt.27

2. Eine unabdingbare Voraussetzung für die enorme Wirkmächtigkeit der Handke’schen Serbien-Texte ist der bereits seit geraumer Zeit bestehende hohe Bekannt23 24

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Peter Handke (Anm. 13), S. 15 und 33. Peter Handke: Gerechtigkeit für Serbien. Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina. In: Süddeutsche Zeitung vom 5./6./7. 1. und vom 13./ 14. 1. 1996. Gregor Dotzauer: Balkan, Babel, Babbel. Eine Freundschaftserklärung. In: Der Tagesspiegel vom 31. 5. 2006. Vgl. Pierre Bourdieu: Über das Fernsehen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 103. Ebd., S. 111.

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heitsgrad dieses Autors bzw. seine frühzeitige und dauerhafte Kanonisierung. Ziemlich genau vierzig Jahre vor der Debatte um den Heine-Preis hat der gerade dreiundzwanzigjährige und noch völlig unbekannte Handke sein fulminantes Entrée in das deutschsprachige literarische Feld weniger mit seinem Anfang März 1966 erschienenen, anspruchsvollen Romanerstling Die Hornissen bewirkt, sondern vor allem mit seinem publicityträchtigen Auftritt auf einer Tagung der Gruppe 47 im April 1966 in Princeton, wohin der Suhrkamp Verlag seinen damals jüngsten Autor eingeladen hatte. Über den ›zornigen Literatur-Beatle‹, der die vorausgehende Generation von Schriftstellern mit einem Schlag und im doppelten Wortsinn alt aussehen ließ, berichteten plötzlich alle Gazetten. Der durchschlagende Erfolg von Handkes Selbstinszenierung, mit der er die eingespielten Rituale der ›etablierten Avantgarde‹28 regelrecht auf den Kopf und damit als selbstherrlich bloßstellte,29 wurde noch im Juni 1966 durch die skandalumwitterte Uraufführung des Theaterstücks Publikumsbeschimpfung im Frankfurter Theater am Turm gefestigt. Dessen ungeachtet scheint die Persistenz von Handkes Kanonisierung kaum auf seinen geschickten Umgang mit den Massenmedien, sondern auf die literarische Qualität seiner Texte (im Sinne ihres Bezugsund Aspektreichtums, ihrer Formbewusstheit sowie ihrer vielseitigen Auslegbarkeit) zurückführbar zu sein, handelt es sich bei Longsellern wie den seinen doch allererst um eine Domäne der universitären Kritik, nicht des Tagesjournalismus. In Princeton hatte Handke freilich nicht allein die »läppische Beschreibungsliteratur« der älteren Generation attackiert,30 sondern auch die journalistische Literaturkritik selbst, der er ein überholtes begriffliches Instrumentarium und defizitäres ästhetisches Sensorium vorhielt,31 was wohl nicht zuletzt auf Marcel Reich-Ra28

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Vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 256f. und bes. S. 346f. Vgl. dazu noch 1984 Peter Handke: Einwenden und Hochhalten. Rede auf Gustav Januš. In: P. H.: Langsam im Schatten. Gesammelte Verzettelungen 1980–1992. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 125–135, hier S. 128: »Die so oft nostalgisch heraufbeschworene, selige Gruppe 47 [. . .] war vielmehr ein unseliges Übel, in dem die Literatur beschnitten wurde zu einem Flachding aus Meinung, Trend, Jargon und Sprachpolizei; für immer wird unverzeihlich bleiben, daß der deutsche Epiker Hermann Lenz und der deutsche Lyriker Ernst Meister – für mich ebenbürtig der Ingeborg Bachmann und dem Paul Celan – von den Ausschließungs- oder Einlaßverwehrungsriten jener sitzriesigen Kleinbürger, aus denen sich die Gruppe vor allem rekrutierte, um das Gelesenwerden, um jede Antwort, um ihr Recht betrogen worden sind. Und betrogen worden sind auch wir, die Leser. Dafür wird es nie eine Lossprechung geben.« So die Formulierung in [Erich Kuby:] Ach ja, da liest ja einer. SPIEGEL-Reporter Erich Kuby mit der »Gruppe 47« in Amerika. In: Der Spiegel (1966) 19, S. 154–165, hier S. 162. Vgl. die Wiedergabe in: Peter Handkes »Auftritt« in Princeton und Hans Mayers Entgegnung. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Peter Handke. (Text + Kritik 24) München: Edition Text + Kritik 51989, S. 17–20, hier S. 18. Dazu Christel Terhorst: Peter Handke: Die Entstehung literarischen Ruhms. Die Bedeutung der literarischen Tageskritik für die Rezeption des frühen Peter Handke. (Europäische Hochschulschriften, Reihe 1, 1206) Frankfurt am Main, Bern, New York, Paris: Peter Lang 1990, S. 11f.; Otto Lorenz: Die Öffentlichkeit der Literatur. Fallstudien zu Produktionskontexten und Publikationsstra-

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nicki gemünzt war. Der sich davon ebenfalls angesprochen fühlende Spiegel-Korrespondent Erich Kuby, ein idealtypischer Vertreter seiner Zunft, interessierte sich in seinem Tagungsbericht – kaum überraschend – allerdings weniger für die sachliche Triftigkeit dieses Protests, sondern vor allem für das äußere Erscheinungsbild des Protestierenden.32 Er schrieb damit ein ganz bestimmtes, an der damaligen Popkultur ausgerichtetes Handke-Image auf Jahre hin fest.33 Ich zitiere aus Kubys Beobachtungen zur Tagung der ›47er‹, in denen nach dem damals etablierten Muster kulturkonservativer Popkritik und auf recht handfest launige Weise die angeblich aus der ›natürlichen‹ Ordnung der Dinge geratene Geschlechtlichkeit des pilzköpfigen Jungautors zum Aufhänger gemacht wird: [M]it dem Nachwuchs haben die Väter Schwierigkeiten. 1966 scheinen sie nur ein Kind zur Welt gebracht zu haben, einen Jungen, der aber ein Mädchen ist. Es heißt Peter Handke [. . .]. Dieser Mädchenjunge Peter mit seinen zierlich über die Ohren gekämmten Haaren, mit seinem blauen Schirmmützchen, fast ist man versucht zu sagen: mit seinem blauen Schirmmätzchen, seinen engen Höschen, seinem sanften Osterei-Gesicht, er verletzt schließlich entschlossen Gesetz Nummer 5, indem er plötzlich zu einem fundamentalen Angriff auf alles ansetzt, was er seit Tagen gehört hat. [. . .] Seine Aufmachung ist Reklame. In drei Tagen stiehlt er mit seinem blauen Mützchen allen die Schau. Die endlich am vierten Tag zugelassenen Photographen bemächtigen sich vorwiegend seiner. Darauf aufmerksam gemacht von Richter, er werde ja nun wohl in den SPIEGEL kommen, denn der SPIEGEL könne doch nur über Ereignishaftes schreiben, antwortet die sanfte Haubenlerche: ›Das weiß ich und das will ich ja.‹ Nun denn!34

Der Wille, ›für seinen Bekanntheitsgrad bekannt‹ zu werden, um mit Georg Franck zu sprechen,35 wird hier Handke selbst in den Mund gelegt – eine denunziatorische Taktik, die schnell topisch werden sollte, wie fünf Monate später ein satirischapologetischer Zeitungsartikel von Günter Grass über Handke und die Ereignisse in Princeton zeigt, der das Anliegen des jungen Kollegen darauf reduziert, mit seiner Wortmeldung »erstmals seinen Namen in die Gazetten gebracht« zu haben.36

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tegien: Wolfgang Koeppen – Peter Handke – Horst-Eberhard Richter. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 66) Tübingen: Niemeyer 1998, S. 168–173. Vgl. Christel Terhorst (Anm. 31), S. 13. Vgl. ebd. [Erich Kuby] (Anm. 30), S. 162–164. Vgl. Georg Franck (Anm. 1), S. 80. Günter Grass: Bitte um bessere Feinde. In: 8-Uhr-Abendzeitung [München] vom 1./ 2. 10. 1966; der mir nicht vorliegende Text wird zitiert nach Christel Terhorst (Anm. 31), S. 17. Die angeführte Formulierung findet sich nicht in folgender Fassung: Günter Grass: Freundliche Bitte um bessere Feinde. Offener Brief. In: Stuttgarter Zeitung vom 20. 9. 1966; wieder abgedruckt in: Sprache im technischen Zeitalter (Oktober 1966), S. 318–320, hier zitiert nach G. G.: Werkausgabe. Hg. von Volker Neuhaus und Daniela Hermes. Göttingen 1997–2002. Bd. 15: Essays und Reden I. 1955–1969. Göttingen: Steidl 1997, S. 175–177. Stattdessen heißt es dort an die Adresse des jungen Handke, »dem die Kühnheit gratis mitgegeben worden« sei, in einer ironischen Anrede: »[E]s war nicht Ihr Ehrgeiz, ›Aufhänger‹ rasch geschriebener Artikel zu werden, vielmehr befanden Sie sich konstant auf der Flucht vor Journalisten. Jedes Interview lehnten Sie standhaft ab. Bescheiden wollten Sie hinter Ihrer Leistung zurückstehen.« (S. 176f.) Entkleidet man diese Worte ihres ironischen Untertons, dann erhält man die von Grass hochgehaltene

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Handke wiederum hat die Kuby’sche Insinuation, es von vornherein allein auf die Beachtung durch den Spiegel angelegt zu haben, zunächst mit einem Leserbrief beantwortet, der nicht zuletzt durch seine Frechheit und seinen Sarkasmus bestens dazu angetan war, weitere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen: Schon von klein auf ist es mein Wunsch gewesen, in Ihrem Magazin zu erscheinen. Es erschien mir eines der erstrebenswertesten Ziele für einen Schriftsteller [!], im SPIEGEL erwähnt zu werden. Von diesem Wunsch getrieben, habe ich mich auch bei der Tagung der Gruppe 47 zu Wort gemeldet und konnte, noch während ich sprach, zu meiner Freude bemerken, daß Herr Erich Kuby, der Vertreter Ihres Magazins, von meinen Worten Notiz nahm. Jetzt war alles gewonnen. Ich machte noch einige starke Bemerkungen, um ganz sicherzugehen. Aus dem Bericht des Herrn Kuby über die Tagung der Gruppe 47 entnehme ich, daß meine List gewirkt hat. Ich danke Ihnen sehr herzlich und hoffe, daß sich bald wieder die Gelegenheit ergeben wird, über mich in ihrem Organ zu berichten.37

In seiner ›ernsthafteren‹ Antwort an den damals schon etablierten Schriftstellerkollegen Grass setzte er sich allerdings gegen den Vorwurf, es allein auf Publicity abgesehen zu haben, entschieden zur Wehr: »Sie tun so, als hätte ich mich überhaupt aus Reklamegründen zu Wort gemeldet, und wissen doch, daß es eine Augenblickshandlung war, die dann, aus Mangel an Differenzierung der Kritiker, der Beurteilung meiner Arbeit geschadet hat.«38 Tatsächlich wurde die ›Affäre von Princeton‹ bis weit in die siebziger Jahre hinein immer wieder als denunziatorischer Aufhänger für Besprechungen von Handke-Büchern herangezogen39 und anlässlich der Polemiken um sein Serbien-Engagement von der maliziösen Kritik um 2000 wieder genüsslich exhumiert. Daran lässt sich ablesen, dass im literarischen Feld, in dem die Zubilligung moralischer Aufrichtigkeit und ökonomischer Interesselosigkeit als wichtige Erscheinungsformen symbolischen Kapitals gelten, skandalumwitterte Aufmerksamkeitsgewinne stets auch gewisse symbolische Nachteile mit sich bringen, wie 17 Jahre nach Princeton auch Rainald Goetz im Gefolge seines Klagenfurter Auftritts erfahren musste.40 Es handelt sich hier um eine komplexe Dialektik von Gewinn und Verlust, die sich kaum allein mit dem plakativen Aufmerksamkeitsmodell Georg Francks, sondern nur unter Rekurs auf die von Bourdieu geforderte, umsichtige Relationierung der niemals statischen Kapitalmischung adäquat beschreiben lässt.41 Deutlich wird zudem, dass symbolisches Kapital im Sinne von Anerkennung sowohl aus kulturellem als auch aus ökonomischem Kapital konvertiert werden kann, so dass schriftstellerischer Erfolg

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Ethik einer um mediale Aufmerksamkeit vollkommen unbekümmerten, ›reinen‹ Künstlerposition, der er selbst wohl nur recht partiell entsprochen hat. Peter Handke: Pantoffeln. In: Der Spiegel (1966) 22, S. 11–12, hier S. 11. Peter Handke: Bitte kein Pathos! In: 8-Uhr-Abendzeitung [München] vom 22./23. 10. 1966; zit. nach Christel Terhorst (Anm. 31), S. 18. Vgl. ebd. Vgl. dazu den Beitrag von Thomas Wegmann im vorliegenden Band. Vgl. Pierre Bourdieu: Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital – Soziales Kapital. In: P. B.: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Schriften zu Politik & Kultur 1. Hg. von Margareta Steinrücke. Hamburg: VSA 1992, S. 49–79, hier S. 70ff.

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per se keineswegs einer autonomen Position im literarischen Feld widersprechen muss. Handkes 1966 – zwei Jahre vor 1968! – auf viele jüngere Beobachter wohl erfrischend wirkende Unverfrorenheit gegenüber maßgeblichen Instanzen des literarischen und journalistischen Feldes bewährte sich auch im Jahr der Revolte selbst, als er in seinem kritischen Essay Marcel Reich-Ranicki und die Natürlichkeit (1968) den Spieß einmal umdrehte, indem er den amtierenden deutschen Literaturpapst als »Sprecher der ordentlichen Durchschnittsmenschen« abqualifizierte und ihn mit den Worten diskreditierte, er sei »der unwichtigste, am wenigsten anregende, dabei am meisten selbstgerechte deutsche Literaturkritiker seit langem«.42 Der junge Handke buhlte nicht um die Gunst der personifizierten Konsekrationsinstanz, sondern attackierte sie im Gegenteil frontal mit der ›reinen‹ Autorität des jungen und avantgardistischen Dichters. Er konnte dabei mit dem stillen Einverständnis zahlreicher vorsichtigerer Kollegen und Kolleginnen rechnen und bezog aus diesem Umstand wie auch aufgrund der medialen Prominenz seines Gegners einen wohl weitaus größeren Aufmerksamkeitsgewinn als durch servile Annäherungsversuche, womit er auch seine autonome Position im Feld festigte. Jenseits der Polemik – und das sei hier nicht unterschlagen – besticht Handkes metakritische Diagnose durch ihr sprachliches und intellektuelles Niveau sowie durch ein literaturtheoretisches Problembewusstsein,43 das man in Reich-Ranickis Rezensionen vergeblich suchen wird. Der attackierte Kritiker freilich, in eine ungewohnte Defensive gebracht, konnte sich durch Verrisse rächen, in denen er – weiterhin ganz der alten Tradition des sozialistischen Realismus bzw. Klassizismus verpflichtet – der von Handke problematisierten ästhetischen Kategorie der ›Natürlichkeit‹ erneut eine Lanze brach und just dem sprach- und formkritischen Autor »intellektuelle Dürftigkeit« und fehlenden Schneid attestierte: »Denn die Natürlichkeit, sie ist doch kein leerer Wahn. Nur daß in der Literatur die Natürlichkeit nicht von selber kommt. Sie setzt viel 42

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Peter Handke: Marcel Reich-Ranicki oder die Natürlichkeit. In: P. H.: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972, S. 203–207, hier S. 206. Vgl. dazu Otto Lorenz (Anm. 31), S. 195f. und 220. Peter Handke (Anm. 42) skizziert die ideologische Grundlage der mimetischen Literaturauffassung Reich-Ranickis folgendermaßen: »Literatur ist für ihn nicht etwas Gemachtes, sondern etwas Entstandenes. Literatur soll natürlich sein. Da freilich Literatur nicht natürlich sein kann, soll sie wenigstens natürlich wirken. Reich-Ranicki betrachtet die gemachte Literatur als ein Stück Natur. Ähnlich wie die Vögel in jener antiken Anekdote [über den Maler Zeuxis, N. C. W.] pickt er nach den ganz naturgetreu gemalten Trauben auf dem Bild von den Trauben« (S. 203). Des Weiteren beruft sich Handke auf das von den russischen Formalisten entwickelte Theorem des ›Verfremdungseffekts‹ und der ›literarischen Evolution‹ sowie auf die Semiologie Roland Barthes’, also auf seinerzeit aktuellste poetologische Theoriebestände, die auf künstlerische Entautomatisierung und Denaturalisierung abheben. Der inkriminierte Rezensent hingegen »vergegenwärtigt nicht das Ergebnis seiner kritischen Arbeit, er teilt es mit [. . .]. Jeder seiner Sätze ist schon fertig da, beliebig verfügbar, ist ein Kernsatz, der am Kern seines Gegenstandes vorbeigeht. Kein Satz argumentiert, etwa um zu einem Kommuniqué als Endsatz zu kommen: seine Sätze sind alle schon Endsätze, sind Kommuniqués« (S. 206).

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Arbeit voraus und etwas Mut.«44 Die Pointe dieser Polemik besteht darin, dass gerade die ästhetische Verweigerung gegenüber dem Erwartungshorizont eines an Formexperimenten uninteressierten Publikums als mutlos gescholten wird. Auf diese Weise gibt sich der Großkritiker ungeschminkt als Advokat des ›Subfeldes der Massenproduktion‹ zu erkennen, beruft sich in einer geschickten Finte aber zugleich auf jene allgemein hochgehaltenen Werte des ›Subfeldes der eingeschränkten Produktion‹ (›Arbeit‹, ›Mut‹),45 mit denen er auch außerhalb des literarischen Feldes auf Zustimmung rechnen konnte. Zu einem weiteren Gegenschlag holte er in seiner vernichtenden Besprechung von Handkes Erzählung Die linkshändige Frau (1976) aus, des vielleicht ersten (fast) konsequent extern fokalisierten Erzähltextes der deutschsprachigen Literatur. Darin apostrophierte er den immerhin seit gut zehn Jahren weithin – zunehmend auch international – bekannten und schon damals mit zahlreichen wichtigen Literaturpreisen46 ausgezeichneten Schriftsteller, dem er vier Jahre zuvor spöttisch

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Marcel Reich-Ranicki: Die Angst des Dichters beim Erzählen. In: Die Zeit vom 15. 9. 1972; wieder abgedruckt in M. R.-R.: Entgegnung. Zur deutschen Literatur der siebziger Jahre. Erweiterte Neuausgabe. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1981, S. 389–396, hier S. 396. Die gesamte Besprechung kann als paradigmatisch für Reich-Ranickis suggestive, aber nicht sonderlich subtile Rezensionspraxis gelten: Den offenbar wenig geschätzten »pensionsreifen Germanisten« und »zarten Gymnasiastinnen« werden jene »vernünftige[n] Kritiker« entgegengestellt, denen allmählich aufgehe, dass »sich Handkes Dramatik längst totgelaufen« habe (S. 390) und dass auch sein erzählerisches Frühwerk nur aus »indiskutable[r] Prosa« bestehe, was unter anderem auf seinen kindischen Protest »gegen die Fabel« zurückgeführt wird (S. 391). Zwar lasse sich in Handkes Erzählwerk seit 1970 »eine bemerkenswerte Entwicklung verzeichnen« (S. 391), doch zeige sich seine »Darstellungsweise« auch noch in der autobiografischen Erzählung Wunschloses Unglück (1972) »der realen Welt, der er hier beikommen« wolle, »nicht ganz gewachsen« (S. 394). Anders ausgedrückt: Obwohl es ihm doch »an einer mehr oder weniger realistischen Schilderung gelegen« sei, wie Reich-Ranicki meint, erinnere »seine Prosa nicht selten an einen recht braven und etwas unbeholfenen Schulaufsatz« (S. 394). Der Rezensent misst Handkes Erzählverfahren also just an jener traditionellen Poetik, von deren Naturalisierungstendenz sich das besprochene Buch gerade reflexiv absetzt, und befindet es in der Folge – kaum überraschend – als ungenügend. Die vom Erzähler eingenommene kritische Distanz gegenüber dem »allgemeinen Formelvorrat für die Biographie eines Frauenlebens« hält Reich-Ranicki für »pure Hochstapelei«, wie er auch die metanarrativen »Hemmungen und Skrupel« als »theoretischen Ballast« verwirft, der diese »Prosa erstickt« (S. 395). Die deutlich antimodernistische Argumentation ist garniert mit schulmeisterlichen Urteilen, die in ihrer Apodiktik nicht dazu angetan sind, einen reflexiven Prozess anzustoßen, sondern ihn im Gegenteil abwürgen und die in wohlgemeinte Ratschläge an den Autor von entwaffnender Schlichtheit münden: »Wenn er nur seine ästhetischen Gewissensbisse und seine vielen theoretischen Hemmungen überwinden wollte und unverkrampft und natürlich erzählen könnte« (S. 396). Zur theoretischen Begrifflichkeit vgl. Pierre Bourdieu (Anm. 28), S. 344–350. Handke hatte zu diesem Zeitpunkt bereits den Gerhart-Hauptmann-Preis (1967), den Literaturpreis des Landes Steiermark (1972), den Schillerpreis der Stadt Mannheim (1973) sowie vor allem den renommierten Georg-Büchner-Preis (1973) erhalten.

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beschieden hatte, »kein Jüngling mehr« zu sein,47 herablassend als »beliebten und auch in mancherlei Hinsicht repräsentativen Nachwuchsdichter« und setzte dessen Buch – »dieses erstaunlich harmlose Prosastück« – mit den Hervorbringungen der berüchtigten Trivialautorin Hedwig Courths-Mahler gleich.48 Einen vorerst letzten Angriff bedeutete seine Rezension der Erzählung Langsame Heimkehr (1979), in der er die (angeblich ephemere) Wirkung des Handke’schen Frühwerks nicht mit dessen künstlerischen Qualitäten erklärte, sondern allein mit dem »politischen Klima der Bundesrepublik Ende der sechziger Jahre«.49 Daneben bemängelte er auch hier – abgesehen von »schiefe[n] Bilder[n] und preziöse[n] Vergleiche[n]« – »die Dürftigkeit der Gedanken« sowie deren »Konfusion« und gelangte schließlich zu einem scheinbar vernichtenden Fazit, das indes die eigene uneingestandene Korrelation von ökonomischem Erfolg und kulturellem Wert indirekt offenlegte: »Die Erzählung ›Langsame Heimkehr‹ ist das seit Jahren erste Buch Peter Handkes, das sich auf keiner Bestsellerliste findet. Man sage nicht, bei uns gäbe es keinen Fortschritt.«50 Es wird kaum überraschen, dass der streitbare Autor solche Invektiven nicht einfach auf sich sitzen ließ. Er griff jetzt allerdings zu anderen Mitteln als im frühen 47

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Marcel Reich-Ranicki (Anm. 44), S. 390. »[E]r, der einst das prominenteste Trotzköpfchen des westdeutschen Literaturbetriebs war, ist kein Jüngling mehr. [. . .] Für Studentenermäßigungen ist es nun etwas spät, und vieles, was noch vor wenigen Jahren als reizvolle Jugendlichkeit gefeiert wurde, wirkt jetzt, da der Enthusiasmus verrauscht ist, einfach kindisch.« Marcel Reich-Ranicki: Wer ist hier infantil? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. 10. 1976; wieder abgedruckt in M. R.-R. (Anm. 44), S. 396–403, hier S. 396f. und 399 bzw. 402. In dieser Rezension wird etwa eine männliche Hauptfigur als »etwas infantil« und »nicht ganz in Ordnung« gescholten (S. 399), eine weibliche Nebenfigur als »etwas töricht« (S. 401), die Protagonistin spreche »wie ein pubertierendes Mädchen«, und eine männliche Nebenfigur sei einfach »ein überspannter Herr« (S. 402), ja beim Erstgenannten sei »die Unterbringung [. . .] in einer psychiatrischen Anstalt dringend nötig, was freilich Handke zu vermerken unterlassen hat« (S. 402). Wie in solchen und weiteren Beispielen deutlich wird, misst Reich-Ranicki die künstlerische Gestaltung literarischer Figuren an seinen Vorstellungen eines adäquaten Verhaltens in der Realität. Marcel Reich-Ranicki: Sein Weg zu Gott. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. 11. 1979; wieder abgedruckt in M. R.-R. (Anm. 44), S. 403–411, hier S. 403f. Auch in dieser Besprechung legt der Rezensent seine völlige Verständnislosigkeit gegenüber maßgeblichen Errungenschaften der literarischen Moderne an den Tag: Er kritisiert die Depotenzierung der Handlung (vgl. S. 406f.: »Was in diesem Buch geschieht, läßt sich rasch andeuten, denn es geschieht sehr sehr wenig. [. . .] Die dürftige Handlung ist so flüchtig skizziert, als wolle uns Handke immer wieder zu verstehen geben, daß es darauf überhaupt nicht ankomme.«), bemängelt das ausbleibende Identifikationsangebot (vgl. S. 406: »Gelegentlich schläft er mit einer Indianerin, was aber für ihn offenbar belanglos ist, ihm jedenfalls kein Vergnügen bereitet.«), vermisst eine erzählerische »Entwicklung« bzw. ›Begründung‹ der ohnehin kargen Handlung (S. 409f.; vgl. S. 399) und setzt den Erzähler mehrmals umstandslos mit dem Autor gleich (vgl. S. 409: »Am Ende wendet sich Handke an seinen Helden und sagt zu ihm [. . .].«). Dieses Bild wird durch Reich-Ranickis populistische Seitenhiebe auf die denk- und schreibschwachen »Germanisten« mit ihrer Liebe für »bequeme Objekte der Interpretationskunst« komplettiert (vgl. S. 405). Ebd., S. 410f.

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Essay: In einer erzählerisch suggestiven Passage seines auf Langsame Heimkehr folgenden Werks Die Lehre der Sainte-Victoire (1980), einer insgesamt äußerst komplexen, anspruchsvollen und anspielungsreichen fiktional-poetologischen Programmschrift, hat er den im Feuilleton nach wie vor dominanten Starkritiker als hasserfüllten, geifernden Hund karikiert.51 Dass es sich bei diesem ›schon seit langem wahnsinnigen Tier‹52 tatsächlich (auch) um eine Karikatur Reich-Ranickis handelt – was aus dem Wortlaut selbst nicht zwingend hervorgeht –, hat Handke 1988 nicht ohne Hintersinn in einem Interview mit André Müller öffentlich kundgetan: Es gab eine Zeit, in der ich von konvulsivischem Widerwillen befallen wurde, sobald dieser Mann nur in Erscheinung trat. Er hat über Jahre versucht, mich zu vernichten. Er hatte die Illusion, das zu können. [. . .] In der ›Lehre der Sainte-Victoire‹ ist so ein langes Kapitel über den Kerl aus Frankfurt, wo er als Hund auftritt. [. . .] Ja, das hat mir unglaubliches Vergnügen bereitet. [. . .] Ja, mich hat, was der schreibt, vor zehn Jahren, das gebe ich zu, sehr beschäftigt, weil er dachte, nun hätte er mich endgültig zur Strecke gebracht. Da habe ich mir gesagt, na, jetzt werden wir mal schauen. Ich glaube, daß ihm der Geifer noch immer von den Fangzähnen tropft. [. . .] Ich kenne viele, die finden ihn amüsant. Die haben gar keinen Stolz. Die sagen, wenn der einmal stirbt, wird man das sehr bedauern. Dem kann ich nun nicht beipflichten.53

Spätestens jetzt konnte sich der beleidigte Autor sicher sein, dass die Botschaft bei ihrem eigentlichen Adressaten Gehör fand.54 Aus dem zuletzt zitierten Satz schloss der apostrophierte Großkritiker und ehemalige Literaturchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, nun ebenfalls öffentlichkeitswirksam beleidigt, dass der ungeliebte Schriftsteller ihm persönlich nach dem Leben trachte, wie er in seiner äußerst erfolgreichen Autobiografie zum Besten gab: »Meinen Tod wünschte auch Peter Handke, jedenfalls würde er ihn nicht bedauern: In seinem aus dem Jahr 1980 stammenden Buch ›Die Lehre der Sainte-Victoire‹ stellt er mich als bellenden und geifernden ›Leithund‹ dar, ›in dem sich gleichsam etwas Verdammtes umtrieb‹ und dessen ›Mordlust‹ vom Getto noch verstärkt worden war.«55 In die51

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Peter Handke: Die Lehre der Sainte-Victoire. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 44– 48 und 87. Ebd., S. 48. »Wer einmal versagt im Schreiben, hat für immer versagt«. André Müller spricht mit Peter Handke [1988]. In: Die Zeit vom 3. 3. 1989, S. 77–79, hier S. 77 und 79. Vgl. ebd., S. 79, Müllers Frage: »Meinen Sie Reich-Ranicki? [. . .] Glauben Sie, daß er es weiß?« Darauf Handke: »Sicher, das wissen alle. [. . .] Ja, so eiert man sich durch die Zeit. Man kann doch nicht immer so edel schreiben. Die linken Sachen mache ich im Vorübergehen, wie Stars [!] das eben machen. Im Vorbeigehen geben sie dir einen kleinen Tritt. Niemand sieht es, aber der, der den Tritt bekommt, spürt es schon.« Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben [1999]. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 122000, S. 446. Tatsächlich hat Peter Handke (Anm. 51), S. 46, es sich nicht nehmen lassen, den von ihm als existenziellen »Feind« gezeichneten bestialischen Hund mit der prekären Formulierung zu kennzeichnen, dass »er in seiner von dem Getto vielleicht noch verstärkten Mordlust jedes Rassenmerkmal verlor und nur noch im Volk der Henker das Prachtexemplar war«. Durch solche maliziösen Anspielungen auf Reich-Ranickis Rolle als Opfer der nationalsozialistischen Rassenpolitik, die auf verstörende Weise an die menschenverachtende Diktion Carl Schmitts erinnern, begibt sich der beleidigte Autor in

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sem Zusammenhang entspricht es einer gewissen Logik, dass der Feuilletonist der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Hubert Spiegel dann 2006 derart über Handkes Düsseldorfer Auszeichnung empört war, hatte er sich doch wenige Jahre zuvor als dienstfertiger Laudator und Multiplikator der ohnehin an Erfolg nicht armen Memoiren »des bedeutendsten deutschen Kritikers« verdient gemacht,56 wohingegen er zu Handkes 60. Geburtstag den heterodoxen Autor als ohnmächtigen Provokateur zeichnete, der gleichwohl in vordem ungekannter Intensität mit dem ›Betrieb‹ kollaboriere57 – Letzteres freilich, nachdem dieser schon 1984 und ebenfalls nicht zimperlich die Wirkung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auf die zeitgenössische Literatur mit jener der nationalsozialistischen Bücherverbrennung verglichen hatte.58 Angesichts solcher verfestigten Frontlinien erweist sich Sigrid Löfflers Vorwurf an die Handke-Gegner, sie würden anhand seines Falls »intern politische Rechnungen unter alten Feinden [. . .] begleichen«,59 als durchaus hintergründig, musste ihr doch selber bewusst sein, durch die von ihr verfochtene Auszeichnung des streitbaren Schriftstellers ihren alten Kritikerkollegen Reich-Ranicki, mit dem

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bedenkliches Fahrwasser. Selbst das Autodidaktentum des Kritikers, das sich in seiner hemdsärmeligen Rezensionspraxis niederschlagen mag, ist auch eine Folge seines unverschuldeten, rassistisch begründeten Ausschlusses aus den deutschen Bildungsinstitutionen. Vgl. Hubert Spiegel (Hg.): Welch ein Leben. Marcel Reich-Ranickis Erinnerungen. Stimmen, Kritiken, Dokumente. München: dtv 2000, S. 9. Vgl. Hubert Spiegel: Wenn Wahrnehmung gerecht sein will. Die Lehre der heiligen Beatles: Zum sechzigsten Geburtstag des Schriftstellers Peter Handke. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. 12. 2002: »[D]er sich gern mönchisch-weltabgewandt gebende Schriftsteller ist der Prototyp jener Autoren, die keine Mühe scheuen, sich im Rampenlicht der Medienöffentlichkeit zu verweigern. [. . .] Kein anderer Schriftsteller konnte in den sechziger Jahren einen ähnlichen Wirbel um seine Person entfachen. [. . .] Das Bild, das die Öffentlichkeit von ihm haben sollte, hat Handke immer selbst definiert [?] und auch dafür gesorgt, daß diese Definition nicht unbeachtet blieb. Von Handke lernen heißt provozieren lernen. Auch in der Schule der Selbstinszenierung ist Handke ein guter Lehrer. Die Stirn, in die vor laufender Kamera eine Rasierklinge fuhr, gehörte Rainald Goetz, aber der hochfahrende Gestus der Selbststilisierung stammte vom Generationsvorgänger Handke, der den Elfenbeinturm bezog und mit dem Umzugswagen gleich auch die Fernsehteams bestellte. Goetz und Handke teilen den Gestus der Entschiedenheit. In ihm findet sich alles zusammen: Pathos, Aggression, der Einsatz der eigenen Person, die kalkulierte Raserei. Auch eine Brise Selbsthaß. Er speist sich aus der Einsicht, daß sich Medien und Öffentlichkeit zwar manipulieren lassen, aber nur um den Preis der Befolgung ihrer Gesetze. Das ist die Lehre der Popmusik, die Handke bei den von ihm vergötterten Beatles erkannte. Macht hingegen hieße, die Gesetze der öffentlichen Kultur zu ändern oder gar aufzuheben, während das Spiel mit diesen Gesetzen, und sei es noch so virtuos, demjenigen als Ausweis der Ohnmacht gelten muß, der den Kunstbetrieb ablehnt. Wer hier mitspielt, spielt und wird gespielt. Kein Fadenzieher, der nicht selbst am Marionettenfaden hinge.« Der zuletzt zitierte Satz widerspricht freilich der zuvor aufgestellten zweifelhaften Behauptung, Handke habe sein Bild in der Öffentlichkeit »immer selbst definiert«. Vgl. Peter Handke (Anm. 29), S. 126f. Siehe oben, Sigrid Löffler/Jean-Pierre Lefèbvre (Anm. 10).

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sie sich im Literarischen Quartett wenige Jahre vorher vor laufenden Kameras publicityträchtig überworfen hatte, empfindlich zu treffen. Die Akkumulation von Aufmerksamkeit kann sich also auch auf markante Positionsnahmen im öffentlichen Diskurs stützen, die bei Bedarf für die unterschiedlichsten und heterogensten Bedürfnisse anschlussfähig sind. Mit anderen Worten: Die »unerbittliche Gegnerschaft zwischen Handke und Reich-Ranicki« ist zwar in der Tat »eine Variante des spannungsreichen Verhältnisses von Literatur und (journalistischer) Literaturkritik«, wie Karl Wagner im vorliegenden Band sicher zu Recht konstatiert.60 Die individuelle Idiosynkrasie zwischen einem Autor und seinem Kritiker lässt sich aber nicht allein auf diese allgemeine Opposition reduzieren, was Wagner in der Folge selber andeutet; sie wird im Gegenteil immer auch durch spezifische Mikrokonstellationen begünstigt oder unwahrscheinlich gemacht, durch den spezifischen Literaturbegriff und den intellektuellen Habitus der beteiligten Personen, wie das ganz anders geartete Verhältnis zwischen Peter Handke und Sigrid Löffler veranschaulicht.

3. Am Ende meiner kursorischen Überlegungen sei noch einmal die komplexe Frage nach dem Verhältnis des ›autonomen‹ Gegenwartsschriftstellers zum Markt aufgeworfen: Wie bei seinem literarischen Generationsgenossen Thomas Bernhard, mit dem er ungern verglichen wurde,61 ist auch bei Handke, zumindest in den sechziger und siebziger Jahren, die scheinbar paradoxe Verbindung einer relativ 60 61

Vgl. den Beitrag von Karl Wagner im vorliegenden Band, S. 65–76, hier S. 70. Vgl. André Müllers Interview mit Peter Handke vom Oktober 1972. In: A. M.: Entblößungen. München: Goldmann 1979, S. 254–261, hier S. 260f.: »Interessiert Sie, was der [Thomas Bernhard, N. C. W.] schreibt? / [Handke:] ›Das hat mich sehr interessiert, früher, und zwar insofern, als diese Literatur meine eigene Isolation formalisiert hat. Inzwischen ist es halt so, daß ich kein monomaner Schriftsteller mehr bin. Was ich schreibe, kommt halt nicht aus einem Gemütszustand oder Gefühlszustand, den ich verabsolutiere, sondern da kommen viele Gemütszustände vor, die alle ihren Platz haben in dem, was ich schreibe. Ich bin halt, glaub’ ich, so ein ganz normaler Schriftsteller, wie ich mich auch für einen ziemlich normalen Menschen halte, wie der Fontane halt oder der Gottfried Keller, so ein normaler Schriftsteller bin ich, kein monomanischer oder exzessiver. Ich hab’ nicht die Fähigkeit, eine Eigenschaft von mir rauszunehmen und die dann zu verabsolutieren oder nur aus einer einzigen Eigenschaft zu bestehen, sondern in mir gibt es viele widersprüchliche Dinge, und die versuch’ ich halt ganz klar darzustellen, das Spiel dieser verschiedenen Gefühle und Gedanken miteinander, und dadurch entsteht halt ein Eindruck von Verbindlichkeit, dadurch ist es halt nachvollziehbarer über einen literarischen Kreis hinaus. Der Thomas Bernhard hat viel Erfolg bei Literaturkritikern, was eventuell daher rührt, daß durch das, was er schreibt, die Existenz der Literaturkritiker befriedigt wird in diesem miesen Gefühl, Literaturkritiker zu sein. Das ist ja, glaub’ ich, auch ein existentielles Gefühl, kein nur feuilletonistisches, sondern wahrscheinlich wirklich eine Verzweiflung. [. . .] Diese monomanen Schriftsteller wie Céline oder Kafka oder Thomas Bernhard, von denen hab’ ich mich halt unheimlich entfernt [. . .].‹« Dagegen Bernhard ganz knapp über Handke in Erich Böhme/Hellmuth Karasek:

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avancierten ästhetischen Position mit vergleichsweise hohen Verkaufszahlen62 zu beobachten – und somit die Vereinigung zweier Größen, welche in Bourdieus Kulturökonomie unvereinbar scheinen, in einer einzigen Person. Handelt es sich hierbei um eine neuere Tendenz im Literaturbetrieb, die in dieser Form erst im dritten Drittel des 20. Jahrhunderts begegnet und die auf gewandelte Rahmenbedingungen des literarischen Feldes verweist? Anders gefragt: Zeichnet sich in dieser (angeblichen) Kollaboration mit dem ›Betrieb‹ bereits jener »desillusionierte[. . .] Pragmatismus« ab, der Franck zufolge mit der Postmoderne »an der Stelle des Rigorismus in Sachen der künstlerischen und intellektuellen Moral [. . .] zum Zeichen avancierten Künstlertums und fortgeschrittener Intellektualität«63 geworden ist? Auf den ersten Blick scheint sich Francks These tatsächlich zu bestätigen, dass ein »Berufsethos, das die Bereitschaft zur Existenz am unbedeutenden Rand des Geschehens verlangt«, in heutiger Zeit zunehmend »dysfunktional« wird.64 In diesem Zusammenhang stellt sich allerdings die von Franck geflissentlich ausgesparte Frage, in welcher Hinsicht ein rigoroses Berufsethos für Künstler und Intellektuelle dysfunktional ist. Zum Zweck eines möglichst reibungs- und geräuschlosen Abwickelns laufender Geschäfte kann mit künstlerischer und intellektueller ›Moral‹ (respektive Autonomie) wohl tatsächlich nur dann gepunktet werden, wenn man sie nicht als implizit handlungsleitende Maxime, sondern als explizit verlautbarte, handliche und bestandsbewahrende Allerweltsethik in Anschlag bringt. Diese nämlich ist zumindest in Krisenzeiten gut verkäuflich, wie sich im vergangenen Jahrzehnt wieder erwiesen hat. Doch wird man mit dem metatheoretischen Befund eines »desillusionierten Pragmatismus« der viel beschworenen, historisch konfliktuell gewachsenen Eigenlogik künstlerischer Felder gerecht? Besteht diese nicht gerade in der konstitutiven Funktionslosigkeit, ja Dysfunktionalität ihrer avanciertesten Produktionen für andere Bereiche moderner Gesellschaft – inklusive des daraus resultierenden ›Verfremdungseffekts‹ auf die herrschende Vorstellung von ›Wirklichkeit‹? Hat nicht sogar der eines blinden Utopismus kaum verdächtige soziologische Systemtheoretiker Niklas Luhmann die spezifische soziale

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»Ich könnte auf dem Papier jemand umbringen«. Der Schriftsteller Thomas Bernhard über Wirkung und Öffentlichkeit seiner Texte. In: Der Spiegel (1980) 26, S. 172–182, hier S. 180 (Neudruck in: Von einer Katastrophe in die andere. 13 Gespräche mit Thomas Bernhard. Hg. von Sepp Dreissinger. Weitra: Bibliothek der Provinz 1992, S. 68–88, hier S. 82): »SPIEGEL: Wenn man Sie mit anderen Österreichern manchmal vergleicht, sagen wir mal mit Handke, was sagen Sie dann dazu? Sehen Sie da Ähnlichkeiten, Gemeinsamkeiten? / BERNHARD: Gar keine Ähnlichkeit, Handke ist ein intelligenter Bursche, und ich möchte keines seiner Bücher geschrieben haben, aber alle meine.« Vgl. allerdings Peter Handkes frühen Essay: Als ich »Verstörung« von Thomas Bernhard las [1967]. In: P. H.: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972, S. 211–216. Otto Lorenz (Anm. 31), S. 174, spricht vom »großen merkantilen Erfolg« Handkes. Georg Franck (Anm. 1), S. 166. Nicht geklärt wird in diesem Kontext, weshalb ein solches pragmatisches Künstlertum ›avancierter‹ und eine entsprechende Intellektualität ›fortgeschrittener‹ sein sollten als rigorosere Entwürfe. Ebd., S. 164.

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Funktion von Kunst gerade in ihrer »Entlarvung von Realität«65 im Sinne einer ›Kontingentsetzung der Welt‹ bestimmt? Bei genauerem Hinsehen zeigt sich überdies, dass Handkes Verkaufszahlen66 selbst in den äußerst erfolgreichen sechziger und siebziger Jahren erheblich niedriger ausfielen als jene ›wirklicher‹ Bestseller wie etwa Reich-Ranickis Autobiografie Mein Leben, die bereits in den ersten elf Monaten nach ihrem Erscheinen am 15. August 1999 über 600 000 Mal verkauft worden ist67 – eine Einschränkung, die erst recht für Thomas Bernhard gilt, der keine ähnlich großen Erfolge wie Handke feiern konnte. Wenn man nun berücksichtigt, dass es sich bei Bourdieus Theorem der ›doppelten Ökonomie‹68 um eine idealtypische soziologische Modellbildung handelt, die nur im Sinne eines Annäherungswertes empirische Gültigkeit beansprucht, dann wird sie durch partielle Abweichungen der Empirie von ›idealen‹ Grenzwerten kaum grundlegend zu erschüttern sein. Bei Handkes Werken handelt es sich insgesamt eher um Longseller als um Bestseller, was sich insbesondere an den seit den achtziger Jahren publizierten Arbeiten zeigen lässt, deren Verkaufszahlen signifikant zurückgingen. Die ›Laufbahn‹ (trajectoire) dieses umstrittenen Schriftstellers erinnert strukturell an jene des viel weniger umstrittenen Johann Wolfgang von Goethe, der nach den fulminanten Anfangserfolgen der Genieperiode ebenfalls kaum noch Bestseller produzierte.69 Die von Bourdieu dia65

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Niklas Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst. In: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, S. 620– 672, hier S. 626. Ähnlich Pierre Bourdieu (Anm. 28), S. 68f. Gegenüber den schimärischen Vorstellungen vom angeblich überwältigenden kommerziellen Erfolg der Werke Handkes bis in die achtziger Jahre hat Karl Wagner unter Bezug auf Otto Lorenz (Anm. 31), S. 174, Anm. 63, auf die ernüchternden Zahlen gepocht; vgl. den Beitrag im vorliegenden Band, S. 65f., Anm. 2. Lorenz zufolge hat selbst Handkes ökonomisch erfolgreichstes Buch Wunschloses Unglück (1972) in den ersten 18 Jahren vom Zeitpunkt der Veröffentlichung bis zum 5. 7. 1990 ›nur‹ eine Auflage von insgesamt 313 700 Exemplaren erreicht. Vgl. Hubert Spiegel: Einleitung. In: H. S. (Anm. 56), S. 9–12, hier S. 9. Demnach wurden von Mein Leben bereits in den ersten vier Wochen nach Erscheinen 160 000 Exemplare an den Buchhandel ausgeliefert. Die »Aura des Rekordverdächtigen« beunruhigte offenbar sogar den Laudator, der sich im Modus Freud’scher Verneinung zu einer unfreiwillig dekuvrierenden Versicherung verpflichtet sah: »Nicht die zweifellos imposante Auflage, nicht der Umstand, dass dieses Buch seit Monaten die Bestsellerlisten beherrscht, weist ihm seinen Rang zu, sondern seine literarische Qualität und seine Bedeutung als zeitgeschichtliches Dokument.« Vgl. Pierre Bourdieu (Anm. 28), S. 228–249 und S. 341–351. Den Begriff selbst konnte ich bei Bourdieu nicht verifizieren. Zu Goethe vgl. Norbert Christian Wolf: Goethe als Gesetzgeber. Die struktur- und modellbildende Funktion einer literarischen Selbstbehauptung um 1800. In: Eckart Goebel/ Eberhard Lämmert (Hg.): »Für viele stehen, indem man für sich steht«. Formen literarischer Selbstbehauptung in der Moderne. (LiteraturForschung) Berlin: Akademie 2004, S. 23–49, bes. S. 46; Norbert Christian Wolf: Gegen den Markt. Goethes Etablierung der »doppelten Ökonomie«. In: Thomas Wegmann (Hg.): Markt. literarisch. (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge 12) Bern u. a.: Peter Lang 2005, S. 59–74.

Autonomie und/oder Aufmerksamkeit?

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gnostizierte ›anti-ökonomische Ökonomie‹70 der kulturellen Felder sollte nicht dazu verleiten, jegliche Form von Erfolg als Dementi einer autonomen Position zu verkennen. Da die habituelle Disposition eines Akteurs dessen ›Laufbahn‹ im Wechselspiel mit den Kräften der jeweiligen sozialen Felder steuert, ist bei einem am Zeitfaktor zu messenden Gewinn an Aufmerksamkeit vielmehr nach der Art und Weise zu fragen, wie dieser Erfolg errungen wurde. Anders formuliert: Ist das gewonnene symbolische Kapital bzw. die mediale Aufmerksamkeit eher aus dem kulturellen oder aber aus dem ökonomischen Kapital konvertiert worden? In ersterem Fall muss der symbolische Gewinn nicht notwendig mit einem Verlust an Autonomie einhergehen, sondern kann im Gegenteil gerade aus ihr resultieren. Der strukturelle Gegensatz zwischen dem im Subfeld der eingeschränkten (literarischen) Produktion agierenden Handke und dem im Subfeld der (journalistischen) Massenproduktion beheimateten Reich-Ranicki zeigt sich insbesondere dort, wo die beiden konträren Akteure einander scheinbar näher kommen, nämlich in ihrer öffentlichkeitswirksamen Medienkritik: Auf der einen Seite steht der auf Autonomie pochende Schriftsteller Handke, der in seinen Serbien-Schriften jede auch noch so vorsichtige Konzession gegenüber der Doxa des journalistischen Feldes peinlichst vermied und es sogar lange vorzog, lieber höchst problematische Überpointierungen seiner Sache zu vertreten als einzulenken.71 Auf der anderen Seite steht der neuerdings im doppelten Wortsinn als Medienkritiker firmierende Reich-Ranicki; trotz seiner berechtigten Kritik an der Niveaulosigkeit des gegenwärtigen Fernsehens hat er sich im Gefolge seiner aufmerksamkeitserheischenden Ablehnung des Deutschen Fernsehpreises am 11. Oktober 2008 gleich wieder vom eben noch so harsch gescholtenen Massenmedium vereinnahmen lassen: Im selben Atemzug bot er nämlich dem quotensicheren Moderator Thomas Gottschalk vor laufender Kamera völlig unvermittelt das Du an und ließ sich von ihm zu einer müden und handzahmen Debatte über das Fernsehen überreden, die unter dem auf bemühte Weise Aktualität signalisierenden Titel Aus gegebenem Anlass am 17. Oktober 2008 halbstündig im ZDF-Abendprogramm (ab 22.30 Uhr) ausgestrahlt wurde. Eine zumindest in inhaltlicher Hinsicht radikaler kaum denkbare Verweigerungshaltung steht hier in all ihrer strukturellen Problematik einer zu fast allen Konzessionen an den journalistischen Massenmarkt bereiten Position gegenüber, die sich gleichwohl kulturkritisch gebärdet, um auch diese Distinktion

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Zu den Parallelen zwischen den schriftstellerischen Laufbahnen Handkes und Goethes vgl. die Überlegungen in Norbert Christian Wolf: Der »Meister des sachlichen Sagens« und sein Schüler. Zu Handkes Auseinandersetzung mit Goethe in der Filmerzählung Falsche Bewegung. In: Klaus Amann/Fabjan Hafner/Karl Wagner (Anm. 12), S. 181–199, hier S. 181f. Vgl. Pierre Bourdieu (Anm. 28), S. 228f. Am Beispiel des Handke’schen Eintretens für Miloševi´c manifestiert sich eine von Bourdieu nicht erwähnte, geschweige denn diskutierte Problematik, die dem Beharren auf schriftstellerischer Autonomie gegenüber der herrschenden journalistischen Doxa innewohnt, neigt das Autonomiestreben doch dazu, zur Aufrechterhaltung der Unabhängigkeit intellektuelle (und politische) Positionen zu vertreten, die sich aus der strukturellen Opposition gegen den mainstream ergeben, und dabei die inhaltliche Triftigkeit der Positionsnahme selbst zu vernachlässigen.

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Norbert Christian Wolf

noch mitzunehmen. Dass durch solche Konzessionen an das ›Subfeld der Massenproduktion‹ errungene Aufmerksamkeitsgewinne aber meist mit einem Verlust an kulturellem Kapital einhergehen, musste selbst Pierre Bourdieu erleben, als er mit seinen beiden nicht auf ein beschränktes wissenschaftliches, sondern auf ein großes Fernsehpublikum zielenden Vorträgen Sur la télévision (1996), deren »Buchveröffentlichung [. . .] über Monate hinweg [. . .] an der Spitze der [französischen, N. C. W.] Bestsellerlisten lag«,72 die Kenner seiner weitaus subtileren wissenschaftlichen Schriften enttäuschte.73 Eine ganz andere Ironie der hier nur in groben Strichen nachgezeichneten Geschichte der Erregungen um Peter Handke besteht darin, dass diese sich im Jahr 2006 erst wirklich beruhigten, als das Feuilleton über den Sommer einen neuen Gegenstand kollektiver Erregung gefunden hatte: Günter Grass’ Vergangenheit bei der Waffen-SS. Bei den wiederum von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung angestoßenen medialen Ereignissen vom August 2006 handelt es sich wohl um das erste und einzige Mal, dass Grass dem jüngeren Handke die öffentliche Aufmerksamkeit – und damit auch die Schau – so konsequent gestohlen hat. Aber selbst diesmal dürfte der Anlass nicht ganz im Sinne des mittlerweile mit dem Nobelpreis gekrönten älteren Autors ausgefallen sein, hätte er sich die geballte Beachtung doch sicherlich für seine Autobiografie Beim Häuten der Zwiebel (2006) gewünscht, also für eine genuin literarische Leistung, aber wohl kaum für ein bisher verschwiegenes und recht unrühmliches Detail aus seiner Lebensgeschichte, das zu seiner späteren Arbeit als Schriftsteller nur recht mittelbar einen Bezug hat. Durch sein langes Schweigen hatte er indes gerade jenen Aspekt seines schriftstellerischen Wirkens diskreditiert, auf dessen Grundlage das von ihm vertretene Modell von öffentlicher Autorschaft seit den späten sechziger Jahren maßgeblich beruhte: die unbescholtene moralische Autorität des engagierten Intellektuellen. Das künstlerische Image Handkes hingegen, dessen schriftstellerische Strategie nie auf die gleichsam objektive Repräsentation universeller Werte im Feld der Macht abgehoben hat, sondern allenfalls auf die höchst subjektive Sensibilität und Parteilichkeit des autonomen Künstlers, könnte durch die Aufdeckung verstören72 73

Vgl. Pierre Bourdieu (Anm. 26), S. 129, Anm. 7. Dies sei auch mit Blick auf jene Kritiker betont, die glauben, am Beispiel der unleugbaren theoretischen und inhaltlichen Schwächen des populären Bourdieu’schen Fernsehbuchs die gesamte Feldsoziologie erledigen zu können. Vgl. etwa die Ausführungen von Andreas Dörner und Ludgera Vogt im vorliegenden Band, die sich unter anderem auf Umberto Ecos Polemik gegen apokalyptische Kulturkritik stützen. Sie übersehen dabei freilich, dass gerade Eco Bourdieu (und dessen damaligen Mitarbeiter Jean-Claude Passeron) als Gegner (!) der »apokalyptischen Kritiker der Massenkultur« bezeichnet und ausdrücklich die Analyse jener »konkrete[n] Rezeptionsweisen« postuliert, »die Bourdieu und Passeron mit Recht in den Vordergrund rücken, wobei sie die Überzeugung zum Ausdruck bringen, daß die ›Massen‹ autonomer und weniger ›vermasst‹ sind, als man glaubt, und daß sie durchaus in der Lage sind, Reichweite und Grenzen der von ihnen empfangenen Botschaften zu verstehen« (U. E.: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur. Frankfurt am Main: S. Fischer 1986, S. 157, Anm. 18). Eco beruft sich dabei auf Pierre Bourdieu/Jean-Claude Passeron: Sociologues des Mythologies et mythologies des sociologues. In: Les temps modernes 19 (1963) 211, S. 998–1021.

Autonomie und/oder Aufmerksamkeit?

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der biografischer Details kaum nachhaltig beschädigt werden. Bedroht wird es hingegen mehr denn je in der jüngeren Geschichte von den heteronomen Zwängen, die auf die künstlerischen Felder heute seitens des journalistischen Feldes und des Feldes der Macht einwirken. Je mehr Gewicht diesen kunstexternen Zwängen auch innerhalb der künstlerischen Felder zugebilligt wird, desto größere Anteile werden sie an der öffentlichen Aufmerksamkeitsakkumulation ihrer Akteure gewinnen. Der Fall Handkes und das Gezerre um den Heine-Preis 2006 zeigen zum einen, dass diese problematische Entwicklung autonome Positionsnahmen im literarischen Feld zwar nicht unmöglich macht, zum anderen aber, dass solche Stellungnahmen im Verein mit einem von den Betroffenen wohl kaum als zielführend empfundenen gewaltigen Aufmerksamkeitsgewinn eine vordem ungekannte Diffamierung und Isolation im öffentlichen Diskurs bzw. im dafür (zumindest kurzfristig) maßgeblichen Feld der Macht mit sich bringen.

Karl Wagner (Zürich)

Handkes Endspiel Literatur gegen Journalismus

Die Freundlichkeit, Aufgeschlossenheit mancher Leute: sie haben eben beschlossen, kein Werk zu hinterlassen. (Peter Handke, Die Geschichte des Bleistifts) Laß dir die Fronten nicht einreden (sage ich auch zu mir selber), oder: Du kannst nicht auf Dauer Feind deiner Zeit bleiben. (Peter Handke, Unter Tränen fragend)

Es tut nicht gut, jedenfalls ist es nicht sehr produktiv, sich für Kampf-Ordnungen zu entscheiden, die zum Manichäischen tendieren: Im Fall des Konflikts ›Handke und die Journalisten‹ wird dies dennoch, in immer kürzeren Abständen, als zunehmend automatisiertes Ritual geprobt. Ein Fall von Unausweichlichkeit also, der indes mit gesteigerten voyeuristischen Anreizen und nachlassendem intellektuellen Einsatz zum verbalen Amoklauf, stilistisch somit zur Monotonie der Tirade einlädt. Wie sich dieses akute Szenario zum allgemeineren, nicht minder intrikaten Verhältnis von Literatur und Journalismus verhält, ist hingegen eine weitaus schwierigere Frage. Die Schwierigkeiten beginnen damit, dass dieses Verhältnis schon eine sehr lange Geschichte hat und ein Großteil der Beteiligten die Interna kennt oder zu kennen glaubt. Mit jedem neuen Anlass werden die alten Kränkungen – diese reichen bis zu den schriftstellerischen Anfängen Handkes zurück – unter entsprechend tendenziösen Vorzeichen wieder(ge)holt; zumeist mit nicht richtiger werdenden Rekapitulationen der ›Urszene‹ von Princeton 1966. Jeder dieser fälschenden Rückblicke, erst recht die hämische Variante,1 steigert bei Handke nur das Aggressionspotenzial und den Einsatz im Spiel; die journalistische Gegenseite scheint sich andererseits unablässig dafür rächen zu müssen, dass sie damals unaufgefordert einen Nobody schlagartig berühmt gemacht hat.2 Zu ihrem Erstaunen 1

2

Repräsentativ (insbesondere auch für den Anti-Handke-Reflex der Frankfurter Allgemeinen Zeitung) ist Hubert Spiegels Artikel zu Handkes 60. Geburtstag: Wenn Wahrnehmung gerecht sein will. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. 12. 2002. Die theatrale Rhetorik des ›Auftritts‹ sagt zwar etwas über die Medientauglichkeit der Selbstinszenierung; sie hat aber lange Zeit verhindert, sich um den Wortlaut zu kümmern und den Bruch mit einer etablierten Schreibregel der deutschen Nachkriegsliteratur zu analysieren; vor allem aber hat sie schimärische Vorstellungen vom (kommerziellen) Erfolg von Handkes Erstlingen produziert. Dem stehen die nüchternen Zahlen entgegen, die ich einer Werbung des Suhrkamp-Verlags im Kursbuch 20 (August 1970) entnehme. Dieser Aufstellung zufolge wurden von den Hornissen im Erscheinungsjahr 1966 1493 Exemplare verkauft; in den darauffolgenden Jahren stieg diese Zahl unwesentlich auf 2004 Exemplare im Jahr 1967; 1969 betrug die Zahl der verkauften Exem-

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hat dieser Niemand allerdings die Regeln des Spiels beherrscht und immer apartere Möglichkeiten des Verstoßes gegen diese Regeln entwickelt, ohne darauf angewiesen zu sein. Es ist nicht ganz einfach, die Idiosynkrasien auf beiden Seiten von den strukturellen Gesetzmäßigkeiten einer solchen Kontroverse zu unterscheiden. Alle Rekonstruktionen, die Handke unterstellen, er spiele nur ein narzisstisch hoch besetztes Spiel, das er immer wieder provoziere, um im Gespräch zu bleiben und Aufmerksamkeit zu erlangen, charakterisieren vor allem diejenigen, die hinter solchen Rekonstruktionen ihre eigenen Ambitionen meinen, aber Bourdieu dazu sagen. Es wäre jedenfalls paradox, erhöhte Aufmerksamkeit für die eigene Person mit verminderter Nachfrage nach den eigenen Büchern erkaufen zu wollen. Bourdieus scharfsichtige Bemerkungen zur Rolle des Ressentiments (in seiner Flaubert-Analyse) ist auch von den anthropologisch interessierten Forschungen zum 19. Jahrhundert nicht weiter verfolgt worden, sieht man von René Girards unabhängig von Bourdieu entwickelter Dostojewski-Analyse ab.3 Handke hat in seinen Aufzeichnungen mit dem Mut zur Selbstentblößung schonungslose Exempel seiner Ressentiments und Aggressionen vorgelegt: ein mit Robert Walser vergleichbarer Affront gegen den Kulturbetrieb und das Machtgehabe seiner Akteure. Was bei Walser polemisch als ›Herrenwelt‹ firmiert, wird von Handke (wie übrigens auch von Walser) mit durchaus herrischen Gesten attackiert. In einem frühen, selten zitierten Text hat Handke seine Schreibarbeit – damals vor dem Hintergrund eines nicht minder aggressiv diskutierten Gegensatzes von Privatem und Politischem – so bestimmt: Was ich gar nicht will: eine eigene Sprache erfinden, das finde ich idiotisch, das ist immer noch dieses Auftreten als Dichter. Ich möchte mich vielmehr in der gegebenen Sprache ausdrücken, und das ist das, was ich immer noch von Wittgenstein gelernt habe, so wenig mich diese Philosophie interessiert: die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch. Davon gehe ich aus. Sicher, es gibt viele Sprachspiele, auch von den sozialen Klassen her gesehen, aber auch von dieser Situation muss man ausgehen. Eine Ideologie wegdestillieren, um so zu einem objektiven Resümee zu kommen über die Zeit, in der ich lebe. Für mich ist Schreiben eine sachliche, zwar angestrengte und konzentrierte, aber keineswegs eine so individuelle und ausgefallene Arbeit.4

3

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plare 2679; erfolgreicher war die Publikumsbeschimpfung mit 7073 Exemplaren 1966; im darauffolgenden Jahr hat sich diese Zahl verdreifacht (21 213 Exemplare); 1969 wurden 55 476 Exemplare abgesetzt. In der Fallstudie von Otto Lorenz wird für die Publikumsbeschimpfung im Jahr 1990 eine Gesamtauflage von 166 700 Exemplaren angegeben. Vgl. Otto Lorenz: Die Öffentlichkeit der Literatur. Fallstudien zu Produktionskontexten und Publikumsstrategien: Wolfgang Koeppen – Peter Handke – Horst-Eberhard Richter. Tübingen: Niemeyer 1998, S. 174. Vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Struktur und Genese des literarischen Feldes. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999 (frz. 1992); René Girard: Resurrection from the Underground. Fedor Dostoevsky. New York: The Crossroad Publishing Company 1997 (frz. 1963). Peter Handke: Ausbeutung des Bewußtseins. In: Literatur im Residenz Verlag. Almanach auf das Jahr 1973, S. 65–71, hier S. 70f. (Erstdruck: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. 1. 1973, unter dem Namen des Interviewers, Christian Linder).

Handkes Endspiel

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Nichts an dieser Aussage lässt vermuten, dass das ›Auftreten als Dichter‹ – eine nicht nur hier von Handke reflektierte Habitusform – zu einem entscheidenden Stigma gemacht werden könnte, mit entsprechender Provokations- und Aggressionslust auf Seiten des Stigmatisierten. Die Rede von unterschiedlichen Sprachspielen der Literatur und des Journalismus, in denen, wie historisch bekannt, Doppelbegabungen eine entscheidende, wenngleich selten unumstrittene Rolle gespielt haben, ist längst einer agonalen Kampfordnung von Sprachspielen gewichen, in denen, mangels wechselseitig anerkannter ›universeller‹ Spielregeln, eine Art ›Diskursdarwinismus‹ herrscht, der höchstens dem Zynismus des postmodernen Dauervoyeurs bekömmlich ist.5 Es ist offenkundig, dass bei diesen Sprachspielen höchst unausgewogene Machtverhältnisse gelten: Die Literatur (und mit ihr auch die Literaturwissenschaft) ist in einem Ausmaß strukturell deklassiert, dass ihre Verteidigung leicht donquichottische oder, je nach Temperament, auch rabiate Züge annimmt. Das gibt auf der Habitusebene entsprechend bunte Schauspiele und grelle Inszenierungen ab: Gerade das, um nicht zu sagen: nur mehr das, aber scheint noch ein journalistisches Interesse am literarischen Feld zu garantieren. Auf der Gegenstandsebene ist freilich auch bei vorgeblich historisch entschiedenen Machtverhältnissen die ›schwache Position der Literatur‹ nicht einfach zu räumen; schon gar nicht von der Literaturwissenschaft. Dass für Handke ein emphatisch verstandenes Lesen/Schreiben als – mit Wittgenstein gesprochen – zu erstrebende Lebensform gilt, ist unbestritten und sollte von der Germanistik, selbst wenn öffentlicher Beifall winkt, nicht einfach preisgegeben werden. In Handkes Einsatz für die Sache der Literatur kommt es zu dissonanten Effekten zwischen mehr oder weniger gelungenen Provokationsgesten und Inszenierungsformen der Dichter-Rolle, deren Repertoire er nicht zuletzt durch die Erfahrung der »popular arts«6 in den Sechziger Jahren (Lennon, Dylan, Van Morrison etc.) ingeniös erweitert hat. Es wäre eine Untersuchung wert, die Formen und Gesten des Protests der Sixties mit dem historischen Arsenal der Literaturgeschichte zu vergleichen: Die Auftritte eines Michael McClure, Allen Ginsberg, Lawrence Ferlinghetti und anderer Beat Poets bei entsprechenden ›Events‹ einerseits, die literarischen Ambitionen von Künstlern wie Dylan, Lennon oder Van Morrison andererseits scheinen auf korrespondierende Vorstellungen und Wünsche bei der Arbeit an einer anderen Kultur hinzudeuten.7 Von den polemisch elaborierten Versuchen der Genannten, die journalistischen Rituale des Interviews zu den jeweils eigenen Bedingungen stattfinden zu lassen, ist der Konsens nicht zu trennen, demzufolge der damals herrschende Journalismus als Hauptfeind galt, bei dem oftmals gleichzeitigen Wunsch, einen Journalismus als ›Gegenmacht‹ im Sinne der eigenen Prämissen etablieren zu helfen. 5

Vgl. Jean-François Lyotard: Der Widerstreit. Übers. von Joseph Vogl. München: Fink 1989 (frz. 1983). – Die meines Erachtens nach wie vor überzeugendste Kritik an Lyotard bei Christopher Prendergast: The Order of Mimesis. Cambridge: CUP 1986. Stuart Hall/Paddy Whannel: Popular Arts. London: Penguin 1964. Vgl. Sheila Rowbotham: Promise of a Dream. Remembering the Sixties. London: Penguin 2000.

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Die deutsche Version in Form der ›Anti-Springer‹-Kampagne hat, wie bekannt, potenziell und erst recht real Verbündete in dauerhafte Gegner verwandelt. Handke, der 1968/69 in Berlin lebte, ist in diese Verwerfungen verstrickt.8 Nicht alle seine Kritiker von damals, wie Elfriede Jelinek, Michael Scharang oder Peter Hamm, sind seine Gegner geblieben; andere, wie etwa Peter Schneider oder Hans Christoph Buch, hingegen umso mehr. Seine vielleicht schärfste ›Abrechnung‹ mit den ›68ern‹ hat Handke ausgerechnet in seiner Kindergeschichte unternommen: zum Schaden des Textes, wo dies vorsätzlich deklamatorisch geschieht und das hilflose, einzelne Kind indirekt zum Zeugen der Anklage gegen die »feindliche Macht« der »neuen Gemeinschaften«9 (wie etwa der Kommune I) gemacht wird. Am überzeugendsten jedoch in einem dialektischen Bild, in dem sich die Selbsterfahrung in einem Filmbild und dem Traum von der anderen Weltgeschichte mit dem Erinnerungsbild an die Gewalt der einen Geschichte, wie sie durch den Polizeitrupp repräsentiert wird, verknüpft: Es war eine Zeit ohne Freunde; auch die eigene Frau eine ungute Fremde geworden. Umso unwirklicher dann das Kind, auch durch die Reue, mit welcher der Mann jeweils buchstäblich zu ihm heimflüchtete. Langsam geht er durch das verdunkelte Zimmer auf das Bett zu und sieht sich dabei selber von oben und von hinten, wie in einem monumentalen Film. Hier ist sein Platz. Schande über all die falschen Gemeinschaften, Schande über das fortgesetzte feige Verleugnen und Verschweigen meiner einzigen Zugehörigkeit! Schande über meine Beflissenheit vor eurer Aktualität! – So wurde es ihm allmählich zur Gewissheit, dass für seinesgleichen seit je jene andere Weltgeschichte galt, die ihm damals an den Linien des schlafenden Kindes erschien. – Und doch steht im Gedächtnis der diagonale Weg durch das atemwarme Zimmer im Zusammenhang mit dem einstimmigen Angriffsgebrüll eines Polizeitrupps drunten auf der nächtlichen Straße, wie es entmenschter und höllenhafter nie gehört worden ist.10

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So schrieb Handke 1968 eine sehr positive Besprechung: Zu Hans Dieter Müller, »Der Springer-Konzern«. In: P. H.: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972, S. 169–175. – In diesem Text reflektiert Handke auch die derealisierende, weil eben so »mechanisch verwendbare« Sprache der Kritik an Springer: »Ich frage mich: Sind diese Satzreihen über die Springerzeitungen nicht selber schon etwas, das man mit einer Metapher ›Bildzeitungen der Diskussion‹ nennen könnte?« (S. 170). In nuce steht hier die Medienkritik, die er gegenüber der westlichen Berichterstattung über Serbien und den Krieg in Jugoslawien ausgebaut hat. Für eine vergleichbare Arbeit (zu einem anderen, eskalierenden Konflikt) vgl. Edward W. Said: Covering Islam. How the Media and the Experts Determine how we see the Rest of the World. Fully revised Edition with a New Introduction. London: Vintage 1997. Peter Handke: Kindergeschichte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. 14. – Handkes Kontakte zur Kommune I werden erwähnt in den Erinnerungen des Gründungsmitglieds Ulrich Enzensberger: Die Jahre der Kommune I. Berlin 1967–1969. München: Goldmann 2006, S. 361. – Für eine anspruchsvolle Rekonstruktion des Debattenzusammenhangs ›1968‹ vgl. Klaus Briegleb: 1968. Literatur in der antiautoritären Bewegung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993 sowie den Handke-Abschnitt in dem Kapitel: »›1968‹. Debatten im logischen Raum«. In: Klaus Briegleb: Unmittelbar zur Epoche des NS-Faschismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 316–370, hier bes. S. 341–359. Ebd., S. 23f.

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In keinem Fall hätte Handke – und dies gehört zu den Durchkreuzungen damaliger Oppositionen – die mit dem Kursbuch verbundene Losung vom ›Tod der Literatur‹ geteilt, obwohl er für die berühmt-berüchtigte Nummer 15 – bezeichnend genug – mit einem (dann nie erschienenen) Beitrag zur Grablegung der Rezension (vor)angekündigt war.11 Eher schon hätte er Enzensbergers späteren Befund über die prinzipiell ›schmutzigen Medien‹ geteilt, ohne sich indes von deren Produktivkraft, wie Enzensberger damals im Anschluss an Benjamins Film- und Brechts Radiotheorie, demokratisierende Effekte zu erhoffen. Enzensberger hat dies später auch für sich als Illusion verworfen.12 Immerhin experimentierte Handke damals selber mit den Medien Film und Radio und veröffentlichte Rezensionen und Filmkritiken in den deutschen Medien.13 Die von Enzensberger wesentlich geprägte Kritik der »Bewußtseins-Industrie«, seine fulminante Analyse der »Sprache des Spiegel« und seine an die Frankfurter Allgemeine Zeitung adressierte Polemik gegen den »Journalismus als Eiertanz«14 drohte Ende der sechziger Jahre, wie Reinhard Baumgart beobachtete, in defätistischen »Abscheu« umzuschlagen, wobei die »Berührungsangst gegenüber den ›manipulierenden‹ Medien« »Kulturkonservative und Kulturrevolutionäre merkwürdig einigt«.15 Es ist durchaus bemerkenswert, wie viele Todesanzeigen damals von Leuten ausgestellt wurden, die in ihrer blühendsten Jugend standen: vom ›Tod der Literatur‹ bis zum ›Tod des Autors‹. Es spricht für Handkes Aufmerksamkeit, dass er dies am Beispiel der Verabschiedung herkömmlicher Lebensformen Ende der sechziger Jahre reflektiert: Die herkömmlichen Lebensformen waren für die meisten der Generation ›der Tod‹ geworden, und die neuentstehenden wurden zwar endlich nicht mehr von einer äußeren Obrigkeit angeordnet, zwangen sich aber trotzdem auf mit der Macht eines allgemeinen Gesetzes.16

Aus bislang nicht erforschten Gründen hat sich Handke weniger für die deutschen Frontkämpfe interessiert, obwohl ihm dort, neben Peter Schneider oder Günter Grass, respektable Gegnerschaften, von Lettau bis Kluge, geblieben sind (alle übrigens Verbündete in der Opposition gegen die ›Springer-Presse‹). In ästhetischer Hinsicht hat sich Handke vor allem auf die auch in Deutschland heftig debattierte Auseinandersetzung mit Sartres Konzept der ›engagierten Literatur‹ eingelassen. Wie die intensive Konfrontation mit Sartres Roman Der Ekel 11 12

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In dem nicht paginierten Anzeigenteil von Kursbuch 14. Vgl. Hans Magnus Enzensberger: Baukasten zu einer Theorie der Medien. In: Kursbuch 20 (1970), S. 159–186; seine Selbstkritik in: Mittelmaß und Wahn. Gesammelte Zerstreuungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988. Vgl. Peter Handke: Wind und Meer. Hörspiele. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970; Peter Handke: Chronik der laufenden Ereignisse. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971. Sämtlich in Hans Magnus Enzensberger: Einzelheiten I. Bewußtseins-Industrie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 91976 [EA 1962]. Reinhard Baumgart: Die schmutzigen Medien [Über Enzensbergers »Kursbuch 20«]. In: Der Spiegel (1970) 18, S. 212. Peter Handke (Anm. 9), S. 19f.

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in Die Stunde der wahren Empfindung beweist, hat ihn die von den Russischen Formalisten und vor allem durch Roland Barthes gestärkte Opposition zu Sartre nicht davon abgehalten, literarischen Gebrauch von dessen Texten zu machen. Mit seiner Kritik der engagierten Literatur handelt sich der sich selber als ›links‹ verstehende Handke zum Teil massive Kritik bei der damaligen ›Linken‹ ein, von Martin Walser bis Peter Hamm oder Lothar Baier.17 Was die journalistischen Protagonisten angeht, die damals tendenziell auf der Seite Handkes waren oder hätten sein können, so wird man die Machtverteilungen in diesem Feld nicht unterschätzen dürfen, die, durch spezielle Aversionen begünstigt, alsbald zu einer bemerkenswert stabilen Schlachtordnung ausgebaut worden sind, für die sich die benötigten Büttel auch (zu) mühelos gefunden haben. Die unerbittliche Gegnerschaft zwischen Handke und Reich-Ranicki ist, empirisch betrachtet, lediglich eine Variante des spannungsreichen Verhältnisses von Literatur und (journalistischer) Literaturkritik. Handkes Aufmerksamkeit für die professionellen Deformationen des Kulturbetriebs und die Attitüden seiner Akteure reichen vom sarkastischen Notat: »Das Problem ist, daß die, die über Bücher schreiben, diese schon längst nicht mehr brauchen. Problem? Skandal?«18 bis zur selbstentblößenden, hilflosen Aggression gegen »Scene-Leute«: »Ihre Stimme hatte dieses ruhige, extraweiche, laue, gefühllose, aber gefühlbehauptende Schwingen all der flauen Kulturteilnehmer, die nun spontan + sensibel geworden sind, nachdem sie vorher politisch gewesen waren, und es ist diesen Nicht-Personen einfach nicht beizukommen als durch einen Schlag ins Gesicht« [5. Mai 1976].19 Andernorts hat er wiederholt den Zustand heutiger Literaturkritik beklagt und im Rekurs auf Walter Benjamin für eine andere Auseinandersetzung mit Literatur plädiert.20 Handkes eben so scharfe wie kluge Polemik gegen Reich-Ranickis Selbstverständnis als Literaturkritiker und dessen Literaturbegriff21 betrifft indes nur einen Aspekt des Verhältnisses von Literatur und Journalismus, das sich vor allem mit den Veröffentlichungen und Verlautbarungen Handkes zu Jugoslawien und dessen Zerschlagung antagonistisch verhärtet hat. Die nachvollziehbaren Differenzen im politischen Urteil über Jugoslawien und den völkerrechtlich nicht legitimierten NATO-Einsatz gegen Serbien können die extremen Verwerfungen nicht erklären, die spätestens seit 1992 die angeblich aus17

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Zur linken Handke-Kritik jener Jahre vgl. den Materialienband: Über Peter Handke. Hg. von Michael Scharang. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972 und die ausführliche Bibliografie von Harald Müller ebd., S. 358–393. Peter Handke: Am Felsfenster morgens (und andere Ortszeiten 1982–1987). Salzburg, Wien: Residenz 1998, S. 14. Peter Handke: Das Gewicht der Welt. Salzburg: Residenz 1977, S. 156. – Dieses Journal ist voll mit Einträgen, in denen höchste Sensibilität der Wahrnehmung und höchste Aggression(sbereitschaft) koexistieren. Vgl. vor allem Peter Handke: Einwenden und Hochhalten. Rede auf Gustav Januš [1984]. In: P. H.: Langsam im Schatten. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 125–130; der emphatische Wunsch: »eine Wiederholung, eine Erneuerung, eine Wiederbelebung der Haltung Walter Benjamins« findet sich S. 127. Peter Handke: Marcel Reich-Ranicki und die Natürlichkeit. In: P. H.: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (Anm. 8), S. 203–207.

Handkes Endspiel

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differenzierten Bereiche von Feuilleton und Politik, Journalismus und Literatur heillos zerrüttet haben. Diese Zerrüttung wurde, zum Schaden aller, auch auf dem niedrigsten, das heißt persönlichen Niveau ausgetragen. Obwohl hier fast alles falsch verstanden werden kann, dürfte gelten: Der hohe Einsatz aller Beteiligten ist nur damit zu erklären, dass jeweils auch das Selbstverständnis der beteiligten Akteure auf dem Spiel stand: Handkes Aggression gegen den damaligen deutschen Außenminister Joschka Fischer (»Turnlehrer im Grauen«22 ), den österreichischen Diplomaten Wolfgang Petritsch und andere ehemalige Achtundsechziger an der Macht wie den damaligen NATO-Generalsekretär Javier Solana (»NATO-Töterich«23 ), der die Entscheidung für die Bombardierung Serbiens zu verantworten hat, erinnert an politische Übereinkünfte von einst, die Handke nunmehr – nicht ohne Grund – verraten sieht. Andererseits bekommt Handke von ehemals kritisch gegen ihn eingestellten Achtundsechzigern wie Jelinek, Scharang, Lothar Baier und anderen öffentliche Unterstützung. Handkes Versuch, mit Habermas einen der maßgeblichen Theoretiker der Frankfurter Schule anzugreifen, wurde von diesem souverän pariert.24 Habermas’ intellektuelle Redlichkeit hat die Gründe für einen militärischen NATO-Einsatz in Serbien (ohne entsprechenden Beschluss der UNO) trotz entschiedener Befürwortung nur als prekäre bezeichnen können und somit eine Gegenposition nicht von vornherein lächerlich gemacht, wie es in den machtkonformen Medien der Fall war. Handke hat umgekehrt, nicht minder voreilig, Habermas mit der Position dieser Medien identifiziert.25 22

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So Handke in einem Fernsehgespräch mit seiner Tochter Amina für die alternative Wiener Fernsehgesellschaft TIV am 13. Juni 1999. Der Anlass war die Uraufführung seines Stücks Die Fahrt im Einbaum am Wiener Burgtheater. Bei dieser Gelegenheit ist Handke auch auf die Differenz der schriftstellerischen Sicht zu sprechen gekommen: »Ich habe die schriftstellerische Sicht, die genau so legitim ist oder anders legitim ist wie die journalistische Sicht auf die Dinge oder auf die Menschen. Die universeller ist, kommt mir vor. Meine Arbeit als Schriftsteller – auch in diesem Fall – ist eine Arbeit des Öffnens und Vertiefens und Berührens« (zit. nach: Der Standard vom 12./13. 6. 1999). – Handkes bestechendes, lange schon feststehendes Credo vom Schriftstellertum als Feind des Meinens ist gerade im Fall der Jugoslawien-Debatte schlecht anwendbar, weil der Schriftsteller nur zu oft auf der Seite (und den Seiten) des Meinens zu finden ist. Peter Handke: Unter Tränen fragend. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 75. Vgl. Jürgen Habermas: Bestialität und Humanität. Ein Krieg an der Grenze zwischen Recht und Moral. In: Die Zeit vom 29. 4. 1999; ferner: Jürgen Habermas: Zweifellos. Eine Antwort auf Peter Handke. In: Süddeutsche Zeitung vom 18. 5. 1999. – Siehe insgesamt den Band: Der Kosovo-Konflikt und das Völkerrecht. Hg. von Reinhard Merkel. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, in dem auch der ZEIT-Artikel von Habermas enthalten ist. Ferner: Jürgen Habermas: Ein Interview über Krieg und Frieden [2003]. In: J. H.: Der gespaltene Westen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 85–109. Vgl. etwa Peter Handke: Moral ist ein anderes Wort für Willkür [Gespräch mit Willi Winkler]. In: Süddeutsche Zeitung vom 15./16. 5. 1999, wo er Habermas’ ZEIT-Artikel (Anm. 24) »eine Apologie der blindwütigen Gewalt« nennt, was »schon in seinen Adverbien zum Ausdruck« komme, wofür er auch den Gebrauch von »zweifellos« anführt und verallgemeinert: »Für mich ist immer eins der ersten Opfer [des Krieges] die Sprache«. Habermas’ Entgegnung »Zweifellos« (Anm. 24) widerlegt Handke auf dessen Terrain der Sprachkritik.

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Handke hat die Glaubhaftigkeit seines emphatisch artikulierten Ekels vor der Macht, den Mächtigen und ihren Handlangern26 durch sein (mitunter auch ihn selbst) verwirrendes Engagement für Miloševiˇc, jedenfalls durch den symbolischen Akt seiner Teilnahme am Begräbnis dieses Politikers, nachhaltig erschüttert. Dafür muss man die von Handke zu Recht kritisierten Dämonisierungen dieses serbischen Politikers durch die (westlichen) Medien keineswegs teilen; umso weniger, als diese Medien gegenüber vergleichbaren Politikern Ex-Jugoslawiens – etwa dem kroatischen Präsidenten Tudjman – zu keiner artikulierten Distanz bereit waren.27 Die von Handke im Gegenzug vor allem in mündlichen Verlautbarungen praktizierte Dämonisierung der Medien ist jedoch, wie jede Dämonisierung, wenig überzeugend: Sie kann nur als Transformation seines Ekels vor der Macht begriffen werden. Dafür spricht auch, dass er nach übereinstimmenden Zeugnissen den Kontakt zur serbischen Opposition gegen Miloševi´c gar nicht erst gesucht hat.28 Diese Verschiebung der Kritik an der Macht – von einem nationalen/nationalistischen Machthaber auf die Macht der internationalen/imperialistischen Medien – ist ein wesentlicher Grund für die Überlagerung der Argumente auf beiden Seiten. Eine solche Konfundierung liegt zweifellos dort vor, wo die Missbilligung eines politischen Urteils zu einem literarischen Verriss gemacht wird. Umgekehrt muss der medienkritische Scharfsinn nicht unbedingt den politischen befördern. Nicht nur aus Notwehr, sondern auch aus plausiblen theoretischen Gründen hat Handke immer insistierender auf die Differenz von Rede und Schrift hingewiesen. Mehrmals musste er allerdings eigene Aussagen schriftlich korrigieren, und zwar nicht deswegen, weil diese zuvor medial entstellt worden wären.29 Umgekehrt hat 26

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In der Büchnerpreis-Rede heißt es: »Seit ich mich erinnern kann, ekle ich mich vor der Macht, und dieser Ekel ist nichts Moralisches, er ist kreatürlich, eine Eigenschaft jeder Körperzelle« (Peter Handke: Als das Wünschen noch geholfen hat. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 74). – Vgl. auch sein Gedicht »An die Henker«. In: P. H.: Das Ende des Flanierens. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980, S. 122. Vgl. dazu etwa auch Hans Magnus Enzensberger im Interview: Berlin – Belgrad – Zagreb [1993]. In: H. M. E.: Zu große Fragen. Interviews und Gespräche 2005–1970. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, S. 146–164, hier S. 149: »Im übrigen ist Tudschman dümmer als Miloševi´c; das sieht man schon daran, dass er seinen Flirt mit den Erben der Ustascha nicht aufgeben will, der das Land international isoliert«. Gerade diese erwartbare Isolierung hat dann aber nicht stattgefunden. Das hat ihm zum Teil harsche Kritik von serbischen/jugoslawischen Schriftsteller/inne/n und Intellektuellen eingebracht. Eine Analyse dieser Texte, ihrer Instrumentalisierung im Westen und von Handkes Reaktion wäre angebracht. Jedenfalls sind auch diese Stimmen keineswegs einheitlich gegen Handke. Ich zitiere nur den verstorbenen serbischen Schriftsteller Aleksandar Tišma, der zu Handke gesagt hat: »Er ist nicht mein Verbündeter. Aber ich sehe auch nichts Inhumanes in dem, was er sagt und tut. Es gibt eben keine satanische Nation, nur schlechte Politiker. Darum, glaube ich, geht es Handke vor allem. Ich fordere Gerechtigkeit für Handke«. Siehe Alexander Tišma: »Der Pessimist hat immer recht« [Interview mit Mathias Schreiber]. In: Der Spiegel (1999) 15, S. 266–268, hier S. 268. – Vgl. dazu insgesamt den Band: Noch einmal für Jugoslawien: Peter Handke. Hg. von Thomas Deichmann. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999. Vgl. etwa Peter Handke: Was ich nicht sagte. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. 5. 2006.

Handkes Endspiel

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seine öffentliche Selbstkritik die Medien nicht davon abgehalten, Handke mit seinen (widerrufenen) Aussagen erneut immer wieder zu diffamieren. Der Hinweis auf Handkes Widerrufe verlangt auch die Erwähnung der von Handke in mehreren Leserbriefen monierten Falschmeldungen über ihn, beispielsweise über seinen ›Ritterschlag‹ in Serbien.30 Die Art aber, wie in den Medien Handke-Texte ›gelesen‹ und wie daraus zitiert wird, zeigt im Kleinen, was ihnen Handke im Großen vorwirft. Ein eklatantes Beispiel ist der Verriss von Unter Tränen fragend im Spiegel. Der Rezensent, Reinhard Mohr, beschließt seine Rezension so: »Der letzte Satz seines Buchs lautet: ›Das Zeitalter der Informationen ist vorbei.‹ [–] Das ist es: Eine programmatische Selbstbezichtigung, die intellektuelle, künstlerische und moralische Bankrotterklärung. [–] Der Dichter – hingestreckt zum Gebet«.31 Dieser »letzte Satz« ist jedoch nicht von Handke, sondern Zitat; Handke zitiert unmittelbar davor den »Sprecher der Medienagentur Saatchi & Saatchi (London)« mit folgender Aussage: »›Das Zeitalter der Information ist vorbei. Wir treten ein in das Zeitalter der Idee. Das heißt, wir brauchen einen Kontext, welcher der Information einen Sinn gibt.‹« Handke wird zum Verursacher dessen gemacht, was er kritisiert. Der Journalist entpuppt sich sogar noch in der Buchrezension als verlängerter Arm jener Medienagenturen, deren Rolle im Jugoslawienkrieg allmählich Konturen gewinnt.32 Eine besondere Pointe liegt darin, dass die Agentur Saatchi & Saatchi von Serbien engagiert werden sollte, was aufgrund des westlichen Boykotts aber nicht zustande kam – im Unterschied zu Gesellschaften wie Ruder Finn Public Affairs und anderen, die für Bosnien und Kroatien arbeiteten und erfolgreich ein simplifiziertes und vor allem auch vereinheitlichtes Bild vom Krieg und von Serbien durchsetzten.33 Nicht erst seit der Debatte über ›embedded journalism‹ im Irak-Krieg konnte man wissen, dass Kriegsjournalismus und -berichterstattung ein interessiertes Gewerbe sind: Karl Kraus hat diesen Nachweis in unübertroffener Genauigkeit und Vehemenz erbracht und Joseph Roth die mediale Zurichtung der Wirklichkeit scharfsinnig artikuliert. Handkes Schreiben gegen den Krieg in Jugoslawien steht in einer ehrwürdigen Tradition der (österreichischen) Literatur; Handke ist sich dessen auch bewusst, wenn er sich beispielsweise ermahnt, »nur kein Karl Kraus zu werden«34 . Die unbequeme Frage von Karl Kraus nach den Interessen derer, die für den Krieg sind, weil sie an ihm verdienen, von der Rüstungsindustrie bis zu 30

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Siehe Peter Handke (Anm. 23); vgl. auch seinen Leserbrief an die Süddeutsche Zeitung vom 16. 4. 1999: Slawes Bruder. Ein kurzer Brief zum langen Krieg. Reinhard Mohr: Bänkelsänger des Balkan. In: Der Spiegel (2000) 19, S. 259–61; hier S. 261. – Das folgende Zitat nach Peter Handke (Anm. 23), S. 157. Vgl. dazu schon früh Mira Beham: Kriegstrommeln. Medien, Krieg und Politik. München: dtv 1996; eine überarbeitete und ergänzte Auflage ist angekündigt. Welche Implikationen das für die journalistisch geschmähte Medienkritik Handkes und seine Erzählpoetik hat, untersucht Hubert Lengauer in seinem wichtigen Aufsatz: Pitting Narration against Image. Peter Handke’s Literary Protest against the Staging of Reality by the Media. In: Whose story? – Continuities in contemporary German-language literature. Hg. von Arthurs Williams, Stuart Parkes, Julian Preece. Bern u. a.: Peter Lang 1998, S. 353–370. Peter Handke: Am Felsfenster morgens. Salzburg, Wien: Residenz 1998, S. 491.

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den Zeitungen, hat nichts an ihrer Dringlichkeit verloren, gar nicht zu reden von der literarischen wie journalistischen Produktion des Feindbilds Serbien (nicht erst) im Ersten Weltkrieg. Handkes Medienkritik im Zusammenhang mit der Berichterstattung über Serbien setzt also eine der vornehmsten Aufgaben literarischer Arbeit fort. Zugleich erinnert dieser Traditionszusammenhang auch daran, dass die Literatur angesichts dieser Aufgabe auf keine Unschuld pochen kann: Karl Kraus hat die literarische Prominenz seiner Zeit – darunter wichtige Gewährsleute Handkes wie Rilke oder Hofmannsthal – ihrer Schreibtischtäterschaft überführt. Das Dichterwort ist gerade in Zeiten des Kriegs nicht sakrosankt, so notwendig es gerade in solchen Zeiten wäre. Mehrfach hat Handke an diese Funktion der Poesie erinnert und die Marginalisierung des ›nur‹ Poetischen als medialen Gewaltakt (der zur allgemeinen Phrase verkommen ist) kritisiert.35 Umgekehrt ist die Frage der Augenzeugenschaft für den Dichter nicht prinzipiell anders als für den Journalisten, vielmehr in gleichem Maße prekär: Die Krise der Augenzeugenschaft ist selbst zu einem wichtigen literarischen Thema des 20. Jahrhunderts geworden,36 und Handke, der bei Camus in die Schreibschule gegangen ist, ist das nicht verborgen geblieben. Damit ist nicht der läppische Vorwurf ins Recht gesetzt, Handke habe auf seinen Jugoslawienreisen bestimmte Kriegsschauplätze, deren bloße Nennung offenbar schon den gewünschten Realitätseffekt verbürgen soll, gemieden und sich so vorsätzlich der Verdrängung der Wirklichkeit schuldig gemacht. Die heftige mediale Kontroverse um Handkes Gerechtigkeit für Serbien ist somit nicht einfach als Opposition zwischen Literatur und Journalismus darstellbar; sie ist durchkreuzt von dem Gegensatz Schriftlichkeit und Mündlichkeit, den Handke selbst durch seine mündlichen Aussagen und Interviews mit der von ihm attackierten Präsenz der Medien verkoppelt. Somit wird er auch, wie auch immer ungeplant, in einer bestimmten Rolle als Dichter gezeigt oder in diese gedrängt: Handkes Ankündigung, sich als Idiot nur noch im Abseits der Öffentlichkeit bewegen zu wollen, sind (medial vermittelte) Botschaften, die nur zu deutlich die Aporien einer solchen Flucht anzeigen: Bis auf Weiteres wird jedenfalls eine solche Ankündigung Handkes als mediale Botschaft übermittelt werden.37 35

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Peter Handke: Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 133: »Kommst du jetzt mit dem Poetischen? Ja, wenn dieses als das gerade Gegenteil verstanden wird vom Nebulösen. Oder sag statt ›das Poetische‹ besser das Verbindende, das Umfassende – den Anstoß zum gemeinsamen Erinnern, als der einzigen Versöhnungsmöglichkeit, für die zweite, die gemeinsame Kindheit.« Vgl. Shoshana Felman/Dori Laub: Testimony. Crises of Witnessing in Literature, Psychoanalysis, and History. London, New York: Routledge 1992. – Vgl. ferner: Niemand zeugt für den Zeugen. Erinnerungskultur nach der Shoah. Hg. von Ulrich Baer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000. Vgl. Handkes Rede zum Ehrendoktorat der Universität Salzburg (Juni 2003): Einige Anmerkungen zum Da- und zum Dort-Sein. In: Peter Handke/Adolf Haslinger: Einige Anmerkungen zum Da- und zum Dort-Sein. Salzburg, Wien: Jung und Jung 2004, S. 43– 62, vgl. bes. S. 61f.

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Das betrüblichste und trübste Kapitel in dieser langen, verspiegelten Geschichte des Schriftstellers und der von ihm als Meute wahrgenommenen Vertreter der Massenmedien zeigt am prekärsten die realen Machtverhältnisse. Der rechtens als Skandal bezeichnete Vorgang, die Entscheidung einer unabhängigen Jury, Handke den Heine-Preis zu verleihen, politisch zu kassieren, ist ein Paradefall von medialer Macht, von der die Düsseldorfer Politiker unter reger Beteiligung des Feuilletons opportunistisch Gebrauch gemacht haben. Dass im Feld der Politik eine die Literatur betreffende Entscheidung politisch aufgehoben wird, zeigt nur, wie bequem die Rede von der Ausdifferenzierung dieser Bereiche wird, wenn sie nicht genau ›beobachtet‹ wird. Dass Handke in unverkennbarer Anspielung auf Zolas öffentlichen Akt als Intellektueller mit einem Je refuse überschriebenen öffentlichen Brief an den Düsseldorfer Oberbürgermeister auf den Heine-Preis verzichtet,38 erinnert nachhaltig an den prekären Status des Schriftstellers und Intellektuellen unter massenmedialen Bedingungen. Eine besondere Pointe dabei ist, dass Handke in der nun nicht gehaltenen Preisrede den Gegensatz von Literatur und Journalismus zum Thema machen wollte. Dass Heine einerseits für den »Funktionsübergang von Dichtung und Publizistik«39 gewürdigt, andererseits von Karl Kraus gerade deswegen vehement kritisiert worden ist, zeugt von der anhaltenden Interferenz zweier Sprachspiele, die Handke im Sinne der Reinheit bzw. der reinen Trennung (angesichts überall angesagter Hybridität) ge- und unterschieden haben möchte. In einem Gespräch mit einem Journalisten hat Handke auf die Frage, warum er den Heine-Preis überhaupt annehmen wollte, so geantwortet: ›Ich wollte den Preis gern benutzen, um auf Unterschiede hinzuweisen, zwischen journalistischer Sprache.‹ – ›Das können Sie doch auch ohne Preis.‹ – ›Hm. Zuviel Arbeit.‹ Über journalistische Sprache redet er gern und entschlossen. Was ist journalistische Sprache? ›Vorgefertigte Sätze‹, ›man weiß immer schon vorher, was drinsteht‹, ›Journalistenschulen sind sehr, sehr abträglich für das Beschreiben von komplexer Wirklichkeit‹, sagt er. Und: ›Bei einem Artikel sehe ich beim ersten Satz: Wo ist die Tendenz. Ich möchte aber keine Tendenz. Das interessiert mich nicht (Dös interessiert mi ned’, klingt es in seinem weichen Österreichisch). Ich möchte Öffnung statt Tendenz. Wenn ich Tendenz merke, bin ich draußen.‹ – ›Das ist doch ein Zerrbild des Journalismus, das Sie da zeichnen. Es geht doch zunächst einmal um Tatsachen.‹ – ›Ja, für Sie ist das ein Zerrbild. Aber es ist so! Das ist ein Rezept, eine Mache.‹ – ›Hat nicht gerade Ihr ›poetisches Schreiben‹ in Jugoslawien zu vielen Mißverständnissen geführt? Die Erdbeeren auf den Hügeln um die belagerte Stadt Sarajewo? Dieses Romantisieren oder Verharmlosen des Schreckens? Ist das nicht Ihr Fehler, daß man es so lesen kann, daß viele es so gelesen haben?‹ – ›Nein, das ist Bösartigkeit, verbunden mit Blödheit‹, sagt Handke und fährt fort: ›Nicht einzustimmen in eine bestimmte Grammatik wird als physischer Angriff gedeutet.‹ – ›Aber es ist doch nicht alles Grammatik!‹ – ›Für mich schon. Ich komm’ immer auf die Sprache zurück.‹40 38

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Handkes Absage. Je refuse! Ein Briefwechsel. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. 6. 2006, S. 45. Vgl. Wolfgang Preisendanz: Der Funktionsübergang von Dichtung und Publizistik. In: W. P.: Heinrich Heine. Werkstrukturen und Epochenbezüge. München: Fink 21983, S. 21– 68. Volker Weidermann: Besuch bei Peter Handke. Der kurze Abschied vom langen Kampf. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 11. 6. 2006.

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Obwohl dies nur Mündliches ist, noch dazu aus fremder Feder übermittelt, wird man froh sein können, dass Handke seine Rede über die Unterschiede von journalistischer und poetischer Sprache nicht, zumindest nicht so, gehalten hat. Trotz des erkennbaren Echos weit zurückreichender poetologischer Einsichten Handkes würde man sich wünschen, dass er den im gleichen Artikel geäußerten Grund-Satz: »Niemand kennt den Balkan«, für einen Augenblick wenigstens, als künstliches Moratorium, auch auf die Unterschiede zwischen Journalismus und Literatur anwendete. Legitimiert als vielleicht beharrlichster Erforscher einer Grammatik des Erzählens wäre von ihm etwas anderes zu erhoffen als der Schematismus des reinen Gegensatzes. Allerdings ist die Selbsteinschätzung der journalistischen Seite, es ginge ihr um die Tatsachen, nicht nur angesichts der von Medienagenturen zubereiteten Fakten eine Zumutung; die Ausblendung, dass auch der Journalismus mit Sprache operiert, unterschreitet Handkes Reflexionsniveau. Der österreichische Schriftsteller und Journalist Ferdinand Kürnberger, den Karl Kraus als einen der wenigen Feuilletonisten des liberalen Zeitalters als Vorläufer anerkannt hat, hat in einem 1866 geschriebenen Feuilleton über Sprache und Zeitungen den »Journalismus in seiner corrosiven Einwirkung auf die Sprache« untersucht und durchweg negative »Proben der journalistischen Sprachfabrik« anund vorgeführt.41 Was die »neuerungssüchtige Eigentümlichkeit« des Zeitungsstils kennzeichnet und »seine Phraseologie motivirt«42 , wird von Kürnberger auf ein dreiteiliges Schema von »Aufregung«, »Abspannung« und »Höflichkeit« (»Sprache der Schonung«43 ) zurückgeführt, für das er ausführliche Beispiele vorlegt. Das hält ihn nicht davon ab, Motiv wie Prinzip dieser Neuerungen gutzuheißen und der Zeitung ihre eigene Redeweise zuzubilligen. Eben so prinzipiell hält er an der Empfindlichkeit des Sprachsinns fest, was ihm nicht nur in Österreich von Kraus bis Wittgenstein, sondern auch von Benjamin bis Adorno ein ehrendes Andenken gesichert hat. Seine Furcht vor den »Barbarismen«44 der Zeitungssprache ist bei Handke (und nicht nur bei ihm) umgeschlagen in eine Kritik an der Auflösung der Gewaltenteilung: In dem Maße, wie der Journalismus aufgehört hat, Macht zu beobachten und zu kritisieren, sondern diese selbst auszuüben, ist Literatur dringlicher denn je.

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Ferdinand Kürnberger: Sprache und Zeitungen [1866]. In: F. K.: Literarische Herzenssachen. Wien: L. Rosner 1877, S. 12–28, hier S. 26, 23. Ebd., S. 24. Ebd., S. 24. Ebd., S. 27.

Markus Joch (Berlin)

Anreger und Aufreger Wie Hans Magnus Enzensberger überrascht und in welchen Medien

»Ich bin kein Mensch für die Bühne, war nie in einer Talkshow, gehe nicht ins Fernsehen.«1 Zwar hält sich Hans Magnus Enzensberger, der berüchtigt Bewegliche, auch an diese Linie nicht sklavisch, aber wenn er einmal eine Ausnahme macht, dann zu einem Zeitpunkt, zu dem eine Selbstpopularisierung durch das »korrupteste aller Medien«2 nicht mehr vonnöten ist. So beehrte er Peter Voß, einen Prototypen des Fernseh- als Hobby-Intellektuellen,3 in den Bühler Begegnungen erst Ende Februar 2008, als die in der FAZ vorabgedruckte HammersteinBiografie, über die geplaudert wurde, bereits auf der Bestsellerliste des Spiegel stand (Rang acht). Enzensberger bedarf der Verstärkung durch die Kameras offensichtlich nicht, und dabei sind seine respektablen Absatzzahlen nicht einmal das Entscheidende. Wichtiger ist, dass dieser Autor es »wie kein anderer [. . .] zu nationaler Definitionsmacht«4 gebracht hat, ohne auf TV-Auftritte jemals angewiesen gewesen zu sein. Ein Faktum, das die Kritik von Georg Franck an Pierre Bourdieu natürlich berührt, gravitiert der Dissens der Kulturökonomen doch auf die Frage, ob sich Künstler und Intellektuelle massenmediale Enthaltsamkeit leisten können, sollten oder gar müssen. Für Distanznahmen zum Fernsehen plädierte Bourdieu in der Überzeugung, dass der TV- im Zusammenwirken mit dem Printjournalismus dem literarischen (wie auch dem wissenschaftlichen) Feld eine Einschaltquotenmentalität aufzuzwingen beginnt, die ausschließlich Verkaufsziffern als Legitimationskriterium gelten lässt – sei es durch eine penetrante Fixierung auf Bestsellerlisten, sei es in Gestalt von Literatursendungen, die sich allem Avantgardistischen abhold zeigen. Dadurch werde die Autonomie des literarischen Feldes, die Entkopplung von künstlerischem Wert und kommerziellem Erfolg, hintertrieben. Bedroht sei jener Pol, an dem die Anerkennung durch andere Produzenten mehr zählt als der Zuspruch durch das Großpublikum (production restreinte).5 Mehr noch, eine Dauerpräsenz von Künstlern und Intellektuellen im Fernsehen, die »Kollaboration«,6 Zit. nach Peter von Becker: Der Blick der Katze. Zum 70. Geburtstag: Ein Besuch bei Hans Magnus Enzensberger. In: Der Tagesspiegel vom 11. 11. 1999. 2 Hans Magnus Enzensberger: Aussichten auf den Bürgerkrieg. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 76. 3 Französische Entsprechungen zum Großmeister der Gemeinplätze attackiert Pierre Bourdieu: Über das Fernsehen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 38f. 4 Alexander Smoltczyk: Der Fahrplaner der Lüfte. In: Der Spiegel (1998) 51, S. 214–216, hier S. 214. 5 Vgl. Pierre Bourdieu (Anm. 3), S. 36f., 65. 6 Ebd., S. 85. 1

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zeuge nur von fehlender Anerkennung durch die Kollegen, vom Bedürfnis, kraft Massenresonanz einen Mangel an feldinternem Ansehen zu kompensieren. Dem rigiden Standpunkt in Sur la télévision, mit dem sich Bourdieu pikanterweise einen Bestsellerplatz in Frankreich einhandelte, setzt Franck eine vorderhand nuanciertere und affektfreiere Position entgegen. Sie konzediert, dass eine künstlerische Produktion, die zuvorderst andere Produzenten anleitet, ein hohes und schützenswertes Gut ist. Auch gelte nach wie vor, dass »im avantgardistischen Sektor der hohen Kultur [. . .] zunächst einmal die internen Kapitalmärkte – einschließlich des Markts der professionellen Meinung – bedient werden [müssen], um den Weg zu breiteren Publika zu nehmen«.7 Zu warnen sei aber vor einer Haltung, für die Auflagenhöhen, Besucherzahlen und Auslastungsquoten opportunistische Kriterien sind. »In dem Moment, in dem der Betrieb der hohen Kultur in den Sog der Massenmedien gerät« – dass er in ihn geraten ist, macht den Konsens im Dissens aus –, »bekommt dieser Vorwurf etwas Hagestolzes. [. . .] Mit dem Festhalten an den rigorosen Maßstäben vertut man die Chance, an der Mengenexpansion der zahlenden Aufmerksamkeit zu partizipieren. Das Risiko, auf das man sich einlässt, ist die Existenz am unbedeutenden Rand des Geschehens.«8 Nun, in einem Punkt hat Bourdieu das Autonomiepostulat fraglos überdehnt. Bedürfte es eines Belegs, dass massenmediale Dauerpräsenz und intellektueller Eigensinn vereinbar sein können (Akzent auf dem Modalverb), so wären, was die deutsche Szenerie betrifft, die Fernsehmagazine von Alexander Kluge anführbar, dem auch bei seinesgleichen anerkannten Autor und Filmemacher. Die Praxis von Enzensberger hingegen verweist eher auf ein Problem bei Franck, bei dem sich ein Spurenelement starrer Antithetik einschleicht. Es besteht in der Voraussetzung, dass bei einem Verzicht auf TV-Präsenz Künstlern nur »die Existenz am unbedeutenden Rand des Geschehens« bleibt. Das Rollenmodell Enzensberger spricht dagegen; es steht für eine Aufmerksamkeitsakkumulation, die Fernsehauftritte entbehrlich macht. Folglich drängt sich die Frage auf, wie diese Form der Autonomie unter massenmedialen Bedingungen möglich ist. Bei der Antwort empfiehlt es sich, zwei Perspektiven zu unterscheiden; die folgenden Überlegungen werden zwischen ihnen pendeln. Dass Enzensberger, der seit immerhin fünf Jahrzehnten aktive Autor, seinen Bekanntheitsgrad bis heute hat halten, ja noch erhöhen können, verdankt sich zum einen dem überraschenden literarpolitischen Kurswechsel, der Ende der siebziger Jahre einsetzenden, danach sukzessive radikalisierten Abkehr von der Linken. Der Selbstinterpretation, der zufolge der Positionswechsel einem unaufhörlichen Lernprozess geschuldet war (»Im Zweifelsfall entscheidet bei mir die Erfahrung«),9 sind die meisten Leser gefolgt. Sie betrachten den Widerruf als Beweis singulärer Lauterkeit (»so hat der größte deutsche Intellektuelle Abschied von der Unfehlbarkeit des Intellektuellen Georg Franck: Mentaler Kapitalismus. Eine politische Ökonomie des Geistes. München, Wien: Carl Hanser 2005, S. 99. 8 Ebd., S. 164. 9 André Müller: »Ich will nicht der Lappen sein, mit dem man die Welt putzt«. Interview mit Hans Magnus Enzensberger. In: Die Zeit vom 20. 1. 1995. 7

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genommen«),10 während die deutlich kleinere Schar der Widersacher einer Verratssemantik zuneigt (»zynisch und opportunistisch«).11 Für die einen ist der vormalige Leitautor der Neuen Linken ein Anreger, für die anderen ein Aufreger, wobei man sich den Kampf um die legitime Deutung seiner Werkgeschichte als denkbar asymmetrischen vorzustellen hat. Die Verehrer sind nicht nur zahlenmäßig, sondern auch der Definitionsmacht nach überlegen (liberale bis rechtsliberale Professoren und Journalisten vs. linksradikale bis -liberale Journalisten), so dass sich in politicis eine Zunahme von symbolischem Kapital bei einem gewissen Überhang an kritischer Aufmerksamkeit beobachten lässt. Zum anderen ist beachtenswert, dass Enzensberger symbolisches Kapital in zwei ganz unterschiedlichen Rollen anhäuft. Als Essayist hat er es stets verstanden, Printmedien zu nutzen oder bei Bedarf selbst zu etablieren, deren Reichweite unterhalb der des Fernsehens liegt, die aber größtmögliche Sichtbarkeit unter den Intellektuellen im weitesten Sinn ermöglichen. Die Auflage der selbst gegründeten Periodika Kursbuch (1965) und TransAtlantik (1980) pendelte sich in den Glanzzeiten bei jeweils 100 000 Exemplaren ein, die der Qualitätszeitungen, für die er schreibt, liegt ebenfalls im sechsstelligen Bereich, die des Spiegel mitunter im siebenstelligen. Mit der Prosa nähert sich Enzensberger massenmedialer Aufmerksamkeit – nicht mehr, denn zu berücksichtigen ist auch, dass die bei Suhrkamp erschienenen Sammlungen der Essays zumeist knapp unterhalb der Bestsellerzone geblieben sind. Mit der Lyrik wiederum tendiert Enzensberger zu einer Produktion für Produzenten; der Rezipientenkreis der Gedichte setzt sich zu gleichen Teilen aus potenziellen Dichtern und professionellen Exegeten samt einigen Studierenden zusammen. Gemessen an der Prosa sind die Absatzzahlen der Lyrik bescheiden, auch unterliegt das minoritäre Medium einem anderen Zeitrhythmus: Die Gedichtbände sind keine Best- sondern Longseller. Das Changieren zwischen relativ großem und relativ kleinem Publikum lässt sich am ehesten im Rahmen der Feldtheorie analysieren, da sie, entgegen anders lautenden Gerüchten,12 die kommerzielle und die vom Geldwert unabhängige Literatur keineswegs starr entgegensetzt, sondern es mit dem relationalen Denken hält. Sie beobachtet »zwei Märkte, zwischen denen keine scharf gezogene Grenze angenommen werden darf, die vielmehr nur zwei durch ihre antagonistischen Beziehungen definierte Pole ein und desselben Raums darstellen«.13 Wie nimmt Enzensberger selbst die Spannung der Pole wahr? Er registriert die Differenz von kurz- und langfristigem Aufmerksamkeitsgewinn. So originell und umstritten die publizistischen Interventionen zum jeweiligen Zeitpunkt waren, auf die Frage, welche von all seinen Produktionen er für die gelungenste halte, antwortet 1998 der Dichter: »Die Zeit mahlt alles. Aber ›Der Untergang der Titanic‹ Norbert Bolz: Literarisches Kultmarketing. In: Thomas Wegmann (Hg.): Markt. literarisch. (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik N. F. 12) Bern u. a.: Peter Lang 2005, S. 197–207, hier S. 202. 11 Berthold Brunner: Du Opfer! In: Konkret 35 (2008) 3, S. 141. 12 Vgl. Georg Franck (Anm. 7), S. 165. 13 Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 197 (Hervorh. von M. J.). 10

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hat eine gute Halbwertszeit, denke ich.«14 In der Rückschau bildet die mutmaßliche Dauer im kulturellen Gedächtnis das Kriterium des Gelingens, das zu erfüllen weniger den Essays als dem hoch artifiziellen Versepos von 1978 zuzutrauen ist. Befassen wir uns daher zunächst mit ihm. Ins Rettungsboot Artistik. 1977, unmittelbar vor der Arbeit am Untergang der Titanic, befindet sich Enzensberger in politisch und literarisch delikater Lage. Längst ist für ihn erkennbar, dass er sich mit einigen der um 1968 abgegebenen Einschätzungen vergaloppiert hat. Immerhin behauptete er damals, unterm Eindruck der Notstandsgesetze, dass »das politische System der Bundesrepublik nicht mehr reparabel ist. Man muss ihm zustimmen, oder man muss es durch ein neues System ersetzen. Eine dritte Möglichkeit ist nicht abzusehen.« Auch war zu lesen, dass es »das System selber ist, das an der politischen Weltperipherie, mit dem Rücken zur Wand, kämpft«.15 Der Linksruck an den Universitäten und Schulen, den »Zentren des revolutionären Widerstands«, bewirke nicht weniger als einen veränderten »Überbau [. . .], der in einer Art Osmose die gesamte Gesellschaft bis in ihren letzten Winkel durchdringt«.16 All das hat sich zwischenzeitlich als Wunschdenken erwiesen. Der Studentenbewegung ist es nicht einmal ansatzweise gelungen, andere soziale Gruppen zu beeinflussen, sie ist gesellschaftlich isoliert und heillos zersplittert. Statt der Revolution, was immer sie sein sollte, sehen die siebziger Jahre eine unspektakuläre Dominanz der Sozialdemokratie, der ›halben Sache‹, mit der sich der ›institutionalisierte Klassenkompromiss‹ (Habermas) zwischen Kapital und Arbeit weiter festigt, einen sachten Reformismus, der weite Teile der Bevölkerung vollauf zufriedenstellt. Das sind die Fakten im Feld der Macht. Hinzu kommt der halb politische, halb private Umstand, dass eine hinreichende Verarbeitung der Erfahrungen auf Kuba immer noch aussteht. Enzensberger, nie ein Freund des Sowjetkommunismus – ihn betrachtete er spätestens nach der Niederschlagung des Prager Frühlings als bankrott –, setzte 1968 so große Hoffnungen in den Tropensozialismus, dass er zum Zweck einer best case analysis ein volles Jahr in der Karibik verbrachte. Dort lernte er eine nicht nur durchs US-Wirtschaftsembargo, sondern auch durch Inkompetenz und Schlamperei verursachte Armut kennen, zudem Ineffizienz, Repression, Korruption und allgegenwärtigen Opportunismus gegenüber der herrschenden Clique um Fidel Castro. Gemessen am wirklichen Ausmaß der Desillusionierung fiel das Porträt der kubanischen KP im Kursbuch 18 (1969) zahm aus; die ›solidarische Kritik‹ beschränkte sich darauf, Tendenzen zu Theoriefeindschaft und Personenkult zu beanstanden. Das Dokumentardrama Das Verhör von Habana (1970) befasste sich vorsichtshalber mit der ›heroischen‹ Phase der kubanischen Revolution, sezierte die Selbstdarstellung der Zit. nach Alexander Smoltczyk (Anm. 4), S. 216. Hans Magnus Enzensberger: Berliner Gemeinplätze [1968]. In: H. M. E.: Palaver. Politische Überlegungen (1967–1973). Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 7–40, hier S. 14, 24. 16 Arqueles Morales: Entrevista con Hans Magnus Enzensberger [1969]. In: Reinhold Grimm (Hg.): Hans Magnus Enzensberger. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 106– 116, hier S. 109. 14 15

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1961 mit der Invasion in der Schweinebucht gescheiterten Konterrevolutionäre. Im Vergleich zur verkommenen Ex-Elite nehmen sich die verhörenden Revolutionäre natürlich vorteilhaft aus. Das geplante große Buch über Kuba aber blieb, weil es auf Fundamentalkritik der Genossen hätte hinauslaufen müssen, unveröffentlicht. Hält man sich vor Augen, was Enzensberger 1978 Peter Weiss anvertraut: »[W]ie kann man noch Marxist sein, nach all diesen Pleiten, diesen Verfälschungen und Verflachungen«,17 und wie er 1981 den Akt der Selbstzensur rechtfertigt: »Wir hatten zu dieser Zeit nicht einmal diplomatische Beziehungen zu Kuba. [. . .] Ich hatte das Gefühl, daß es [eine Veröffentlichung, M. J.] ein bißchen billig gewesen wäre. Die Wahrheit dessen, was ich geschrieben hatte, mußte sich so oder so herausstellen«,18 dann ist unschwer erkennbar, dass sich der große Unsentimentale in der ersten Hälfte der Siebziger mit dem Herzen noch so weit auf Seiten des kubanischen Versuchs befand, dass er Beifall von der falschen Seite vermeiden wollte, dass aber die Hoffnung auf die Realisierbarkeit eines menschenfreundlichen Sozialismus bereits irreversibel erschüttert war. Ernüchterung und kognitive Dissonanzen könnten also größer nicht sein; 1977 ist es an der Zeit, sie zur Sprache zu bringen. Das Zurückrudern ist jedoch riskant. Angesichts seiner Selbstplatzierung im literarischen Feld hat dieser Autor AhaEffekte zu gewärtigen; die Linke wartet nur auf ›Verrats‹-Signale. Sie hat ihn im Verdacht, das im Kursbuch 15 (1968) entworfene operative Literaturprogramm, wonach Kunstwerken die politische Nutzlosigkeit zu bescheinigen sei und faktografische Formen wie Reportage und Dokumentarliteratur der politischen Alphabetisierung Deutschlands förderlicher seien, niemals wirklich ernst genommen zu haben. Die sich sehr früh, erstmals bereits 1972 andeutenden Misstrauensbekundungen19 kulminieren Ende 1975 in einem an prominenter Stelle – bei Rowohlt – erschienenen Sammelband, in dem eine lange Reihe jüngerer, der Studentenbewegung entstammender Schriftsteller und Literaturwissenschaftler die Literatur nach dem Tod der Literatur bilanziert. In einer 23-seitigen Generalabrechnung mit Enzensberger sieht Christian Linder einen unverbesserlichen Narziss und Subjektivisten am Werk, der »nur darauf achtet, etwas lässig und immer glänzend zu formulieren, ohne am Ende noch darauf zu sehen, was er denn da eigentlich in der Konsequenz aufbaut. Was immer er als Fortschritt formuliert, tut er lediglich intellektuell, ohne sich um die konkrete Praxis zu kümmern. Die Trennung zwischen Leben und Literatur besteht in seinen Arbeiten fort; er ist nie operativ geworden mit dem, was er sagt und meint.«20 Das muss der Gescholtene als groben Undank empfinden, besonders wenn man auf die Begründung sieht. Peter Weiss: Aus den Notizbüchern. In: Reinhold Grimm (Anm. 16), S. 101–105, hier S. 104. 18 Zit. nach Jörg Lau: Hans Magnus Enzensberger. Ein öffentliches Leben. Berlin: Alexander Fest Verlag 1999, S. 263. 19 Vgl. Hartmut Lange: Der Einzelne und sein Anarchistentick. In: Konkret 16 (1972) 25, S. 52–53. 20 Christian Linder: Der lange Sommer der Romantik. Über Hans Magnus Enzensberger. In: Hans Christoph Buch (Hg.): Die Literatur nach dem Tod der Literatur. Bilanz der Politisierung. Reinbek: Rowohlt 1975, S. 85–107, hier S. 104. 17

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Bedenklich sei schon, dass der Dichter neben seinen politischen Essays und Dokumentararbeiten weiterhin Gedichte verfasse, »sein besonders preziöses Ich« nicht verleugnen könne; die beiden Werkstränge »ergänzen sich auch nicht, sie stehen vielmehr konträr zueinander«.21 Hintergrund des Monitums sind 1971 veröffentlichte Gedichte, mit denen der Lyriker den schneidenden Ton seiner Politprosa, etwa den der oben zitierten Berliner Gemeinplätze, auflockert und unbotmäßige Hintergedanken ausspricht. So schreibt er den nur am politischen Vordenker Interessierten ins Stammbuch: »Bei unseren Debatten, Genossen / kommt es mir manchmal vor / als hätten wir etwas vergessen [. . .] / Fragt mich nicht, was es ist. / Ich weiß nicht, wie es heißt. / Ich weiß nur noch / daß es das Wichtigste ist / was wir vergessen haben.«22 Man könnte es den offenen Geist der Poesie nennen, das Korrektiv aller Verbissenheiten, etwa der, alles auf den Begriff bringen zu wollen. »Schlafen, Luftholen, Dichten: / das ist fast kein Verbrechen«,23 die Freiheit bittet sich der freie Mitarbeiter der Bewegung schon aus. Deren Ziele sind ihm allerdings zu wichtig, als dass Dichtung ihm mehr bedeutete als einen Nebenschauplatz der eigenen Produktion. Seine Hauptaufgabe sieht der Sozialist darin, »Bauchredner der anderen« zu sein, »denen durch die Arbeitsteilung [. . .] die Möglichkeit genommen worden ist, sich auszudrücken«.24 Dass Linder ein Nebeneinander von Lyrik und Dokumentararbeiten, bei dem der Schwerpunkt deutlich auf Letzteren liegt, als Widerspruch verstehen will, ist bezeichnend genug. Zudem aber wird der Konkretion der Entscheidung, sich als Autor zurückzunehmen, um fremde Stimmen, etwa die spanischer Anarcho-Syndikalisten, zu Wort kommen zu lassen, die Anerkennung versagt. Im Kurzen Sommer der Anarchie (1972) stellt Enzensberger sein kulturelles Kapital, in diesem Fall die Spanischkenntnisse, in den Dienst betagter Veteranen des Bürgerkriegs von 1936, der alten Männer der Revolution, deren Erinnerungen der Autor sammelt, übersetzt und dem deutschen Publikum in Form einer um kommentierende Glossen ergänzten Stimmencollage zugänglich macht. Kraft seines symbolischen Kapitals vermag er die Erfahrungen anderer, Namenloser, zu popularisieren; das Buch wird durch Raubdrucke zum heimlichen Bestseller der linken Szene. Linder und andere zeigen sich jedoch unzufrieden, mokieren sich vor allem über den letzten Satz der Stimmenmontage, das unsentimentale Resümee der Frau eines Anarchisten: »Man macht nicht zweimal dieselbe Revolution.«25 Bei solch einer Coda frage man sich doch, wozu die Geschichte der spanischen Arbeiterbewegung überhaupt nachgezeichnet werde. Antwort: Enzensberger habe nur einen romantisch gehandhabten Marxismus zu bieten.26

Ebd., S. 95, 91. Hans Magnus Enzensberger: Gedichte 1955–1970. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970, S. 313. 23 Ebd., S. 306. 24 Zit. nach Jörg Lau (Anm. 18), S. 287. 25 Hans Magnus Enzensberger: Der kurze Sommer der Anarchie. Roman. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972, S. 293. 26 Vgl. Christian Linder (Anm. 20), S. 98f. 21 22

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Es bedarf keiner projektiven Identifikation mit dem Kritisierten, um zu erkennen, dass ihm spätestens diese Suada signalisiert, wie tief er mit seinem dokumentarischen Programm in die Sackgasse geraten ist. Enzensberger hat sich Mitte der siebziger Jahre eine Leserschaft herangezogen, die unter ›Operativität‹ erbauliche Handlungsanleitungen versteht. Sie deutet den Schlusssatz des Spanienbuchs, der natürlich eine Warnung enthielt, nämlich davor, in kurzschlüssiger Identifikation mit einer Jahrzehnte zurückliegenden, unter grundverschiedenen Bedingungen ablaufenden Revolte zu den Waffen zu greifen, als Zeichen mangelnder Ernsthaftigkeit. Die positive, aber unbequeme Botschaft des Buchs wiederum wird ignoriert: Ließe sich nicht etwas vom Habitus der alten spanischen Arbeiter lernen, von praktischer Solidarität, Selbstdisziplin und einem bemerkenswerten Respekt vor Bildungsgütern? Das größte Problem aber besteht darin, dass der Autor, wollte er der mürrischen Konsumentengruppe gefallen, sich selbst verleugnen müsste: Möglichst gar keine Gedichte verfassen und stattdessen so verfahren wie Linders Idol Wallraff, der dem Narziss als leuchtendes Beispiel der Selbstlosigkeit entgegengehalten wird.27 Also Industriereportagen schreiben, aus denen zweifelsfrei hervorgeht, dass es in der deutschen Wirtschaft immer wieder zu Fällen von mangelhafter Befolgung des Betriebsverfassungsgesetzes kommt. Angesichts eines Milieus, das in so rigidem wie biederem Objektivismus von Schriftstellern verlangt, »in voller Konsequenz« »von sich selbst ab[zu]sehen«,28 wäre es das Naheliegendste, sich an der gegenläufigen, die Subjektivität aufwertenden Strömung des zeitgenössischen Feldes zu orientieren. Peter Schneider etwa vermittelt in der Erzählung Lenz (1973) alltägliche Erfahrungen aus der Studentenbewegung, um nach den Reibungsflächen zwischen hehren politischen Selbstansprüchen und der konkreten Lebenswelt des Einzelnen zu fragen. Peter Handkes Der kurze Brief zum langen Abschied (1973) und Nicolas Borns Die erdabgewandte Seite der Geschichte (1976) legen auf politische Zeitgenossenschaft nicht den geringsten Wert, die stark autobiografisch getönten Texte kreisen um ichbezogene Protagonisten, ihre Identitätskrisen und zerrütteten Zweierbeziehungen. Die ›Neue Innerlichkeit‹ ist für Enzensberger allerdings auch keine Option, extensive Selbstbespiegelungen haben ihm nie gelegen (»Ich bin kein autobiografischer Schriftsteller«).29 Wie sich verhalten? Der Zustand des literarischen Feldes zu einem bestimmten Zeitpunkt bietet sich Schriftstellern als ein System von Möglichkeiten mit strukturellen Lücken dar. »Der in ihnen enthaltene Appell wird allemal nur von denen vernommen, die aufgrund ihrer Position innerhalb des Feldes, ihres Habitus und der (häufig unstimmigen) Beziehung zwischen beiden sich im Hinblick auf die der Struktur innewohnenden Zwänge frei genug fühlen, eine Virtualität, die in gewisser Hinsicht tatsächlich nur für sie vorhanden ist, als ihre eigene Sache aufzufassen.«30 Der Ebd., S. 95. Ebd., S. 94. 29 Wolfram Weimer/Till Weishaupt: »Ich habe einfach Glück gehabt«. Ein Gespräch mit Hans Magnus Enzensberger. In: Cicero 4 (2007) 9, S. 55–67, hier S. 55. 30 Pierre Bourdieu (Anm. 13), S. 378. 27 28

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Untergang der Titanic zeugt von der Fähigkeit, eine solche Möglichkeit instinktiv zu erkennen und zu verwirklichen. Enzensbergers Sache ist es nicht, den Genossen politische ›Zuverlässigkeit‹ zu beweisen, zu versuchen, als Dokumentarliterat konkurrenzfähig zu bleiben, und sich damit jenen positionsimmanenten Zwängen zu unterwerfen, die er mit dem Programm von 1968 miterzeugt hat. Stattdessen nimmt er sich die Freiheit, das, was der Temporärklientel missfällt, ihm aber stets Vergnügen bereitete: das Verseschmieden, ungleich intensiver zu betreiben als um 1970. Drei Jahre nach Linders Philippika auf den unzuverlässigen Dichterprosaisten legt dieser, wie zur Überbietung der Vorwürfe, nicht weniger als ein Versepos vor, einen Zyklus aus 33 Gesängen, durchsetzt von weiteren Gedichten. Enzensberger verlässt das Dokumentarsegment, ohne nun aber einfach eine autobiografische Wende in lyrischer Variante zu vollziehen. Er hebt die eingeschliffene Opposition zwischen Objektivismus und Subjektivismus selbst auf; sein neuestes Werk vereinbart das im zeitgenössischen literarischen Feld für unvereinbar Gehaltene (woran man bedeutende Werke des Öfteren erkennt).31 Der Untergang der Titanic verhandelt die persönliche Variante einer politischen Enttäuschung, eben den Schiffbruch auf Kuba, doch geben die Selbstauskünfte – Subjektivität wird zum Medium von Objektivem – stets auch eine kollektive Erfahrung wieder, die Mitte der 1970er Jahre um sich greifende Ernüchterung der Linksintellektuellen, die hier erstmals in der Literatur allen Beteiligten sichtbar wird. Mit der revolutionären Euphorie stand der Dichter seinerzeit nicht allein, daher wählt er für den dritten Gesang die erste Person Plural: »Es schwankte / die Insel Cuba nicht unter unseren Füßen. / Es schien uns, als stünde etwas bevor, / etwas von uns zu Erfindendes. / Wir wußten nicht, daß das Fest längst zu Ende, / und alles Übrige eine Sache war / für die Abteilungsleiter der Weltbank / und die Genossen von der Staatssicherheit, / genau wie bei uns und überall sonst auch.«32 Zu einfach wäre es indes, das Problem allein bei stalinistischen Dunkelmännern zu suchen. Zu sprechen ist auch von der Vermessenheit der Intellektuellen, dem Irrglauben, für die Mühseligen und Beladenen sprechen zu können. Genau der Autor, der seinesgleichen 1970 eingeschärft hatte, »als Agent der Massen zu arbeiten«,33 ist nun der Erste, der die Stellvertreter-Ambition ad acta legt. Die Begründung dafür findet sich unter einem Titel, der andeutet, wer dem illusorischen Rollenverständnis zugearbeitet hat. Weitere Gründe dafür, daß die Dichter lügen: »Weil der Verdurstende seinen Durst / nicht über die Lippen bringt. / Weil im Mund der Arbeiterklasse / das Wort Arbeiterklasse nicht vorkommt. / [. . .] Weil es also ein anderer ist, / immer ein anderer, / der da redet, / und weil der, / von dem da die Rede ist, / Schweigt.«34 Die beiden Gedichte enthalten eine in diachroner wie synchroner Perspektive folgenreiche Aussagenkombination. In diachroner, da sie zwei Linien der AchtziVgl. ebd., S. 157. Hans Magnus Enzensberger: Der Untergang der Titanic. Eine Komödie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978, S. 15. 33 Hans Magnus Enzensberger: Baukasten zu einer Theorie der Medien. In: H. M. E. (Anm. 15), S. 91–129, hier S. 129. 34 Hans Magnus Enzensberger (Anm. 32), S. 61. 31

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ger-Jahre-Essays vorzeichnen. Die zitierten und andere kritische Zeilen zu Kuba bilden eine Vorstufe zu Der Sozialismus als höchstes Stadium der Unterentwicklung, einem Text von 1982, der die Segnungen des Realsozialismus erbarmungslos bilanzieren und so den klügeren Autoren der Neuen Linken helfen wird, Restsympathien für ein marodes System ein für alle Mal abzustreifen.35 Schon damit war Enzensberger seiner Zeit voraus, denn obgleich die Neue Linke in weiten Teilen unabhängig von den Realsozialisten operierte, fiel ihre Kritik an den Verhältnissen jenseits des ›Eisernen Vorhangs‹ für gewöhnlich allzu zaghaft aus.36 Die Zeilen zu den ohnmächtigen Literaten wiederum, denen die so genannte Arbeiterklasse die kalte Schulter zeigt, präludieren einer bald darauf radikalisierten, die Essayistik der achtziger Jahre leitmotivisch durchziehenden Botschaft: Die Schriftsteller taugen nicht nur nicht als Fürsprecher der Unterprivilegierten, sie sollten aufhören sich einzubilden, sie sprächen für irgend jemand anderen als für sich selbst. Sie »können sich«, wird es 1986 heißen, »die repräsentative Maske abschminken, die sie lange Zeit trugen«.37 Diese Distinktion ist, ex post betrachtet, wohl die wichtigere, da sie über eine Abgrenzung von orthodoxen Marxisten hinaus einen Vorsprung im gesamten linksintellektuellen Spektrum markiert. Enzensberger nimmt die Kräfteverhältnisse im Feld der Macht ohne Augenwischerei zur Kenntnis; er begreift sehr viel früher als andere, dass die Intellektuellen gut beraten sind, die eigenen politischen Präferenzen nicht mit denen der Bevölkerungsmehrheit zu verwechseln – früher etwa als die Reformsozialisten um Christa Wolf, die sich 1990 erstaunt zeigen werden, dass es das Volk der DDR anders als seine vermeintlichen Vorsprecher nicht zum besseren Sozialismus, sondern zur D-Mark zieht; früher als Günter Grass, der im Wendejahr allen Ernstes glaubt, den Landsleuten die Zweistaatlichkeit Deutschlands als moralisches Muss vorschreiben zu können. In synchroner Sicht, hinsichtlich der Lage im Erscheinungsjahr 1978, ist erinnernswert, dass die Aussagenkombination zu einem Erfolg im Großfeuilleton beiträgt, der nicht unbedingt zu erwarten war. Bedenkt man, dass Enzensberger 1968 seine Reise in die Karibik mit einigem Aplomb ankündigte, in einem offenen Brief an die New York Review of Books die Erwartung äußerte, er könne dem kubanischen Volke von Nutzen sein,38 dass namhafte Stimmen diese Begründung als Wichtigtuerei empfanden (»die Verwandlung des Herrn Enzensberger in den Vgl. Klaus Podak: Die Freiheit zur Inkonsequenz. In: Süddeutsche Zeitung vom 23./ 24. 4. 1983; (rückblickend) Peter Schneider: Bildnis eines melancholischen Entdeckers. In: Rainer Wieland (Hg.): Der Zorn altert, die Ironie ist unsterblich. Über Hans Magnus Enzensberger. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 137–146, hier S. 143. 36 Ein besonders unschönes Beispiel dafür bot die Saarbrücker Tagung des Verbands deutscher Schriftsteller im Jahr 1984, auf der Ingeborg Drewitz der Vorsitz verweigert wurde, weil es DKP-nahen Kreisen gelang, die Radikaldemokratin als Anti-Kommunistin abzustempeln. Vgl. Renate Chotjewitz-Häfner/Carsten Gansel (Hg.): Verfeindete Einzelgänger. Schriftsteller streiten über Politik und Moral. Berlin: Aufbau 1997. 37 Hans Magnus Enzensberger: Rezensenten-Dämmerung [1986]. In: H. M. E.: Mittelmaß und Wahn. Gesammelte Zerstreuungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 53–60, hier S. 60. 38 Vgl. Jörg Lau (Anm. 18), S. 246. 35

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Nutzen des cubanischen Volkes, dargestellt auf offener Bühne«)39 und schließlich dass Das Verhör von Habana von den ›bürgerlichen‹ Rezensenten als ideologisch verblendetes bis dummdreistes Agitprop-Theater abgetan worden war,40 – dann erhellt, dass der Abschied von den sozialistischen Blütenträumen durchaus mit Schadenfreude hätte aufgenommen werden können. Sie bleibt deshalb aus, weil die Kehrtwende mit einem Gestus intellektueller Selbstbescheidung verbunden ist, der die Kritik milde stimmt.41 Und doch, dass Enzensberger das riskanteste Wendemanöver seiner Werkgeschichte gelingt, verdankt sich erst in zweiter Linie einzelnen Aussagen, Meinungen, Standpunkten; ausschlaggebend für den Triumph des Versepos ist seine raffinierte Komposition. Der eigene, politische Schiffbruch bildet nur einen der beiden Hauptstränge, der andere, gleichrangige, gilt dem Schicksal des legendären Ozeandampfers, vor der Katastrophe von 1912 ein Inbegriff des Fortschritts, danach seiner Hybris. Ursprünglich, 1969, hatte der Dichter den Titanic-Stoff in antibourgeoiser Absicht aufgegriffen, wie einer Gruppe von Gesängen ablesbar ist, die von der Welt an Bord des Luxusdampfers handelt, um das Bild einer Klassengesellschaft in nuce zu geben. Zu besichtigen sind frohgemut-ignorantes Technokratengerede, die komische Ahnungslosigkeit der betuchten Passagiere, ihr groteskes Nichtbegreifen der neuen Situation: »Johann Jacob Astor hingegen schlitzt mit einer Nagelfeile / einen Rettungsring auf und zeigt seiner Frau, / einer geborenen Connaught, was drin ist / (vermutlich Kork), während in den Laderaum vorn / armdick das Wasser strömt, eisig [. . .].«42 In der Endfassung nun werden durch den permanenten Wechsel zwischen den Zeitebenen 1912 und 1969–1977 reizvolle Überblendungseffekte erzielt: Hat die Speisekarte der Titanic, vormals genüsslich aufgelistet zur Illustration der Fallhöhe vor der Katastrophe, nicht Ähnlichkeit mit der des Hotels in Havanna, in dem sich die europäischen Revolutionstouristen üppig verköstigen ließen, während sich die Einheimischen mit Bescheidenerem begnügen mussten?43 Und wenn die Dauerfehde zwischen Anarchisten und Sozialisten, mit der sich Enzensberger in der ersten Hälfte der siebziger Jahre so intensiv beschäftigte, politisch müßig ist, weil beide Richtungen keine Zukunft haben, warum dann nicht Bakunin und Engels an Bord der Titanic imaginieren, sie dort eifrig streiten und mit ihr im Atlantik verschwinden lassen?44 Der Artist pflegt ein Amüsementverhältnis zum buchstäblichen wie zum ideellen Schiffbruch, und das Motiv der Lust am Untergang als eines ästhetischen Vergnügens ersten Ranges wird von Uwe Johnson: Jahrestage. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971, S. 802. Vgl. zur Rezeption Markus Joch: Bruderkämpfe. Zum Streit um den intellektuellen Habitus in den Fällen Heinrich Heine, Heinrich Mann und Hans Magnus Enzensberger. Heidelberg: Winter 2000, S. 317, 393. 41 Vgl. etwa Wolfram Schütte: Den roten Faden verloren. In: Frankfurter Rundschau vom 17. 10. 1978, der dem Autor nicht die Irrtümer auflistet, sondern ihm eine zeitliche Erkenntnisschranke zugute hält. Fehleinschätzungen resultierten aus dem Dunkel des gegenwärtigen Augenblicks: »Wahrheit ist punktuell, zeitlich, örtlich.« 42 Hans Magnus Enzensberger (Anm. 32), S. 10. 43 Vgl. ebd., S. 30, 36. 44 Vgl. ebd., S. 42. 39

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der Gemäldegalerie, die das Gefüge durchzieht, noch vertieft, in historischer Erweiterung. Der Autor schlüpft in die Rolle alter Meister, etwa des Schöpfers der Apokalypse. Umbrisch, etwa 1490, dessen Verliebtheit ins Gelingen einer Katastrophenevokation selbst durch die Wiedergabe grausamer Details nicht getrübt wird. Im Gegenteil: »Das Bild / nimmt zu, verdunkelt sich langsam, füllt sich [. . .] mit Teufeln, Reitern, / Gemetzeln; bis dass der Weltuntergang / glücklich vollendet ist, und der Maler [. . .] unsinnig heiter«.45 Weil der Dichter die eigene politische Niederlage im Kontext vieler Untergänge relativiert und damit auf souveräne Weise entdramatisiert; weil er Utopieabschied und Apokalypsenstimmung nur aufruft, um sie in ein apartes Spiel mit traditionsreichen Motiven zu überführen; weil er auf allen drei Zeitebenen die Distanz des Darstellenden zum Dargestellten akzentuiert (»der Unterschied / zwischen einer Schwimmweste und dem Wort Schwimmweste / ist wie der Unterschied zwischen Leben und Tod«);46 weil er mithin die désinvolture des Künstlers demonstriert und so das Gegenteil larmoyanter Betroffenheitsliteratur liefert, trifft er genau die Geschmacksnormen des Großfeuilletons. Von der Süddeutschen Zeitung bis zur Zeit schwärmt man überrascht von »Glänzendem« und »elegant Bewältigendem«,47 rühmt man ein »Schauspiel ohne tiefere Bedeutung« als Sieg der Poesie über das »ideologisch-moralische Prinzipiengerede« von verwelkten Utopien und gesellschaftlicher Eiszeit.48 In den Elogen äußert sich der fürs Bildungsbürgertum charakteristische »Reflexions-Geschmack«49 , der vom Kunstwerk die ästhetische Neutralisierung des Dargestellten erwartet, eine kühle Distanz zum Repräsentierten, die es dem literarischen Kenner erlaubt, seinerseits Distanz zu halten. Eine Rezeptionshaltung, die sich dagegen verwahrt, ins dargestellte Geschehen emotional verstrickt zu werden, was sie als Verlust des interesselosen Wohlgefallens am Text empfände. Ohne dass der Autor den Bedürfnissen des Reflexions-Geschmacks bewusst nachkäme, harmoniert seine Nonchalance mit der Rezeptionshaltung tonangebender Geschmacksträger. Der langfristige Erfolg wiederum, der sich daran ablesen lässt, dass der Text bis heute drei Dutzend literaturwissenschaftliche Interpretationen erfahren hat, verdankt sich einer Qualität, die sich bereits 1978 in der später vielzitierten SpiegelRezension von Nicolas Born andeutete. Diese versteht Enzensbergers ›Titanic‹ einerseits als Metapher für einen Riss im Rumpf des kapitalistischen wie des marxistischen Fortschrittsglaubens – so weit die bündige Deutung –, andererseits aber ist die Rede von einem »durchkalkulierte[n] poetische[n] Projekt, ein[em] weitverzweigte[n] und komplizierte[n] Assoziationssystem«.50 Auf Letzteres, die literariVgl. ebd., S. 13. Ebd., S. 99 47 Joachim Kaiser: Schiffsuntergang und Autobiographie. In: Süddeutsche Zeitung vom 27. 11. 1978. 48 Benjamin Henrichs: Gesänge aus der Eiszeit. In: Die Zeit vom 20. 10. 1978. 49 Vgl. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, S. 761ff. 50 Nicolas Born: Riß im Rumpf des Fortschritts. In: Der Spiegel 32 (1978) 43, S. 236–241, hier S. 236. 45

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schen Anspielungen, kommt auch schon der erste literaturwissenschaftliche Kommentator zu sprechen, der den Eindruck hat, »es mit einem Luxusdampfer für Gebildete zu tun zu haben. [. . .]. Stapel von Dissertationen sind gesichert.«51 Dass die Vorhersage von Hans-Thies Lehmann aus dem Jahr 1979 sich bewahrheitete, hängt damit zusammen, dass das Versepos fortan beide Lektüreansätze tragen sollte: solche, die auf ein frühes Zeugnis postmoderner Fortschrittsskepsis hinauswollen,52 und solche, die den literarischen Prätexten nachspüren. So wies man Mitte der achtziger Jahre nach, dass sich die Anlehnungen an Dantes Divina Commedia über den Untertitel Eine Komödie und die Unterteilung in 33 Gesänge hinaus auch auf die Grundstruktur Inferno – Purgatorio – Paradiso erstrecken.53 Die zwei Lektüreansätze lassen sich freilich nur idealtypisch unterscheiden, realiter haben sie sich wiederholt überschnitten. Wer die intertextuelle Seite erforschte, tat dies nicht in einer devoten Bildungsbeflissenheit um ihrer selbst willen (die als typisch kleinbürgerlich klassifizierbar wäre);54 vielmehr hat die Literaturwissenschaft begriffen, dass der Vorzug der Rezeptionsvorlage in der Verschränkung von politischmentalitätsgeschichtlichem Gehalt und intertextuellen Anspielungen liegt. Ein Beispiel dafür ist die plausible Begründung für die Präsenz des PurgatorioMotivs:55 Dem Läuterungsberg der Commedia entspricht im Untergang der Titanic die Allgegenwart des gefährlich-faszinierenden Eisbergs, der, dem lyrischen Ich erstmals in karibischer Nacht erscheinend (3. Gesang), als Bedrohung für den ›Sozialismus auf einem Dampfer‹ (27. Gesang) figuriert, als Vorbote einer Erschütterung der zeitweiligen Revolutionseuphorie unseres Autors. Ein anderes ist die Erkenntnis, dass auch der postapokalyptischen Botschaft Enzensbergers ein bestimmter literarischer Subtext zugrunde liegt. Dass die »Endgültigkeit, früher eins der hauptsächlichen Attribute der Apokalypse und einer der Gründe für ihre Anziehungskraft, [. . .] uns nicht beschieden [ist]«,56 illustriert das Versepos durch das dem Untergangsmotiv gleichrangige Motiv der Unaufhörlichkeit: So spektakulär der Ozeanriese gesunken ist, die Klassengesellschaft besteht fort (»Das Dinner geht weiter«);57 zudem enden die 33 Gesänge bezeichnenderweise mit einem schiffbrüchigen lyrischen Ich, das, wenn auch heulend, weiterschwimmt. Statt der endgültigen Katastrophe geht es um die Katastrophe in Permanenz, mit der der EinHans-Thies Lehmann: Eisberg und Spiegelkunst. Notizen zu Hans Magnus Enzensbergers Lust am Untergang der Titanic [1979]. In: Reinhold Grimm (Anm. 16), S. 312–334, hier S. 329. 52 Vgl. etwa Holger-Heinrich Preusse: Der politische Literat Hans Magnus Enzensberger. Politische und gesellschaftliche Aspekte seiner Literatur und Publizistik. Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang 1989, S. 176ff.; Un Nam: Normalismus und Postmoderne. Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang 1995, S. 160ff. 53 Vgl. Barbara Wiedemann-Wolf: Die Rezeption Dantes und Ungarettis in Enzensbergers »Untergang der Titanic«. In: arcadia 19 (1984), S. 252–268. 54 Vgl. Pierre Bourdieu (Anm. 49), S. 503ff. 55 Vgl. Barbara Wiedemann-Wolf (Anm. 53), S. 255ff. 56 Hans Magnus Enzensberger: Zwei Randbemerkungen zum Weltuntergang [1978]. In: H. M. E.: Politische Brosamen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, S. 225–236, hier S. 228. 57 Hans Magnus Enzensberger (Anm. 32), S. 97. 51

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zelne zurande kommen muss. »Nicht umsonst«, bemerkt Lehmann, »erinnert der Text häufig an Motive aus Poes The Narrative of Arthur Gordon Pym. Poe stellt das Leben seines Helden buchstäblich als ununterbrochenen, immer wiederholten Schiffbruch, gerade noch gelingende Rettung und erneuten Untergang dar.«58 Diese und andere Anspielungshorizonte, das politische Aussagenensemble und die wechselseitigen Spiegelungen der drei Zeitebenen immer weiter und immer nuancierter zu erschließen, beschäftigt die einschlägige Philologie seit nunmehr drei Jahrzehnten. Zumal die Komplexität der Lektüren mit der Zeit noch zugenommen hat,59 ist in ihnen ein Antrieb auszumachen, den Bourdieu für klassisch philologisch hält, nämlich der, Interpretation als Kunst zu betreiben, als Nachschöpfung des ursprünglichen Schöpfungsaktes60 – ohne dass man wie der Soziologe in derlei Ambition gleich einen »hermeneutischen Narzissmus« wittern müsste, »die Neigung des lector, sich mit dem auctor zu identifizieren«.61 Im hier verhandelten Fall besteht der Ehrgeiz der Exegeten einfach im Wunsch, sich dem Autor gewachsen, sich seiner würdig zu erweisen. Warum an die Rezeptionsgeschichte erinnern? 1977 versucht Enzensberger, einem Ansehensverlust, der durch das Eingeständnis politischer Irrtümer droht, kraft artistischer Brillanz zu entgehen. 1978 und 1979 ist für ihn erkennbar, dass das Vorhaben glänzend gelungen ist. Positiv bis enthusiastisch geäußert haben sich ein anderer Autor von Rang (mit Born, dem acht Jahre Jüngeren, der »große Poesie«62 konzediert, urteilt der seinerzeit renommierteste Vertreter der ›Kölner Schule‹), die Spitzen der Literaturkritik und mit der Literaturwissenschaft die Spezialistin für dauerhafte Kanonisierung. Der Beifall aller drei Konsekrationsinstanzen signalisiert dem Autor, was zuvor denkbar ungewiss war: dass er sich als Virtuose einen literarpolitischen Kurswechsel hat leisten können und die dominante Stellung im Feld gesichert ist, auf unabsehbare Zeit. Mit dem enormen Prestigeerfolg im Rücken fällt es 1979 leicht, ablehnende Stimmen von links, die von politischem Defätismus oder gar vom »Untergang des H. M. Enzensberger«63 sprechen, als moralisierende zu verspotten, die künstlerische Unterlegenheit mühsam kompensieren. Eskapismus, ruft ihr mir zu, / vorwurfsvoll. / Was denn sonst, antworte ich, / bei diesem Sauwetter! –, / spanne den Regenschirm auf / und erhebe mich in die Lüfte. / Von euch aus gesehen, / werde ich immer kleiner und kleiner, / bis ich verschwunden bin. / Ich hinterlasse nichts weiter / als eine Legende, / mit der ihr Neidhammel, / wenn es draußen stürmt, / euern Kindern in den Ohren liegt, / damit sie euch nicht davonfliegen.64 Hans-Thies Lehmann (Anm. 51), S. 330. Vgl. zuletzt Rainer Barbey: Unheimliche Fortschritte. Natur, Technik und Mechanisierung im Werk von Hans Magnus Enzensberger. Göttingen: V & R unipress 2007, S. 169ff. 60 Vgl. Pierre Bourdieu (Anm. 13), S. 364. 61 Ebd., S. 475. 62 Nicolas Born (Anm. 50), S. 239. 63 So Karlheinz Deschner, zit. nach Alfred Estermann: Hans Magnus Enzensberger. Eine Bibliographie. In: Reinhold Grimm (Anm. 16), S. 343–435, hier S. 430. 64 Hans Magnus Enzensberger: Der Fliegende Robert [1979]. In: H. M. E.: Gedichte 1950– 1995. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S. 125. 58 59

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Die berühmte Selbststilisierung zum buchstäblich schwerelosen Dichter – so berühmt, dass/auch weil sie den Klappentext einer späteren Gedichtsammlung ziert65 – wurde durch die Hymnen zum Untergang der Titanic begünstigt, wenn sie die vorangegangenen Lobreden nicht zur Voraussetzung hatte. Imaginiert Der Fliegende Robert seine eigene Himmelfahrt66 und zeigt er sich sicher, eine Legende zu hinterlassen, so spricht er nicht einfach aus Übermut oder Selbstverliebtheit; er nimmt das auratische Bild, das weite Teile des Literaturbetriebs von ihm unlängst entworfen haben, nur auf – auch wenn er die Dichterverehrung anderer fröhlich zuspitzt. Vom Nachruhm wagt Enzensberger erst zu sprechen, als sich die Wahrscheinlichkeit desselben sprunghaft erhöht hat. Die literatursoziologische Beobachtung, dass selbst ein namhafter Autor sich zu der »Persönlichkeit, die die Gesellschaft ihm wie einen Spiegel vorhält«,67 verhalten muss, sie ablehnen oder bejahen, doch nicht ignorieren kann, lässt sich hier variieren: Die Vorstellungen, die sich andere von einem machen, können selbst einen gewohnheitsmäßig kühnen Autor ermutigen. Erlaubt sich Enzensberger zunächst nur, artistische Überlegenheit praktisch vorzuführen, nimmt er sich wenig später, nachdem die literarische Öffentlichkeit das Bild eines Großschriftstellers bestätigt hat, erstmals die Freiheit, seinen artistischen Rang explizit und provokativ (»Neidhammel«) geltend zu machen. Zwischen dem Versepos und dem im Jahr darauf veröffentlichten Gedicht liegt eine Tonverschärfung, die veranschaulicht, wie »Freiheiten sich in dem Billardspiel strukturierter Interaktionen addieren«68 . Ohne den Prestigegewinn als Lyriker (den zweiten großen nach 1958)69 lässt sich die Selbstgewissheit auch des Essayisten um 1980 und danach kaum hinreichend verstehen. Zudem lässt die Entwicklung, die der Essayist seither genommen Der in Anm. 64 zitierten. Vgl. zur Aufmerksamkeitslenkung durch Paratexte auch den Beitrag von Wilhelm Haefs in diesem Band. 66 So nicht ohne Sarkasmus Ludwig Fischer: Der fliegende Robert. Zu Hans Magnus Enzensbergers Ambitionen und Kapriolen. In: Christine Künzel/Jörg Schönert (Hg.): Autorinszenierungen. Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 145–175, hier S. 175. 67 Pierre Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 86. 68 Pierre Bourdieu (Anm. 13), S. 378. 69 Vgl. Ludwig Fischer (Anm. 66), S. 155ff., zum Erwerb des ursprünglichen symbolischen Kapitals. Das lyrische Debüt, verteidigung der wölfe, wurde von Alfred Andersch gefeiert: 1 (in Worten: ein) zorniger junger Mann [1958]. In: Reinhold Grimm (Anm. 16), S. 59–63, hier S. 62:»Bei uns gibt es nur einen immerhin: dieser eine hat geschrieben, was es in Deutschland seit Brecht nicht mehr gegeben hat: das große politische Gedicht.« Nicht allein, dass Andersch, 1955–1957 Enzensbergers Chef in der Stuttgarter Radio-Essay-Redaktion, einen ehemaligen Mitarbeiter förderte; er verfügte auch über die Macht zur Förderung. 1958 befand er sich als Rundfunkmann und mehr noch als Autor der Erzählung Sansibar oder der letzte Grund (1957) auf dem Höhepunkt seines Ansehens im Umfeld der Gruppe 47. Das war, wie Fischer sieht, ein entscheidender Startvorteil Enzensbergers gegenüber einem anderen lyrischen Newcomer. Peter Rühmkorf fehlte ein vergleichbar potenter Schutzherr. 65

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hat, erkennen, was schon dem Beispiel aus der Lyrik ablesbar ist: Die Reaktionen der Kritik radikalisieren die Tonlage der Folgetexte. Mit dem Unterschied, dass der Essayist es für gewöhnlich vorzieht, seinen Gegnern verdeckt zu antworten; ein Kampfstil, auf den er sich auch im Interview versteht, der gleichermaßen geschickt gehandhabten Form. Das journalistische Format und die vierte literarische Gattung spielen, was die Selbstmedialisierung in journalistischer Umgebung betrifft, eng zusammen. Unter anderem, weil die Interviews dazu dienen, die posture der Beweglichkeit, die zum Markenzeichen der Essays geworden ist, weiter zu popularisieren. Katze und Eiche. In einem Interview mit dem Stern vom November 1994, geführt aus Anlass des 65. Geburtstages, geschieht, was in zur Veröffentlichung bestimmten Gesprächen mit Enzensberger häufig geschieht. Der Befragte erklärt schon den ganzen Ansatz seiner Gesprächspartner, in der Regel Journalisten, für verfehlt. Stern: Kürzlich konnte man lesen, Sie seien ein Sturmvogel der Weltrevolution gewesen. Heute gibt es viele Linke, die Sie gar nicht mehr zur Linken rechnen. Enzensberger: Sturmvogel der Weltrevolution! Das hört sich ja fabelhaft kitschig an. Echte Journalisten-Poesie! Allerdings, im Lauf der Zeit sind mir viele Schellen umgehängt worden: Totengräber der Literatur, Barde Fidel Castros, Reaktionär, Kommunist, Antikommunist . . . Und seit über dreißig Jahren fragen sich viele Kritiker, ob ich links, zu links oder nicht links genug bin. Eine sehr deutsche Besorgnis. Anderswo, in Polen, Schweden oder England, werde ich eher nach meinen Büchern gefragt oder beurteilt. Stern: Sie können aber doch nicht bestreiten, daß sich Ihre Positionen im Lauf der Zeit verändert haben. Enzensberger: Das möchte ich hoffen. Wissen Sie, was ein richtiger Baum ist – sagen wir mal: die deutsche Eiche –, das hat einen Standpunkt, und zwar lebenslänglich. Schon von einer Katze kann man das nicht verlangen. Die bewegt sich nämlich. Das halte ich für ein Lebenszeichen.70

Am Anfang steht die Beschwerde, dass es wieder mal um Gesinnung gehen soll; und doch, als die Gäste aus Hamburg auf dem schrecklich ermüdenden Thema (». . . seit über dreißig Jahren«) bestehen, hat der Befragte sogleich ein suggestives Doppelbild parat, die pictura der Katze für die subscriptio der Beweglichkeit, die pictura der Eiche fürs Gegenteil. Der Gesprächseinstieg war für den Jubilar erwartbar, das Image des Gesinnungswechslers ist Mitte der neunziger Jahre weit verbreitet; folglich muss man versuchen, es vorteilhaft zu besetzen. Dies gelingt vortrefflich. Das nahegelegte, man ist versucht zu sagen: gestreute Bild von der Katze Enzensberger wird (samt der Konnotationen: geschmeidig, dressurresistent, rätselhaft) vom Feuilleton des Tagesspiegel fünf Jahre später aufgegriffen, in der Überschrift eines ausführlichen Porträts zum 70. Geburtstag (»Der Blick der Katze«).71 Was zum einen belegt, dass Journalisten vorzugsweise journalistische Formate rezipieren – eine Selbstbezüglichkeit, die Bourdieu interner Konkurrenz Heinrich Jaenecke/Siegfried Schober: Der gelassene Rebell. In: Der Stern, 47 (1994) 46, S. 40–46, hier S. 40. 71 Vgl. Peter von Becker (Anm. 1). 70

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bzw. Konkurrentenkontrolle zuschreibt –,72 und zum anderen, dass Enzensberger den Journalismus als Multiplikator des gewünschten Bilds seiner selbst zu nutzen weiß, sei es dem Effekt nach, sei es intentional. Das ist ein Gesichtspunkt, den Bourdieu übersieht: Massenmedien sind für einen Autor von Format nicht nur eine Störgröße. Sie können eine sein, etwa dann, wenn man einen neuen, subtil gearbeiteten Roman vorlegt, der im Literarischen Quartett in wohlfeiler Manier verrissen wird; wenn man verfolgen muss, wie Literaturkritiker als Fernsehjournalisten ihrem Millionenpublikum eine Optik aufnötigen, die sich durch Schnelllese, Populismus und Ignoranz in aesthetics, Eitelkeit und politische Befangenheiten auszeichnet.73 Allein, diejenigen Schriftsteller, die bereits über den hohen Bekanntheitsgrad arrivierter Avantgardisten verfügen und deshalb in den Massenmedien gefragt sind (nicht, wie so oft, als Lieferanten leichter Kost), können den Spieß umdrehen. Vorausgesetzt, sie verfügen nicht nur über die Chance, sondern auch über die Fähigkeit zur Instrumentalisierung der Medien. So nutzt Enzensberger, kehren wir zum Beispiel zurück, ein Printmedium von beträchtlicher Reichweite, um mit wenigen Sätzen eine Reihe von vorteilhaften Selbst- und unvorteilhaften Fremdbildern in Umlauf zu bringen. Das beginnt bereits mit der Rede von kitschiger Journalistenpoesie, die, so amüsiert dahingeworfen sie klingt, sofort ein Niveaugefälle zwischen Schriftstellern und Journalisten evoziert. Man mag hier einen Anklang an jenen Text vernehmen, mit dem der Autor 1957 sein öffentliches Leben begann und der der gleichen Logik folgte, der Abwertung der Medien in den Medien. Die Sprache des Spiegel allerdings, der aus einer Radioarbeit hervorgegangene Essay, der das von den Nonkonformisten der Adenauerzeit als Lichtblick geschätzte Wochenmagazin zur Verstörung vieler als ein politisch überschätztes und intellektuell mediokres Kritiksubstitut entzauberte; jene ›Frechheit‹, die, zum Beweis liberaler Souveränität, vom Spiegel nachgedruckt wurde, mit Erlaubnis des Autors – dieser Paukenschlag also74 verdankte sich neben beträchtlichem Scharfsinn einer posture, einer bewusst gewählten Selbstdarstellung, umschreibbar mit ›Ich bin ein Furchtloser‹.75 Anders die Bemerkung zur Journalistenpoesie; sie zeugt vom Habitus eines Hochgebildeteten, der seinen Geschmack, den tief inkorporierten Degout am Schwulst, in einer bestimmten Gesprächssituation spontan aktualisiert, automatisch zur SpraVgl. Pierre Bourdieu (Anm. 3), S. 31. Vgl. Markus Joch: Jurek Beckers »Amanda herzlos« im »Literarischen Quartett« (1992). In: Carsten Gansel (Hg.): Rhetorik der Erinnerung. Literatur und Gedächtnis in der »geschlossenen Gesellschaft« des Realsozialismus. Göttingen: V & R unipress 2009, S. 363– 388; zur Rolle von Marcel Reich-Ranicki im literarischen Feld vgl. auch die kritischen Anmerkungen von Norbert Christian Wolf in diesem Band. 74 Hauptverantwortlich für den Bestsellerrang von Einzelheiten, der Essaysammlung von 1962. 75 Tatsächlich ein kühner Text, auch wenn der Newcomer letztlich ein kalkuliertes Risiko einging. Den Herausgeber Rudolf Augstein (»Jens Daniel«) nahm er aus der Journalistenschelte aus, und bei aller Kritik hob er, dies die Schlusspointe, die Unentbehrlichkeit des Magazins hervor. Es war eher unwahrscheinlich, sich mit dem Angriff einen starken Feind fürs Leben zu machen. Auszuschließen war es nicht.

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che bringt – worauf schon die doppelte Exklamation hindeutet (»Sturmvogel der Weltrevolution!«, »Echte Journalistenpoesie!«). Die darauf folgenden Stellungnahmen fallen eher unter posture. Zwar spricht auch aus der Aufwertung der Beweglichkeit eine eingefleischte Einstellung (deren habitueller Zug noch anzusprechen ist), der Autor bringt seine Disposition jedoch bewusst zum Einsatz, wie das »sagen wir mal: die deutsche Eiche« signalisiert, die augenzwinkernde Simulation einer Ad-hoc-Formulierung. Enzensberger macht seine Lieblingsopposition auf, auf seine Weise: Die Leser werden nicht belehrt, es wird ihnen zu verstehen gegeben, dass Gesinnungsfestigkeit hochzuhalten bedeutet, sich freiwillig zu inhaftieren (»lebenslänglich«), und dass es sich bei der Liebe zum einmal eingenommenen Standpunkt um eine sehr provinzielle Einstellung handelt (»deutsche Eiche«). Provinzielle Unbeweglichkeit vs. mondäne Beweglichkeit: Dieser Opposition, die homolog gedachte Merkmale halb explizit, halb implizit koppelt, ist eine andere Entgegensetzung vorgeschaltet, diejenige von Gesinnungsfixierung im Inland, Kunstorientierung im Ausland. Provinzialität, erfährt das Publikum, besteht nicht nur in betonierter Gesinnung, sondern schon darin, überhaupt auf Gesinnungswerte zu achten (»sehr deutsche Besorgnis«). Wenn Enzensberger berichtet, die ausländischen Leser beurteilten ihn nach seinen Büchern statt nach seiner Gesinnung, dann liegen dieser Alternativbildung zwei mögliche Präsuppositionen zugrunde. Erstens: Nur das Ausland erkennt, dass die von Politik handelnden Essays sich den gängigen Klassifikationsschemata der Politik (»links, zu links oder nicht links genug«) entziehen. Zweitens: Nur auswärts begreift man, dass die Gedichtbände, die zum Politischen von Haus aus eine gelockerte Beziehung unterhalten, den wichtigeren Teil des Œuvres bilden. Dafür, dass Enzensberger sich zuvorderst eine stärkere Wahrnehmung der Lyrik wünscht, spricht der weitere Verlauf des Interviews. Nicht allein, dass er die Lyrik zum »Besten, was ich machen kann«, erklärt. Er selbst erwähnt während des gesamten Gesprächs ausschließlich seine Gedichtbände, während es sich mit den Interessen der Gäste tendenziell umgekehrt verhält.76 Mit der Provinzialisierung der Gesinnungswächter, besonders der linken, konstruiert Enzensberger eine Position außerhalb respektive oberhalb der literarpolitischen Kämpfe in Deutschland: Die Reaktionen, die meine Texte im Inland auslösen, verfolge ich mit mattem Interesse; meine Beweglichkeit entspricht nur dem internationalen Standard, einer Verteidigung bedarf ich nicht. Mit der Selbstdarstellung als Künstler wiederum, auf die die ostentative Bagatellisierung von Gesinnungsfragen hinausläuft, wenn auch anfangs nur zwischen den Zeilen, sucht Enzensberger die Rezeption seines Œuvres zu korrigieren. Er registriert, dass die 76

Diese nennen lediglich den Lang-Essay des Vorjahres, Aussichten auf den Bürgerkrieg; auf die Lyrik kommen sie erst gegen Ende zu sprechen, merklich pflichtschuldig, wie die Gewichtung verrät. »Sie schreiben ja auch nicht nur politische Essays.« (Heinrich Jaenecke/Siegfried Schober [Anm. 70], S. 46; Enzensberger-Zitat ebd.). Der thematische Zusammenhang, in dem Enzensberger Mausoleum und Untergang der Titanic erwähnt, ist die Fortschrittsskepsis, die er auch mit Zwei Randbemerkungen zum Weltuntergang hätte illustrieren können, dem Essay von 1978.

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Laufkundschaft sich nur für seine Rolle als Provokateur der Linken interessiert. Gewiss, die Rolle ist reizvoll; man kann in ihr die politische Semantik ridikülisieren, Zeitgenossen mit »Standpunkt« den Aktionsradius eines Baums bescheinigen. Doch verdeckt sie die künstlerischen Verdienste, insbesondere jene Werke, die am ehesten Nachruhm versprechen, diejenigen mit »gute[r] Halbwertszeit« (s. o.). Sachte gegenzusteuern, die Aufmerksamkeit des Großpublikums auch auf die Lyrik zu lenken, kann nicht schaden. Zwei Versuche, symbolisches Kapital hinzuzugewinnen, zeichnen sich ab. Ohne dass er kulturökonomische Begriffe je hätte zur Kenntnis nehmen müssen, rein aus der Erfahrung eines so renommierten wie umstrittenen Autors, weiß Enzensberger, dass symbolisches Kapital und Aufmerksamkeit nicht dasselbe sind. Symbolisches Kapital, das heißt Ruhm, Prestige oder auch nur Anerkennung, erreicht nie den Umfang der Aufmerksamkeit, die man bezieht. Selbst bei beträchtlichem symbolischem Kapital bleibt eine Lücke, weil es bekanntlich auch Aufmerksamkeit ohne Anerkennung gibt, ein Beachtetwerden durch Gegner und Unentschiedene. Zur Aufmerksamkeit mit ungewisser Anerkennung muss man sich verhalten. Wenn der Autor den literarpolitischen Kurswechsel ins Bild mondäner Beweglichkeit setzt, spottet er nicht nur den Gegnern, er versucht zugleich, die Unentschiedenen, die politischen Bedenkenträger, auf seine Seite zu ziehen und so die Lücke zwischen symbolischem Kapital und Aufmerksamkeitsvolumen zu verkleinern. Das ist die eine Technik, verfeinert durch das implizite Dementi, es nötig zu haben, für sich und um andere zu werben. Der anderen, dem Versuch, die Lyrik zur Geltung zu bringen, kommt die ›falsche‹ Gesprächseröffnung entgegen, da sie eine nicht-intentionale Komplizität herstellt. Dass die Journalisten mit der Meinung ›vieler Linker‹ einsteigen, plausibilisiert die Andeutung des Autors, dass sich für den Künstler nur das Ausland interessiere. Dadurch können die Leser später, als Enzensberger die Gedichte in den Vordergrund rückt, einen Eindruck gewinnen, den der Autor selbst gar nicht mehr erwecken muss: Wer die Lyrik kennt, zählt zu den wenigen, die die Höhen des internationalen Rezeptionsniveaus erklimmen. Eine gesinnungslastige Rezeption in Deutschland glauben zu machen, heißt zwar zu vereinfachen. Was auf Teile der Stern-Klientel zutreffen mag, trifft auf die bildungsbürgerlichen Foren nicht zu. So wurde in der FAZ der 1991 erschienene Gedichtband, Zukunftsmusik, ja sehr löblich besprochen, von einem Rezensenten aus der Literaturwissenschaft, der es als Ex-Marxist an einem weihevollen Ton, hoch über den Niederungen des Politischen, nicht hat fehlen lassen.77 Allein, was sich im Professorenfeuilleton abspielt, ist den wenigsten Lesern 77

Gert Mattenklott: Der Hase im Rechenzentrum. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. 3. 1991: »Der komplizierte Reiz der Gedichte liegt in der widersinnigen Frische, mit der Schwermut, Langeweile und Melancholie zur Sprache kommen, dieser dreifache Abgrund moderner Seelengeschichte. In diese Poetik fügt sich der stilistische Balanceakt zwischen hoher Tradition und Alltag, wie er mit solchem Können und so zuverlässigem Gelingen in deutschsprachiger Lyrik gegenwärtig kaum anderswo zu beobachten sein dürfte.« Mattenklotts Kommentar durfte fortan den Klappentext der Taschenbuch-Ausgabe zieren, mit Nennung des Rezensenten, dem so auch einmal ein wenig Beachtung außerhalb der Akademie zuteil wurde.

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des Stern geläufig. Dem Autor eröffnet sich die Möglichkeit, das auf dem internen Kapitalmarkt seit Jahr und Tag genossene Prestige mit Hilfe eines Massenmediums mittlerer Reichweite zu erhöhen, die Chance, einen Teil der gesinnungszentrierten Beachtung, und sei es auch nur einen kleinen, in legitime, kunstzentrierte umzuwandeln. Die Techniken der Selbstmedialisierung sind kulturökonomisch beschreibbar, ohne dass Berechnung zu unterstellen wäre; einen an vorteilhafter Selbstdarstellung interessierten Autor vorauszusetzen genügt. Enzensberger verfolgt seine Interessen gewandt, wobei sowohl in der beiläufigen Marginalisierung politischer Gegner als auch in der dezenten Werbung für den Teil seines Schaffens, der sich ruhig einer höheren Einschaltquote erfreuen dürfte, stabile Distinktionsbedürfnisse stecken. Ersichtlich werden sie, wenn man das Stern-Interview in Beziehung zu zwei anderen Stellungnahmen setzt. Zunächst zu einer von 1989, zu einem Artikel in der FAZ. Bevor Enzensberger sich über das klägliche Niveau von lyrischen Neuerscheinungen lustig macht, kommt er auf das Sozialverhalten seiner Berufsgruppe zu sprechen, das der Dichter. Je mikroskopischer die Erfolge, desto kleinkarierter der Konkurrenzkampf. [. . .] Gewiß, es geht dabei ums Geld zuletzt, es geht in erster Linie um Ruhm. Aber der ist seinerseits eine anachronistische Kategorie. Bekanntlich haben die Medien den Ruhm abgeschafft und die Prominenz an seine Stelle gesetzt. Die aber äußert sich eher im Fernsehen als auf Dichterlesungen, und ihre Halbwertszeit vermag dem, der es auf Unsterblichkeit abgesehen hat, keinerlei Trost zu bieten.78

Seinesgleichen zu beobachten, bietet Gelegenheit, neben den Hobbydichtern, deren Kleinkariertheit nur noch durch die Lächerlichkeit übertroffen wird, auf Nachruhm zu hoffen, die Medienprominenten ins Visier zu nehmen. Ihre Bekanntheit ist von kurzer Dauer! Eine Mitteilung, in der sich Erfahrung und Hoffnung mischen und der die scharfe Unterscheidung zweier Formen von Bekanntheit zugrunde liegt. Demnach unterscheidet sich Ruhm von Prominenz nicht nur durch Dauer, sondern auch dadurch, dass er aus erfolgreich geführten Konkurrenzkämpfen resultiert, sich mithin noch auf Leistung gründet. Die Aussage, dass die Medien Ruhm in einen Anachronismus verwandeln und durch Prominenz ersetzen, impliziert, dass Ruhm und Prominenz nichts miteinander zu tun haben, dass die Medien, vor allem das Fernsehen, zu leistungsfreier Bekanntheit verhelfen. Der Autor spricht den Lesern des FAZ-Feuilletons aus dem Herzen, er stärkt die Überzeugung der Konsumentengruppe, dass das Medium der Hochkultur, schon weil es zu leistungsbezogener Aufmerksamkeit verhilft bzw. solche spendet, Welten von dem der Massen trennen. Zudem verweist die Entgegensetzung von Ruhm und Prominenz auf das Selbstbild des Sprechenden. Anders als die HobbyLyriker mit ihren aussichtslosen Ambitionen weiß Enzensberger ja ein Werk mit 78

Hans Magnus Enzensberger: Meldungen vom lyrischen Betrieb. Drei Metaphrasen [1989]. In: H. M. E.: Zickzack. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 182–199, hier S. 191.

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»gute[r] Halbwertszeit« sein eigen; eines, das vielleicht keine »ewige Rente«79 verspricht, aber doch einen Nachruhm, der einen von den vermeintlichen Kollegen und mehr noch von der Medienprominenz abhebt. Unterhält sich Enzensberger nun mit dem Stern, einem Magazin, das sich dem Legitimitätsgrad nach zwischen bildungsbürgerlichem Medium und Fernsehen befindet, deutlich näher an Letzterem, zieht er es vor, mit der Lyrik jene Quelle des Prestiges in den Vordergrund zu rücken, die ihn von der Medienprominenz, für die sich das Blatt ansonsten interessiert, am markantesten unterscheidet. Dafür spielt er, wie gesagt, jene Quelle der Bekanntheit herunter, die ihn für den Stern zum Prominenten macht und den Besuch erst motivierte: die Rolle des politischen Störenfrieds. Eine Bagatellisierung, die aufgrund der Vorgeschichte schillert. Nachdem der vormalige Leitautor der Neuen Linken sich von derselben immer weiter entfernt und diese Form der Beweglichkeit seit Mitte der achtziger Jahre vornehmlich auf der Bühne des Hamburger Wochenmarkts demonstriert hat (Zeit, Spiegel), mokiert er sich 1994, wieder via Hamburg, über eine gesinnungsfixierte Sicht auf sein Werk. Sie konnte schwerlich ausbleiben. Ebenfalls mit Vorsicht zu genießen ist die Suggestion, die Reaktionen der Linken kümmerten ihn wenig. Ein Eindruck, den Enzensberger noch vor kurzem erweckte, 2007, in einem Interview mit Cicero, dem »Magazin für politische Kultur« rechtsliberaler Art. Dort bemerkte er zur »kleinen Kaste der Medienlinken«: »Sie sitzen in ihren Redaktionsstuben und geben sich ihren Projektionen hin. Man tut gut daran, ihre fixen Ideen zu ignorieren.«80 Das war statt Beschreibung eigener Praxis der gute Vorsatz eines Autors, der die Linke zumindest der Printmedien alles andere als ignoriert hat. Realiter rührt die imageprägende ›Beweglichkeit‹ nicht zum wenigsten daher, dass der Konflikt mit den publizistischen Widersachern und Konkurrenten in den achtziger Jahren eskalierte und sich danach verselbständigte. Noch nicht beweglich genug. Es geht im Folgenden nicht darum, die Motivation der späten Essays auf die Abgrenzung von der Linken zu reduzieren. Andere Eigenschaften sind die skeptische, sich der eigenen Vorläufigkeit bewusste Erkenntnissuche und der vom Autor selbst wiederholt angesprochene Antrieb: »Jeder arbeitet mit seinen Erfahrungen und Obsessionen.«81 Betont sei lediglich, dass diese Qualitäten häufig einen polemischen, den Legitimationskämpfen im nationalen literarischen Feld geschuldeten Einschlag aufweisen. Er ist nicht immer leicht zu erkennen, da Enzensberger schon lange darauf verzichtet, die Gegner namentlich zu nennen – womit er ihnen mangelnde Satisfaktionsfähigkeit zu verstehen gibt. Dies macht einen Unterschied aus zur noch offen geführten Fehde mit Weiss Mitte der sechziger Jahre,82 ja selbst zur Rede des Fliegenden Robert, der die »Neidhammel« immerhin noch in der zweiten Person Plural ansprach. Im Übrigen heißt die verdeckt reaktive Seite der Essays hervorzuheben nicht, die Selbstbestimmung des Vgl. Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. München, Wien: Carl Hanser 1998, S. 118. 80 Zit. nach Wolfram Weimer/Till Weishaupt (Anm. 29), S. 66. 81 Zit. nach Alexander Smoltczyk (Anm. 4), S. 216. 82 Vgl. die Dokumentation bei Reinhold Grimm (Anm. 16), S. 90ff.

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Autors herunterzustufen. Im Gegenteil, für essayistische Werke gilt, was für literarische generell gilt: dass sich ihre »Differenzqualität im Interaktionsgeflecht des literarischen Feldes konkretisiert«,83 die Besonderheit von Texten sich am ehesten relational bestimmen lässt. Gehen wir die späte Prosa einmal unterm Gesichtspunkt der Interaktionen durch.84 Eine Schlüsselrolle im Prozess der Eskalation spielte der Verriss, den die Politischen Brosamen Ende 1982 im Spiegel ernteten. In besagter Essaysammlung wählt Enzensberger, Jahrgang 1929, den vertraulichen Ton eines großen Bruders, der sich der verirrten kleinen annimmt, so auch im Eröffnungstext, einer sanften Mahnung an die 68er, sich vom Konsequenzgebot zu lösen. Es führe nur dazu, Vorwürfe von Renegatentum und Anpassung nie an die eigene Adresse, stets an die der anderen zu richten, im trügerischen Gefühl moralischer Überlegenheit: »Wer von Prinzipientreue spricht, hat bereits vergessen, daß man nur Menschen verraten kann, Ideen nicht.«85 Mit dem Konsequenzgebot einher gehe die fatale Forderung nach der Deckungsgleichheit von Theorie und Praxis, vor der nicht nur theoretisch (mit Adorno) zu warnen sei, sondern auch empirisch. Der umstandslose Kurzschluss von Theorie und Praxis ende in aller Regel katastrophisch: Die reine Lehre des Kapitalismus führe in den Faschismus, die des politischen Kampfes in den Terrorismus, die des Antikolonialismus in den Steinzeitkommunismus eines Pol Pot etc. Die simple Evidenz dieser Einsicht sieht Wolfgang Pohrt, der Rezensent, durch die Wendung ins Programmatische überstrapaziert, und er beruft sich dabei auf niemand anderen als Adorno: »Enzensberger hat sich hier einen Gedanken vorgeknöpft, der wahr ist nur als Einwurf, als Widerspruch, im Nebensatz, in dem Sinne, wie es in der ›Dialektik der Aufklärung‹ heißt: ›Der Logik spotten, wo sie gegen den Menschen ist.‹ Er walzt diesen spitzen Gedanken platt zu einem breiten Loblied auf die Inkonsequenz [. . .].«86 Schon der höflich formulierte Vorschlag stößt also auf wenig Gegenliebe, und der Einwand des sechzehn Jahre jüngeren Kritikers fällt spitz aus. Aber vielleicht überzeugt die (Ex-)Genossen ja die Erklärung für die politische Stabilität der Bundesrepublik? In freundlichem Plauderton stellt Enzensberger den Westdeutschen ein gutes Zeugnis aus. Demnach haben sich die meisten LandsYork-Gothart Mix: Soll die Literaturwissenschaft etwas anderes sein als sie selbst? Plädoyer für ein relationales Selbstverständnis der Disziplin. In: Martin Huber/Gerhard Lauer (Hg.): Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie. Tübingen: Niemeyer 2000, S. 155–173, hier S. 163. 84 Die Forschung pflegt diesen Aspekt auszuklammern. Das gilt selbst für den sehr lesenswerten, weil dem Zusammenhang zwischen Normalisierungsdiskurs und rhetorischer Selbstvermarktung nachspürenden Aufsatz von Matthias Uecker: Marketing the Self. Hans Magnus Enzensberger’s Rhetorical Strategies. In: Arthur Williams u. a. (Hg.): Literature, Markets and Media in Germany and Austria Today. Bern u. a.: Peter Lang 2000, S. 53–69. 85 Hans Magnus Enzensberger: Das Ende der Konsequenz. In: H. M. E. (Anm. 56), S. 7–30, hier S. 15. 86 Wolfgang Pohrt: Loblieder auf die Inkonsequenz. In: Der Spiegel 36 (1982) 52, S. 107– 109, hier S. 107. 83

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leute in einem Common Sense eingerichtet, den der Autor als Alternative zum diskreditierten ideologischen Rigorismus empfiehlt: im lebensklugen Bekenntnis zur halben, sozialdemokratischen Sache, einer im Westen allenthalben beobachtbaren Mentalität des bescheidenen trial and error. Die Deutschen wie die Umgebungsvölker »ahnen, daß die Alternative zur halben Sache Barbarei und Selbstzerstörung hieße«87 . Darin sieht Enzensberger den politischen Reflex einer kulturellen Dominanz der kleinen Bourgeoisie, die in der immateriellen Produktion überhaupt den Ton angebe: »Sie entscheidet, was im sogenannten ›Privatleben‹ läuft. Sie ist die einzige Klasse, die Kunst und Mode, Philosophie und Architektur, Kritik und Design erzeugt.«88 Die Pointe der Protosoziologie (die Bourdieu kaum überzeugt hätte)89 lautet, dass das Kleinbürgertum seine eigenen Kritiker hervorbringt, die Künstler und Intellektuellen. Dieser interne Zwist bildet den roten Faden der Essays, die die Rollen übersichtlich verteilen: hier die konsumfreudige und politisch pragmatische Mehrheit, dort die Außenseiter, die ihren Degout am Massengeschmack kultivieren; die es mit einer ihrerseits degoutanten, weil wohlstandsgesicherten Wohlstandsverachtung halten;90 die als Künstler, in steter Sorge um Unverwechselbarkeit, einem ermüdenden Originalitätszwang verfallen;91 und die ihre Mitbürger seit je mit allerlei Sinnstiftungsprojekten und politischen Utopien behelligen. Die schweigende Mehrheit selbst erklärt Enzensberger zum zählebigen und verlässlichen Widerstandspotenzial; vor Verstiegenheiten gefeit, konzentriere sie sich aufs Nächstliegende. Zum Beispiel 1945: Der deutsche Faschismus läßt sich als ein großangelegter Versuch verstehen, reinen Tisch zu machen. Am Ende des Zweiten Weltkriegs schien dieses Experiment gelungen: das ganze Land war eine Tabula rasa. Daß die Rechnung Hitlers (und Morgenthaus) denHans Magnus Enzensberger: Das Ende der Konsequenz. In: H. M. E. (Anm. 56), S. 7–30, hier S. 20. 88 Hans Magnus Enzensberger: Von der Unaufhaltsamkeit des Kleinbürgertums [1976]. In: H. M. E. (Anm. 56), S. 195–206, hier S. 203. 89 Er setzte voraus, dass das Kleinbürgertum eine Überlegenheit der Hochkultur verschämt anerkennt, zur hilflosen Nachahmung tendiert, die »›Durchschnittskunst‹« etwa »dem Zwang unterworfen ist, sich immer in bezug auf die legitime Kultur definieren zu müssen« (Pierre Bourdieu: Die Wechselbeziehungen zwischen eingeschränkter und Großproduktion. In: Christa Bürger u. a. [Hg.]: Zur Dichotomisierung von hoher und niederer Kultur. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, S. 40–61, hier S. 46). Eine Prämisse, die der vergleichsweise steil hierarchisierten Gesellschaft Frankreichs angemessen sein mag, aber der deutschen? – Zwischen Gesellschaftswissenschaft und literarischer Protosoziologie gibt es eine Übereinstimmung im Dissens immer dann, wenn Enzensberger die upper middle class vor Augen hat. Deren Definitionsmacht wird auch von den Feinen Unterschieden gesehen, die die Grundeinstellung des aufsteigenden Kleinbürgertums auf die schöne Formel der Pflicht zum Genuß bringen, vgl. Pierre Bourdieu (Anm. 49), S. 573. 90 »Der Haß auf den Wohlstand [. . .] gehört zu den Lebenslügen der westdeutschen Intelligentsja.« (Hans Magnus Enzensberger: Armes reiches Deutschland. In: H. M. E. [Anm. 56], S. 177–193, hier S. 193.) 91 »Nicht daß einer einen ganzen Roman schrieb, ohne den Buchstaben e zu verwenden [. . .], war ausschlaggebend, sondern ob er diese Leistung früher erbrachte als die Konkurrenz.« (Hans Magnus Enzensberger: Zur Verteidigung der Normalität. In: H. M. E. [Anm. 56], S. 207–224, hier S. 212.) 87

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noch nicht aufgegangen ist, daran sind die Trümmerfrauen, Heimkehrer, Ami-Fräuleins, Kellerkinder, Schwarzhändler, Persilscheinbesitzer, Kohlenklaus, Schrebergärtner und Häuslebauer schuld, eine schweigende Mehrheit, die darauf bestand, Deutschland wiederherzustellen.92

Die ›kleinen Leute‹ mit ihren »enorme[n] Reserven an Arbeitskraft, Schlauheit, Rachsucht, Widerspenstigkeit, Energie, Umsicht, Mut und Wildheit«, erscheinen an katastrophischen Tendenzen unbeteiligt bzw. ausschließlich als deren Korrektiv: »Sofern die Gattung fähig ist zu überleben, wird sie ihre Fortdauer vermutlich nicht irgendwelchen Außenseitern verdanken, sondern ganz gewöhnlichen Leuten.«93 Eine Sicht, die Pohrt durch den naheliegenden Umkehrschluss ad absurdum führt: Zu bedenken sei, dass »noch weniger als früher schon im Atomzeitalter Clochards, kokainsüchtige Dichter und andere Exzentriker den Lauf der Dinge bestimmen«.94 Besonders die Gegenwartsdiagnose tauge wenig, das Bild vom goldenen politischen Mittelweg vermittele nur einen »matten Abklatsch der Realität«, sehr zum Nachteil des Verfassers: »Die Verharmlosung der Realität infiziert das Denken selber mit einer Kraftlosigkeit, welche den beschworenen Verhältnissen angemessen ist, den wirklichen freilich nicht.«95 Die Kraftlosigkeit passe allerdings gut zum Titel, die Spar-Metaphorik der Brosamen stimme ja schon ein auf »ein Plädoyer für den Verzicht aufs Anspruchsdenken im Bereich der Ideen«.96 Solche Töne sind von Hohn schwer zu unterscheiden, schon weil der ›Ideenarme‹ einige Originalität bewiesen hat. Seine Abkehr von der Normaldisposition der Intellektuellen, der Kleinbürgerverachtung, ermöglicht es, unter den Intellektuellen ein Besonderer zu bleiben (die den anderen unterstellte Vermassungsfurcht ist ihm so fremd nicht). Distinguierend wirkt zuvorderst, dass Enzensberger kokette Selbstkritik einbaut, zum Beweisstück für abzulegende Intellektuellenhybris die eigene Person macht. Auf den eigenen, frühen Ekel vorm Kleinbürger – »Du riechst nicht gut. Dich gibt’s zu oft«, hieß es 1957 über den Mann in der Trambahn97 – schaut er in Selbstzitaten heiter und geläutert zurück. Die Strategie, einen sich selbst ausstellenden, individuellen Lernprozess als vorbildlichen nahezulegen, geht auch weitgehend auf: Das Feuilleton urteilt größtenteils positiv.98 Und doch, dieser eine Verriss fiel ins Gewicht, er brachte Enzensberger aus drei Gründen in Zugzwang. 1. Er erschien im Spiegel, an einem Ort von großer öffentlicher Sichtbarkeit, nicht etwa im Linksmagazin Konkret, wo Pohrt für gewöhnlich veröffentlichte. Enzensberger konnte das Medium der Kritik schwerlich als apokryphes, mithin vernachlässigbares betrachten; umso weniger, als er selbst es in den späten siebziger Jahren wiederholt als Publikationsort gewählt hatte. Ebd., S. 224. Ebd. 94 Wolfgang Pohrt (Anm. 86), S. 108. 95 Ebd. 96 Ebd., S. 107. 97 Hans Magnus Enzensberger: verteidigung der wölfe. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1957, S. 74. 98 Vgl. Markus Joch (Anm. 40), S. 354f. 92 93

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2. Mit Pohrt erwuchs Enzensberger ein ernst zu nehmender Herausforderer im Subfeld des Essays. Davon zeugt der Kampf um die korrekte Adorno-Adaption, der mokante Ton, der vom frühen Enzensberger hätte stammen können, zuvorderst aber, dass Pohrt, ein linksradikaler Interpret der Kritischen Theorie, überhaupt für den Spiegel rezensieren durfte. Der freie Publizist und promovierte Sozialwissenschaftler hatte sich Anfang der achtziger Jahre über das linksradikale und -alternative Milieu hinaus einen Namen gemacht – zum einen als Autor von Essays wie Liebe und Geld bei Balzac (1981), zum anderen als scharfzüngiger Verächter der Friedens- und Ökologiebewegung, die er zu deutschnationalen Erweckungsbewegungen erklärte.99 Das heißt, der Kritiker urteilte nicht nur an exponierter Stelle, sondern auch mit dem symbolischen Kapital eines Shootingstars, dessen radical chic im (seinerzeit) linksliberalen Segment gefragt war. 3. Die Kritik hatte einen gefährlicheren Zungenschlag als die von Hermann L. Gremliza zwei Jahre zuvor. Als Enzensberger 1980, fünf Jahre nach Abgabe der Kursbuch-Herausgeberschaft, TransAtlantik gründete und im Prospekt erklärte, die Deutschen seien anspruchsvoller geworden, folglich sei es Zeit für eine kulinarisch angelegte Zeitschrift, ernannte ihn der Konkret-Herausgeber zum Schickerialiteraten und Konjunkturritter, der 1968 doch noch das Bündnis von Intellektuellen und Arbeitern auf die Tagesordnung gesetzt habe. Die Rede von der »Wendigkeit solcher Harlekine wie Enzensberger«100 war, zumindest was das Hofnarrentum betrifft, ehrenrührig, doch konnte der Verfemte sie relativ gelassen zur Kenntnis nehmen. Sein Verfolger stimmte die neueste Strophe des linken Evergreens von den Unterhaltungskünstlern der Bourgeoisie vor der relativ kleinen Konkret-Gemeinde an; überdies ließ er sich die Befürchtung anmerken, dass ihm TransAtlantik – Startauflage: 150 000 Exemplare – Autoren abwerben könnte. Anders der ebenfalls negative, doch kühlere, ressentimentfrei wirkende Artikel von Pohrt. Er signalisierte einem breiteren Publikum, der vormalige Leitautor der Linken habe seinen Biss verloren. Enzensberger musste zur Kenntnis nehmen, dass ihm der höfliche Ton, den er sich 1979 vorgenommen hatte, in der erklärten Absicht, die Rechthaberei seiner bisherigen Essays abzulegen,101 von einem aufstrebenden Propheten als Schwäche ausgelegt wurde. Der Herausforderer urteilte aus Überzeugung wie im Eigeninteresse: Achtet man auf die Abweichungen102 der Brosamen von der zeitgenössischen westdeutschen Essayistik, wird man bemerken, dass zwischen der neuen Courtoisie des älteren Dies war der sachliche Hintergrund der Auseinandersetzung: Der eine sah die Deutschen im Common Sense angekommen, der andere eine Renaissance des Nationalismus hinaufziehen, auch und gerade in der Linken. 100 Hermann L. Gremliza: Journal des Luxus und der Moden. In: Literatur Konkret 7 (1980), S. 6–9, hier S. 8. 101 Vgl. Hanjo Kesting: Gespräch mit H. M. Enzensberger [1979]. In: Reinhold Grimm (Anm. 16), S. 116–135, hier S. 133. 102 Vgl. zur Anregung, die Bedeutung von Werken anhand ihres objektiven Abstands zu zeitgenössischen oder aus der Vergangenheit stammenden Werken zu bestimmen, Pierre Bourdieu: Die Intellektuellen und die Macht. Hamburg: VSA 1991, S. 120. 99

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Essayisten und der Boshaftigkeit des jüngeren die größte Differenz bestand.103 Der jüngere besetzte der Tonlage nach die Lücke, die der ältere, ein ›gefallenes Vorbild‹ des jüngeren, hinterlassen hatte. Enzensbergers unmittelbare Reaktion auf die Rezension weist auf die langfristige voraus. Einen Monat später führt er mit der Zeit ein Gespräch, in dem er bedauert, Antworten auf die Brosamen von links seien leider ausgeblieben. »Ich erwarte ja keine Zustimmung, aber ich finde es ein bißchen schade, daß sich niemand damit auseinandersetzt.« Er invisibilisiert den Verriss. Das Hinweggehen über die Einwände lässt erkennen, dass er Pohrt eine ernsthafte Bereitschaft zur Auseinandersetzung abspricht, womit sich bereits ein weniger höflicher Umgang mit dem ehemaligen Umfeld andeutet. Gleiches gilt für die Antwort auf Ulrich Greiners Frage, »ob er denn nicht die völlige Beliebigkeit seiner Position fürchte? [. . .] Im Gegenteil: Er fürchte, immer noch nicht beweglich genug zu sein.«104 In der Tat, die Beweglichkeit steigerte sich und mit ihr die »Erzeugungsformel«105 der Essays. Beschränkte sich Enzensberger in den frühen achtziger Jahren darauf, die Grenzen der Definitionsmacht von Intellektuellen zur Sprache zu bringen, geht er nun, nach den Attacken auf seine Person, dazu über, den westdeutschen Linksintellektuellen und damit den Kritikern seiner selbst die Überflüssigkeit nachzuweisen. Immer auch Retourkutsche für die Nachrede der Kraftlosigkeit, geht die Positionsverschiebung106 in symbolischer Aggression allerdings nicht auf. Zum einen, weil sie mit einer wachsenden Lust verbunden ist, der, die eigenen Positionen von gestern über Bord zu werfen. Zur Selbstkorrektur hatte der Essayist stets eine besondere Affinität. Bereits in den frühen sechziger Jahren nahm er den Namen der von ihm bevorzugten Gattung wörtlich, wollte er seine Versuche als vorläufige Antworten, verkappte Fragen verstanden wissen.107 Wenn er die Beweglichkeit Mitte der achtziger Jahre forciert, so haben die Angriffe auf seine Person eine bereits vorhandene Disposition nur verstärkt, katalytisch gewirkt. Zum anderen ist die Marginalisierung der Linken einem abgeklärten Entlastungsdiskurs eingebettet, der das politische Engagement von Intellektuellen für schlichtweg entbehrlich erklärt. Folgt man den in Mittelmaß und Wahn (1988) gesammelten Stellungnahmen, so hat ungeachtet der Mediokrität der Berufspolitik die Integrationsfähigkeit des bundesrepublikanischen Gemeinwesens alle Erwartungen übertroffen. Da und dort, etwa vor den Bauzäunen der Atomanlagen, erhebt der Polizeistaat noch einmal sein hässliches Haupt, doch sind das nur letzte Überbleibsel des AutoritaVgl. Wolfgang Pohrt: Endstation. Über die Wiedergeburt der Nation. Berlin: Rotbuch Verlag 1982, S. 43: »Die Neulinke trat nicht mehr aggressiv und kämpferisch auf, sondern sie bekannte sich zu ihren Problemen – dort, wo einer des anderen Sozialarbeiter ist und eben deshalb niemandem mehr zu helfen, stets ein zuverlässiger Auslöser für ein dauerhaftes und ergiebiges Gespräch.« 104 Ulrich Greiner: Der Risikospieler. In: Die Zeit vom 25. 2. 1983. 105 Pierre Bourdieu (Anm. 13), S. 130. 106 Bolz (Anm. 10), S. 206, ignoriert sie, sieht nur die »Apologie der Kleinbürger«. 107 Vgl. Hans Magnus Enzensberger: Politik und Verbrechen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1964, S. 398.

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rismus, hochgespielt von einer Linken, die an Selbstausgrenzungswahn leidet.108 Anders als der Autor hat sie die objektive Ironie nicht begriffen: Der legendäre Satz von 1968, wonach man dem System nur zustimmen kann oder es durch ein neues ersetzen muss, hat sich bewahrheitet, wenn auch nur im Sinn des ersten Teils der Alternative.109 Was die Linksintellektuellen betrifft, so teilen sie mit dem vermeintlichen Widerpart der Berufspolitik das Schicksal der Depotenzierung. Die entscheidenden gesellschaftlichen Impulse gehen ohnehin nicht mehr von den ehedem so heiß umkämpften staatlichen Schaltstellen aus; weil die Gesellschaft in eine Unzahl von kleinbürgerlichen Interessengruppen zersplittert ist – vom Mieterverein über die Naturschützer bis zu den Autofahrern –, erweist sich die Vorstellung ihrer zentralen Steuerbarkeit als obsolet. Das Politische ist aufgehoben im punktuellen, oft lokalen, nur auf die unmittelbare eigene Lebenswelt bezogenen Engagement der Bürger. »Heute stehen dem Staat alle möglichen Gruppen gegenüber, Minoritäten aller Art. [. . .] Sie können 10 000 Machtinstanzen in unserer Gesellschaft ausmachen. Das Resultat ist eine undurchsichtige Gemengelage.«110 Nach Enzensberger aber ist die klare Bestimmbarkeit eines politischen Machtzentrums die Voraussetzung für intellektuelle Gegenrede. Indem er jenes leugnet, beraubt er diese ihres Gegenstands. Beide Seiten im traditionellen Widerstreit von Macht und Geist, die (vermeintlich) Regierenden wie die litterature engageé, fänden ihre vormalige Stellvertreterfunktion vergesellschaftet.111 Auf die Spitze treibt den Marginalisierungs- wie den Entlastungsdiskurs der im Spiegel vorveröffentlichte Essay Das Nullmedium: Dem Fernsehen weitgehende Inhalts- und Wirkungslosigkeit zu attestieren (»Programm-Illusion«), die Zuschauer, die vermeintlich manipulierten, das Projekt der Bedeutungsvermeidung bewusst vollenden zu sehen (»Man schaltet das Gerät ein, um abzuschalten«),112 ermöglicht es, die Medienkritiker in die Rolle skurriler Oberlehrer zu drängen, die die Zuschauer wohlmeinend bevormunden, obwohl es doch um gar nichts geht. Ferner kann man sich so ideologiekritische Fragen zur Medienwirkung ersparen und den eigenen Vorschlag von 1970, die elektronischen Medien zu demokratisieren und damit »ungeahnte gesellschaftliche Lernprozesse in Gang« zu setzen,113 gelassen bestatten. Ende der achtziger Jahre erreicht Enzensberger ein Maximum an Aufmerksamkeit. Die zugespitzten Mittelmaß-Thesen sorgen zum einen dafür, dass die Ablehnung kulminiert, genauer: die harsche Variante weitere Kreise zieht. Wenn es im Spiegel heißt, die Rede vom Nullmedium sei ein Witz, »der gerade ausreichen Vgl. Hans Magnus Enzensberger (Anm. 37), S. 269f. Ebd., S. 253: »[E]in Selbstzitat aus dem Jahre 1968: ›Das politische System der Bundesrepublik läßt sich nicht mehr reparieren. Wir können ihm zustimmen, oder wir müssen es durch ein neues System ersetzen. Tertium non dabitur.‹« Das Selbstzitat hat einen etwas, wenn auch nicht wesentlich anderen Wortlaut (»müssen«/»können«) als die mir bekannte Stelle aus den Berliner Gemeinplätzen (Anm. 15). 110 Ebd., S. 231. 111 Vgl. ebd., S. 207ff. 112 Ebd., S. 98, 101. 113 So die süffisante Zusammenfassung ebd., S. 98.

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dürfte, um in ungezwungener Gesellschaft, etwa der des Dichters an der Tafel zwischen den Gattinnen einflußreicher Männer, die Pause zwischen Suppe und Braten mit Geplauder zu füllen«,114 und diese Einschätzung von einem politisch gemäßigten Kritiker stammt, dann ist die Vorstellung vom Salonliteraten Enzensberger aus dem linksradikalen ins linksliberale Milieu vorgedrungen, am Ort größerer Sichtbarkeit angekommen. Was für den Autor zu verschmerzen ist, da er auf der anderen Seite in der Achtung von Frank Schirrmacher und Karl Heinz Bohrer steigt, die als Feuilletonchef der FAZ bzw. als Leiter des Merkur zu den gewichtigsten Stimmen ›antiutopischer‹ Literaturkritik und -wissenschaft zählen. Sie zeichnen Enzensberger als Künstler unter Gesinnungsästheten aus, als große Ausnahme im linken Juste-Milieu der westdeutschen Nachkriegsliteratur. Das bei den einen verlorene symbolische Kapital gewinnt der Autor bei den anderen hinzu, die einen weiß er negativ, die anderen positiv zu überraschen. Insoweit folgt die Rezeption einer einfachen literarpolitischen Logik, unter Prestigegesichtspunkten eine des Nullsummenspiels, unterm Aufmerksamkeitsaspekt eine des Zugewinns. Hinzu kommt eine Form der Beachtung, die sich literarpolitischen Kategorien sperrt. Gleichgültig, wie die Leser zu Enzensberger ›politisch stehen‹, Fernsehverächter kommen bei ihm auf ihre Kosten. Ein Autor, der dem Massenmedium kurze Zeit nach Zulassung privater Anbieter die Bedeutungslosigkeit bescheinigt, irritiert die linke Medienkritik, ohne sich affirmativ zu verhalten. Die Querstellung zur politischen Codierung kritisch/affirmativ ist für den bildungsbürgerlichen Teil der Rezipienten interessant, da sie zugleich eine Querstellung im zeitgenössischen intellektuellen Feld markiert. Auf den ersten Blick verhalten sich Enzensberger und Kluge (die beiden Meisterschüler des Kulturindustrie-Kritikers Adorno) grundverschieden. Während der Schriftsteller dem Fernsehen jegliche Wirkung abspricht, sieht der Schriftsteller und Filmemacher 1985 die privaten wie die öffentlich-rechtlichen Anbieter Verdrängungskunstwerke produzieren, die konservative Gefühlswelten mobilisierten.115 Der eine bagatellisiert das Fernsehen und meidet es, der andere zeigt sehr bald produktionsorientiertes Interesse und steigt 1988 ein, überdies bei den Privaten. Zugleich aber sind die Entscheidungen der beiden schon damals als Varianten der Autonomie wahrnehmbar: Nutzt der eine gehobene Printmedien, um zu signalisieren, dass er das Massenmedium weder mental noch zur Selbstpopularisierung benötigt, beginnt der andere, innerhalb des Fernsehens zu zeigen, was demselben fehlt – etwa ein Bewusstsein dafür, dass ein Gespräch, das den Namen verdient, Zeit und Aufmerksamkeit für den Gesprächspartner verlangt und erst durch unvorhersehbare Wendungen Interesse verdient.116

Eberhard Falcke: Märchen vom goldenen Mittelweg. In: Der Spiegel 43 (1989) 4, S. 195– 199, hier S. 198. 115 Vgl. Alexander Kluge: Die Macht der Bewußtseinsindustrie und das Schicksal unserer Öffentlichkeit. In: Klaus von Bismarck u. a. (Hg.): Industrialisierung des Bewußtseins. München, Zürich: Piper 1985, S. 51–129, hier S. 57. 116 Vgl. zur Kunst der Gesprächsführung Matthias Uecker: Anti-Fernsehen? Alexander Kluges Fernsehproduktionen. Marburg: Schüren Verlag 2000, S. 108ff.

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Wie eingangs angedeutet: Der ›Quotenkiller‹ Kluge hat innerhalb eines hoch kommerzialisierten Feldes einen Gegenpol installiert,117 eine paradoxe Ökonomie analog zum begrenzten literarischen Feld, in der Prestige nicht an breiten Publikumszuspruch gebunden ist, sondern an die Anerkennung durch eine anspruchsvolle, vergleichsweise schmale und selbst noch nach Mitternacht halbwegs aufmerksame Zuschauergruppe. Enzensberger wahrt Würde und Attraktivität auf andere Weise: indem er massenmediale Präsenz (im strengsten Sinn) verknappt.118 Der Unterschied in der Gemeinsamkeit ist mit der Zeit immer augenfälliger geworden. Damit nähern wir uns der allgemeineren Frage: Wie hat Enzensberger den 1988 erreichten Grad an Bekanntheit aufrechterhalten, wie das Renommee – die etwas andere Größe – noch steigern können? An Konkurrenten um die Ressource Aufmerksamkeit fehlt es schließlich nicht, jüngere Autoren drängen nach. Und was seinerzeit für das meiste Aufsehen sorgte: die Abkehr von der Linken, vollzog Enzensberger eben schon vor 1989. Zwanzig Jahre danach drängt sich die Frage auf, warum der Kurswechsel dem »Verschleiß von Neuigkeitswert« (Franck)119 entgangen ist. Und wie konnte er weiterhin distinguierend wirken, obwohl Abgrenzungen von der Linken nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus ein Standard im intellektuellen Feld waren, ja beinahe de rigeur? Ich habe nur einige Erklärungssplitter anzubieten, den Vorschlag, darauf zu achten, wie der Autor seine Positionierungen variiert und welche Einstellungen der Rezipientenseite ihm entgegenkommen. 1. Anfang der neunziger Jahre restituiert er überraschend den in den achtziger Jahren außer Kraft gesetzten Protest des Intellektuellen, nimmt er Politiker ins Visier, die rechtsradikalen Mordbrennern »Mängel des Schulwesens, vor allem in der ehemaligen DDR« und das »schwere Los der Arbeitslosigkeit« zugute halten: »Von derart unterprivilegierten Personen könne man schließlich nicht erwarten, daß das Verbrennen von Kindern, streng genommen, nicht statthaft ist.«120 Zudem rechnet er der Ausgrenzung von Immigranten (›Das Boot ist voll‹) den Preis der kulturellen Austrocknung Deutschlands vor. Andererseits erkennt er strukturelle Arbeitslosigkeit und die geringe Bereitschaft der Einheimischen, Solidarität auf Landfremde auszudehnen, als Faktoren an, die ein ernsthafter politischer Diskurs berücksichtigen müsse. Es sei denn, man neige zu einer Schwundstufe linken Denkens, den multikulturellen Idyllen des politischen Protestantismus. Dieser bringe es fertig, gleich alle Verlierer des Weltmarkts durch Immigration retten zu wollen und den halb bornierten, halb verständlichen Egoismus der Einheimischen glatt zu ignorieren. »Wäre es da nicht einfacher, die Prediger / Lösten das Volk auf und / Wählten ein anderes?«.121 So auf Brecht anzuspielen bedeuVgl. zu den Umständen der Etablierung bei Sat.1 ebd., S. 54ff. (Uecker selbst hat mit einer feldtheoretischen Perspektive nichts im Sinn; es ist der Verfasser, der sie für anschließbar hält). 118 Dazu anerkennend auch Norbert Bolz (Anm. 10), S. 204. 119 Vgl. den Schlussabschnitt von Francks Beitrag in diesem Band. 120 Hans Magnus Enzensberger: Die Große Wanderung. 33 Markierungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 72. 121 Ebd., S. 54. 117

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tet, das Engagementmodell jenen zu entwinden, die es mit Wunschdenken verwechseln. Allein, so gewitzt die Volte ist, ein Schönheitsfehler bleibt: Je marginalisierter das attackierte Milieu, desto gratismutiger der Hohn. Realiter ist die Skepsis gegenüber dem ethischen Universalismus auch unter den Intellektuellen verbreitet, rennt Enzensberger offene Türen ein.122 Da ein starker Widerpart nunmehr fehlt, beginnt sein in langwierigen Geltungskämpfen mit der Linken verinnerlichtes Abgrenzungsbedürfnis leerzulaufen, es hat die Bedingungen seiner Entstehung überdauert (ein klassischer Trägheitseffekt).123 Auf der anderen Seite spricht die Länge der Geltungskämpfe auch für den Autor. Dass er sich von der Linken bereits um 1980 absetzte, zu einem Zeitpunkt, da sie noch über eine gewisse Definitionsmacht verfügte, eine Abgrenzung mithin noch Risiken barg, unterscheidet ihn von jenem Typus Literaturwissenschaftler, der sich nach der Wende stillschweigend vom Marxismus verabschiedet und der Predigerschelte Mitte der neunziger Jahre umso beherzter zustimmt.124 2. Unverwechselbar geblieben ist Enzensberger in den letzten zwei Dekaden zuvorderst durch ein leicht antizyklisches Verhalten, eine Prise Restmarxismus. Statt, wie die meisten, die materialistische Methode zu pensionieren, pflegt dieser Autor ihr punktuell recht zu geben, umso nachdrücklicher, je mehr sie aus der Mode gekommen ist. Dass der Weltmarkt selbst in den reichen Ländern mit jedem Jahr weniger Gewinner und mehr Verlierer produziert, duldet für ihn keinen Zweifel. Nur folgt dann in Essay wie Interview regelmäßig eine Geste des Achselzuckens: Die sozialen Unkosten des Kapitalismus sind leider unvermeidlich, da weder Aufstände noch eine Alternative in Sicht.125 Wie kokett sich diese Haltung zelebrieren lässt, zeigte der Herbst 2008, als Enzensberger dem Spiegel-Feuilleton erklärte, Finanzkrisen gehörten nun einmal zu unserer Wirtschaftsform, überhaupt sei »die eine oder andere Brechstange aus der Werkstatt des Herrn Marx« brauchbar. Doch es hilft alles nichts: Projekte sozialer Gerechtigkeit, selbst in der bescheidenen sozialdemokratischen Variante, sind nur eine »wunderbare Idee«.126 Die posture der Abgeklärtheit, angereichert mit einem Schuss Widerborstigkeit, ist fürs neoliberal gewendete Feuilleton goutierbar, der Autor auch deshalb gefragt. 3. Abwegig wäre es, von der Nachfrage auf eine ›Auftragsgesinnung‹ zu schließen. Abgesehen davon, dass diese hin und wieder bei der Linken anzutreffende Vorstellung mit der Feldtheorie unvereinbar ist,127 ist Enzensberger seit Jahrzehnten ein finanziell unabhängiger Autor, der es nicht nötig hat, der neoliberalen KonVgl. zum Anteil von Scheinprovokation auch Matthias Uecker (Anm. 84), S. 59. Vgl. Pierre Bourdieu (Anm. 49), S. 238, 496. 124 Vgl. Gert Mattenklott: Enzensbergers Iterologie im Jahrhundert der Wanderungen [1996]. In: Rainer Wieland (Anm. 35), S. 57–67, hier S. 59f. 125 Vgl. als frühestes Beispiel dafür Hans Magnus Enzensberger (Anm. 120), S. 29f. 126 Matthias Matussek/Markus Brauck: »Phantastischer Gedächtnisverlust«. Gespräch mit Hans Magnus Enzensberger. In: Der Spiegel, 62 (2008) 45, S. 76–78, hier S. 78. 127 Bourdieu akzentuiert, dass die bestimmende Ursache von Positionierungen die instinktive Distanznahme zu Konkurrenten im literarischen (oder allgemeiner im intellektuellen) Feld ist, auch wenn über den Ausgang der internen Kämpfe entscheidet, ob sich Kon-

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sumentengruppe zu gefallen. Vor allem aber tritt zwischen ihr und ihm gerade in puncto Ökonomie eine Friktion zutage. Die Freunde des freien Marktes beschreiben Enzensberger am liebsten als Unternehmer. Ein 1998 im Spiegel erschienenes Porträt etwa setzte nicht ohne Feierlichkeit mit der Information ein, dass »ein Buchstabe Enzensberger auf dem Essay-Markt zur Zeit mit etwa anderthalb Mark notiert wird«, der Autor über »Geld und Macht« verfügt.128 Die literaturwissenschaftliche Diskursverstärkung in Gestalt von Norbert Bolz spricht vom »Markenkern« und »Logo« HME, um die »Exemplifizierung des literarischen Kultmarketings« mit dem Vorschlag zu krönen, HME »als personal brand an der Börse zu notieren«.129 Merke: Alles ist Markt. Und glaube keiner, die Lyrik bilde eine Ausnahme: »Gerade auch die Antiware ist Ware und verkauft sich im Nachkriegsdeutschland besonders gut. Das ›Anti-‹ wird zur Ware im Gedicht.«130 Dumm nur, dass die Marke selbst das nicht begriffen hat. Noch 1989 behauptet sie steif und fest: »Einen Poesiemarkt gibt es nicht. Das Gedicht ist das einzige Produkt menschlicher Geistestätigkeit, das gegen jeden Versuch, es zu verwerten, immun ist.«131 Ja, selbst fünf Jahre nach dem Mauerfall zeigt sich die Marke uneinsichtig: »Ein Marktwirtschaftler würde sagen, daß es die Poesie eigentlich gar nicht geben dürfte. Wenn sie nach Stücklohnkosten und Umsatz, Angebot und Nachfrage, Aufwand und Ertrag schauen, hat der Mann recht. Aber die Marktwirtschaft ist zum Glück nicht der Stein der Weisen.«132 Eine Ideologin ist sie also auch noch! Im Ernst, die neoliberalen Anhänger neigen dazu, das Selbstverständnis von Enzensberger ökonomistisch zu halbieren.133 Natürlich ist der Essayist der Spitzenverdiener unter Deutschlands Autoren; auch dass ihm der wirtschaftliche Erfolg die geistige Unabhängigkeit erleichtert,134 wird niemand bezweifeln. Nur verdirbt Bolz die Pointe. Nicht allein, dass die besonders gute Verkäuflichkeit der Lyrik ins Reich der Fabel gehört;135 die ›These‹ von der Ware Antiware verstellt sumenten finden, die die Anerkennung des Produkts durchsetzen (»externe Sanktion«). Vgl. Pierre Bourdieu (Anm. 13), S. 400f. 128 Alexander Smoltczyk (Anm. 4), S. 214. 129 Norbert Bolz (Anm. 10), S. 207, 201, 205. 130 Ebd., S. 204. 131 Hans Magnus Enzensberger (Anm. 78), S. 185. 132 Zit. nach Heinrich Jaenecke/Siegfried Schober (Anm. 70), S. 46. 133 »Neoliberal«? Weil der Ökonomismus im literarischen Feld das Pendant zum Neoliberalismus der politischen Sphäre bildet, wählt der Verfasser die unfeine Attributierung. 134 So Norbert Bolz (Anm. 10), S. 205. 135 Eine Andeutung zu den Absatzzahlen der Lyrik findet sich bei Hans Magnus Enzensberger (Anm. 78), S. 184: »[D]ie Zahl von Lesern, die einen neuen, einigermaßen anspruchsvollen Gedichtband in die Hand nehmen, läßt sich nämlich empirisch ziemlich genau bestimmen. Sie liegt bei ± 1354. Diese Zahl (die Enzensbergersche Konstante) [. . .] gilt [. . .] für jede Sprachgemeinschaft, ganz unabhängig davon, ob sie einen ganzen Kontinent bevölkert oder nur einen kleinen Fleck auf dem Globus.« Das kann nur behaupten, wer global agiert, in eigener Sache spricht. Rechnen wir das Enzensberger’sche Understatement ein und verdreifachen die Zahl, ergibt sich immer noch keine, die die Herzen von Betriebswirten höher schlagen lässt.

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den Blick auf die ökonomische Logik. Das durch die Essays erworbene Vermögen ermöglicht es Enzensberger, sich ohne Sorgen einer Gattung zu widmen, die sich gar nicht rechnen muss. Der Essayismus ist für den Lyriker, was für den Erzähler Flaubert die Rente war,136 das finanzielle Polster, das einen vom Zwang zum ökonomischen Erfolg befreit. Bezeichnend auch, dass Enzensberger seiner seit je verkündeten Botschaft, dass Poesie eine minoritäre Angelegenheit sei, nach dem Mauerfall eine antimerkantile Note verleiht. Vom klassisch intellektuellen Habitus, der Ambition, die Absage an den Kommerz über das Gebiet der Literatur hinaus auch auf dem Gebiet der Politik zu behaupten, hat er sich gründlich verabschiedet, wenn man so will: autonomisiert. Je mehr sich dieser Pragmatismus aber unter den real existierenden Intellektuellen standardisiert, desto größer ist das Bedürfnis dieses einen Autors, die Lyrik als letztes Refugium der Antiökonomie auszuzeichnen. So lässt sich ein wenig Distanz zum neuen Juste-Milieu der Intellektuellen zur Geltung zu bringen. 4. Enzensberger verfügt über eine Art von kulturellem Kapital, das Beobachter jeglicher Couleur beeindruckt und so zum symbolischen Kapital wird: Die Weltläufigkeit ist sein stärkster Trumpf. Kaum ein Porträt zum 70. Geburtstag versäumte zu erwähnen, dass der Autor sieben Fremdsprachen beherrscht (wenn auch nur Umgebungssprachen, wie er selbst bescheiden anzumerken pflegt); und dass der Weltreisende unter den deutschen Dichtern seine Landsleute schon in den fünfziger und sechziger Jahren mit internationaler Lyrik bekannt machte. Die Faszination am Global Player avant la lettre führt dazu, dass man Enzensberger in höherem Maß als etwa Grass oder Martin Walser zutraut, den Deutschen globale Entwicklungen erklären zu können. Ein polyglotter Zuschnitt scheint hierzulande bereits für Mindestkompetenz zu bürgen, in dem Sinn, dass Enzensbergers Stellungnahmen im Einzelnen zwar hoch umstritten sind, doch allemal enorme Beachtung finden. Wenig beachtet wird hingegen, dass die Globaldiagnosen der letzten eineinhalb Jahrzehnte eine Grenze der Beweglichkeit erkennen lassen. So wusste Enzensberger wieder einmal zu polarisieren, als er in Schreckens Männer (2006) eine Reihe kühner Parallelen zog: zwischen jugendlichen Amokläufern in den Metropolen und islamistischen Selbstmordattentätern, zwischen einzelnen selbstzerstörerischen Verlierern und der als Verliererkollektiv beschriebenen arabischen Welt sowie zwischen dem antiwestlichen Ressentiment der Araber, die seit 400 Jahren nichts Nennenswertes mehr hervorgebracht hätten, und dem deutschen Hass auf den Westen nach Versailles. Die einen Kritiker fanden die Islamschelte ungeheuer couragiert, die anderen empfanden sie als eine eurozentristische Ungeheuerlichkeit, die den Unterschied zwischen Islam und Islamismus einebne, überdies die westliche Zivilisation für das Maß aller Dinge halte. In einem Punkt aber stimmten beide Seiten überein: Sie behandelten den Langessay als eine Neuigkeit. Das ist bemerkenswert, da der Kurzschluss zwischen einzelnen Verlierern und Verliererkollektiven schon das strukturbildende Prinzip in Aussichten auf den Bürgerkrieg (1993) bildete, die Verbindung zwischen dem Ressentiment der Araber und demjenigen der Deutschen vor 1945 sich bereits in einem spektakulä136

Vgl. Pierre Bourdieu (Anm. 13), S. 138.

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ren Spiegel-Essay von 1991 findet, der Rechtfertigung des ersten Golfkriegs: »Die Deutschen waren die Irakis von 1938–1945.«137 Der Nervenpunkt der medialen Erregung von 1991 war der gleiche wie 2006: Darf man das Bekenntnis zum Westen im Allgemeinen, zum zivilisatorischen Minimum des Anti-Antisemitismus im Besonderen bis zu einer Herabwürdigung der arabischen Welt in toto treiben, bis zur Kriegslegitimation? Dennoch blieben Positionsnahme und Debatte von 1991 fünfzehn Jahre später außerhalb des journalistischen Blickfelds. Dass der Autor gleich zweimal einen Aufmerksamkeitsgewinn verbuchen konnte, verdankte sich nicht nur dem verständlichen Affektniveau der Rezipienten, sondern auch dem kurzen Gedächtnis einer journalistisch dominierten Öffentlichkeit. Das Beispiel der Islamschelte und ihres Echos lädt überhaupt dazu ein, die von Bourdieu und Franck eröffneten Perspektiven zu kombinieren. Warum konnte Enzensberger mit einer Laienintervention eine Beachtung beziehen, die eigentlich Kompetenteren zustünde? Zum einen, weil er über ein distinktes symbolisches Kapital verfügt, zum anderen, weil es sich um einen für seine Berühmtheit berühmten Autor handelt, der nicht auch noch ein ausgewiesener Orientalist sein muss. »Wer hinreichend bekannt ist, findet allein schon aufgrund seiner Bekanntheit Beachtung.«138 Wie konnte er eine Intervention wagen, die im Grunde nur aus einer Zusammenführung von älteren Argumentationsfiguren bestand? Weil ein berühmter Autor sich darauf verlassen kann, »dass auch diejenigen Beachtung schenken, die nicht genau wissen, wofür die Beachtung ursprünglich gezollt wurde«.139 Ging es dem Autor vielleicht nur um Beachtung um ihrer selbst willen? Gegen alle Aufmerksamkeitsökonomie, mit der Feldtheorie: nein. Die ›Araberpolemiken‹ von 1991 und 2006 verdankten sich einem Zusammenspiel von individueller Obsession und strategischem Antrieb. Zu Enzensbergers Obsessionen zählt die schon 1965 gegenüber Hannah Arendt geäußerte Überzeugung, dass die Untaten des NS wieder und zwar auch von Nicht-Deutschen begangen werden können. Die Stelle des wahnhaften Hasses auf den Westen im Allgemeinen, die Juden im Besonderen hat er stets als vakant betrachtet. In diese Position ließ er 1991 vornehmlich die Irakis, 2006 dann die Araber schlechthin einrücken, gewissermaßen als späte Beweise. Die leidenschaftlichen Operationen waren freilich mit einer feldmotivierten untrennbar verbunden, das heißt mit einer Attacke gegen die Linke. 1991 wie 2006 ließ es sich Enzensberger nicht nehmen, den verständnisinnigen Umgang mit der arabischen Welt und den Protest gegen Militärinterventionen einem unbewusst antisemitischen Motiv zuzuschreiben. Fazit: Die Eskalation des Streits mit dem ehemaligen Umfeld hat gleich zwei Positionsverschiebungen gezeitigt. Wo um 1980 nur der Abschied vom Sozialismus stand, steht heute die Musealisierung selbst der halben, sozialdemokratischen Sache und mit dem Antisemitismus-Verdikt die Unterstellung eines maximalen moralischen Defekts. So kann er auch aussehen, der Feldeffekt. Hans Magnus Enzensberger: Hitlers Wiedergänger. Mit einer Nachschrift [1991]. In: H. M. E. (Anm. 78), S. 79–88, hier S. 81. 138 Georg Franck (Anm. 79), S. 114. 139 Ebd.

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Dirk Niefanger (Erlangen)

Von Bitterfeld nach Berlin Monika Marons strategisches Schreiben

1. Monika Maron erscheint heute als gesamtdeutsche Stimme par excellence;1 ihre hohe west-östliche Reputation geht zu nicht geringem Teil auf die Publikation ihres ersten Romans zurück, der schon wesentliche Kulturthemen beider deutscher Staaten aufgreift. So gelang ihr vor der Wende mit Flugasche (1981) eine erfolgreiche Marktplatzierung in Westdeutschland; im Osten förderte dieser Roman das Image einer kritischen Schriftstellerin. Eine bedeutende Rolle hierbei spielte die kluge Doppel-Semantisierung der Industriestadt »B.« (= Bitterfeld), die die Protagonistin im Roman besucht. Im Kontext der ostdeutschen Poetikdebatte hat man an die Doktrin des von staatlichen Stellen verordneten ›Bitterfelder Weges‹2 gedacht, die westliche Ökobewegung der 80er Jahre sah vor allem die problematische Industriestadt Bitterfeld, die später zum Synonym für Umweltverschmutzung jenseits der Elbe wird. Die zentrale Stelle des Romans legt tatsächlich beide Lesarten nahe: Diese Schornsteine, die wie Kanonenrohre in den Himmel zielen und ihre Dreckladungen Tag für Tag und Nacht für Nacht auf die Straßen schießen, nicht mit Gedröhn, nein sachte wie Schnee, der langsam und sanft fällt, der die Regenrinnen verstopft, die Dächer bedeckt, in den der Wind kleine Wellen weht. Im Sommer wirbelt er durch die Luft, trockener, schwarzer Staub, der dir in die Augen fliegt, denn auch du bist fremd hier, Luise, wie ich. Nur die Fremden bleiben stehen und reiben sich den Ruß aus den Augen. Die 1

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Ausführliche Bibliografien finden sich in den Sammelbänden: Elke Gilson (Hg.): Monika Maron in perspective. »Dialogische« Einblicke in zeitgeschichtliche, intertextuelle und rezeptionsbezogene Aspekte ihres Werkes. Amsterdam, New York: Rodopi 2002, S. 255– 332, und Elke Gilson (Hg.): »Doch das Paradies ist verriegelt . . .«. Zum Werk von Monika Maron. Frankfurt am Main: S. Fischer 2006, S. 332–351. Nach den beiden Konferenzen in Bitterfeld 1959 und 1964. Vgl. Ingeborg Gerlach: Bitterfeld. Arbeiterliteratur und Literatur der Arbeitswelt in der DDR. Kronberg im Taunus: Scriptor 1974. Zur vorgeschlagenen Deutung von »B.« vgl. schon die Rezension von Karl Corino: Dann wird eben nicht zu Ende gedacht. Monika Marons Roman »Flugasche« und der Journalismus in der DDR. In: Stuttgarter Zeitung vom 15. 8. 1981, hier zitiert nach: Elke Gilson (Hg): »Doch das Paradies ist verriegelt . . .« (Anm. 1), S. 141–143. Monika Maron selbst bestreitet einen ausdrücklichen Bezug auf den Bitterfelder Weg. Vgl. Podiumsgespräch mit Monika Maron, Dirk Niefanger und Stefan Krimm. In: Stefan Krimm/Martin Sachse (Hg.): Acta Hohenschwangau 2005. Die Praxis und die höheren Sphären – »Zwei Kulturen« oder nur ein Missverständnis? München: Bayerischer Schulbuch Verlag 2006, S. 97–117, hier S. 101. Einen Überblick über unterschiedliche Schreibbedingungen in der DDR bietet: Günther Rüther (Hg.): Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus. Paderborn u. a.: Schöningh 1997.

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Einwohner von B. laufen mit zusammengekniffenen Lidern durch die Stadt; du könntest denken, sie lächeln.3

Sie lächeln natürlich nicht, mutlos verzichten sie auf Protest; sie haben sich stattdessen eingerichtet in einem spezifischen Blickwinkel auf ihre Gesellschaft. Weil sie keine Chance sehen, für eine umweltfreundliche Industrie zu kämpfen, laufen sie mit zugekniffenen Augen – wie mit Scheuklappen – durchs Leben. Als Josefa, die Hauptfigur des Romans, eine Reportage über das Leid von Bitterfeld schreibt, verliert sie ihren Job und die Parteimitgliedschaft. Dabei hat sie sich zu einer kritischen Darstellung erst nach Gesprächen vor Ort, also in Auseinandersetzung mit den betroffenen Arbeitern und ihren Familien entschieden. Während der Besuch des Kraftwerks der ›Bitterfelder‹ Losung »Schriftsteller in die Betriebe«4 durchaus noch entspricht und die Protagonistin am Ende des Romans tatsächlich – wie von einigen DDR-Autoren in den 1960er Jahren vorgeführt – einen Wechsel in die Produktion erwägt, weicht die kritische Reportage von den offiziellen Erwartungen deutlich ab. Maron selbst hatte sich als Journalistin der Wochenpost in einem parallelen Fall letztlich anders verhalten als ihre Protagonistin Josefa. Denn sie entschied sich, anders als die Heldin von Flugasche, für die versöhnliche Variante. Eine biografische Nähe zu ihr stellt der Roman ja nicht nur durch die Namen der Großeltern – Josefa und Pawel – her, wie man spätestens aus Pawels Briefen (1999) weiß, sondern auch durch ihre Tätigkeit bei der Illustrierten Woche. Denn wie es der ›Bitterfelder Weg‹ nahelegt, weiß Maron, wovon sie schreibt, weil sie selbst als Reporterin der Wochenpost im Beruf ihrer Protagonistin tätig war. Unter der Überschrift Drachentöter erschien 1974 ihre »Reportage aus Bitterfeld«. Sie »beginnt mit den nun schon fast klassischen Worten«:5 In Bitterfeld steigt nur aus, wer aussteigen muß, wer hier wohnt oder arbeitet oder sonst zu tun hat. Die weiterfahren, sehen durch die Fenster des Zuges bedenklich oder betroffen in den Himmel über der Stadt, den diesigen nebligen Himmel, den die Sonne nicht durchdringt, den Schornsteine durchbohren, in dem weithin sichtbar eine aprikosenfarbige Flagge aus Stickoxiden weht.6

Der erste Satz der Drachentöter-Reportage kehrt in Flugasche wieder. Josefa verwendet ihn als ersten Satz ihrer Reportage. Solche Biografeme7 sind in Marons 3 4

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Monika Maron: Flugasche. Frankfurt am Main: S. Fischer 1981, S. 16. Wilfried Barner u. a.: Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. München: C. H. Beck 1994, S. 515. Klaus Polkehn: Flugasche in Bitterfeld. In: Elke Gilson (Hg.): »Doch das Paradies ist verriegelt . . .« (Anm. 1), S. 144–145. Monika Maron: Drachentöter. Eine Reportage aus Bitterfeld. In: Wochenpost vom 21. 6. 1974; hier zitiert nach Klaus Polkehn (Anm. 5), S. 144. So könnte man die meist kleinen biografischen Details nennen, die Monika Maron in ihren Werken platziert, meist ohne sie kenntlich zu machen. Oft kann man sie nur aus dem Werkkontext erschließen. Sie bedienen auch den seit den 1980er Jahren verstärkt einsetzenden Erinnerungsdiskurs, der freilich zu biografischen Lektüren fiktionaler Texte verführt. Hierzu vgl. Katharina Boll: Erinnern und Reflexion. Retrospektive Lebenskonstruktion im Prosawerk Monika Marons. Würzburg: Königshausen und Neumann 2002.

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Werken allerorten zu finden; sie verbinden – kaum bemerkbar – ihre Texte, legen Spuren für mehr oder weniger eingeweihte Leser und stellen Zusammenhänge her, wo man sie manchmal kaum vermutet; sie sind Teil ihrer auf Vernetzung und autornahe Lektüre angelegten Werkpolitik bis heute.8 Das Ende von Drachentöter setzt jedenfalls andere Akzente als der Text Josefas; er nimmt zuvor zweifellos angelegte Konflikte der Reportage aus offenbar pragmatischen Gründen heraus: Bitterfeld ist in dieser Zeit keine schöne Stadt geworden, aber im Kreis Bitterfeld werden zwei Prozent des Nationaleinkommens produziert. [. . .] Gerade durch diese zwei Prozent wurden die Möglichkeiten geschaffen, dem Drachen seine Köpfe abzuschlagen, die Umwelt zu schützen und zu verändern und auch aus einer Chemiestadt eine saubere Stadt zu machen, die keinen Ersatzhimmel braucht.9

Polkehn weist darauf hin, dass ohne das optimistische Ende die Wochenpost von staatlichen Stellen »gnadenlos attackiert«10 worden wäre. Das Ende des Romans Flugasche endet auch positiv, denn das Kraftwerk wird »unter Nichtberücksichtigung kurzfristiger volkswirtschaftlicher Vorteile«11 stillgelegt. In beiden Fällen werden ökonomische Argumente angeführt: In der Reportage dienen sie dazu, die Umweltzerstörung – von der Struktur her marxistisch argumentierend – als vorübergehendes Problem auf dem langen Weg zum Besseren darzustellen; im Roman findet sich ein solches Argument nicht mehr. Kritisch stellt der Erzähler hier – nicht im Sinne der DDR-Kulturdoktrin – das Leiden des Individuums Josefa der öffentlich vorgeführten Sorge um die Gesundheit der Bevölkerung entgegen. Trotz Josefas ideellen Sieges bleibt ein bitterer Geschmack; sie verliert ihre Parteimitgliedschaft und ihren Job. Die Stasi war übrigens der Meinung, der Roman würdige die staatliche Ordnung der DDR herab; seine Verbreitung insbesondere ins Ausland (gemeint ist vor allem Westdeutschland), sei deshalb strafrechtlich zu verfolgen.12 Für den Erfolg von Flugasche im Westen und die Reputation der Autorin nach 1989 war diese Einschätzung natürlich von Vorteil; dies bestätigen Passagen aus Pawels Briefe, in denen Maron die ausschließliche Publikation im Westen und das Verbot im Osten als Nachweis ihrer nun vollzogenen Distanzierung von der DDR heranzieht.13 Schon deshalb erscheint der Roman Flugasche und seine Rezeption für die Bestimmung der Position Marons im literarischen Feld um 2000 von Bedeutung. 8

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Den Begriff übernehme ich von Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George. Berlin: De Gruyter 2007. Monika Maron (Anm. 6), S. 145. Klaus Polkehn (Anm. 5), S. 145. Monika Maron (Anm. 3), S. 244. Vgl. Hauptmann Karlstedt/Knut Anding: Einschätzung der Romane »Flugasche« und »Die Überläuferin« durch die Staatssicherheit. In: Elke Gilson (Hg.): »Doch das Paradies ist verriegelt . . .« (Anm. 1), S. 157–159. Vgl. Monika Maron: Pawels Briefe. Eine Familiengeschichte. Frankfurt am Main: S. Fischer 1999, S. 31, 201.

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2. Spätestens seit den späten 90er Jahren inszeniert sich Monika Maron, so die These der folgenden Ausführungen, nicht nur als die ›(weibliche) Stimme Ostdeutschlands‹, deren Position seit dem sogenannten Christa-Wolf-Streit vakant geblieben war, sondern – und zwar auf der Basis des frühen Flugasche-Erfolgs – als exemplarische Autorin der Einheit. Nach Wolfs zumindest partiellem Rückzug aus Deutschland infolge der Debatte um ihre Erzählung Was bleibt14 und Heiner Müllers Tod beansprucht Maron eine oder die zentrale poetische Position in der Hauptstadtliteratur, die sowohl im Osten als auch im Westen wahrgenommen wird. Hierzu war das Erschreiben einer Art Sonderstellung ›zwischen Ost und West‹ notwendig. Marons ehemalige Stasi-Mitgliedschaft gilt, anders als bei manchen anderen ostdeutschen Kollegen, als ausgesprochen marginal, ihre Ost-West-Erfahrungen nicht nur als exemplarisch, sondern – wegen ihrer Herkunft und Sozialisation – als besonders aussagekräftig,15 ihre Erzähltexte und Essays als von einem breiten Publikum lesbar und ihre politisch-gesellschaftlichen Einmischungen als selbstbewusst und notwendig. Hiervon zeugen zum Beispiel der vom Fischer-Verlag 2006 als Taschenbuch präsentierte Band zum 65. Geburtstag der Autorin,16 aber auch einschlägige Preise und Ehrungen seit der Wende17 oder Rezensionen ihrer Bücher in allen großen Zeitschriften und Magazinen.18 Marons Werkpolitik19 bewirkt eine durch den Systemwechsel begünstigte Positionsbesetzung im literarischen Feld der Jahrtausendwende, die es erlaubt, sowohl ein westliches als auch ein östliches Publikum zu bespielen und in beiden Sphären als kulturelle oder sogar moralische Instanz aufzutreten. »Monika Maron ist durch die Allgemeingültigkeit ihrer Bücher dem Etikett ›DDR-Autorin‹ immer 14

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Vgl. hierzu als Überblick: Thomas Anz: »Es geht nicht um Christa Wolf«. Der Literaturstreit im vereinten Deutschland. München: Edition Spangenberg 1991. Marons Großvater war ein konvertierter polnischer Jude, ihre Großmutter eine polnische Katholikin, ihr Stiefvater Karl Maron (1903–1975) war von 1955–1963 Innenminister der DDR. Maron siedelte noch vor der Wende 1988 – mithilfe eines Dreijahresstipendiums – nach Hamburg über, seit 1992 wohnt sie wieder in Berlin. Vgl. Elke Gilson (Hg.): »Doch das Paradies ist verriegelt . . .« (Anm. 1); vgl. hier besonders die Einleitung, S. 9–11. 1990 Irmgard-Heilmann-Literaturpreis der Stadt Hamburg, 1991 Brüder-Grimm-Preis, 1992 Kleist-Preis, 1994 Solothurner Literaturpreis, 1994 Roswitha-Gedenkmedaille der Stadt Bad Gandersheim, 1995 Buchpreis des Deutschen Verbandes evangelischer Büchereien, 1999 Poetik-Vorlesung an der Universität Zürich, 2003 Friedrich-Hölderlin-Literaturpreis der Stadt Bad Homburg, 2003 Carl-Zuckmayer-Medaille des Landes RheinlandPfalz, 2005 Poetikdozentur an der Universität Frankfurt. Etwa in der Zeit, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Süddeutschen Zeitung und im Spiegel. Als Werküberblick bis zur Jahrtausendwende vgl. auch: Elke Gilson: Wie Literatur hilft, »übers Leben nachzudenken«. Das Œuvre Monika Marons. Gent: Studia Germanica Gandensia 1999; eine weitergehende Monografie von Gilson ist angekündigt. Vgl. auch Antje Doßmann: Die Diktatur der Eltern. Individuation und Autoritätskrise in Monika Marons erzählerischem Werk. Berlin: Weißensee 2003.

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entkommen«,20 schreibt Julia Encke 2007 in der FAZ-Sonntagszeitung. War Flugasche schon ein strategisch geschriebenes Buch für zwei Märkte, obwohl es sich tatsächlich nur in einem verkaufte, im anderen aber einen symbolischen Gewinn einspielte, so gilt das für die folgenden Texte Marons umso mehr. Bei einer Feldanalyse sind ihre DDR-Herkunft und ihre Erfahrungen mit der Zensur natürlich genauso zu berücksichtigen wie ihre speziellen Möglichkeiten im Westen. Zu bedenken sind ferner die strukturellen Unterschiede in der Medienlandschaft vor 1989, die Übergangszeit von zwei Literaturen zum vereinigten Literatursystem und spezifische Repressalien, unter denen Maron seinerzeit arbeitete und die – so paradox das klingt – letztlich auch bestimmte Erfolge, wie sie bei Flugasche etwa sichtbar werden, erst ermöglichten. An der Folge ihrer Werke zeigt sich exemplarisch, wie ihre Eroberung von Positionen im literarischen Feld des vereinten Deutschlands um 2000 gelingen konnte. Die folgenden Ausführungen werden sich vor allem auf drei Bereiche konzentrieren müssen: Analysiert werden erstens die Argumentations- und Publikationsstrategien im Zusammenhang der Stasivorwürfe (1995), die zu neuen Themenschwerpunkten im Werk Marons führen, und zweitens das damit zusammenhängende strategische Erschreiben des Literaturortes Berlin (1999–2003). Drittens sei auf die Darstellung der ›Schreibkrise‹ nach dem Roman Endmoränen (2002) eingegangen, weil in diesem Zusammenhang Verfahren der Autorinszenierung nicht nur sichtbar, sondern von Maron selbst reflektiert werden.

3. Zwischen 1976 und 1978 gab es eine Zusammenarbeit Marons mit dem Ministerium für Staatssicherheit. Sie übernahm Tätigkeiten als sogenannte ›Kontaktperson‹ (KP) mit dem Decknamen ›Mitsu‹.21 Das kurzzeitige Arrangement erbrachte gewisse Reiseerleichterungen, vor allem die Möglichkeit, den Westen zu besuchen. Nach der Beendigung der Zusammenarbeit hatte Monika Maron mit Unannehmlichkeiten und Bespitzelungen zu tun, da sie selbst unter dem Decknamen ›Wildsau‹ zum Gegenstand der staatlichen Beobachtung wurde. Man kann wohl sagen, dass die bekannt gewordenen beiden Berichte,22 die sie geschrieben hat, kaum dazu angetan sind, die Autorin zu belasten. In der Forschungsliteratur liest man sogar resümierend von einem »Kampf gegen das Regime«23 , den Maron ausgefochten habe – eine vermutlich etwas zu euphorische Bewertung ihres Verhältnisses 20

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Julia Encke: Anfang für immer. Monika Maron über die ewigen Wiederholungen im Leben, Umzüge, Frauenzeitschriften und ihren neuen Roman [Essay und Interview]. In: FAZ-Sonntagszeitung vom 29. 7. 2007, S. 19. Vgl. Christian Rausch: Repression und Widerstand. Monika Maron im Literatursystem der DDR. Marburg: Tectum 2005, S. 34. Nach Auskunft von Barbara Bohley gab es weitere Berichte. Vgl. Das Herz der Stasi. Bärbel Bohley über den Fall Monika Maron. In: Der Spiegel 35 (1995), S. 68–72, hier S. 72. Christian Rausch (Anm. 21), S. 114.

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zur DDR. Die Berichte sind etwas naiv formuliert, auf jeden Fall aber im Rahmen, in dem dies möglich war, DDR-kritisch. An einer einzigen Passage könnte man Anstoß nehmen, da sie suggeriert, die Autorin könnte DDR-Mitbürger denunzieren, wenn sie mit ihren politischen Positionen nicht sympathisieren würden: Es waren außerdem zehn oder zwölf oder ein paar mehr DDR-Bürger anwesend, deren Namen ich nicht nennen werde, da ich mich einigen von ihnen in wesentlichen politischen Meinungen eng verbunden fühle. Unabhängig davon lehne ich eine solche Bespitzelung von Menschen, die nicht Feinde der DDR sind, grundsätzlich ab.24

Die an sich durchaus mutige Aussage in einem offiziellen Stasi-Bericht lässt eine Bespitzelung staatsfeindlicher Bürger ausdrücklich zu. Da sich die Autorin wenige Sätze später zu einem kommunistischen Menschenbild bekennt, würde sie eine Verfolgung marktwirtschaftlich und liberal denkender Bürger vermutlich akzeptieren. Natürlich muss man in Rechnung stellen, dass diese Sätze im Stasi-Protokoll letztlich die tatsächlich bespitzelten DDR-Bürger schützen sollten, weil ihnen damit – zumindest implizit – eine kommunistische Gesinnung bescheinigt wird. Die Sätze stammen aus dem zweiten, zeitlich späteren Bericht; der erste enthält deutlichere Kritik an der DDR, besonders am Umgang mit Waren und an der zu wenig international orientierten Kultur. Einschlägig erscheint folgendes Zitat über Eindrücke bei der Westberlin-Reise 1976: Für einen wenig vorbereiteten DDR-Bürger wie mich setzte der Konsumschock prompt ein. [. . .] Zum heulen finde ich bis heute, dass Schrauben, Tee, Obst, Kleider, Technik, kurz alles besser ist als bei uns. Es bleibt für mich unfassbar, dass ich keinen Gegenstand gefunden habe, den ich lieber bei uns gekauft hätte als dort.25

Die Passage verteidigt marktwirtschaftliche Mechanismen wie die möglichst breite Verfügbarkeit von Waren und ihre Qualität bei entsprechendem Bedarf. Solche Aussagen passen schlecht zum ›kommunistischen‹ Bekenntnis im zweiten Bericht. Über Interventionen der Stasi-Mitarbeiter zwischen den beiden Texten ist nichts bekannt. Die Berichte Marons wurden im August 1995 in der konservativen FAZ, im Jahr 2000 im Essay-Band quer über die Gleise und noch einmal im Geburtstagsband »Doch das Paradies ist verriegelt . . .« im Jahre 2006 veröffentlicht. In den beiden Sammelbänden wird die Veröffentlichung der Zwei Berichte an die Stasi (1976) mit dem FAZ-Essay Heuchelei und Niedertracht vom 14. Oktober 1995 kombiniert. Die Einordnung und Bewertung der Berichte steuert also eine Art Paratext der Autorin. Bemerkungen zur ›Affäre‹ im letzten Teil des Erinnerungsbuches Pawels Briefe ergänzen – neben einigen Interviews – die Stellungsnahme im Essay. Hier überrascht die Stasi-Passage, weil sie eine andere Sprechhaltung – Rechtfertigung statt Erinnerung und Erzählung – im Buch präsentiert. Marons bewusste Kontextualisierungen zeugen einerseits von einem gewissen Erklärungsnotstand, andererseits sind sie durch die teils heftigen Diskussionen um ehemalige 24

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Monika Maron: Quer über die Gleise. Artikel, Essays, Zwischenrufe. Frankfurt am Main: S. Fischer 22000, S. 32. Ebd., S. 25.

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DDR-Schriftsteller erklärlich. Die Stellungnahme wirkt eindeutig und insgesamt

selbstbewusst. Sie habe »nichts Verwerfliches getan«, sagt Maron, sie werde deshalb keine »Schuld bekennen, die ich nicht empfinde, eine Tat zugeben, die ich nicht begangen habe«.26 In der resümierenden Passage am Schluss von Pawels Briefe heißt es dann lapidar: »Eigentlich war nichts passiert.«27 Im Gegenteil, ihre Berichte seien so gewesen, dass ihre Mutter sogar befürchtet hätte, »sie könnten zu meiner Verhaftung führen«.28 Damit rückt sich die ›gefährdete‹ Ich-Erzählerin sogar in die Nähe des verfolgten jüdisch-polnischen Großvaters Pawel, dem Titelgeber der Autobiografie. Der Versuch, ihrer eigentümlichen Stasi-Mitarbeit eine von der SED-Mutter beglaubigte Gefahr einzuschreiben, folgt der Intention einer moralischen Umwertung eines in der Öffentlichkeit bislang kritisch beurteilten Verhaltens. Nicht nur wegen der offensichtlichen Marginalität ihrer Stasi-Mitarbeit reagiert Maron so gereizt und – wenn man das Ende von Pawels Briefe bedenkt – geradezu unangemessen auf die Anschuldigungen, sondern ausdrücklich auch, weil sie, wie es in Heuchelei und Niedertracht heißt, »bei der Angelegenheit«29 eine generellere Schieflage der öffentlichen Diskussion vermutet. Ja, die wohl abgestimmte Kombination von harmlosem Stasi-Bericht, richtigstellendem Essay und autobiografischem Resümee erlaubt eine neue Position in der intellektuellen Auseinandersetzung um die Vergangenheit von ehemaligen DDR-Schriftstellern. Sie rechtfertigt einen auf innere Kenntnis setzenden Gegenangriff auf westliche Journalisten und östliche Moralapostel. Denn Maron meint zu wissen, wovon sie spricht, weil sie es aus eigener Erfahrung tut, und weil ihre Stasi-Mitarbeit ganz offensichtlich nicht so verwerflich war, dass ein moralisches Urteil darüber und über die Art und Weise, wie heute über die Stasi zu diskutieren sei, von vorn herein disqualifiziert erscheint. Maron schreibt sich gewissermaßen eine spezielle, reflektierende Urteilsfähigkeit zu, die anderen Diskussionsteilnehmern ganz offensichtlich fehlt: Ginge es bei der Angelegenheit nur um mich, würde ich den Lesern und mir den Abstieg in die Stasiniederungen gern ersparen. Es geht aber nicht nur um mich, vielleicht geht es am wenigsten um mich.30

Bei der unsäglichen Diskussion um die Stasi-Vergangenheit von Autoren gehe es »weniger« um »Wahrheitsfindung als« um »Geschwätz«, das entstehe, weil sich unterschiedliche Interessensgruppen wie Westjournalisten, ehemalige Bürgerrechtler und Mitläufer zusammenfänden. Als zentrale Motivation macht sie das »Jagdfieber« der »Medien« aus, die auf »Einschaltquoten und Auflagen« bedacht seien.31 Das implizite ökonomische Argument, die Medien würden ihren ›Fall‹ nur aus Marktinteressen verfolgen, wird hier natürlich negativ beurteilt. Im Bereich der 26 27 28 29 30 31

Ebd., S. 34, 35. Monika Maron (Anm. 13), S. 197. Ebd., S. 197. Monika Maron (Anm. 24), S. 35. Ebd., S. 35. Ebd., S. 35f.

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Literatur soll – das legt Marons Bewertung ihres Falls nahe – nur das ›symbolische Kapital‹ gelten. Deshalb kommt sie am Ende von Pawels Briefe auch noch einmal auf das Verbot von Flugasche in der DDR zu sprechen. Der Hinweis auf das Erscheinen des Romans in Westdeutschland und seine Besprechung im Westfernsehen, also seine öffentliche Kennzeichnung als DDR-kritischer Text, beglaubigt noch einmal ihre kritische Position zum ostdeutschen Staat und setzt gewissermaßen einen Schlusspunkt in der Stasi-Debatte. Innerhalb von Pawels Briefe markiert dieses Ereignis den endgültigen Bruch mit der DDR.

4. Es geht mir hier nicht um eine erneute Aufarbeitung der tatsächlich unsäglichen und im Grunde unwichtigen Stasi-Geschichte aus den 1970er Jahren, sondern um die Strategie Monika Marons, sie für ihre Werkpolitik zu nutzen. Denn nicht 1989 steht in ihrem Werk für eine thematische Wende,32 sondern die Veröffentlichung und Diskussion der Stasi-Berichte 1995. Denn der öffentliche Zeit-Briefwechsel mit Joseph von Westphalen (1987/88), die Essays und Romane zwischen 1986 und 1995 dienen im Wesentlichen der Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen in der DDR, machen Maron, wenn man so will, zu einer paradigmatischen Stimme Ostdeutschlands: Stille Zeile sechs (1991) schreibt die mutige Geschichte Rosalind Polkowskis aus Die Überläuferin (1986) fort.33 Dort entzieht sich die Heldin der Dienstverpflichtung in einem historischen Institut in Berlin. Einen neuen Job findet sie nun als Privatsekretärin des Parteihelden Beerenbaum, mit dem sie sich immer stärker auseinandersetzt. Unschwer ist bei einer biografischen Lesart hinter Beerenbaum aus Stille Zeile sechs der Stiefvater der Autorin zu erkennen. Die prinzipielle Auseinandersetzung mit der DDR vermischt sich mit einer persönlichen. Zu den in der Öffentlichkeit diskutierten DDR-Texten Marons in dieser Zeit gehört der für gewisse Aufregung sorgende Spiegel-Essay Zonophobie (1992)34 , dessen Titel schon bald zum Schlagwort wird.35 Mit der Geste der ›anderen‹ Ostdeutschen beschimpft die Autorin Verhaltensweisen, die erstens auch im Westen beobachtbar und zweitens aus dem Wendeerlebnis heraus erklärbar sein könnten: 32

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Vgl. generell aus der Fülle einschlägiger Titel zur ›Wendeliteratur‹: Walter Erhart/Dirk Niefanger (Hg.): Zwei Wendezeiten. Blicke auf die deutsche Literatur 1945 und 1989. Tübingen: Niemeyer 1997; in Bezug auf Monika Marons Selbsteinschätzung vgl. M. M. (Anm. 13), S. 66f. Vgl. hierzu: Hsin Chou: Von der Differenz zur Alterität. Das Verhältnis zum Anderen in der Fortschreibung von Identitätssuche in den Romanen »Die Überläuferin« und »Stille Zeile sechs« von Monika Maron. Freiburg: Univ., Diss. 2006. Ursprünglicher Spiegel-Titel: Peinlich, blamabel, lächerlich. Schon 1992 erscheint eine englische, 1996 eine ungarische Übersetzung. Die Mediendebatte erschließt gut die Bibliografie von Elke Gilson (Hg.): Monika Maron in perspective (Anm. 1), S. 283–287. Wieder veröffentlicht wird der Essay in Marons Sammelband: Nach Maßgabe meiner Begreifungskraft. Artikel und Essays. Frankfurt am Main: S. Fischer 1993 und im erwähnten Geburtstagsband von Elke Gilson: »Doch das Paradies ist verriegelt . . .« (Anm. 1).

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die Viktimisierung der eigenen Rolle36 und die Sucht nach dem eigenen ökonomischen Vorteil. Auffällig ist auch hier die Position, die Maron sich mit ihrem Essay erschreibt: eine kritische, gleichwohl wissende Distanz zur DDR und ihren ehemaligen Mitbürgern im neuen Deutschland. Die deutliche Abgrenzung bei gleichzeitiger, schon biografisch gegebener Distanz zu westdeutschen Intellektuellen, die zum Beispiel in der Mehrzahl gegen die Vereinigung gewesen sind,37 fordert eine Sonderstellung auch im literarischen Feld ein. Die Romane und Essays nach 1995 setzen auffällig andere Akzente; sie nutzen die Abrechnung mit der DDR-Geschichte in den letzten zehn Jahren und das dadurch gewonnene symbolische Kapital, um neue Themen zu besetzen, ohne freilich die ostdeutsche Perspektive vollständig aufzugeben. Mit Animal triste (1996), Endmoränen (2002) und Ach Glück (2007) rücken jedenfalls deutlich Fragen des Älterwerdens, Lebenskrisen und die Rolle der Frau ins Zentrum, wobei die DDRGeschichte ein biografisches Element der Protagonistinnen bleibt. Eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem System oder mit den Bürgern der ehemaligen DDR wie etwa in Stille Zeile sechs oder Zonophobie scheint nicht mehr notwendig zu sein.38

5. Als ein neues Thema, mit dem Maron in der Literaturszene um 2000 verbunden wird und das ihr in der Öffentlichkeit mehr und mehr Gewicht verleiht, kann das Leben in Berlin, der neuen und gerade auch im Ausland vermehrt wahrgenommenen Hauptstadt, ausgemacht werden. Nicht nur bei Maron, sondern generell im Berlin-Diskurs um 200039 erscheint die Stadt als Ort des Umbruchs, der Diskon36

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Vgl. auch Monika Maron: Im Osten nichts als Opfer? (1998). In: M. M. (Anm. 24), S. 131– 138 und M. M. (Anm. 13), S. 125. Monika Maron nimmt ausdrücklich Martin Walser aus, an dessen Seite sie sich auch in anderen Essays stellt: vgl. Monika Maron: Zonophobie. In: Elke Gilson (Hg.): »Doch das Paradies ist verriegelt . . .« (Anm. 1), S. 299–305, hier S. 299, und Monika Maron: Hat Walser zwei Reden geschrieben? (1998). In: M. M. (Anm. 24), S. 128–130. Vgl. auch Friederike Eigler: Nostalgisches und kritisches Erinnern am Beispiel von Martin Walsers »Ein springender Brunnen« und Monika Marons »Pawels Briefe«. In: Elke Gilson (Hg.): Monika Maron in perspective (Anm. 1), S. 157–180. Ein auffälliges Indiz hierfür ist etwa, dass Maron im jüngsten Spiegel-Interview zum Ach-Glück-Roman die Frage nach Brüchen im Lebenslauf von DDR-Bürgern übergeht bzw. verallgemeinert. Vgl. »Das Glück bleibt unerreicht«. Die Schriftstellerin Monika Maron über ihren neuen Roman, die Sehnsucht nach einem gelungenen Leben und das Verlustgefühl im Osten. In: Der Spiegel (2007) 30, S. 140–142, hier besonders S. 141. Das Gespräch führten Romain Leick und Volker Hage. Vgl. stellvertretend Ingrid Nowel: Berlin. Die neue Hauptstadt. Architektur und Kunst, Geschichte und Literatur. Köln: Du Mont 32004, S. 9: »Berlin ist eine junge, aufregende Stadt [. . .]. Die historischen Brüche, Neuanfänge und Widersprüchlichkeiten der deutschen Geschichte sind nirgendwo deutlicher zu entdecken als in Berlin. [. . .] An den Nahtstellen [der ehemals geteilten Stadt ist] ein neues Berlin [. . .] in atemberaubendem Tempo aus dem Boden gewachsen.«

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tinuität und des raschen Wandels. Nicht die Perfektion einer funktionierenden Metropole oder die Reste vergangener Größe machen die Attraktivität Berlins für die Kultur um 2000 aus, sondern das, was man vielleicht mit so vagen Begriffen wie Stimmung, Atmosphäre oder Charakter umreißen könnte. Warum aber ist der Literaturort Berlin für die ›neue‹ Maron so relevant? Schon in einigen Passagen von Pawels Briefe, den Beschreibungen Neuköllns (vor dem Krieg »ein besonderer Ort in Berlin«)40 oder Pankows (in der Nachkriegszeit), deutet sich Berlin, die widersprüchliche Stadt und ihre eigene Topografie, als neu erschriebenes Thema ja an. Es wird im Essayband Geburtsort Berlin (2003), der suggestive Schwarz-Weiß-Fotos ihres Sohnes Jonas enthält, vertieft und zum Teil aus autobiografischen Kontexten gelöst. An wichtigen Orten Berlins spielen wenigstens zum Teil auch die Romane Stille Zeile sechs und Animal triste (1996): nämlich im ehemaligen Elite-Viertel Pankows und in der Saurierhalle des Naturkundemuseums. In den letzten Romanen Endmoränen und Ach Glück geht es ebenfalls um das Verhältnis der Protagonistin zur Stadt, in die sie am Ende des ersten Buchs ›gewandelt‹ zurückkehrt und von der sie sich im Anschlussroman wieder (für immer?) entfernt, während ihr Mann Achim in Cafés, auf Straßen und Plätzen einsam das ›neue‹ Berlin erfährt. Eine Brücke zum DDR-Thema schlägt die wohl schon 1986 geschriebene Skizze Wir wollen trinken und dann ein bißchen weinen, die in Geburtsort Berlin erstveröffentlicht wird und dort einen recht breiten Raum einnimmt (32 von 126 Seiten). Die Skizze beschreibt einige zentrale (Sehnsuchts-)Orte der geteilten Stadt im Osten: den Grenzübergang Friedrichstraße, das Restaurant im Palasthotel oder eine Szenekneipe im Romantikerviertel. Hier fällt auch das titelgebende Zitat, das weniger die Perspektivlosigkeit der Besucher als ihr eigenwilliges Durchhaltevermögen in der geteilten Stadt charakterisiert. In der Skizze wird ein wesentlich angenehmeres Menschenbild entfaltet als jenes, das der Essay Zonophobie beschreibt. Dieser hätte in den Berlin-Band auch nicht gepasst, denn hier soll ja gerade das Kantige, Eigentümliche, etwas Schrullige der Hauptstadt und ihrer Bewohner herausgestellt werden. Beschimpfungen und Kritik helfen bei der angestrebten Position einer gewichtigen Berliner Stimme im literarischen Feld wenig. Als regelrechte Berlin-Werbung erscheinen in dem Band Texte, die mit Witz und Polemik Vorurteile bekämpfen: etwa über Die Berliner und die Hunde oder über die Unfreundlichkeit der Berliner. Immer wieder erblickt man hinter den Topografien Facetten der Autorin selbst, die ihre Geschichte zwar nicht unmittelbar erzählt, die über Biografeme aber für Augenblicke unschwer wiederzuerkennen ist. Dies löst nicht nur ein ästhetisches Vergnügen aus,41 sondern verlinkt die Autorin mit der von ihr gezeichneten Topografie, gibt ihr also jene Aufmerksamkeit,42 die das Hauptstadtbuch gerade der Autorin schenken sollte. Schon auf dem Cover des 40 41

42

Monika Maron (Anm. 13), S. 65. Vgl. Gotthart Wunberg: Wiedererkennen. Literatur und ästhetische Wahrnehmung in der Moderne. Tübingen: Narr 1983. Im Sinne von Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. München, Wien: Carl Hanser 1998.

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Bandes ist Maron als streitbare Berliner Hundebesitzerin erkennbar.43 Auch die anderen Skizzen, etwa das Bekenntnis zum »Gymnasium«44 oder die Titel-Skizze Geburtsort Berlin identifizieren die Autorin mit Berliner Orten. Das Verfahren gipfelt in einem ›topografischen‹ Bekenntnis: Berlin hingegen ist von mir bevölkert. In Berlin könnte ich mich, wenn ich es darauf anlegte, hundertmal am Tag treffen, in jedem Alter, glücklich oder heulend, allein, in Gesellschaft, verliebt, verlassen, überall hocke ich und warte darauf, daß ich vorbei komme.45

Dass Monika Maron mit dem Berlin-Buch, speziell auch mit dieser Passage, einen aktuellen Kulturdiskurs (Stichwort: ›Spatial Turn‹46 ) bedient, sei zumindest notiert. Dass sich aber diese Wende zum Topografischen auch einer auf vermehrte Aufmerksamkeit setzenden Strategie unterordnet, so weit möchte ich dann vielleicht aber doch nicht gehen. Natürlich mag der Geburtsort, in den sie 1992 von Hamburg aus zurückzieht, tatsächlich einen zentralen Stellenwert in Marons Leben einnehmen; das soll hier nicht angezweifelt werden. Aber die strategische Besetzung des Literaturortes hat zusätzlich mit Marons Stellung im literarischen Feld zu tun. Als – wie oben erläutert – spezifisch ost-westliche Stimme, die schon früh für die Einheit Deutschlands eintrat, erscheint die vereinte Hauptstadt als ideale Residenz, von der aus – mit symbolischem Gewicht – Stellung bezogen werden kann, wie etwa in ihrem bemerkenswerten Angela-Merkel-Essay Die deutsche Frage (2005)47 , der ja nicht einfach – ganz anders übrigens als in Zonophobie – ein positiveres Bild der Ostdeutschen in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit fordert, sondern einen von Geschlecht und Herkunft ›unabhängigen‹ Blick auf den Menschen und die Politikerin Merkel. Das ehemals zweigeteilte Berlin, die neue Hauptstadt, symbolisiert gewissermaßen diese Unabhängigkeit und garantiert zudem die notwendige öffentliche Aufmerksamkeit. Das sukzessive Erschreiben der Berliner Stimme hatte eine deutliche, nachweisbare Resonanz in Wissenschaft und Politik. Nach der Poetik-Vorlesung in Zürich 1999 hält Maron unter anderem im September 2002 einen viel beachteten Vortrag auf dem Historikertag in Halle.48 Den vorläufigen Höhepunkt stellt dann zweifellos die Berufung in den von Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin geleite43

44 45

46

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48

Vgl. hierzu das genannte Spiegel-Interview zu Ach Glück (Anm. 38) und Monika Marons Widmung an ihren Hund Bruno in: M. M.: Ach Glück. Frankfurt am Main: S. Fischer 2007, S. 9ff. Der Hund der Protagonistin im Roman heißt »Bredow«. Monika Maron: Geburtsort Berlin. Frankfurt am Main: S. Fischer 2003, S. 9. Ebd., S. 55; sie hebt hier die Verbindung zu Berlin von jener zu Hamburg, ihrem zeitweiligen Wohnort, ab. Vgl. als Überblick: Sigrid Weigel: Zum »topographical turn«. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften, in: KulturPoetik 2 (2002), S. 151–165 und Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierung in den Kulturwissenschaften. Reinbek: Rowohlt 2006, S. 284–328. Monika Maron: Die deutsche Frage. Was man gegen Angela Merkel hat. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. 8. 2005, S. 31. Monika Maron: Lebensentwürfe, Zeitenumbrüche. In: Elke Gilson (Hg.): »Doch das Paradies ist verriegelt . . .« (Anm. 1), S. 31–40.

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ten Stiftungsrat der neu gegründeten Bundeskulturstiftung dar, die im selben Jahr, 2002, erfolgt. Hier ›vertritt‹ Maron gewissermaßen Literatur und Kunst. Zudem scheint Maron inzwischen, verfolgt man ihre vielen Interviews und Essays,49 einen praktisch freien Zugang zu den wichtigsten deutschen Medien zu besitzen.

6. Die Frankfurter Poetik-Vorlesungen (2005)50 deuten allerdings – zehn Jahre nach der Veröffentlichung und Diskussion der Stasi-Berichte – so etwas wie eine Artikulationskrise an, die man biografisch auf das Ringen nach neuer Identität in den Romanen Endmoränen und Ach Glück beziehen könnte. Eine Reihe von Biografemen – man denke etwa an den oben erwähnten Hund oder die literaturwissenschaftliche Tätigkeit des Ehemanns – legen gewisse Bezüge zur Lebenssituation der Autorin nahe und fördern in diesem Rahmen sogar eine autornahe Lektüre.51 Zu fragen ist aber hier in erster Linie nach der Strategie, die hinter der öffentlichen Diskussion der Schreibkrise in den Frankfurter Vorlesungen steht. In diesen werden nicht nur vier Varianten einer Fortsetzung von Endmoränen durchgespielt (»Vom Scheitern I–III« und »IV. Versuch«),52 sondern es wird auch, und zwar mehrfach, die grundsätzlichere Frage biografischer Zugänge zu Marons Romanen angeschnitten. Überraschenderweise räumt die Autorin – trotz des stets verdeckten Umgangs mit Biografemen – einen zentralen Anteil Selbsterlebtes am dichterischen Werk ein. Ein »störender Überschuß an der eigenen Person« offenbare sich als »sinnstiftende Möglichkeit« im Prozess des Schreibens.53 Und wenn eine solche Erfahrung [des Schreibens] mit dem Lesen einhergeht und eines Tages der Blick auf das eigene Leben darin nach einer Form sucht, nach einer erzählbaren Form, kann der Wunsch entstehen, den unzähligen Büchern ein eigenes hinzuzufügen.54

Die starke Betonung des Lesens, das ein Universum von Texten dem eigenen Schreiben zur Seite oder gar voranstellt, erinnert an Roland Barthes’ La mort de 49 50

51

52 53 54

Vgl. die Bibliografien von Elke Gilson (Anm. 1). Die Frankfurter Poetik-Vorlesungen fanden 2005 statt. Im gleichen Jahr erscheinen sie als Buch: Monika Maron: Wie ich ein Buch nicht schreiben kann und es trotzdem versuche. Frankfurt am Main: S. Fischer 2005. Vgl. auch den Katalog: Monika Maron. Begleitheft zur Ausstellung in der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Frankfurt am Main. Hg. von Winfried Giesen. Frankfurt am Main: Stadt- und Universitätsbibliothek 2005. Zur Problematik biografischer Interpretationen von Marons Werken vgl. unter anderem: Dirk Niefanger: Leben – Schreiben – Literatur. Monika Maron. In: Stefan Krimm/Martin Sachse (Anm. 2), S. 79–96 und Andrea Geier: Paradoxien des Erinnerns. Biographisches Erzählen in »Animal triste«. In: Elke Gilson (Hg.): Monika Maron in perspective (Anm. 1), S. 93–122. Vgl. Monika Maron (Anm. 50), S. 5–55. Ebd., S. 6. Ebd., S. 6f.

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L’auteur (1968)55 . Trotz dieses Rückgriffs auf die postmoderne Dekonstruktion der Autorposition wird die autobiografische Intention des Schreibens betont. Um aber ein biografisches Verständnis ihrer Erzähltexte dennoch abzuschwächen, differenziert Maron im Folgenden die poetologische von der dichterischen Rede. Sie wertet den poetologischen Text als autobiografischen, während sie dem fiktionalen Text den persönlichen Bezug abspricht, auch wenn er durch Biografeme in ihren Werken offensichtlich gesetzt wird. Sie dreht die gewöhnliche Lektüreerfahrung also um: Während im poetologischen Diskurs das schreibende Ich im Zentrum stehe, wie in der Poetik-Vorlesung, sei es im poetischen Diskurs, etwa im Roman, nur noch austauschbares, verfügbares Material. Wenn ich über das Schreiben spreche, muß ich über mich sprechen; ich weiß nicht, wie und warum andere schreiben. Wenn ich einen Roman schreibe, spreche ich nicht über mich, auch nicht, wenn es so scheint. Die Versuchung, in dem erzählenden Ich eines Romans den Autor zu suchen oder gar zu erkennen, ist offenbar so groß, daß sogar die, die es besser wissen, davon nicht absehen können. Aber dieses Ich ist eine andere Person und nicht ich. Ich bin verfügbares Material.56

Die, die es besser wissen müssten, sind vor allem die Literaturwissenschaftler. Deshalb inszeniert Maron später ihren Lebenspartner ›C.‹ als zweite fiktionale Stimme eines poetologischen Gesprächs innerhalb der Vorlesungen. Der Gesprächspartner ist unschwer als der Literaturwissenschaftler Conrad Wiedemann57 zu identifizieren, der im Dialog den eher uninspirierten, von der älteren Erzählforschung beeinflussten Part übernehmen muss. Während ›C.‹ das Problem des erzählenden Ichs für ›totgeredet‹ erklärt, argumentiert Maron auf der Höhe des erzähltheoretischen Diskurses seit den späten 1990er Jahren, weil ihre Ausführungen eine Differenzierung von auktorialer und personaler Fokalisierung beim Ich-Erzähler voraussetzen. Dies ist mit älterer Erzähltheorie nicht machbar.58 Bin ich, Monika Maron, dann das erzählende Ich? Weiß ich, was Johanna [die Protagonistin der Romane Endmoränen und Ach Glück] denkt, fühlt, woran sie sich erinnert, und was sie vergisst? Und warum sollte Johanna, wenn ich aus ihrer Position erzähle und somit ihren Horizont nicht überschreite, mich überhaupt brauchen? Warum erzählt 55

56 57

58

Vgl. Roland Barthes: Der Tod des Autors. Übersetzt von Matias Martinez. In: Fotis Jannidis u. a. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart: Reclam 2000, S. 185–193, hier besonders S. 192. Zur jüngeren Diskussion von Autorschaft vgl. außer dem genannten Sammelband unter anderem Fotis Jannidis u. a. (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen: Niemeyer 1999; Susi Frank/Renate Lachmann u. a. (Hg.): Mystifikation – Autorschaft – Original. Tübingen: Narr 2001; Heinrich Detering (Hg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen. DFG-Symposion 2001. Stuttgart, Weimar: Metzler 2002. Monika Maron (Anm. 50), S. 7. Vgl. Conrad Wiedemann: Die GrenzgängerIn. Von Pankow nach Hamburg. Erzählerin Monika Maron. In: DU. Die Zeitschrift der Kultur 12 (1992), S. 20–24. Vgl. etwa Gérard Genette: Die Erzählung. Übersetzt von Andreas Knop. München: Fink 1994, und Matias Martinez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München: C. H. Beck 1999; die Unterscheidung ermöglicht zum Beispiel nicht: Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens [1979]. Göttingen: Vandenhoeck 41989 und Franz K. Stanzel: Die typischen Erzählsituationen im Roman [1955]. Göttingen: Vandenhoeck 91979.

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sie nicht gleich selbst? Wenn ein anderes Ich als Johanna erzählen soll, brauche ich jemanden, der über sie mehr wissen kann als ich, einen Dritten, der nicht Johanna und auch nicht ich ist, einen Erzähler in meinem Auftrag. Ich selbst fühle mich nicht legitimiert.59

Der eingefügte Ich-Erzähler könnte auktorial oder personal agieren. Er verliert zudem das Gewicht einer vom Autor autorisierten Instanz. Maron betont damit die notwendige Differenz von Erzähler und Autor, der nicht legitimiert sei, das Denken seiner Figur zu gestalten. Diese durchaus wieder an Barthes erinnernde Volte in den Frankfurter Vorlesungen mag man angesichts der unübersehbaren Biografeme in Marons Werk als kluge Inszenierung der Autorin erklären können. Sie fügt sich aber auch einer Strategie, die es bezweckt, einerseits die Neuorientierung der späten 1990er Jahre endgültig zu verfestigen, anderseits eine Teilhabe an der (hohen) Literatur neben dem kulturpolitischen Engagement nach der Jahrtausendwende (Merkel-Essay, Stiftungsrat der Bundeskulturstiftung usw.) zu behaupten. Nach den biografischen Rechtfertigungen in Heuchelei und Niedertracht (1995), in Pawels Briefe sowie einer Reihe von Interviews und der zunehmenden Aufmerksamkeit, die die Öffentlichkeit der Intellektuellen Monika Maron entgegenbringt, erscheint es ihr offenbar notwendig, ihr Erzählen als poetisch anspruchsvoll auszuweisen. Dies gelingt durch die Versuche zu Ach Glück in den Frankfurter Vorlesungen und durch die dort angestellten poetologischen Reflexionen. Im späten Roman Ach Glück werden die Erzählreflexionen insofern aufgenommen, als eine parallele, durch unterschiedliche Erzählräume und Kapitel gekennzeichnete Fokalisierung der Protagonisten Johanna und Achim zu den konstitutiven Merkmalen des Romans gehört.60 Mit der Gegenüberstellung der aktiven, ›modernen‹ Johanna und des passiven, ›altmodischen‹ Literaturwissenschaftlers Achim nimmt der Roman zudem die Dialog-Konstellation der Vorlesung – Maron und ›C.‹ – wieder auf. Der im Roman vorgestellte Neuanfang könnte dann – ganz gegen die Intention der Frankfurter Vorlesung, aber im Sinne des strategischen Schreibens – auf die Autorin selbst bezogen werden.

59 60

Monika Maron (Anm. 50), S. 18f. Tilman Krause hat in seiner Rezension des Romans offenbar nicht auf die kunstvolle Komposition des Romans und seiner Vorarbeiten in den Frankfurter Vorlesungen geschaut, sonst könnte er in dem Buch wohl kaum »ein trauriges Dokument nachlassender Schaffenskraft« sehen. Der neue Roman soll in Kombination mit den Vorlesungen gerade diese poetische Kraft – und keine Lebensweisheiten oder politischen Botschaften – vermitteln. Vgl. Tilman Krause: Ihr ganzes trostloses Leben. Monika Marons lustloser Roman »Ach Glück« – ein Dokument nachlassender Kraft. In: Die Welt vom 28. 7. 2007, S. 4 (der Literarischen Welt).

York-Gothart Mix (Marburg)

Avantgarde, Retrogarde oder zurück zu Gutenberg? Selbst- und Fremdbilder der unabhängigen Literaturszene in der DDR

1. Das literarische Feld – ein weites Feld oder überhaupt kein Feld? Pierre Bourdieu hat sich zu den Verhältnissen in der DDR nur rhapsodisch geäußert. In seinem wenige Tage vor dem Fall der Mauer in Ostberlin gehaltenen Vortrag Die ›sowjetische‹ Variante und das politische Kapital betonte er den universellen Anspruch seiner Konzeption der Ökonomie symbolischer Formen, mahnte aber unmissverständlich an, die für dieses System »konstitutive Differenzstruktur«1 zu klären. Die Abweichung habitueller Modi und eine für die DDR existente, spezifische Ungleichheit von Lebenschancen sah er in der Präsenz eines neuen Prinzips sozialer Distinktion begründet, das er auf die Existenz oder Nichtexistenz von politischem Kapital zurückführte. Bourdieu charakterisierte die DDR als »drittklassigen Welfare State«, ja als »Karikatur von Sozialismus«, und forderte, die Formen einer »privaten Aneignung öffentlicher Güter und Leistungen«, die Bedeutung der politischen »Kontrolle« und der »Emigration«2 en détail zu analysieren. Warum man diese Desiderate weitgehend ignorierte und in zahllosen Aufsätzen und Internetbeiträgen die Feldtheorie Bourdieus in reduktionistischer Manier munter als Blaupause für die Analyse der Verhältnisse in der DDR bemühte, erklärt sich aus dem Bankrott der materialistischen Kulturwissenschaft und dem daraus resultierenden Theorievakuum. Bezogen auf die Geschichte der Literatur in der DDR gilt es jedoch, quellenkritische Kärrnerarbeit zu leisten und die postmaterialistische Umdeutung der Feldtheorie zum ideologisch grundierten Bricà-brac ebenso zu problematisieren wie die in präpotenter Siegerpose propagierte pauschale Abwertung der Kultur des anderen Deutschland. Ungeachtet ihrer Diskrepanz sind beide Positionen Ausdruck intentionalen Handelns, nämlich der Konkurrenz um die Benennungsmacht im Selektionsprozess der Kanonisierung und der Sakralisierung oder Diskreditierung von Werken und Autoren. Beide Haltungen gehen in paradoxer Weise von der Existenz eines relativ homogenen, eigenen literarischen Feldes in der DDR aus, eine Vorstellung, die sich vor dem Hintergrund einer Korrelation des von Rundfunk und Fernsehen über die Mauer vermittelten Literaturdiskurses, einer aus der Dominanz des politischen Feldes resultierenden Zensur, Exilierung und inneren Emigration sowie einer für totalitäre Staaten charakteristischen Entdifferenzierung der Funktionsbereiche Wirtschaft, Recht, Bildung und Wissenschaft stark relativiert. 1

2

Pierre Bourdieu: Sozialer Raum, symbolischer Raum. In: P. B.: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handels. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 28. Ebd., S. 32, 30, 31.

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York-Gothart Mix

In der Folge soll die aus der Bedeutung des politischen Kapitals resultierende Kontrolle und Zensur sowie die Negation dieser Praxis durch die inoffizielle Literaturszene und deren Selbst- und Fremdbild in Ost und West skizziert werden. Vor diesem Hintergrund wird die aus obsoletem nationalstaatlichen Denken resultierende Vorstellung von einer Literatur der DDR relativiert. Für die Szene am Prenzlauer Berg war die Spezifik der kulturpolitischen Kontrolle strukturbildend, aber sie war kein literarisches Phänomen der, sondern in der DDR. Die unabhängige Literaturszene ist auch das Resultat einer medialen Konstruktion, die rekursiv reproduzierend über die Grenzen hinweg in Ost und West wirkte.

2. Der offizielle Literaturbetrieb und die Druckgenehmigungspraxis Die Dominanz des Politischen manifestierte sich im Literaturbetrieb in der DDR in den ideologischen Normen, den verfassungsrechtlichen und strafgesetzlichen Rahmenbedingungen, den administrativen und kaderpolitischen Vorgaben und in der Druckgenehmigungspraxis. Die Akzeptanz der als Druckgenehmigung firmierenden Zensur konnte zwar eine partielle Wertgemeinsamkeit zwischen Autor und Gutachter offenbaren, gleichzeitig führten aber Initiativen zur Umgehung, Modifizierung oder Abschaffung ebendieser Praxis die Beteiligung vieler Autoren am politischen Wandel und an der Veränderung kollektiver Identitätsmuster vor Augen. Gerade die Positionen von Volker Braun und Franz Fühmann, aber auch von Christa Wolf oder Erwin Strittmatter belegen, dass die prinzipielle Zustimmung zum Modell der sozialistischen Literaturgesellschaft mit dem Engagement zur Veränderung kulturpolitischer Strukturen verbunden sein konnte. In der Furcht vor der öffentlichkeitswirksamen Medialisierung dieser Kritik und im abwehrenden, auch vetativen Umgang mit ihr manifestierten sich aber die Grenzen und die prinzipielle Reformunfähigkeit dieses Funktionsmodells. Anders als die ältere Autorengeneration verabschiedeten sich die Wortführer der inoffiziellen Literaturszene von der jahrzehntelang behüteten Illusion, die Kontrolle des Literaturbetriebs substanziell in praxi verändern zu können. Uwe Kolbe konstatierte bereits 1979: »Meine Generation hat die Hände im Schoß, was engagiertes Handeln betrifft. Kein früher Braun heute.« Noch deutlicher wurde er bei einer Lesung 1982: »Für mich« ist »die Ära der ›Biermann-Gesten‹ vorbei. Dessen kommunistische Kritik am Realsozialismus« hat »sich im Clinch mit den Herrschenden totgelaufen. Von Brauns Hin und Her ganz zu schweigen.«3 Die von Kolbe und anderen kategorisch abgelehnte Zensur trachtete je nach politischer Opportunität differierend, aber doch kontinuierlich danach, den literarischen Kommunikationsprozess und seine Träger so zu beeinflussen und zu organisieren, dass alle kulturpolitisch relevanten Aktivitäten und angenommenen Wirkungen auf das gültige gesellschaftliche Harmonieideal ausgerichtet und zuwiderlaufende Handlungen unterbunden oder zumindest wirkungsvoll sanktioniert 3

Ursula Heukenkamp: Ohne den Leser geht es nicht. Im Gespräch mit Gert Adloff, Gabriele Eckart, Uwe Kolbe und Bernd Wagner. In: Weimarer Beiträge 7 (1979), S. 41– 52, hier S. 46; Uwe Kolbe: Die Situation. Göttingen: Wallstein 1994, S. 36.

Avantgarde, Retrogarde oder zurück zu Gutenberg?

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werden konnten. Den ideologischen innen- sowie außenpolitischen Vorgaben entsprechend wurden formelle und informelle Maßnahmen ergriffen, um Autoren und Texte zu reglementieren, zu tabuisieren oder zu propagieren, Lizenzen und Druckgenehmigungen selektiv zu erteilen, den herstellenden und vertreibenden Buchhandel zu kontrollieren und die private und kollektive Literaturrezeption nach Maßgabe kulturpolitischer Maximen einzuschränken oder zu beeinflussen. Im Vordergrund der Überlegungen stand der medialisierte Text, auch wenn die Personen des realen Autors und Lesers, aber auch deren soziale Bezugsgruppen, immer wieder zu Adressaten ›operativer Maßnahmen‹ seitens des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS)4 oder anderer Repressalien wurden. Diese repressiven Aktivitäten konnten jeden treffen. Da alle Träger des offiziellen Literaturbetriebs in Verbänden, Kollektiven, Institutionen oder Parteien organisiert waren, war es oft effektiver, gezielt psychischen, ökonomischen, sozialen oder politischen Druck auszuüben, um Devianz zu disziplinieren oder ohne rechtliche Handhabe abweichende Meinungen auszugrenzen oder zu inkriminieren. Diese informellen Zensurmaßnahmen konnten je nach Opportunität graduell variant ohne öffentliches Aufsehen realisiert werden. Mit diesen Usancen verknüpft war die Bereitschaft zur Selbstzensur, mit der Autoren auf das Zusammenspiel von »institutionalisiertem und nicht institutionalisiertem«5 Zensurwesen reagierten. Diese Praxis konnte, musste aber nicht mit typischen Ritualen der Selbstkritik einhergehen. Sie wurde von der inoffiziellen Szene demonstrativ abgelehnt, die von allen Anwärtern verlangte prinzipielle Zustimmung zur Organisation und Struktur des Literaturbetriebs wurde kategorisch verweigert. Damit waren zentrale von Bourdieu in seinem Essay Über einige Eigenschaften von Feldern benannte substanzielle Voraussetzungen6 gar nicht gegeben. Die Konsequenz der jüngeren Literatengeneration war jedoch nicht a priori gleichbedeutend mit ästhetischer oder moralischer Superiorität. Es blieb vor und nach 1989 eine Ermessensfrage, ob das Imprimatur eines etablierten Autors für eine veränderte Fassung im Sinne funktionaler Differenzierung als ein aus der 4

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Vgl. u. a. Armin Mitter/Stefan Wolle (Hg.): Ich liebe euch doch alle! Befehle und Lageberichte des MfS Januar–November 1989. Berlin: BasisDruck Verlagsgesellschaft 21990, S. 40f., 214f., 231ff., 242ff.; Jürgen Fuchs: ». . . und wann kommt der Hammer?« Psychologie, Opposition und Staatssicherheit. Berlin: BasisDruck Verlagsgesellschaft 1990; Reiner Kunze: Deckname »Lyrik«. Eine Dokumentation. Frankfurt am Main: S. Fischer 1990; Erich Loest: Der Zorn des Schafes. Aus meinem Tagewerk. Künzelsau, Leipzig: Linden-Verlag 1990; Joachim Gauck: Die Stasi-Akten. Das unheimliche Erbe der DDR. Reinbek: Rowohlt 1991; Peter Böthig/Klaus Michael (Hg.): MachtSpiele. Literatur und Staatssicherheit im Fokus Prenzlauer Berg. Leipzig: Reclam 1993; Joachim Walther: Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin: Ullstein 1999; zur stalinistischen Praxis des Ministeriums für Staatssicherheit in den fünfziger Jahren vgl. Walter Janka: Spuren eines Lebens. Berlin: Rowohlt 1991, S. 274ff. Otto, Ulla: Die literarische Zensur als Problem der Soziologie der Politik. Stuttgart: Enke 1968, S. 120. Vgl. Pierre Bourdieu: Über einige Eigenschaften von Feldern. In: P. B.: Soziologische Fragen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 107–114, hier S. 107, 108f.

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»Wertegemeinsamkeit« mit den Verantwortlichen der Zensur resultierender Akt der »Selbstzensur«, als zwanghafter Versuch, den »Familienfrieden«7 zu wahren oder gar als »stiller Widerstand«8 interpretiert werden konnte, da das Verhältnis zwischen Konfliktbereitschaft, Normakzeptanz und schriftstellerischem Wirkungsanspruch nicht als eine situationsunabhängige, universell gültige Relation zu definieren war. Wie fast alle ambitionierten Autoren des offiziellen Literaturbetriebs hat auch die zur Galionsfigur einer Staatsliteratur stilisierte Christa Wolf versucht, ihre Öffentlichkeitsbasis, so das MfS, »unter Ausnutzung legaler Möglichkeiten« »massenwirksam«9 zu erweitern. Ihr Insistieren auf »subjektive[r] Authentizität«, »Objektivierung«, »Wahrhaftigkeit«, »Erkenntnismöglichkeit« und individueller »Erfahrung«10 sollte von ihren Lesern als erkenntnistheoretische Programmatik verstanden werden und wurde von den leninistisch11 geschulten Kadern des MfS12 prompt als unmarxistisch moniert. Der von der Autorin verteidigte Anspruch auf subjektive Authentizität stand im Widerspruch zum leninistischen Dogma der dialektischen »Einheit von Objektivem und Subjektivem«13 im individuellen Erkenntnisprozess. Angesichts der normierenden Dominanz der als kollektive Entität fungierenden Konstrukte Klassenbewusstsein und historische Notwendigkeit war das Kon7

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Reinhard Aulich: Elemente einer funktionalen Differenzierung der literarischen Zensur. Überlegungen zu Form und Wirksamkeit von Zensur als einer intentional adäquaten Reaktion gegenüber literarischer Kommunikation. In: Herbert G. Göpfert/Erdmann Weyrauch (Hg.): »Unmoralisch an sich . . .«. Zensur im 18. und 19. Jahrhundert. 7. Jahrestreffen des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Geschichte des Buchwesens vom 14.– 17. Mai 1985 in Wolfenbüttel. Wiesbaden: Harrassowitz 1988, S. 177–230, hier S. 184; Frank Schirrmacher: »Dem Druck des härteren strengeren Lebens standhalten«. Auch eine Studie über den autoritären Charakter: Christa Wolfs Aufsätze, Reden und ihre jüngste Erzählung »Was bleibt«. In: Thomas Anz (Hg.): »Es geht nicht um Christa Wolf«. Der Literaturstreit im vereinten Deutschland. München: Edition Spangenberg 1991, S. 77–89, hier S. 84. Lew Kopelew: Für Christa Wolf. Ein Brief an die »Zeit«, die »FAZ« und die »Welt«. In: Thomas Anz (Anm. 7), S. 117–121, hier S. 120. Hauptabteilung XX des Ministeriums für Staatssicherheit: Information. In: Ernst Wichner/Herbert Wiesner (Hg.): Zensur in der DDR. Geschichte, Praxis und »Ästhetik« der Behinderung von Literatur. Berlin: Literaturhaus 1991, S. 111–117, hier S. 111. Christa Wolf: Subjektive Authentizität. Gespräch mit Hans Kaufmann. In: C. W.: Die Dimension des Autors. Essays und Aufsätze. Reden und Gespräche 1959–1985. Bd. II. Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag 1986, S. 317–349, hier S. 325. Vgl. Wladimir Iljitsch Lenin: Werke. Hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin 1956ff., Bd. 14: Materialismus und Empiriokritizismus. Berlin: Dietz 1962, S. 362f. Vgl. Joachim Walther (Anm. 4), S. 839f. Tischendorf, ursprünglich Sport- und Geschichtslehrer, stieg schließlich bis zum Leiter der Abteilung XX/7 beim Ministerium für Staatssicherheit auf. Er bearbeitete auch den ›operativen Vorgang Doppelzüngler‹ gegen Christa und Gerhard Wolf. Vgl. den Artikel Freiheit. In: Georg Klaus/Manfred Buhr (Hg.): Philosophisches Wörterbuch. Bd. 1. Berlin: Das europäische Buch 121976, S. 356–366; den Artikel Sozialistischer Realismus. In: Manfred Berger u. a. (Hg.): Kulturpolitisches Wörterbuch. Berlin: Dietz 2 1978, S. 591–598, hier S. 591ff.

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zept subjektiver Authentizität eine Strategie der Selbstvergewisserung, die aus der Diskrepanz zwischen innerem und äußerem Auftrag resultierende Schwierigkeiten nicht negierte, aber im Sinne einer Mahnung an die Führung zum eigenen internen Problem reduzierte. Hier lässt sich die Sollbruchstelle zur Wirkungsästhetik der inoffiziellen Literaturszene aufzeigen. Öffentlichkeit und Kritik wurden von Christa Wolf nicht als Formen universeller und herrschaftsfreier Kommunikation verstanden, sondern als gesellschaftsunmittelbare Faktoren. Die »Nichtexistenz eines eigenen Öffentlichkeitsbegriffes in der marxistischen Theorie«14 und der auf die Kategorie der historischen Notwendigkeit bezogene Freiheitsbegriff haben diese Praxis sogar als Fortschritt erscheinen lassen. Da man im Prozess der Lektorierung die Zustimmung des Autors zu den gewünschten Textänderungen forderte, konnte jeder Eingriff in das Manuskript als Einsicht in die Notwendigkeit klassifiziert werden. Die als partnerschaftlich deklarierte Kommunikation schien unter diesen Prämissen mit dem von den marxistischen Klassikern skizzierten Modell der Übergangsgesellschaft völlig im Einklang zu stehen.15 Falls aber ein Autor sich gegen die Bevormundung verwahrte, konnte das Druckgenehmigungsverfahren Jahre dauern. Angesichts der Querelen um Brauns 1985 beschlagnahmten Hinze-Kunze-Roman berichtete der Verlagsleiter dem zuständigen Minister Klaus Höpcke: »Der jahrelange Kampf um Veränderungen an dem Manuskript hat den Autor stark mitgenommen. Während der Zusammenarbeit an dem Manuskript gab es [. . .] auch Phasen der Verzweiflung und – damit

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Lucian Hölscher: Öffentlichkeit. In: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegrife. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. IV. Stuttgart: Klett-Cotta 1978, S. 413–467, hier S. 463; vgl. in diesem Zusammenhang auch Georg Klaus/Manfred Buhr (Anm. 13), S. 422–427; Claus Träger (Hg.): Wörterbuch der Literaturwissenschaft. Leipzig: Bibliographisches Institut 1986; Georg Klaus: Spezielle Erkenntnistheorie. Prinzipien der wissenschaftlichen Theoriebildung. Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften 1966, S. 111ff.; Wladimir Iljitsch Lenin: Konspekt zu Hegels »Wissenschaft der Logik«. In: W. I. L.: Werke. Hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin 1956ff., Bd. 38: Philosophische Hefte. Berlin: Dietz 1964, S. 77–229, hier S. 153, 171. Hier heißt es noch restriktiver: »Die Notwendigkeit verschwindet nicht, indem sie zur Freiheit wird.« Sowie im wörtlichen Rekurs auf Georg Wilhelm Friedrich Hegel: »So ist es z. B. der bloße Verstandesbegriff der Freiheit, wenn dieselbe als der abstrakte Gegensatz der Notwendigkeit betrachtet wird, wohingegen der wahre und vernünftige Begriff der Freiheit die Notwendigkeit als aufgehoben in sich enthält.« Friedrich Engels: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring). In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. 1956ff., Bd. 20: Anti-Dühring. Dialektik der Natur. Berlin: Dietz 1962, S. 5–303, hier S. 264. Dort heißt es: »Die objektiven, fremden Mächte, die bisher die Geschichte beherrschten, treten unter die Kontrolle der Menschen selbst. Erst von da an werden die Menschen ihre Geschichte mit vollem Bewußtsein selbst machen, erst von da an werden die von ihnen in Bewegung gesetzten gesellschaftlichen Ursachen vorwiegend und in stets steigendem Maße auch die von ihnen gewollten Wirkungen haben. Es ist der Sprung der Menschheit aus dem Reiche der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit«.

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zusammenhängend – eines gewissen unberechenbaren Verhaltens«.16 Aufgrund ähnlicher Erfahrungen mit der »Zensur und Selbstzensur« betonte Christa Wolf, nicht »die Zeit« zu haben, die »eigentlichen Bücher auf später zu verschieben«.17 Strittmatter spielte zeitweilig mit dem Gedanken, sich gänzlich »in eine innere Emigration« zurückzuziehen, an »keinerlei Veranstaltungen im Verband oder in der Akademie« mehr teilzunehmen und »ein ungedrucktes Buch auf das andere«18 zu stapeln. Diese für den offiziellen Literaturbetrieb exemplarischen, zweifelsohne die Grundaxiomatik der Feldtheorie von Bourdieu tangierenden Erfahrungen provozierten die generelle Verweigerung der jüngeren Generation19 zu einer Haltung 16

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Eberhard Günther an Klaus Höpcke, 11. 12. 1984. Bundesarchiv, Abteilung Potsdam DR-2189. Bl. 37. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Eberhard Günther an Klaus Höpcke, 29. 6. 1976. Mitteldeutscher Verlag Halle, Archiv. Unfoliiert. In dem Schreiben heißt es: »Am 25. 6. 1976 habe ich Volker Braun entsprechend Deinem Auftrag über den Protest des kubanischen Botschafters gegen die Aufführung des Stückes ›Che Guevara oder der Sonnenstaat‹, ferner über die damit aufgetretenen Schwierigkeiten für den geplanten Band ›Im Querschnitt: Volker Braun‹ sowie über die vorgesehenen Bemühungen zur raschen Klärung der Angelegenheit informiert. Genosse Braun war sehr erregt. Er erklärte, daß die Aufführung des Stückes in Leipzig mit den entsprechenden Stellen, wie Bezirksleitung etc., abgesprochen gewesen sei [. . .]. Genosse Braun fuhr sinngemäß fort, er komme sich wie ein Gejagter vor und wisse gar nicht, was er tun solle. Die Frage, ob das Stück in dem vorgesehenen Querschnittsband gedruckt wird, gewinne für ihn jetzt eine prinzipielle Bedeutung. Sie werde für ihn zu einem Präzedenzfall, von dem vieles abhängig sei. Er erwarte, daß Ministerium und Verlag die Sache schnell klärten. Die Fertigstellung des Querschnittbandes ziehe sich nun schon jahrelang hin. Lieber Genosse Höpcke, ich möchte mit dieser Information ein paar Bemerkungen verbinden. Aus der Reaktion Volker Brauns sprach eine große Verzweiflung, es gelang mir nur schwer, ihn zu einer ruhigen Betrachtung der Dinge zu bringen [. . .]. Ohne die Angelegenheit unnötig dramatisieren zu wollen, halte ich es nach reiflicher Überlegung doch für notwendig, Dich darauf hinzuweisen, für wie ernst ich die eingetretene Situation in Bezug auf die weitere Entwicklung Volker Brauns halte. Unser Verlag hat sich in jüngster Vergangenheit sehr um die erfolgreiche Zusammenarbeit mit dem Autor bemüht. Die zahlreichen Probleme, die dabei auftraten, sind Dir zu Genüge bekannt [. . .]. Die Fragen, um die es jetzt geht, können letztlich nicht mehr von unserem Verlag geklärt werden. Ich bitte Dich daher, Dich selbst im Rahmen Deiner Möglichkeiten für ihre Bereinigung mit einzusetzen«. Anders, aber unrichtig, stellte Gerhard Dahne diesen Fall dar. Er führte das Verbot des Stückes fälschlicherweise auf einen Protest des bolivianischen Botschafters zurück. Vgl. Gerhard Dahne: Vom Blick über die Mauer. In: Mark Lehmstedt/Siegfried Lokatis (Hg.): Der innerdeutsche Literaturaustausch. Wiesbaden: Harrassowitz 1997, S. 305–324, hier S. 312. Christa Wolf: Voraussetzungen einer Erzählung. Kassandra. Frankfurter Poetik-Vorlesungen. Darmstadt, Neuwied: Hermann Luchterhand 71984, S. 109. Erwin Strittmatter: Die Lage in den Lüften. Aus Tagebüchern. Berlin, Weimar: Aufbau 1990, S. 185. Der Begriff der Generation wird in diesem Kontext nicht im biologischen Sinne einer natürlichen Geschlechterfolge verstanden, sondern im Rekurs auf die von Karl Mannheim begründete soziologische Generationentheorie als ein Phänomen, das neben dem »Faktum der in derselben chronologischen Zeit erfolgten Geburt« vor allem gemeinsame Sozialisations- und Lebenserfahrungen sowie kollektive politische und soziokulturelle Prägungen fokussiert (Karl Mannheim: Das Problem der Generationen. In: Kölner Vier-

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der kompromisslosen Verweigerung, die nicht mit den in den Avantgardebewegungen gepflegten Usancen der Häresie gleichzusetzen ist. Diese demonstrative Haltung wurde mit den Gruppenetikettierungen Prenzlauer Berg und alternative Literaturszene versehen und erregte ebenso Interesse wie Irritation. Die Praxis inoffiziellen Schreibens als verdeckte Form sozialen und symbolischen Handelns bezog sich in paradoxer Weise auf die Usancen des offiziellen Literaturbetriebs, und die Auflösung der Szene resultierte nicht aus der allen Beteiligten präsenten, durch ästhetische Kontroversen, Interessensfriktionen und permanenten Außendruck definierten »Binnengliederung«20 , sondern aus dem Wandel und der Diskreditierung spezifischer Kommunikationsbedingungen. Fast alle Manifestationen der vor 1989 kultivierten nonkonformen Ästhetik ließen offiziell gebilligte Formen der Literatur- und Kunstkommunikation auf dekuvrierende Weise als Negativfolie präsent werden und wurden von den Akteuren entsprechend codiert. Die Szene radikalisierte das avantgardistische Konzept einer production restreinte21 unter den Vorzeichen einer in der sozialistischen Gesellschaft im doppelten Sinne undenkbaren symbolischen Verweigerung und Verkehrung von Macht. Im Unterschied zu den von Bourdieu analysierten Strategien ging es den Akteuren aber nicht um die Benennungsmacht im offiziellen Literaturbetrieb, sondern um Rückzug und Verweigerung. Abgesehen von sporadischen Publikationen wie Kolbes Gedichtband Abschiede und andere Liebesgedichte oder gelegentlichen Veröffentlichungen in Periodika erschienen die Texte nicht in den staatlich kontrollierten Verlagen. Die exemplarischen Bände von Stefan Döring, Jan Faktor, Gabriele Kachold oder Reinhard Jirgl in der von Gerhard Wolf betreuten verdienstvollen Folge Außer der Reihe im Aufbau-Verlag erschienen erst 1989 und 1990. Westkontakte spielten eine vergleichsweise große Rolle. Aufsehen erregte die 1985 in Köln von Elke Erb und Sascha Anderson herausgegebene Anthologie Berührung ist nur eine Randerscheinung. Minister Höpcke wollte die Veröffentlichung nicht nur wegen ihrer ästhetischen Konzeption verhindern, sondern weil sie das offizielle System der Literaturvermittlung unterlief, den juristisch definierten Status des Schriftstellers ignorierte und den Anspruch auf kulturpolitische Lenkung negierte. Ungeachtet Andersons Rolle als ›Agent provocateur‹ war die Sammlung der erste Versuch, die von Fühmann 1974 erstmals formulierte und von Ulrich Plenzdorf, Klaus Schlesinger und Martin Stade weiterverfolgte Idee unabhängiger Autorenpublikationen gegen die Instanzen der

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teljahresschrift für Soziologie 7 [1928], S. 309–330, hier S. 180). Vgl. in diesem Kontext auch Michael Mitterauer: Sozialgeschichte der Jugend. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, S. 247ff.; Lothar Schuckert: Geistige Väter und Söhne. Beobachtungen zum Wandel pädagogischer Autorität. In: Hubertus Tellenbach (Hg.): Das Vaterbild im Abendland I. Stuttgart u. a.: Kohlhammer 1978, S. 124–148, hier S. 124ff., 131ff. Martina Langermann/Thomas Taterka: Von der versuchten Verfertigung einer Literaturgesellschaft. Kanon und Norm in der literarischen Kommunikation der DDR. In: Birgit Dahlke/M. L./T. T. (Hg.): Literaturgesellschaft DDR. Kanonkämpfe und ihre Geschichte(n). Stuttgart, Weimar: Metzler 2000, S. 1–32, hier S. 4, 5. Vgl. Pierre Bourdieu: Les règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire. Paris: Ed. du Seuil 1992, S. 122.

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Planungsliteratur durchzusetzen. Das 1981 verfügte Verbot22 von Fühmanns Vorläuferprojekt, in einer von der Akademie der Künste verantworteten Anthologie Namen wie Wolfgang Hilbig, Gert Neumann, Kolbe, Döring, Bert Papenfuß-Gorek, Lutz Rathenow oder Michael Wüstefeld vorzustellen, markierte einen prinzipiellen Dissens. Die von Christa Wolf als »die Jungen« am »Prenzlauer Berg«23 etikettierten Autoren und die Repräsentanten der Planungsliteratur traten von nun an in ein Verhältnis reziproker Negation: Weder die jeweils akzeptierten ästhetischen Normen noch die propagierten Formen literarischer Kommunikation ließen Vermittlungsschritte zu, die eine Akzeptanz unter den Vorzeichen des Status quo möglich machten. Wechselseitig apostrophierte man sich als antiliterarisch. Die Koinzidenz zwischen dem Verbot von Fühmanns Anthologieprojekt und der forcierten Gründung nichtlizenzierter Literaturzeitschriften war offensichtlich und zeigte, dass sich neben der »Literaturgesellschaft«24 der DDR und ihrer Exilliteratur ein neuer Kommunikationskontext konstituierte. Diese Relativierung staatlicher Interpretationshoheit wurde von den Gründern der unabhängigen Zeitschrift Mikado als Fanal interpretiert. Selbstironisch äußerten Kolbe, Lothar Trolle und Bernd Wagner: Das immer tiefere Versinken einer Gesellschaft in Agonie kann im Einzelnen die Illusion fördern, er müsse mit seiner Arbeit alles das ersetzen, was die Gesellschaft nicht leistet. Es bedurfte etlicher Winter der Depression, einer Bibliothek voll ungedruckter Texte und schließlich des Zurückgewiesenwerdens einer gesamten Schriftstellergeneration, bevor der Blick überhaupt in eine solche Richtung gehen konnte. [. . .] Es bedurfte des [. . .] sich selbst Mut zuflüsternden Ausrufes Der Kaiser ist nackt – Titel des seit 1981 erscheinenden Vorläufers von Mikado –, um zu begreifen, dass Literatur auf ihrem Weg in die Öffentlichkeit nicht allein auf Verlage, Redaktionen, Buchhandlungen und Druckereien angewiesen ist.25

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Vgl. Klaus Michael: Eine verschollene Anthologie. Zentralkomitee, Staatssicherheit und die Geschichte eines Buches. In: Peter Böthig/Klaus Michael (Anm. 4), S. 202–216, hier S. 207. Christa Wolf: Heine, die Zensur und wir. Rede auf dem Außerordentlichen Schriftstellerkongreß der DDR. In: C. W.: Im Dialog. Aktuelle Texte. Frankfurt am Main: Luchterhand 1990, S. 163–168, hier S. 167. Kurt Böttcher/Klaus Gysi u. a. (Hg.).: Geschichte der deutschen Literatur. Von den Anfängen zur Gegenwart. Berlin 1960ff., Bd. 11: Geschichte der deutschen Literatur. Literatur der Deutschen Demokratischen Republik. Hg. von Horst Haase u. a. Berlin: Volk und Wissen 21977, S. 27. Uwe Kolbe/Lothar Trolle/Bernd Wagner: Mikado 1–12. In: U. K. u. a. (Hg.): Mikado oder Der Kaiser ist nackt. Selbstverlegte Literatur in der DDR. Darmstadt: Luchterhand 1988, S. 7–10, hier S. 7 (Hervorh. von Y.-G. Mix).

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3. Selbst- und Fremdbilder der unabhängigen Literaturszene in der DDR 3.1 Selbstbilder Mikado zählte neben der 1982 bis 1984 erschienenen Dresdner Reihe Und sowie dem konzeptionell differenten Unternehmen Papiertaube zu den frühen Beispielen einer Zeitschriftenszene, die bis 1989 31 nichtlizenzierte Unternehmungen hervorbrachte. Die wichtigsten waren Ariadnefabrik, Bizarre Städte, Braegen, Entwerter/Oder, Liane, Mikado, Papiertaube, Reizwolf, Schaden und Verwendung. In toto erschienen 238 Einzelnummern in einer Auflage zwischen vier und 100 Exemplaren, in Ausnahmefällen auch einer höheren Anzahl, die in Berlin, Dresden, Halle, Jena, Karl-Marx-Stadt, Leipzig, Naumburg, Potsdam, Schwerin und Weimar verbreitet wurden.26 Die kaum mehr als 50 Textbeiträger und 40 Fotografen, Maler, Grafiker oder Musiker zählende Kerngruppe der maximal 800 Personen umfassenden inoffiziellen Kulturszene wurde vom offiziellen Literaturbetrieb fast völlig ignoriert. Mikado, 1983–1987 mit Beiträgen von Döring, Adolf Endler, Erb, Hilbig, Faktor, Kolbe, Monika Maron, Papenfuß-Gorek, Rathenow, Thomas Rosenlöcher und anderen in unregelmäßiger Folge erschienen, wollte kein Forum einer militanten »literarischen Opposition« sein, aber »eine andere Öffentlichkeit«27 herstellen. Man suchte »die Brisanz der Gegenwart in der Sprache, diesseits und jenseits des Vokabulars der Macht und der Anpassung«.28 »Glauben ersetz ich nicht / durch weiteren Glauben«,29 präzisierte Kolbe im Dialog Gespräch ohne Ende und konkretisierte die Reflexivität einfordernde poetologische Haltung, die eine Korrelation zwischen Ethik und Ästhetik, Moral und Literatur negierte. Die im Titel der Zeitschrift Ariadnefabrik zum Ausdruck kommende Synthese vom Mythos der kretischen Königstochter und der Maschinenmetapher stand für 26

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Vgl. Jens Henkel/Sabine Russ: DDR 1980–1989. Künstlerbücher und originalgrafische Zeitschriften im Eigenverlag. Eine Bibliographie. Gifkendorf: Merlin 1991, S. 95–146; Klaus Michael/Thomas Wohlfahrt (Hg.): Vogel oder Käfig sein. Kunst und Literatur aus unabhängigen Zeitschriften in der DDR 1979–1989. Berlin: Druckhaus Galrev 1991, S. 407–413; Zwischen den Seiten. Künstlerbücher und Buchobjekte. Hg. von den Brandenburgischen Kunstsammlungen. Cottbus: Brandenburgische Kunstsammlungen 1992, S. 68–71; Renate Damsch-Wiehager/Knut Nievers/Helgard Sauer (Bearb.): nonkonform. Künstlerbücher, Text-Grafik-Mappen und autonome Zeitschriften der DDR 1979–1989 aus der Sammlung der Sächsischen Landesbibliothek Dresden. Esslingen: Galerie der Stadt Esslingen Villa Merkel, Kiel: Stadtgalerie im Sophienhof 1992, S. 81–83; Frank Eckart (Bearb.): Eigenart und Eigensinn. Alternative Kulturszenen in der DDR (1980– 1990). Hg. von der Forschungsstelle Osteuropa. Bremen: Ed. Temmen 1993, S. 119–145. Uwe Kolbe/Lothar Trolle/Bernd Wagner (Anm. 25) S. 9; vgl. Paul Kaiser/Claudia Petzold/Steffen Damm (Red.): Boheme und Diktatur in der DDR. Gruppen Konflikte Quartiere. 1970–1989. Berlin: Fannei und Walz 1997, S. 340f. Uwe Kolbe/Lothar Trolle/Bernd Wagner (Anm. 25), S. 9. Uwe Kolbe: Gespräch ohne Ende. In: Sascha Anderson/Elke Erb (Hg.): Berührung ist nur eine Randerscheinung: Neue Literatur aus der DDR. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1985, S. 39.

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die Intention, eine ausweglos anmutende Realität zu befragen und in Abgrenzung zum »leerlauf dialektischer modelle«30 in selbstbestimmter kollektiver Arbeit konzeptionelle Wege aus dem Labyrinth kulturpolitischer Normierungen zu suchen. Diese Programmatik besiegelte den Bruch mit den Apologeten der Planungsliteratur und eröffnete die Chance, eine partiell vom Feld der Macht abgekoppelte, auf Autonomie insistierende Gegenöffentlichkeit zu konstituieren. Die von Peter Böthig skizzierte poststrukturalistisch grundierte Intention, »Gegenstände/Dinge/ Situationen poetisch und reflexiv in ihrer jeweils eigenen Vielheit denken zu können, ohne in die Netze deterministischer Bedeutungszuweisungen zu stolpern«,31 konterkarierte die geschichtsteleologisch orientierte Wirkungsästhetik und provozierte die experimentelle Transformation offizieller Sprachregelungen. Da man auch die »Kollektivlüge der herrschenden Sprache«32 thematisieren wollte, ironisierten Texte wie Faktors der clärungen eincelner sachverhalte 2te, auch: 1tes primindividualistisches theorem oder Rathenows Unüberhörbar wie Kremlglocken33 Tabus und informelle Redeverbote. Dieses Konzept, Fragmente aus der Alltagssprache als Spielmaterial literaturfähig zu machen, rekurrierte auf die Intentionen der klassischen Avantgarde und der Wiener Gruppe. Dabei standen der von den jüngeren Autoren gesuchten Publizität im Westen, so die Herausgeber der Zeitschrift Mikado, ebenso ungewöhnliche wie unzeitgemäße Verbreitungsformen innerhalb der DDR gegenüber: »Im fünften Jahrhundert nach Gutenberg wurde zum literarischen Unikat zurückgekehrt.«34 Mit dieser Pointe spielten sie auf die Regelung an, originalgrafisch gestaltete Texte in einer »(halb-)legalen Auflagenhöhe von bis zu 99 Exemplaren«35 von der Zensurierung auszunehmen. Das bedeutete in der Praxis, dass jeder Beiträger seinen Text in einer mit der Auflage identischen Stückzahl einreichen musste und dafür die Zeitschrift mit einem als Unikat gestalteten Umschlag erhielt. Dieser Distributionsmodus hatte gattungsspezifische Konsequenzen: Favorisiert wurden experimentelle Kurzprosaformen, Lyrik, Kabarett- und Comicvarianten sowie theoretisierendessayistische Genres. Jede »einengende Programmatik«36 wurde in Distanz zu den Usancen offizieller Literaturvermittlung vermieden, analog dazu dominierten nicht die klassischen grafischen Verfahren des Pressendrucks, sondern experimentelle Versuche mit Materialien und künstlerischen Techniken. So entstanden für die schließlich in 40 Exemplaren vervielfältigte Zeitschrift Anschlag Umschläge aus Lochkartons, collagierten Stadtplänen, Sandpapieren, Plastikfolien, gepressten 30

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Andreas Koziol/Rainer Schedlinski (Hg.): Abriss der Ariadnefabrik. Berlin: Druckhaus Galrev 1990, S. 7. Peter Böthig: Von der Selbstverständlichkeit zu schreiben. In: Andreas Koziol/Rainer Schedlinski (Anm. 30), S. 331. Notizen aus einem Gespräch mit Uwe Kolbe. In: Sascha Anderson/Elke Erb (Anm. 29), S. 40–45, hier S. 41. Jan Faktor: der clärungen eincelner sachverhalte 2te, auch: 1tes prim-individualistisches theorem. In: Uwe Kolbe u. a. (Anm. 25), S. 90–96. Uwe Kolbe (Anm. 25), S. 7. Uwe Kolbe (Anm. 3), S. 22. Uwe Kolbe (Anm. 25), S. 9.

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Eierverpackungen aus Styropor oder Zeitungspapier. Zeitschriften mit geringerer Auflage wie Uwe Warnkes Unternehmung Entwerter/Oder wurden mit Textilapplikationen auf dem Umschlag versehen. Der Konzentration auf den ästhetischen Wert des Wertlosen wurde eine programmatische Bedeutung zugemessen, die auch in der Fragmentierung alltäglicher Sprachregelungen, wie etwa dem Titel Entwerter/Oder, zum Ausdruck kam. Kunst, so Faktor in der schließlich in 60 Exemplaren verbreiteten Zeitschrift Ariadnefabrik, sei »real zwecklos zu betreiben« und richte sich gegen jede »demonstrativ kämpfende, provinziell beschränkte, Maßstäbe mißachtende und Argumente mit Gefühlsabsud bestreichende Politikkunst«.37 Diese Position war aber keineswegs gleichbedeutend mit einem Verzicht auf Resonanz und Publizität. Faktor erklärte: »Um gesellschaftliche Relevanz, um die Breitenwirkung [. . .] ging es damals wie heute. [. . .] Daß man für sich schreibt, ist nicht nur ein hilfloses Klischee, sondern schon mehr eine Lüge«.38 Der Vision, »ein einigermaßen funktionierendes Kulturleben in größeren Maßstäben«39 zu etablieren, standen allerdings die improvisatorische Praxis der Literaturvermittlung und die Präsenz der Zensur entgegen. Die Kommunikation über das Unkommunizierbare war auch privatim gefährdet, und die Materialität der Editionen und Periodika, der künstlerische Originalitätswert, behinderte die weitere Zirkulation. Lesungen wurden als Privatissimum organisiert. Fast ohne Publikum, aber unter den Augen des MfS, fand 1984 eine von Papenfuß-Gorek und Döring als Zersammlung apostrophierte Diskussionswoche der Autoren in einem Hinterhofatelier statt. Ein breiteres Interesse erreichte eine Ausstellung nichtlizenzierter Zeitschriften in der Samariter-Kirche 1986. Seit der Entdeckung nichtlizenzierter Zeitschriften und Mappen 1982 verlegte sich die Hauptabteilung XX des MfS darauf, die sich zunächst in Dresden und in Berlin, dann auch in anderen Städten formierende Szene zu beobachten, eine schroffe Konfrontation aber zu vermeiden. Da die »ungenehmigten Publikationen« nicht zu politischen Aktionen aufforderten und keine breite Öffentlichkeit erreichten, wurde ihre Produktion und Rezeption nicht verhindert und von gängigen Repressalien, also »Wohnungsdurchsuchungen, Verhaftungen«,40 weitgehend abgesehen. Durch die Einschleusung von Anderson war es der Hauptabteilung XX seit Beginn der achtziger Jahre möglich, detaillierte Informationen über die Szene zu sammeln und auszuwerten. 1984 wurde ein Dossier mit den Persönlichkeitsprofilen der wichtigsten Akteure angefertigt und ein abgestimmtes Vorgehen erörtert. Zwar gelang es, mit Anderson und Rainer Schedlinski de facto wichtige Positionen zu besetzen, eine politische Radikalisierung und spontanen Aktivismus

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Jan Faktor: Was ist neu an der jungen Literatur der achtziger Jahre. In: Klaus Michael/ Thomas Wohlfahrt (Hg.): Vogel oder Käfig sein. Kunst und Literatur aus unabhängigen Zeitschriften in der DDR 1979–1989. Berlin: Druckhaus Galrev 1992, S. 367–389, hier S. 377. Ebd., S. 374. Ebd., S. 371; vgl. Paul Kaiser/Claudia Petzold/Steffen Damm (Anm. 27), S. 84ff. Joachim Walther (Anm. 4), S. 120.

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zu zügeln41 sowie durch die sporadische Genehmigung von Reise-, Publikationsund Ausstellungsmöglichkeiten Konkurrenzverhalten zu schüren, doch die Annäherung an Kirchen- und Bürgerrechtsgruppen ließ sich ebenso wenig unterbinden wie die spektakuläre Publikation der Anthologie Berührung ist nur eine Randerscheinung im Westen. Neben der Intention, durch die »Entkleidung« offiziöser Sprachregelungen und die Artikulation »seitenverkehrter politischer Rhetorik«42 eine den Eigenwert der Sprache respektierende, zeitgemäße Dichtung auszubilden, war die Idee, die Zensur ad absurdum zu führen, lebendig. Diese Gelegenheit bot sich, wenn in Anthologien oder Zeitschriften »doch noch ein paar Verse oder Aphorismen«43 jüngerer, kaum bekannter Autoren eingerückt werden sollten und man aus »dem Manuskript«44 veröffentlichte. Die versteckte Subversion derartiger Texte war allerdings auf Lesungen nicht immer spontan zu dechiffrieren. Während Papenfuß-Goreks in »kwehrdeutsch«45 vorgetragener Appell, das Wort solle »würgen«, »lottern« und »lodern«46 sich ungeachtet einer radikal verfremdeten Lexik, Morphologie und Phonetik auch ohne wiederholte Lektüre seinen Zuhörern in groben Konturen erschloss, war der verborgene Sinn von Kolbes literarischer Provokation mit dem Titel Kern meines Romans ohne Zettel und Bleistift nicht zu ermitteln. Dieses in der Form eines Akrostichons angelegte Rätsel, dessen Sentenz in der Auflösung Euch mächtige Greise zerfetze die tägliche Revolution47 lautete, blieb ungelöst, gelangte unbeanstandet in eine 1981 publizierte Debütantenanthologie48 und wurde schließlich vom Autor selbst dechiffriert. Zur gleichen Zeit wie Kolbes unlizenzierte Typoskriptsammlung Der Kaiser ist nackt in Umlauf gebracht, verfolgte diese von Endler kritisch als »Schuß in den Ofen«49 charakterisierte Camouflage das gleiche Ziel: Sie sollte im Rekurs auf Hans Chris41

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Vgl. Jan Faktor: Siebzehn Punkte zur Prenzlauer-Berg-Szene. In: J. F.: Die Leute trinken zuviel, kommen gleich mit Flaschen an oder melden sich gar nicht oder Georgs Abschiede und Atempausen nach dem verhinderten Werdegang zum Arrogator eines Literaturstoßtrupps. Berlin: Wolf, Janus Press 1995, S. 108–134, hier S. 114. Peter Geist: Nachwort. In: P. G. (Hg.): Ein Molotow-Cocktail auf fremder Bettkante. Lyrik der siebziger/achtziger Jahre von Dichtern aus der DDR. Leipzig: Reclam 1991, S. 370–407, hier S. 389. Uwe Kolbe (Anm. 3), S. 21. Ursula Heukenkamp/Heinz Kahlau/Wulf Kirsten (Hg.): Die eigene Stimme. Lyrik der DDR. Berlin, Weimar: Aufbau 1988, S. 420. Bert Papenfuß-Gorek: rasender schmerts weiterlachen. In: B. P.-G.: dreizehntanz. Gedichte. Frankfurt am Main: Luchterhand 1989, S. 106; vgl. in diesem Kontext auch Jürgen Zenke: Vom Regen und von den Traufen. Bert Papenfuß-Gorek: die lichtscheuen scheiche versunkener reiche. In: Walter Hinck (Hg.): Gedichte und Interpretationen. Bd. VII: Gegenwart II. Stuttgart: Reclam 2004, S. 145–157, hier S. 146ff. Bert Papenfuß-Gorek: krampf-kampf-tanz-saga. In: B. P.-G. (Anm. 45), S. 181–200, hier S. 183. Ernst Wichner/Herbert Wiesner (Anm. 9), S. 187. Vgl. Adolf Endler: Tarzan am Prenzlauer Berg. Sudelblätter 1981–1983. Leipzig: Reclam 1996, S. 150ff.; Uwe Kolbe (Anm. 3), S. 37; Ernst Wichner/Herbert Wiesner (Anm. 9), S. 183ff. Adolf Endler (Anm. 48), S. 152.

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tian Andersens Märchen Des Kaisers neue Kleider das längst »Offensichtliche«50 offenkundig machen. Ähnliches galt für Dörings Gedicht hochmut vor dem wall aus seinem von 1985 bis 1988 entstandenen Zyklus weilen. Der Titel war nicht nur ein assoziatives Spiel mit dem Sprichwort Hochmut kommt vor dem Fall, sondern das Substantiv wall konnte mit Grenzbefestigungen, dem römischen Wall Limes oder der als Chiffre der Freiheit begriffenen Oper The Wall von Pink Floyd in Verbindung gebracht werden und eröffnete so eine ungewohnt subversive Perspektive, unter der ein künftiger Fall der Berliner Mauer vorstellbar wurde. Döring, der zahlreiche Beiträge zu Zeitschriften wie Bizarre Städte, Entwerter/Oder, Schaden oder Mikado beisteuerte, publizierte dieses Gedicht in der unmittelbar vor der Wende erschienenen Sammlung heutmorgestern in der von Gerhard Wolf betreuten Folge Außer der Reihe. Dörings Dreizeiler lautete: hochmut vor dem wall die grenzen begrenzen nichts wesentliches die fremden befremden nicht eigentlich die Übergänge unterlaufen unumgängliches.51

Der hier vorgeführte Versuch, sich mit seinen Lesern »Über die Köpfe der Zensoren hinweg«52 zu verständigen, stand in einer Tradition, die auf Peter Huchel, Sarah Kirsch und Reiner Kunze verwies, Namen, die im offiziellen Literaturbetrieb in der DDR längst unerwünscht geworden waren. 3.2 Fremdbilder Das von den Instanzen der Literaturvermittlung im Westen vermittelte »aufsehenerregende Bild«53 des Prenzlauer Bergs wurde von Anfang an massiv paratextuell beeinflusst. Neben Hinweisen in Vorworten, Kurzbiografien oder auf Buchumschlägen über die Zensur in der DDR, die mit Rücksicht auf die Autoren zunächst vage blieben, waren es vor allem Epitexte, also »Argumentationshilfen« für Vertreter, Buchhändler und Kritiker sowie »Selbstkommentare« oder »mündliche Mitteilungen«,54 die die Vorstellung vom Werk eines Autors prägten. Die hier vermittelten Informationen oszillierten zwischen einer für den Suhrkamp Verlag charakteristischen Scheu, die Dinge beim Namen zu nennen, und deutlicheren Aussagen bei S. Fischer, Piper oder Kiepenheuer & Witsch. Eine wichtige Rolle spielte in diesem Kontext auch die Literaturkritik. Während Andersons erste, 1982 in Westberlin veröffentlichte Lyriksammlung Jeder Satellit hat einen Killersatelliten nur 50 51

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Uwe Kolbe (Anm. 3), S. 39. Stefan Döring: hochmut vor dem wall. In: S. D.: heutmorgestern. gedichte. Berlin, Weimar: Aufbau 1989, S. 100. Wulf Segebrecht: Hochmut vor dem wall. Geheimbotschaften, in Verse gefasst. Die »Mauer-Lyrik« und das Ende der DDR. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. 2. 1992, Beilage. Sascha Anderson/Elke Erb (Anm. 29), Umschlagtext. Gérard Genette: Paratexte. Frankfurt am Main u. a.: Campus 1989, S. 331, 351, 367.

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die lapidare Notiz »geboren 1953 in Weimar, lebt in Dresden«55 enthielt, entwarf eine 1983 in der Süddeutschen Zeitung publizierte Besprechung ein Bild, das den Autor zum heroischen »Lyriker im Untergrund der DDR«56 stilisierte. Anderson sei, so der Text, ein genialer Außenseiter, der mit »stolzem Eigensinn« in radikaler Verweigerung als »Vater mehrerer Kinder« unter den Augen der »Stasi« von der »Bibliophilie des Samisdat«57 lebe. Die nun einsetzende, medial inszenierte »Realitätsverdoppelung«58 konnte ihre irritierende und folgenreiche Wirksamkeit entfalten, weil sich das skizzierte Bild Andersons jeder Überprüfbarkeit entzog und alle Charakteristika aufwies, die mit dem Habitus eines konsequenten, der Wahrheit der Kunst verpflichteten Avantgardisten identifiziert wurden: sozialer und politischer Individualismus, materielles Desinteresse sowie eine radikale Ästhetisierung der Existenz und des Werkes, das unter der »caractéristique structurale du champ de production restreinte«59 zunächst nur einer eingeweihten Lesergemeinde zugänglich war. Unter ähnlichen Vorzeichen wurden auch Kolbe, Schedlinski oder PapenfußGorek auf Waschzetteln oder in Interviews dem Publikum im Westen präsentiert. Dabei wurde das für Andersons und Schedlinskis Lyrik charakteristische »zerfallene, ›dissoziierte‹ Subjekt«, das sich, »irrlichternd«, aber »absichtsvoll jeder näheren Bestimmbarkeit«60 entzog, ideologisch kurzschlüssig als Ausdruck eines Leidens an den deutschen Verhältnissen auf die Autoren und ihre Werke projiziert. Der Attitüde der Literaturkritik, Permutationen im Text und von Texten zu ignorieren und die ästhetisch divergenten Sprachexperimente auf ein Deutungsmuster hin zu analysieren, entsprach die Ausschließlichkeit des Verdikts, das die Szene nach der Enttarnung Andersons, Schedlinskis oder Fritz-Hendrik Melles traf. Analog einer Ökonomie der Aufmerksamkeit61 wurde das von »außerliterarischen Themen«62 dominierte Beurteilungsschema zur Grundlage einer pauschalen Entwertung, der sich auch nicht inkriminierte Autoren kaum entziehen konnten. De facto berührte diese Auseinandersetzung um die Benennungsmacht das Problem der Kanonisierung und Klassifikation legitimer und illegitimer Oppositionsliteratur sowie die Frage nach der Rolle des Autors als öffentliche Instanz und Träger symbolischen Kapitals. Vereinfachend heißt es nun, parallel zu den Verlaut55

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S.[ascha] Anderson: Jeder Satellit hat einen Killersatelliten. Gedichte. Berlin: Rotbuch 1982, S. 79. Herbert Wiesner: Bilder einer wunden Welt. Sascha Anderson, ein Lyriker im Untergrund der DDR. In: Süddeutsche Zeitung vom 19./20. 5.1983. Ebd., S. 50. Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien. Opladen: Westdeutscher Verlag 21996, S. 15. Vgl. Pierre Bourdieu (Anm. 21), S. 122. Peter Geist (Anm. 42), S. 386f. Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. München, Wien: Carl Hanser 1998, S. 107; vgl. auch S. 134ff. Ulrich Greiner: Die deutsche Gesinnungsästhetik. In: Thomas Anz (Anm. 7), S. 208–216, hier S. 213.

Avantgarde, Retrogarde oder zurück zu Gutenberg?

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barungen von Jürgen Fuchs und Wolf Biermann63 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, das MfS habe die »Schriftsteller und Künstler« des Prenzlauer Bergs in »vorher genau verabredeten Konstellationen« aufgebaut, ja sogar literarische »Denkschemata«64 popularisiert. Es war aber nicht zu übersehen, dass sich die Praxis inoffiziellen Schreibens und die Verbreitung nichtlizenzierter Zeitschriften vor derartigen Maßnahmen etablierte. »Es gab«, so äußerte Kolbe bezogen auf Anderson und Schedlinski, »einen Prenzlauer Berg vor ihrem«.65 Auch das von Braun, Günter Kunert und anderen unisono vorgebrachte Verdikt, es handele sich hier nicht um avantgardistische Literatur, sondern um den »Wortmüll«66 einer epigonalen »Nachhut«, die sich an einer Ästhetik orientierte, die »sechzig, siebzig Jahre zuvor revolutionär gewesen«67 sei, war nur der Versuch, die Benennungsmacht zu behaupten. In den Texten der inoffiziellen Literaturszene wurde der Fall der Mauer thematisiert und imaginiert. Die Autoren haben sich an einer Vision der Avantgarde orientiert, die für die Vertreter der klassischen Avantgarde, so Klaus von Beyme, in der Regel nur »subsystemgerecht in der Kunst«68 einlösbar war. Gemäß der potemkinschen Devise, dass nicht sein kann, was nicht sein darf, wurden der Fall der Mauer und das Ende der DDR nicht im loyal geführten Schriftstellerverband, sondern im gesellschaftlichen Abseits von Döring, Durs Grünbein, Hilbig, Kolbe, Rathenow, Papenfuß-Gorek oder Andreas Koziol69 in Texten the63

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Jürgen Fuchs: Pegasus an der Stasi-Leine. In: Der Spiegel 45 (1991) 47, S. 276–280, hier S. 277; Jürgen Fuchs: Landschaften der Lüge. In: Der Spiegel 45 (1991) 48, S. 72–92, hier S. 73; Wolf Biermann: Der Lichtblick im gräßlichen Fatalismus der Geschichte. Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises. In: Peter Böthig/Klaus Michael (Anm. 4), S. 298–304, hier S. 300; vgl. auch Wolfgang Höbel: »Auch ich habe Verhörprotokolle unterschrieben«. Ein Portrait des Berliner Autors und Denunziationsopfers Rainer Schedlinski. In: Süddeutsche Zeitung vom 28. 10. 1991; Das ist nicht so einfach. Ein Zeit-Gespräch mit Sascha Anderson. In: Die Zeit vom 1. 11. 1991; Hajo Steinert: Die Szene und die Stasi. Muß man die literarischen Texte der Dichter vom Prenzlauer Berg jetzt anders lesen? In: Die Zeit vom 29. 11. 1991; Die ganze Szene von der Stasi gesteuert? – Quatsch! Ein Gespräch mit Lutz Rathenow über den Fall Anderson und die DDR-Literatur. In: Süddeutsche Zeitung vom 3. 12. 1991; Karl Corino: Vom Leichengift der Stasi. Die DDRLiteratur hat an Glaubwürdigkeit verloren – Eine Entgegnung. In: Süddeutsche Zeitung vom 6. 12. 1991. Frank Schirrmacher: Verdacht und Verrat. Die Stasi-Vergangenheit verändert die literarische Szene. In: Peter Böthig/Klaus Michael (Anm. 4), S. 304–308, hier S. 307. Uwe Kolbe (Anm. 3), S. 12. Volker Braun: Rimbaud. Ein Psalm der Aktualität. In: V. B.: Texte in zeitlicher Folge. Halle 1989–1993. Bd. 8: Rimbaud. Ein Psalm der Aktualität. Langsam knirschender Morgen. Die Übergangsgesellschaft. Siegfried, Frauenprotokolle. Deutscher Furor. Schriften. Halle: Mitteldeutscher Verlag 1992, S. 7–42, hier S. 29. Günter Kunert: Zur Staatssicherheit. Politik und Verbrechen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. 11. 1991. Klaus von Beyme: Das Zeitalter der Avantgarden. Kunst und Gesellschaft 1905–1955. München: C. H. Beck 2005, S. 852. Vgl. Lutz Rathenow: Die Zukunft der Mauer. Sie wird immer normaler und immer anmaßender, unerträglicher. In: die tageszeitung vom 7. 5. 1988, S. 19; York-Gothart Mix: »Verstehn Sie’s?« »Nein. Nichts . . .«. Varianten literarischer Camouflage in U. Plenz-

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matisiert, die die Instanzen der Literaturvermittlung im Osten nicht zur Kenntnis nehmen wollten. Das vehemente Interesse an der in Kleinstauflagen verbreiteten inoffiziellen Literatur und das Desinteresse an den durch Massenauflagen offiziell beförderten Lesestoffen markierte einen Wendepunkt, den es der befohlenen Geschichtsteleologie zufolge gar nicht geben konnte.

dorfs »Die neuen Leiden des jungen W.«, S. Dörings »weilen« und R. Kunzes »Sensible Wege«. In: Zeitschrift für Germanistik NF 5 (1995) 1, S. 48–59, hier S. 49, 53; Wulf Segebrecht (Anm. 52); Walter Erhart: Gedichte, 1989. Die deutsche Einheit und die Poesie. In: Walter Erhart/Dirk Niefanger (Hg.): Zwei Wendezeiten. Blicke auf die deutsche Literatur 1945 und 1989. Tübingen: Niemeyer 1997, S. 141–165, hier S. 154. Der Brisanz dieser Themen hatten Anderson und Schedlinski nichts entgegenzusetzen. Sie schlugen bei problematischen Diskussionen vor, so Faktor retrospektiv, »Fußball« zu spielen oder »ins Erzgebirge zu fahren und sich die toten Bäume anzusehen« (Jan Faktor [Anm. 41], S. 119f.).

Beatrix Müller-Kampel (Graz)

»Gut, habe ich gesagt, mache ich halt auf berühmten Dichter«1 Habitusmanagement und Stigmapolitik bei Werner Schwab (1958–1994)

Wir sind über diesen Habitus, über diese inkorporierte Geschichte, immer versucht, Komplizen der Zwänge zu sein, die auf uns wirken, mit unserer eigenen Beherrschung zu kollaborieren. (Pierre Bourdieu) 2

Gesetzt den Fall, wir seien Beamte einer Behörde, sagen wir, eines Kommissariats, und hätten den gerade 35-jährigen Poeten Schwab 1993 zu seiner Person befragt, so wäre im Stammdatenblatt nachzulesen: Werner Schwab männlich Österreich 4. Februar 1958 in Graz (Österreich) Graz geschieden (verh. mit Ingeborg Orthofer 1982–1991) Vinzenz, geb. 12. Oktober 1981 Erwin Schwab, geb. 19. März 1919, Maurer, Bienenzüchter Aloisia Schwab, geb. Konrad, geb. 5. April 1924, Krankenhauswärterin, Haushälterin, Hausmeisterin Schulische Ausbildung: 1964–1968 Öffentliche Volksschule für Knaben, Graz, Nibelungengasse; 1968–1973 Hauptschule für Graz, Elisabethstraße; 1973–1974 Handelsschule, Graz, Knaben, Grazbachgasse; 1974–1978 Fachschule für Bildhauerei/ Name: Geschlecht: Staatsangehörigkeit: Geboren: Wohnsitz: Stand: Kinder: Vater: Mutter:

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Ohne Autor: »Mache ich halt auf berühmten Dichter«. Im Interview mit unserer Zeitung – der österreichische Erfolgsdramatiker Werner Schwab. In: Leipziger Volkszeitung, Stadtausgabe vom 27. 3. 1993; dieser Beitrag führt Überlegungen zu Schwabs (Selbst-)Positionierungen in den theatralen Feldern seiner Zeit fort: Beatrix Müller-Kampel: Trauriger Riese auf dem Theaterstrich. Werner Schwab und die Theaterkritik. In: Gunther Nickel (Hg.): Beiträge zur Geschichte der Theaterkritik. (Mainzer Forschungen zu Drama und Theater 35) Tübingen: Francke 2007, S. 389–430. Die Basis dafür bildet theoretisch-methodisch die um Erving Goffmans Stigma-Studien ergänzte HabitusTheorie von Pierre Bourdieu und gegenständlich sechs zum Teil mehrstündige Interviews mit Personen aus dem näheren Umfeld von Werner Schwab: Aloisia Schwab (Mutter), Ingeborg Orthofer sen. (Schwiegermutter), Josef Trink (Freund und Nachbar in Kohlberg, Oststeiermark), Josefa Trink (Nachbarin in Kohlberg), Heidrun und Berta Runge (Dienstgeberinnen der Mutter Aloisia Schwab), Alfred Kolleritsch (Dichterkollege). Pierre Bourdieu: Habitus, Herrschaft und Freiheit. [Interview 2000.] Aus dem Französischen von Franz Hector. In: P. B.: Wie die Kultur zum Bauern kommt. Über Bildung, Schule und Politik. Hg. von Margareta Steinrücke. (Schriften zu Politik & Kultur 4) Hamburg: VSA-Verlag 2001, S. 162–173, hier S. 166.

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Beatrix Müller-Kampel Kunstgewerbeschule, Graz, Ortweinplatz (bei Josef Pillhofer); 1978–1982 Akademie der Bildenden Künste, Meisterklasse für Bildhauerei (bei Bruno Gironcoli) Beruf: Dichter, Bildender Künstler Sonstige berufliche Ausbildung: keine3

Möglicherweise wäre dem solcherart Perlustrierten Ähnliches durch den Kopf gegangen wie Ulrich, Musils Mann ohne Eigenschaften, auf der Polizeistation: »Name? Alter? Beruf? Wohnung? [. . .] Er glaubte, in eine Maschine geraten zu sein, die ihn in unpersönliche, allgemeine Bestandteile zergliederte« und eine »statistische Entzauberung seiner Person« betrieb; »und das von dem Polizeiorgan auf ihn angewandte Maß- und Beschreibungsverfahren begeisterte ihn wie ein vom Satan erfundenes Liebesgedicht«.4 Gesetzt den Fall, wir wollten die Personalien mit Theaterproduktion und -rezeption füllen und zögen dafür die journalistische und germanistische Literatur heran, so bekämen wir möglicherweise folgendes Dossier: Die Präsidentinnen, im Februar 1990 im Wiener Künstlerhaus am Karlsplatz unter Günther Panak uraufgeführt, hatte dem 32-jährigen Schwab erste Publicity, die rührig-erfinderische PR des Wiener Sessler-Verlages sowie eine Einladung zu den renommierten Theatertagen Mülheim eingebracht. Theater heute, Sprachrohr der deutschsprachigen Theater(geschmacks)macher, druckte Schwabs nächstes Stück, das zynisch-bombastisch mit »Ein europäisches Abendmahl« unterschriebene und am 12. Januar 1991 am Schauspielhaus Wien unter Hans Gratzer uraufgeführte Übergewicht, unwichtig: Unform im März-Heft ab.5 Für Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos, das von Schwab zusammen mit den Präsidentinnen, Übergewicht und Mein Hundemund als »Fäkaliendrama« ausgewiesene Stück,6 erhielt der Autor 1992 den Dramatikerpreis der Stadt Mülheim an der Ruhr; Theater heute druckte Volksvernichtung im Januar-Heft ab7 und wählte Schwab im selben Jahr zum ›Dramatiker des Jahres‹. Die insgesamt 15 deutschsprachigen Inszenierungen von Volksvernichtung in den ersten beiden Jahren nach der Münchner Uraufführung bedeuteten den so genannten ›Durchbruch‹ – einen ›Durchbruch‹, den die Aktanten des deutschen Feuilletons, von Theater heute und den Jurys der Theaterpreise vorbereitet, ja gleichsam konzertiert lanciert hatten. Das deutsche Feuilleton überschlug sich 3

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Vgl. Ingeborg Orthofer: biographie [!]. In: Gerhard Fuchs/Paul Pechmann (Hg.): Werner Schwab. (Dossier. Die Buchreihe über österreichische Autoren 16) Graz: Literaturverlag Droschl 2000, S. 282–285. Robert Musil: Gesammelte Werke. Bd. 1: Der Mann ohne Eigenschaften. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek: Rowohlt 1978, S. 159f. Werner Schwab: Übergewicht unwichtig unform. Ein europäisches Abendmahl. In: Theater heute (1991) 3, S. 48–55. Werner Schwab: Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos. Eine Radikalkomödie. In: W. S.: Fäkaliendramen. Graz: Literaturverlag Droschl 41996, S. 121–177 (Erstdruck 1991). Werner Schwab: Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos. Eine Radikalkomödie. In: Theater heute 1 (1992), S. 35–42.

»Gut, habe ich gesagt, mache ich halt auf berühmten Dichter«

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fast mit Lob für die Sprache; Theater heute versetzte Schwab schlichtweg auf den Parnass des zeitgenössischen Theaters. Mag sich der Autor bei aller Freude vor derlei mythisierenden Auslassungen wohl auch ein wenig gegraust haben (das übliche Kunstgetue mit dazugehörigem Jargon, so viel scheint gewiss, ekelten ihn an), so knüpften sie doch an programmatische Selbstäußerungen an – erkenntnistheoretisch-theatrale Offenbarungseide, die er in allen seinen Stücken an markanten Stellen ablegte und die die Presse ihm in Dutzenden Interviews regelmäßig abverlangte. Sie gehen in die Richtung, dass die Sprache den Menschen spreche,8 die Sprache mit dem Körper und dessen Sekretionen in eins falle (logischerweise auch vice versa), dass die Sprache diesen ihren Menschen wie eine scheppernde Blechdose am Schwanz eines Hundes hinter sich herziehe,9 sich selber nicht recht ernst nehme, ihr die Menschen egal seien, dass jede noch so entsetzliche Bühnenbarbarei nichts anderes sei als »Davonvogelsprache, gesprochener Spuk«10 und selbst der Autor ab einem gewissen Zeitpunkt gesprochen werde.11 Diese Selbstaussagen beflügelten die Kritik, das ›Schwabische‹ durch Anknüpfung an vielerlei kulturgeschichtsträchtige Namen – von Nietzsche über Heidegger bis hin zu Derrida, Lacan und Deleuze – mit künstlerischen Weihen zu versehen (und nebenbei zu vernebeln). Werner Schwabs Leben und Arbeit taugten trefflich dazu, biografische und Texteigenheiten in Stigmata12 zu überführen und vermittels derer den traditionellen künstlerischen Schöpfer-Habitus illusionistisch anzureichern13 – und sich wohlig schaudernd daran zu erregen. »Shooting Star«, »Theater-Punk«, »Radikaldramatiker«, »Theaterberserker«, »Popstar«, »Dekonstrukteur als neuer Typus des Genies«:14 die Theaterjournalistik weidete sich an den von ihr geprägten 8

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Vgl. Werner Schwab im Gespräch mit Roland Koberg: Vernichten, ohne sich anzupatzen. In: Falter. Stadtzeitung Wien. Beilage zu (1992) 40: Bücher Herbst 92, S. 1 und S. 3–5, hier S. 4. Vgl. Werner Schwab: Mein Hundemund. Das Schauspiel. Vier Szenen. In: W. S.: Fäkaliendramen (Anm. 6), S. 179–235, hier S. 181. Werner Schwab (Anm. 6), S. 147 und S. 158f. Vgl. Werner Schwab/Roland Koberg (Anm. 8), S. 4. Begriffsverwendung nach Erving Goffman: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Aus dem Amerikanischen von Frigga Haug. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975: Goffman unternimmt es hier, »die Relation von Stigma zum Thema Devianz zu klären« (S. 7): »Der Terminus Stigma wird also in bezug auf eine Eigenschaft gebraucht werden, die zutiefst diskreditierend ist, aber es sollte gesehen werden, dass es einer Begriffssprache von Relationen, nicht von Eigenschaften bedarf. Ein und dieselbe Eigenschaft vermag den einen Typus zu stigmatisieren, während sie die Normalität eines anderen bestätigt, und ist daher als ein Ding an sich weder kreditierend noch diskreditierend« (S. 11). An der Künstlerrolle, so wie sie seit dem 18. Jh. ausgebildet wurde, wird diese sozialpsychologische Ambivalenz ganz besonders deutlich: »Das stigmatisierte Individuum ist geneigt, sein Stigma für ›sekundäre Gewinne‹ zu benutzen, als Entschuldigung für Misserfolg, der ihm aus anderen Gründen widerfahren ist« (S. 20). Begriffsverwendung nach Pierre Bourdieu: Die biographische Illusion. In: P. B.: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Aus dem Französischen von Hella Beister. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 75–83. Werner Schwab im Gespräch mit Elisabeth Loibl: Philosoph & Popstar. In: Basta. Das Magazin am Puls der Zeit (1992) 11, S. 140–142, hier S. 140.

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Beatrix Müller-Kampel

Schlagworten und füllte sie mit Leib und Leben: Ein 1,93 Meter großer, blonder Hüne mit asymmetrisch-bizarrem Haarschnitt stapfte, meist eine Zigarette in der Hand, oft nicht mehr nüchtern, mitunter grinsend, in schwarzem langen Ledermantel und Schnürstiefeln durch die sonst stets von Fadesse bedrohte Landschaft der Hochkultur. Mit dem ersten Stigma, jenem der Trunksucht, greift die journalistische und bald auch germanistische Kanonisierungsrhetorik auf ein althergebrachtes Habitusattribut des Homo poeticus zurück. Was das Feuilleton diskret im Hintergrund behält und dennoch wach hält – »man wird daran erinnert, daß der Adler, in einem frühen Bildnis der Zirrhose, Prometheus die Leber zerschnetzelt hat«,15 heißt es in einer frühen Schwab-Ode in der Zeit –, Bild spricht es im Bericht über ein Interview unverhohlen aus: »›Halloh!‹ Sein stabiler Zwei-Meter-Körper ist herübergebeugt. Und dünstet stark aus, was gestern noch Inhalt von ein oder zwei Whisky-Flaschen war.«16 Schwab hatte (seiner Mutter zufolge animiert von einem Grazer Nachbarn, der selber Alkoholiker war) seit seinem vierzehnten, fünfzehnten Lebensjahr getrunken, immer stärker drückte der Alkohol den Beziehungen und dem Arbeitsalltag den Stempel auf, die letzten Wochen waren geprägt von alkoholbedingter Krankheit, mitunter verlor Schwab jede Orientierung, jedes Gefühl für Ort und Zeit, ein einsamer Alkoholexzess führte in der Silvesternacht von 1993 auf 1994 zur tödlichen Atemlähmung. Biografisch operierte die Theaterkritik mit drei Narrativen, das erste ein soziales Stigma und ein künstlerischer Außenseiterbonus zugleich: Schwab der Trinker, der Kampftrinker, der Verzweiflungstrinker, knüpft an ein Jahrhunderte altes, geradezu topisches Ideologem an: jenes des ebenso autonomen wie verzweifelten, ebenso einsamen wie empfindsamen trinkenden Rebellenkünstlers. Im Mythos vom ungeschaffenen Kunstschöpfer mit der Flasche in der Hand binden nur der Hass, allenfalls die Verachtung oder das Misstrauen den Poeten an die ›Normalgesellschaft‹, und selbst das Leben ist ihm meist eine Qual. Dankbar greifen die Journalisten hinein in das existenzielle Elend des Werner Schwab: Wann schreiben Sie eigentlich? Überall. Auf dem Bahnhof. Dem Flughafen. Wo’s mir schlecht geht. Und da’s mir fast überall schlecht geht, schreib ich halt überall. Sie sehen müde aus! Ich bin völlig übermüdet. Ich konnte mein Leben lang noch nicht richtig schlafen. [. . .] Ist für Sie die Welt ein Scheißhaufen? Was sie für mich ist, ist nebensächlich. Das hängt damit zusammen, wie gern man halt existiert und ich mag das halt nicht so gerne, existieren, das mache ich halt zwanghaft so.17 15

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Helmut Schödel: Kleinstadt, Großkunst, Grazkunst. Theater in München und Graz. Neues von Werner Schwab und Wolfgang Bauer. In: Die Zeit vom 6. 12. 1991. Werner Schwab im Gespräch mit Gregor Edelmann: Sensibles Riesenbaby. BILD-Porträt. Werner Schwab, Star-Dramatiker, zu Gast in Berlin. In: Bild vom 23. 3. 1993. Werner Schwab im Gespräch mit Gudrun de Frenne: Was ist so reizvoll an Exkrementen? Der Dramatiker Werner Schwab gibt Antwort. In: Zitty. Illustrierte Stadtzeitung (1993) 7, S. 50–51, hier S. 50.

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Möchtest Du nach einem etwaigen Tod noch einmal auf die Welt? Naa, bitte nicht.18

Als nach dem Tod ruchbar wurde, dass Schwab ein Stück mit dem Titel Endlich tot endlich keine Luft mehr hinterlassen hatte, erhielt das Alkoholismus-Verzweiflungs-Narrativ sozusagen prophetische Legitimation und erschien als biografische Formel mit suizidalem Unterton ein für allemal fixiert. Der skandalisierend-konsekrierende Journalismus schlägt sich dafür mitunter an die Brust (wenn es auch stets die anderen sind, gegen die man das Voyeuristische ins Treffen führt). ›Alkoholprobleme‹: Das paßt zur Schwablegende, an der begeisterte Theaterkritiker schon zu Lebzeiten des Grazer Gegenwartsdramatikers strickten. Reihenweise bestaunten die biederen wie die peppigen deutschen Feuilletons, was der ehemalige Bildhauer und Holzfäller in steirischen Bars und Gastwirtschaften da so alles auf einmal in sich hineintrank.19

Nachrufe stellen jene Textsorte dar, welche bestimmte idealisierende Formen der biografischen Illusionierung quasi zur Poetik erhebt (oder doch zumindest dazu einlädt). In besonderer Weise gilt dies für Künstlernachrufe, die – wenn denn an einem Mythos, an einem Kanon gebaut werden soll – Ereignisse und Eigenschaften zu einem ganz speziellen Faden des Lebens verknüpfen: jenem des verkannten, früh vollendeten Genies. ›Wen die Götter lieben, der stirbt jung‹, heißt das geflügelte Wort nach Menander, »Only the good die young«20 wandelt es die Neue Vorarlberger Tageszeitung nach einem Song von Billy Joel ab und meint damit den tags zuvor verstorbenen Werner Schwab. Neben Alkohol und existenzieller Qual eignet sich eine prekäre Kindheit nicht schlecht, um einen künstlerlegendarischen Knoten zu knüpfen. Über seine Mutter Aloisia, eine fundamentalistisch gläubige Katholikin, die, verlassen von ihrem Mann, den Sohn unter schwersten Entbehrungen als Hausmeisterin und Putzfrau aufgezogen hatte, äußerte Schwab sich in Interviews (soweit es mir bekannt ist) nur einmal: Die Mutter, von der er annehme, dass sie noch nie in einem Theater gewesen sei, würde gar nicht in seine Stücke gehen, und er selber würde »sie auch nicht reinlassen«.21 Die Rolle der repressiv-bigotten Furie nach dem Zuschnitt der Präsidentin Erna stülpt man der Mutter erst nach Schwabs Tod über; besonders tun sich hier Helmut Schödel und Thomas Trenkler in ihren Nachrufreportagen hervor. Nichts auf der Welt hatte er mehr gehaßt als Weihnachten. Wie jedes Jahr, wenn Werner Schwab seine Mutter in der Grazer Eisteichsiedlung besuchte, stürzte die Vergangenheit mit all den Erinnerungen auf ihn ein, begrub ihn, 18

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Werner Schwab im Gespräch mit Wolfgang Bauer: Wolfgang Bauer & Werner Schwab. In: derzeit: Der Zeit (1993) 8, S. 4–7, hier S. 7. Matthias Pees: Der aus der Kälte kam. Zum überraschenden Tod des Dramatikers Werner Schwab. In: Berliner Zeitung vom 4. 1. 1994. Anonym: »Only the good die young« heißt es in einem älteren Song von Billy Joel. In der Neujahrsnacht starb in Graz der Dramatiker Werner Schwab mit 35 Jahren. In: Neue Vorarlberger Tageszeitung vom 4. 1. 1994. Werner Schwab/Roland Koberg (Anm. 8), S. 5.

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diesen Lackel von fast zwei Metern, unter sich. [. . .] Wieder litt er darunter, ohne Vater aufgewachsen zu sein, der sich einfach aus dem Staub gemacht hatte. Und wieder ekelte ihn vor der Frömmigkeit der Mutter, die alles duldete und den heiß geliebten Sohn, den einzigen, mit einer Hausmeisterei durchgebracht hatte. Dieses Jahr, im Dezember 1993, nahm er seine Geliebte, eine Maklerin und Germanistikstudentin, mit zur Mutter.22 Nicht weit vom Friedhof St. Peter liegt eine dieser grauen, gleichförmigen Reihenhaussiedlungen. Unten [. . .] wohnt eine Frau namens Wurm, im dritten Stock: Schwab. Das ist die Mutter. Sie sitzt auf einer Couch aus grünem Cord mit braunen Lederlehnen. An der Wand hängt ein Heiligenbild. Auf dem Couchtisch: ein Plätzchenteller. Es ist eine dieser Zwei-Zimmer-Küche-Wohnungen. Früher teilte Aloisia Schwab, geborene Konrad, Wohnstube und Schlafzimmer mit ihrem Sohn. Sie ist eine praktizierende Katholikin mit einer Tendenz zu Wallfahrten, und wenn ihr Sohn böse war, besprengte sie ihn mit Weihwasser. Fahr aus! Eine Welt aus Exerzitien und Exorzismus.23

Während Schwab die Mutter aus seinem autobiografischen PR-Projekt konsequent ausgeklammert hatte, betonte er regelmäßig (und nicht der Wahrheit entsprechend), der Vater, ein Nichtstuer, sei viermal verheiratet gewesen und hätte während der Nazi-Zeit im SS-›Lebensborn‹ Kinder gezeugt. Dass der »rotgschädlate Hausmastabua«24 (Schwab hatte als Kind rötliches, nicht blondes Haar) in der Schule verprügelt worden war, ist bei einer Unterschicht-Kindheit im Österreich der 1960er-Jahre mehr als wahrscheinlich, dass er die Beschädigung Zeit seines Lebens nicht tilgen konnte aus seiner Erinnerung, ebenfalls. Zugleich dient sie dem Journalismus wie auch ihm selber als weiterer Mosaikstein im Stigma- und Habitus-›Projekt Schwab‹. Und Graz ist ein steinhartes Pflaster. Ich bin dort in die letzten Prügelschulen gegangen und hab’ heute noch drei, vier Narben von dem, was ich von ein paar Professoren abgekriegt habe. Das hat mit dieser Provinzsituation zu tun. Ich bin einer der wenigen, die es gepackt haben. Ein paar Mitschüler von damals sind heute entweder tot oder im Knast. Die haben uns einfach systematisch fertiggemacht.25

Trunksucht und schreckliche, von den Abartigkeiten der NS-Zeit überschattete Kindheit reichen als symbolisches biografisches Kapital, man weiß es im kulturellen Feld ganz genau, noch nicht aus zur Positionierung einer Biografie als »Ko-

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Thomas Trenkler: »Ich bin der Dreck und das Gute«. Chronologie eines österreichischen Schicksals. In: Der Standard vom 6. 1. 1995, Album. Dann in: Gerhard Fuchs/Paul Pechmann (Anm. 3), S. 265. Helmut Schödel: »Ich bin der Dreck dieser Erde«. Das unglaubliche Leben des Dichters Werner Schwab. Nebst einem Tod in Graz und einem Nachspiel in Potsdam. In: Die Zeit vom 4. 11. 1994. Reißerisch auch Helmut Schödel: Seele brennt. Der Dichter Werner Schwab. Wien: Deuticke 1995. Laut Aloisia Schwab die Spottbezeichnung von Nachbarn und Lehrerinnen. Werner Schwab im Gespräch mit Elisabeth Loibl: Punk und Theater. Nach den »Fäkaliendramen« und den »Königskomödien« werden nun die Coverdramen erscheinen. Werner Schwab ist einer der erfolgreichsten und produktivsten Dramatiker Österreichs. In: Buchkultur (1993) 19.1, S. 54 und S. 56, hier S. 56.

»Gut, habe ich gesagt, mache ich halt auf berühmten Dichter«

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met«26 am Theaterhimmel oder als »Philosoph & Popstar«.27 Selbstpositionierungen tun Not, um die Konturen eines genialischen Theaterberserkers schärfer hervortreten zu lassen, autobiografische Äußerungen oder im besten Fall Entäußerungen über die Intentionalität der Stücke respektive das Verständnis der Rolle als Dichter und Theatermensch. Weit konsequenter als die meisten seiner Dramatikerkollegen wies Schwab alles von sich, was in die Nähe eines ›Themas‹, einer ›Intention‹, einer erzählbaren/deutbaren ›Handlung‹ kam. Der Inhalt ist sekundär. Das Mittel ist der Zweck. Zuerst kommt die Sprache, dann kommt der Mensch.28 Ich muß über das und das Thema – das ist immer falsch, wenn man das macht. Wenn man politisch schreibt, dann schreibt man am besten a[n] guten Essay, aber kein Theaterstück. Beim Hochhuth ist es ja so, daß er kein Theaterstück schreiben kann.29 Es wurde Ihnen vorgeworfen, daß Sie sich um die »aktuellen Probleme« nicht kümmern wollen. Geht ja nicht. Wenn man von einem »Thema« ausgeht, dann wird’s immer ganz ein scheußliches Theaterstück, oder meistens überhaupt keines. Man muß vom Material ausgehen, und sich fragen, was es kann. Und was ist für Sie das Ausgangsmaterial? Sprache, sonst gar nix. Wenn ich spazieren gehe und 50 Sätze zur Flüchtlingsproblematik höre, dann kann es natürlich sein, daß das irgendwann einmal reindampft. Aber das ist etwas anderes, als wenn ich das in den Nachrichten höre. [. . .] Und mit dem Wake up-Effekt geht schon gar nichts, weil das macht die Caritas ohnehin besser. [. . .] Mein Standpunkt ist viel menschenfreundlicher als der von den Leuten, die sagen: So, jetzt müssen wir die Menschen – man sagt immer ›die Menschen‹ – wachrütteln und ihnen das erklären. Der kann ihnen gar nichts erklären, weil die es mindestens so gut wissen wie er. Das ist das gleiche wie bei diesen Anti-Antisemitismus-Festivals: Da werden 20 Lieder gesungen, und die Anti-Antisemiten gehen rein und verbrüdern sich . . . Das ist völlig sinnlos: im eigenen Sud baden. Denen geht’s ja nur um sich selber, gar nicht um die wirklichen Antisemiten.30 Das Thema ist mir völlig egal, ob das nun die Neubearbeitung einer Donald-Duck-Story oder Ausländerfeindlichkeit ist. Für mich ist das alles sprachliches Material, das seine gesellschaftliche Bedeutung verloren hat und wie Abfall auf dem Schrottplatz herumliegt. Schrott, mit dem ich herumspiele. Das Theater als eine Art höherer Schrottplatz.31

Indem Schwab die Handlungslosigkeit, Themenlosigkeit, Botschaftslosigkeit auf seine Fahnen heftet, verficht er abermals ein altes künstlerisches Prinzip: jenes der Autonomie, das das Recht einfordert, die Grundsätze seiner Legitimität selbst zu 26

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Werner Schwab im Gespräch mit Sebastian Wohlfeil: Orpheus des Gekröses. Gespräch mit dem österreichischen Hochdramatiker Werner Schwab. In: Express (Wien) vom 30. 7. 1993. Werner Schwab/Elisabeth Loibl (Anm. 14), S. 140. Werner Schwab im Gespräch mit Sven Siedenberg: Erst die Sprache, dann der Mensch. Werner Schwab über sein Stück »Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos«. In: Süddeutsche Zeitung vom 25. 11. 1991. Vgl. Werner Schwab/Gudrun de Frenne (Anm. 17); Werner Schwab im Gespräch mit Lothar Lohs: Der Schrottplatz, auf dem ich spiele. In: Der Standard vom 23./24. 11. 1991. Werner Schwab/Roland Koberg (Anm. 8), S. 3. Werner Schwab/Lothar Lohs (Anm. 29), S. 13.

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definieren, das heißt mit den herrschenden Moralauffassungen und den herrschenden Kunstauffassungen zu brechen.32 Dazu zählt auch der gezielte Bruch mit politischer Korrektheit und Gesinnungskitsch in dem davon besonders affizierten Kulturbereich. Prompt warf man Schwab mit Verweis auf den Gebrauch von Wörtern wie ›Euthanasie‹, ›Endlösung‹, ›orales Pogrom‹, ›Untermensch‹, ›Auschwitz‹, ›Krüppel‹ oder auf sein Äußeres: groß, blond, Ledermantel, Schnürstiefel, vor, von oder nach rechts außen mit gewaltbereitem und selbstredend frauenfeindlichem Gedankengut zu sympathisieren.33 Zum Poète maudit, dem verfemten, in seiner Genialität verkannten und ausgeschlossenen Dichter, der alle bürgerlichen und selbst die geltenden künstlerischen Werte verachtet und an der Grenze zu Wahnsinn oder Tod nur für sein Kunstideal lebt, gehörte bis zum späten 20. Jahrhundert auch ein strikt antiökonomischer Gestus: Nach der generell im Feld der autonomen Kunst herrschenden Funktionsregel galten nämlich Freiheit, Interesselosigkeit, Selbstlosigkeit, Uneigennützigkeit, Großzügigkeit und Kühnheit als wertvollste Kapitalien und nicht das Geld.34 Mögen solche Formen des Selbstverständnisses und der Produktionsformen im künstlerischen Feld schon zu Lebzeiten Schwabs kaum noch mehr als aufgesetzt gewesen sein – so offen und laut wie Schwab sagten sich zu der Zeit wenige davon los. Von Beginn an spricht er in den Interviews vom Geld, das er mit den Stücken verdienen möchte, von den Auftragsdramen, mit denen man am allermeisten Geld verdienen könne – die »Tantiemen bringen ja nix . . . Auftrag ist das einzige, was sich auszahlt«35 –, von den Zinsen, von denen er hoffentlich bald leben könne.36 Trunksucht, schreckliche Kindheit, programmatische Mitteilungen über Schrott als Kunst und über das Geld aus Kunst: der öffentliche künstlerische Habitus ist nunmehr biografisch formiert. Schwab selber hat recht viel und recht systematisch zu diesem Image beigesteuert, dessen Funktionsweise er unter der Formel »Management + Legende + Text = Sieg + Spaß«37 zusammenfasste. Je mehr Image man liefert, desto weniger muß man mit Texten reagieren. Literatur ist halt gut, wenn man etwas Halbverruchtes so rüberhängen läßt.38

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Vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Aus dem Französischen von Bernd Schwibs und Achim Russer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, besonders S. 105. Vgl. Sigrid Löffler: Monstren, Gefühle und sieben Gerüchte. Werner Schwabs »Pornogeographie« beim »steirischen herbst« uraufgeführt. In: Süddeutsche Zeitung vom 5. 10. 1993; Karl-Markus Gauß: Einzelgänger im Gleichschritt. In: profil vom 10. 1. 1994. Vgl. Pierre Bourdieu (Anm. 32), besonders S. 218. Werner Schwab im Gespräch mit Ernst Molden: »Das verwest ja«. Vor der zweiten Schwab-Uraufführung am Schauspielhaus – ein Gespräch. In: Gegenwart Gegenwelt. Das Schauspielhaus [Graz] 2 (1991), S. 16–17, hier S. 17. Vgl. Werner Schwab/Gudrun de Frenne (Anm. 17). Werner Schwab im Gespräch mit Roland Koberg: »Herr Schwab, was ist eine Karriere?« Koberg am Apparat. In: Falter. Stadtzeitung Wien (1992) 14, S. 28. »Spielt man Sie zu Tode, Werner Schwab?« Mit dem Dramatiker Werner Schwab sprach Silke Müller. In: Wochenpost (Berlin) vom 18. 3. 1993.

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Vor drei Jahren hat mir jemand einen Tip gegeben: ›Du könntest ja auf berühmten Dichter machen.‹ Gut, habe ich gesagt, mache ich halt auf berühmten Dichter. Das klingt zwar blöd, aber im Grunde war es nicht anders.39 Herr Schwab, was ist eine Karriere? So genau will ich das gar nicht wissen. Man gibt jemandem einen Theatertext, der findet ihn gut und legt ihn wieder weg. Und dann tauche ich persönlich auf, er sieht, daß ich 193 Zentimeter groß bin und sagt dann: Jetzt machen wir dein Stück. Das ist eine menschliche Schwäche, das ist lächerlich. Als ganz junger Mensch glaubt man, man braucht nur was Gutes machen und das ist drinnen. Irrtum. Heute bringe ich es auf die Formel: Management + Legende + Text = Sieg + Spaß. Die Legende hat das deutsche Feuilleton aufgebaut, die haben Spaß an einer Figur, wie ich es bin, weil sie meinen, sie kriegen da etwas Kulturelles zurück, was sie bis jetzt nicht haben. Und weil sie endlich wieder einmal ›der blonde Hüne‹ schreiben dürfen. Wäre ich 1,60 groß, fett, mit Glatze und runder Brille, würde mindestens ein Drittel meines Erfolges wegfallen.40

Die Mechanismen der Habituspflege und analog dazu die Mechanismen der journalistisch angeheizten Theatermaschinerie mit einem Stigma(management) von Prostitution und Promiskuität zu vergleichen, liegt zumal bei einem Autor von hochgradig sexuell, skatologisch und obszön aufgeladenen Stücken mehr als nahe. Schwab selber spricht in dem Zusammenhang unverblümt wie immer vom »Arschverkaufen«, und als sein Gegenüber, der Dramatiker Wolfgang Bauer, fragt: »Was heißt ›Arschverkaufen‹?« erläutert er: »Ich meine damit ›die Figur als ganzes verkaufen‹. Wenn sie schreiben vom ›blonden Hünen‹ mit der ›Punkfrisur‹, obwohl das ein völliger Blödsinn ist und man sieht, wie weit die hinten sind, die wissen nicht einmal, was eine Punkfrisur ist«.41 Es ist, das grenzt sie ab von der Pornografie der Versandhäuser und des Rotlichtmilieus, eine Pornografie der Verwesung und der Vergewaltigung: ein schreckenerregendes Gegenbild der Pornografie, nicht aber funktionsverschieden von vergnüglicher Normalpornografie. Der Rest war nicht die Lust am endlich vorhandenen Geld, sondern der scharfsichtige Ekel vor dem Theaterbetrieb und seinen journalistischen Claqueuren. Lüstern fassten sie Schwabs theatrale Höllen und Monster als Habitus-Stilisierungen auf, beklatschten die darin waltende Pornografie und ergötzten sich an den biografischen Stigmata, die Schwab ihnen bot. Zu Schwabs traurigsten Erfahrungen zählte vermutlich die Einsicht, dass dieser Betrieb alles schluckt und verdaut – jeden noch so grellen Tabubruch, jedes noch so radikale Rebellentum. »Verdaut wird alles. Auch ein Artaud ist verdaut worden.«42 Theater, folgert der Autor, sei schlicht »das reaktionärste Medium«43 überhaupt. Sie inszenieren sich als Journalistenalptraum und Bürgerschreck, warum? Ich schrecke doch niemanden mehr. Ein Journalistenalptraum bin ich auch nicht. Hinterher finden mich viele ganz reizend.44 39 40 41 42 43 44

Werner Schwab im Gespräch mit der Leipziger Volkszeitung (Anm. 1). Werner Schwab/Roland Koberg (Anm. 37), S. 28. Werner Schwab/Wolfgang Bauer (Anm. 18), S. 7. Werner Schwab/Sebastian Wohlfeil (Anm. 26), S. 7. Werner Schwab/Sven Siedenberg (Anm. 28). Werner Schwab/Silke Müller (Anm. 38).

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Ist es nicht erschreckend, daß man irgendwann richtig zum Establishment gehört? Das gehört man als böser Bub genauso. Es verändert sich ja nix dabei. Man kriegt von den gleichen Leuten das Geld – als böser Bub wie als Klassiker.45 Der Staat ist blöd genug, daß er das finanziert, und deswegen mach’ ich das Spielchen halt.46 Sonst mache ich, soweit es nur irgendwie geht, soviel kaputt, wie nur irgendwie geht. Aber nie das Medium. Das wäre Unsinn, dann kann ich’s lassen. Es ist sinnlos zu versuchen, was anderes daraus zu machen. Theater ist offenbar ein komisches, nicht tötbares Medium, was unheimlich Reaktionäres seiner Struktur nach – und darauf hat man Rücksicht zu nehmen. Sonst macht man halt Performance Art in einer Galerie. Das Medium ist das Medium, und das kann bestimmte Dinge, und das hat man dann zu bedienen.47 Theater ist sowieso – neben Malerei – das reaktionärste Medium, das es überhaupt gibt. Da handelt man mit Menschenfleisch, und das ist anfällig.48

Was das Verhältnis zwischen Schwab und dem Staats-Theaterbetrieb, Schwab und dem Publikum noch weit stärker als stigma-politisch ausweist als der pekuniäre Konnex zwischen dem Tabubruch auf der Bühne, der Person des Rabauken und dem lustvollen Erschauern in Presse und Zuschauerraum, hat der Autor selber ganz genau benannt – in seinem Stück Pornogeographie wie auch seinen Erläuterungen dazu. Pornographie ist, wenn man sich konsumierenderweise etwas aneignet, ohne sich im geringsten darauf einzulassen, und nur Deckungsmomente mit seiner eigenen Struktur sucht, den eigenen Beschädigungen. Durch dieses Suchen nach Deckungsgleichheit streicht man automatisch die Identität des anderen durch. Bei Sado-Maso sind die Personen bis zur Unkenntlichkeit vermummt. Pornographie hat immer mit Macht zu tun, mit der Macht des Blickes. [. . .] In eine solche Situation kann man sehr unfreiwillig hineinschlittern. Man gibt sich selbst zum Blickabschuß frei.49

Der »Blickabschuß« war 1993 vollzogen: Werner Schwab war tatsächlich ein Star, es ging die Rede von gleichzeitigen Aufführungen an 45,50 an 50,51 an 7052 Bühnen europaweit. Er trug jetzt nur mehr Seidenhemden,53 und da Fotos von ihm jetzt auch in Organen wie Bild, der Berliner Zeitung oder der Neuen Kronen Zeitung erschienen, wurde Schwab überall wieder erkannt. Du bist einfach ein berühmtes Arschloch irgendwann einmal und Schluß, und ich mag einfach nicht mehr so. Ich mag einfach nicht auf der Straße angequatscht werden, in Hotels angequatscht werden. Es macht mich auf unglaubliche Weise müde.54 45

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Werner Schwab im Gespräch mit Thomas Trenkler: »Irgendwie so ein komischer Geniebetrieb«. Ein Gespräch mit Werner Schwab im Oktober 1992 über das Theater und manch anderes. In: Gerhard Fuchs/Paul Pechmann (Anm. 3), S. 9–32, hier S. 11. Werner Schwab/Elisabeth Loibl (Anm. 14), S. 141. Werner Schwab/Elisabeth Loibl (Anm. 25), S. 56. Werner Schwab/Sven Siedenberg (Anm. 28). Werner Schwab/Thomas Trenkler (Anm. 45), S. 11. Werner Schwab/Gregor Edelmann (Anm. 16). Thomas Trenkler (Anm. 22), S. 266. Helmut Schödel (Anm. 23), S. 54. Mitteilung von Aloisia Schwab und Ingeborg Orthofer. Werner Schwab/Gudrun de Frenne (Anm. 17).

»Gut, habe ich gesagt, mache ich halt auf berühmten Dichter«

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Mit der Zeit ist es so, daß man sich wirklich zu ›verhalten‹ beginnt, jetzt auch im Wirtshaus und so, weil in jedem Wirtshaus sitzt irgendein Arschloch, das kommt – wie hast denn das g’macht und eine tolle Karriere und so – und dann ist eh schon wieder das Gleiche. Du gehst mit privaten Absichten in ein Wirtshaus und wirst auch wieder interviewt, ganz egal, ob der ein Mikro hat oder nicht. Lebenstechnisch ist es eine absolute Verschlechterung.55

Nach und nach mag es Werner Schwab ergangen sein wie seinem Pornodarsteller aus Pornogeographie, der einmal hervorstößt: Ich will das alles nicht mehr so. Ich will das alles nicht mehr so. Ich will das alles nicht mehr so. Er bricht zusammen. Die junge Frau lacht laut auf.56

Salopp gesprochen, sind die stigma- als habituspolitische ›Schwab-Maschine‹ und das komplementäre ›Projekt Schwab‹ von Schwab selber zu Selbstläufern geworden – »The King is gone, but he is not forgotten«,57 tönte es 1994 aus Theater heute, und zehn Jahre nach dem Tod des Autors bekräftigte dasselbe Organ: »So soll es wieder sein«.58 Ein nach außen hin auf Pop und Punk und unterschwellig auf Porno abgestelltes Habitusmanagement begräbt vieles unter sich, was als ›biografisch‹ wohl auch dem Illusionären anheimfallen mag, doch die Person womöglich entzerren hilft und ihr gerechter wird als reißerischer Topos, Typus und Karikatur. Gemeint sind die vermeintlich ganz privaten Sichten auf Werner, den Sohn, Werner, den Buben der Bedienerin, Werner, den Kollegen, Nachbarn und Lebensmenschen. Aloisia Schwab lebt nach der Trennung, der Mann bezahlt fast nichts, in großer Not. Da die Hausleute es verbieten, das Kind in die Arbeit mitzubringen, muss sie Werner für einige Monate in Pflege geben: ›Das Elend ist schon von Anfang an gewesen [. . .]. Die ersten drei Jahre waren zum Verzweifeln schwer, ich kann es gar nicht sagen!‹59 Wenn ich gewaschen habe, sind mir die Ratten bei den Füßen vorbei gerannt auf der Stiege, so viele Ratten sind da gewesen. [. . .] Da habe ich in der Früh hinauf müssen [. . .] um sieben, und dann [. . .] bis eins arbeiten, und hab nur einmal kurz in das Kellerzimmer schauen können, dass ich ihm eine Kleinigkeit habe geben können. Und dick eingemacht habe ich ihn, da habe ich einen dicken Schlafsack gemacht, da habe ich ihn drinnen gehabt den Buben . . . weil Heizen ist eine große, große Gefahr gewesen [. . .] Einmal habe ich im Steigenhaus gekehrt, habe ich mir gedacht, ich schau kurz hinunter, bin eh schnell hinunter gerannt. Jetzt hat da das kleine Bübel da . . . Die Asche hat er schon heraußen gehabt, und das Türl oben aufgemacht, und die Glut hat heraus geschaut. Um Gottes Willen, im letzten Moment habe ich das Kind erwischt, was da passieren hätte können. 55 56

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Werner Schwab/Wolfgang Bauer (Anm. 18), S. 6. Werner Schwab: Pornogeographie. Sieben Gerüchte. In: W. S.: Dramen. Bd. III. Graz: Literaturverlag Droschl 1994, S. 135–196, hier S. 172. Aufführungen und Spieler des Jahres. 42 Kritiker nennen Höhepunkte der Saison 1993/ 94. In: Jahrbuch der Zeitschrift Theater heute (1994), S. 50–62, hier S. 52. Andreas Beck: Eine Schwab-Entzündung. Kathrin Röggla, Franzobel, Bernhard Studlar, Robert Woelfl zum 10. Todestag von Werner Schwab. In: Jahrbuch der Zeitschrift Theater heute (2003), S. 165–166, hier S. 165. B. M.-K. im Gespräch mit Aloisia Schwab, Mutter von Werner Schwab, Graz, 19. 2. 2004.

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Habe ich mich gar nicht heizen getraut, wenn ich nicht da war, nur so dick eingedreht. Es war zwar nicht kalt, es war so ein Winkel ein warmer, Gott sei Dank!60 Und beim Flötespielen als Kind, wie hat der kleine Werner sich denn beim Flötespielen angestellt? Wie gesagt, also ganz sanft, und gehaucht nur, wenn er geredet hat. Ich stelle mir vor, dass er ein sehr ernster Mensch war. Ein ernster und eher unglücklicher Mensch. [. . .] Und ich habe den Eindruck, dass er nicht verkraftet hat, wie Menschen, die eigentlich mehr Macht haben als er, wie sie, erst einmal durch seine soziale Stellung und durch das Kindsein, wieso . . . wieso die Druck ausüben auf ihn. Er war ständig unter Druck eigentlich. [. . .] Unter Druck, unter Druck war er ständig. Und ständig die Not der Mutter gespürt, nicht. Ständig diese Not. Warum? wird er sich gedacht haben.61 Motormäher gmäht hat er, da haben wir ja dort drüben, Sie wissen es vielleicht ja, wo wir den Acker haben ghabt, dort haben wir gemäht einmal, ist er durch obi gegangen. ›Geh’ hör auf‹, hat er gesagt, ›des ist nix für di, geh’ weg!‹ hat er gsagt und hat er den Motormäher genommen und hat das ganze Gras weggemäht, hat er, ja [. . .] Er hat uns viel geholfen, viel, na da ent ham wir einmal Heu ghabt, ich hätt’s [. . .] sollen aufitragn gen. ›Geh weida‹, hat er gesagt, ›des is ja nix für di‹, und hat er alles aufitragn. Und so hat er uns wirklich viel geholfen.62 Und der Schwab war also des Öfteren bei mir auf Besuch, und wirklich kennen gelernt haben wir uns dann näher, wir sind miteinander zu einer Buchmesse geflogen, [. . .] da haben wir intensiv geredet und ich bin draufgekommen, dass er eigentlich in Philosophie sehr beschlagen ist. Wir haben miteinander über Heidegger geredet, und er . . . und dann über Literatur. Und das war wunderbar angenehm und er war dann sehr oft bei uns auf dem Stand. [. . .] Wir haben dort in Zusammenhang mit dem Residenz Verlag eine Lesung gehabt zu zweit, er und ich. Er war natürlich betrunken und, wie immer bei diesen Dingen, und ist vor allem sehr heftig von Frauen verfolgt worden.63 Beim Werner haben sie auch jetzt gesagt, ein lungenkrankes Kind. Sie haben wohl viel Blödsinn zusammengeschrieben.64 Und das ist auch ein Blödsinn, wie sie da geschrieben haben, sein Vater war so eine Art . . . ein Hitler, Volkserzeuger. Wie ich das auch nennen soll? Vom Lebensborn? Ja. [. . .] Das ist grauslich gewesen, da habe ich mich geärgert, habe ich gesagt: ›Was schreibt ihr denn für einen Unsinn, das ist bestimmt nicht gewesen, bestimmt nicht!‹65 Habt ihr viel gelacht miteinander? Ja, total, er war irrsinnig witzig, er war irrsinnig witzig, also er war echt irrsinnig witzig. [. . .] Das ist unglaublich, ja (lacht). [. . .] Also er war sich selber immer schon Material irgendwie, nicht. Das war ganz trivial, zum Beispiel beim Kind, wo er einfach Geschichten erzählt hat, die einfach irre waren und die so witzig waren, die so ganz im Unterschied zu dem zutiefst schwermütigen Menschen waren, der er war. Und drum habe ich 60 61

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B. M.-K. im Gespräch mit Aloisia Schwab, Graz, 16. 2. 2004. B. M.-K. im Gespräch mit Heidrun Runge, in deren Haushalt Aloisia Schwab arbeitete und die Werner Schwab Flötestunden gab, Irdning/Obersteiermark, 16. 8. 2004. B. M.-K. im Gespräch mit Josefa Trink, Nachbarin Werner Schwabs in Kohlberg, Kohlberg/Oststeiermark, 10. 6. 2004. B. M.-K. im Gespräch mit Alfred Kolleritsch, Graz, 31. 1. 2006. B. M.-K. im Gespräch mit Aloisia Schwab (Anm. 60). Ebd.

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gemeint witzig, er war nicht in dem Sinn witzig, daß er Witze gemacht hat, ja, sondern er war ein zutiefst schwermütiger Mensch, aber [. . .] Das war so erfrischend, seine Geschichten waren so einfach und so unglaublich, das war das reinste Vergnügen. In dem Moment, wo man das irgendwie kapiert hat, dass es da nicht um sogenannte objektive Wahrheiten geht, und man sich diese moralischen Fragen nicht stellen braucht . . . Es war unfassbar, es war wirklich ein inspirierendes, pures Vergnügen.66

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B. M.-K. im Gespräch mit Ingeborg Orthofer, Ehefrau von Werner Schwab, 24. 8. 2005.

Uta Degner (Berlin)

Die Kinder der Quoten Zum Verhältnis von Medienkritik und Selbstmedialisierung bei Elfriede Jelinek

Aus dem Fernseher sprechen die vielen Stimmen und Bilder, die die Welt umkreisen, ohne sie je zu verstehen, denn sie umkreisen in Wirklichkeit nur die Macht, der sie dienen, immer, und ihr Zweck ist, daß wir uns mit dieser Macht abfinden, indem man sie uns unaufhörlich, aber nur scheinbar erklärt. Die Macht erklärt sich dort, und zwar immer selbst, sie duldet nicht, daß sie ein andrer erklärt, und indem sie sich erklärt, bewundert sie sich selbst, und was ist dieser Selbstzweck? Daß wir uns mit ihr abfinden, denn der Fernseher erklärt sie uns als etwas Unabweisliches und Unabwendbares. Die Geschichte nimmt ihren Gang, und dieser Gang mündet im Fernsehzimmerchen, das eben: sehr klein ist. So einen langen Gang hätte man nicht machen müssen, um zu wissen, wie die Macht sich selbst definiert. Sie sagt schlicht: Ich bin die Macht, ich bin so und so, das können Sie nicht ändern. Es darf nichts gefragt werden, denn unser Fernseher antwortet nicht, außer er stellt eine Zuseherfrage an uns.1

Dieser Ausschnitt aus einem »In Mediengewittern« betitelten Text aus dem Jahr 2003 veranschaulicht eine dominante und erstaunlich kontinuierliche Determinante im Werk Elfriede Jelineks: die Beschäftigung mit medialer Macht. Bereits Jelineks Frühwerk, angefangen bei den Romanen wir sind lockvögel baby! (1970) und Michael. Ein Jugendbuch für die Infantilgesellschaft (1972), offenbart die analytische Aufmerksamkeit der Autorin für die gesellschaftlichen Funktions- und Wirkungsweisen der zeitgenössischen Medienkulturen, deren »[G]ültigkeit« hinterfragt werden soll, wie das poetische Manifest Wir stecken einander unter der Haut. Konzept einer television des innen raums 1970 formuliert: »das warten auf die umprogrammierung der offiziellen rundfunk & fernseh stationen beenden und zuerst mit eigener strategie dieses patriarchat auf seine gültigkeit abklopfen«.2 Wie die Zuerkennung des Nobelpreises 2004 beweist, begleitet diese kritische Haltung gegenüber den modernen Massenmedien jedoch eine besondere Geschicklichkeit dabei, ein kaum bestsellertaugliches Œuvre erfolgreich zu medialisieren, was den Fall Jelinek für die Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten der Medialisierung von Literatur besonders interessant werden lässt. 1999 setzte der Rowohlt Verlag den merkwürdigen doublebind von Medienmachtkritik

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Elfriede Jelinek: In Mediengewittern. Zitiert nach: http://www.elfriedejelinek.com. Der Text entstand für: Deutscher Bühnenverein/Bundesverband Deutscher Theater (Hg.): Muss Theater sein? Fragen – Antworten – Anstöße. Red. Ulrich Khuon. Köln: Deutscher Bühnenverein/Bundesverband Deutscher Theater 2003, und erschien dort unter dem Titel »Leider gleich ein kleiner Essay«, S. 28–32. Elfriede Jelinek: Wir stecken einander unter der Haut. Konzept einer television des innen raums. In: protokolle 1 (1970), S. 129–134, hier S. 129.

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und machtvoller Selbstmedialisierung mittels einer kongenialen Anzeige ins Bild (Abb. 1).3 Die Präsentation von Fernsehern erinnert jede Leserin und jeden Leser Jelineks an den immensen thematischen wie formalen Stellenwert, den die modernen Massenmedien, allen voran das Fernsehen, von Anfang an in ihrem Werk einnehmen. Die installationsähnliche Anordnung der Fernsehgeräte weist jedoch noch auf einen weitergehenden Aspekt, nämlich Jelineks produktive Funktionalisierung des Fernsehens. Im Fragebogen der FAZ beantwortete sie 1984 die Frage danach, wo sie leben möchte, mit: »Vor dem Fernseher«, nennt »Fernsehen« als ihre »Lieblingsbeschäftigung« und quittiert das Interesse danach, was für sie das größte Unglück wäre, mit der lakonischen Floskel »Fernseher kaputt«4 – ein Statement, das wohl sowohl ironisch als auch produktionsästhetisch zu verstehen ist. Denn bei aller Kritik an der Medienmacht zeigt sich Jelineks Literatur zugleich äußerst durchlässig für deren ästhetische Operationsformen. Die formale Besonderheit ihres Romanerstlings wir sind lockvögel baby! zeichnet sich durch den völligen Verzicht von erzählerischer Distanz gegenüber dem verarbeiteten Material aus, das zum Großteil den zeitgenössischen Fernseh- und Comicwelten entstammt und vorderhand mit einem affirmierenden Gestus präsentiert wird;5 erst die groteske Überzeichnung und entstellende De- und Neukontextualisierung lassen eine kritische Textintention vermuten.6 Der Stil eines »Nachsprechen[s]«7 , 3 4 5

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Abgedruckt in: DU 700 (1999): Schreiben. Fremd bleiben. Elfriede Jelinek, S. U2. Fragebogen Elfriede Jelinek. In: FAZ-Magazin vom 13. 7. 1984, S. 23. Vgl. hierzu: Marlies Janz: Elfriede Jelinek. (Sammlung Metzler 286) Stuttgart: Metzler 1995, S. 1–30; Katharina Langhammer: Fernsehen als Motiv und Medium des Erzählens. Elfriede Jelinek. In: Jörg Döring u. a. (Hg.): Verkehrsformen und Schreibverhältnisse. Medialer Wandel als Gegenstand und Bedingung von Literatur im 20. Jahrhundert. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 187–204, hier S. 191: »Zwar verfremdet Jelinek die aus den Massenmedien übernommenen Diskurse, doch das Neue ihres Romans besteht gerade darin, dass diese Manipulationen sich in deren Tonfall einpassen. [. . .] ›wir sind lockvögel baby!‹ bildet ein geschlossenes System der Trivialität, ohne eine der Literarizität verpflichtete Metaebene einzuführen.« Im Anschluss daran Norbert Niemann: »Selber das Fernsehen werden, das wär’s«. Zappen statt leben. Elfriede Jelinek stellt das Fernsehbild scharf und führt so vor, wie die Gesellschaft sich verdummen läßt. In: DU 700 (1999) (Anm. 3), S. 37–39, hier S. 39: »Die beeindruckende Fülle formaler, ästhetischer Innovationen in diesen frühen Texten rührt unter anderem daher, dass Elfriede Jelinek sich nicht bloss auf ein damals literarisch noch völlig unerschlossenes Material einlässt, sondern ihre Sprache fast ganz aus eben diesem Material destilliert.« Aus der formalen Ambivalenz gleichzeitiger Adaptation und Kritik konnte, so Norbert Niemann, »die Fehleinschätzung« entstehen, bei Jelineks Romanerstling handele es sich um ›Popliteratur‹; vgl. Norbert Niemann (Anm. 5), S. 38: »Zwar erfüllt Jelinek scheinbar das Warholsche Credo der reinen Oberfläche, aber nur zum Zweck ihrer unermüdlichen Sabotage. Denn sie benützt die Pop-Kultur bereits.« Walter Klier: »In der Liebe schon ist die Frau nicht voll auf ihre Kosten gekommen, jetzt will sie nicht auch noch ermordet werden« (Über die Schriftstellerin Elfriede Jelinek. In: Merkur 41 [1987] 5, S. 423–427, hier S. 427); vgl. auch: »Hier wird weniger erzählt [. . .] als vielmehr nachgesprochen: die Autorin sucht den Gegenstand in seiner Sprache auf und vertraut sich [. . .] dieser Sprache und ihren Automatismen an« (ebd., S. 424).

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der seine Sprache ganz aus dem medialen Material gewinnt, führt noch in späteren Texten zu einem Erzählen gleichsam ›aus zweiter Hand‹, das von vorgefundenen Phrasen und Topoi, sowohl der ›niederen‹ als auch der ›hohen‹ Kultur, ausgeht. Jelineks »Fernsehkritik«8 ist damit im Unterschied zur ›klassischen‹ Kritik an der sogenannten ›Bewusstseins-Industrie‹, wie sie beispielsweise der junge Enzensberger betrieb, weniger normativ als induktiv; sie propagiert eine im übertragenen kantischen Sinne die Bedingungen der Medien reflektierende Position gegenüber einer pauschalen Ablehnung. Denn: Eine neutrale Position ›außerhalb‹ der »Realität der Massenmedien«9 gibt es ihrer Poetik zufolge nicht. Eine literarisch angemessene Reaktion kann nach Jelinek daher nicht darin bestehen, die Medialisierung von Welt durch die Massenmedien zu ignorieren und eine ›Erstlingshaltung‹ einzunehmen, wie sie es an der Poetik Handkes kritisiert: »Diese Illusion kann ich mir eigentlich nicht mehr erlauben, in einer Erstlingshaltung, in einer Naivität, als ob das nicht schon tausendmal im Fernsehen gezeigt worden wäre, zu beschreiben, wie irgendwo Schneeglöckchen zwischen dem Schutt herauswachsen.«10 Jelinek geht literarisch stattdessen einen entgegengesetzten Weg; wohl kaum ein anderes Werk deutscher Sprache profitiert in solch hohem Umfang vom Material der Massenmedien. Die ›Macht‹, welche ein Medium wie das Fernsehen Jelineks Überzeugung zufolge über die Bewusstseinsbildung seiner Konsumenten hat, wird in ihren Texten poetisches Prinzip: Protagonisten wie Erzählstimme sind von einer massenmedialen Macht erfasst, die unhintergehbar ist. In der Auflösung einer traditionellen Erzählerfigur und der ästhetischen Absolutsetzung des den Massenmedien ›ausgemolkenen‹ Materials11 wirkt dessen »Program8 9

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Katharina Langhammer (Anm. 5), S. 188. So das gleichnamige Buch von Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien. Opladen: Westdeutscher Verlag 21996, S. 9: »Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.« Zu einem ähnlichen Befund wie Luhmann kommt auch Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. München, Wien: Carl Hanser 1998, S. 171–173: »Es ist nicht mehr auszuschließen, daß die aus Blättern und Bildschirmen gezogene Wirklichkeit die unvermittelt angeschaute schon dominiert. Ein maßgeblicher Teil der sozial wahrgenommenen Wirklichkeit ist im höchsten Maße synthetisch, nämlich für den Einsatz im Kampf um Beachtung eigens hergestellt. Diese Machart wird weder verleugnet noch verdrängt. Die Leute wissen um den präformierten und fiktiv durchsetzten Teil dessen, was ihnen die Medien vorsetzen. Es ist nur naiv zu glauben, Fakt und Fiktion seien so einfach voneinander zu unterscheiden. [. . .] Wir übersehen zu oft, daß nicht das die unmittelbare Wirklichkeit ist, was wir als Ansammlung von faßlich festen Dingen wahrnehmen, sondern das, was die Aufmerksamkeit aus den Reizen macht, die unsere Empfindsamkeit anregen. Alles, was jenseits dieser elementaren Schicht der Merksamkeit zutage kommt, ist immer schon ausgewählt und unter Zutun geformt.« Gunna Wendt: »Es geht immer alles prekär aus – wie in der Wirklichkeit«. Ein Gespräch mit der Schriftstellerin Elfriede Jelinek über die Unmündigkeit der Gesellschaft und den Autismus des Schreibens. In: Frankfurter Rundschau vom 14. 3. 1992, S. ZB3. So heißt es noch in Elfriede Jelinek: Die Kinder der Toten. Reinbek: Rowohlt 1995, S. 249: »Die Leute haben Teller an ihren Häusern angebracht, um auch diese Nacht wieder gründlich auszumelken, Stimmen und Bilder wie aus einem Euter in ihre Wohnungen

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mierungscharakter«12 (scheinbar) auch literarisch weiter. Jelinek irritiert damit herkömmliche Poetiken, sie »schafft das heilige Prinzip von der eigenen Sprache des Dichters ab«13 und »grenzt sich [. . .] [damit] gleichzeitig von traditioneller wie von avantgardistischer Ästhetik ab, deren Gemeinsamkeit darin besteht, Originalität und Innovation als unhintergehbare Kategorien wahrhaftiger Kunst zu werten.«14 Den kritischen Impuls gegenüber der massenmedialen Logik, der in Jelineks Texten bei aller formalen Adaptation gleichwohl immer hörbar ist, spiegelt die Rowohlt-Anzeige in dem beigesetzten Zitat: »Ich bin im Grunde immer tobsüchtig über die Verharmlosung.«15 Mit »Verharmlosung« ist wohl sowohl ein Prinzip der medialen Informationspolitik gemeint als auch eine – sei es affirmierende, sei es ignorierende – zweite Verharmlosung dieses verharmlosenden Effekts seitens der repräsentativen Öffentlichkeit. Jelineks Poetik speist sich aus einem umgekehrten Impuls und entwickelt die Utopie einer literarisch (um)gelenkten Aufmerksamkeit weg von den Bildinhalten hin auf die Wirkmechanismen der medialen Maschinerie. Ein solcher Aufmerksamkeitsshift soll deren Programm zum Bewusstsein bringen, die Verharmlosung aufheben und solcherart eine zumindest intellektuelle Dominanz ausbilden.16 Zur Frage, wie dies literarisch funktionieren soll, findet sich bereits in Jelineks zweitem Roman Michael. Ein Jugendbuch für die Infantilgesellschaft, der neuerlich maßgeblich von zeitgenössischen Fernsehserien inspiriert ist, ein Hinweis. Dort

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rinnen zu lassen, und die ersten Kainszeichen flammen bereits auf, denn es wird heut wieder spät werden. Die ersten Werbestimmen, die doch so sicher in sich ruhten, werden, mitten im Aufschrei (die Werbung ist immer lauter als der sie umgebende VorabendSerientäter Film!) weggezappt, Millionen wollen einmal schauen, was derweil in einem andren Abwasser-Kanal los ist.« Norbert Niemann (Anm. 5), S. 39. Walter Klier (Anm. 7), S. 424. Katharina Langhammer (Anm. 5), S. 191. Anm. 3, Abb. 1. In dem bereits zitierten Text »In Mediengewittern« (Anm. 1) heißt es zu ihrer Theaterarbeit: »[D]ort versuche ich, den Ausblick auf diese Macht, die uns beherrscht, wie soll ich sagen: herauszulösen. Wie man ein Tier ausbeint. Ich kann ja auch nichts an der Macht ändern, aber ich kann die Wesen wie Blitze auf die Bühne schleudern, aus der Enge eines Apparats heraus, aber auch aus Zeitungsartikeln, Büchern, aus mir selbst. Jedenfalls soll eine Art Denken, also ein Fragen, das nicht auf seine Beantwortung besteht, daraus entstehen, aus dem, was ich da auf die Bretter werfe [. . .]. Der Fernseher antwortet nur. Ich frage nur. Ich frage ja nur. Das werde ich doch wohl noch dürfen! Die Wesen auf der Bühne fragen ebenfalls, alle durcheinander. Man versteht, im Gegensatz zum braven Fernsprecher, kein Wort, aber aus dieser Vielstimmigkeit, die scheinbar alles erklärt, bevor noch gefragt wurde, werden plötzlich nichts als Fragen, noch viel mehr Fragen, obwohl eben scheinbar nur Antworten gegeben werden. [. . .] Auch durch mich werden Sie sie [die (mediale) Macht, U. D.] nicht verstehen, aber Sie werden zumindest sehen, daß sie da ist. Eine graue, grauenhafte Anwesenheit, die Macht. [. . .] Die Macht herrscht nicht mehr über die ganze Welt, sondern nur noch über einen abgegrenzten Raum, und daher kann man anfangen, mit ihr zu spielen.«

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wendet sich eine Erzählstimme als »Sozialisationsagentur[. . .]«17 ganz im Gestus fernsehhafter Vertrautheit an ein Publikum: na IHR! wenn ihr je in einem schönen heim für lehrlinge schlimme kinder oder so gewesen seid dann wisst ihr natürlich dass dort jeden tag einer mit dem rücke/n zum fernseher knien muss. das ist dort eine beliebte strafe. keinem fällt das mehr so richtig auf. wenn ingrid dasselbe tun muss dann fällt es euch auf. erstens weil ingrid nicht in so einem heim lebt sondern bei ihrer mutti zu hause und zweitens weil ingrid in einem BUCH mit dem rücken zum tv apparat knien muss. wenn etwas aufgeschrieben ist dann wirkt es gleich viel är/ger. wenn jemand dasselbe leise tut dann wirkt es weniger arg. natürlich wird die sache durch das aufschreiben nicht ärger. es tut ingrid ganz gleich weh (weh) egal ob es jetzt aufgeschrieben wird oder nicht. das knien mit dem rücken zum fernseher tut immer weh.18

Die Deutungshoheit der Literatur wird in dieser Passage durch die selbstreferenzielle Erwähnung des Mediums »BUCH« bezeichnet. Der lupenhafte Vergrößerungs- und Vergröberungseffekt des Buches, dieses Buches namens Michael, spiegelt sich sowohl in der Großschreibung des Wortes – was in dem sonst konsequent in Kleinschreibung gehaltenen Text besonders auffällt – als auch in seiner Zentrierung fast exakt in der Mitte der Textpassage. Der gestische19 Effekt der literarischen Darstellung reproduziert sich in der gleichsam zeigenden Verdoppelung des »weh (weh)«. Ein darin impliziertes Provokationspotenzial zeigt sich in der komparativischen Formulierung »wirkt [. . .] gleich viel är/ger«, deren Komparativ sich auch als Substantiv lesen lässt, im Sinne von ›bewirkt gleich viel Ärger‹. Gegenüber der angekreideten Verharmlosung strebt Jelineks Werk sozusagen nach einer ›Verärgerung‹, bei der gerade die ›Programmierung‹ des literarischen Textes durch die Fernsehästhetik, das Zitieren derselben im literarischen Text, die »trivialmüten«20 des Fernsehens unterbricht und dessen implizite Funktionsweise (nach Jelinek: ein Mittel gesellschaftlicher Dominierung) aufdeckt. Wie in der Passage aus Michael das BUCH, so steht auch in der Annonce des Rowohlt Verlags letztlich die spezifische Poetik Jelineks im Fokus der Aufmerk17

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Sibylle Späth: Im Anfang war das Medium . . . Medien- und Sprachkritik in Jelineks frühen Prosatexten. In: Kurt Bartsch (Hg.): Elfriede Jelinek (Dossier 2). Graz, Wien: Droschl 1991, S. 95–120, hier S. 113. Elfriede Jelinek: Michael. Ein Jugendbuch für die Infantilgesellschaft. Reinbek: Rowohlt 2004 (EA 1972), S. 113. Die durch Schrägstriche getrennten Wörter indizieren im Original einen Zeilenumbruch ohne Trennstrich. ›Gestisch‹ ist hier durchaus im Brecht’schen Sinne gemeint, wie überhaupt ein Teil von dessen Darstellungsprinzipien in Jelineks Poetik fortgeführt zu werden scheint, was freilich einer genaueren Untersuchung bedürfte. Zum Gestus vgl. den Abschnitt »Der zitierbare Gestus« in: Walter Benjamin: Was ist das epische Theater? In: W. B.: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972ff. Bd. 2,2: Aufsätze, Essays, Vorträge. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 519–539, hier S. 535f. Elfriede Jelinek: Die endlose Unschuldigkeit. In: E. J.: Die endlose Unschuldigkeit. Prosa – Hörspiel – Essay. München: Schwiftinger 1980, S. 49–82, hier S. 49.

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samkeit, was an den Bildschirmen abzulesen ist: Denn sie reproduzieren nicht eine Fernsehwirklichkeit, sondern setzen die Autorin selbst ins Bild. Die Gesten der Autonomie – sowohl in der Anzeige als auch in Jelineks Texten – transportieren immer auch ein Moment von Eigenwerbung. Die ›reale‹ Anwesenheit der Autorin Jelinek direkt neben den Bildschirmen lässt ihre Entschlossenheit erkennen, die Fäden der Medialisierungsmacht selbst in die Hand zu nehmen. Jelinek und ihre Bücher, die am linken Anzeigenrand erscheinen, stellen sich als der eigentliche Souverän ins Zentrum des Interesses, auf dem Programm steht Jelineks eigene literarische Sendung. Zum Ausdruck kommt in der Annonce daher auch der nicht ganz aggressionsfreie Traum vom Sieg der Literatur im Hegemoniekampf um mediale Deutungshoheit – wenn er auch mit den fremden Mitteln der Massenmedien errungen wird. Legt man Bourdieus Feldtheorie zugrunde, birgt das Thema der Medialisierung von Literatur in der Tat ein gewaltiges Konfliktpotenzial, das dem Aufeinanderprallen zweier Felder geschuldet ist:21 Sowohl das Feld der Literatur wie das des Journalismus gehorchen beide einer feldspezifischen Logik, die nicht einfach ›übersetzbar‹ ist; beide Felder konstituieren sich zwar intern durch den Gegensatz von Heteronomie und Autonomie – dieser bedeutet jedoch je Unterschiedliches und kommt unterschiedlich zum Tragen. Im literarischen Feld äußert sich die Dichotomie in der Diskrepanz zwischen einer stärker marktorientierten Literatur, deren Ziel in der Anhäufung ökonomischen Kapitals besteht, und einer Avantgarde, die darauf abzielt, neue ästhetische Positionen zu produzieren, die als neue (noch) nicht in einen bestehenden Markt eingebunden sein können und einer gegenüber der Kapitalökonomie umgekehrten Logik folgen. Bourdieu zufolge erstreckt sich zwar auch das journalistische Feld zwischen den Polen von Heteronomie und Autonomie, nämlich durch die Ausdifferenzierung von Medien, die sich – am heteronomen Pol – dem Neuen als dem Sensationellen verschreiben und sich – am eher autonomen Pol – den Luxus vertiefender Analysen und Kommentare leisten.22 Insgesamt jedoch ist der Antagonismus zwischen Auto- und Heteronomie im Journalismus viel weniger stark ausgeprägt als im Feld der Literatur, da er insgesamt wesentlich stärker als die Kunst ökonomisch dominiert und damit ans ›Feld der Macht‹ gebunden ist. Eine umgekehrte Logik wie die des autonomen Pols der Literaturproduktion kennt der Journalismus nicht, was sich nicht zuletzt darin widerspiegelt, dass das, was in ihm ›das Neue‹ konstituiert, weit mehr davon bestimmt ist, Schlagzeilen zu produzieren als formal innovativ zu sein. Aufgrund dieser Unterschiedlichkeit der Felder und der generell stärkeren Abhängigkeit der Medien von Marktgesetzen ist die ›Übersetzung‹ von literarischen Ästhetiken in journalistische Formate nur um den Preis bestimmter Brechungs21

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Zum Verhältnis von Kunst und Journalismus vgl. insbesondere Pierre Bourdieu: Im Banne des Journalismus. In: P. B.: Über das Fernsehen. Übers. von Achim Russer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 103–121. Vgl. ebd., S. 109.

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effekte möglich. Medialisierungsstrategien des Journalismus werden immer von journalistischen Logiken dominiert sein, die grundlegend in das eingreifen, was von ihnen medialisiert wird. Die Kluft zwischen hoch elaborierten Werken mit ausdifferenzierten Poetiken auf der einen Seite und ihrer journalistischen Aufbereitung für Konsumenten auf der anderen, die nicht alle ein Literaturwissenschaftsstudium absolviert haben, führt zu Allodoxien23 vielfältiger Art, die umso mehr zum Tragen kommen, je ›autonomer‹ die Literatur ist, um deren Medialisierung es sich handelt. In der journalistischen Optik werden zum Beispiel, so Bourdieu, nicht selten »Erzeugnisse mittlerer Kultur für Avantgardewerke [ge]halten oder die künstlerische Avantgarde [. . .] im Namen des gesunden Menschenverstands kritisier[t]«.24 Was die journalistische Aufmerksamkeit für Literatur ausblendet, sind zumeist gerade die spezifischen Poetiken und Ästhetiken, dank deren Innovativität ihr Produzent am Pol der Avantgarde Aufmerksamkeit verdient hat. Beobachten lässt sich ein solcher Verlust von künstlerischen Spezifika beim Transport von Feld zu Feld an der generell geringen journalistischen Aufmerksamkeit für ästhetische Formprinzipien und deren Historizität, wohingegen die dargestellten ›Inhalte‹ oft überbewertet werden. Nach Georg Franck kann man in der Medienkultur zudem eine Aufmerksamkeitsverschiebung von den (literarischen) Texten hin zu der Person des Autors beobachten.25 Eine ›autonome‹ Literatur mag zwar mitunter mediale Aufmerksamkeit erregen; die Aufmerksamkeit wird qualitativ aber meist ganz anders aussehen, als sich ›die Literatur‹ dies wünschen würde.26 Bourdieu sieht in der Ausbreitung der Me23

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Bourdieu definiert Allodoxien als »Fehlidentifikationen und irrtümliche [. . .] Aha-Erlebnisse, in denen sich der Abstand zwischen Kenntnis und Anerkennung verräterisch zu erkennen gibt.« (Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Übers. von Bernd Schwibs und Achim Russer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, S. 504.) Pierre Bourdieu (Anm. 21), S. 115. Vgl. Georg Franck (Anm. 9), Kap. »Attraktivität als Stil der Zeit«, S. 159–180. Zur grundsätzlichen Problematik vgl. auch Norbert Niemann: Strategien der Aufmerksamkeit. In: Neue Rundschau 113 (2002) 1, S. 156–165, hier S. 157f.: »Den meisten Strategien geht es nur darum, überhaupt irgendwie Aufmerksamkeit zu bekommen. Es sind aber auch Strategien denkbar, die eine bestimmte Vorstellung von der Aufmerksamkeit haben, die sie bekommen wollen. Der Gegensatz zwischen dem Gefallenwollen und dem Blick in die Zukunft markiert exakt die Trennlinie zwischen beiden Formen. Wer nur gefallen will, ist Teil des Entertainments, wer ausschließlich Kritik übt und die Veränderung anmahnt, ist ein Prediger in der Wüste. Auf der Grenze aber steht janusköpfig der Künstler und muss sich im Lärm der Beachtungsindustrie permanent entscheiden: Wie weit darf meine Unterwerfung unter die Spielregeln der Öffentlichkeit gehen, ohne jene Idee zu zerstören, die meine Kunst leitet? Bis zu welchem Grad muß ich diese Regeln beachten, um die Art von Beachtung durchzusetzen, die ich haben will? Von welcher Stufe an stülpen sich fremde Interessen über die meinen und ersticken sie? Mit anderen Worten – der Künstler hat bei der Entwicklung seiner Strategien der Aufmerksamkeit stets das Wechselspiel zwischen passiver Erfüllung und aktiver Gestaltung von Spielregeln des öffentlichen Begehrens zu kontrollieren. Es wird zum Dreh- und Angelpunkt all seiner künstlerischen Aktivitäten und strahlt aus bis ins ästhetische Detail.«

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dien in der modernen Gesellschaft gar den autonomen Bereich der traditionellen Künste bedroht. Es könnten, so meint er, Errungenschaften in Gefahr geraten, die von der Autonomie des Feldes und seiner Fähigkeit zum Widerstand gegenüber Ansprüchen der Außenwelt ermöglicht wurden – Ansprüche, wie sie heute von der Einschaltquote symbolisiert werden und gegen die sich schon die Schriftsteller des vergangenen Jahrhunderts ausdrücklich verwahrten, wenn sie sich über die Vorstellungen empörten, die Kunst [. . .] könnte dem Verdikt des allgemeinen Stimmrechts ausgeliefert werden.27

Dieser Feldkonflikt, der im Problem der Medialisierung von Literatur zum Zug kommt, zeigt sich im medialen Umgang mit dem Werk Jelineks – besonders eklatant in Österreich –, wie er von Pia Janke in der Publikation mit dem sprechenden Titel Die Nestbeschmutzerin dokumentiert wurde.28 Dass ihre mediale Rezeption in Österreich feindseliger verlaufen ist als in Deutschland, erklärt Jelinek selbst mit dem geringeren Autonomisierungsgrad des dortigen journalistischen Feldes, der für eine sachadäquate, differenzierte Berichterstattung weniger Raum lasse und dazu führe, dass man sich insgesamt weniger um qualitative Kriterien kümmere als in Deutschland.29 In den österreichischen Medien offenbarten sich deshalb die Kämpfe um Legitimität, die – nach Jelinek und Bourdieu – einer der Hauptmotoren des Journalismus sind und in denen es zum Wenigsten um eine objektive Darstellung der Literatur geht, ungeschminkter.30 Angesichts der Nobelpreisverleihung 2004 konnte man jedoch bemerken, dass Jelinek auch in Deutschland mit

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Pierre Bourdieu (Anm. 21), S. 116f. Pia Janke (Hg.) und StudentInnen: Die Nestbeschmutzerin. Jelinek & Österreich. Salzburg, Wien: Jung und Jung 2002. Interview mit Elfriede Jelinek vom 21. 6. 1990. In: Margarete Lamb-Faffelberger: Valie Export und Elfriede Jelinek im Spiegel der Presse. Zur Rezeption der feministischen Avantgarde Österreichs. (Austrian Culture 7) New York u. a.: Lang 1992, S. 183–200, hier S. 199: »MLF: ›Haben Sie den Eindruck, daß die bundesdeutschen Literaturkritiker versierter sind und Ihren Arbeiten gegenüber einen ‚richtigeren‘ Standpunkt einnehmen als die österreichischen Kollegen?‹ EJ: ›Ja. Ich kann nur vermuten, dass die Konkurrenz in den bundesdeutschen Medien einfach so groß ist, dass die Leute, um sich irgendwie zu qualifizieren [sic!] dann eben doch viel lesen und sich vieles aneignen müssen. Es sind ja sehr viele ausgebildete Germanisten unter den Kunst-Kritikern, also Leute, die sich doch intensiv mit literarischen Fragen beschäftigt haben. Es führt zwar genauso zu falschen Ergebnissen, aber wenigstens habe ich das Gefühl, daß aufgrund dieser Konkurrenz doch, ganz schlicht gesagt, eine gewisse Bildung verlangt wird. Österreich ist eben ein sehr kulturloses Land. Das merkt man natürlich an den Presseerzeugnissen, die die schlechtesten in der Welt sind – wie nicht nur ich glaube.‹« Besonders zeigt sich dies an den infamen Angriffen, welche die österreichische Kronenzeitung gegen Jelinek startet(e). Wie an diesem Extremfall sichtbar wird, wäre natürlich eine genauere Analyse des journalistischen Feldes, der verschiedenen Modi und Grade seiner Medialisierungen von Literatur nötig. Es zeigen sich ja bedeutende Unterschiede zwischen einer Medialisierung etwa durch das Literarische Quartett, einer Fernsehübertragung des Bachmann-Preises oder einer Literaturrezension im Feuilleton einer ›Qualitätszeitung‹.

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einem sehr negativen Medienecho zu kämpfen hat.31 Das Stichwort ›Jelinek‹ wird auch hier zum Medium für die Durchsetzungsstrategien der im journalistischen Feld existierenden Kräfteverhältnisse. Im Konflikt zwischen einem avancierten ästhetischen Ausdruck und dem medialen Mainstream zeigt sich das Dilemma der Avantgarde: Ohne Medien existiert sie im öffentlichen Bewusstsein nicht; gerade eine sich als engagiert verstehende Avantgarde ist auf die Aufmerksamkeitsarbeit medialer Vermittlung angewiesen, um ihre Belange zu transportieren und um Kräfte gegen etablierte Positionen zu mobilisieren. Doch andererseits fehlt den Medien meist ein Sensorium für die Spezifika der Avantgardekunst.32 Können avancierte Ästhetiken also überhaupt – anders als durch Bücher – medialisiert werden? Und wenn ja, wie? Gegenüber den Hegemoniebestrebungen der Medien sind von Seiten der Literatur nach Bourdieu zwei Reaktionen denkbar: Zwei Strategien können gegen diese Gefahr [des Verlusts von ›autonomen‹ Errungenschaften] verfolgt werden [. . .]: die Grenzen des Feldes deutlich markieren und sie gegenüber dem drohenden Eindringen journalistischer Denk- und Verhaltensweisen wiederherstellen und befestigen, oder aber (nach dem von Zola inaugurierten Modell) den Elfenbeinturm verlassen, um draußen die Werte zur Geltung zu bringen, die innerhalb seiner gewonnen wurden, und sich in den spezialisierten Feldern und außerhalb ihrer, bis hin zum journalistischen Feld, aller verfügbaren Mittel in der Absicht zu bedienen, den von der Autonomie möglich gemachten Ergebnissen und Entdeckungen andernorts Geltung zu verschaffen.33

Jelinek scheint prima vista die zweite Alternative zu verfolgen. Dafür sprechen ihre nicht selten politisch motivierten Interventionen mittels Leserbriefen, Zeitungsartikeln, Teilnahmen an Demonstrationen und Aktionen im öffentlichen Raum oder auch die strategische Publikmachung werkpraktischer Entscheidungen wie das zeitweilige Aufführungsverbot ihrer Stücke in Österreich. Auch Jelineks Homepage – http://www.elfriedejelinek.com –, auf der all diese Interventionen neben genuin literarischen Arbeiten versammelt sind, scheint in diese Richtung zu weisen und eine möglichst weite Verbreitung von Jelineks Texten zu erstreben. Sie umfasst nach eigener Darstellung circa 2500 Druckseiten. Seit 1998 wurden nach den dortigen Angaben mehr als 530 000 Besucher gezählt (Stand: 31. Oktober 2007).34 31

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Siehe etwa Matthias Matussek: Alle Macht den Wortquirlen! In: Der Spiegel (2004) 42, S. 178–182 oder Iris Radisch: Die Heilige der Schlachthöfe. Ein Schock: Die Regionalschriftstellerin Elfriede Jelinek bekommt den Nobelpreis für Literatur. In: Die Zeit (2004) 43, S. 44. Die Diffamierungen, denen Jelinek in Österreich ausgesetzt war und ist, lassen sich wohl zumindest teilweise als Reaktion auf Jelineks politische Einmischungen und auf ihre Angriffe auf spezifische österreichische Medienorgane verstehen. Zur Rezeption der Autorin in der dortigen Presse vgl. Margarete Lamb-Faffelberger (Anm. 29) und Pia Janke (Anm. 28). Vgl. Margarete Lamb-Faffelberger: In the Eyes of the Press. Provocation-Production-Prominence. A Critical Documentation of Elfriede Jelinek’s Reception. In: Jorun B. Johns/Katherine Arens (Hg.): Elfriede Jelinek. Framed by Language. Riverside: Ariadne 1994, S. 287–302, hier S. 287f. Pierre Bourdieu (Anm. 21), S. 116. Alle zitierten elektronischen Texte wurden zuletzt aufgerufen am 31. 10. 2007.

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Gerade die Homepage dokumentiert eindrucksvoll das Bemühen der Autorin, im journalistischen Feld eine Stimme darzustellen. Mit der zunehmenden Konsekrierung der Autorin, deren Indiz ein förmlicher Preisregen ist, der in den letzten Jahren auf sie niederging – 1998 Georg-Büchner-Preis, 2002 Theaterpreis Berlin und Heinrich-Heine-Preis, 2004 dann Lessingpreis und schließlich Literatur-Nobelpreis –, mit diesem realen Machtzuwachs als Stimme im öffentlichen Raum lässt sich frappierenderweise jedoch zunehmend eine dem Engagement entgegenstehende Tendenz beobachten: die Neigung Jelineks zum Selbstdementi, als Schriftstellerin über öffentliche Wirkungsmacht verfügen zu können. Dieses Phänomen äußert sich gerade auch in Texten, welche sich direkt mit dem Machtfeld auseinandersetzen. Als Beispiel kann hier ein Artikel dienen, der auf Jelineks Homepage aufrufbar ist, jedoch zunächst in einer gekürzten Fassung in der Süddeutschen Zeitung vom 9. 2. 2003 publiziert wurde. Es handelt sich um einen äußerst polemischen Text gegen die Kronenzeitung, der auflagenstärksten österreichischen Boulevard-Tageszeitung, eine der erfolgreichsten weltweit, die für ihre tendenziöse Berichterstattung nicht erst seit Thomas Bernhard berühmt-berüchtigt ist und die mit Jelinek in besonderem Zwist liegt. Nach einer flammenden Wortlawine über den Machtmissbrauch dieser Zeitung schaltet Jelinek eine selbstreflexive Passage ein: Ich kann nichts gegen diese Zeitung machen. Viel Bessere als ich haben ihr halbes Leben, in dem sie anderes, Besseres verdient hätten, im Kampf gegen diese Zeitung gegeben, zu ihrer eigenen Seligkeit wäre das doch nicht nötig gewesen! Aber sie haben es getan. Ich verbeuge mich vor ihnen. Sie mußten es offenbar tun, aber es hat nichts bewirkt. Soviel Intelligenz- und Kraftverschleuderung im Kampf gegen Schlamm, Gatsch, Dreck, die alle bekanntlich immer ausweichen, wenn man gegen sie tritt oder in sie tritt. [. . .] Es war alles umsonst. Können sich und uns und euch nicht helfen.35

Dass dieses Selbstdementi der eigenen (Sprach-)Macht nicht allein als eine rein rhetorisch zu wertende Bescheidenheitsgeste zu klassifizieren ist, suggeriert die neuerliche Kommentierung an einer späteren Stelle des Textes: Ich will das hier sagen, ich habe mich selbst dazu ermächtigt, und mehr als mich selbst habe ich nicht, obwohl ich sicher andere auf meiner Seite habe, ich lese sie ja auch jeden Tag. Das ist eine Aufgabe, die wir uns jeden Tag stellen, aber dem steht entgegen, daß wir neben dieser Zeitung nichts sind und nichts zu sagen haben, gerade indem wir dauernd etwas sagen dürfen, egal wo. Die sind das gewohnt, daß jemand etwas gegen sie sagt, es bleibt wie nicht gesagt. Wir sind, glaube ich, ungeschickt, aber wir können gar nicht geschickt sein. Sie brauchen sich nicht rechtzufertigen, sie haben sich selbst ja so zurechtgefertigt, daß man nicht in sie hineinkommt, um von innen her etwas gegen sie zu unternehmen. Aber von außen kann man doch auch nichts machen! Man scheint nichts machen zu können. [. . .] Wir können auch sagen, was wir wollen, aber auf uns hört keiner [. . .].36

Eine solche Selbstermächtigung zur Machtlosigkeit in einem Presseorgan wie der Süddeutschen Zeitung scheint auf den ersten Blick paradox, denn gerade hier erreicht Jelinek ja eine große Öffentlichkeit. Sie benutzt zudem eine im journa35

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Der Text Dem Faß die Krone aufsetzen wird zitiert nach: http://www.elfriedejelinek. com. Ebd.

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Abb. 2

listischen Feld bestehende Distinktion (zwischen Kronenzeitung und Süddeutscher) für eine demonstrative Solidarisierung mit all jenen, die ›ihr halbes Leben im Kampf gegen die Kronenzeitung gegeben‹ haben und ihrerseits als Schriftsteller gekennzeichnet sind (›ich lese sie ja auch jeden Tag‹). In der Tat scheint hier ein altes dichterisches Modell auf: Die Distanznahme gegenüber dem Feld der Macht und das Pochen auf die eigene Machtlosigkeit aktualisiert einen klassischen autonomieästhetischen Topos.37 Dichterische Autonomie rechtfertigt sich ja gerade in der Abgrenzung von interessegeleiteter Macht. Die Betonung der Grenze zwischen Machtfeld und literarischem Feld korrespondiert mit der ersten von Bourdieu genannten Alternative38 und erreicht einen Höhepunkt in einem Moment, in dem mehr als je zuvor die Augen der Welt auf die Autorin Jelinek gerichtet sind, anlässlich der Nobelpreisverleihung 2004. Bekanntlich reiste Elfriede Jelinek nicht persönlich nach Stockholm, sondern übersandte ein 40-minütiges 37

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Vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übers. von Bernd Schwibs und Achim Russer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 341ff. Dazu passt auch Jelineks Interesse an einer eigenen Homepage: Nicht eine möglichst große Verbreitung ihrer Texte steht für sie im Vordergrund, sondern der Wunsch, gänzlich unabhängig von Vorgaben und Einschränkungen zu sein. Jelineks aktuellster Roman Neid erscheint daher nur mehr im Internet. Verlagspolitische und ökonomische Interessen sind dabei ganz ausgeschaltet.

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Video (Abb. 2).39 Angesichts der enormen Aufmerksamkeit der gesamten literarischen Welt anlässlich des mit hohem – nicht nur symbolischem – Kapital ausgestatteten Kulturevents klingt schon der Titel von Jelineks Preisrede fast ironisch: Im Abseits. Das Beharren auf der eigenen Abseitigkeit, ›außerhalb der Wirklichkeit‹, »im Abseits«40 begleitet die Videoinszenierung durch den Rekurs auf spezifisch ästhetische Darstellungsmittel. Eine strenge Stilisierung zeigt sich schon in der musikunterlegten Bildführung der Einleitungssequenz, die zuerst auf einem ländlichen Waldstück verharrt, dann sekundenlang die Außenaufnahme eines Wohnhauses (das von Elfriede JeAbb. 3 linek) zeigt und dann erst die Autorin 41 selbst ins Bild setzt (Abb. 3). Auch der Notenständer mit den aufgestellten Noten kann als Autonomiesignal gelesen werden, gilt doch die Musik aufgrund ihrer fehlenden Darstellungsfunktion als ungebundenste der traditionellen Künste. Das abstrakte Bild im Hintergrund weist in eine ähnliche Richtung. Ebenso suggeriert die Selbstpräsentation der Autorin, die ihre Rede in einem sehr getragenen Duktus vorträgt, der auch mit einer eher ›hohen‹ sprachlichen Stilebene korrespondiert, eine gewisse Weltfremdheit, wie sie die Rede in ihr poetisches Zentrum rückt: Wie soll der Dichter die Wirklichkeit kennen, wenn sie es ist, die in ihn fährt und ihn davonreißt, immer ins Abseits. Von dort sieht er einerseits besser, andrerseits kann er selbst auf dem Weg der Wirklichkeit nicht bleiben. Er hat dort keinen Platz. Sein Platz ist immer außerhalb. Nur was er aus dem Außen hineinsagt, kann aufgenommen werden, und zwar weil er Zweideutigkeiten sagt. Und da sind auch schon zwei Passende, zwei Richtige, die mahnen, daß nichts passiert, zwei, die es in unterschiedliche Richtungen ausdeuten, ausgreifen bis auf den unzureichenden Grund, der längst herausgebrochen ist wie die Reißzähne des Kamms. Entweder oder. Wahr oder falsch. Das mußte ja früher oder später passieren, da der Boden als Baugrund doch höchst unzureichend war. Wie sollte man auf einem bodenlosen Loch auch bauen können? Aber das Unzureichende, das in ihr Blickfeld gerät, reicht den Dichtern trotzdem immer noch für etwas, das sie aber auch lassen könnten. Sie könnten es sein lassen, und sie lassen es auch sein. Sie bringen 39

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Ein Nebeneffekt der Medialisierung durch Video ist natürlich die Möglichkeit der Reproduktion und Wiederaufführung, wie sie Pia Jankes Dokumentation belegt: Pia Janke (Hg.) und StudentInnen: Literaturnobelpreis Elfriede Jelinek. Wien: Praesens 2005, S. 242f. Bildnachweis: Verena Mayer/Roland Koberg: Elfriede Jelinek. Ein Portrait. Reinbek: Rowohlt 2006, Abb. 46 (ohne Paginierung). © picture-alliance/dpa/dpaweb; Foto: Jonas Ekströmer. Ebd. Der Text der Preisrede wie der Videofilm sind abrufbar auf der Homepage der Nobel Foundation: http://nobelprize.org/nobel_prizes/literature/laureates/2004/jelinek -lecture.html.

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es nicht um. Sie schauen es nur an mit ihren unklaren Augen, aber es wird durch diesen unklaren Blick nicht beliebig. Der Blick trifft genau. Das von diesem Blick Getroffene sagt noch im Hinsinken, obwohl es ja kaum angeschaut wurde, obwohl es noch nicht einmal dem scharfen Blick der Öffentlichkeit ausgesetzt worden ist, das Getroffene sagt niemals, daß es auch etwas andres hätte sein können, bevor es dieser einen Beschreibung zum Opfer gefallen ist. Es besagt genau das, was besser ungesagt geblieben wäre (weil man es hätte besser sagen können?), was immer unklar bleiben mußte und grundlos. Zuviele sind schon bis zum Bauch darin eingesunken. Es ist Treibsand, aber er treibt nichts an. Es ist grundlos, aber nicht ohne Grund. Es ist beliebig, aber es wird nicht geliebt.42

Jelinek nennt in ihren neueren Texten und Interviews häufig Resignation als Auslöser dieses defensiven Gestus.43 Gerade aber mit Blick auf die poetische Tradition, welche die Nobelpreisrede in Form von impliziten Zitaten von Hölderlin, Robert Walser und Paul Celan und in der antiquiert-pathetischen Vokabel vom ›Dichter‹ aufruft, zeigt sich der Machtverzicht als zentrale Ingredienz einer (bestimmten Art von) Autonomieästhetik. Das Abseits erscheint somit weniger schicksalhaft, sondern vielmehr als Konsequenz einer ästhetischen Positionsnahme.44 Dass es gerade im Moment großer Öffentlichkeit zu einem solchen Machtdementi kommt, muss daher nicht als Paradox gelten: Denn solange eine mediale Abseitsposition noch tatsächlich gegeben war, musste auf sie nicht eigens hingewiesen werden; seit Jelinek selbst mehr und mehr ins Zentrum medialer Aufmerksamkeit rückt, versteht sich eine solche Abstandswahrung zur Macht jedoch nicht mehr von selbst, sondern muss eigens inszeniert werden, wenn aus dem autonomen Künstler kein Parteigänger werden soll.45 Gerade Jelineks Behauptung der Ohnmacht kann insofern als Indiz für die gewachsene Bedeutung gelten, welche ihre Stimme in der Öffentlichkeit gewonnen hat. Dass diese Haltung eine ihrerseits künstlerisch-künstliche Pose darstellt, lässt der literarisch aufgeladene, etwas weihevolle Stil der Rede mit seinem Einsatz von Zweideutigkeiten, eigenwilliger Metaphorik und einer rhythmisch betonten Syntax erkennen. Die Artifizialität der Sprache beugt sich nicht dem Verdikt transparenter Verständlichkeit, sondern präsentiert sich ganz offensichtlich als Literatur. Die selbst zugeschriebene Inkompetenz in Hinblick auf ›Wirklichkeit‹ wird dabei als ästhetische Kompetenz aufgewertet. Eine ähnliche ›Zweideutigkeit‹ von Engagement und Sprachautonomie lässt auch Jelineks Homepage erkennen. Denn egal, um welche Textsorte es sich handelt: Alle sind im typischen ›Jelinek-Sound‹ gehalten. Auch diejenigen Beiträge, 42 43

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Ebd. Vgl. zum Beispiel das Interview mit Norbert Mayer: Ich habe in allen Sparten den Endpunkt erreicht. Elfriede Jelinek über ihre Arbeit, das Obszöne, den vergeblichen Idealismus und Gedichte von 700 Seiten. Berliner Zeitung vom 11. 10. 2004, S. 28. Zu einer ähnlichen Positionierung bei Robert Musil vgl. Norbert Christian Wolf: Geist und Macht. Robert Musil als Intellektueller auf dem Pariser Schriftstellerkongreß 1935. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2006, S. 383–436. Der ›Rückzug‹ in die autonomieästhetische Position findet ein Pendant auch im öffentlichen Auftreten der Autorin. Zwar mied Jelinek auch zuvor schon beispielsweise massenmediale Auftritte im Fernsehen; doch tritt sie seit ihrem Nobelpreis so gut wie gar nicht mehr persönlich in Erscheinung.

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die anlässlich tagesaktueller Anlässe verfasst, in Zeitungen erstveröffentlicht wurden und nun auf der Homepage nachzulesen sind, scheren sich wenig um journalistische Usancen, sondern zeigen ein erhöhtes Maß von Literarizität à la Jelinek. Es scheint der Autorin nicht primär um eine möglichst breite Mobilmachung von Öffentlichkeit zu gehen; vielmehr behält sie auch in ihren im engeren Sinn politischen Beiträgen ihren überaus komplexen Stil bei, der ihre Literatur für literarische Nicht-Insider schwer lesbar macht. Ein Begleiteffekt dieser rezeptionsästhetischen Einschränkung besteht freilich darin, dass sich in jeder Zeile die ganz eigene Jelinek’sche Ästhetik transportiert, in der sich Engagement und Sprachautonomie amalgamieren. Jelinek entwickelt mithin eine Position, die versucht, die von Bourdieu geschilderten Alternativen (paradox) zu kombinieren: durch eine Einmischung unter gleichzeitiger Betonung von deren Effektlosigkeit und der eigenen Ohnmacht. Wer mit Jelineks Sprachspiel des zitierenden ›Nachsprechens‹ von »trivialmüten«46 vertraut ist, muss indes Zweifel haben, ob das autonomieästhetische Pathos vom ›Abseits‹ in ihrer Nobelpreisrede ernst gemeint ist oder nicht vielmehr im Genre der Preisrede weiterführt, was die Autorin in ihrem Werk praktiziert: nämlich ein ironisierendes Zitieren von klischeehaften Vorstellungen und Sprechweisen – hier: vom Dichter.47 Der mediale Auftritt als Literaturnobelpreisdichterin könnte insofern eine poetisch-inszenierte Parodie derjenigen Allodoxien über den Dichter sein, die in den Medien kursieren.48 Was Jelinek durch diese ›zwielichtige‹ Taktik für ihre Medialisierung erreicht, ist Folgendes: Worum es inhaltlich auch geht, sie ›wirbt‹ immer auch zugleich für ihre Literatur – oder besser: Sie produziert immer auch Literatur. Gegenüber dem eher traditionellen Typus des Intellektuellen49 , der sich unter Vernachlässigung 46 47

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Elfriede Jelinek: Die endlose Unschuldigkeit (Anm. 20), S. 49. Vgl. Walter Klier (Anm. 7), S. 427 zu Oh Wildnis: »Das Eigenartige, Neue und streckenweise Problematische [. . .] scheint mir das Nachsprechen der poetischen Sprache zu sein, das [. . .] ein Schrumpfen der bislang immer sorgsam gehüteten Distanz zum ›Literarischen‹ nach sich zieht. Wenn die poetische Sprache durch sich selbst parodiert wird, schleichen sich gleichsam autonome poetische Partikel ein, ist der Text als poetischer leichter zu rezipieren und zu assimilieren.« Zu einer solchen, auf Baudelaire zurückführbaren Praxis vgl. Thomas Becker: Subjektivität als Camouflage. Die Erfindung einer autonomen Wirkungsästhetik in der Lyrik Baudelaires. In: Markus Joch/Norbert Christian Wolf (Hg.): Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 108) Tübingen: Max Niemeyer 2005, S. 159–175. Insofern wären auch die (nur scheinbar?) programmatischen Aussagen der Autorin auf eine solche ›zitierende‹ Strategie hin zu untersuchen. Dies würde Rückschlüsse darauf erlauben, ob man es neuerdings mit einer Wende in der Jelinek’schen Poetik zu tun hat, bei der die ehemals verpönte »Erstlingshaltung« nun doch rehabilitiert wird (vgl. den Band Jelineks Wahl. Literarische Verwandtschaften. Hg. von Elfriede Jelinek und Brigitte Landes. München: btb-Verlag 1998, S. 91, in dem die Autorin hervorhebt, dass sie ihre literarischen Vorbilder gerade für ihre »Erstlingshaltung« in Bezug auf die Sprache schätzt), oder ob solche Widersprüche nicht doch noch als Manifestationen der (alten) Jelinek’schen Poetik des ›zitierenden‹ Sprechens gelten können. Vgl. hierzu Pierre Bourdieu (Anm. 37), S. 209ff.

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Uta Degner

seiner ästhetischen Interessen, gleichsam uneigennützig, in gesellschaftliche Belange einmischt, gibt es bei Jelinek eine solche Trennung von (freilich ästhetischen) Eigeninteressen und sozialem Engagement nicht (mehr). Die Frage nach ihrer Medialisierungsstrategie ist deshalb bei Jelinek eine Frage literaturwissenschaftlicher Hermeneutik. In der Tat lassen sich Jelineks Medialisierungen als eine Verlängerung ihrer Literatur, als kohärenter Ausdruck ihrer Poetik verstehen, ja gerade in dieser Ausweitung der symbolischen Form Literatur auf eine Praxis außerhalb von Buchdeckeln scheint ein innovativer Beitrag Jelineks zu bestehen.50 Dass sich die Literaturwissenschaft gerade in ihrem Fall besonders für diese neue Form von ›Paratexten‹ interessiert, beweist die erfolgreiche Medialisierung ihrer Ästhetik. Mit Michel de Certeaus Unterscheidung zwischen Strategie und Taktik könnte man diese ›invasive‹ Tendenz als Medialisierungstaktik beschreiben.51 Sie zielt nicht darauf, vorgegebene Medialisierungsstrategien im eigenen Interesse zu sekundieren, sondern transformiert sie für von diesen nicht vorgesehene eigene Ziele. Dass diese neue Form literarischer Medialisierung nicht nur symbolisches Kapitel und Aufmerksamkeit, sondern zuletzt auch ökonomisch gewinnt, ist nicht länger Gegenargument, sondern gerade ein Beweis für den Erfolg ihrer symbolischen Arbeit.

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Damit führt sie freilich Thomas Bernhards komödiantische Skandalisierungen fort und ist trotz aller Differenz zur Poetik Peter Handkes darin diesem vergleichbar. Vgl. den Beitrag von Karl Wagner im vorliegenden Band. Michel de Certeaus Kunst des Handelns unterscheidet zwischen Strategie und Taktik. Eine Strategie ist demnach »die Berechnung (oder Manipulation) von Kräfteverhältnissen, die in dem Moment möglich ist, wenn ein mit Willen und Macht versehenes Subjekt (ein Unternehmen, eine Armee, eine Stadt oder eine wissenschaftliche Institution) ausmachbar ist«, wohingegen die Taktik »durch das Fehlen von etwas Eigenem bestimmt ist.« Nach de Certeau »wird die Taktik durch das Fehlen von Macht bestimmt, während die Strategie durch eine Macht organisiert wird« (Michel de Certeau: Kunst des Handelns. Übers. von Ronald Voullié. Berlin: Merve 1988, S. 87, 89, 90).

Verena Holler (Paris)

Positionen – Positionierungen – Zuschreibungen Zu Robert Menasses literarischer Laufbahn im österreichischen und deutschen Feld

1. Positionen Der 1954 in Wien geborene Romancier und Essayist Robert Menasse kann mittlerweile eine durchaus beeindruckende Reihe von Literaturpreisen und Auszeichnungen sein Eigen nennen – Konsekrationen, die seine Verankerung sowohl im österreichischen1 als auch im deutschen literarischen Feld veranschaulichen.2 Gleiches gilt, was die inzwischen bereits recht umfangreiche Sekundärliteratur zum Autor betrifft: Auch hier wird ihm sowohl von österreichischer als auch von deutscher 1

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Ein Vergleich der einzelnen, ein literarisches Feld konstituierenden Instanzen im österreichischen und deutschen Literaturbetrieb lässt die Konturen zweier differenter Felder kenntlich werden, so dass eine Vereinheitlichung in ein einziges deutschsprachiges Feld kaum gerechtfertigt erscheint. Zu erwähnen wären hier neben nationalen literarischen Institutionen wie Literaturzeitschriften, Theater- und Verlagslandschaft vor allem auch Konsekrationsinstanzen wie Germanistik, Literaturkritik oder Literaturpreisjurys, deren spezifische Struktur und Funktionsmechanismen selbst in den die Akteure des Feldes beschäftigenden literarästhetischen und politischen Diskursen bzw. in den landesüblichen Kanones Spuren hinterlassen. Auch das Verhältnis von Zentrum und Peripherie gestaltet sich in den beiden Feldern durchaus unterschiedlich. Zur Frage der Existenz eines österreichischen Feldes bzw. zur unterschiedlichen Geschichte und Struktur von österreichischem und deutschem Feld vgl. Verena Holler: Felder der Literatur. Eine literatursoziologische Studie am Beispiel von Robert Menasse. (Europäische Hochschulschriften 1861) Frankfurt am Main u. a.: Lang 2003, S. 31–92, und Norbert Christian Wolf: Umkreisungsversuche. Zur Identität österreichischer Literatur. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): O Österreich! (Göttinger Sudelblätter) Göttingen: Wallstein 1995, S. 96–107, hier S. 100–102. Eine Auswahl: 1987 und 1991 Staatsstipendium des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst für Literatur, 1989 Literaturförderpreis der Stadt Wien, 1990 Heimito-vonDoderer-Preis der Niederösterreichischen Gesellschaft für Kunst und Kultur Wien, 1992 Hans-Erich-Nossack-Förderpreis für Prosa des Kulturkreises der Deutschen Wirtschaft im Bundesverband der Deutschen Industrie Köln, 1992 Förderungspreis für Literatur des Theodor-Körner-Stiftungsfonds zur Förderung von Wissenschaft und Kunst, 1992– 1993 Elias-Canetti-Stipendium der Stadt Wien, 1994 Berliner Künstlerprogramm des DAAD, 1994 Literaturpreis der Stadt Marburg an der Lahn, 1994 Literaturpreis der Alexander-Sacher-Masoch-Stiftung Wien, 1994 Förderungspreis des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst für Romane, 1996 Hugo-Ball-Preis der Stadt Pirmasens, 1998 Österreichischer Staatspreis für Kulturpublizistik, 1999 Writer in Residence in Amsterdam, 1999 Johann-Jacob-Christoph-von-Grimmelshausen-Preis, 2002 Marie-LuiseKaschnitz-Preis, 2002 Hölderlin-Preis Bad Homburg, 2002 Lion-Feuchtwanger-Preis der Berliner Akademie der Künste, 2002 Joseph-Breitbach-Preis Mainz, 2003 ErichFried-Preis, 2003 Niederländischer Buchpreis.

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Verena Holler

Seite ein durchaus beachtliches Maß an Aufmerksamkeit gezollt.3 Die doppelte Integration Menasses wird zudem in der Verlagskarriere des Autors augenfällig: Nach seinem vergleichsweise späten literarischen Debüt im Rowohlt Taschenbuchverlag 1988, das entsprechend wenig Beachtung fand, wechselte Menasse 1991 mit seinem zweiten Roman Selige Zeiten, brüchige Welt zum damaligen österreichischen Literaturverlag par excellence, zu Residenz, und damit gewissermaßen zum einzigen heimischen Verlag, mit dem man Anfang der 90er Jahre potenziell auch im Ausland, das heißt vom deutschen Feuilleton, wahrgenommen wurde. Menasses provokante Essays hingegen erschienen beim kleinen, in intellektuellen Kreisen Österreichs jedoch durchaus renommierten Wiener Verlag Sonderzahl. Nach und nach zeichnete sich indes der Wechsel Menasses zu jenem Verlag ab, der im Zuge der deutschen Lesbarkeitsdebatte als vermeintlicher Monopolträger für elitäre Gegenwartskunst ins Kreuzfeuer der Kritik geraten sollte, zu Suhrkamp. Den Anfang machte dabei der zweite Band der später vierbändigen Trilogie der Entgeisterung, Selige Zeiten, brüchige Welt, 1994, dem zwei Jahre später der erste Roman Menasses in überarbeiteter Fassung sowie 1995 Leo Singers und Robert Menasses Phänomenologie der Entgeisterung folgten.4 1997 lag schließlich die gesamte Trilogie beim Suhrkamp Verlag vor und wurde überdies von einem umfangreichen Materialband gekrönt, der es LeserInnen ermöglichen sollte, »Robert Menasses ambitioniertes Projekt aus unterschiedlichen Perspektiven kennen zu lernen«5 – ein nicht zu unterschätzendes Quantum an symbolischem Kapital für einen im Feld noch vergleichsweise jungen Autor. Aufmerksamkeit und symbolisches Kapital brachte dem Autor außerdem 2001 die Wahl seines in der Folge vor allem im deutschen Feld konsekrierten Romans Die Vertreibung aus der Hölle zum Flaggschifftitel des Herbstprogramms bei Suhrkamp ein.6 Mit einiger Verzögerung wechselte schließlich auch Menasses essayistisches Œuvre zum – zumindest damals noch – renommiertesten Verlag für deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Bei Suhrkamp erschien 1997 ferner Menasses von der österreichischen Kritik nur wenig goutiertes vermeintliches Kinderbuch Die letzte Märchenprinzessin. Ob dies eher den fol3

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Vgl. Verena Holler (Anm. 1), S. 112–120, bzw. die Bibliografien in: Kurt Bartsch/Verena Holler (Hg.): Robert Menasse. (Dossier 22) Graz, Wien: Droschl 2004, S. 245–305, und in: Eva Schörkhuber (Hg.): Was einmal wirklich war. Zum Werk Robert Menasses. Wien: Sonderzahl 2007, S. 356–385. Vgl. Robert Menasse: Selige Zeiten, brüchige Welt. Roman. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994; Robert Menasse: Sinnliche Gewißheit. Roman. Frankfurt am Main: Suhrkamp 21996 (zuerst 1988 im Rowohlt-Verlag erschienen); Robert Menasse: Phänomenologie der Entgeisterung. Geschichte des verschwindenden Wissens. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995 (zuerst: Leopold Joachim Singer: Phänomenologie der Entgeisterung. Geschichte des verschwindenden Wissens. In: manuskripte 31 [1991] 111, S. 91–110. Auf S. 117 dieses Hefts der manuskripte wurde Singer, wie die anderen Autoren der Nummer, mit einer Biografie versehen, zugleich jedoch als literarische Figur ausgewiesen.) Klappentext zu Dieter Stolz (Hg.): Die Welt scheint unverbesserlich. Zu Robert Menasses »Trilogie der Entgeisterung«. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997. Vgl. auch Robert Menasse: Schubumkehr. Roman. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997. Vgl. Robert Menasse: Die Vertreibung aus der Hölle. Roman. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001.

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genden Kurswechsel des Suhrkamp Verlags oder die damals bereits fest etablierte Position Menasses reflektiert, muss vorerst offen bleiben. Das Zusammenspiel von österreichischem und deutschem Feld deutet sich weiters in Menasses Rolle bei der 47. Frankfurter Buchmesse 1995 an: Die staatliche Ernennung zum Eröffnungsredner und damit zum offiziellen Repräsentanten der österreichischen Gegenwartsliteratur des in Österreich offensichtlich bereits etablierten Schriftstellers lenkte nun auch die Aufmerksamkeit des deutschen Feldes gebündelt auf den österreichischen Star. Der Wiener Autor wusste seinen Auftritt im Zentrum dieses viel beachteten Umschlagplatzes für ökonomisches, soziales und symbolisches Kapital denn auch geschickt zu nutzen, um die Einzigartigkeit seines literarästhetischen Konzepts sowie dessen direkten Bezug zu zeitgenössischen Diskursen als neues Label in Umlauf zu bringen.7

2. Positionierungen Zunächst jedoch versuchte sich der Autor mit seinen Publikationen in der Tagesund Wochenpresse sowie in Literaturzeitschriften auf österreichischem Parkett – und dies mit durchaus beachtlichem Erfolg: Robert Menasse fungierte im Österreich der 90er Jahre nicht bloß als Akteur, sondern mehr als nur einmal als eigentlicher Initiator der die intellektuelle Welt beschäftigenden Debatten. Mit regelmäßigen Publikationen unter anderem in den Zeitschriften profil, FORVM, Falter, Wespennest, in den manuskripten, im Standard, in Literatur und Kritik sowie in der Presse kam Menasse im österreichischen Diskurs bereits Anfang der 90er Jahre in den Ruf schierer Omnipräsenz. Diese dominierende Rolle bescheinigten ihm gerade auch die zahlreichen gegen seine Position gerichteten beißenden Polemiken seiner unbekannten wie etablierten Gegenspieler aus Literatur, Kultur, Politik oder Journalismus.8 Was auch immer Menasses Kritiker an der inhaltlichen Qualität seiner Beiträge und Essays bemängeln mochten, ihrem ästhetischen Reiz konnten auch sie sich kaum entziehen. Diesen Eindruck erweckte zumindest das ra7

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Vgl. zum Beispiel: Robert Menasse: »Geschichte« war der größte historische Irrtum. Rede zur Eröffnung der 47. Frankfurter Buchmesse 1995. In: R. M.: Hysterien und andere historische Irrtümer. Mit einem Nachwort von Rüdiger Wischenbart. Wien: Sonderzahl 1996, S. 21–36. Am deutlichsten hat dies wohl Egyd Gstättner auf den Punkt gebracht: »Robert Menasse: Please, hold the line! Ein nochmaliger Anruf wird neu gereiht und verlängert daher die Wartezeit. Delirieren Sie nicht. Platz 27 wird sich in Kürze melden. Österreicherklärungs GmbH, Intellektualitäten, Realitätsstrukturenerklärungsmodelle, Phänomenologien aller Art; persönlicher Assistent des persönlichen Sekretärs des persönlichen Dr. Robert Menasse, derzeit großprojektswegen unterwegs in a) Rio de Janeiro, b) Venedig, c) Amsterdam, d) Wien I, Minoritenplatz; guten Tag! Unsere Büros sind derzeit nicht besetzt. Wenn Sie eine Eröffnungsrede bestellen wollen, sprechen Sie bitte nach dem Signalton« (Egyd Gstättner: »Please, hold the line!«. Anrufbeantworter österreichischer Gegenwartsliteratur. In: Die Presse vom 25. 10. 1996). Zu Polemiken gegen Menasse vgl. Verena Holler (Anm. 1), S. 120ff., bzw. zur Rolle des Autors im öffentlichen Diskurs vgl. ebd., S. 98–108.

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Verena Holler

sante Um-sich-Greifen Menasse’scher Wortschöpfungen sowie seiner ungewöhnlichen Analysekategorien.9 Je konsekrierter seine Position, desto häufiger gelang es ihm überdies, den Akteuren des Feldes die Diskursthemen selbst vorzugeben, wovon etwa die ›Macher-Debatte‹ um Viktor Klima oder die Diskussion rund um Österreichs Umgang mit seiner austrofaschistischen Vergangenheit Zeugnis ablegen.10 Zuweilen genügte ein einziger von Menasses dezidiert provokanten Artikeln, um in politischen, historischen oder literarischen Diskursen Österreichs mehr als ein Jahr lang Wellen zu schlagen. Als gemeinsames Charakteristikum all seiner Stellungnahmen in der Öffentlichkeit in den 80er und 90er Jahren kann dabei eine dezidierte und explizite Abgrenzung von allem Bestehenden, von den im jeweiligen Diskurs anerkannten Grundannahmen gelten. Man denke hier beispielsweise an Menasses intendierte Synthese von österreichischer (Neo-)Avantgarde und österreichischem (Neo-)Realismus der 70er oder, um ein Beispiel aus dem politischen Diskurs zu wählen, an seinen (bewusst inszenierten) Alleingang gegen die große Koalition bzw. die Sozialpartnerschaft.11 Menasse grenzte sich in diesem Zusammenhang überdies vom Gros seiner Schriftstellerkollegen ab, von jenen Staatsfeinden und Staatsdichtern in Personalunion, die aus Angst vor einem virtuellen Haider jeder intellektuellen Kritik an den realen politischen Verhältnissen nicht bloß entsagten, sondern sie sogar ahndeten, so zumindest Menasse: Aber die österreichischen Intellektuellen wurden nicht euphorisch, nicht einmal animiert, sondern sie wurden verschreckt und schließlich hysterisch. [. . .] Sie sehen die Gefahr einer Zerschlagung der Zweiten Republik, und es fällt ihnen zur Verteidigung der Republik nichts anderes ein als plötzlich jene Mythen, Legenden und Tabus zu verteidigen, die sie selbst immer kritisiert hatten, und sie tun dies, weil sie meinen, daß diese Mythen, Legenden und Tabus untrennbar zu der Republik gehören, die nun verteidigt werden müsse – statt zu sehen, daß sie damit genau jene Atmosphäre miterzeugen, von der Jörg Haider besonders geschickt profitiert.12

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Sei es nun die ›sozialpartnerschaftliche Ästhetik‹, die österreichische ›Personalunion von Staatsfeind und Staatsdichter‹, das Prinzip des ›Entweder-und-Oder‹, Haider als ›neuer Linker‹ oder Waldheim als ›der erste Aufklärer‹, um nur einige wenige Beispiele anzuführen: Menasses dialektische Formulierungen faszinierten offenbar die österreichische Öffentlichkeit und garantierten dem Schriftsteller schon dadurch Aufmerksamkeit im öffentlichen Diskurs. Für Beispiele bzw. detaillierte Angaben vgl. Verena Holler (Anm. 1), S. 98–108. Vgl. beispielsweise Robert Menasse: Hilfreich sei das Schreiben . . . In: Michael Fleischhacker/Horst Pirker (Hg.): Als das Schreiben noch geholfen hat. Kurt Wimmer zum 65. Geburtstag. Graz, Wien, Köln: Styria 1998, S. 187–195, hier S. 195: »Angeblich gibt es Haider ja wirklich, aber wirksam ist er nur deshalb, weil er seine Unwirklichkeit so besonders geschickt kultiviert, seine mediale, also virtuelle Omnipräsenz. Aber so allgegenwärtig er ist, in der Gegenwart greifbar ist er nie – er winkt aus der Vergangenheit, scheint dann wieder aus der Zukunft zu grüßen, und während wir wie bei einem Tennismatch rechts-links, rechts-links blicken, Vergangenheit-Zukunft, Vergangenheit-Zukunft, übersehen wir völlig, was diejenigen tun, die gegenwärtig wirklich Verantwortung tragen, für unsere Nur-Wirklichkeit«. Robert Menasse: Ein verrücktes Land. In: Falter vom 13. 10. 1995.

Positionen – Positionierungen – Zuschreibungen

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Nach der Bildung der schwarz-blauen Regierung im Jahr 2000 behielt Menasse diesen im intellektuellen Österreich einzigartigen Standpunkt nicht bloß bei, seine Distanzierung von und Kritik an anderen österreichischen Intellektuellen (bzw. an ihrem Alarmismus) wurde zunehmend schärfer im Ton und erweckte zuweilen den Eindruck einer Selbststilisierung zum einzig wahren intellektuellen Literaten Österreichs.13 Dass diese Strategie, das eigene Denken und Schreiben gegenüber allem bisher Gedachten und Geschriebenen als völlig neu und einzigartig darzustellen, ihrerseits ein beträchtliches Maß an Aufmerksamkeit garantiert, versteht sich von selbst: Ab dem Jahr 2000 erschien selbst in den ausländischen Medien kaum ein Beitrag zur politischen Situation Österreichs – und es gab derer, wie man weiß, nicht wenige –, ohne den »offiziellen Sprecher der Normalisierungsthese«, der Haider ironisch als »neuen Linken«14 geoutet hatte, zu Wort kommen zu lassen. Ähnliches gilt hinsichtlich der regelmäßig aufflackernden Austrofaschismus-Debatte: Sowohl im In- als auch im Ausland nahmen Artikel, die sich mit der Vergangenheitsbewältigung des heutigen Österreichs beschäftigten, beinahe immer auf Menasse Bezug. Dies nicht primär, weil Menasse diesem Thema in seinen Artikeln und Essays mehr Platz eingeräumt hätte als seine schreibenden Zeitgenossen, sondern zuallererst, weil er die Thematik in gänzlich neue Kategorien zu fassen verstand. Damit durchaus vergleichbar sind zudem die unzähligen, vom Autor selbst inszenierten kulturpolitischen Debatten und Initiativen, auch diese ausschließlich auf Österreich gemünzt, um letztendlich doch bis zur ausländischen Presse Kreise zu ziehen. Zu erwähnen wären hier etwa Menasses Projekt der Steuerflucht österreichischer KünstlerInnen, die medial inszenierte Stiftung des Jean-Améry-Preises, sein Austritt aus dem P. E.N.-Club etc.15 Nicht zu vergessen schließlich Menasses Präsenz im literarästhetischen Diskurs: Erinnert sei hier beispielsweise an seine 13

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Vgl. beispielsweise Robert Menasse: In achtzig Tagen gegen die Welt. Eine österreichische Zwischenbilanz. In: R. M.: Erklär mir Österreich. Essays zur österreichischen Geschichte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 158–176. Der Artikel erschien zuvor unter dem gleichen Titel im Standard vom 13. 5. 2000. Rüdiger Wischenbart: Was sonst noch geschieht. Nachwort. In: Robert Menasse: Hysterien und andere historische Irrtümer. Mit einem Nachwort von Rüdiger Wischenbart. Wien: Sonderzahl 1996, S. 81; Robert Menasse: Ein verrücktes Land (Anm. 12). Im Sommer 1998 verkündeten Robert Menasse und Robert Schindel in einem offenen Brief ihren Austritt aus dem P.E.N.-Club aus Protest gegen die Rückkehr Paul Kruntorads in den Schriftstellerverband. Auch dieser Schritt Menasses löste in der österreichischen Presse ein breites Echo aus. Mediale Aufmerksamkeit sicherte sich Menasse weiters mit der Stiftung des Jean-Améry-Preises, der nunmehr als höchstdotierte Auszeichnung für Essayistik im deutschen Sprachraum alle zwei Jahre von einer international besetzten Jury für das essayistische Gesamtwerk eines deutschsprachigen Autors vergeben wird. Menasse stiftete diesen Preis, als er 1999 für sein österreichkritisches essayistisches Werk den österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik erhielt, um so einen vom Staat unabhängigen Preis für Essayistik ins Leben zu rufen. Am 23. Februar 2001 publizierte Menasse in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen Artikel, in dem er vom Beschluss zahlreicher österreichischer Künstler berichtete, mittels einer im Ausland ansässigen Firma, der ›Free Austria Kunst Gmbh‹, der in Österreich Pflicht gewordenen Künstler-Sozialversicherung zu entgehen. Vgl. Robert Menasse: Das Kulturverhöhnungsgesetz. Den österreichischen Künstlern bleibt nur die Steuerflucht. In: Frankfurter

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Verena Holler

(verspätete) Kritik an der österreichischen Germanistik bzw. an ihrem vorgeblich mangelnden Interesse an österreichischer Literatur, an seine Weiterführung der These vom ›habsburgischen Mythos‹ in der Sozialpartnerschaftlichen Ästhetik oder an die vom Dichter erfolgreich verfochtene Rekanonisierung der beiden österreichischen Autoren Gerhard Fritsch und Heimito von Doderer. Viele dieser von Menasses bewusst häretischem Diskurs initiierten österreichischen Debatten erreichten Dimensionen, die selbst die ausländische, was vor allem heißen soll: die deutsche Presse veranlassten, ebenfalls davon Notiz zu nehmen, wobei sie ihre Aufmerksamkeit natürlich jeweils auf die Position bündelte, die sich vom Gros unterschied – auf Menasses Position eben. Alle genannten Stellungnahmen Menasses im öffentlichen Diskurs visierten österreichische Zustände im weitesten Sinn an und wussten sich dabei immer als neu und anders ins Licht zu rücken.16 Durch ihre explizite Abgrenzung von den jeweils gebräuchlichen diskursiven Kategorien und narrativen Konstruktionen brachten sie im österreichischen Diskurs jedes Mal aufs Neue eine Lawine ins Rollen und den Autor ins Gespräch. Auf die Kunst der Distinktion, nach Bourdieu Grundkapital in einem Universum, in dem »sein« und »sich unterscheiden«17 gleichzusetzen sind, verstand sich der junge Menasse also geradezu virtuos. Von dieser Kunst des Sich-Unterscheidens zeugten zunächst nicht bloß seine unzähligen in Literaturzeitschriften und in der Presse erschienenen Beiträge, diese explizite Distinktionsgebärde ist von Beginn an auch den Menasse’schen Essays eingeschrieben. Sei es nun in Die sozialpartnerschaftliche Ästhetik oder in Das Land ohne Eigenschaften, Menasse verstand es meisterhaft, sich – als Intellektueller und Schriftsteller – mit ebenso herausfordernder Geste wie provozierender Diktion über den Bruch mit allem Bestehenden zu definieren. Ein Agieren, das zweifellos nicht ohne Auswirkungen auf Menasses Karriere blieb, zumal »der Wert eines kulturellen Werkes«, wie wir spätestens seit Boris Groys wissen, »durch sein Verhältnis zu anderen Werken und nicht durch sein Verhältnis zur außerkulturellen Realität, nicht durch seine Wahrheit und nicht durch seinen Sinn bestimmt«18 wird. Betrachtet man Menasses Anfänge im österreichischen Feld der 80er bzw. in der ersten Hälfte der 90er Jahre, fällt weiters auf, dass sich seine häretischen Positionierungsversuche nicht auf die verbale Ebene beschränkten. Bewusste Regelverstöße scheinen von Anfang an Teil des Menasse’schen Labels zu sein, wusste der Wiener Autor seine mediale Präsenz doch erheblich zu vergrößern, indem er kontinuierlich gegen implizite Regeln des künstlerischen Feldes verstieß. Man denke hier etwa an die Publikation seiner so genannten Kinderbücher, die vor allem im österreichischen Feld gehöriges Missfallen erregten. Ein weiterer Regel-

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Allgemeine Zeitung vom 23. 2. 2001. Realisiert wurde dieses Projekt freilich nie, dennoch löste Menasses Vorschlag in Österreich eine Vielzahl an Reaktionen und Polemiken aus. Zu den Begriffen des ›Neuen‹ und des ›Anderen‹ vgl. Boris Groys: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. Frankfurt am Main: S. Fischer 32004, S. 46f. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 379. Boris Groys (Anm. 16), S. 13.

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verstoß Menasses bestand darin, als Schriftsteller mit Kunstanspruch im österreichischen Radio, im Fernsehen und auf Plakaten für eine Bank, die Creditanstalt, zu werben. Das mag im deutschen Feld zu Zeiten des popliterarischen Quintetts angehen, im Österreich der 90er Jahre war es schlicht und einfach anrüchig.19 Durchwegs unüblich für einen Anwärter auf eine Position am autonomen Pol des Feldes, wenn nicht skandalös, erschien zudem Menasses Fernsehauftritt bei der ORF-Talk-Show Schiejok täglich, einer Boulevard-Sendung, die dem Kunstund Literatur-Diskurs denkbar fern stand. Innerhalb des österreichischen literarischen Feldes selbst stießen derartige Tabubrüche kaum auf Akzeptanz und zogen jeweils eine ganze Reihe von Polemiken nach sich. Sie akkumulierten jedoch ein für einen Autor mit dezidiertem Kunstanspruch ungewöhnlich großes Maß an Aufmerksamkeit, das zugleich einen ständig wachsenden Mehrwert an Beachtung abwarf, ein sich selbst perpetuierender Mechanismus, den Georg Franck in seiner Ökonomie der Aufmerksamkeit20 eindrücklich beschrieben hat. Die Aufmerksamkeit erzwingende Distinktionsgebärde wusste der Nachwuchsautor außerdem in seinem literarischen Schaffen zu perfektionieren. Als Bezugspunkt der Menasse’schen Positionierungsversuche fungierte auch in diesem Zusammenhang zunächst das literarische Feld Österreichs.21 Sämtliche Epitexte, in denen der Autor sein literarisches Credo, sein Schreiben, die Legitimität seines künstlerischen Anspruchs etc. kommentierte, bezogen sich ausschließlich auf einen österreichischen Kontext, auf die Geschichte und Gegenwart des österreichischen Feldes. Deutsche Autoren, spezifisch deutsche, literarästhetische Traditionen usw. tauchten in den Stellungnahmen und Positionierungen des Nachwuchsautors weder als positiver noch als negativer Referenzpunkt auf, sie blieben vielmehr gänzlich ausgeblendet. Neben den zahlreichen Artikeln und Interviews sowie dem auszugsweise publizierten Arbeitsjournal zur Sinnlichen Gewißheit22 sei hier ferner auf 19

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Wie sehr sich der künstlerische Habitus im deutschen Feld der 90er gewandelt hat, wird etwa in folgender Äußerung Benjamin von Stuckrad-Barres deutlich: »Da sich unsere Verlage weigern, Bauzäune mit uns zu plakatieren, und sie auch keine Werbespots im Kino oder Fernsehen buchen, in denen Topmodels mit unseren Büchern posieren, müssen wir zu anderen Mitteln greifen, um dem Leser zu übermitteln: Es darf wieder gekauft werden. Es wäre ja töricht, sich auf die Literaturkritik zu verlassen. [. . .] So viele Menschen wie möglich sollen unsere Bücher kaufen und lesen – darum geht es. Beschlusslage in Deutschland ist aber ja: die Literatur ist nichts für die so genannte Masse. Literatur hat in kleinen miefigen Literaturhäusern stattzufinden, wird subventioniert, geduldet, ertragen. Sich dann innerhalb dieser Nische allerdings so laut wie möglich zu verhalten und tatsächlich eine schnöde Buchveröffentlichung als Ereignis zu stilisieren ist unser Ziel, denn nur so ist Berichterstattung, und somit Werbung, gewährleistet« (»Wir tragen Größe 46«. Benjamin von Stuckrad-Barre und Christian Kracht im Gespräch mit Anne Philippi und Rainer Schmidt. In: Die Zeit vom 9. 9. 1999. http://www.zeit.de/1999/37/199937.reden_stuckrad_k.xml.) Vgl. Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. München, Wien: Carl Hanser 1998. Vgl. Verena Holler (Anm. 1), S. 123–142. Vgl. Robert Menasse: Aus dem Arbeitsjournal 1987 zur ›Sinnlichen Gewissheit‹. In: Die Welt scheint unverbesserlich (Anm. 5), S. 340–352.

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die Sozialpartnerschaftliche Ästhetik23 verwiesen, in der der noch vergleichsweise wenig bekannte Menasse kaum ein gutes Haar an der österreichischen Gegenwartsliteratur ließ. Der an eine literaturwissenschaftliche Studie gemahnende Klappentext darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese harsche Kritik des Nachwuchsautors an den arrivierten österreichischen Autoren der 70er und 80er Jahre primär einer Vorwegnahme und Legitimation seines eigenen literarischen Œuvres, seines poetologischen Programms gleichkam. Der Essay war nämlich zuallererst eine beinahe idealtypische, den Kanon zugunsten der eigenen Position reevaluisierende Positionierung eines im Feld noch nicht etablierten Schriftstellers, eine Provokation für die Orthodoxie, eine Fundamentalkritik am damaligen literarischen Feld Österreichs. Der »Raum des Möglichen«24 , in dem der junge Autor sich eine Stellung zu erobern intendierte, war zunächst also das literarische Feld Österreichs. Dieser »Raum des Möglichen« wurde in den 70er und 80er Jahren von der expliziten Opposition zweier Paradigmen dominiert, die nach einer gemeinsamen Revolte gegen die Anwälte der Antimoderne in den 50er und 60er Jahren einander nun die literarische Legitimität streitig machten: die formal wenig innovativen ›Weltverbesserer‹ rund ums Wespennest einerseits und die ›Sprachartisten‹ rund um die manuskripte andererseits.25 Schreibweisen, die sich nicht einem der beiden dominierenden Lager zuordnen ließen, existierten zwar, wurden jedoch kaum wahrgenommen. Ein ähnlicher Mechanismus hatte in Österreich bereits in den 50er und 60er Jahren gewirkt, als noch die Frontenbildung zwischen Antimoderne und Moderne im Zentrum des literarischen Feldes stand und Autoren auf mittleren Positionen, wie etwa Gerhard Fritsch oder Hans Lebert, vorübergehend in Vergessenheit gerieten. Zwei Autoren übrigens, für deren posthume Anerkennung sich Jahrzehnte später Robert Menasse einsetzen sollte, dem ebenfalls eine Synthese von einander opponierenden literarästhetischen Positionen zum Anliegen werden wird. Beide genannten Definitionskämpfe spiegeln die bis in die 70er Jahre noch kaum entwickelte Autonomie des literarischen Feldes in Österreich wider, zumal weder die Diskussionen zwischen ›Antimoderne‹ und ›Moderne‹ in den 50er und 60er Jahren noch die zwischen ›sozialkritischer‹ und ›sprachkritischer‹ Literatur in den 70er Jahren auf literarästhetischer Ebene geführt wurden, sondern auf politischer – ein Aspekt, den auch Menasse mehrfach kritisierte.26 In beiden Fällen war es den letztlich erfolgreichen Häretikern um die Autonomie der Kunst zu 23

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Vgl. Robert Menasse: Die sozialpartnerschaftliche Ästhetik. Essays zum österreichischen Geist. Wien: Sonderzahl 1990. Pierre Bourdieu (Anm. 17), S. 371ff. Markus Paul: Sprachartisten – Weltverbesserer. Bruchlinien in der österreichischen Literatur nach 1960. (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft: Germanistische Reihe 44) Innsbruck: Institut für Germanistik 1991. Diskussionsgegenstand der in den manuskripten geführten Debatte waren keineswegs konkrete literarische Strategien. Den Kern der Auseinandersetzung bildete vielmehr die legitime Definition von Literatur bzw. deren notwendige Funktion. Markus Paul veranschaulicht in seiner Studie Sprachartisten – Weltverbesserer eindrücklich, bis zu welchem Grad die ästhetischen Positionen des Literaturbetriebs auch damals noch politisiert waren. Diesem Aspekt, so Paul, sei es letztlich auch zuzuschreiben, dass die Debatte weitgehend unfruchtbar blieb. Ähnlich beschreibt auch Menasse die damalige Situation im

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tun. Selbst wenn in den 70ern die so genannte ›Grazer Gruppe‹ die Ansprüche der ›(Neo-)Avantgardisten‹ der 50er Jahre de facto erheblich verflachte,27 kämpfte sie doch für das Ideal einer im weitesten Sinne autonomen Kunst, während die ›NeoRealisten‹ rund ums Wespennest der Literatur feldexterne Funktionen auferlegten. Rückblickend betrachtet haben sich, wie man weiß, die ›Sprachartisten‹ durchgesetzt – was übrigens auch ein Blick auf die momentanen Auseinandersetzungen im literarischen Feld Österreichs bestätigt –, dies jedoch nicht nur, weil sie die in den 60ern einsetzende Entwicklung des Feldes hin zu mehr Autonomie fortsetzten, sondern vor allem, weil sie es im Gegensatz zu den ›Neo-Realisten‹ verstanden, ihr Schreiben, um wieder mit Boris Groys zu sprechen, dem kulturökonomischen Prinzip des Neuen anzupassen.28 Menasse selbst stilisierte seine anfänglichen Positionierungsversuche im österreichischen Feld retrospektiv wie folgt: [D]as Furchtbare war eben, daß mein Talent und auch mein Wunsch, wie ich immer stärker merkte, das Erzählen war, und plötzlich gab es für mich kein greifbares Vorbild hier in Österreich. Die, die noch ungebrochen erzählt haben, waren die kalten Krieger, die auch ästhetisch so konservativ waren, daß ihre ›Du-holde-Kunst‹-Prosa geradezu eine Parodie ihres eigenen Anspruchs zu sein schien. Sie haben die Jungen verhöhnt, und forderten selbst nur zum Verhöhnt-Werden heraus. Und die Linken, die politisch und ästhetisch rebellierten, konnten sich weder mit dem, was es gab, sinnvoll auseinandersetzen, noch konnten sie sich überhaupt entscheiden, was sie wollen. Die einen wollten den Tod der Literatur – man kann nicht mehr schreiben, schon gar nicht erzählen, man muß jetzt Revolution machen, Betriebsrat, der Arbeiterklasse das Bewußtsein liefern. [. . .] Andere haben gefordert, man muß jetzt diesen planen sogenannten Realismus produzieren, die Charly-Traktor-Literatur. [. . .] [E]s war ein Punkt, von dem aus man [. . .] nirgendwohin aufbrechen konnte. Und dann gab es die, die von beiden verachtet wurden; die gesagt haben: ›Mich interessiert nur die Sprache.‹ Die haben aber zumindest

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literarischen Feld: »Zwar ist es gerade in dieser Zeit zu Lagerbildungen gekommen, zur Spaltung des literarischen Lebens, zu hitzigen Auseinandersetzungen, aber sie wurden in Ermangelung einer gewachsenen Kultur ästhetischer Debatten politisch ausgetragen, mit dem Schema rechts und links, konservativ und revolutionär. [. . .] Die Situation war, was ästhetische Debatten betrifft, völlig unproduktiv. Die Debatten, die damals aufbrachen, und die Spaltung des literarischen Lebens zeigten nicht, daß jetzt doch eine Diskussionskultur in Österreich entstand, sondern machten besonders deutlich, daß sie fehlte. Hans Leberts Feuerkreis war kurz davor erschienen, ein großartiger, kühner Roman, der aber völlig unterging, der Name Lebert spielte keine Rolle, wahrscheinlich weil er in das damalige Schema alt-jung und rechts-links nicht einordenbar war oder da nicht mitmischte, auf Albert Drach wurde vergessen, auf Gerhard Fritsch«. (Zitiert nach Robert Menasse: Mit avanciertem Kunstanspruch erzählen. In: Ernst Grohotolsky [Hg.]: Provinz, sozusagen. Österreichische Literaturgeschichten. Graz, Wien: Droschl 1995, S. 229–241, hier S. 234f.) Vgl. Reinhard Priessnitz und Mechthild Rausch: tribut an die tradition: aspekte einer postexperimentellen literatur. In: Peter Laemmle/Jörg Drews (Hg.): Wie die Grazer auszogen, die Literatur zu erobern. München: Edition Text + Kritik 1975, S. 119–149; Viktor Žmegaˇc: Zur österreichischen Tradition in der Grazer Gruppe. In: Kurt Bartsch/Gerhard Melzer (Hg.): Trans-Garde. Die Literatur der »Grazer Gruppe«. Forum Stadtpark und »manuskripte«. Graz, Wien: Droschl 1991, S. 125–140. Vgl. Boris Groys (Anm. 16), S. 91ff. und S. 108.

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einen Berührungspunkt mit den Linken gehabt – daß man nicht mehr erzählen kann und darf.29

Dies beschreibt zum einen tatsächlich die Kräfteverhältnisse, mit denen sich Menasse zum Zeitpunkt seines literarischen Debüts konfrontiert sah, zum anderen verbirgt sich dahinter eine geschickte Positionierungsstrategie,30 die Bourdieu in den Regeln der Kunst als ›zweifachen Bruch‹ beschreibt.31 In einer Zeit absoluter künstlerischer Stagnation – und als solche will der Dichter die Zeit seiner literarischen Anfänge offenbar verstanden wissen – erweist sich eine Synthese der einzelnen, in ihrer antagonistischen Haltung auf der Stelle tretenden literarästhetischen Positionen als einzig denkbarer Ausweg aus der künstlerischen Sackgasse: eine Aufhebung der Gegensätze, die die brachliegende literarästhetische Entwicklung fortführt, diese jedoch nicht auf formale Aspekte reduziert sehen will und sich somit explizit von der Position der Avantgarde absetzt, ohne aber deren Autonomieanspruch aufzugeben.32 Menasses »mit avanciertem Kunstanspruch [E]rzählen«33 muss so als einzig mögliche Weiterentwicklung existierender literarästhetischer Tendenzen erscheinen.34 Seine literarische Umsetzung fand dieser auf das österreichische Feld gemünzte Positionierungsversuch schließlich in der Trilogie der Entgeisterung.35 29 30

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Zitiert nach Robert Menasse (Anm. 26), S. 235f. Dies zumal eine anspruchsvolle, erzählende Literatur de facto immer existierte. War es in der unmittelbaren Nachkriegszeit unter anderen Doderer, der nach wie vor an der Erzählbarkeit der Welt festhielt, lässt sich diese Linie über Gerhard Fritsch, Hans Lebert, Albert Drach, Marlen Haushofer und, unter veränderten Vorzeichen, bis zu den ›Grazern‹ nachzeichnen, etwa bei Barbara Frischmuth und Gerhard Roth, die sich die Kritik ihrer literarischen Väter nicht zuletzt wegen der »Wiederentdeckung des Erzählens« (Günther Eichberger: Die Theorie der Praxis, die Praxis der Theorie. Das poetologische Selbstverständnis österreichischer Gegenwartsautoren. Graz: Univ. Diss. 1984, S. 279) zuzogen. Gemeinsam ist AutorInnen wie Fritsch, Lebert, Drach und Haushofer, dass sie, da sie nicht in die das Feld dominierenden, antagonistischen Positionen passten, erst mit erheblicher Verspätung rezipiert bzw. kanonisiert wurden. Vgl. Pierre Bourdieu (Anm. 17), S. 127: »Die Inhaber« einer solcherart erst »aufzubauende[n]«, jedoch »latent im Raum der bereits bestehenden Positionen vorhanden[en]«, »widersprüchlichen Position« sind Bourdieu zufolge »gezwungen, sich in zweifacher, je unterschiedlicher Hinsicht von den verschiedenen etablierten Positionen abzusetzen und damit zu versuchen, das Unversöhnbahre zu versöhnen, nämlich die beiden entgegengesetzten Prinzipien, die diese doppelte Ablehnung bestimmen.« Vgl. dazu beispielsweise die diesbezügliche Stellungnahme von Robert Menasse (Anm. 26), S. 237. Zitiert nach ebd., S. 236. Vgl. Verena Holler (Anm. 1), S. 123–142. Bereits im auszugsweise publizierten Arbeitsjournal zum ersten Band der Trilogie findet sich indes ein explizites Zeugnis dieser Intention, ein Werk zu schreiben, das zugleich dem Realismus sowie »der Negativität der Avantgarde und ihrer vernünftigen Kritik am Realismus« verpflichtet sei, eines, das zugleich »realistisch« und »hermetisch« in sich geschlossen sei und »der Realität und ihrer Verfaßtheit« opponiere; »Wenn die Wahrheit wirklich das Ganze ist, dann muß die künstlerische Wahrheit diese beiden gegensätzlichen Haltungen [. . .] in sich verschmelzen.« (Robert Menasse [Anm. 22], S. 341f.)

Positionen – Positionierungen – Zuschreibungen

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Das poetologische Credo eines Autors und damit sein Verhältnis zur dominierenden Position im Feld findet nicht nur im Werk selbst einen Niederschlag, sondern wird überdies in der vom Autor konstruierten literarischen Tradition offenkundig, als deren legitimer Nachfolger er sich im Feld zu positionieren sucht. Je häretischer der Diskurs eines Autors oder, wenn man so will, je innovativer sein Programm, desto mehr wird es ihm darum zu tun sein, nicht bloß Ansprüche als Erbe einer anerkannten, ruhmreichen Ahnenreihe explizit geltend zu machen, sondern vielmehr darum, den anerkannten Kanon umzuwerten – auch dies eine Strategie, die die anfänglichen Positionierungsversuche Robert Menasses charakterisiert. Menasse erschuf sich seine eigene literarische Tradition, eine nämlich, als deren legitime und einzig mögliche Weiterentwicklung sein ›hermetischer Realismus‹ erscheinen sollte. An der Spitze des Menasse’schen Gegenkanons rangierten die beiden österreichischen Autoren Gerhard Fritsch und Heimito von Doderer. Beiden war es, ganz wie Menasse selbst, um die narrative Erfassung der Welt zu tun, ohne dabei, im Gegensatz zu den Erzählern der damals dominierenden Antimoderne, den Kunst- und Innovationsanspruch über Bord zu werfen. Auch die literarische Tradition, in deren Nachfolge sich der junge Menasse verortete, war anfangs mithin eine dezidiert österreichische. Von Interesse erscheint zudem, dass beide Autoren, Doderer und Fritsch, Ende der 80er Jahre, als sich Robert Menasse mit Verve für die Anerkennung ihres Œuvres einzusetzen begann, definitiv nicht im Zentrum eines ›österreichischen Kanons‹ standen, zumindest als fragwürdig galten, zumal sie als ›Erzähler‹ eher der Antimoderne zugerechnet wurden als der kanonisierten, sprachkritischen, nicht-narrativen Moderne.36 Wenn Heimito von Doderer heute als anspruchsvoller österreichischer Autor rekanonisiert ist und das Werk Gerhard Fritschs nicht nur im Suhrkamp Verlag – übrigens mit einem Vorwort Menasses – wieder aufgelegt wurde, sondern Fasching und Katzenmusik gar als Österreichroman bzw. Österreichfragment schlechthin rezipiert werden, so ist dies auch den Positionierungen und der Position Robert Menasses zuzuschreiben. Der gelungenen Umwertung der Tradition, die das Festhalten an der Erzählbarkeit der Welt vom Verdacht des Reaktionären befreit, korrespondiert, anders ausgedrückt, eine gelungene Positionierung Menasses selbst. Dies umso mehr, als Menasses erfolgreiche Aufwertung der beiden Schriftsteller immer positiv auf Aspekte Bezug nahm, die letztlich seine eigenen Texte charakterisieren: die 36

»Als Robert Menasse das Werk Doderers empfahl, tat er etwas, das vor etwa zehn Jahren ungewöhnlich war: Dieser Autor schien im besten Falle in der Nische einer respektablen Konservativität abgestellt zu sein« (Wendelin Schmidt-Dengler: Robert Menasse versus Heimito von Doderer. Anmerkungen zu Menasse und xMusil, Doderer und Lukács. In: Die Welt scheint unverbesserlich [Anm. 5], S. 223–233, hier S. 231). Vgl. zum Beispiel auch: Robert Menasse: Die Vollendung des Fragments. Zur Aktualität der »Katzenmusik« von Gerhard Fritsch. In: Literatur und Kritik 27 (1992) 263–264, S. 19–29. Entscheidend erscheint Menasse das künstlerische Verfahren Fritschs, sei es ihm doch gelungen, den für dieses Land als charakteristisch bezeichneten Mechanismus, seine Realität ausschließlich in Symbolen zu spiegeln, in ein zeitloses literarisches Verfahren zu verwandeln, ohne dass das Werk symbolistisch wirke: »Im Gegenteil: es ist realistischer, als der Realität offenbar lieb ist« (ebd., S. 24).

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Erzählbarkeit der Welt, den Totalitätsanspruch sowie die literarische Gestaltung und Aufhebung dieser gesellschaftlichen Totalität durch avancierte künstlerische Mittel.37 Im Vergleich zum anfänglich provokativen Diskurs der Häresie nahm sich der etablierte Autor nach der Jahrtausendwende wenig angriffslustig gegenüber Schriftstellerkollegen aus. Der alleinige Geltungsanspruch des jungen Talents von einst, der das eigene literarische Credo als einzig denkbare Synthese bestehender, am Status quo stagnierender Ansätze ins Licht zu rücken verstand, schien in der Wahrnehmung des arrivierten Künstlers einem interessierten Akzeptieren der Vielfalt gewichen.38 Im Rahmen seiner Frankfurter Poetikvorlesungen gestand der anerkannte Dichter schließlich gar den alleinigen künstlerischen Geltungsanspruch, den er in der Sozialpartnerschaftlichen Ästhetik fünfzehn Jahre zuvor selbst noch vehement erhoben hatte, als eine für den künstlerischen Erfolg erforderliche Strategie ein, natürlich ohne den Anspruch damit gänzlich aufzugeben.39 Gewandelt hat sich zudem der Referenzpunkt der Positionierungen des Dichters. War es dem jungen Menasse nämlich noch darum zu tun, sein Schreiben als in der österreichischen Literatur einzigartig auszuweisen, bezieht sich seine Positionierung als etablierter Autor nunmehr vor allem auf die Konstellationen im deutschen literarischen Feld.40

3. Zuschreibungen Die anfänglichen Positionierungsversuche Menasses, dies sollte mittlerweile deutlich geworden sein, visierten zunächst eine Position im österreichischen Feld der 90er Jahre an. Wenn der Schöpfer Menasse dann, wie wir im Folgenden sehen werden, zunächst tatsächlich von diesem erschaffen wurde, während ihn das deutsche Feld vorerst kaum beachtete, nimmt das somit nicht weiter wunder. Der literarische Rang Menasses im Österreich der 90er Jahre hat in zahlreichen österreichischen Konsekrationsakten, im Duktus begeisterter Rezensionen, in seiner 37

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Siehe beispielsweise ebd., S. 21: »Der Roman Katzenmusik erzählt keine Geschichte, er verweist auf die Geschichte. Die Radikalität, mit der die Handlung eines literarischen Textes ihren Sinn nur entfaltet, wenn man die sogenannte große Geschichte mitdenkt, ist in der österreichischen Literatur einzigartig.« Mehr dazu in Anmerkung 36 dieses Beitrags. Doderer hingegen erscheint Menasse als vorbildlich in seinem Anspruch, »gesellschaftliche Totalität in einem Roman herzustellen und zu verdichten«, sowie zum zweiten in seiner literarischen Entwicklung hin zu einer »glasklare[n] Sprach- und Kompositionskunst«, Qualitäten, durch die Menasse auch sein eigenes Schreiben charakterisiert sieht; zitiert nach Robert Menasse (Anm. 26), S. 232. Vgl. Verena Holler (Anm. 1), S. 104–164, und Ernst Grohotolsky: Gespräch mit Robert Menasse. In: Kurt Bartsch/Verena Holler (Anm. 3), S. 9–23, hier S. 21. Vgl. Robert Menasse: Die Zerstörung der Welt als Wille und Vorstellung. Frankfurter Poetikvorlesungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 9ff. Vgl. Ernst Grohotolsky (Anm. 38); Wir sind am Ende. Robert Menasse im Gespräch mit Eva Schörkhuber. In: Eva Schörkhuber (Anm. 3), S. 9–20, hier S. 18; siehe auch Erlesenes Europa: Literatur und Politik. Dieter Stolz im Gespräch mit Günter Grass und Robert Menasse. In: ebd., S. 29–51.

Positionen – Positionierungen – Zuschreibungen

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Funktion als offizieller Eröffnungsredner der Frankfurter Buchmesse und in seiner dominierenden Rolle im öffentlichen Diskurs deutliche Spuren hinterlassen. »Menasse nicht zu verehren hatte etwas Dilettantisches an sich«,41 resümierte 1997 denn auch ein Rezensent im Standard die Position des Autors im österreichischen Feld. Menasses Preise und Auszeichnungen, seine Verlagskarriere, der Rezeptionsverlauf seiner Romane, die Frankfurter Poetikvorlesungen und nicht zuletzt die allmählich einsetzenden expliziten Bezugnahmen Menasses auf das deutsche Feld veranschaulichen jedoch, dass er sich ab etwa Mitte der 90er Jahre zudem eine gewisse Position im deutschen Feld eroberte. Wie erklärt sich dies nun? Wird jeder Autor, der es innerhalb des österreichischen Feldes zu literarischen Ehren gebracht hat, zwangsläufig auch vom deutschen Feld konsekriert? Dass dem keinesfalls so ist, belegen Beispiele wie Elfriede Gerstl und Andreas Okopenko.42 Warum also wurde gerade Robert Menasse im Lauf seiner Karriere die Aufmerksamkeit und Anerkennung des deutschen Feldes zuteil? Eine Erklärung dafür findet sich nicht nur in der zuvor beschriebenen, vom Autor förmlich perfektionierten Distinktionsgeste; eine Antwort auf diese Frage ist ferner in Menasses Romanen selbst zu suchen: Ihren hochgreifenden literarischen und philosophischen Ambitionen zum Trotz hält man nämlich auch mit Menasses ersten drei Romanen nicht bloß elitäre literarische Selbstbespiegelungen in Händen, sondern auch – wenn auch komplex und vielschichtig konstruierte – durchwegs unterhaltsam erzählte Geschichten. Zusammengehalten werden die einzelnen Bände der Trilogie der Entgeisterung zum einen thematisch sowie zum anderen durch ein dichtes Netz von Zitatmontagen, Symbolen und Motiven. Lesern, die lediglich an den vordergründig erzählten Geschichten interessiert sind, wird jedoch ein Entschlüsseln der unzähligen in den Textfluss verwobenen literarästhetischen und philosophischen Reflexionen nicht abgenötigt. Dem im deutschen Feld der 90er lautstark eingeklagten Lesbarkeits- und Unterhaltungsgebot kommt weiters die Ironie der Trilogie entgegen. Über diese, einem heteronomen Literaturverständnis zumindest nicht opponierenden Qualitäten hinaus erheben Menasses erste Romane jedoch explizit den Anspruch, nicht bloß beliebige »Petitessen«43 zu erzählen, verschreibt sich Die Trilogie der Entgeisterung doch dem nicht eben bescheidenen Ziel, die gegenwärtige Welt mittels avancierter literarischer Verfahren in ihrer Totalität narrativ einzufangen und im Hegel’schen Sinne ›aufzuheben‹. Sie reflektiert und reaktiviert dazu nicht nur Georg Friedrich Wilhelm Hegels Phänomenologie des Geistes, sondern zudem ein traditionelles, an Georg Lukács geschultes Modell realistischen Erzählens. Diese Rückkehr zu traditionellen Erzählstrategien, die das deutsche Feld im Zuge der Lesbarkeitsdebatte der 90er vehement einforderte, gebärdet sich im Fall der Trilogie jedoch als Resultat einer bewussten Auseinandersetzung mit der 41 42

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Daniel Glattauer: Die Prinzessin vor der Linse. In: Der Standard vom 14. 11. 1997. Die 1932 geborene Elfriede Gerstl wurde nach zahlreichen österreichischen Preisen und Stipendien erst im Jahr 2004 vom deutschen Feld ausgezeichnet, ein Konsekrationsakt, dessen das Werk Andreas Okopenkos nach wie vor harrt. Herlinde Koelbl: Im Schreiben zu Haus. Wie Schriftsteller zu Werke gehen. Fotografien und Gespräche. München: Knesebeck 1998, S. 77.

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Geschichte des literarischen Feldes und kommt keiner naiven Rückkehr zum Erzählen unter Missachtung der Genese und Entwicklung des Feldes gleich. Als Widerspiegelung der ideellen Welt erweisen sich Menasses erste Romane nämlich nicht nur als Zusammenhang stiftende Erzählungen der verloren gegangenen Totalität, sondern darüber hinaus als selbstreferenzielle literarästhetische Diskurse. Unabhängig davon, dass der junge Menasse anfangs eine Position im österreichischen Feld ins Auge fasste, war die Zwischenposition des mehrfach codierten ›hermetischen Realismus‹ besonders geeignet, sowohl im österreichischen als auch im deutschen Feld der 90er Jahre von sich reden zu machen. Menasses ›avancierter Kunstanspruch‹ gewährleistete trotz der intendierten Welthaltigkeit seiner Romane eine zentrale Position im österreichischen Feld der Literatur, in dem – ganz im Gegensatz zu seinem deutschen Pendant – die Macht des autonomen Pols in den 90er Jahren unangetastet blieb.44 Dem Festhalten an der Erzählbarkeit der Welt sowie am ›delectare‹ verdankt der Autor zu einem Gutteil jene Aufmerksamkeit, die ihm von Seiten des deutschen Feldes zuteil wurde, dessen heteronomer Pol deutlich gestärkt aus der Lesbarkeitsdebatte hervorgehen sollte.45 Anders liegt der Fall bei Menasses jüngstem Roman: Die Vertreibung aus der Hölle ist im Vergleich zur Trilogie ein durchaus traditionell gestrickter Roman, dessen narratives Modell im Gegensatz zu dem des Erstlingswerks nicht eben subtil angelegt ist. Jene, die sich eingehender mit dem Œuvre des Autors beschäftigt haben, mussten die beachtliche Menge an begeisterten Rezensionen und Konsekrationsakten, die dem Roman im deutschen Feld zuteil wurden, einigermaßen erstaunt zur Kenntnis nehmen.46 Während die österreichische Kritik zuweilen beinahe schadenfroh den künstlerischen Abstieg Menasses in die Trivialität verlautbarte, schien der Autor im deutschen Diskurs durch diesen Roman präsenter denn je. Und dies aus mehreren Gründen: Zum einen war Die Vertreibung aus der Hölle der erste Roman Menasses, der bereits in erster Auflage nicht mehr bei Residenz, sondern bei Suhrkamp erschien, was die Wahrscheinlichkeit, vom deutschen Feuilleton beachtet zu werden, sprunghaft ansteigen lässt. Zum zweiten befriedigte auch dieser Roman, und zwar wesentlich unmittelbarer als seine Vorgänger, die im deutschen Feld wieder zu literarischen Ehren gekommene Lust an Geschichten. Menasse bediente sich hier durchwegs traditioneller Erzähltechniken, um Geschichte und Gegenwart narrativ einzufangen. Die von einer Reihe von Symbolen und Motiven getragene narrative Konstruktion fiel in der Vertreibung aus der Hölle um einiges simpler und mechanischer aus als in der vielschichtigen 44

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Für eine Analyse der unterschiedlichen literarästhetischen Positionen im deutschen und im österreichischen Feld der 90er Jahre vgl. Verena Holler (Anm. 1), S. 56–80. Zur deutschen Lesbarkeitsdebatte vgl. ebd. sowie Andrea Köhler/Rainer Moritz (Hg.): Maulhelden und Königskinder. Zur Debatte über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Leipzig: Reclam 1998. Während der frühere österreichische Preisregen zu versiegen schien, erhielt Menasse in Deutschland nun gleich mehrere Auszeichnungen, so etwa den Joseph-Breitbach-Preis, den Friedrich-Hölderlin-Preis, den Lion-Feuchtwanger-Preis und den Marie-LuiseKaschnitz-Preis.

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Trilogie. Komplexe, in den Erzählfluss montierte literarästhetische Reflexionen etwa suchte man in diesem Roman vergeblich. Ob eine Lust an Geschichten auch in Österreich existierte, sei dahingestellt; literatursalonfähig war sie jedoch im dortigen Diskurs der 90er Jahre keineswegs. Im Gegenteil: Die Macht des autonomen Pols blieb, bedingt durch die spezifische Geschichte und Struktur des Feldes und dessen von Deutschland differente Machtverhältnisse, bis zum Jahrtausendwechsel weitgehend unangetastet.47 Dass sich in den unterschiedlichen Kräfteverhältnissen innerhalb der beiden Felder einer der Gründe für die völlig gegensätzliche Aufnahme des Romans verbirgt, liegt auf der Hand. Darüber hinaus befriedigte Menasses jüngster Roman jedoch noch eine ganz andere Lust, die in Deutschland seit den 90er Jahren vehement um sich griff: die Lust nicht an Geschichten, sondern an Geschichte. Die Vertreibung aus der Hölle ist im Grunde die literarische Spielform des Gedächtnisdiskurses, der die geistes- bzw. kulturwissenschaftliche, literarische und politische Diskussion in Deutschland seit Jahren beschäftigt, was in Österreich nicht in vergleichbarem Ausmaß der Fall war und ist. Den Eindruck, dass dies ein wesentlicher Aspekt für die überaus positive Aufnahme des Romans in Deutschland war, vermittelten nicht bloß die ersten Rezensionen, sondern zudem die Laudationes zu Literaturpreisen, die dem Roman in Deutschland zugesprochen wurden.48 Wenn Robert Menasse mittlerweile, wie polemisch auch immer, tatsächlich zu »Österreichs intellektuelle[m] Chefkommentator« und zu einem »der wichtigsten Autoren Österreichs«49 gekürt wurde, so verdankt sich dies neben seinem Werk und seinem herausfordernden Agieren außerdem all jenen Diskursen, die seine Position explizit als einzigartig zu legitimieren und zu würdigen wussten und ihm allmählich all jene Attribute zuwiesen, die man heute mit dem Schriftsteller und Intellektuellen Robert Menasse verbindet. Ein Blick auf die Rezensionen50 zu den Romanen Menasses erlaubt es in diesem Sinne nicht nur, die jeweilige Position, die der Autor in den beiden literarischen Feldern mittlerweile für sich reklamieren kann, bzw. deren Genese und Kursschwankungen zu rekonstruieren, sondern macht zudem einige grundlegende Differenzen zwischen dem österreichischen und deutschen Feld augenfällig. Die Kritiken zu Menasses Debütroman legen ein deutliches Zeugnis davon ab, dass der Grundstein für die späteren Positionen des Autors im literarischen Feld 47 48

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Vgl. Verena Holler (Anm. 1), S. 44–92. Jens Jessen etwa scheinen manche von Menasses geschichtsphilosophischen Überlegungen so bedeutsam, dass man sie gar »in Erz gießen und in Granit meißeln« sollte. Vgl.: Jens Jessen: Herrenlose Schuld. Geschichtskonstruktion und Geschichtstrauma – Anmerkungen zu einem Motiv in Robert Menasses Roman »Die Vertreibung aus der Hölle«. Rede zur Verleihung des Marie-Luise-Kaschnitz-Preises 2002. In: Eva Schörkhuber (Anm. 3), S. 317–325, hier S. 321. Günter Kaindlstorfer: Auf der Suche nach der Qualität. In: Format vom 18. 1. 1999; Hans Magenschab: Es gibt auch wieder den Teufel. In: morgen (2004) 7, S. 18–21, hier S. 18. Der knappe Rahmen dieses Beitrags erlaubt nicht mehr als die bloße Andeutung einiger Tendenzen des Rezeptionsverlaufs. Für eine detaillierte Rezeptionsanalyse vgl. Verena Holler (Anm. 1), S. 267–281.

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Österreichs gelegt wurde. Als Sinnliche Gewißheit 1988 als rororo-Taschenbuch erschien, war der Nachwuchsautor Menasse in Deutschland gänzlich unbekannt. In Österreich hingegen genoss er zumindest unter Insidern einen gewissen Bekanntheitsgrad, zum einen durch diverse Publikationen in Literaturzeitschriften sowie zum anderen durch das soziale Kapital, über das der Autor in der Wiener Literaturszene verfügte. Dies erklärt wohl das Ungleichgewicht von nur drei deutschen Rezensionen gegenüber immerhin fünfzehn österreichischen. Das in Letzteren zum Ausdruck gebrachte euphorische Lob der sprachlichen Qualitäten »an der Grenze zwischen Sprachvirtuosität, Ironie und Stilübung«,51 des intellektuellen Anspruchs sowie dessen geglückter literarischer Umsetzung begründete den folgenden kometenhaften Aufstieg des Autors. Die österreichische Kritik schien sich jedenfalls durchaus einig über dieses »erstaunliche Erstlingswerk«52 . Wurden in diesen Urteilssprüchen einesteils literarästhetische, philosophische und unterhaltende Qualitäten des Romans (an)erkannt, wurde Menasses Werk überdies explizit die Weihe der Kunst ausgesprochen und der Text in einem gewichtigen Traditionszusammenhang verortet. Demgegenüber zeigten sich die wenigen deutschen Rezensionen vom Erstlingswerk nicht durchwegs angetan. Was den Österreichern als künstlerisch und intellektuell anspruchsvolles Werk anmutete, wurde im deutschen Feld von manchem gar aus Mangel an Welthaltigkeit aus dem Reich der Literatur verwiesen.53 In den folgenden Jahren indes wuchs die Aufmerksamkeit kontinuierlich, die Menasse von deutscher Seite zuteil wurde. Die 1995 erschienene Schubumkehr etwa wurde in Deutschland und Österreich bereits gleichermaßen wahrgenommen. Auch das Urteil fiel, vergleicht man bloß die Anzahl der positiven und negativen Rezensionen, durchaus ähnlich aus. Während Menasse also im österreichischen Feld zunehmend kritischer betrachtet wurde – es ging dort eben nicht mehr darum, einen Newcomer zu entdecken, sondern darum, einen anerkannten Autor im Feld zu positionieren –, lernte die deutsche Kritik den Autor offenbar mehr und mehr zu schätzen. Dabei fällt auf, dass sich die jeweiligen Urteilsbegründungen in den beiden Feldern stark unterschieden. Bezog sich die österreichische Kritik primär auf sprachliche, philosophische und literarästhetische Aspekte, um Menasse das Gütesiegel der Kunst zuzusprechen oder zu verwehren, bemaß die deutsche Kritik die Qualität seiner Romane nicht nur, aber vor allem anhand ihrer Welthaltigkeit und ihres Unterhaltungswerts. Beide genannten Tendenzen verstärkten sich im Rezeptionsverlauf des jüngsten Romans Menasses. Unter den österreichischen Rezensionen zu Die Vertreibung aus der Hölle fand sich zwar kein einziger Verriss, ebenso wenig jedoch uneingeschränktes Lob; die Begeisterung der Kritiker hielt sich merklich in Grenzen. Im Gegensatz zu Österreich sparte man in Deutschland hingegen nicht mit Lob für den Suhrkamp-Autor. In den Augen des deutschen 51

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Ulrike Söllner-Fürst: Roman in Brasilien. Über Robert Menasses »Sinnliche Gewissheit«. In: Gegenwart 10 (1991) 2, S. 34. So Michael Amon: Menasses Erstling. In: Die Furche vom 22. 7. 1988. Vgl. zum Beispiel Anette Meyhöfer: Gnadenlose Peinlichkeit. Robert Menasses Debütroman »Sinnliche Gewissheit«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. 6. 1988.

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Feuilletons war es vor allem die Spannung, der Erzählduktus, der Menasses Roman auszeichnete: »ein großer Roman«, »ein Volltreffer«: »Das ist Gedankenprosa im besten Sinne, historisch präzise, wohl reflektiert und doch sinnlich und spannend komponiert und erzählt. Keine Akrobatik, keine Phrasen, keine philosophischen Exkurse in Glanzpapier verpackt.«54 Ist dem Rezeptionsverlauf einerseits die österreichische Genese der ›Schöpfers‹ Menasse eingeschrieben, ist er andererseits Beleg der unterschiedlichen literarästhetischen Kriterien, denen die Profession der Literaturkritik in Deutschland und Österreich tendenziell folgt. Wie bereits an anderer Stelle erläutert,55 leitet sich diese Differenz primär aus der unterschiedlichen Struktur der beiden Felder her. Diese konstituieren sich nämlich durch differente Kräfteverhältnisse zwischen den einzelnen, das Feld bildenden Akteuren, was sich unter anderem aus der unterschiedlichen Geschichte der Felder bzw. ihrem jeweils anderen Bezug zum Feld der Macht erklärt. So stellt etwa in Deutschland die journalistische Literaturkritik einen entscheidenden Faktor im literarischen Feld dar, der ständig darum bemüht ist, seine Stimme anderen Instanzen des Feldes gegenüber durchzusetzen. Als eindrucksvolles Beispiel hierfür sei abermals an die so genannte Lesbarkeitsdebatte der 90er Jahre erinnert. Während sich in Deutschland die Profession der Literaturkritik im Kampf um die Benennungsmacht gegen andere Konsekrationsinstanzen durchzusetzen sucht und damit nicht zuletzt auf die Kanonbildung entscheidenden Einfluss nimmt, fehlt dieses Gewicht im österreichischen Feld beinahe zur Gänze. Literaturkritik als eigenständige Profession existiert dort nicht in einem Ausmaß, das einen spezifischen Habitus mit sich brächte. Erklärt sich dies einerseits dadurch, dass österreichische Medien der Literatur oft nicht einmal marginalen Platz einräumen, so andererseits dadurch, dass Literaturkritik in Österreich vor allem eine Domäne der universitären Germanistik ist. Dies zumal man auf der Suche nach Rezensionen bzw. nach literarästhetischen Debatten im österreichischen Feld weniger in der Presse als vielmehr in Literaturzeitschriften fündig wird, in denen primär Germanisten und Autoren, die im Gegensatz zur journalistischen Literaturkritik tendenziell dem Pol der ›reinen Kunst‹ nahe stehen, ihr Urteil über die jüngsten literarästhetischen Entwicklungen fällen. Aufgrund dieser strukturellen Schwäche der journalistischen Literaturkritik neigen professionelle österreichische Kritiker zum Übernehmen des Wertekanons der dominanten Kraft im Feld, was in den 90er Jahren nach wie vor bedeutete: des autonomen Pols. Mangels eines kapitalistisch entwickelten Verlagswesens fehlt im Geraune des österreichischen Literaturbetriebs zudem die Stimme jener Verleger, die sich in deutschen Debatten des Öfteren den Positionen der tendenziell am heteronomen Pol situierten Literaturkritik anschließen. Bis vor kurzem blieb die Autorität der Urteilssprüche des autonomen Pols in Österreich deshalb quasi unangetastet. War das deutsche Feld der 90er Jahre geprägt von einer zunehmenden Verlagerung der literarischen Benennungsmacht hin zum heteronomen Pol des Feldes, was sich etwa in den Auseinandersetzungen um die ›Lesbarkeit‹ der zeitgenössischen deutschsprachi54 55

Thomas Kraft: Schöne heillose Welt. In: Rheinischer Merkur vom 12. 10. 2001. Vgl. Verena Holler (Anm. 1), S. 44–92.

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gen Literatur niederschlug, konnte im österreichischen Feld der autonome Pol die Definitionsmacht nach wie vor für sich monopolisieren. Der Ausgang der momentan stattfindenden Umsturzversuche von Seiten der sogenannten ›neuen Erzähler‹ bleibt erst noch abzuwarten. Kehren wir zurück zu Menasse: Waren es in Deutschland unter anderem das erzählerische Talent Menasses, die ›Lesbarkeit‹ sowie die Welthaltigkeit seiner Romane, die immer wieder positiv hervorgehoben wurden – zumal von jenen Instanzen, die sich tendenziell am heteronomen Pol des Feldes situieren –, überwog in Österreich das Lob für die komplexen Konstruktionen seiner ersten Romane. Mit der Publikation der Vertreibung aus der Hölle setzte sich jene Tendenz, die sich bereits im veränderten Urteil der Rezensionen und in der Vergabe der Literaturpreise ankündigte, nämlich der Wandel vom bloß ›österreichischen Literaturstar‹ zum ›Dichter des gesamten deutschsprachigen Raums‹ weiter fort, und zwar gerade so, als ginge der Aufstieg Menasses im deutschen Feld mit einer Demontage seiner Position im österreichischen Feld einher. Zuweilen konnte man sich tatsächlich des Eindrucks nicht erwehren, Menasses künstlerische Qualitäten würden im österreichischen Feld umso stärker in Zweifel gezogen, je größer die Anerkennung des Dichters im deutschen Feld war. Im 2002 veröffentlichten Band Ein DichterKanon für die Gegenwart! beispielsweise wurde Menasse von den befragten österreichischen Kritikern und Autoren beinahe unisono und zuweilen offen hämisch des autonomen Pols verwiesen. Zwar gestand die Literaturkritik nach wie vor ein, dass »den neuen Menasse [. . .] jeder besprechen [will]«, dies jedoch nur, weil seine Texte »eine spannende, friktionsfreie Lektüre versprechen«. Man freute sich beinahe hämisch über den Verriss des »Robbi Nazionale« im Literarischen Quartett, den offenbar selbst der angeblich verängstigte Freund und Dichter Robert Schindel nicht zu verhindern wusste. Begründet wurde die Schadenfreude damit, dass der Star Menasse »wirklich harsche Kritik« »auf österreichischem Boden« ohnehin »nicht zu fürchten« hätte, denn »ist der Autor einmal inthronisiert, dann sägt der Rezensent ungern an seinem Thron« – so eine österreichische Kritikerin, um sich gleich eifrig ans Sägen zu machen.56 Unterhaltung vielleicht, Kunst nein, hieß es nun oft in einem Atemzug für Haslinger, Köhlmeier und Menasse.57 Mitte der 56

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Daniela Strigl: Die im Dunkeln und die im Licht. In: Friedbert Aspetsberger (Hg.): Ein Dichter-Kanon für die Gegenwart! Urteile und Vorschläge der Kritikerinnen und Kritiker. Innsbruck u. a.: Studienverlag 2002, S. 103–127, hier S. 106 und S. 110f. Siehe auch: »Eine wirklich harsche Kritik hat Menasse auf österreichischem Boden nicht zu fürchten, man muß nur gesehen haben, wie Freund Robert Schindel vor einiger Zeit im Literarischen Quartett als Pflichtverteidiger sein Bestes gab: für Menasses neues, gewiß gewichtigeres Buch ›Die Vertreibung aus der Hölle‹. [. . .] Man konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, Schindel fürchte sich schrecklich vor der nächsten Begegnung im Café Alt Wien [. . .]. ›Die Vertreibung aus der Hölle‹ ist der Vertreibung aus dem Alt Wien allemal vorzuziehen« (ebd., S. 111). Vgl. etwa Franz Haas: Österreichische Literatur von außen gesehen (und rezensiert). In: ebd., S. 128–145, hier S. 142. »Mit Menasse geht es mir ähnlich wie mit Umberto Eco, dessen kluge Kommentare in Zeitungen und Zeitschriften zu allen möglichen Themen auch immer scharfsinnig formuliert sind – ganz anders als das populäre Lesefutter in seinen Romanen. Robert Menasse ist vielleicht nicht ganz so gelehrt wie Umberto Eco,

Positionen – Positionierungen – Zuschreibungen

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90er Jahre wäre eine solche Kategorisierung im österreichischen Diskurs noch undenkbar gewesen. Erinnern wir uns: Dasselbe Feld hatte das »Kultbuch«58 Sinnliche Gewißheit gerade seiner sprachlichen und künstlerischen Qualitäten wegen Ende der 80er Jahre konsekriert, um seine Auszeichnungen allmählich im selben Maße zurückzunehmen, wie jene von deutscher Seite wuchsen. Anstatt wie Ende der 80er Jahre den künstlerisch versierten und überaus intellektuellen Dichter in einer namhaften literarischen Tradition zu verorten, fand man nach dem Jahrtausendwechsel in seinen literarischen Texten »leeres Stroh« »zur Genüge«.59 Ob dies eher den differenten Feldstrukturen, der Konkurrenz der in den beiden Feldern agierenden Akteure oder aber der Ungleichzeitigkeit ihrer Diskurse zuzuschreiben ist, sei vorerst dahingestellt. An Seitenhieben auf das vermeintlich oberflächliche deutsche Feuilleton von Seiten der dezidiert kunstverliebten österreichischen Kritik mangelte es in diesen Diskursen jedenfalls nicht.

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aber dafür sind auch seine Romane nicht ganz so schlecht wie die von Eco« (ebd., S. 139). Vgl. auch ebd., S. 138. Den Eindruck vermitteln übrigens sogar jene Kritiker, die seine Position verteidigen. So etwa Klaus Nüchtern, wenn er etwa einräumt, dass der Roman – bei aller formalen Kritik – inhaltlich jedenfalls nicht in Frage gestellt werden könne. Vgl. Klaus Nüchtern: Was kümmert mich der Kanon?! In: ebd., S. 177. So Franz Schuh: Robert Menasse und unsere Liebe zu Hegel. In: Die Presse vom 30./ 31. 7. 1988. Franz Haas (Anm. 57), S. 142.

Doris Moser (Klagenfurt)

Feldspieler und Spielfelder Vom Gewinnen und Verlieren beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb

1. Ein gänzlich unliterarischer Vorspann über Kapitalien und Werte Pierre Bourdieu hat in Teilen seiner Arbeit ein Modell des Handel(n)s mit Kapitalien sozialer, kultureller, physischer und ökonomischer Provenienz entworfen, das sich als eine erweiterte Theorie des Kapitals lesen lässt.1 Zwischen den verschiedenen Kapitalsorten und ihren Erscheinungsformen hat Bourdieu als Medium das symbolische Kapital identifiziert, welches »als wahrgenommene und als legitim anerkannte Form«2 kulturellen, sozialen, ökonomischen Kapitals existiert und als gesellschaftlicher Erfolgsindikator dient. Dazu gehört nicht zuletzt die (massen)mediale Vermittlung der anerkannten Inhaber symbolischen Kapitals und ihrer Statussymbole.3 Symbolisches Kapital umfasst den Mehrwert, der über der Summe seiner Teile liegt, es »ist Kapital, das als selbstverständliches erkannt und anerkannt ist«.4 Die Anerkennungsprozesse basieren auf dem Konzept der Aufmerksamkeit, das Bourdieu mehr oder minder vorausgesetzt, aber nicht theoretisch gefasst hat, eine Arbeit, die Georg Franck mit seiner Theorie des mentalen Kapitalismus übernommen hat.5 Allerdings sind Aufmerksamkeit und symbolisches Kapital weder gleichzusetzen noch bedingen sie einander wechselseitig, wohl aber einseitig: kein Gewinn symbolischen Kapitals ohne Aufmerksamkeit, während Aufmerksamkeit noch nicht einen Zuwachs an symbolischem Kapital garantiert. Die Bewertung wird erst an den diversen ›Börsen‹ vorgenommen, deren Regulative nicht unabhängig von ihrem Stammfeld zu denken sind, sei es das der Finanzökonomie oder eben das der Literatur. Bilden zwei Felder mengentheoretisch gesprochen ein Schnittfeld, dann wird in diesem Schnittfeld die Bewertung der Aufmerksamkeit von beiden Seiten aus erfolgen – mit höchst ungewissem Ausgang. Der Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb ist im Schnittfeld Literatur/Medien verankert. Anhand einiger Beispiele möchte ich den Versuch unternehmen, die strukturellen Gegebenheiten in diesem Schnittfeld sowie die Praktiken, damit umzugehen, zu beschreiben. 1

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Pierre Bourdieu: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998; dazu auch: Pierre Bourdieu: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hamburg: VSA 1997, S. 49ff. Pierre Bourdieu: Praktische Vernunft (Anm. 1), S. 11. Vgl. Pierre Bourdieu: Sozialer Raum und »Klassen«. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995. Ebd., S. 22. Vgl. Georg Franck: Mentaler Kapitalismus. Eine politische Ökonomie des Geistes. München: Carl Hanser 2005, insbesondere Kap. 2, S. 69–103.

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Doris Moser

In dem zugrunde liegenden Modell des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs als eine Börse für im Literaturbetrieb gültige Kapitalien treten alle am Wettbewerb Beteiligten als Inhaber eines Portfolios aus unterschiedlichen Werten6 auf: die Jurymitglieder ebenso wie die geladenen Autorinnen und Autoren, die diversen und diversifizierten Publika, die sich aus Presse, Verlagen, Agenturen, Veranstaltern, Lesenden rekrutieren, und die Veranstalter, zu denen neben der Stadt Klagenfurt auch eine Fernsehanstalt zählt, der Österreichische Rundfunk (ORF). Gewinnchancen und Risiko sind unter den Anlegern nicht gleichmäßig verteilt. In einer empirischen Untersuchung konnte gezeigt werden, dass das geringste Risiko die Veranstalter und die Presse tragen: geringer Einsatz, große Wertschöpfung. Mittleres Risiko tragen Verlage, die ›ihre‹ Autoren ins Rennen schicken, und Jurymitglieder, die mit jeder Wortmeldung auch ihre Reputation riskieren. Das größte Risiko tragen Autorinnen und Autoren.7 Ihr Einsatz ist am größten und bedarf der meisten Transformationsarbeit,8 weshalb sie in weiterer Folge auch im Mittelpunkt meiner Überlegungen stehen. Wer den Ingeborg-Bachmann-Preis zugesprochen erhält, akkumuliert außer Geld zumindest auch kulturelles und soziales Kapital, und er oder sie kann einen mehr oder minder ordentlichen symbolischen Mehrwert aus der Preisträgerschaft ziehen.9 Als direkte Folge nannten Autorinnen und Autoren, die in Klagenfurt einen Preis oder ein Stipendium erhielten, die gestiegene Präsenz im Literaturbetrieb: mehr Einladungen, mehr Rezensionen, bessere Verlagskontakte, gestiegene Preiswürdigkeit. Mit der kulturellen Codierung (das heißt Vergabe nach den Regeln literarischer Qualitätsbeurteilung), der ökonomischen Ausstattung (Dotation) und der medialen Berichterstattung (Zeit) bildet der Preis den Gewinn mit dem größten symbolischen Wert, weil er die mächtigsten Strukturen koppelt: die des Geldes und die der Anerkennung als einer Form nachhaltig wirksamer Aufmerksamkeit. Der Zusammenhang zwischen den einzelnen Kapitalsorten und ihren inneren Beziehungen zeigt, dass in einem Literaturwettbewerb wie dem Klagenfurter Bachmann-Preis kulturelle und soziale Kapitalwerte, damit die Chancen auf einen Aufstieg innerhalb des literarischen Feldes, verteilt oder umgeschichtet werden und die weitere Transformation in ökonomisches Kapital dadurch begünstigt werden kann, diese aber nicht garantiert. Ein Ver6

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Unter einem Portfolio versteht man im Kapitalhandel den Bestand an (verschiedenen) Wertpapieren, den ein Anleger besitzt, Wertpapiere wiederum sind eine Form der Kapitalanlage. Diese Einschätzung beruht auf den Ergebnissen einer empirischen Untersuchung, in der ich mit qualitativen und quantitativen Methoden zu ermitteln suchte, welche Voraussetzungen, Motive, Entscheidungsprozesse und Folgewirkungen eine Teilnahme innerhalb von 20 Jahren Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis für die beteiligten Gruppen der Autorinnen, Jurymitglieder, Verleger, Presse und Publikum hatte. Wenn also in der Folge von Motiven und Einschätzungen die Rede sein wird, beziehe ich mich auf die Ergebnisse dieser Studie. Vgl. Doris Moser: Der Ingeborg-Bachmann-Preis. Börse, Show, Event. Wien: Böhlau 2004. Zum Konzept der Kapitalumwandlung vgl. Pierre Bourdieu: Die verborgenen Mechanismen der Macht (Anm. 1), S. 70f. Vgl. Doris Moser (Anm. 7), Kap. 3. 5.

Feldspieler und Spielfelder

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lust hingegen schlägt sich qua Imageschaden direkt als ökonomischer Verlust nieder. Während der Wert des Geldes nicht innerhalb des literarischen Feldes weiter verhandelbar ist, sind Ehre, Reputation, Kontakte und Einladungen Resultate kommunikativer Prozesse, die zwischen Individuen, Gruppen und Szenen ablaufen und prinzipiell nie abgeschlossen sind. Reputation als dynamisches Gut kann nicht nur erworben, sondern auch wieder verloren werden. Man denke nur an die prominentesten Beispiele aus jüngster Zeit: Martin Walser und Peter Handke. Oder, um beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb zu bleiben, an Urs Allemann, der im Wettbewerb 1991 für den Text Babyficker zwar einen Preis zugesprochen erhielt, durch die nachfolgende politisch motivierte und medial inszenierte Skandalisierung aber beträchtliche Einbußen hinnehmen musste. Allemann verlor die schon zugesagte Übernahme einer leitenden Funktion innerhalb einer bedeutenden Literaturorganisation, sein Buch, das aus dem Wettbewerbstext entstand, wurde mit erheblicher Verzögerung veröffentlicht, weil sein Hausverlag die Veröffentlichungszusage zurückzog, und es erschien keine einzige Buchbesprechung in den Feuilletons. Dass er im wahrsten Sinne des Wortes auch Haare lassen musste, nachdem er bei einer öffentlichen Veranstaltung mit einem Kübel Farbe übergossen worden war, dürfte für den Autor noch das geringste Problem gewesen sein.10 Wie konnte das geschehen? Die Aufmerksamkeit, die Urs Allemann zuteil wurde, hat News und Entertainment in einem Ausmaß bedient, das gegen die Regeln des literarischen Feldes verstoßen hat. Sanktioniert wurde der Autor für einen Text, dem die Jury mit ihrer Macht der Konsekration den Preis des Landes Kärnten zuerkannt hatte und der in der letzten Abstimmungsrunde um den Hauptpreis nur knapp unterlegen war. Völlig ungeschoren kamen hingegen Feuilleton und Fernsehen davon, die sich in ihrer ›Berichterstattung‹ einer ganzen Reihe von literaturkritischen Regelwidrigkeiten schuldig gemacht haben, allen voran, den Autor mit seinem Ich-Erzähler gleichgesetzt und über einen Text geurteilt zu haben, den die meisten gar nicht kannten oder kennen konnten. Bezeichnenderweise wurde dieses Spiel nicht mehr in Klagenfurt gespielt, sondern in Presse und Fernsehen ausgetragen, außerhalb des Einflussbereiches jener Akteure, deren Stammplatz innerhalb des literarischen Feldes war, also auch außerhalb des Feuilletons oder der Literatursendungen. Das Ergebnis allerdings wurde ins Stammfeld rückgekoppelt – mit den genannten Folgen für den Autor.11 Allemann ist – in gutem Glauben oder in medialer Naivität – davon ausgegangen, dass in Klagenfurt nach den Regeln des literarischen Feldes nur der literarische Wert eines Textes verhandelt wird. Die Zuerkennung eines Preises für »einen eklatant surrealistischen Text«12 , der »die Literatur denunziert als ein Ereignis, wo alles geschehen kann, das Erhabenste und schlechthin Widerwärtigste, und alles eigentlich zuletzt doch Papier bleibt«13 , scheint ihm zunächst Recht zu 10 11 12

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Vgl. ebd., Kap. 4.2 (S. 386ff.). Vgl. (im Detail) ebd. Auszüge aus den Diskussionen der Jury [Statement Peter von Matt]. In: Klagenfurter Texte 1991. Herausgegeben von Heinz Felsbach und Siegbert Metelko. München: Piper 1991, S. 147–166, hier S. 160. Ebd., S. 152.

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geben. Doch exakt an diesem Beispiel zeigt sich die Schnittstellenproblematik, die auftritt, wenn die Spielregeln des einen Feldes auf das andere übertragen werden, ohne dass im Zielfeld dafür eine Wertungsbasis vorhanden wäre.14 Allemann, dem im Übrigen vom Feuilleton bewusste Provokation unterstellt wurde, hat schlicht die Wirkung des ersten Satzes – »Ich ficke Babys« – auf eine Öffentlichkeit, die sich an die Spielregeln des medialen, nicht aber des literarischen Feldes hält, unterschätzt. Die Folgesätze – »Das ist mein Satz. Ich habe keinen anderen.« – wurden nicht mehr gehört. Der Bachmann-Preis ist durch seine auf Literatur und mediale Öffentlichkeit gleichermaßen sich gründende Struktur prädestiniert für derlei Irritationen. Hätte es nicht das politische Interesse an einer Skandalisierung gegeben, wäre der Verlust, der für den Autor entstanden ist, vielleicht geringer gewesen.15

2. Öffentlichkeiten und Publika Jede Art von Öffentlichkeit ist durch einen spezifischen Kommunikationsprozess strukturiert. In Klagenfurt wird durch die Lesungen und Diskussionen ein kommunikatives Angebot gestellt, das in der Veranstaltung konstituiert und zugleich konstruiert wird. Die dadurch erzeugte Öffentlichkeit ist eine multidimensionale, der zugrunde liegende Begriff von Öffentlichkeit vereint unterschiedliche räumliche, zeitliche und funktionale Dimensionen. So kann etwa von der literarischen Öffentlichkeit des Bachmann-Preises als solcher nicht die Rede sein, wohl aber vom in sich differenzierten Präsenzpublikum im ORF-Theater (mit Vertreter/inne/n der Verlage, Agenturen, Leserschaft), von den Zusehern der Live-Übertragung, von medialen Kommunikatoren (des Hörfunks und der Presse) und Rezipient/ inn/en auf lokaler, nationaler oder internationaler Ebene. Der Bachmann-Wettbewerb wäre in der bestehenden Art ohne solche Publika, deren Beteiligung erst das Ereignis schafft, nicht denkbar. Wenn aber kein Ereignis ohne diejenigen stattfindet, die dem Ereignis Aufmerksamkeit schenken, wird Aufmerksamkeit zum zentralen Steuerungsinstrument. Genau diese Funktion erfüllen Presse und Fernsehen, die zwischen den kulturellen, sozialen und ökonomischen Werten vermitteln, indem sie Aufmerksamkeit generieren, verteilen und an die Anlässe und Anlassgeber rückkoppeln. Die medialen Kanäle der Veranstaltung sorgen aber nicht nach den Regeln des literarischen Feldes für die Verteilung von Aufmerksamkeit, 14

15

Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang vom »Übersetzungs- oder Brechungseffekt«, der »das Ausmaß an Autonomie, über das ein Feld verfügt«, misst (Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 349). Die freiheitliche Partei (FPÖ) unter Jörg Haider baute die Babyficker-Irritation zu einem Skandal aus, um von Skandalen in der eigenen Partei abzulenken. Kurz zuvor war Jörg Haider vom Kärntner Landtag seines Amtes als Landeshauptmann enthoben worden, weil er die Beschäftigungspolitik des Dritten Reiches als eine ›ordentliche‹ bezeichnet hatte. Vgl. dazu: Klaus Amann: Der neueste Literaturskandal in Kärnten. Eine Inszenierung. In: Evelyne Polt-Heinzl (Hg.): Ein Preis und seine Folgen. Doku Dossier 4 (1992), S. 15–20.

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sondern in erster Linie nach medialen Regeln (News and Entertainment) – und medien-ökonomischen (Quote und Werbung). Da die Medien im literarischen Feld auftreten, nehmen sie jene Rolle ein, die innerhalb des literarischen Feldes für sie vorgesehen ist: die der Kritiker. Das Feuilleton kritisiert Autoren, Texte und Jury, lobt die einen, tadelt die anderen, zitiert die griffigsten Bonmots und referiert die Endergebnisse. Das Fernsehen – seit 1989 überträgt 3sat die Lesungen und Diskussionen live – macht daraus sein eigenes Programm. Allesamt befördern oder behindern die Performance der diversen Portfolios durch Zuwendung oder Entzug von Aufmerksamkeit. An dieser Stelle zeigt sich erneut die schon skizzierte Schnittstellenproblematik: Während innerhalb einer ›Ökonomie der Aufmerksamkeit‹, nach der etwa das Fernsehen agiert, Aufmerksamkeit per se und unabhängig von einer möglichen Wertzuschreibung einen nachgefragten Wert darstellt, bedarf sie innerhalb des literarischen Feldes der Bewertung durch die als maßgeblich anerkannten Akteure des Feldes, denen die Macht der Konsekration zugestanden wird. Nur wenn Aufmerksamkeit positiv konnotiert wird, ist sie ein begehrtes, weil mit erwünschter, nachhaltiger Wirksamkeit versehenes Gut. »Die Publikationsmedien«, schreibt Georg Franck, »sind im mentalen Kapitalismus, was die Banken im Kapitalismus des Geldes sind«.16 So gesehen gelten im Modellfall des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs nicht etwa die Verlage, bei denen die Bücher der (preisgekrönten) Autoren erscheinen, als Publikationsmedien, sondern jene Medien, die über das Geschehen und die am Geschehen Beteiligten berichten. In ihnen und mit ihnen lässt sich – ohne weiteres Zutun der Autoren – Kapital vermehren oder eben auch verspielen.

3. Fernsehen und Literatur »Sichtbar sein heißt, anwesend sein: Wer abwesend ist, ist unsichtbar.« John Berger hatte weniger das Fernsehen als die Malerei im Sinn, als er sich über die visuelle Kraft bildlicher Darstellung Gedanken machte. Diese »Abwesenheit mit dem Schein der Anwesenheit zu füllen«, ohne sie sichtbar zu machen, sei, so Berger, eine wesentliche Funktion der Malerei.17 Die medialen Bildmaschinen, allen voran das Fernsehen, spielen auch das Anwesenheits-Abwesenheits-Spiel – allerdings mit nahezu diametral entgegengesetzter Funktion: Sie machen Abwesendes anwesend, indem sie es generieren mit dem Ziel, Aufmerksamkeit für sich selbst zu heischen. Daran kommt – zumindest in Klagenfurt – auch die Literatur nicht mehr vorbei, die hier unter anderem als visuelle Inszenierung der Lesung von 16 Texten sichtbar wird.18 Das sollte eigentlich Aufmerksamkeit erregen, weil Texte im 16 17

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Georg Franck (Anm. 5), S. 134. John Berger: Das Kunstwerk. Ort der Malerei. In: J. B.: Das Kunstwerk. Über das Lesen von Bildern. Essays. Berlin: Wagenbach 1992, S. 83–91, hier S. 83. Zur Visualisierung von Autorenlesungen im Fernsehen vgl. Doris Moser: Du sollst dir kein Bildnis machen, sondern fernsehen. Eine sehr kleine Ikonologie des IngeborgBachmann-Preises 2001. In: praesent. das österreichische literaturjahrbuch 1 (2002), S. 122–132.

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engeren Sinne, also in Textform, in den Programmangeboten der Fernsehstationen nicht enthalten sind. Literaturkritiksendungen wie ehedem das Literarische Quartett (ZDF) oder gegenwärtig der Literaturklub (DRS) holen die unsichtbaren Vorgänge des Interpretierens und Beurteilens in personifizierter Form (Kritiker) in die Welt des Fernsehens und verhelfen ihnen damit zu Anwesenheit. In diesen Sendungen über Literatur und Autoren sind die Grundlagen der Rezeption von Literatur aber unsichtbar: die Bilder des Lesens. Des primären Rezeptionsakts von Literatur – des Lesens – bedarf es nicht, da ein körperloser literarischer Text in einem Talkshow-Setting nur Anlasscharakter haben kann. Diese Abwesenheit des Textes wird – in Anlehnung an Bergers Beobachtungen zur Malerei – durch das Benennen, das Reden über den abwesenden Text auch nur scheinbar unterlaufen. Das problematische Verhältnis von Literatur und Fernsehen gründet nicht nur in einem Autonomiekonflikt der jeweiligen Felder, sondern in der strukturellen Inkompatibilität der Medien selbst. Literatur ist der Logik der Schrift verpflichtet, die eine autoritäre ist und der Buchstabe auf Buchstabe gebauten, zwangsläufig linearen Organisation von Ursache und Wirkung als abstrakte Darstellung von möglicher Wirklichkeit und wirklich erscheinender Möglichkeit folgt. Das Fernsehen kennt diese Logik nicht, es ist insgesamt durch eine orale und visuelle Organisation gleichsam unlogisch strukturiert und erzeugt die Bedeutungen »by contrast and by the juxtaposition of seemingly contradictory signs«19 , wie der Medientheoretiker John Fiske festgestellt hat. Die fernsehgerechte Bebilderung von Lesungen ist eine Herausforderung für das Medium Fernsehen und seine Macher. »Fernsehmacher fürchten in der Regel nichts mehr als ein bloßes Buch, erst recht ein gutes Buch«, denn »Bücher bewegen sich nicht und sind innen schwarz-weiß und nicht bunt«20 , befand Gert Scobel, 3sat, in einer Moderation vor dem Live-Einstieg in die Lesungen des Jahres 2001. Trotzdem überträgt 3sat seit 1989 die Lesungen und Diskussionen aus Klagenfurt live und stellt Literatur als Bild und Abbild ihrer Darbietung und Rezeption dar. Folgerichtig wirbt 3sat mit dem Slogan »Lesen live«: Zunächst wird eine halbe Stunde gelesen, dann wird etwa gleich lang diskutiert. Zeitlich sind Text und Kritik gleichgestellt, und jedem Autor steht unabhängig vom Wert der eingesetzten Kapitalien (Reputation) theoretisch dieselbe Zeit zu.21 Doch da ist noch mehr: der 3sat-Preis, gestiftet vom Sender, zuerkannt von der Jury, und Programm über das Programm (Interviews, Diskussionsrunden, Kommentare). Hier überschreitet der Sender die journalistisch-informative Funktion einer gestaltenden Berichterstattung und wird zu einem Gestalter zweiter Ordnung, der Ereignisse im Ereignis 19

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John Fiske/John Hartley: Reading Television. London, New York: Routledge 1978, S. 15. Vgl. dazu auch: Hans Magnus Enzensberger: Baukasten zu einer Theorie der Medien. Kursbuch 20 (1970), S. 159–186. Lesen live – Der Ingeborg-Bachmann-Preis. In: 3sat vom 28. 6. 2002. Transkription der Moderatorenstatements durch die Verfasserin. De facto überträgt 3sat vormittags bis zu den Mittagsnachrichten um 13 Uhr und abends bis 18 Uhr. Wird die Lese- und Diskussionszeit überschritten, steigt der Sender aus der Übertragung einfach aus – den letzten beißen die medialen Hunde.

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schafft, um diese dann als Ereignisereignisse zu einem Übertragungsereignis zu machen. Fernsehsender und Jury teilen sich die Macht der Konsekration und der Darstellung:22 Die Juror/inn/en vergeben Preise, das Fernsehen verteilt Bildpräsenz und -dominanz. Für einen Autor bedingt der Gewinn eines Preises nicht zwangsläufig den Zugang zum Fernsehbild, das von den Fernsehmachern aus Bildregie und Redaktion vergeben wird. So geschah es, dass neben dem Bachmann-Preisträger 2001, Michael Lentz, nur die mit dem 3sat-Preis ausgezeichnete Katrin Askan nach der Preisvergabe zum Siegerinterview gebeten wurde. Die Solidarität des Fernsehens als Stifter eines Preises mit der Trägerin dieses Preises zeigt sich in der Draufgabe von Bildpräsenz, einer symbolischen Kapitalspritze in Form von Aufmerksamkeit für die Autorin und für den Stifter des Preises, 3sat. Fernsehen spielt sich eben in Anstalten ab, die keine humanistischen Bildungsanstalten, sondern Wirtschaftsunternehmen sind. Als Wirtschaftsunternehmen hat sich 3sat der ›Marke‹ Bachmann-Preis 1989 angenommen, was für einen Kultursender der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten Deutschlands, der Schweiz und Österreichs als Investition in das eigene Image zu sehen ist. So wie es sich bei Sponsoring nicht um einen mäzenatischen Akt handelt, hat auch das Engagement des Fernsehens nichts Uneigennütziges an sich, es ist ein Win-Win-Geschäft. Der Sender stieg zu einem Zeitpunkt ins Geschehen ein, als die Veranstaltung bereits über einen beachtlichen Bekanntheitsgrad verfügte: viel diskutiert, umstritten, mit medialer Aufmerksamkeit bedacht. Das Fernsehen konnte diesen Wert abschöpfen und durch den Einsatz seiner »Aufmerksamkeitsapparaturen«23 dieses symbolische Kapital für sich arbeiten lassen. Der BachmannWettbewerb wurde noch bekannter, die beteiligten Akteure auch, und 3sat schärfte einmal mehr sein Profil als Kultursender – was beinahe gescheitert wäre, denn das Feuilleton sparte im ersten Jahr der Live-Übertragung nicht mit harscher Kritik an der Allgegenwart der Kameras: Von »Literatur als Futtermittel für das unersättliche Medium Fernsehen, das in der Tat alles zu verwursten weiß«24 und das »über den Literaturbetrieb gekommen zu sein [schien] wie die Heuschreckenplage über Ägypten«25 war die Rede, das Ende des Bachmann-Preises schien gewiss, denn das Fernsehen »schafft – anonym, kühl und zufällig – eine neue Realität, indem es eine 22

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Genau genommen wäre noch zu unterscheiden zwischen Darstellung der Darbietung (Bilder und Töne der Lesungen und Diskussionen) und einer Darstellung zweiter Ordnung (veranstaltungsbezogene Metaebene mit Bildern und Tönen, die nur für das Fernsehen gemacht und nur im Fernsehen zu sehen sind). Bernhard Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 101. Claus M. Bielefeld: Klagenfurt und der Ingeborg-Bachmann-Preis. In: Klagenfurter Texte 1989. Herausgegeben von Heinz Felsbach und Siegbert Metelko. München: List 1989, S. 256–260, hier S. 257. Erstveröffentlichung in: SFB III, Buch am Sonntagnachmittag vom 9. 7. 1989. Heimo Schwilk: Öffentliche Hinrichtung als Horrorvideo. In: Heinz Felsbach/Siegbert Metelko (Anm. 24), S. 233–238, hier S. 233. Erstveröffentlichung in: Rheinischer Merkur/ Christ und Welt vom 7. 7. 1989.

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hier sich in Varianten zu bildende Realität vereinheitlicht oder marginalisiert, zum bloßen Aufnahmematerial degradiert«.26 Fazit: »totale audiovisuelle Vermarktung eines Ereignisses, die Metamorphose eines Originalschauplatzes zum Fernsehprogrammplatz, der Abstieg in das Schattendasein eines Mittels zum Zweck«.27 Achtzehn Jahre nach der ersten Live-Übertragung aus Klagenfurt darf man die Behauptung wagen, dass die deutschsprachige Literatur am Fernsehen ebenso wenig zugrunde gegangen ist wie der Bachmann-Preis. Verstummt ist hingegen eine sich am Bachmann-Preis entzündende Kulturkritik des Fernsehens – dies nicht (nur), weil Kritiker aus Printmedien als Teilnehmer der Pausen-Talkrunden inzwischen selbst am Kapital, das das Fernsehen zu gewinnen verspricht, partizipieren. Eine Reihe von Entwicklungen sowohl im medialen als auch im literarischen Feld haben die friedliche Koexistenz zwischen Literatur und Fernsehen begünstigt: Im medialen Feld haben die Entstehung neuer Programmformate im Fernsehen, die 1989 wohl in den kühnsten Albträumen der Fernsehkritiker nicht vertreten waren (Reality-TV, Big Brother, Casting-Shows etc.), und die damit einhergehende Polarisierung zwischen Qualitäts- und Unterhaltungsfernsehen (3sat/arte versus den Rest der vornehmlich privaten Fernsehsender) zur Akzeptanz der BachmannPreis-Übertragung beigetragen.

4. Autor/inn/en und die Bildmaschine Autorinnen und Autoren, die vor 1989 am Wettbewerb teilnahmen, hatten wesentlich größere Vorbehalte gegen das Fernsehen und die Kamerapräsenz als ihre Kolleginnen und Kollegen, die eine Live-Übertragung auch live verspürten.28 Letztere Gruppe versuchte häufiger in die Gestaltung des Bildangebotes des Fernsehens einzugreifen.29 Georg Klein (Bachmann-Preisträger 2000) trat zur Lesung im selben Outfit auf, das er im Kurzfilm trug, der den Fernsehzusehern vor Beginn der jeweiligen Lesung Leben und Literatur des Autors näher bringen sollte, Barbara Bongartz (2005) verweigerte das Interview und schrieb stattdessen für ihr Filmporträt30 ein Drehbuch mit Spielszenen, Jörg Albrecht (2007) führte Regie und Kamera,31 Kathrin Passig und die hinter ihr stehende ZIA präsentierten statt 26

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Beatrice von Matt: Das Ingeborg-Bachmann-Fernsehquiz. In: Heinz Felsbach/Siegbert Metelko (Anm. 24), S. 228–232, hier S. 229. Erstveröffentlichung in: Neue Zürcher Zeitung vom 4. 7. 1989. Thomas Pluch: 26 Stunden Literatur live. In Heinz Felsbach/Siegbert Metelko (Anm. 24), S. 247–251, hier S. 247. Erstveröffentlichung in: Wiener Zeitung vom 2. 7. 1989. Vgl. dazu: Doris Moser (Anm. 7), S. 306f. Diese Tendenz verstärkt sich vor allem unter Autorinnen und Autoren, die durch die literarisch-literaturbetrieblichen Schreibakademien in Leipzig oder Hildesheim gegangen sind und nicht nur über passive Medienerfahrung verfügen. Vgl. Videoporträt Barbara Bongartz, Homepage des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs (http://bachmannpreis.orf.at/bachmannpreis/autoren/stories/36480/, 29. 8. 2007). Vgl. Videoporträt Jörg Albrecht, ebd. (http://bachmannpreis.orf.at/bachmannpreis/ autoren/stories/195974/, 29. 8. 2007).

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eines Autorinnen-Werbefilms eine Bachmann-Preis-Filmporträt-Verulkung,32 in der hemmungslos aus den Bild- und Tonklischees zitiert wurde, die sich in siebzehn Jahren filmischer Autorenminiaturbiografie herausgebildet hatten. 2007 trat der Elektro-Pop-Musiker und Autor PeterLicht [sic!] in Klagenfurt an, der das Recht auf sein Porträt als Privatangelegenheit betrachtet und für Presse-, Film- und Fernsehbilder keine Fotoerlaubnis erteilte – weder für die Harald Schmidt Show in der ARD (Mai 2006), die er als Gast beehrte, noch für die LiveÜbertragung des Bachmann-Wettbewerbs in 3sat (Juni 2007). Auf die Einspielung eines Autorenporträts verzichtete er nicht, aber die Gestaltung, die PeterLicht selbst übernahm, irritierte sogar die durch Videoporträts wohl nicht mehr zu erschütternde 3sat-Sendeleitung in Mainz. Ob man denn statt des Autorenvideos fälschlicherweise ungeschnittenes Rohmaterial für ein Politmagazin überspielt habe, wollte man von der Fernsehregie in Klagenfurt wissen.33 Die Irritation war Programm und entstand durch einen simplen, aber wirksamen Kunstgriff, der Anwesenheit und Abwesenheit des Porträtierten zugleich ermöglichte. PeterLicht, der hörbar aber nicht sichtbar war, hatte Bild- und Tonspur getrennt: Auf der Bildebene waren betende oder jubelnde Menschenmassen und die bejubelten Subjekte (Papst, Dalai Lama, Nicolas Sarkozy, britische Königsfamilie) zu sehen, auf der Tonspur vernahm man PeterLichts Stimme, die telefonisch Verhandlungen um Honorarzahlungen führte.34 Darüber hinaus mussten sich die Veranstalter vertraglich verpflichten, dem Willen des Autors auch bei seiner Lesung zu entsprechen: Fernsehbilder zeigten den Rücken des vorlesenden Autors, Detailaufnahmen des mitlesenden Publikums und die im Text blätternde Jury. Die Reaktionen auf PeterLichts Aktion waren tendenziell negativ, zumindest in der Presse. Die Süddeutsche Zeitung konnte mit »der Marotte [. . .], die etwas albern anmutet«35 , genauso wenig anfangen wie die Tageszeitung Österreich, die das Ganze schlicht als »Marketing-Masche«36 abtat, oder wie Juror Karl Corino, der den Auftritt als »Affenzirkus« eines »Gaudiburschen« qualifizierte und sich jeglichen Kommentars zum Text selbst enthielt.37 Die Mehrheit der Jury zeigte sich von PeterLichts Prosastück Die Geschichte meiner Einschätzung am Anfang des dritten Jahrtausends – einer scheinbar fröhlichen Apokalypse, in der ein Ich-Erzähler 32

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Vgl. Videoporträt Kathrin Passig, ebd. (http://bachmannpreis.orf.at/bachmannpreis/ autoren/stories/110801/, 29. 8. 2007). 3sat-Redakteurin Elisabeth Heydeck im Gespräch mit der Verfasserin. Juli 2007. Vgl. Videoporträt PeterLicht auf der Homepage des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs (http://bachmannpreis.orf.at/bachmannpreis/autoren/stories/195931/, 29. 8. 2007). Lechzen nach Gelächter: Lutz Seiler gewinnt den Bachmann-Preis. In: Jetzt.de – das Magazin der Süddeutschen Zeitung vom 2. 7. 2007 (http://jetzt.sueddeutsche.de/texte/ anzeigen/388454/TrkHomeMagTsr4, 29. 8. 2007). »Turksib« überzeugte. Bachmann-Preis geht an Lutz Seiler. In: Österreich vom 1. 7. 2007. Corinos Einschätzung erfolgte allerdings aus durchsichtigen Motiven und entbehrte nicht eines larmoyanten Untertons: Er äußerte sich zu PeterLicht en passant in der Diskussion eines anderen Textes, der von der Jury (zumal der Vorsitzenden Iris Radisch, die PeterLicht nominiert hatte) zerpflückt worden war und dessen Autor Björn Kern auf Einladung Corinos in Klagenfurt las (http://bachmannpreis.orf.at/bachmannpreis/ texte/stories/203945/, 29. 8. 2007).

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vergebens versucht, sich das Leben schön zu reden – beeindruckt. »Dieser ganze Text ist nichts anderes als das Rutschen in eine Schieflage – Komik und Schmerz, Irrsinn und Hysterie – ich bin sehr froh, dass der Autor von der Musik auch in die Welt der Literatur gewechselt ist«.38 »Das Phantom vom Wörthersee«,39 das aus nicht genannten Gründen als der »haushoch gehandelte Favorit«40 galt, wurde – Ironie des Schicksals oder Bosheit der Jury – ausgerechnet mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet. Das Fernseh- und Internetpublikum (die Mehrheit der 1500 begründeten Votings), das PeterLicht nicht zu Gesicht bekam, kürte ihn auch noch zum Publikumspreisträger. Was hat PeterLicht mit seinem Videoporträt und seinem Auftritt nun bewiesen? Hat die Show, die »für TV-Verhältnisse ungewöhnlich intelligent«41 ist, versagt, weil sie auf ihr Ureigenstes, auf das Bild des Lesens, verzichtet hat? Die Bachmann-Preis-Show, befand Bernd Gäbler in einer Medienkolumne des Stern, »ist tröstlich, denn auch diese Intelligenz-Bestien wollen dem Fernsehen nur geben, was des Fernsehens ist: ein gutes Bild«.42 Das hat PeterLicht verweigert und sich damit jener Aufmerksamkeit versichert, die im Reiz des relativ Neuen begründet ist. Die Relativierung ergibt sich aus dem Kontext: Während die Verweigerungshaltung gegenüber Öffentlichkeit und Medien zwischen Thomas Pynchon und Botho Strauß in vielerlei Gesichtern auftritt, ist sie beim Bachmann-Wettbewerb noch nicht da gewesen, also neu. Was Niels Werber für Nachrichtensendungen festgestellt hat, gilt ohne Abstriche auch für die Wirkung der Bachmann-PreisÜbertragung: »Massenmediale Aufmerksamkeit wird [. . .] durch eine Kombination von Neuheit und Redundanz erzeugt. Dabei spricht alles dafür, dass in den Massenmedien die Seite der Redundanz über die der Neuheit dominiert«.43 Also war das Spiel mit der Anwesenheit trotz Abwesenheit doch nur ein gelungener Marketinggag? Dem widerspricht die konsequente Haltung PeterLichts, der, seit er die Kunstfigur unter dem Pseudonym PeterLicht geschaffen hat, medial vermittelte Abbildungen seines Konterfeis untersagt. Im Jahr 2000, als er seinen ersten Musikhit (»Sonnendeck«) landete, vertrat ein leerer, blauer Bürosessel den Sänger und Autor bei Interviews und im Musikvideo – von einem ›Auftritt‹ in Klagenfurt war damals noch keine Rede. Viel näher liegt PeterLichts Position eine Haltung, die Bourdieu in seinem ersten Fernsehvortrag von Schriftstellern und Intellektuellen einforderte, als er dazu aufrief, »Mittel zur gemeinsamen Überwindung der 38

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Juror Ijoma Mangold. Zitiert nach ORF Online: Der eindeutige Favorit des zweiten Tages (http://bachmannpreis.orf.at/bachmannpreis/texte/stories/203843/, 29. 8. 2007). Martin Halter: Das Phantom vom Wörthersee. In: Stuttgarter Zeitung vom 2. 7. 2007 (http://www.abisz.genios.de/r_sppresse/daten/presse_stz/20070702/stz.STZ-20070702 -12-14.html, 3. 12. 2008). 3sat – Kulturzeit Special (http://www.3sat.de/kulturzeit/specials/110381/index.html, 29. 8. 2007). Bernd Gäbler: Von den Rändern des Programms. Die Medienkolumne. In: Stern Online vom 3. 7. 2007 (http://www.stern.de/unterhaltung/tv/591826.html?nv=cb, 29. 8. 2007). Ebd. Nils Werber: Zweierlei Aufmerksamkeit in Medien, Kunst und Politik. In: Telepolis vom 9. 11. 1998 (http://www.heise.de/tp/r4/artikel/6/6310/1.html, 29. 8. 2007).

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bedrohlichen Instrumentalisierung ausfindig zu machen«44 . Bourdieu tritt darin nicht für die Weigerung, im Fernsehen zu sprechen, ein, die er für arrogant hält, sondern für eine kontrollierte und bewusste Fernsehpräsenz jenseits »narzißtischer Zurschaustellung«45 der Person. Genau zu diesem Zweck hat ›[PeterLicht]‹ PeterLicht erfunden, eine Kunstfigur: Wenn PeterLicht in die Öffentlichkeit geht, dann kann ich gelassen bleiben. Denn PeterLicht ist dann nicht mehr ich, das ist dann jemand anders. Ich versuche auf diese Weise, dieses bizarre, seltsame Phänomen der Massenkommunikation für mich greifbar zu machen. Es ist doch ein absurdes System, Gedanken, die ursprünglich sehr privat sind, tausendfach hinauszuschießen. Daran Gefallen zu finden und diese Privatheit hinauszuballern. Das Private ist dann nicht mehr privat, es löst sich von mir und geht seine eigenen Wege, die ich wiederum als Individuum aus der Distanz betrachten kann. Das ist für mich eine ganz schlüssige Autorenposition. Die Situation ist absurd, also reagiere ich auch absurd.46

Das Private, von dem PeterLicht spricht, ist nicht mit Schlüsselloch-Songtexten oder mit einem kruden literarischen Autobiografismus gleichzusetzen. Privat ist für PeterLicht alles, was an (s)eine Person gebunden ist, mit der Folge, dass das Bild der Person als sichtbare Form die künstlerischen Inhalte und ihre Gestaltung überlagert. PeterLicht sieht Künstler per se in der Verwertungslogik stecken, unabhängig davon, ob sie – mit Bourdieu gesprochen – der »anti-›ökonomische[n]‹ Ökonomie der reinen Kunst«47 oder der ökonomischen Ökonomie der Massenproduktion verpflichtet sind. Er akzeptiert die Existenz der Verwertungslogik, nicht aber die Logik selbst, indem er ihr alogisch zu begegnen versucht – und es gereicht ihm nicht zum Nachteil. Beim Bachmann-Wettbewerb konnte dies gelingen, weil er in literarischer Hinsicht keine häretische Haltung eingenommen, sondern den Text durch Anklänge an den phantastischen Realismus literarhistorisch solide verankert hat. Literarische Doxa und mediale Häresie sind im Schnittfeld Literatur/Medien durchaus kompatibel. Ein aus literarischer Sicht häretisches Moment – das immer auch ein innovatives ist – lag hingegen in dem Kunstwerk, das Jörg Albrecht vorgetragen hat, einer Mischung aus Text, Sound und Bild, das die Spielregeln in zweifacher Hinsicht verletzte: Es war zu umfangreich, das heißt zeitlich zu lang und schien der Jury zu weit entfernt vom Begriff der ›Literatur‹, der für einen Literaturbetrieb, der vom gedruckten, verarbeiteten und verbreiteten Wort lebt, konstitutiv ist. So viel feldinterne Erneuerung konnte die Gruppe repräsentativer Machthaber im literarischen Feld nicht konsekrieren, hätte dies doch neben dem ästhetischen Konsens auch den der Verwertungszusammenhänge unterlaufen. Multimedialiteratur erscheint nicht in Buchverlagen, wird nicht auf den Literaturseiten rezensiert und ist 44 45 46

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Pierre Bourdieu: Über das Fernsehen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 17. Ebd. PeterLicht: »Es könnte sich alles ändern«. Interview von Max Dax mit PeterLicht. In: die tageszeitung vom 20. 5. 2006 (http://www.taz.de/index.php?id=archivseite&dig=2006/ 05/20/a0149, 29. 8. 2007). Vgl. Pierre Bourdieu (Anm. 14), S. 228ff.

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dem Buchkäufer auch nicht zu vermitteln. Jurorin Ilma Rakusa, die Jörg Albrecht eingeladen hatte, resümierte nüchtern: Ich habe geahnt, dass die Jury sich schwer tun wird, denn sie ist nicht sehr interessiert an neuen Formen oder etwas experimentellen Schreibweisen. Der große Teil der Texte in den letzten Jahren war guter Realismus. Was daneben lief, wurde manchmal mit gutem Willen und manchmal auch mit völliger Ablehnung goutiert.48

Radikal neue Formen einer die Grenzen der Literatur überschreitenden Kunst sind in Klagenfurt, das der evolutionären Fortschreibung des literarischen Status quo unter Berücksichtigung der Bedürfnisse des Literaturbetriebs verpflichtet ist, zwar zugelassen, werden aber nicht konsekriert.

5. Internet und andere Netzwerke Eine Parallelführung medialer Entwicklungen mit Handlungsstrukturen des Wettbewerbs und den Praktiken seiner Akteure zeigt die Einführung des Publikumspreises, der erstmals 2002 ausgelobt wurde.49 Votings und eBarometer in partizipatorischen Fernsehformaten wie Big Brother, Taxi Orange, Starmania und Deutschland sucht den Superstar verstehen sich Anfang des 21. Jahrhunderts als Mittel direkter Mediokratie von selbst und aus sich selbst; Publikumsbeteiligung50 ist Bestandteil einer neuen Art des Bildungsfernsehens (Millionen-Show im ORF, Wer wird Millionär auf RTL) und unterläuft – scheinbar – das traditionelle, lineare Rundfunkmodell (Zentrum versus Peripherie, Sender – Empfänger), das zumindest in Deutschland, Österreich und der Schweiz nach wie vor die dominante Struktur der Fernsehkommunikation bildet.51 Die Bachmann-Preis-Jury hat 2002 der Einführung eines Publikumspreises zugestimmt – im Gegensatz zu 1989, als die geplante Vergabe des 3sat-Preises durch akkreditierte Literaturjournalisten von der damaligen Jury gekippt wurde. Das Voting eines dislozierten und anonymen Publikums, das nicht individualisiert in Erscheinung tritt und daher auch nicht jenes symbolische Kapital abschöpfen kann, das innerhalb des literarischen Feldes zu erwerben ist, ist eine Aktion gleichsam 48

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Ilma Rakusa: Der Wert von Klagenfurt. David Hugendick im Gespräch mit Ilma Rakusa. In: Die Zeit Online 27 (2007) (http://images.zeit.de/text/online/2007/27/ interview-rakusa, 29. 8. 2007). Das Geld stiftet die Kärntner Elektrizitäts-AG, vergeben wird der Preis vom (Fernseh-, Internet-, Präsenz-)Publikum mittels Online-Abstimmung, technisch umgesetzt wurde die Preisträgerermittlung von der 3sat-Web-Administration. Jede/r Teilnehmer/in muss seine Wahl via E-Mail bekanntgeben und begründen, der Preis kann also auch an Autor/ inn/en gehen, die von der Jury ausgezeichnet werden. Im literarischen Bereich findet diese Art der Publikumsbeteiligung bei Veranstaltungen statt, die aus der Subkultur stammen (Poetry Slams) bzw. diesem Bereich nachempfunden sind. Etwa Formen wie Broadcatching oder Inhabited Television. Vgl. dazu unter anderen: John Wyver: »Broadcatching« und »Inhabited Television«: Neue Formen partizipatorischer Medien. In: Stefan Münker/Alexander Roesler (Hg.): Televisionen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 148–170.

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außer Konkurrenz und stellte die Konsekrationsmacht der Expertenjury nicht in Frage.52 Die zweifellos vorhandene technische Möglichkeit der Manipulation der Internetabstimmung von außen (Massenmails, Spams etc.) wurde durch die Verpflichtung zur schriftlichen Begründung minimiert. Zugleich koppelte man mit dieser Vorgabe Verfahrensweisen aus dem literarischen Feld (Literaturkritik) mit der interaktiven Funktionalität medialer Praktiken (click & buy). Internet und Publikumsbeteiligung stießen nicht auf feuilletonistische Gegenwehr, gängelnde Besserwisserei versteckte sich verschämt hinter Publikumslob. »Die Befürchtung wurde laut, dass dem Populismus Vorschub geleistet würde«, aber das Publikum wurde seinem schlechten Ruf nicht gerecht und stimmte für »den schwierigsten Text [. . .], eine intensive Sprachbefragung«.53 Für Marius Meller in der Frankfurter Rundschau war es »das interessanteste Geschmacksurteil« dieses Wettbewerbs mit einem Preis für den Autor – »überraschender Weise und verdient«.54 Der Untergang des Bachmann-Preises dämmerte dem Feuilleton im Wettbewerbsjahr 2006, als mit Kathrin Passig eine Autorin den Bachmann-Preis zugesprochen erhielt, die zuvor noch keinen literarischen Text veröffentlicht hatte und freimütig eingestand, ihre Erzählung Sie befinden sich hier55 eigens für den Wettbewerb verfasst zu haben: »Wie sehr Klagenfurt-Texte zu einem eigenen Genre geworden sind, das kann man kaum besser demonstrieren«56 , befand Harald Staun in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und sah Kritiker bestätigt, die seit Jahren die Entstehung einer Wettbewerbsliteratur beklagten.57 Der tiefere Grund der Klage war allerdings eine ZIA genannte Vereinigung von Textern, Denkern und Grafikern mit guten Programmierkenntnissen, denen auch Passig angehört. Die ZIA (Zentrale Intelligenz Agentur, nicht zu verwechseln mit der Central Ingelligence Agency CIA), so stand allenthalben zu lesen, versuche seit 2004 den 52

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Im Gegensatz zu namhaften Literaturfachleuten, die aus gleichem Schrot und Korn sind wie Juror/inn/en und im folgenden Jahr in die Jury berufen werden könnten. Anton Thuswaldner: Votum für das Starke. Salzburger Nachrichten vom 1. 7. 2002, hier zitiert nach: Die Besten 2002. Klagenfurter Texte. Herausgegeben von Iris Radisch. München: Piper 2002, S. 182. Marius Meller: Erhabenheitseffekte neurologischer Krankheiten. In: Frankfurter Rundschau vom 1. 7. 2002, hier zitiert nach: Iris Radisch (Anm. 53), S. 169. Nachzulesen in Iris Radisch (Anm. 53), S. 23–35. Harald Staun: Und nächstes Jahr den Nobelpreis! In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 2. 7. 2006, hier zitiert nach: Die Besten 2006. Klagenfurter Texte. Hg. von Iris Radisch. München: Piper 2006, S. 218. Der »Klagenfurt-Text« ist ein Kind des Feuilletons, empirisch lässt sich seine Existenz nicht bestätigen. Es werden mindestens so viele Romanauszüge gelesen wie Texte, die von ihrer Struktur als ein etwa 10–15 Seiten langer Prosatext konzipiert sind. Was die Preisträger betrifft, so ist über die Jahre auch kein eindeutiger Trend zu Romanauszügen oder zu Kurztexten zu bemerken. Inhaltlich über 31 Jahre Wettbewerb einen eindeutig definierbaren thematischen und/oder formal-stilistischen Trend ausmachen zu wollen, grenzt an Unfug. Was in der Presse als »Klagenfurt-Text« firmiert, ist also bestenfalls der Trend eines Jahres und spiegelt insgesamt Präferenzen und Gegebenheiten einer vorwiegend jüngeren deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.

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Bachmann-Preis – »eine ahnungslose Institution«58 – zu unterwandern, hatten doch zwei andere ZIA-›Agenten‹ die Jahre zuvor auch schon Preise in Klagenfurt eingeheimst.59 ›Mission erfüllt!› lobt die Website der ZIA in ihrem ›Lagebericht‹ Agentin Passig. Aber auch aus den harmloseren Aussagen der Preisträgerin spricht, wenn man sie nicht als Koketterie versteht, sondern als die Dreistigkeit, als die sie gemeint sind, derselbe Mangel an Respekt vor dem Wettbewerb.60

Staun relativiert und kontextualisiert allerdings, was den meisten anderen Literaturkritikern schlicht aus dem Blick geraten zu sein scheint.61 Er erkennt die Ironie hinter der ZIA-Fassade als »Schutzschild, hinter (und an) dem eine neue Generation von Autoren sehr ernsthaft arbeitet«.62 Hinter der ZIA und ihrem mit dem Grimme Online Award ausgezeichneten Weblog (http://www.riesenmaschine.de) steht nicht mehr und nicht weniger als eine Gruppe von Leuten, »die am ehesten das teilen, was man früher bei Suhrkamp und heute bei KiWi eine Kultur nennt: eine gemeinsame Haltung, einen gemeinsamen Stil«.63 Für den Tatbestand der Unterwanderung reicht das als Indiz wohl nicht. Ein Blick zurück in die Geschichte des Wettbewerbs zeigt, dass der Suhrkamp Verlag unter Reich-Ranickis Vorsitz (1977–1986) überproportional mehr Autorinnen und Autoren im Wettbewerb (und auf dem Siegertreppchen) hatte als alle anderen Verlage. Damals war allerdings von Unterwanderung einer ahnungslosen Institution nicht die Rede.64 Stauns Einschätzung ist noch weiter zu differenzieren: Der Stil, von dem er schreibt, ist nicht etwa (nur) literarisch festzumachen, sondern ganzheitlicher betrachtet als ein Kommunikationsstil zu verstehen, der Literatur als eine Ausdrucksform unter mehreren praktiziert.

6. Abspann: Trends und Tendenzen Gut verkleidet pflegt die vermeintlich respektlose Netz-Guerilla Passig/ZIA einen ebenso ernsthaften politischen Anspruch wie PeterLicht, wenngleich sich die Mittel erheblich unterscheiden. PeterLicht ist als Kunstfigur die Simulation einer Autorenperson. Passig/ZIA ist ein Kollektiv, das die Mechanismen des Kapitalismus sichtbar macht, ausnimmt und ad absurdum führt – freilich um daraus Kapital zu schlagen. Beiden gemeinsam ist, dass sie als Kapitalien auf der Klagenfurter Börse sowohl literarische Werte (hochstehende, wie die Jury befand) als auch mediale Werte (Musik, Internet) eingesetzt haben, immer darauf bedacht, nichts zu vermischen, was verschieden ist. Passig/ZIA und PeterLicht haben gezeigt, dass sie in 58 59

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Harald Staun (Anm. 56), S. 217. Wolfgang Herrndorf erhielt 2004 den Publikumspreis und 2005 Natalie Balkow den Ernst-Willner-Preis. Harald Staun (Anm. 56), S. 217. Vgl. den Pressespiegel in: Iris Radisch (Anm. 53), S. 215–252. Harald Staun (Anm. 56), S. 219. Ebd., S. 220. Vgl. Doris Moser (Anm. 7), S. 205ff.

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der Lage sind, zwischen den Regeln des literarischen und des medialen Feldes zu differenzieren und ihre Feldpraktiken danach auszurichten, frei nach dem biblischen Motto: dem Kaiser, was des Kaisers ist. Urs Allemann, der einer Generation angehört, deren Umgang mit Medien von der rezeptionsorientierten, nicht aber von der produktionsorientierten Seite der media literacy geprägt ist, hatte diese pragmatische und von jeder Vorstellung einer ›reinen Literatur‹ befreite Praxis nicht zur Verfügung. Was die Veränderungen in den medialen, aber auch finanzökonomischen und politischen Segmenten des Wettbewerbs der letzten Jahre deutlich machen, ist eine grundlegende Veränderung der Umfeldbedingungen für den Literaturbetrieb und damit den Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb: die zunehmende Geschwindigkeit, mit der sich Feldstrukturen verändern und Felder einander ähnlicher werden, die zunehmende Häufigkeit, mit der Spieler sich auch in anderen Feldern bewegen (und damit andere Regeln und Codes erlernen, ihnen folgen), erleichtern Interferenzen. Bourdieu konnte in Les Règles de l’art Anfang der 1990er Jahre von einer Opposition anti-ökonomischer Ökonomie der reinen Kunst und ökonomischer Ökonomie der Massenkunst sprechen, ohne dabei großes Augenmerk auf die Aufmerksamkeit zu lenken, die selbst für eine Kunst für Künstler unabdingbar ist. Am Beispiel eines Literaturwettbewerbs wie des Ingeborg-Bachmann-Preises zeigt sich aber, dass die beiden Logiken nicht linear angeordnet den Anfangs- und Endpunkt eines Ökonomiestrahls bilden, sondern einander zumindest innerhalb der Schnittfelder überlagern. Die vollständige Autonomie der literarischen Produktion von Verwertungszusammenhängen gilt – wenn überhaupt – für ihre ästhetische Komponente. Wenn Felder durchlässiger, die Machtpositionen zahlreicher, aber im Einzelfall weniger einflussreich (weshalb sich die Jury des Jahres 2002 nicht mehr vor einem Publikumspreis fürchtet) werden, lockern sich die Spielregeln. Der Habitus und damit die Inszenierungen gewinnen an Bedeutung, der Kapitalhandel wird riskanter und zugleich weniger oder nur kurzfristig ertragreich. Sollte also Kathrin Passig keinen literarischen Text mehr schreiben und veröffentlichen, wird ihr Name als Fußnote der Literaturbetriebsgeschichte, nicht aber der Literaturgeschichte erhalten bleiben – auch einer der feinen Unterschiede.

Thomas Wegmann (Berlin)

Stigma und Skandal oder ›The making of‹ Rainald Goetz

Die 54. Ausgabe der von Hans Magnus Enzensberger gegründeten Zeitschrift Kursbuch widmete sich im Dezember 1978 ethnografischen Erkundungen der damaligen Jugendkultur – von Manta-Fahrern über Jugend auf dem Lande und Wohngemeinschaften in Städten bis zur Drogenszene. Nicht selten stammen die Berichte von den Betroffenen selbst oder gehen auf Gespräche mit ihnen zurück, was offenbar für die Authentizität der versammelten Texte bürgen sollte. ›Authentizität‹ war gleichermaßen eine Lieblingsvokabel und ein Markenzeichen der siebziger Jahre und ließ sich ebenso auf Dinge wie auf Personen applizieren. So schreibt etwa ein im Anhang als Musikkritiker und Werbetexter ausgewiesener Wolfgang Spindler über Jeans, dass man mit ihnen Profil gewinne, weil sie »ehrlicher, authentischer, nicht so begradigend und lustfern wie Bügelfalten-Hosen«1 seien. Inmitten dieser um Aufklärung über den juvenilen Zeitgeist bemühten Textsammlung findet sich auch ein Beitrag mit dem Titel Der macht seinen Weg. Privilegien, Anpassung, Widerstand. Sein damals noch weitgehend unbekannter Verfasser zeichnet mit dem Namen Rainald Maria Goetz2 und entwirft das melancholische Porträt eines Medizinstudenten aus bürgerlich-katholischem Elternhaus, der mühelos das universitäre Soll erfüllt und zudem im Alter von 24 Jahren bereits eine Promotion im Fach Geschichte vorweisen kann. Dieses vom Autor selbst als »Anpassung« und »Mitläufertum« gewertete Verhalten wird konterkariert durch soziale Distanz, durch den »Stolz des Einzelgängers«3 , durch den romantischen Topos einer Flucht nach Innen.4 Als entscheidender Fluchthelfer fungiert auch bei Rainald Maria Goetz die Literatur: An einem Wintertag, während es draußen schneit, sitze ich in der Cafeteria des Germanistischen Instituts, neben mir Begrüßungen, Stimmen, Kommen und Gehen, und ich lese, wie um mein Leben, den letzten Gedichtband von Paul Celan, ein bis zwei Stunden, und die Welt um mich geht mich nichts an. Der Stolz des Einzelgängers, diese unwirk1

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Wolfgang Spindler: »Rock me!« Diskotheken, Buden, Läden. In: Kursbuch 54 (1978), S. 1–12, hier S. 9. Rainald Maria Goetz: Der macht seinen Weg. Privilegien, Anpassung, Widerstand. In: Kursbuch 54 (1978), S. 31–43. Ebd., S. 31. Wo laut Novalis bekanntlich das gesamte Weltall zu finden ist: »Wie träumen von Reisen durch das Weltall; ist denn das Weltall nicht in uns? [. . .] Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg.« (Novalis: Blüthenstaub. In: N.: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Stuttgart: Kohlhammer 1960–1977. Bd. 2: Das philosophische Werk 1. Hg. von Richard Samuel. Stuttgart 21981, S. 413–464, hier S. 416f.)

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liche Attitude [!]. Aber an diesem Tag lebe ich sie, bin in Celans Gedichten schwer und glücklich.5

Die Lektüre korrespondiert hier zum einen mit dem, was Niklas Luhmann generell der Ästhetik autonomer Literatur in Rechnung stellt: »Die Darstellung der Welt in der Welt modifiziert die Welt selbst im Sinne des ›so nicht Nötigen‹. Das Kunstwerk erbringt für sich selbst den Notwendigkeitsbeweis – und entzieht ihn damit der Welt.«6 Zum anderen findet der Medizinstudent Goetz im Jahre 1978 diesen ästhetischen Notwendigkeitsbeweis nicht unterschiedslos und überall in der Literatur, sondern weiß zwischen einzelnen Autoren zu unterscheiden: Neben Enzensberger nennt er Hölderlin, Huchel vor allem, Kaschnitz und Eich; eine Reihe, die vielleicht beliebig wirkt. Und doch ist sie es nicht: Theobaldy, Brinkmann, Rühmkorf, auch Fried habe ich mir erst später gekauft, [. . .] aber richtig heimatlich geworden bin ich in ihren Gedichten nie. Die Lyrik als Ort privater existentieller Aussage verstand ich; die ganz leisen, kaum hörbaren Töne; die Sprachrohr-Absichten hingegen blieben mir fremd.7

Ein solches Plädoyer für die »ganz leisen, kaum hörbaren Töne« würde man fast dreißig Jahre später vermutlich nicht unbedingt mit dem Autornamen Goetz in Verbindung bringen – genauso wenig wie die selbst erstellte Prognose am Ende dieses autobiografischen Texts. Da heißt es: »Ich werde das Soll erfüllen, Ausbrüche, Einbrüche, Abbrüche irgendeiner Art, sichtbar nach außen, erwarte ich nicht. Die Erwachsenen werden mir wieder anerkennend auf die Schulter klopfen, der macht seinen Weg.«8 Seinen Weg mag er gemacht haben, doch anders als es diese selfunfulfilling prophecy aus dem Jahr 1978 vorhersagen wollte. Zwar sah er sich noch 1981 durch den Prosaband Paare, Passanten von Botho Strauß »in den Bann einer eigentümlich festlichen Sprache gezogen«.9 Doch die anschließende und emphatische Selbsterfindung des Dichters Rainald Goetz basierte dann sehr wohl auf einem Bruch mit der Attitüde des stillen Solitärs und solipsistischen Lesers von Hölderlin und Huchel, auf einem weithin sichtbaren Bruch sogar, den er 1983 öffentlich in Form eines Rasierklingenschnitts in die eigene Stirn vollzog. Mit diesem ›schlagzeilensüchtigen Show-Effekt‹ (Heinrich Vormweg) anlässlich des Lesewettbewerbs um den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt10 brachte sich Rainald Goetz nicht nur – wie es später in den einschlägigen Feuilletons beinahe unisono hieß – ›nachhaltig ins Gerede‹; vielmehr trennte er sich auch nachhaltig, nämlich effektvoll blutend von der Maria in seinem Namen und dem damit verbundenen Plädoyer für die 5 6

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Rainald Maria Goetz (Anm. 2), S. 31. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 353. Rainald Maria Goetz (Anm. 2), S. 41. Ebd., S. 43. Rainald Goetz: Im Dickicht des Lebendigen. Über Botho Strauß: Paare, Passanten. In: Der Spiegel 43 (1981), S. 232–237, hier S. 232. Ein Video mit Auszügen des Klagenfurter Auftritts ist nach wie vor im Internet zu finden. (http://bachmannpreis.orf.at/25_jahre/1983/start_1983.htm, 2. 10. 2007).

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leisen Töne, ersetzte sie durch ein Kainsmal auf der Stirn und betrieb gleichzeitig eine Stigmatisierung des Autors und eine Skandalisierung der mit ihm verbundenen Texte.11 Eine solche Performance im Rahmen eines seriösen Literaturwettbewerbs fokussiert erstens Aufmerksamkeit und durchbricht zweitens die Grenzen zwischen Markt und Kritik: Denn als Rohstoff ist der inszenierte Literaturskandal massenmedial verkäuflich und gleichzeitig für Kenner als solcher dechiffrierbar und kritisierbar, zumal mit Wissen um die Funktionsweisen avantgardistischer Strömungen, bei denen das Publikum Grenzüberschreitungen und Normverstöße geradezu erwartet.12 Der inszenierte Literaturskandal knüpft an solche Traditionen an und kalkuliert den massenmedialen Verstärkereffekt genauso ein wie die mögliche Kritik literaturvermittelnder und literaturverarbeitender Aktanten, weil er im besten Fall den Konflikt zwischen Autonomie und Heteronomie als einen für das literarische Feld konstitutiven erscheinen lässt. Genau diesen Zusammenhängen sind die folgenden Ausführungen gewidmet. Sie erkunden die symbolische und performative Dimension des Schnitts von Klagenfurt und bringen sie mit den Kategorien von Autorschaft und Aufmerksamkeit in Verbindung. Aufmerksamkeit meint dabei weniger jenes spezifische geistige Vermögen, das etwas Gewöhnliches zum Besonderen macht und vermeintlich Ephemeres in den Vordergrund zu stellen vermag, wie es Lorraine Daston als kennzeichnend für die naturwissenschaftliche Aufmerksamkeit in der Neuzeit herausgearbeitet hat.13 Aufmerksamkeit meint auch nicht jene »Andacht zum Unbedeutenden«14 , wie sie im Verlauf des 19. Jahrhunderts zum Kennzeichen einer spezifisch literaturwissenschaftlichen Genauigkeit in der Beobachtung von Texten wurde. Aufmerksamkeit meint hier vielmehr jene kapitalisierungsfähige Form von Beachtung, wie sie Georg Franck in seinen Arbeiten zur Ökonomie der Aufmerksamkeit herausgearbeitet hat:15 Als Teil neuronaler Wahrnehmungsprozesse, so 11

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Grundlegend zum Skandal in der Medienmoderne als Verdichtung von Konflikten zwischen Teilöffentlichkeiten Frank Bösch: Historische Skandalforschung als Schnittstelle zwischen Medien-, Kommunikations- und Geschichtswissenschaft. In: Fabio Crivellari u. a. (Hg.): Die Medien der Geschichte. Historizität und Medialität in interdisziplinärer Perspektive. Konstanz: UVK 2004, S. 445–464. Dieses Verständnis von Avantgarde, die Konventionen überschreiten darf und soll, gehört zum Arbeitsbündnis zwischen Produzenten und Rezipienten. Kunstskandale jedoch sind Hinweise darauf, dass es Probleme mit ebendiesem Arbeitsbündnis gibt. Vgl. dazu Peter Zimmermann: Die Kunst des Skandals. In: Sabine Schaschl/Peter Zimmermann (Hg.): Skandal: Kunst. Wien u. a.: Springer 2000, S. 3–14, hier S. 6. Daston zeigt u. a., »wie Staunen und Neugier zunächst in der Naturgeschichte des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts die Aufmerksamkeit auf ungewöhnliche Gegenstände gerichtet haben, wie diese Emotionen dann aber, zusammen mit der Aufmerksamkeit, allmählich umgelenkt wurden auf gewöhnliche oder sogar abstoßende Objekte.« (Lorraine Daston: Eine kurze Geschichte der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit. München: Carl Friedrich von Siemens Stiftung 2000, S. 12.) Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. München: Fink 1989, S. 404. Vgl. dazu Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. München, Wien: Carl Hanser 1998; Georg Franck: Mentaler Kapitalismus. Eine politische Ökonomie des Geistes. München, Wien: Carl Hanser 2005.

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Franck, ist Aufmerksamkeit das zentrale Vermögen zur Selektion und verfügt in dieser Eigenschaft über wertende, nämlich wertschätzende und wertschöpfende Fähigkeiten. Aufgrund dieses Potenzials sei sie jene Währung, die in postmodernen Gesellschaften dem Geld zunehmend den Rang ablaufe. Aufmerksamkeit könne man verdienen, mit Aufmerksamkeit aber auch bezahlen. Am deutlichsten werde das an den darauf spezialisierten Märkten, den Medien. Sie bieten Informationen an, um an die Aufmerksamkeit des Publikums zu gelangen, die sie an die werbende Wirtschaft weiterverkaufen. Aber auch im literarischen Feld spielt Aufmerksamkeit eine zentrale Rolle, wenn es – wie im Subfeld der eingeschränkten Produktion16 – weniger um den Erfolg am Markt als um die Beachtung und Prämierung durch Konkurrenten und Kenner geht. Doch hier wie da, in den Massenmedien wie im literarischen Feld, ist Aufmerksamkeit ein knappes Gut, an das weder die Produzenten von TV-Serien noch von Lyrik konkurrenzlos gelangen. Dass indes eine solche Konkurrenz um Aufmerksamkeit keine Erfindung des mentalen und medialen Kapitalismus des späten 20. Jahrhunderts ist, sondern auch archaische Ökonomien der Gabe und des Opfers betrifft, lehrt ein Blick in das Erste Buch Mose: Es begab sich aber nach etlicher Zeit, daß Kain dem Herrn Opfer brachte von den Früchten des Feldes. Und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der Herr sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick. (Gen 4, 3–5)

Man kann dieses von Erklärungen weitgehend frei gehaltene Narrativ als Urszene in der Konkurrenz um Aufmerksamkeit begreifen: Beide bringen Vergleichbares, nämlich ein Opfer; beide bringen aber auch Verschiedenes, der nomadische Viehzüchter Abel ein Tier aus seiner Herde, der reiche, sesshafte Ackerbauer Kain Früchte von seinem Feld. Derjenige, dem damit gleichermaßen Achtung und Wertschätzung gezollt werden soll, verteilt seine Beachtung aus Gründen, die der Text nicht nennt, aber nun disproportional: Abel bekommt alles, Kain gar nichts. Die Konsequenzen eines solchen Mangels an Aufmerksamkeit jedenfalls sind ebenso fatal wie bekannt. Mittlerweile haben sich Ackerbauern und Viehzüchter zu Medienanbietern und Dichtern ausdifferenziert, die Feldfrüchte und Tieropfer sind zu Texten und Bildern mutiert, und über ihre Beachtung und ihren Wert entscheiden Einschaltquoten, Auflagenhöhen oder bestimmte Konsekrationsinstanzen. Und mittlerweile versucht man auch, einem Mangel an Aufmerksamkeit, wie er Kain noch unvorbereitet getroffen hat, professionell vorzubeugen. Die Mittel dafür sind vielfältig, sie reichen von werblichen Maßnahmen bis zur Produktion von Skandalen, wobei Prozesse des labellings bzw. brandings längst auch in die Produktion, Vermittlung 16

Vgl. zur Differenz zwischen dem Subfeld der eingeschränkten Produktion, deren Produzenten in erster Linie andere Produzenten und damit ihre unmittelbaren Konkurrenten beliefern, und dem Subfeld der Massenproduktion Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 344.

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und Rezeption von Literatur eingegangen sind. Das zeigen etwa Dirk Niefangers Ausführungen über den Autor und sein Label, die auf der Basis von Bourdieus Feldtheorie einen Kreislauf von literarischen Texten, ›tatsächlichem‹ Autor und dessen Position im literarischen Feld konzedieren. Der Autorname als Label gibt dabei unter anderem »Hinweise über den Wert (etwa das latente symbolische Kapital) eines Textes [. . .]; er vermittelt ein Image und verspricht eine bestimmte Qualität.«17 Insofern steht Autorschaft in der Medienmoderne eben nicht nur für eine Diskurse bündelnde und adressierende Größe, sondern auch für die Bildung einer Marke im literarischen Feld, die wie jede öffentlich kommunizierte Marke nicht nur wertet, sondern auch wirbt: »Die erste Aufgabe der Marke besteht darin, die Ware zu bezeichnen; die zweite, ihre affektiven Konnotationen zu mobilisieren.«18 Entsprechend indizieren Autornamen das im literarischen Feld akkumulierte symbolische Kapital und beschleunigen so die Kommunikation über literarische Texte. Bei dem Text, den Goetz in Klagenfurt vortrug, handelt es sich um ein subpoetisches Manifest, das nicht von ungefähr den Titel Subito trägt. Zum einen meint Subito ›plötzlich‹, ›sofort‹ und dient in der Musiknotation als Vortragsanweisung. Zum anderen trug in den 1980er Jahren eine Hamburger Gaststätte diesen Namen, die im Zeichen von New Wave und Pop zum Treffpunkt einer jüngeren Generation von Künstlern, Schriftstellern, Musikern und Journalisten wurde.19 Dieser im Titel alludierte Szenetreff ist insofern symptomatisch, als er einen Bruch mit der Attitüde des lesenden Solitärs und Connaisseurs der leisen Töne signalisiert und Autorschaft nun explizit in den Zusammenhang einer bestimmten Subkultur und einer eher ›lauten‹, schnellen Musikrichtung stellt. Das mit dem Titel Subito ebenfalls angedeutete Beschleunigungsprogramm wiederum wird auf zwei Ebenen eingelöst: erstens auf der Textebene, wenn es etwa gegen Ende »in der Sprache des Manifests« heißt: »Wir brauchen noch mehr Reize, noch viel mehr Werbung Tempo Autos Modehedonismen Pop und nochmal Pop.«20 Zweitens realisiert es 17

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Dirk Niefanger: Der Autor und sein Label. Überlegungen zur »fonction classificatoire« Foucaults (mit Fallstudien zu Langbehn und Kracauer). In: Heinrich Detering (Hg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen. (Germanistische Symposien Berichtsbände 24) Stuttgart, Weimar: Metzler 2002, S. 520–539, hier S. 526. Niefangers Darlegungen grenzen sich hier explizit von Foucaults Theoremen ab, die dem Autor zwar eine klassifikatorische Funktion einräumen, aber eben nicht außerhalb von Texten und Diskursen, mithin eine medial inszenierte und aufmerksamkeitsökonomisch relevante Autorschaft gar nicht verfolgen. Jean Baudrillard: Das System der Dinge. Frankfurt am Main: Campus 1991, S. 236. Vgl. dazu auch Monika Hubbard: Markenführung von innen nach außen. Zur Rolle der internen Kommunikation als Werttreiber für Marken. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2004, S. 110ff. Dort schildert die Verfasserin im Rahmen der Markenfunktionen, wie eine Marke Medium und Botschaft zugleich ist. Über die Geschichte und das Selbstverständnis dieser Subkultur sowie die Rolle der Musik erzählt etwa Diedrich Diederichsen: Sexbeat. 1972 bis heute. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1985. Diederichsen war selbst einer der prominentesten Exponenten dieser Kohorte, seine Ausführungen sind der Perspektive eines beteiligten Beobachters geschuldet. Rainald Goetz: Subito. In: R. G.: Hirn. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, S. 9–21, hier S. 20f.

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sich auf der Performanzebene in Klagenfurt durch den nervösen Vortragsstil und das hohe Lesetempo seines Autors, der mit der kaum zu erfüllenden Direktive schließt: »Und jetzt, los ihr Ärsche, ab ins Subito.«21 Zuvor jedoch betreibt der selbstreferenzielle Text auf zwölf Druckseiten ein raffiniertes Verwirrspiel mit der Kategorie von Autorschaft und dem Format der Klagenfurter Lesung. Alles beginnt in einer Klinik: Eines Abends, oder war es später Nachmittag, die Wärme des vergangenen, seltsam überhitzten Frühlingstages lag noch auf den Sträuchern, Wiesen und Kieswegen, fand sich Doktor Raspe in grundloser Heiterkeit auf einer Parkbank im Innenhof der Klinik wieder [. . .]. Nichts drohte.22

Doktor Raspe wird vom Klinikdirektor zu sich zitiert, geht aber nicht hin. Noch vor kurzem wäre Raspe hingegangen, um dem Direktor voll in die Eier zu haun und ihm die Maske der braun gebrannten Gesichtshaut samt schlohweiß weißem Haar herunterzureißen. Doch wozu, fragte Raspe sich jetzt, sollte er den Direktor enttarnen? Das ist doch ein Schmarren, sagte Raspe, das ist doch ein Krampf, denen was vorzulesen, was eh in meinen Roman hinein gedruckt wird, eine tote Leiche wäre das [. . .].23

Vorlesen, Roman, tote Leiche? Hat der Mediziner Raspe etwa einen Roman geschrieben, aus dem er dem Klinikdirektor vorlesen soll? Man ahnt natürlich: »denen was vorzulesen« bezieht sich auf die Situation beim Vorlesewettbewerb in Klagenfurt, reflektiert also genau die Situation, in welcher der Text zum ersten Mal öffentlich vorgetragen wird und öffnet damit schon zu Beginn die Hermetik fiktionaler Welten zu einer metatextuellen Erzählung, die ihre eigene Rezeption in Klagenfurt mit einbezieht. Wer aber ist Raspe, und was hat Raspe mit der Klagenfurter Lesung zu tun? Zunächst ist Raspe ein Hinweis auf eine persona non grata der bundesrepublikanischen Nachkriegsgeschichte, auf den 1971 in die Rote-Armee-Fraktion eingetretenen Jan Carl Raspe, der 1972 zu lebenslanger Haft verurteilt wurde und im Oktober 1977 im Zuge des kollektiven Selbstmordversuchs der RAF-Gefangenen starb.24 Außerdem ist Raspe Assistenzarzt in einer psychiatrischen Klinik und in dieser Funktion der autobiografisch angelegte Protagonist in Goetz’ erstem Roman Irre. Dieser war zum Zeitpunkt des Klagenfurter Auftritts bereits fertiggestellt, der Kontrakt mit dem Suhrkamp Verlag längst unterzeichnet, in dem er ein Vierteljahr später pünktlich zur Frankfurter Buchmesse 1983 erscheinen sollte.25 Werkgeschichtlich ist der Raspe aus Subito mithin ein Zitat des Raspe aus Irre, eine intratextuelle Verknüpfung, zumal die Exposition des Klagenfurter Textes 21 22 23 24

25

Ebd., S. 21. Ebd., S. 9. Ebd. Auch darüber wird Goetz wenige Jahre später einen Roman schreiben und unter dem Titel Kontrolliert (1988) die bundesrepublikanische Geschichte des Jahres 1977 erzählen bzw. auf literarisch komplexe Weise sich einer kohärenten Erzählung verweigern. Vgl. dazu ausführlich Thomas Doktor/Carla Spies: Gottfried Benn – Rainald Goetz. Medium Literatur zwischen Pathologie und Poetologie. Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 88ff.

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eine wörtliche Übernahme aus dem Roman darstellt. Darüber hinaus alludiert der Assistenzarzt Raspe den jungen Arzt Rönne aus Gottfried Benns früher Prosa, namentlich aus der Novelle Gehirne (1915).26 Beide, Rönne wie Raspe, sind angehende Mediziner, beide reisen im Zug von Süd- nach Norddeutschland, und bei beiden liefert eine Klinik den Reiseanlass: Raspe flüchtet aus und vor der Klinik ins Hamburger Subito, Rönne soll für einige Wochen den Chefarzt vertreten und reist zu einer Klinik hin, von der er sich aber ebenfalls zunehmend entfernen wird. Beide Texte, Subito wie Gehirne, enthalten neben medizinischen Beschreibungen von Wahrnehmungsvorgängen eine kinästhetische Landschaftsbeschreibung aus der Perspektive eines Zugreisenden, bei der die »sphärische[. . .] Dunstfarbe«27 Blau die Wahrnehmung auf Himmel und Horizont fokussiert. Wie sehr diese Landschaftsbeschreibung bei Goetz sich jedweder Unmittelbarkeit entzieht und medial bzw. kunsthistorisch überformt ist, indiziert die Formulierung: »in die Unendlichkeit hinverduckte Dorfnatur Bäume Silhouetten, sfumato und fort«28 . Sfumato bezeichnet bekanntlich eine von Leonardo da Vinci entwickelte Maltechnik, Landschaften in Nebel zu hüllen und dabei tendenziell zu dekonturieren, also auf anderer Ebene das zu betreiben, was auch Goetz’ Text unternimmt, wenn er sich der antithetischen Tradition der res factae und der res fictae zu entziehen versucht. Und als wären mit alldem noch nicht genug intra-, inter- und extratextuelle Beziehungen gestiftet, wechselt in Subito plötzlich die Erzählperspektive, mutiert Raspe unvermittelt zu einem Ich-Erzähler: »Nüchtern, wie gesagt, noch so was von nüchtern hat Raspe das Nachtcafé betreten, und gleich bin ich, hier kriege ich Lust auf das Ich.«29 Dieses Ich wird kurz danach explizit als »Herr Goetz« tituliert und ist – neben anderen – umgeben von zwei Figuren aus der subkulturellen Szene namens Albert Gagarin und Neger Negersen: Hinter diesem lässt sich unschwer der Musikkritiker und Poptheoretiker Diedrich Diederichsen ausmachen, hinter jenem der mit Goetz befreundete Maler Albert Oehlen. Zusammen bilden die drei »ein Gegentribunal zur gehobenen Jury in Klagenfurt«;30 ausführlich beschäftigt sich das Ich namens Goetz nun mit seiner bevorstehenden Lesung dort und nimmt dabei auch die Reaktionen der Kritiker vorweg: »Das ist doch keine Literatur. Wir wollen doch die Kunst vorgelesen kriegen. So einen räsonnierenden Schmarren können wir ja selber hinschreiben und vorlesen.«31 In diesem Stil geht es weiter, werden Kritiker, Publikum und Literaturbetrieb beschimpft sowie Auto26

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Auf die Nähe zu Benn hat bereits Thomas Anz in seiner Besprechung von Irre hingewiesen. Vgl. Thomas Anz: Die traurige Wirklichkeit des Wahnsinns. Rainald Goetz’ erster Roman »Irre«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. 10. 1983. Rainald Goetz (Anm. 20), S. 11. Ebd., S. 10. Rainald Goetz (Anm. 20), S. 14. Philipp Müller/Kolja Schmidt: Goetzendämmerung in Klagenfurt. Die Uraufführung der sezessionistischen Selbstpoetik von Rainald Goetz. In: Ralph Köhnen (Hg.): Selbstpoetik 1800–2000. Ich-Identität als literarisches Zeichenrecycling. Frankfurt am Main u. a.: Lang 2001, S. 251–270, hier S. 261. Rainald Goetz (Anm. 20), S. 15.

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ren wie Heinrich Böll und Günter Grass als »präsenile[. . .] Chefpeinsäcke[. . .]«32 geschmäht. Solche Schmähungen wiederum konturieren bis heute das Image des Autors Rainald Goetz: Als eine Variante polemischer Kommunikation produzieren sie Normverstöße im literarischen Feld; dabei haben sie zunächst »die eigenen Parteigänger im Auge«, zielen also darauf, »die Kohäsion in der Eigengruppe zu stärken«,33 für die stellvertretend Figuren aus der subkulturellen Szene wie Albert Gagarin und Neger Negersen stehen. Kompensiert wird so nicht zuletzt die anfängliche Unsicherheit des eigenen Ortes in der Ordnung des literarischen Felds. Doch die Lust des polemischen Subjekts am gewitzten Spiel mit Regelbrüchen korrespondiert auch mit der Lust eines größeren Publikums an ebendiesem Vorgehen, wie sich etwa an der langen Geschichte des öffentlich ausgetragenen Literaturstreits unschwer belegen lässt. »Echte Polemik«, wusste jedenfalls schon Walter Benjamin, »nimmt ein Buch sich so liebevoll vor, wie ein Kannibale sich einen Säugling zurüstet.«34 Liebevoll in ebendiesem Sinne beobachtet Goetz das Friedensengagement von Schriftstellern wie Grass oder Böll, nämlich als Markenbildung im literarischen Feld, um dann gegen das so entstehende Image der »von Friedenskongreß zu Friedenskongreß« ziehenden Schriftsteller zu polemisieren. Von ihren Texten oder Büchern hingegen ist bewusst nicht die Rede; sie haben sich mit dem Image ihrer Autoren selbst erledigt. Mit solchen Positionskämpfen im real existierenden literarischen Feld scheint der Text von Goetz endgültig in der Wirklichkeit angekommen – und vertauscht doch zunächst nur Fiktionales und Faktisches: Der Verfasser von Subito entlässt nach der Hälfte des Textes seinen Protagonisten namens Raspe und schließt sich stattdessen selbst als Kunstfigur in den Text ein: eine klassische Metalepse, die in einer sich zunehmend als metafiktional zu erkennen gebenden Erzählung illusionsstörende Wirkung entfaltet.35 Der Autor wird zu seinem eigenen Protagonisten und Autorschaft selbst als literarische Konstruktion lesbar, die – zumindest bei Goetz – in eine provokative Pose übersetzt wird.36 Einerseits generiert der Autor einen Text, andererseits generiert aber der Text auch seinen Autor, zumindest im Fall Goetz. Damit dieser wiederum nicht lebenslang in seinem Text eingeschlossen bleibt wie der historische Raspe in seiner Zelle, bedurfte es jedoch noch einer 32 33

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Ebd., S. 19. Walther Dieckmann: Streiten über das Streiten. Normative Grundlagen polemischer Metakommunikation. Tübingen: Niemeyer 2005, S. 281. Walter Benjamin: Einbahnstraße. In: W. B.: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972ff. Bd. IV. 1: Kleine Prosa, Baudelaire-Übertragungen. Hg. von Tillman Rexroth. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 83–148, hier S. 108. Vgl. dazu etwa Werner Wolf: Metafiktion. In: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Stuttgart, Weimar: Metzler 2004, S. 447–448. Auf ›metaisierende Darstellungsverfahren‹ bei Goetz wird weiter unten noch eingegangen. Vgl. dazu allgemein Dirk Niefanger: Provokative Posen. Zur Autorinszenierung in der deutschen Popliteratur. In: Johannes Pankau (Hg.): Pop – Pop – Populär. Popliteratur und Jugendkultur. Bremen, Oldenburg: Universitätsverlag Aschenbeck & Isensee 2004, S. 85–101, 215–217.

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weiteren Aktion. Und ebendie war für den öffentlichen Vorlesewettbewerb in Klagenfurt vorgesehen. Denn der Tag, an dem der Autor Rainald Goetz vor Zeugen und Fernsehkameras seinem eigenen Text entstieg, war der 25. Juni 1983. Er tat es mit Hilfe eines selbst zugefügten Rasierklingenschnitts in die eigene Stirn und den dabei verlesenen Worten: »Ihr könnts mein Hirn haben. Ich schneide ein Loch in meinen Kopf, in die Stirne schneide ich das Loch. Mit meinem Blut soll mir mein Hirn auslaufen. Ich brauche kein Hirn nicht mehr, weil es eine solche Folter ist in meinem Kopf.«37 Spätestens in diesen Momenten überschreitet der literarische Text seine Grenzen und wird zur Performance. In der Aktion fusioniert der um den Bachmann-Preis lesende Goetz mit dem Protagonisten des vorgelesenen Textes und holt die vorangegangene Metalepse seines Textes performativ nach und ein. Die Fusion ist hier mehr als die Summe ihrer Elemente, nämlich die inszenierte Geburt des Autors Rainald Goetz aus einem Text und einem Schnitt. Die Geburtsanzeige konnte man jedenfalls noch am selben Abend den Tagesthemen entnehmen und in den Tagen und Wochen danach in verschiedenen Versionen in den Feuilletons zahlreicher Zeitungen lesen. Dieser Schnitt wiederum ist genauso übercodiert wie der Text im Allgemeinen und sein Protagonistenpaar Raspe/Goetz im Besonderen und wurde so häufig wie heterogen gedeutet und kommentiert. Diese Bemühungen um Dechiffrierung einer körperlichen Aktion seien hier grob und in Kürze zusammengefasst: Erstens kann der Schnitt als symbolischer Schnitt in die Biografie eines promovierten Historikers und Mediziners gelesen werden, der bis dato vor allem Essays, Rezensionen und zwei Dissertationen geschrieben hat und dessen Bekanntheitsgrad im literarischen Feld eher gering war. Zweitens ist es buchstäblich ein Schnitt ins eigene Fleisch, eine Form der Autor- und Autoaggressivität, eine Selbststigmatisierung bzw. Selbstverletzung, wie vor allem psychologisch geschulte Kritiker anschließend konstatierten. Drittens sei das dadurch hervortretende Blut – so Dieter E. Zimmer in der Zeit – eine »aggressive Beschämung eines Publikums, das nach möglichst echtem Blut lechzt«.38 Viertens übersetze der Schnitt in die eigene Haut das gleichzeitig im vorgelesenen Text symbolisch fließende Blut, die rondoartig wiederkehrenden Blut-Schnitt-Phantasien unmittelbar in eine Aktion: Blut-Objekt moduliere zum Blut-Subjekt. Fünftens – so die Empfehlung von Cora Stephan in der Frankfurter Rundschau – könnten sich doch die Herren mit einem morgendlichen Rasierunfall ohne Weiteres den von Goetz öffentlich ausgestellten Menstruationsneid sparen.39 Sechstens hat natürlich auch der Schnitt seinen intertextuellen Bezug, nämlich zum berühmten ›Riß in der Schöpfung‹ aus Georg Büchners Drama Dantons Tod. Siebtens illustriere der Schnitt, wenn auch drastisch, das Produktionsverfahren des vorgelesenen Textes, das auf einem Zerschneiden von Texten sowie einem 37 38

39

Rainald Goetz (Anm. 20), S. 20. Dieter E. Zimmer: Wie, bitteschön, geht das Leben? Der Roman von Rainald Goetz: »Irre«. In: Die Zeit vom 14. 10. 1983. Vgl. Cora Stephan: STIRNRISS oder Weil ÄH. In: Frankfurter Rundschau vom 12. 10. 1983.

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»Neu-Arrangement intra- und intertextueller Zitate«40 basiere. Achtens alludiere der Schnitt das Sezieren als ärztliche Tätigkeit, wobei in diesem Fall die Stirn und das Hirn zum Objekt medizinischer Neugierde würden. Neuntens, so Hubert Winkels, erinnere »die ›Zeichnung‹ des Körpers an die ursprüngliche Gewalt der Einschreibung, an das kulturelle Gesetz, dem jeder Körper unterworfen wird«.41 Und zehntens schließlich fungiere der Schnitt als Werbung, als Maßnahme, um Aufmerksamkeit auf die eigene Autorinszenierung zu fokussieren. Zehntens, so kann man thetisch resümieren, lässt sich kaum falsifizieren, wäre aber ohne die Spekulationen, Kommentare und Deutungsversuche von eins bis neun irrelevant. Die wiederum lassen sich grosso modo auf einen gemeinsamen Nenner bringen: Der Schnitt markiert eine Grenzverletzung; er beschädigt die Haut, also die Grenze von Innen und Außen, und er rührt an ein Tabu, wenn nicht des literarischen Feldes, so doch an eines des literaturbetrieblichen Klagenfurt. Das haben vor Goetz zwar schon andere versucht, Friedrich Christian Delius etwa, der 1983 gar nicht erst anreiste und stattdessen in einem langen Text in der Frankfurter Rundschau erklärte, warum nicht: »Die Veranstaltung ist ein zeitgemäßer Reflex auf den kapitalisierten Buchmarkt.«42 Oder Sten Nadolny, der drei Jahre zuvor sein Klagenfurter Preisgeld an die leer ausgegangenen Kollegen weitergegeben hat; davon existiert sogar ein Foto: Nadolny in der Mitte der erfolglosen Jungautoren, sein Geld verteilend. Gerade diese beiden Beispiele zeigen: Versuche, mitzumachen und zugleich nicht mitzumachen, gab es viele; doch die Produktion eines Skandals mit Langzeitwirkung bedarf selbst einer gewissen Kunstfertigkeit und findet nur ausnahmsweise statt. Warum aber sind der wortreiche Protest von Delius wie die generöse Geste von Nadolny beinahe vergessen, und warum hat sich dagegen Goetz’ Auftritt in Klagenfurt so entschieden in das kulturelle Gedächtnis eingeschrieben? Weil, so meine These, seine offenbar nachhaltig wirksame, skandalästhetische wie übercodierte Performance weder eindeutige Gesten wie Nadolny noch diskursive Antworten wie Delius gibt, sondern Fragen aufwirft und diese weitergibt: Ist der Schnitt in die eigene Stirn noch Teil der Kunst, oder ist es ein Bruch mit der Kunst? Die Antwort darauf wird wohl stets strittig bleiben, und genau diese polarisierende Irritation ist beabsichtigt. Man kann sich ihr sogar entziehen, wie es Marcel ReichRanicki tat, der sich nach der Lesung von Goetz als erster unter den anwesenden Kritikern zu Wort meldete. Er zeigte sich beeindruckt von »diese[m] provozierende[n] Prosastück« und unbeeindruckt von der Blut-Performance, die er ledig40 41

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Philipp Müller/Kolja Schmidt (Anm. 30), S. 257. Hubert Winkels: Krieg der Zeichen. Rainald Goetz und die Wiederkehr des Körpers. In: H. W.: Einschnitte. Zur Literatur der 80er Jahre. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 217–266, hier S. 233. Winkels hat nicht von ungefähr das Motiv des (Ein-)Schnitts zum Leitmotiv und Titel für seine Untersuchung der deutschsprachigen Literatur der 80er Jahre gewählt. Vgl. dazu und zum Folgenden Marius Meller: Er bot ihnen die Stirn. Vor 20 Jahren schnitt sich der Schriftsteller Rainald Goetz in Klagenfurt blutig – und wurde berühmt. Eine Werkschau. In: Der Tagesspiegel vom 29. 6. 2003.

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lich am Rande als »authentischen Wutausbruch«43 vermerkte. Diese Trennung von Text und Aktion ist insofern symptomatisch, als sie auch die meisten Presseberichte aufweisen, wenn sie entweder boulevardesk den Text vernachlässigen zugunsten der spektakulären Autorinszenierung mit Hundehalsband und NewWave-Frisur oder umgekehrt den Text traktieren, als sei dieser lediglich gedruckt und nicht raffiniert blutend vor Fernsehkameras inszeniert worden. Doch gerade die mediale Performanz ist Teil eines ästhetischen Programms, das maßgeblich auf der Inszenierung von Grenzziehungen und -überschreitungen basiert. Nicht von ungefähr schreibt Goetz in seinem Essay Und Blut (1985): »Als Rand weiß sich die Haut nur in der Distinktion, daß sie selbst sie selbst ist gegen anderes, in der Differenz von Identität und Differenz.«44 Und nicht von ungefähr war es die Haut und damit die symbolische Differenz von Identität und Differenz, die der Autor in Klagenfurt nicht nur symbolisch verletzte. Auf dieser Basis vermag der »Subjektkultkarrierist« Goetz45 gleichzeitig auf das Symbolische wie auf das Authentische seiner Aktion zu verweisen und dabei binäre Oppositionen und Grenzziehungen gleichermaßen zu überschreiten und zu befestigen. Dieser Befund soll abschließend noch an einem weiteren Beispiel illustriert werden: an der Rolle von Pop und den damit verbundenen Einnahmequellen von Aufmerksamkeit. Zunächst scheinen bei Goetz – wie in der Forschung häufig betont – die Grenzen zwischen E- und U-Literatur, zwischen Pop und Hochkultur zu diffundieren. Dieser Befund entbehrt nicht einer gewissen Evidenz: Wer die Maltechnik des Sfumato (s. o.) oder den in Subito ebenfalls erwähnten französischen Barockmaler Claude Lorrain (1600–1682) und seine leuchtende Landschaftsmalerei nicht kennt oder recherchiert, wird die kunstgeschichtliche Überformung der Goetz’schen Landschaftsbeschreibung nicht bemerken.46 Gleichzeitig bekennt sich Subito offensiv zur Populärkultur, zur Werbung etwa, zur Mode und zum Blauen Bock. Und auch in seinen weiteren Texten mischt Goetz immer wieder Alltags- und Hochkultur, Kanon und Zeitgeist, wenn er etwa dafür plädiert, literarische Klassiker als Popphänomen zu betrachten: Denn der Klassiker, so Goetz, »ist benutzbar für die widersprüchlichsten Zwecke, ein Zitatenfundus, der geplündert werden möchte [. . .]. Im besten Fall ist der Klassiker logisch das, was auch Pop im besten Fall ist: nämlich ein Hit.«47 Die Gemeinsamkeit zwischen der Langlebigkeit von Klassikern und der emphatisch bejahten Kurzlebigkeit von Popsongs besteht erstens in ihrer Überdeterminiertheit, die unterschiedlichste Erwartungen erfüllt und verschiedene Interpretationen erlaubt, und zweitens in ihrer erfolgreichen Wir43 44 45

46 47

Zit. n. Thomas Doktor/Carla Spies (Anm. 25), S. 93. Rainald Goetz: Und Blut. In: R. G.: Hirn (Anm. 20), S. 177–194, hier S. 180. In seinem Roman Kontrolliert heißt es an einer Stelle nicht ohne Selbstironie: »Schließlich muß am Heimweg jeder doch wieder alleine mit sich selbst fertig werden, ich mit meiner bürgerlichen Kunst, Konrad mit seiner antibürgerlichen Politik, ich darf ihn zurecht den Lüstemensch und Penner schimpfen, er mich den Subjektkultkarrieristen.« In: Rainald Goetz: Kontrolliert. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 47f. Vgl. Rainald Goetz (Anm. 20), S. 10. Rainald Goetz: Was ist ein Klassiker? In: R. G.: Hirn (Anm. 20), S. 22–25, hier S. 24.

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kungsästhetik, die zwar nicht in altaufklärerischer Manier das Leben bessert, aber ihre Rezipienten temporär darüber erhebt. Eine solche Wirkungsästhetik wird bei Goetz zum Maßstab für klassische Hoch- wie für aktuelle Popkultur, in immer neuen Varianten proklamiert und etwa am Beispiel eines Livekonzerts plausibilisiert: Nein, die Musik und gerade die auf der Bühne muß nur eines, nämlich den Imperativ sprechen, und nicht irgendeinen, sondern diesen: Du mußt Dein Leben ändern. Nach einer Stunde Kampf gegen die Bühne, gegen die Musik, gegen diesen Imperativ geht man erschöpft und glücklich heim. Und alles bleibt beim alten. Für einen Augenblick ist man vielleicht ein besserer Mensch, die radikalere Realisation dessen, der man ist.48

Dabei bezieht Goetz’ Popbegriff durchaus Anleihen beim Populären im Sinne des Unterhaltenden ebenso wie beim Popularisierten im Sinne des Massentauglichen, aber er geht darin nicht auf, im Gegenteil: Beschworen werden zwar immer wieder die Charts, aber das popkulturelle Koordinatensystem, in das sich der Dichter Rainald Goetz dann einträgt, geht weit über gut verkäuflichen Mainstream hinaus: Deshalb haben heute nicht Style Council oder gar Tuxedo Moon oder gar Residents recht, sondern die anderen Weitermacher, Fleshtones, Gun Club, Cramps, Fall, auch Clash, U. K. Subs, [. . .] und natürlich die Lords und erst recht die Hanoi Rocks; und die amerikanischen Gitarren, Violent Femmes [. . .].49

Ein mit solchen Musikergruppen bevölkertes Popuniversum ist kaum massenund nur bedingt markttauglich; es setzt vielmehr Kennerschaft voraus und prämiert sie, etabliert also nichts anderes als eine eigene Expertenkultur,50 die als Distinktionsmacht genauso funktioniert wie sie über Inklusions- und Exklusionsmechanismen verfügt, auch wenn diese nicht von staatlichen Bildungsinstitutionen reguliert werden. Diese Expertenkultur im Zeichen von Pop hatte vor allem in den 1980er Jahren ein eigenes Kommunikationsorgan: die Zeitschrift Spex, die damals noch den Untertitel Musik zur Zeit trug. Am Markt war dieses monatlich erscheinende Periodikum zwar nur ein Nischenprodukt und keineswegs an jedem Kiosk erhältlich; aber dank seiner Musikauswahl, seines theoretisierenden und reflektierenden Umgangs mit Pop, seiner Redakteure und Autoren sowie der Tatsache, dass neben dem musikalischen Schwerpunkt auch literarische und kulturelle Themen und Texte präsentiert wurden, verfügte die Zeitschrift lange Zeit über ein 48 49 50

Rainald Goetz: Fleisch. In: R. G.: Hirn (Anm. 20), S. 57–87, hier S. 72. Ebd., S. 84. Ausgehend von der Beobachtung, dass »viele Subbereiche dessen, was sich an aktueller Kulturproduktion und -rezeption aus der Poptradition herleitet, inzwischen einem Funktionsmodus folgen, den Bourdieu allgemein als Feld eingeschränkter Produktion beschreibt«, wird diese Problematik ausführlich diskutiert von Johannes Ullmaier: Felder eingeschränkter Produktion im Pop – Eine Skizze zum Applikationspotential von Pierre Bourdieu. In: Gareon Blaseio u. a. (Hg.): Popularisierung und Popularität. Köln: DuMont 2005, S. 217–242 (Zitat S. 218). Im Vergleich zum aufwändigen Argumentationsgang fällt das Ergebnis jedoch etwas dürftig aus, wenn am Ende in Sachen Pop vor allem »komplexe [. . .] Wechselbeziehungen von Feldern eingeschränkter Produktion mit denen der Großproduktion« (S. 241) konstatiert werden.

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hohes symbolisches Kapital. Zu diesem wiederum trug nicht unwesentlich Rainald Goetz bei, dessen größere Essays in den Jahren 1984 und 1985 allesamt in Spex erschienen, wie umgekehrt sein Image als Autor im literarischen Feld vom subkulturellen Umfeld der Zeitschrift geprägt wurde. Denn obwohl diese Texte später gesammelt unter dem Titel Hirn als Taschenbuch bei Suhrkamp erschienen, konnte er mit den Spex-Publikationen demonstrieren, dass es ihm nicht um die Arbeit an einem kontinuierlichen Werk und den Einzug ins valorisierte kulturelle Gedächtnis ging, sondern zunächst und vordringlich um das Hier und Jetzt aller Popkultur, um die Produktion von einzelnen Momentaufnahmen, die eben nicht notwendig zu einem Werk mit inhärenter Entwicklungsgeschichte verklammert werden müssen. Insofern inszeniert Goetz in seinen Autorinszenierungen wie in seinen Texten tatsächlich immer wieder Grenzüberschreitungen zwischen Hochund Alltagskultur, plädiert etwa für eine »Allianz aus Populismus und radikalem Denken samt Einsamkeit und Isolation [. . .], für eine progressive Verwirrung«;51 aber er tat das als Vertreter zweier Expertenkulturen, nämlich der Spex-Kultur und der Suhrkamp-Kultur, die er aber umgekehrt und seinerseits ebenfalls beeinflusste. Das indiziert der bereits erwähnte Umstand, dass seine Texte aus Spex 1986 bei Suhrkamp erschienen, mehr noch aber das Motto, das er diesem Buch voranstellt. Es geht zurück auf The Lords of the New Church und lautet bei Goetz nicht ganz korrekt: »One two three four / Living for today Living for today Living for today / And don’t worry about tomorrow.« Ein Verlagsprogramm, das einen Großteil seines Umsatzes mit kanonisierten Bestsellern in Langzeitperspekive52 erwirtschaftet, sollte sich nicht unbedingt an solchen Zeilen orientieren. Ein Autor indes, der literarisch immer wieder mit Grenzen spielt, kann solche Ambivalenzen und Widersprüche durchaus zur Profilierung der eigenen Autorschaft wie zur Schärfung seines ästhetischen Programms nutzen. Er operiert de facto im Subfeld der eingeschränkten Produktion, kokettiert aber seit 1983 unermüdlich mit dem Kommerziellen und gibt sich skeptisch gegenüber den Spielregeln des literarischen Feldes und seiner Konsekrationsinstanzen. Die zeiht er noch immer gern als »Hochkulturtrottel«, wie unlängst wieder in der Online-Ausgabe der deutschen Ausgabe der Illustrierten Vanity Fair, wo man ihm ein sogenanntes Rainald-Goetz-Blog eingeräumt hat.53 Und so schreibt er wieder, und zwar wieder eine Art Internet-Tagebuch, wie vor Jahren schon einmal, damals unter dem Titel Abfall für alle. Das wird ihm dann im Feuilleton als »Luxusvariante des Rebellischen«54 vorgehalten, und das ist vermutlich genau die Art von Beifall, die er hören will. Denn mit solchen Aktionen wie dem Verkauf von Texten an ein Glamourmagazin aus einem am globalen Zeitschriftenmarkt erfolgreich operierenden Verlag (Condé Nast), verstößt er zwar gegen die Prinzipien 51 52 53

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Rainald Goetz (Anm. 48), S. 84. Vgl. dazu Pierre Bourdieu (Anm. 16), S. 237f. Ein Weblog (engl. Wortkreuzung aus Web und Log), häufig abgekürzt als Blog, ist ein digitales Tagebuch. Es wird am Computer geschrieben und im World Wide Web veröffentlicht. Es ist also eine Webseite, die periodisch neue Einträge enthält. kau [d. i. Jürgen Kaube]: Rainald Goetz bei »Vanity Fair«. Abfall für wenige. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. 2. 2007.

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Thomas Wegmann

von literarischer Autonomie und Eigenlogik.55 Dafür aber gewinnt der Autor eine gewisse Unabhängigkeit von den bewertenden Instanzen im literarischen Feld, weil er mehrere Marktsegmente gleichzeitig bespielt und Honorare wie Aufmerksamkeit aus höchst unterschiedlichen Quellen bezieht. Folglich ist Rainald Goetz bis heute gleichermaßen ge- und verachtet, aber selten gänzlich unbeachtet geblieben. Und ebenso folgerichtig gewann er in Klagenfurt zwar keinen Preis, aber den Wettbewerb um die mediale Präsenz, weil sein »kontrollierter Skandal« an dem orientiert war, was er vortrug: »Klagenfurt, das gibt es doch bloß im Fernsehen.«56 Mit anderen Worten: Literatur und Betrieb wurden in Goetz’ Performance so in Szene gesetzt, dass ein Zusammenspiel deutlich wird, durch das hindurch das literarische Werk überhaupt erst erscheinen kann – nämlich als literarisches Werk im literarischen Feld. Denn meist ist der Verweis auf das Betriebssystem der Literatur als Produktions- und Präsentationssystem mit einer Abwertung verbunden, wobei der Betrieb als das fungiert, was sich von außen in die Literatur einmischt: ein Synonym für Heteronomie.57 Diese idealistisch wie sozialgeschichtlich motivierbare Trennung zwischen künstlerischer Produktionsästhetik und ihren institutionellen Rahmenbedingungen58 wird von Goetz bei seinem Klagenfurter Auftritt performativ durchbrochen: Sein Introitus in eine größere literarische Öffentlichkeit begnügte sich nicht mit der Publikation eines Textes, sondern tangierte und reflektierte auch den Kontext des literarischen Feldes, ohne den ein solcher Text weder produziert noch rezipiert werden könnte. Entsprechend betreffen seine metaisierenden Darstellungsverfahren nicht nur die Textebene von Subito,59 indem sie etwa die Grenzen von Autor und Figur metaleptisch überschreiten, sondern gehen mit dem Text über ihn hinaus, indem sie auch Elemente des literarischen Feldes, wie die Konsekration durch Literaturpreise, mit einbeziehen – und das eben nicht als diskursive Kritik, sondern als Teil der literarischen Inszenierung. Der Schnitt in die eigene Stirn als Form der Selbststigmatisierung skandalisiert dabei erstens 55

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Pierre Bourdieu hat die Weigerung solcher Akteure, das Spiel zu spielen, wie folgt charakterisiert: »Mit ihrer Weigerung, das Spiel zu spielen, Kunst nach den Regeln der Kunst anzufechten, stellen ihre Initiatoren nicht eine bestimmte Art und Weise des Spielens in Frage, sondern das Spiel selbst wie auch den es fundierenden Glauben – und das ist die einzige unsühnbare Grenzüberschreitung.« (Pierre Bourdieu [Anm. 16], S. 274.) Rainald Goetz (Anm. 20), S. 18. Vgl. allgemein zum Verhältnis von Werk und Betrieb, Literaturproduktion und literarischem Feld Stephan Porombka: Literaturbetriebskunde. Zur »genetischen Kritik« kollektiver Kreativität. In: Jahrbuch für Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis 1 (2006): Kollektive Kreativität, S. 72–87. Vgl. dazu Markus Joch/Norbert Christian Wolf: Feldtheorie als Provokation der Literaturwissenschaft. Einleitung. In: M. J./N. Ch. W. (Hg.): Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 108) Tübingen: Niemeyer 2005, S. 1–24, hier S. 2f. Vgl. dazu grundlegend Janine Hauthal/Julijana Nadj/Ansgar Nünning/Henning Peters: Metaisierung in Literatur und anderen Medien: Begriffsklärungen, Typologien, Funktionspotentiale und Forschungsdesiderate. In: J. H. u. a. (Hg.): Metaisierung in Literatur und anderen Medien. Theoretische Grundlagen – Historische Perspektiven – Metagattungen – Funktionen. Berlin: de Gruyter 2007, S. 1–25.

Stigma und Skandal

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die schon vor Goetz’ Lesung latent vorhandene Erwartungshaltung eines Skandals innerhalb von Publikum und Jury,60 indem diese buchstäblich überzeichnet wird. Und er wird zweitens zum vielfach dechiffrierbaren Zeichen, das nicht zuletzt auf ein Konzept von Autorschaft verweist, welches sich nicht abseits des Literaturbetriebs, sondern inmitten seiner medialen Voraussetzungen und institutionellen Auseinandersetzungen positioniert, was aber oppositionelle, provokatorische und dissidente Strategien keineswegs ausschließt, im Gegenteil.

60

Vgl. dazu Thomas Doktor/Carla Spies (Anm. 25), S. 99; Rainer Kühn: Bürgerliche Kunst und antipolitische Politik. Der »Subjektkultkarrierist« Rainald Goetz. In: Walter Delabar u. a. (Hg.): Neue Generation – Neues Erzählen. Deutsche Prosa-Literatur der achtziger Jahre. Opladen: Westdeutscher Verlag 1993, S. 25–34. Kühn widmet sich vor allem der Dichotomie von Authentizität und Konstruiertheit in Werk und Autorinszenierung von Rainald Goetz.

Nina Birkner (Marburg)

»Das ist Kunst, Mann!«1 Selbstreflexion und Selbstinszenierung in zeitgenössischen Künstlerdramen von Igor Bauersima, Réjane Desvignes, Albert Ostermaier und Falk Richter

Per definitionem reflektiert das Künstlerdrama darüber, was Kunst ist, wodurch sich ein Künstler als solcher auszeichnet und unter welchen Bedingungen die Entstehung von Artefakten erfolgreich möglich ist. Dabei ist seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts ein thematischer Bruch mit der Gattungstradition festzustellen, der auf die Verabschiedung des Geniegedankens und die Etablierung einer institutionalistischen bzw. topologischen Kunstauffassung2 zurückzuführen ist. In den Theatertexten des 18., 19. und 20. Jahrhunderts wird der schöpferische Produzent als Genie gezeigt, das sich durch eine privilegierte Weltwahrnehmung vor seinem sozialen Umfeld auszeichnet. Dem begnadeten Künstler ist nicht nur die empirisch fassbare Lebenswirklichkeit, sondern auch die hinter den Phänomenen liegende ›Idee‹ der Welt zugänglich. Durch seine außergewöhnlichen Fähigkeiten gerät das individualistische Ausnahmetalent in Opposition zur breiten Masse. In seinen Artefakten übt es scharfe Kritik an den repressiven Zwängen der Zivilisation, insbesondere an den vorherrschenden Denk- und Lebensformen. Seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts wird dieses im Drama seit dem Sturm und Drang tradierte Künstlerbild zunehmend in Frage gestellt. Durch die Pop-Art Andy Warhols und die Readymades Marcel Duchamps ist Kunst nicht mehr eindeutig von ›Nicht-Kunst‹ zu unterscheiden. Die Wahrnehmung von Objekten als Kunst und von Subjekten als Künstlern ist vor allem von erfolgreichen Zuschreibungen abhängig. Dadurch wird die Vorstellung vom autonomen schöpferischen Produzenten differenzierungsbedürftig. Dieser wird nämlich, so Pierre Bourdieu in den Regeln der Kunst, erst von dem Feld der kulturellen Produktion hervorge1

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Falk Richter: Gott ist ein DJ. In: Uwe B. Carstensen/Stefanie von Lieven (Hg.): Theater Theater. Aktuelle Stücke. Bd. 9. Frankfurt am Main: S. Fischer 1999, S. 393–453, hier S. 420. Nach Boris Groys ist Kunst nur topologisch zu definieren. Wir »können [. . .] nur über Kunstorte – nicht über Kunstwerke – sprechen. Denn die souveräne Autorschaft braucht weniger die Auswahl von Dingen als vielmehr einen klar definierten öffentlichen Ort, um sich als solche manifestieren zu können: einen Ort der Kunst.« Orte der Kunst sind für Groys Räumlichkeiten, die sich durch eine spezifische topologische Eigenart auszeichnen: Es sind Orte der »Überschneidung zwischen privatem und öffentlichem Raum«. Diese lokale Kongruenz ist in zwei Fällen gegeben: »Im ersten Fall zirkulieren die Kunstwerke in öffentlichen Netzen der Verbreitung – und werden in einen privaten Raum« gestellt, so etwa Bilder, die in Privatwohnungen aufgehängt werden. »Im zweiten Fall wird das Private im öffentlichen Raum ausgestellt und zugänglich gemacht. In diesem Falle bleibt das Kunstwerk immobil, wobei der Zuschauer zu zirkulieren beginnt«. Als paradigmatisches Beispiel gilt hier der Ausstellungsraum. Vgl. Boris Groys: Topologie der Kunst. München, Wien: Carl Hanser 2003, S. 23, 25.

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bracht.3 Seine künstlerische Identität ist davon abhängig, ob und inwiefern es ihm gelingt, sich im Kunst- und Kulturbetrieb durchzusetzen. Aus dem Wissen um die Abhängigkeit von den künstlerischen Konsekrationsinstanzen resultieren für die Protagonisten zeitgenössischer Theatertexte andere dramatische Konflikte als für die Künstlerfiguren in Johann Wolfgang von Goethes Torquato Tasso (1790), Gerhart Hauptmanns Michael Kramer (1900) oder Hans Henny Jahnns Thomas Chatterton (1955). Im Gegensatz zum ›klassischen‹ Künstlerdrama, in dem die Figuren an dem Antagonismus von genialer Künstlerexistenz und bürgerlichen Denk- und Lebensweisen scheitern, reflektieren die Autoren heutiger Bühnenstücke über die Strukturmerkmale des kulturellen Felds. Dabei fragen sie nach den Durchsetzungsstrategien noch nicht etablierter Künstler und nach der Logik der feldinternen Vergabe von symbolischem Kapital. Anhand von drei Theatertexten, The Making Of. B.-Movie von Albert Ostermaier (1998), Tattoo von Igor Bauersima und Réjane Desvignes (2002) und Gott ist ein DJ von Falk Richter (1999) sollen die Konflikte zeitgenössischer schöpferischer Protagonisten exemplifiziert werden. Anschließend wird untersucht, wie sich die Bühnenautoren mit ihren Dramen selbst im Kunst- und Kulturbetrieb positionieren.

1. Die spezifischen Strukturen des Kunst- und Kulturbetriebs In vielen Künstlerdramen des ausgehenden 20. Jahrhunderts lässt sich die production restreinte nicht präzise von den kommerziellen Produkten der Kulturindustrie abgrenzen. Während sich etwa die arrivierten Schriftsteller Wolfgang Schwitter in Friedrich Dürrenmatts Meteor (1966) oder Moritz Meister in Thomas Bernhards Über allen Gipfeln ist Ruh (1981) definit im Subfeld der eingeschränkten Produktion positionieren, sind die Grenzen zwischen der ›reinen‹ und der populären Kunst in Richters Gott ist ein DJ fließend. Der Bühnenautor führt zwei typisierte, namenlose Figuren, »ER« und »SIE«, »beide etwa um die Dreißig«4 , vor, die sich rund um die Uhr von Überwachungskameras filmen lassen und die Aufnahmen »direkt ins Internet einspeisen«5 . Sie finanzieren sich durch einen mit einer Kunsthalle abgeschlossenen Vertrag, der es den Geldgebern erlaubt, das Videomaterial zu sichten und Filmausschnitte in einem Ausstellungsraum vorzuführen. Im Rahmen dieser Installation sind die beiden in die Kunsthalle gezogen, in der ihre Einzimmerwohnung nachgebaut wurde. Mehrere Male im Monat empfangen sie dort Ausstellungsbesucher – die Theaterbesucher –, denen sie von sich und ihrem Leben erzählen und denen sie eigene Merchandising-Produkte wie T-Shirts, Videos oder Bettbezüge verkaufen. Die Wohnsituation des Paares erinnert an das genauso erfolgreiche wie umstrittene Fernsehformat Big Brother, das zuerst 1999 in den Niederlanden gezeigt worden ist. In der mittlerweile in fast siebzig Ländern ausgestrahlten Reality-TV3

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Vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 384–395. Falk Richter (Anm. 1), S. 394. Ebd., S. 395.

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Sendung wird eine Gruppe von Menschen über mehrere Monate in einem als Wohnraum eingerichteten Fernsehstudio von Kameras gefilmt. Neben täglichen Zusammenschnitten des Videomaterials im TV können die ›Hausbewohner‹ auf einer Web-Seite im Internet rund um die Uhr beobachtet werden. Während die Produktionsfirma Endemol mit ihrer Fernsehshow auf die Akkumulation ökonomischer Profite zielt, sind die Grenzen zwischen den Subfeldern der eingeschränkten und der Großproduktion in Richters Theatertext fließend. Das manifestiert sich in den anvisierten Zielgruppen der schöpferischen Protagonisten. Mit ihrer Installation richten sie sich an einen überschaubaren, kunstinteressierten Rezipientenkreis, von dem sie sich berufliche Anerkennung – symbolische Gewinne – erhoffen. Im Gegensatz dazu sollen der ›Fanbesuch‹ von Internetusern und das Merchandising der Erwirtschaftung finanzieller Erträge dienen. Die Verquickung von Kunst und Kommerz offenbart sich ferner in der beruflichen Laufbahn der Figuren. So war »SIE« einem breiten Publikum zunächst als VJ – als Ansagerin von Videoclips bei einem Musiksender – bekannt, bevor sie als preisgekrönte Filmregisseurin und bildende Künstlerin gearbeitet hat. In dem Wissen, dass sich erst mit wachsendem Bekanntheitsgrad der »quantitative und qualitative Aspekt des Ansehens«6 ausdifferenzieren, konnte sie sich als prominente Moderatorin mit ihren Artefakten am autonomen Pol des kulturellen Feldes etablieren. Das Gleiche gilt für »IHN«. Seine Tätigkeit als DJ brachte ihm einen »Schreibauftrag«7 ein, bevor er das Angebot der Kunsthalle annahm. Die vorgeführten Karrieremuster resultieren aus dem beruflichen Selbstverständnis der dramatis personae. Während die schöpferischen Genies im Künstlerdrama der letzten Jahrhunderte auf die Verwirklichung ihrer individuellen Interessen zugunsten der Produktion messianischer Artefakte verzichteten, stellen Richters Figuren ihre Kunstwerke in den Dienst einer »Ökonomie der Aufmerksamkeit«.8 Beide verfolgen mit ihren Projekten keine programmatische Wir6

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Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. München, Wien: Carl Hanser 1998, S. 124. Falk Richter (Anm. 1), S. 439. Das Ringen um Aufmerksamkeit ist für Franck ein spezifisches Merkmal der von den Massenmedien dominierten Gesellschaften. Er sieht das heutige Subjekt einer Flut von Informationen ausgesetzt. Durch das Überangebot an Reizen müssen die Subjekte scharf selektieren, um zu entscheiden, welchen sie sich bewusst zuwenden. Vor diesem Hintergrund wird die Aufmerksamkeit, definiert als »Kapazität zu selektiver Informationsverarbeitung« und als »Zustand der Geistesgegenwart«, zur knappen Ressource. Die bezogene Aufmerksamkeit fungiert als »Form des Einkommens«, um das aggressiv geworben wird, weil es in ökonomische Profite konvertiert werden kann. Für Franck ist die »Aufmerksamkeit [. . .] zum wichtigsten Faktor der Geldwert schöpfenden Produktion geworden. Diese Produktion hat [. . .] ein Aktivitätsniveau erreicht, auf dem im Verkauf nichts mehr ohne die Umwerbung der kaufentscheidenden Aufmerksamkeit geht«. Selbst wenn die Akkumulation von ökonomischen Profiten im Zentrum des Interesses steht, »geht es zunächst einmal darum, im Kampf um die Aufmerksamkeit zu bestehen. Es reicht nicht mehr, nur auf das Geld zu achten. Der Königsweg zum Erfolg führt über den Bekanntheitsgrad« (Georg Franck [Anm. 6], S. 30, 21, 64, 67).

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kungsabsicht, sondern wollen primär »berühmt werden«9 . Deshalb streben sie nach medialer Präsenz. Dass die Künstler ihrer medienwirksamen Selbstinszenierung einen größeren Stellenwert einräumen als ihren Werken, resultiert zum einen aus der in den Theatertexten konstatierten Ununterscheidbarkeit von Kunst und ›Nicht-Kunst‹. Da heute jeder Gegenstand als Artefakt ausgestellt werden kann, ist die ästhetische Produktion weniger ein schöpferischer als ein selektiver Vorgang.10 Zum anderen wird der Zwang zur Selbstpräsentation auf die Abhängigkeit des schöpferischen Produzenten von den Weihungsinstanzen des Kunst- und Kulturbetriebs zurückgeführt. Seine Berufsidentität ist davon abhängig, ob er die professionellen Meinungsbildner für sich gewinnen kann, denen unterstellt wird, nicht an der Förderung ›reiner‹ Kunst, sondern ausschließlich an wirtschaftlichen Erträgen interessiert zu sein. So werden die vorgeführten Künstlerfiguren nicht aufgrund ihrer ästhetisch überzeugenden Artefakte, sondern aufgrund ihres gewinnbringenden »Produktprofil[s]«11 protegiert. Da die medienwirksame Selbstinszenierung unabdingbar ist, um sich im Kunst- und Kulturbetrieb einen Namen zu machen, greifen die Figuren zu verschiedenen Durchsetzungsstrategien, die im Folgenden erhellt werden.

2. Die Durchsetzungsstrategien der Künstlerfiguren In dem Wissen, sich als Autor im kulturellen Feld nicht durchsetzen zu können, konfrontiert Silber, ein Schauspieler in Ostermaiers The Making Of., den verkannten Schriftsteller Andree Müller mit folgender Idee: Aus Andree wird Brom, der Söldner. Ich schreib die Texte und du gibst den dichtenden Provokateur. [. . .] Dir wird man die Rolle abnehmen, mir glaubt man nichts, mich kennt man. Es ist ganz einfach, ich konstruiere die Figur und du leihst ihr dein Gesicht. Das ist der Deal.12 9 10

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Falk Richter (Anm. 1), S. 415. Nach Groys besteht der Unterschied zwischen Waren und Kunstwerken nicht im Akt der Produktion, sondern im Akt der Selektion. Bevor Handelswaren in Umlauf gebracht werden, werden in den jeweiligen Betrieben Qualitätskontrollen durchgeführt, in deren Rahmen untaugliche Erzeugnisse aussortiert und die tauglichen Güter zum Verkauf freigegeben werden. Die Selektionskriterien sind »explizit vorformuliert und öffentlich zugänglich. [. . .] Auf keiner Stufe [. . .] übernimmt [. . .] ein konkretes Individuum eine individuelle Verantwortung für den einzelnen Akt der Selektion – für eine konkrete Entscheidung für oder gegen ein bestimmtes Produkt.« Im Gegensatz dazu folgt der Akt der Selektion im Bereich der Kunst keinen klaren Vorgaben. Die Kriterien, nach denen etwa Duchamp entscheidet, ein Urinoir als Kunstwerk auszustellen, oder nach denen Warhol beschließt, Bilder von Campbell’s Soup Cans anzufertigen, bleiben nebulös, weil sie sich »nicht beschreiben, rationalisieren, rekonstruieren und systematisch anwenden lassen«. Anstatt sich nach etablierten Selektionskriterien zu richten, trifft der Künstler autonome, individuelle Entscheidungen. Vgl. Boris Groys (Anm. 2), S. 11, 17. Albert Ostermaier: The Making Of. B.-Movie. In: A. O.: The Making Of. Radio Noir. Stücke. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 13–133, hier S. 53. Ebd., S. 25.

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Mit diesem Plan rekurriert Ostermaier auf einen Literaturskandal der fünfziger Jahre. Im Eugen Diederichs Verlag erschienen 1952 und 1954 zwei Gedichtbände eines angeblich im Dschungel verschollenen Fremdenlegionärs namens George Forestier. Von der Kritik und von Lyrikern wie Gottfried Benn oder Karl Krolow hochgelobt, entpuppten sich die Verse 1955 als Produkte des Herstellungsleiters und Lektors Karl Emerich Krämer. Er hatte die Gedichte verfasst und die für den Erfolg verantwortliche Künstlerbiografie Forestiers kreiert. Im Gegensatz zu Krämer gelingt es Ostermaiers Protagonist Andree, die Weihungsinstanzen zu täuschen und in seiner Rolle als dichtender Legionär zu überzeugen. Als Provokateur, dessen Ziel es ist, »jede Woche in der Zeitung [zu] stehen«13 , kann er die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich lenken. So schlitzt er sich, wie Rainald Goetz 1983 in Klagenfurt, die Stirn auf, um die ›schneidende‹ Metaphorik seiner Verse zu illustrieren oder plant, wie der Aktionskünstler Wolfgang Flatz 1998, in der Tradition der Materialaktionen von Günter Brus, Hermann Nitsch oder Otto Mühl, auf offener Bühne einen toten Schimmel zu häuten.14 Skandalträchtig ist auch das Projekt des arrivierten schöpferischen Produzenten Tiger in Bauersimas und Desvignes Tattoo. Für seine Installation Einen guten Freund haben15 inszeniert er den eigenen Tod. Seine Leiche, die er als Kunstwerk deklariert und die nicht nur wegen seines Namens, sondern auch wegen der seinen Körper schmückenden Tattoos »ein Vermögen wert«16 ist, schenkt er seinen beiden Freunden Lea und Fred. Die erfolglosen Künstler sollen die ›Skulptur‹ in ihrer Wohnung aufbewahren. Durch an dem ›Kunstwerk‹ angebrachte Überwachungskameras will Tiger die Reaktionen seiner Freunde filmen und das produzierte Videomaterial im Rahmen seiner Installation vorführen. Neben dem öffentlichen Skandal besitzt die authentische Wirkung des schöpferischen Produzenten zentralen Stellenwert. So sind die Protagonisten in Gott ist ein DJ bestrebt, trotz der sie filmenden Kameras möglichst unverstellt zu wirken. Beiden ist bewusst, dass ihre Finanziers Videomaterial favorisieren, das sie in scheinbar uninszenierten, alltäglichen Lebenssituationen zeigt. Die Moderatorin konstatiert: Sie Am besten finden die das immer, wenn wir gar nichts machen, wenn wir nur rumliegen Er Wenn wir chillen und n bißchen reden17 13 14

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Ebd., S. 74. R. Goetz’ Auftritt 1983 beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt ist bekannt. Während einer Lesung ritzte sich der Autor vor laufenden Kameras mit einer Rasierklinge die Stirn auf und stand schlagartig im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Vgl. dazu auch den Beitrag von Thomas Wegmann in diesem Band. – Auch der österreichische, in München lebende Wolfgang Flatz (geboren 1952) ist durch seine skandalträchtigen Happenings bekannt geworden. 1998 machte er in München von sich reden, als er im Rahmen eines Brecht-Abends im Marstall einen Schimmel auf offener Bühne häuten wollte. Igor Bauersima/Réjane Desvignes: Tattoo. In: Theater heute 43 (2002) 10, S. 48–59, hier S. 52. Ebd., S. 51. Falk Richter (Anm. 1), S. 411.

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Auch in The Making Of. ist die authentische Wirkung des Künstlers ausschlaggebend für die feldinterne Vergabe symbolischer Gewinne. Andree spielt seine Rolle als dichtender Söldner Brom so glaubwürdig, dass der Starkritiker MüllerSchuppen, dem es an ästhetischer Urteilskraft mangelt und der daher ›Schuppen auf den Augen‹ hat, von einer »geradezu befreienden Authentizität« spricht, die seine Gedichte im Gegensatz zu der vorherrschenden »antiseptischen Kopflyrik« auszeichnen würden, und der Talkmaster Gil Mattis rühmt die ›atemberaubende‹ »Einheit von Werk und Person«.18 Neben einem provokativen Habitus und der authentischen Wirkung ist, so Tiger in Tattoo, »nicht der Inhalt« des Kunstwerks, »sondern der persönliche Style«, die »Wiedererkennbarkeit«19 des schöpferischen Produzenten, die dritte zentrale Voraussetzung für eine Teilhabe im kulturellen Feld. Ein origineller Imageentwurf ist auch in Gott ist ein DJ unabdingbar. So rät die ehemalige Fernsehmoderatorin ihren Zuschauern, »sich bei den echten Stars ab[zu]gucken, wie das geht: Kult sein, sich gut verkaufen«.20 Aufgrund ihres Status als Kultobjekt konnte »SIE« sich auf dem Höhepunkt ihrer Karriere erfolgreich vermarkten. Laut ihren Narrationen konnten ihre Fans etwa auf ihr ›Produktprofil‹ zugeschnittene Tamagotchis und Gameboyspiele, »T-shirts [. . .] mit ihrem Gesicht drauf« oder Uhren mit ihrem »Gesicht als Leuchtschrift«21 erwerben. Bauersima, Desvignes, Ostermaier und Richter führen vor, dass nicht das ästhetische Produkt, sondern ein originelles, skandalträchtiges und authentisches Image notwendig ist, um sich als Künstler einen Namen zu machen. Allerdings negieren sie die Möglichkeit, sich souverän im kulturellen Feld zu behaupten, wie im Folgenden konkretisiert wird.

3. ›Naiv‹ statt ›gerissen‹ – die Erfolgschancen der Künstlerfiguren In den Regeln der Kunst vertritt Bourdieu die These, dass ein Künstler, der ein »Werk schafft, selbst innerhalb des Feldes erschaffen«22 wird. Den Konstruktionsund Kanonisierungsprozess erläutert er am Beispiel von Henri Rousseau (1844– 1910) und Marcel Duchamp (1887–1968). Im Gegensatz zu dem Maler Rousseau – den er als ›peintre naïf‹ kategorisiert – definiert er Duchamp als ›gerissenen‹ Künstler – als ›artiste roué‹, weil er eine detaillierte Kenntnis der spezifischen Historie des kulturellen Feldes besessen habe. Sich »im Feld der Kunst wie ein Fisch im Wasser«23 bewegend, habe er beständig mit den vorherrschenden ästhetischen Konventionen gebrochen und »mit zwanzig Jahren [. . .] schon sämtliche Stile ausprobiert«24 . Im Unterschied zu Rousseau, der als Künstler vom kulturellen Feld 18 19 20 21 22 23 24

Albert Ostermaier (Anm. 11), S. 51, 49. Igor Bauersima/Réjane Desvignes (Anm. 15), S. 51. Falk Richter (Anm. 1), S. 405. Ebd., S. 404. Pierre Bourdieu (Anm. 3), S. 271. Ebd., S. 391. Ebd.

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»buchstäblich geschaffen«25 worden sei, weil seine ›naiven‹ Werke auf das Interesse der Mitproduzenten und Weihungsinstanzen gestoßen seien, habe Duchamp die Kunst beherrscht, sich selbst als Künstler zu kreieren, so dass seine Readymades als Artefakte rezipiert worden seien. Bauersima, Desvignes, Ostermaier und Richter setzen sich in ihren Theatertexten mit eben diesem Typus des ›gerissenen‹ Künstlers auseinander. Wie Duchamp behaupten die vorgeführten schöpferischen Protagonisten, Virtuosen in der Kunst zu sein, »mit allen vom Spiel angebotenen Möglichkeiten zu spielen«26 . Um sich als Künstler zu etablieren, unterwerfen sie sich den Zwängen des Kunst- und Kulturbetriebs und bedienen bewusst die ästhetischen Vorlieben der Sakralisierungsinstanzen und der Rezipienten. Allerdings entpuppen sich die Figuren im Handlungsverlauf als ›naiv‹. Ihr Glaube, selbstbestimmt im kulturellen Feld agieren zu können, erweist sich als Illusion. So verliert Tiger in Tattoo die Kontrolle über seine geplante Installation. Wider Erwarten entscheiden sich Fred und Lea – das beschenkte, sich unbestechlich gerierende Paar – dafür, Tigers Körper für 400 000 Dollar in die USA zu verkaufen. Ähnlich wie Gunther von Hagens, der seit 1996 plastinierte Leichname in seiner viel besuchten Ausstellung Körperwelten zeigt und mit seinen ›Kunstwerken‹ horrende Summen verdient, haben auch Fred und Lea keine religiösen oder ethischen Bedenken, aus der vermeintlichen Leiche ihres Freundes Kapital zu schlagen. Als Tiger die drei Freunde zur Rede stellt, bangen Fred und Lea um ihren Erlös, während Tigers Galeristin Naomi, die den Handel abgewickelt hat, um ihr Renommee als Galeristin fürchtet. Auch Tigers Handlanger Alex, gerade als ›vielversprechender Nachwuchskünstler‹ bei Naomi unter Vertrag genommen, sieht die eigene Karriere gefährdet. Im Affekt erschlägt er den Künstler mit einer Skulptur, und Lea, Fred und Naomi unterlassen bewusst jede Hilfeleistung. Wie Tiger sind auch die Protagonisten in Gott ist ein DJ nicht in der Lage, souverän zu handeln. Die Künstler präsentieren sich und ihr Alltagsleben medienwirksam für die sie überwachenden Kameras. Dabei kreieren sie sich verschiedene synthetische, aber immer authentisch wirkende Images. Um autonom zu bleiben, identifizieren sie sich nicht mit den von ihnen entworfenen Identitätskonstruktionen, sondern betrachten sich (selbst)objektivierend als Künstler, die sich als lebendige Artefakte in Szene setzen. Auf diese Weise werden Realität und Fiktion ununterscheidbar, und das Paar verliert die Orientierung. Als die Moderatorin ihrem Partner erzählt, schwanger zu sein, kann dieser nicht adäquat reagieren. Ihm bleibt unklar, ob es sich um eine private Mitteilung oder um eine Performance für die Kamera handelt. Die Figuren erweisen sich als unfähig, miteinander zu kommunizieren. Auch Ostermaier lässt seinen ›gerissenen‹ Künstler Silber scheitern. Als der Schauspieler und Schriftsteller auf einer Premierenfeier öffentlich bekanntgeben 25 26

Ebd., S. 390. Pierre Bourdieu: Das literarische Feld. In: Louis Pinto/Franz Schultheis (Hg.): Streifzüge durch das literarische Feld. Konstanz: Universitäts-Verlag Konstanz 1997, S. 33–147, hier S. 100.

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will, dass es sich bei dem dichtenden Söldner Brom um ein von ihm kreiertes ›Kunstwerk‹ handelt, wird er von den anwesenden Gästen ignoriert und von der Mäzenatin beiseite genommen, die konstatiert: »Selbst wenn es wahr wäre [. . .], ich lasse mir mein Geschäft und meinen Ruf von Ihnen nicht ruinieren. Wir brauchen einen wie Brom. Ob er echt ist oder nicht. Er verkauft sich.«27 Neben dem Premierenpublikum weigert sich auch Silbers ›Artefakt‹, der gefeierte Dichter Brom, von seinem Freund als »Fälschung«28 entlarvt zu werden. In seiner Rolle als dichtende »Kampfmaschine«29 ersticht er seinen Freund unter dem Beifall der Partygäste, die den Mord für inszeniert halten.

4. Die Rezeption der Künstlerdramen Die drei genannten Bühnenstücke werden von der Kritik überwiegend positiv rezensiert. Die jungen Autoren gelten zum Zeitpunkt der jeweiligen Uraufführung bereits als vielversprechende Nachwuchsdramatiker. So schafft Bauersima (geb. 1964) 2000 mit norway.today »den Sprung [. . .] aus der Freien Szene ins Stadttheater«.30 Richter (geb. 1969) inszeniert 1996 seinen Theatertext Kult in Düsseldorf, bevor Gott ist ein DJ 1999 in Mainz uraufgeführt wird. Im Unterschied dazu publiziert Ostermaier (geb. 1967) zwei Lyrikbände bei Suhrkamp und erhält 1997 den Ernst-Toller-Preis, ehe sein Künstlerdrama 1998 auf die Bühne des Bayerischen Staatsschauspiels gebracht wird. Trotz der identischen Thematik und trotz ihres ähnlich hohen Renommees positionieren sich die Theaterautoren auf unterschiedliche Weise im kulturellen Feld. Daran hat die Konzeption ihrer Bühnenstücke großen Anteil. Bei The Making Of. handelt es sich um ein Auftragswerk für das Münchner Residenztheater anlässlich des hundertsten Geburtstags von Bertolt Brecht. Für das Jubiläum schreibt Ostermaier kein »Historien- oder Dokumentardrama« sondern ein »Gegenwartsstück«,31 das stark auf Brechts Baal rekurriert. Ähnlich wie Brechts Titelfigur ist Brom als asozialer Provokateur konzipiert, der sich von seinem sozialen Umfeld nicht instrumentalisieren lässt, sondern als »kämpfende[r] Dichter [. . .] das System«32 des Kulturbetriebs entlarvt. Wie Brecht betitelt Ostermaier seine Szenen mit »Soirée« oder »Dachkammer« und legt seinen dramatis

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Albert Ostermaier (Anm. 11), S. 129. Ebd., S. 128. Ebd., S. 28. Barbara Burckhardt: Fake ist total real. Der Schweizer Autor und Regisseur Igor Bauersima spielt mit Selbstmordgedanken: »norway. today«, uraufgeführt in Düsseldorf. In: Theater heute 42 (2001) 1, S. 44–47, hier S. 47. Sabine Dultz: Kein Historien- oder Dokumentardrama. Schreibt fürs Residenztheater ein Stück zu Brechts Hundertstem: Interview mit dem Münchner Autor Albert Ostermaier. In: Münchner Merkur vom 4. 1. 1996. Albert Ostermaier (Anm. 11), S. 41.

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personae Sätze aus Baal in den Mund.33 Die Kritik hat in dem »zitatenreiche[n]«34 Text außerdem intertextuelle Verweise auf Goethes Faust35 , Brechts Arturo Ui36 und Im Dickicht der Städte37 , Ernst Jüngers Kriegstagebuch Strahlungen, Wolfgang Bauers Change oder die Dramen von Luigi Pirandello38 festgestellt. Neben dem Rekurs auf Goetz, den Aktionskünstler Flatz und den dichtenden Legionär Forestier haben die Rezensenten ferner Parallelen zu den medienwirksamen Selbstinszenierungen von Rainer Werner Fassbinder39 oder Werner Schwab40 gezogen. Ostermaiers Stück zeichnet sich außerdem durch einen expressionistischen, hoch artifiziellen Stil aus. So hebt C. Bernd Sucher in seiner Rezension der Uraufführung den »eigenen Duktus« von Ostermaiers Sprache hervor, die »selbst die platteste Attacke [auf den Kulturbetrieb, N. B.] vor der Plattheit«41 rette, und auch Peter Michalzik lobt die »Poesie«42 der Sprache. Mit The Making Of. positioniert sich Ostermaier dezidiert im Unterfeld der eingeschränkten Produktion. Er richtet sich an ein gebildetes, kunst- und kulturinteressiertes Publikum, das fähig ist, die zahlreichen Anspielungen auf andere Texte und Autoren zu verstehen und die Artifizialität seiner lyrischen Sprache zu goutieren. Von der Kritik wird Ostermaier als Bühnenautor charakterisiert, der sich noch »gnadenlos mit dem alten, emphatischen Dichterbegriff«43 identifiziert und sich den »verhängnisvollen« Strukturen des Kulturbetriebs »auf eine anachronistische 33

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So fragt Johannes in Baal die Titelfigur: »Wissen Sie was von Astronomie?«, während Johannes in The Making Of. konstatiert: »Was weißt du schon von Astronomie?« Vgl. Bertolt Brecht: Baal [1922]. In: B. B.: Werke. Große kommentierte Frankfurter und Berliner Ausgabe. Hg. von Werner Hecht/Jan Knopf/Werner Mittenzwei/Klaus-Detlef Müller. Berlin, Frankfurt am Main, Weimar 1988ff., Bd. 1: Stücke 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 83–137, hier S. 89, mit Albert Ostermaier (Anm. 11), S. 82. Baal und Brom verlangen außerdem nach weißen Hemden; vgl. Baal, S. 87, mit The Making Of., S. 53. C. Bernd Sucher: Ab morgen bist du eine Kampfmaschine! Wilfried Minks inszeniert die Uraufführung von Albert Ostermaiers »The Making Of. B.-Movie« im Münchner Cuvilliéstheater In: Süddeutsche Zeitung vom 1. 6. 1999. Ebd. Peter Michalzik: Ein B-Movie als A-Play. Albert Ostermaiers »The Making Of.«, uraufgeführt von Wilfried Minks am Münchner Cuvilliéstheater. In: Frankfurter Rundschau vom 1. 6. 1999. Christopher Schmidt: Reden ist Silber, doch Schweigen wäre Gold gewesen. Albert Ostermaiers »The Making Of. B.-Movie«. Uraufführung im Münchner Cuvilliés-Theater. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. 6. 1999. Thomas Thieringer: Dichter sind Schweine. Volker Hesse inszeniert in Köln Albert Ostermaiers »B-Movie« als Kulturperversitäten-Show. In: Süddeutsche Zeitung vom 1. 12. 1999. Andreas Müry: Ostermaier, Baal, Brecht: »The Making Of. B.-Movie« – Der Münchner Theaterautor und seine böse Satire auf die Kulturschickeria. In: Focus Nr. 22 (1999), S. 152–153, hier S. 153. Barbara Welter: Rebellen, die bellen, beißen nicht. Ostermaiers »The Making Of. B.-Movie«. In: die tageszeitung vom 1. 6. 1999. C. Bernd Sucher (Anm. 34). Peter Michalzik (Anm. 36). Ebd.

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Weise«44 entzieht, so dass Barabara Welter ironisch konstatiert: »Er selbst hält sich novizisch rein; auch wenn er die Medienrituale (zu Lehrzwecken) mitmacht«.45 Auch Bauersima wendet sich an ein kulturell bewandertes Publikum. Er rekurriert auf den von Jean-Luc Godard verfilmten Roman Le Mépris von Alberto Moravia.46 Im Gegensatz zu Ostermaier, der diejenigen Teilhaber im Feld der Kulturproduktion kritisiert, die ihn selbst »emporgehätschelt«47 haben, verzichtet Bauersima auf Kollegenschelte. Er fordert in seinem abstrakten Spiel mit Sein und Schein die moralische Integrität des Künstlers und wird dadurch, ähnlich wie Ostermaier, zum Verfechter der seit dem 18. Jahrhundert tradierten Vorstellung vom Dichter als individualisierter Leitfigur stilisiert. So schreibt das Kölner Stadtmagazin StadtRevue 2003 über den »Regiestar«: Was für ihn zählt, ist der Inhalt. All diese Thesen von Bedeutungen, die immer flott unter den Zeichen wegrutschen, von Medien, die selbst die Message sind, oder von der Vorherrschaft der Simulation – damit kann Bauersima wenig anfangen. Nein, er glaubt, dass Worte Sinn tragen und dass man den an der Wirklichkeit überprüfen kann. Er spricht von Wahrheit, ohne seine Stimme ins Ironische gleiten zu lassen. [. . .] Bevor er was Falsches sagt, sagt er im Zweifelsfall gar nichts.48

Gott ist ein DJ wird in den Feuilletons hingegen als »Gebrauchsdramatik«49 bezeichnet, der Autor selbst wird als Popliterat zwischen Kunst und Kommerz verortet. Im Unterschied zu Bauersima und Ostermaier richtet er sich nicht an ein kunstinteressiertes Abonnementpublikum, sondern primär an junge Theatergänger. Er verweist nicht auf Godard oder Brecht, sondern lässt seine Figuren über 44 45 46

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C. Bernd Sucher (Anm. 34). Barbara Welter (Anm. 40). »Hier wie dort geht es um einen klassischen Konflikt: zwischen Lüge und Wahrheit. Geld, das sich die Gefühle kauft; Gefühle, die das Geld zerstört; und die Ohnmacht der Kunst gegenüber der fatal falschen Koalition von Geld und Gefühl. Lea und Fred sind ein Paar wie Camille (Brigitte Bardot) und Paul (Michel Piccoli) bei Godard, umspült von Georges Delerues Soundtrack-Wellen, die anschwellen, melodramatisch aufschäumen, zurückweichen, gesteigert wiederkehren und gleichgültig verlaufen. Diese Filmmusik legt Lea, die eine Internet-Sendung moderiert, einmal auf. [. . .] Am Schluss [. . .] tarnt [Bauersima, N. B.] das Bühnendrama als künstlerisches Fantasieprodukt, als literarische Erfindung. Und lässt das Spiel von Sein und Schein – gleich den Schatten in Platons Höhle oder denen auf Videoscreen und Kinoleinwand – in einer letzten Schraubbewegung in die Figuration von ›Le Mépris‹ eindringen. Lea und Fred werden nach Capri – Schauplatz der Odyssee-Dreharbeiten in Godards Filmgeschichte – reisen, wo er seinem Freund Paul (!) bei einem Drehbuch helfen soll« (Andreas Wilink: Die Haut zu Markte getragen. Igor Bauersimas und Réjane Desvignes’ »Tattoo« in Düsseldorf uraufgeführt. In: Süddeutsche Zeitung vom 3. 6. 2002). Hans Krieger: Falscher Baal in der Talkshow. Der Schwindel des Kulturbetriebs: Albert Ostermaiers Stück »The Making Of. B.-Movie« in München. In: Nürnberger Nachrichten vom 1. 6. 1999. Morten Kansteiner: Bekenne dich zur Wirklichkeit. Regiestar Igor Bauersima. In: StadtRevue. Köln Magazin 12 (2003), o. S. (http://www.stadtrevue.de/index_archiv.php3?tid= 514&sstring=Bauersima&ausg=12/03, 17. 8. 2007). Christine Dössel: Kühl, kühler, abkühlen. Küken pieksen. Falk Richters Stück »Gott ist ein DJ« in Mainz. In: Süddeutsche Zeitung vom 22. 3. 1999.

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den ›Kultregisseur‹ Quentin Tarantino oder die populären Sängerinnen Björk und Madonna sinnieren. Während Ostermaier seinen Figuren eine hoch artifizielle lyrische Sprache in den Mund legt, drücken sich Richters Protagonisten umgangssprachlich aus. Da seine Künstlerfiguren weniger an der Produktion von Artefakten, sondern an dem ›richtigen‹ Lifestyle interessiert sind, sind für sie die Themen Musik und Imagebildung zentral. Richters Künstlerdrama ist nicht weniger erfolgreich als Tattoo oder The Making Of. In über zehn Sprachen übersetzt wird Gott ist ein DJ weltweit rezipiert und inszeniert, die Uraufführung wird in den Feuilletons positiv besprochen. Das Stück wird aber, etwa von der Süddeutschen Zeitung, weniger als vehemente Kritik an den Strukturen des Kunst- und Kulturbetriebs, sondern als »Collage« verstanden, »die ein bißchen Teeniekomödie, ein bißchen Medienparodie und zu großen Teilen einfach eine Art Chill-out-Performance«50 ist. Während Richter von seinem Ruf als Popautor und -regisseur profitieren kann,51 um sich im kulturellen Feld der neunziger Jahre zu etablieren, distanziert er sich um die Jahrtausendwende von seinem Image. In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von 2001 verabschiedet er sich ›vom Planeten Pop‹ und konstatiert: Ich schaue [. . .] nicht mehr so viel MTV wie früher, andere Dinge werden wichtiger, Politik, Krieg, Wirtschaftszusammenhänge, aber auch ganz essentielle menschliche Dinge, zum Beispiel eine Beziehung so mythisch und archetypisch zu beschreiben, wie Fosse das macht. [. . .] Im Moment interessiert mich klassische Musik viel stärker als ClubMusik, Mauricio Kagel zum Beispiel. Ich gehe noch ab und zu aus, aber ich habe nicht mehr soviel Zeit, ich arbeite zuviel.52

5. Resümee In ihren Dramen reflektieren Bauersima, Desvignes, Ostermaier und Richter über die spezifischen Konflikte von schöpferischen Produzenten im ausgehenden 20. Jahrhundert. Im Gegensatz zum ›klassischen‹ Künstlerdrama, in dem sich die 50 51

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Ebd. Im Interview bekennt Richter, dass er sich aufgrund seines Images als Popregisseur im kulturellen Feld seiner Zeit durchsetzen konnte: »Poptheater war [. . .] eine politische Strategie, tatsächlich ging es darum, Inhalte in inhaltsarme Orte wie das Theater zu befördern. Es war auch schlichtweg eine Marketingstrategie meiner Generation, um bestimmte Positionen zu besetzen: Man musste es auf sich nehmen, sich auf Pop reduzieren zu lassen, damit man überhaupt in den Medien auftauchen durfte, denn für jemanden, der oder die unter dreissig war, gab es nur das Attribut Popregisseur oder Popautor, oder er durfte gar nicht erst erwähnt werden.« (Schorsch Kamerun/Stephan Ramming/ Falk Richter: Theater ist der Ort des freien Gedankens. Die Theatermacher Falk Richter und Schorsch Kamerun über Poptheater, politische Strategien, Subkultur, Elternhäuser und die Gründe, warum sich Zürich mit seinem Schauspielhaus so schwer tut. In: WochenZeitung-Online vom 13. 12. 2001 [http://www.woz.ch/archiv/old/01/50/7372.html, 24. 6. 2005].) Peter Laudenbach: Abschied vom Planeten Pop. Vor der heutigen Premiere an der Schaubühne: Für Falk Richter spielt der Generationskonflikt am Theater keine Rolle mehr. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. 4. 2001.

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schöpferischen Genies dezidiert im Subfeld der eingeschränkten Produktion positionieren und finanzielle Interessen negieren, sind die Grenzen zwischen Kunst und Kommerz in den analysierten Theatertexten fließend. Die ›gerissenen‹ Künstler streben vorrangig nach ökonomischen Gewinnen und kämpfen um massenmediale Beachtung. Um die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, verleihen sie sich das Image individualistischer Provokateure. Damit orientieren sie sich an dem seit dem 18. Jahrhundert tradierten Bild des verkannten Genies, das den modernen Künstlerhabitus entscheidend geprägt hat.53 Die Bühnenautoren führen vor, dass die Vorstellung vom genialischen Künstler obsolet geworden ist, die Pose des skandalträchtigen Exzentrikers aber unabdingbar bleibt, um sich als Künstler einen Namen zu machen. Im Gegensatz zu den verkannten Genies sind die zeitgenössischen schöpferischen Protagonisten nicht an der Sakralisierung ihrer Werke interessiert. Während die genialischen Künstlerfiguren ihren Artefakten eine messianische Wirkung zugewiesen und auf die Realisierung ihrer individuellen materiellen Interessen zugunsten ihres opus operatum verzichtet haben, hat in heutigen Dramen der modus operandi54 – die erfolgreiche Künstlerkarriere – zentralen Stellenwert. Die schöpferischen Protagonisten gerieren sich als ›gerissene‹ Künstler und sind davon überzeugt, die spezifischen Strukturen des Kunst- und Kulturbetriebs in den Dienst der eigenen Interessen stellen zu können. Wie im antiken Drama scheitern sie jedoch an ihrer Hybris. Während die Tragödienhelden die Befehle und Gesetze der Götter missachten, was unvermeidlich zu ihrem Fall führt, ignorieren die ›durchtriebenen‹ Protagonisten die ›Regeln der Kunst‹ und müssen im Handlungsverlauf realisieren, nicht souverän agieren zu können. Im Unterschied zu ihren Figuren gelingt es den Bühnenautoren, sich mit ihren Theatertexten im kulturellen Feld geschickt zu positionieren. So wird Richter als Popliterat klassifiziert und hat so Anteil an dem Ende der neunziger Jahre bereits rückläufigen Hype um die deutschsprachige Popliteratur. Währenddessen richten sich Ostermaier, Bauersima und Desvignes an ein gebildetes Publikum und verfechten einen emphatischen Autorbegriff. Die Dramatiker sind fähig, die professionellen Meinungsbildner von sich zu überzeugen und ihnen in Bezug auf ihre Stücke zu suggerieren: »Das ist Kunst, Mann!« 53

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Der avantgardistische Künstler gebärdet sich in der Moderne als sozialer Außenseiter, der, legitimiert durch seine privilegierte Weltwahrnehmung, gegen die vorherrschenden Denk- und Lebensweisen opponiert. Der Bruch mit den dominierenden Wertvorstellungen und Verhaltenskonventionen korreliert mit symbolischen Formen zur Kennzeichnung der eigenen Berufsidentität und zur betonten Abgrenzung von der ›bürgerlichen‹ Welt. Das äußere Erscheinungsbild, die Einrichtung von Wohnung und Arbeitsstätte sowie die öffentliche Präsentation, Provokation und Separation in Lokalen und Cafés dienen der Distinktion und als Mittel zur Stilisierung der eigenen Individualität. Vgl. Wolfgang Ruppert: Der moderne Künstler. Zur Sozial- und Kulturgeschichte der kreativen Individualität in der kulturellen Moderne im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, bes. S. 225–304. Die Begriffe opus operatum und modus operandi werden hier nicht im Sinne von Bourdieus Habituskonzept gebraucht, sondern bezeichnen das ›getane Werk‹ bzw. die ›Art und Weise des Handelns‹.

Wilhelm Haefs (München)

»Deutschlands literarischer Superstar«? Daniel Kehlmann und sein Erfolgsroman Die Vermessung der Welt im literarischen Feld

1. Einführung: Eine unendliche Erfolgsgeschichte Keine Frage, er ist der Aufsteiger, der Shootingstar des deutschen Literaturbetriebs am Beginn des 21. Jahrhunderts: Kein populäres Medium – ob die Frauenzeitschrift Brigitte oder Mobil, das Magazin der Deutschen Bahn, ob Spiegel, Fernsehmagazine oder net-blogs – das ihn nicht porträtiert, in Homestorys vorgestellt1 und/oder sein Erfolgsbuch ausführlich beschrieben hätte. Daniel Kehlmann, Jahrgang 1975, der bis vor wenigen Jahren nur einem überschaubaren Lesepublikum ein Begriff gewesen ist, ist seit September 2005, seit dem Erscheinen seines Romans Die Vermessung der Welt, ein Erfolgsschriftsteller. Innerhalb weniger Monate stieg er zum ›Jungstar‹ der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur auf, die Zeitschrift Focus bezeichnete ihn als Deutschlands neuen »literarischen Superstar«2 ; dieses verräterische Attribut verrät die ›Sehnsucht‹ der literarischen Öffentlichkeit nach einem medien- und publikumswirksamen, vorzeigbaren neuen deutschsprachigen und jungen Autor. Schon bald nach Erscheinen war Die Vermessung der Welt in den deutschen Bestsellerlisten für Belletristik ganz nach vorne gerückt, eineinhalb Jahre hielt sich das Buch an der Spitze, mehr als zwei Jahre in den top twenty, und auch international hatte das Buch großen Erfolg, wie etwa die New York Times für das Jahr 2006 ausweist.3 Nicht einmal Günter Grass’ autobiografisches Buch Beim Häuten der Zwiebel, im August 2006 nach dem Bekanntwerden der Zugehörigkeit des Autors zur Waffen-SS (ab November 1944) mit einem beispiellosen, durch die Frankfurter Allgemeine Zeitung ausgelösten Medienhype veröffentlicht, konnte Kehlmann zwischenzeitlich gefährlich werden. Bis Januar 2007, innerhalb von 16 Monaten, erschienen von Kehlmanns Roman 36 Auflagen, waren 915 000 Exemplare ge1

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Homestory, Kurzbiografie und feuilletonistischer Werkstattbericht (über den im Erscheinen begriffenen Roman Die Vermessung der Welt) in einem ist Volker Weidermann: Der Weltvermesser. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 18. 9. 2005; etwas verändert in V. W.: Lichtjahre. Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2006, S. 272–275 (im Kapitel »Die Erzähler«). Kerstin Holzer: Des Zauberlehrlings Meisterprüfung. Ziemlich clever und unverschämt erfolgreich: Daniel Kehlmann ist Deutschlands literarischer Superstar. In: Focus vom 6. 3. 2006 (http://www.focus.de/politik/deutschland/bestseller-des-zauberlehrlings-meis terpruefung_aid_216297.html, 19. 11. 2008). Vgl. das Interview von Andreas Austilat und Verena Mayer mit Daniel Kehlmann: Ich mache mich jetzt sicher unbeliebt. In: Tagesspiegel vom 1. 6. 2008 (http://www. tagesspiegel.de/zeitung/Sonntag;art2566,2541308, 19. 11. 2008).

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druckt, die Höhe der jeweiligen Nachauflagen betrug zumeist 25–40 000 Exemplare; im Mai 2007 durchbrach der Roman dann die Schallmauer von einer Million gedruckten Exemplaren.4 Zwei Jahre nach Erscheinen kamen Buchgemeinschaftsausgaben heraus, wenig später waren bereits mehr als zwei Dutzend Übersetzungsverträge abgeschlossen worden. Längst steht der Roman in den Lehrplänen der Schulen, für die ›Interpretationshilfen‹ und Kommentare verfasst wurden; und auch die ersten literaturwissenschaftlichen Sammelbände ließen nicht lange auf sich warten.5 Damit übertrifft der Roman, begünstigt durch spezifische Multiplikatoreneffekte des digitalen Zeitalters, sogar den Erfolg von Patrick Süskinds Das Parfüm von 1985 – das erfolgreichste Buch der deutschsprachigen Literatur im 20. Jahrhundert –, und er lässt die drei anderen großen Erfolge der jüngeren deutschen Literatur, Sten Nadolnys Die Entdeckung der Langsamkeit von 1983, Robert Schneiders Schlafes Bruder von 1992 und wohl auch Bernhard Schlinks Der Vorleser von 1995, hinter sich. Um die historischen Dimensionen zu verdeutlichen, müsste man bis zu Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues von 1928 zurückgehen, größter Erfolg eines literarischen Neulings in deutscher Sprache.6 Auf den ersten Blick mutet der Vorgang angesichts des anspruchsvollen und anspruchsvoll erzählten Themas erstaunlich an: Schien doch der Autor den gängigen Erwartungen an Selbstinszenierungsgesten nicht zu entsprechen, den Konventionen und Ritualen einer vergnügungssüchtigen, auf ›Eventkultur‹7 fixierten Gesellschaft nicht zu folgen. Kehlmann war weder mit einem Skandal bzw. mit skandalisierenden Auftritten an die Öffentlichkeit gegangen wie einst Rainald Goetz in Klagenfurt, Werner Schwab mit seinen Fäkaliendramen8 oder Charlotte Roche mit Feuchtgebiete (2008), einem literarischen Erfolg, der den Kehlmanns innerhalb eines halben Jahres übertroffen hat, noch gehörte er zu jener Gruppe von jungen und jüngeren Autoren, die, wie Benjamin von Stuckrad-Barre und Christian Kracht, vor der Jahrtausendwende jede Neuerscheinung als medialen 4

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Vgl. etwa den Hinweis bei Hannes Stein: Die Vermessung des Daniel Kehlmann. In: Welt Online vom 9. 7. 2007 (http://www.welt.de/welt_print/article1345631/Die_Vermessung_ des_Daniel_Kehlmann.html, 19. 11. 2008). Vgl. Claudia Müller-Völkl/Michael Völkl: Daniel Kehlmann. Die Vermessung der Welt. Unterrichtsmodell. Paderborn: Schöningh 2007; Wolfgang Pütz: Daniel Kehlmann. Die Vermessung der Welt. (Oldenburg Interpretationen 110) München: Oldenbourg Schulbuchverlag 2008; Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Daniel Kehlmann. (Text + Kritik 177) München: Edition Text + Kritik 2008; Gunther Nickel: Daniel Kehlmanns »Die Vermessung der Welt«. Materialien, Dokumente, Interpretationen. Reinbek: Rowohlt 2008. Eine genauere Beschreibung des anfänglichen Erfolgsverlaufs kann ich mir hier ersparen und verweise auf den pointierten Artikel von Dirk Knipphals in der tageszeitung (taz) vom 16. 12. 2006, in dem die Erfolgskurve in Anlehnung an ein Formel 1-Rennen beschrieben wird (http://www.taz.de/pt/2006/12/30/a0196.1/text, 19. 11 2008). Vgl. dazu in soziologischer Perspektive Gerhard Schulze: Kulissen des Glücks. Streifzüge durch die Eventkultur. Frankfurt am Main, New York: Campus 1999. Vgl. zum Phänomen des Literaturskandals den handbuchartigen Sammelband von Stefan Neuhaus/Johann Holzner (Hg.): Skandal in der Literatur. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007.

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Event für ein überwiegend jüngeres Publikum inszenierten.9 Kehlmann war, vor Erscheinen seines Erfolgsromans, noch kein Literatur- und Medienstar; er war, mit seinen fünf publizierten literarischen Büchern, einer kleineren, an Gegenwartsliteratur interessierten Leserschaft bekannt, freilich schon im Feuilleton der deutschen Tageszeitungen etabliert. Er verfügte auch über ausreichendes symbolisches Kapital: Die Mainzer Poetikdozentur hatte er schon 2001 bekleidet, und er hatte Preise und Literaturstipendien erhalten (u. a. Förderpreis des Kulturkreises beim Bundesverband der Deutschen Industrie 1998, Stipendium des Literarischen Colloquiums in Berlin 2000). Wenige Monate vor Erscheinen von Die Vermessung der Welt wurde ihm der – allerdings wenig bekannte – Candide-Preis der Stadt Minden verliehen; der Jury lag dabei, wie es auf der Homepage der Preisverleiher heißt, der Roman im Manuskript vor, was den Ausschlag gegeben haben dürfte.10 Auch das Beispiel Daniel Kehlmanns zeigt, dass man es im literarischen Feld nicht mit regulierten, rationalen Nachfrage- und Angebotsverhältnissen zu tun hat. Der Erfolg ist nicht allein der kontinuierlichen Akkumulation symbolischen und kulturellen Kapitals geschuldet; vielmehr können die Entwicklungen asymmetrisch sein, wie nicht erst dieser überraschende Massenerfolg, sondern, um nur einige Beispiele zu nennen, bereits Michael Endes Die unendliche Geschichte von 1979, Süskinds Das Parfüm oder auch Joanne K. Rowlings Harry Potter gezeigt haben. – Wo lässt sich ansetzen, um den Erfolg des Romans zu erklären?11 Auf welche Weise, etwa mit einer Verknüpfung der Feldtheorie Bourdieus mit textinterner und textexterner Analyse,12 lassen sich Antworten finden auf die Frage, wel9

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Vgl. zu ›Autorinszenierungen‹ den gleichnamigen Sammelband: Christine Künzel/Jörg Schönert (Hg.): Autorinszenierungen. Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007. Vgl. http://www.literarischer-verein-minden.de/candide.htm (19. 11. 2008); hier ist auch schon die Rede vom »Shooting Star«. Wenig ergiebig zu dieser Fragestellung ist meines Erachtens Heinz-Peter Preußer: Zur Typologie der Zivilisationskritik. Was aus Daniel Kehlmanns Roman »Die Vermessung der Welt« einen Bestseller werden ließ. In: Heinz Ludwig Arnold (Anm. 5), S. 73–85. Einige interessante Hinweise finden sich dagegen bei Marius Meller: Die Krawatte im Geiste. In: Gunther Nickel (Anm. 5), S. 127–135 (zuerst im März 2007 im Merkur, S. 248– 252); Meller deutet den Erfolg als »Symptom der Selbstorganisation und Selbstformierung einer neuen bürgerlichen Schicht« (S. 134). Vgl. vor allem Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999 (franz. 1992). Zu Bourdieu und zur Feldtheorie vgl. insbesondere Joseph Jurt: Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995; Markus Schwingel: Pierre Bourdieu zur Einführung. 5., verbess. Aufl. Hamburg: Junius 2005; Christine Magerski: Die Konstituierung des literarischen Feldes in Deutschland nach 1871. Berliner Moderne, Literaturkritik und die Anfänge der Literatursoziologie. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 101) Tübingen: Niemeyer 2004; Markus Joch/Norbert Christian Wolf (Hg.): Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 108) Tübingen: Niemeyer 2005, insbesondere die Einleitung der beiden Herausgeber: Feldtheorie als Provokation der Literaturwissenschaft, S. 1–24. Vgl. ferner Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. München, Wien: Carl Hanser 1998.

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che Parameter die außergewöhnliche Rezeption des Romans, den unerwarteten Massenerfolg von Die Vermessung der Welt ausmachen? Wichtige textinterne Parameter könnten sein: Die Gattungen historischer und biografischer Roman, der Verzicht auf den Anspruch auf den ›Gesellschaftsroman‹ (ein Genre, das Kehlmann suspekt ist) und auf unmittelbare ›Gegenwart‹ und ›Aktualität‹, die Ethnologie und Anthropologie, fokussiert auf die Figur Alexander von Humboldts, die Mathematik, Astronomie und Geometrie, personifiziert durch Carl Friedrich Gauß, die als literaturfähige, spannend vermittelbare Disziplinen erscheinen. Die Verbindung des naturwissenschaftlichen und mathematischen mit dem kulturwissenschaftlichen Diskurs, der Philosophie und Literatur, ja eigentlich alle wichtigen und re-aktualisierbaren Wissensformen der Goethezeit in die Narration integriert, könnte ein entscheidendes Kriterium für den Erfolg sein. Der Text erscheint auf eine Art strukturiert und die in der erzählten Geschichte verhandelten Gegenstände auf eine Weise rezipierbar gemacht, die für literarische Fiktionen in Deutschland neu zu sein schien – unabhängig davon, ob diese Innovation bloß eine des Scheins ist, die auf einer spezifischen Erzählstrategie beruht, unabhängig damit auch von ›objektiven‹ Qualitätskriterien und der literarischen Wertung des Textes.

2. Erzählstrategien Der Roman bietet ungewöhnlich viele Anschlussmöglichkeiten für sehr unterschiedliche Lesererwartungen, darüber hinaus scheint er Erwartungen an Glücksempfinden und Lustgewinn in erheblichem Maße zu erfüllen. Er hat offensichtlich auch eine aktuell passende Antwort auf die Frage gefunden, wie sich heute die Geschichte großer Individuen und Persönlichkeiten, das Leben von Genies erzählen lässt (Genies als alltagsuntaugliche und schwer sozialisierbare Menschen), wie das ›Chaos‹ der großen geschichtlichen Ereignisse, Erfindungen und Entdeckungen narrativ zu ordnen und zu strukturieren ist. Vor allem aber ist der Roman die narrative Antwort auf ein neues politisch-kulturelles Leitparadigma in Deutschland: auf die Wissensgesellschaft und die Rede von den Kulturen des Wissens.13 Die seit einigen Jahren virulente Debatte über das Verhältnis von Kultur- und Naturwissenschaften (man denke auch an die Diskussionen über die Exzellenzinitiative an den Universitäten und die Position der schon seit langem in die Defensive gedrängten Geisteswissenschaften, die in den Medien seit einigen Jahren – potenziert durch das 2006 ministeriell ausgerufene ›Jahr der Geisteswissenschaften‹ 2007 – präsent war und ist) wird in eine unterhaltende Fiktion transponiert. Mehr noch: Während Kultur-, Schul- und Wissenschaftspolitiker über den Verlust an Bildung 13

Vgl. zu diesem Stichwort den Sammelband: Ulrich J. Schneider (Hg.): Kulturen des Wissens im 18. Jahrhundert. Berlin: de Gruyter 2008. Zur Bedeutung des Wissensbegriffs in den Philologien vgl. Walter Erhart (Hg.): Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung? Stuttgart, Weimar: Metzler 2004. Aufschlussreich ist auch die Kritik von Konrad Paul Ließmann: Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft. Wien: Zsolnay 2006.

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klagen, Publizisten und Professoren hingegen seit Jahren Bücher füllen mit normativen Handreichungen zur Re-Etablierung angeblich kanonischen Wissens, kanonischer Bildung, kanonischer Bücher, hat hier ein deutschsprachiger Autor der Intention nach ein unverkrampftes, auch ironisches ›Bildungsspiel‹, das Lust auf Erkenntnis vermittelt (nicht allen, aber doch vielen), betrieben. Darüber hinaus trifft der Roman seismografisch weitere Befindlichkeiten und explizit benannte oder auch implizite Diskurse der Jetztzeit, die in der zeitgenössischen Literatur allenfalls eine untergeordnete Rolle spielen: Dies sind der Diskurs über Aufklärung und ihre Grenzen, über Rationalität und Vermessung und die Möglichkeiten und Grenzen des Machbaren, über Individualität und Quantifizierbarkeit, über idealistische Philosophie und goetheanisches Weimar, über Berlin und das Preußentum, über Deutschland und die Nation (mit ironischen Seitenhieben auf Turnvater Jahn), über Kleinstaatlichkeit und Kosmopolitismus (setzt man für Kleinstaatlichkeit Föderalismus, lässt sich das Thema ohne weiteres auf die Gegenwart applizieren). Und auch das ist noch nicht alles – weitere Themen prägen den Roman: Alter, körperlicher Verfall und Tod, das Vergehen der Zeit, die Entropie. Dem Leser wird der Eindruck vermittelt, er sei nicht nur Zuschauer wissenschaftlicher Debatten, vielmehr könne er die in der erzählten Welt verhandelten Theoreme auch verstehen (von der Gauß’schen Idee der Krümmung des Raums bis zur Debatte über Zufall und Notwendigkeit zwischen Kant und Gauß). Selektion und Reduktion der Sprache bis zur pointiert-lakonischen Verknappung, eine in die Jetztzeit transponierte Sprache (gegen Historismus und ›archäologische‹ Spurensuche) und die – in fast allen Rezensionen hervorgehobene – indirekte Rede, gleichsam zu einem Markenzeichen des Romans, des ironisch-distanzierten Erzählens zur Umgehung der ›Trivialfallen‹ des historischen Romans,14 geworden, sind wichtige stilistische Mittel des Erzählers Kehlmann. Identifikationsangebote bietet der Text dagegen kaum, auch ist er nicht linear von A bis Z erzählt. Die Narration erfolgt vielmehr episodisch und anachronisch; zwei jeweils auf die beiden Protagonisten Humboldt und Gauß bezogene Handlungsstränge werden parallelisiert, kontrastiert und an einigen Punkten zusammengeführt. Der Text verfügt damit über Qualitäten, die ihn, wenn auch nicht unter dem Aspekt der Absatzzahlen, der production restreinte zuweisen, ihn aus dem Durchschnitt herausheben: Mit spezifischen erzählerischen Mitteln einen Blick in die Diskurse und Befindlichkeiten einer Epoche zu eröffnen, die Goethezeit genannt wird, lässt sich als eine Leitperspektive des Autors formulieren. Dabei geht der Blick von der Gegenwart aus und rückt die Vergangenheit näher, die Distanz erzeugende Erzählperspektive steht in einem Gegensatz zu dem, wie sich die Ver14

Von »Trivial-Fallen« des historischen Romans spricht Kehlmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 9. 2. 2006: Ich wollte schreiben wie ein verrückt gewordener Historiker. Interview mit Daniel Kehlmann von Felicitas von Lovenberg. Auch in: Gunther Nickel (Anm. 5), S. 26–35. Darin heißt es auf S. 32: »Ohne die Idee der indirekten Rede hätte ich das Buch nicht schreiben können. Wenn man zum erstenmal darüber nachdenkt, einen historischen Roman zu schreiben, ist man zunächst eingeschüchtert von all den Trivial-Fallen, die da lauern.«

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gangenheit mitteilt. Kehlmann selbst spricht von einem »Gegenwartsroman, der in der Vergangenheit spielt«.15 Das zugrunde liegende Erzählkonzept ist ein erfolgversprechendes (der Tendenz nach: synkretistisches), das die Zurechnung zur Postmoderne gleichermaßen herausfordert wie abweist – gerade so, wie der Autor selbst allen Zuordnungen zur Postmoderne mit auffallender Vehemenz entgegengetreten ist, wohl auch deshalb, weil er um die Originalitäts- und Innovationszuschreibung fürchtete. Kehlmann macht die absichtsvolle Verrätselung, aus der ein spannendes Spiel für den Leser werden kann, zum Programm. Dabei bedient er sich eines nicht moralisierenden und historische Referenzialisierbarkeit abwehrenden Erzählens. Der Erzähler verfügt frei über die biografischen und historischen Fakten in einem durchdachten, dramaturgisch auf Plausibilität hin angelegten Spiel »mit Fakten und Fiktionen«16 ; die Informationsvergabe in der Fiktion muss dabei prinzipiell logisch stimmig sein. Erzählprogramm ist die Neuerfindung von Geschichte im Akt des Erzählens selbst. Manchmal suggeriert der Erzähler augenzwinkernd – ein häufig angewendeter Kunstgriff Kehlmanns (durch die Form der indirekten Rede hier noch unterstrichen) –, es könnte so gewesen sein, aber durchaus auch anders: dies gehört zum Fiktionsspiel dazu; Wahrheitsansprüche werden nicht gestellt. Einem »Pakt zwischen Erzähler und Leser« zufolge werde, wie Kehlmann selbst schreibt, der »Leser alles hinnehmen und nichts glauben«; für diese suspension of disbelief werde der Leser mit einer neu erzählten, unterhaltsamen Geschichte entschädigt.17 Die Lust am Erzählen und an der Entfaltung einer fiktiven Welt mit historischer Kulisse rückt in den Vordergrund. Die Faktizität des Geschichtlichen dagegen, auf die viele Leser neugierig waren/sind, ist in den Hintergrund gerückt. Gleich am Anfang des Romans lässt sich dies anschaulich nachvollziehen: Der Erzähler setzt nur wie ein Geschichtsschreiber ein, nennt die Jahreszahl 1828 (in dem Jahr fand der ›Kongress deutscher Naturforscher und Ärzte‹ in Berlin statt, zu dem Humboldt auch Gauß eingeladen hatte), doch bleibt dies Episode und nur ein Trick: Denn was eigentlich wie ein Sachbuch beginnt – wobei deutliche Signale des personalen Erzählmediums den vorgeblichen Modus des Geschichtsschreibens dementieren –, geht sogleich in fiktive erzählte Welt über: Lakonisch erzählt wird von den Schwierigkeiten von Gauß, aus dem Bett zu kommen, ausgerechnet an jenem Tage, da er nach Berlin fahren soll; dem Leser werden an vielen Stellen Wiedererkennungsmöglichkeiten des Alltagshandelns, des Trivial-Alltäglichen, geboten. Der Roman könnte damit auch als Veranschaulichung der in der Geschichtswissenschaft jahrelang geführten Debatte über das Verhältnis von Fakten und Fiktionen und über Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Geschichtsschreibung und 15 16

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Ebd. Daniel Kehlmann: Wo ist Carlos Montúfar? In: D. K.: Wo ist Carlos Montúfar? Über Bücher. Reinbek: Rowohlt 2005, S. 9–27, hier S. 12. Daniel Kehlmann: Diese sehr ernsten Scherze. Göttingen: Wallstein 2007, S. 27. Vgl. auch Mátias Martinez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München: C. H. Beck 72007 (1. Aufl. 1999).

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Literatur gelesen werden.18 Dies muss der Autor nicht notwendig auch reflektiert haben, doch ist frappierend, dass Kehlmann diese Debatte in seinem wichtigsten programmatischen Essay, in Wo ist Carlos Montúfar, der in dem gleichnamigen Sammelband im Oktober 2005 erschien – nur einen Monat nach dem Roman – aufgriff. Er suggeriert und konstruiert hier freilich einen innerliterarischen Traditionszusammenhang; allerdings ist anzunehmen, dass der zeitweilige Germanistikstudent der Universität Wien auch erzähltheoretische Grundlagenliteratur – zum Beispiel The rhetoric of fiction von Wayne C. Booth19 – zur Kenntnis genommen hat. Mit seinem Konzept trifft sich Kehlmann jedenfalls mit einem viel diskutierten Autor wie Hayden White, der in Meta History die Möglichkeit einer ›objektiv‹ rekonstruierenden Geschichtsschreibung bzw. der Objektivität von Geschichtserkenntnis in Abrede gestellt hat.20 Rückt man Kehlmann demzufolge in den Kontext der Postmoderne, so weist er diese Verbindung in der Tat zurück: Mehr als einmal hat er sich von der literarischen Postmoderne abgesetzt: Er wolle gerade keine »postmodernen Spiele« veranstalten;21 in den Göttinger Poetikvorlesungen heißt es: »Der Roman sollte von mir sein und auf keinen Fall ein postmodernes Gemisch, in das auch Texte anderer einmontiert sind.«22 Kehlmann versucht über solche Abgrenzungen sein eigenes erzählerisches Konzept mit Verweis auf einige Autoren der literarischen Moderne als innovativ und zukunftsweisend zu profilieren. Die Souveränität in der Dialogführung, auf die viele Rezensenten abstellten, die Handhabung der unkonventionellen, den Schein der Objektivität des Historischen immer auch entlarvenden indirekten Rede, Ironie und Witz, die Auflösung des historischen Kontinuums in Partialgeschichten (dies unterstreicht die Gliederung in 16 Kapitel, die parallel benannt sind mit einem prägnanten Substantiv und dem bestimmten – deiktisch zu lesenden – Artikel) und bisweilen burleske oder groteske Anekdoten: Der Roman erreicht mit diesem narrativen Konzept offenbar alle Lesegenerationen, befriedigt heterogene Leserinteressen und Lektüreerwartungen. An dem Fiktionsspiel Kehlmanns haben die meisten Leser Gefallen gefunden, auch wenn einige Erwartungen, etwa an die ›Sachhaltigkeit‹ des Buchs, enttäuscht werden. Jenseits der literarischen Wertung und der möglichen Kanonizität des Romans Die Vermessung der Welt ist die Frage, wie sehr Kehlmanns Erfolg auch auf der – womöglich strategisch eingesetzten und genutzten – Einsicht in die Logik der feldinternen Vergabe symbolischen Kapitals beruht, die den Erfolg eines Positions18

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Vgl. Richard Evans: Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis. Frankfurt am Main, New York: Campus 1998. Wayne C. Booth: The rhetoric of fiction. Chicago 1961 (dt.: Die Rhetorik der Erzählkunst. 2 Bde. Heidelberg: Quelle & Meyer 1974). Vgl. Hayden White: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Stuttgart: Klett-Cotta 1991 (amerikan. 1986). Daniel Kehlmann (Anm. 17), S. 6. Die Antwort des Befragten (auf die Frage von ihm selbst – der dialogische Kunstgriff liegt im ›Akt künstlerischer Externalisierung‹): »Bitte keine postmodernen Spiele, das ist aus der Mode gekommen.« Ebd., S. 32.

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kampfes im literarischen Feld indiziert. Vielleicht lassen sich spezifische Verfahrensweisen, die sowohl die Selbstdarstellung des Autors als auch die erzählerischen Strategien im Kontext einer Werkplanung betreffen, im Hintergrund erkennen; dabei müssen diese dem Autor keineswegs bewusst sein. Den Rezensenten war allerdings kaum etwas aufgefallen: Paralysiert von der enormen Dynamik der Erfolgsgeschichte und dem Erzählerwitz, meldeten sich erst spät einige Kritiker zu Wort, denen der schnelle Erfolg des Romans und seines Autors verdächtig vorkam. Sie diagnostizierten, freilich mit jener Routine, mit der jeder literarische Bestseller erst einmal einem Verdacht ausgesetzt wird, Symptome eines ihnen allzu glatt erscheinenden Erzählperfektionismus. Einige glaubten, die erzählte Welt mit der historischen Vorlage vergleichen zu müssen, andere hielten dem Autor die erzählerische Selbstermächtigung über ein klassisches Stück deutscher Geistesgeschichte vor. Gravierender ist der Einwand, dass Kehlmann die Literarisierung von Wissenschaftsgeschichte als biografische Anekdotenjägerei inszeniere; auch die vermeintliche erzählerische Souveränität und »Virtuosität«, die »unaufhörlich« ausgestellt werde, ist ihm zum Nachteil ausgelegt worden, so etwa von Andreas Bernard, der im Magazin der Süddeutschen Zeitung Kehlmanns schriftstellerischen ›Habitus‹ bemängelt: »Kehlmann erliegt der Versuchung, sich wie der von ihm bewunderte Thomas Mann an seinem eigenen Tonfall zu berauschen.«23 Vor diesem Hintergrund gilt: Während über den Geldwert des Romans längst abgestimmt worden ist – mehr als eine Million verkaufter Exemplare in nicht einmal zwei Jahren dürften, selbst bei einem niedrig angesetzten Honorar von zehn Prozent brutto, mehr als eine Million Euro für den Autor bedeuten, hinzu kommen die diversen Lizenzen für Buchgemeinschaften und Übersetzungen sowie weitere Formen der Zweitverwertung, zu schweigen von den zusätzlichen Einnahmen, die sich dem Romanerfolg überhaupt erst verdanken –, lässt sich über den künstlerischen Wert des Romans nach den ersten hohen Zuschreibungen der Kritik noch nichts Endgültiges sagen. Immerhin zeichneten einflussreiche Konsekrationsinstanzen Kehlmann aus: Nach Erscheinen des Romans erhielt er 2006 den Preis der Konrad-Adenauer-Stiftung, den Kleist-Preis, den Heimito-von-Doderer-Preis und die Göttinger Poetik-Dozentur mit Publikation der Vorlesungen im Wallstein Verlag, 2007 den WELT-Literaturpreis, 2008 den Per-Olov-EnquistPreis und den Thomas-Mann-Preis der Stadt Lübeck. Seine zuvor erschienenen Romane und Erzählbände wurden als Taschenbücher neu aufgelegt; die Zahl der Lesungen stieg beträchtlich, Hörbücher wurden besprochen (zuerst der Carlos Montúfar). Der schnelle Reputationsgewinn führte den Autor in literarische Jurys (Vorschlag und Laudatio zur Verleihung des Kleist-Preises 2008 an Max Goldt)24 , in Akademien (Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur; Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt) und zu prestigeträchtigen 23

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Andreas Bernard: Das Prinzip Daniel Kehlmann. In: Magazin der Süddeutschen Zeitung vom 24. 3. 2006 (http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/331, 19. 11. 2008). Vgl. Kehlmann gibt den Kleist-Preis an Max Goldt. In: Welt Online vom 7. 4. 2008 (http://www.welt.de/kultur/article1877464/Kehlmann_gibt_den_Kleist_Preis_an_ Max_Goldt.html, 19. 11. 2008).

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Herausgeberschaften: 2008 warb er zum Beispiel mit seinem nunmehr weltweit bekannten Schriftstellernamen für ein von ihm zusammengestelltes Kurzgeschichten-Heft der Zeitschrift Literaturen.25 Die von der Mehrzahl der Kritiker des Romans als wertvoll erachtete Distanz zum literarischen Status quo und zu den gängigen künstlerischen Darstellungsmitteln, die kulturelles in ökonomisches Kapital erstaunlich schnell zu konvertieren vermochte, könnte freilich auf einer Täuschung beruhen: Möglicherweise ist die zugeschriebene Differenz tatsächlich nur eine des Scheins und beruht vor allem auf jener Souveränität, mit der der Autor auf der Klaviatur der Stilmittel und narrativen Strategien spielt, mit der ein allenfalls kurzfristig wirksamer Feldeffekt erzielt werden kann. Auch dieses Beispiel eines unvorhersehbaren Romanerfolgs zeigt, dass die klassische Unterscheidung von Bedeutung und Ware, die die Doppelcodierung künstlerischer Produkte auszuzeichnen pflegt, an Relevanz und Erklärungswert verloren hat.

3. Ein Blick zurück: Die Themen eines jungen Autors und erste Aufmerksamkeitsgewinne Es ist auffallend, dass Kehlmann von Anfang an von Genies, von Wissenschaftlern und ungewöhnlichen Persönlichkeiten mit gelegentlich skurrilen Zügen, von phantastischen Erlebnissen und wunderlichen Träumen erzählt hat – zum Beispiel von einem, der zum Zauberer wird, im ersten Roman Beerholms Vorstellung von 1997, von einem promovierten Physiker im zweiten, Mahlers Zeit. Den Autor hat dabei nie das interessiert, was die Literaturkritik ›Realität‹, ›Gegenwart‹ oder auch das ›politische Leben‹ nennt. Tatsächlich hat Kehlmann seit seinem ersten Roman immer wieder Themen besetzt – das Vergehen der Zeit, imaginierte Identitäten, die Frage nach Zufall und Notwendigkeit –, die im natur- und im kulturwissenschaftlichen Diskurs ihre eigentliche Heimat haben, nicht aber in der erzählenden Prosa der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, von wenigen Ausnahmen wie W. G. Sebald, einem der deutschen Autorenvorbilder für Kehlmann, abgesehen. Überblickt man die Linie seiner ersten vier Veröffentlichungen seit 1997, wird man feststellen können, dass sich die Phantasie des Autors, bewusst oder unbewusst, nicht an den realen oder nur eingebildeten Interessen des Marktes orientiert. Kehlmann nimmt wie ein Physiker Versuchsanordnungen vor, mit denen er im literarischen Feld symbolisches Kapital erwerben will. Dass er womöglich, anfangs vielleicht ein wenig krampfhaft, nach dem Thema sucht, mit dem er ›Ruhm‹ ernten könnte (er erinnert hier in der Haltung an den jungen Thomas Mann), lässt eine Äußerung von ihm vermuten: In dem Essay Eigene Bücher lesen schreibt er: »Ich 25

Vgl. Literaturen spezial 2008 – Short-Stories, präsentiert von Daniel Kehlmann, mit dem Werbezusatz: »Erlesene Kurzgeschichten – ausgewählt von Daniel Kehlmann« (erschienen im Juli 2008, hier zitiert nach der Werbepostkarte des Friedrich Berlin Verlags, Seelze); unter den von Kehlmann berücksichtigten Autoren sind Ernest Hemingway, John Updike, William Faulkner, Vladimir Nabokov und Jorge Luis Borges.

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wußte immer, daß es mir gefallen würde, ein Buch geschrieben zu haben. Daß es schön sein mußte, etwas zu besitzen, das, gedruckt und gebunden, in Buchhandlungen gekauft, heimgetragen und in das Regal gestellt werden konnte, ein Ding also unter anderen Dingen, einerseits noch meines und andererseits nicht mehr.«26 Das Schreiben und Publizieren begreift Kehlmann immer auch als soziales Distinktionsmerkmal und Privileg. Exklusivität versucht er für sich und seinen spezifischen Erzählstil, für das Konstruieren von Geschichten mit doppeltem Boden, in Anspruch zu nehmen. Diesem Konzept, Fiktionsspiele erzählerisch zu inszenieren, blieb er treu, von seinem ersten Roman angefangen über die Sammlung von Kurzgeschichten und Erzählungen mit dem Titel Unter der Sonne bis zum Roman Ich und Kaminski (2003), der eine entscheidende Rolle für die Positionierung Kehlmanns im literarischen Feld und den späteren Durchbruch in der literarischen Öffentlichkeit spielt. Mit diesem Roman führte Kehlmann ein neues erzählerisches Experiment durch. Zwar beschritt er einen vermeintlichen Seitenweg, von dem er jedoch entscheidend profitieren sollte. Er fingierte einen Ich-Erzähler, der unsympathisch gezeichnet ist, einen meist schlechtgelaunten Kunstkritiker, der eine Biografie über den berühmten, schon ziemlich betagten Maler Kaminski schreiben will, um selbst berühmt zu werden: »Mein Buch durfte nicht vor seinem Tod und nicht zu lange danach herauskommen, für kurze Zeit würde er im Mittelpunkt des Interesses stehen«,27 meint der Ich-Erzähler. Der Roman ist zusammengesetzt aus Klischees der medial vermittelten Kunstszene und der journalistischen Kunstkritik, vorgeführt wird ein veritabler Hochstapler ohne Bildung und ohne einschlägige Kenntnisse, der von dem Maler freilich, obwohl dieser als blind eingeführt wird, auch im Wortsinne durchschaut wird. Die Leser des akademischen und kunstkritischen Milieus werden mit einer Fülle von Phrasen und Klischees – als Element der Satire auf den Kunst- und Kulturbetrieb – über Intellektuelle, Künstler und Kritiker konfrontiert. Der Autor macht sich im Übrigen ein Vergnügen daraus, die Fiktion mit realen Künstlern anzureichern und die Leser zumindest zu irritieren, wenn nicht mit der eigenwilligen Mischung von real Existierendem und Fiktivem zu verwirren; Phaseneinteilungen à la Picasso kommen ebenso vor wie Pablo Picasso und Henri Matisse untergeschobene Zitate, die in Wirklichkeit frei erfunden sind – auch dies sind zentrale Elemente in dem von Kehlmann favorisierten Fiktionsspiel. Satirisch vorgeführt wird eine Welt der Inszenierungen und Selbstinszenierungen, der notorischen Schwätzer und der halbseidenen Möchtegernkritiker, ein Milieu des Scheins, der Lügen und der Fakes, das primär auf Aufmerksamkeitsgewinne aus ist. Diese Ingredienzien (ein malender Gantenbein und Felix Krull der 26 27

Daniel Kehlmann (Anm. 16), S. 146. Daniel Kehlmann: Ich und Kaminski. Roman. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 36. Weiter heißt es S. 36f.: »Man würde mich ins Fernsehen einladen, ich würde über ihn sprechen, und am unteren Bildrand würde in weißen Buchstaben mein Name und Kaminskis Biograph eingeblendet sein. Das würde mir einen Posten bei einem der großen Kunstmagazine einbringen.«

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Kunstszene sozusagen, wie schon bemerkt wurde)28 reichten aus, um nachhaltige Aufmerksamkeitsgewinne zu erzielen, um die mit diesem Buch schlagartig größer gewordene Rezensentenschar Kehlmanns für den Autor einzunehmen (sieht man von einem unverständigen Kritiker ab: Es handelt sich ausgerechnet um den in diesem Falle humorlosen Max-Ernst-Spezialisten Werner Spies).29 Paradoxerweise erreichte Kehlmann nun jene entscheidenden Aufmerksamkeitsgewinne, die in der Fiktion gerade verspottet werden. Als »fein inszeniert« wurde der Roman in einer Rezension bezeichnet,30 viele Kritiker ›amüsierten‹ sich angeblich, fast alle fanden die Satire auf den Kunstmarkt überzeugend, einige sprachen von einem realistischen Roman. Dem Autor verhalf dieses Fiktionsspiel tatsächlich zum Durchbruch in der literarischen Öffentlichkeit: Es wurden mehr als 30 000 Exemplare der gebundenen Originalausgabe des Suhrkamp Verlags verkauft, es wurden zwölf Übersetzungen lizenziert, es gab zahlreiche Leseangebote für Kehlmann, und der Autor durfte das Werk auf ein Hörbuch sprechen. Kehlmann kritisierte (und kritisiert weiterhin) die Modi der Kulturökonomie und konnte zugleich von ihnen profitieren – ein vielfach bewährtes Verfahren. Er nutzte ihre Mechanismen und verbuchte Aufmerksamkeitsgewinne,31 die er mit seinen ersten Romanen und seinem Erzählungsband Unter der Sonne nicht erreicht hatte. Erstmals erschienen auch Kritiken, die Kehlmanns Weg als Erzähler resümierten; und ein Rezensent formulierte – ein solches Stichwort ließ nun die jüngeren Leser aufhorchen – ein eigenwilliges Urteil im ohnehin schon breiten Spektrum an Zuschreibungen: Daniel Kehlmann ist mit Ich und Kaminski in der Popfraktion angekommen. Im Vergleich zu seinen philosophisch aufgeladenen Romanen Beerholms Vorstellung oder Mahlers Zeit liest sich das neue Buch durchgängig leicht und oberflächlich. Die schnöselige Hauptfigur ähnelt wohl nicht zufällig Gestalten aus Romanen von Christian Kracht oder Benjamin Stuckrad-Barre. Vielleicht hat Kehlmann nur zeigen wollen, dass er auch dieses Genre beherrscht. Doch auch wenn Kehlmann sich selbst nicht zur Popliteratur zählen würde, deren Rettung ist er allemal.32

Weit wichtiger noch war der Aufmerksamkeitsgewinn, den Kehlmann durch die Vorstellung von Ich und Kaminski in Elke Heidenreichs literarischem TV-Talk 28

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Peter Mohr: Wenn Felix Krull Gantenbein trifft. Daniel Kehlmanns Roman »Ich und Kaminski«. In: literaturkritik.de, Nr. 5 vom Mai 2004 (http://www.literaturkritik.de/ public/rezension.php?rez_id=5936&ausgabe=200305, 19. 11. 2008). Vgl. Werner Spies: Der entsorgte Künstler. Daniel Kehlmann bastelt sich einen Roman: »Ich und Kaminski«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. 4. 2003. Peter Mohr (Anm. 28). Vgl. dazu auch Norbert Niemann: Strategien der Aufmerksamkeit. Eine Umkreisung. In: Hannes Luxbacher/Andreas R. Peternell/Werner Schandor (Hg.): Big Business Literatur – Reflexionen über den Marktwert der Literatur. Wien: Triton 2002, S. 19–32. Niemann spricht von der »Maximierung von Beachtung« (S. 30); dem »Diktat einer Ökonomie der Aufmerksamkeit« sei »mit den Mitteln des Skandals nicht mehr beizukommen«, dem »Skandal eignet keine Subversivität mehr, man möchte sagen keine authentische Subversivität« (S. 31), weshalb der Autor zu anderen, teils subtileren Mitteln greifen müsse. Gustav Mechlenburg: Kunst und Kritik. In: textem (http://www.textem.de/kehlmann.0. html, 19. 11. 2008).

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Lesen im ZDF am 6. Oktober 2003 erzielte. Zu Gast war Marcel Reich-Ranicki, der über Kehlmanns Buch die zwei apodiktisch knappen Sätze sprach: »Ich empfehle Daniel Kehlmann unbedingt. Intelligenz, Beobachtungsgabe und fabelhafte Dialoge!«33 Zwei Jahre später wird dieses Zitat kurioserweise auf der hinteren Umschlagseite eines ganz anderen Buches stehen, nämlich von Die Vermessung der Welt, in den ersten Auflagen als einziges Urteil eines Kritikers. Dem Rowohlt Verlag scheint dies egal gewesen zu sein und offenbar auch dem Autor, der auf dem Markt des Ansehens den Durchbruch erzielt hatte, wie sich an der Rezeption des folgenden Romans zeigen sollte.

4. Habitus und Selbstinszenierung: Kehlmanns Distinktionsanspruch Der Habitus dieses äußerst belesenen Autors signalisiert Neuigkeitswert und zugleich die Wiederkehr von etwas nicht mehr für möglich Gehaltenem: Nicht vielseitiger, politisch bewusster und in der Öffentlichkeit gefragter Intellektueller wie Alexander Kluge und Hans Magnus Enzensberger; nicht Gesellschaftskritiker, nicht Vaterlandsbeschimpfer, nicht Misanthrop, nicht Sadist oder Masochist, auch kein programmatischer Kulturkonservativer wie Martin Mosebach und als Autor kein Phantom, das sich hinter seinen literarischen Fiktionen unsichtbar gemacht hätte wie Patrick Süskind. Dieser Autor tritt, überspitzt formuliert, als Inkarnation eines juvenilen, die Ironie als Stilmittel und als »Haltung«34 auf neue Art perfektionierenden Thomas Mann ins literarische Feld: Für ihn sind charakteristisch Attribute wie: kultiviert, gebildet, höflich, polyglott, mehrsprachig, belesen, computerspielend (jedenfalls früher), wissensdurstig, nach Erkenntnis strebend, reiselustig. Kurz: Kehlmann ist der wahre Exponent einer neuen, mobilen und mediensozialisierten Autorengeneration in der Wissensgesellschaft, die aus Johann Wolfgang von Goethe und der Kultur Weimars, aus einem Vergleich zwischen Leo Tolstois Anna Karenina und Fjodor Dostojewskis Die Brüder Karamasow, aus Thomas Pynchon, John Updike und populären Zeichentrickfilmserien (Die Simpsons) poetischen Mehrwert zu ziehen vermag; die mit souveräner Geste die traditionellen Grenzen zwischen E- und U-Kultur verwischt, weil ihr Literatur nicht Abbild von Realität ist, auch nicht nur ›Spielfeld‹ (das wäre ein Missverständnis), sondern die die poetologische Notwendigkeit sieht, neue, andere Realitäten auf durchaus unterhaltsame Weise zu konstruieren. Natürlich bedeutet dies auch – seine eigenen Überlegungen zeigen dies an vielen Beispielen – eine Neudefinition des Kanons: Es gibt nicht mehr die traditionellen Leitdifferenzen (gut/schlecht, gut/böse, alt/neu), es gibt nur gut oder schlecht (= unwahr) erzählte Geschichten. Kehlmanns selbstbewusste, höchst ambitionierte Selbstdarstellung, wie sie sich exemplarisch im ›stilkonservativen‹ Habitus anlässlich der Verleihung des Lite33

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Das Zitat von Marcel Reich-Ranicki ist abgedruckt auf der Umschlagrückseite der Rowohlt-Originalausgabe. Vgl. auch Daniel Kehlmann (Anm. 17), S. 22, im Blick auf den Roman Die Vermessung der Welt formuliert.

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raturpreises der Konrad-Adenauer-Stiftung dokumentiert,35 zeigt sich nicht nur in Repräsentationsgesten und Repräsentationsformeln, vielmehr gerade – wie die neueren poetologischen und programmatischen Überlegungen zeigen – in einer produktiven Auseinandersetzung mit Thomas Mann, die zwischen höchstem Respekt und ambivalenten Gefühlen changiert.36 Selbst die Ausstattung seiner Bücher zeigt dies! Dazu drei Beobachtungen, die auf ihre Art eine zumindest unterschwellige Strategie der Aufmerksamkeitsgewinnung demonstrieren: Erstens enthalten alle veröffentlichten Bücher (gleich ob bei Deuticke, Suhrkamp oder Rowohlt erschienen) auf der Innenseite der hinteren Umschlagklappe ein Fotoporträt, und zwar jeweils ein neues, so dass man, nebeneinandergelegt, ein physiognomisches Leporello des älter werdenden Autors vor sich hat; zweitens fällt auf, dass die Ausstattung der bei Suhrkamp erschienenen Bände bis auf den wechselnden Farbton identisch ist: schmale gerippte Pappeinbände mit identisch angesetzten Rückentiteln; und drittens hat der Rowohlt Verlag besonderes Augenmerk auf die Typografie sowie die Gestaltung der Umschläge und der jeweiligen Kapitelüberschriften zu den beiden Veröffentlichungen Die Vermessung der Welt und Wo ist Carlos Montúfar gelegt. Genauer formuliert: Die Ausstattung des einen Monat nach dem Roman erschienenen Essaybandes verhält sich komplementär zu der des Romans und indiziert einen unmittelbaren Zusammenhang: Auffallend an der Typografie, der die Computerschrift Swift PostScript (QuarkXPress) zugrunde liegt, sind die Titel auf Umschlag- und Titelblatt und die in Versalien gesetzten Kapitelüberschriften; Autorname, Buchtitel sowie Kapitelüberschriften stehen bei beiden Büchern nicht konventionell auf einer Linie, sondern werden abwechselnd hoch- und heruntergestellt. Was Puristen der Typografie Tränen in die Augen treiben könnte: Hier geht es offensichtlich um ein formales Pendant zu dem poetologischen (Schreib-)Konzept Kehlmanns, das dem »Spiel mit Wirklichkeit«, dem »Brechen der Wirklichkeit«,37 und das heißt auch: dem Brechen der traditionellen Lesererwartungen verpflichtet ist. Auch die Umschlaggestaltung versucht Aufmerksamkeit zu erregen und zu steuern: nicht einfach durch plakatives, schrilles Design und Illustrationen, sondern durch ungewöhnliche Bildvorlagen, die aber eng mit dem AnthropologieDiskurs, der auf Humboldt zielt, verknüpft sind: Für den Umschlag von Die Ver35

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Vgl. die kleine Publikation der Stiftung, die über diese Veranstaltung erschien: Verleihung des Literaturpreises der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. an Daniel Kehlmann, Weimar, 18. Juni 2006. Dokumentation. Im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. hg. von Günther Rüther. Sankt Augustin: Konrad-Adenauer-Stiftung 2006, die Abb. S. 28, 29. Darin auch von Daniel Kehlmann: Dankrede, S. 23–27. Vgl. insbesondere Kehlmanns Dankesrede anlässlich der Verleihung des Thomas-Mann-Preises der Stadt Lübeck (siehe zum Beispiel: Tagesspiegel, Meldung vom 18. 10. 2008, http://www.tagesspiegel.de/kultur/literatur/Daniel-Kehlmann-Tho mas-Mann-Preis;art138,2639590, 19. 11. 2008); Daniel Kehlmann: Dionysos und der Buchhalter. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. 10. 2008. Daniel Kehlmann (Anm. 17), S. 16; die Formulierung ist ein Topos in den poetologischen und literaturkritischen Texten des Autors. Vgl. auch die Aussage: »Ich fand Literatur immer am faszinierendsten, wenn sie nicht die Regeln der Syntax bricht, sondern die der Wirklichkeit« (ebd., S. 15).

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messung der Welt verwendet der Gestalter, Walter Hellmann, eine Tafel aus den Plantes Equinoxiales, einem Beschreibungs- und Ansichtenwerk von Alexander von Humboldt. Es handelt sich um eine beinahe überkomplexe Abbildung, die einen Berg mit Gipfel und einen rauchenden Vulkan zeigt – beide gehen über in eine topografische Karte mit zahllosen Markierungspunkten. Hinzugefügt sind als verfremdende Elemente – und das verleiht dem Umschlag eine spielerische, witzige, auch genaues Hinschauen erfordernde Note – eine Messlinie und eine Art Fischernetz aus Planquadraten; die Gattungsbezeichnung Roman ist über eine Bucht gesetzt, der Verlagsname, das Rowohlt-Logo, ist auf die Spitze einer Halbinsel gesetzt, die Rückseite des Umschlags zeigt nur mehr Wolken und Meer. Für den Essayband verwendet der Gestalter ebenfalls ein älteres Bildmotiv, einen von dem Franzosen Pierre Jean François Turpin, Spezialist für Flora und Tierwelt des frühen 19. Jahrhunderts, gemalten grünen Affen, der in einem Spinnennetz sitzt, das sich über beide Buchdeckel erstreckt. Das Arrangement zeigt Phantasie und Sorgfalt, demonstriert das Bemühen, die spezifische Handschrift des Autors in seinen Büchern, den anthropologischen Grenzgang zwischen Natur- und Kulturwissenschaft, deutlich werden zu lassen und zugleich den Autor als ›Marke‹ mit Marktwert zu konstruieren.38 Kehlmanns zweiter und dritter Verlag, Suhrkamp und Rowohlt, haben von Anfang an eine konsequente Produkt-, Markenund Imagestrategie für den jungen Autor entwickelt.

5. Positionierung im literarischen Feld: Poetik und Selbstreflexion Kehlmanns Haltung zum literarischen Markt, seine Strategie der Positionierung im literarischen Feld und sein Verhältnis zur literarischen Tradition lassen sich vor allem ablesen an dem Titelessay des Bandes Wo ist Carlos Montúfar, der Weimarer Dankrede zur Verleihung des Literaturpreises der Konrad-Adenauer-Stiftung im Juni 2006 sowie an seinen Göttinger Poetikvorlesungen, die unter dem GoetheZitat Diese sehr ernsten Scherze (Goethe über Faust II) erschienen. Auffallend ist, dass Kehlmann, der von 2001 bis Mitte 2005 nur einige wenige Rezensionen veröffentlicht hatte, nach dem Erscheinen seines Erfolgsromans verstärkt auch die Kritiker- und Intellektuellenrolle besetzt. Er tut dies nicht im Dienste eines politischen Ideals oder einer ästhetischen Konzeption, strebt aber doch kulturelle Sinnvermittlung an, die er gerne realen und imaginären Gegenpositionen entgegenstellt. Es ist in diesem Fall charakteristisch, dass der Autor erst mit dem Erfolg seines letzten Romans entsprechenden Erwartungshaltungen in der Öffentlichkeit entgegenkommt bzw. diese auch ungefragt bedient. Kehlmann kritisiert immer wieder die Vereinnahmungsstrategien und Inszenierungsmechanismen des literarischen Marktes mit Lesungen und Interviewwünschen, mokiert sich über den »Vorlesezirkus« und die klassische Autorenlesung, die ihm »ein sehr deutsches Ritual, eine Kreuzung zwischen romantischem Geniekult und wilhelminischer Schulstunde« zu sein scheint, über die »organisierte 38

Vgl. Hannes Luxbacher/Andreas R. Peternell/Werner Schandor (Anm. 31).

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Umtriebigkeit«39 in der Literatur, die den Autor von Wichtigerem, nämlich dem Schreiben, abhalte,40 der er aber selbst entscheidende Aufmerksamkeitsgewinne und ökonomisches Kapital verdankt. Er polemisiert gegen die »Vorstellungsfilmchen der Klagenfurter Vorleseveranstaltung«, einem »hauptsächlich der Erniedrigung von Autoren dienenden Fernsehspektakel«.41 Er distanziert sich vom ›Misanthropen‹ und Österreich-Beschimpfer Thomas Bernhard, charakterisiert ihn sogar als »verlogenen« österreichischen Staatsdichter,42 präferiert dagegen das ›KunstWollen‹ eines Thomas Mann und, allerdings nicht unironisch, das Kunstprogramm des »Gelingens« eines Goethe.43 Er setzt sich von der Postmoderne ab (man erinnere sich: Süskinds Parfüm galt und gilt als deutsches literarisches Paradigma für postmodernes Erzählen),44 plädiert stattdessen für eine internationale literarische Moderne, von Jorge Luis Borges, seinem großen Lehrmeister,45 Gabriel García Márquez und Mario Vargas Llosa (fasziniert zeigt sich Kehlmann insbesondere von der Schreibweise des »magischen Realismus«46 der südamerikanischen Autoren) über Vladimir Nabokov bis zu Pynchon, zu der er von den deutschsprachigen Autoren zumindest Thomas Mann, Paul Celan und Günter Grass sowie einige nicht namentlich genannte ›Emigranten‹ rechnet. Und er glaubt, dass mit der Gruppe 47 und mit dem literarischen Paradigma der Konkreten Poesie (er nennt sie zwar nicht namentlich, bezieht sich aber wohl vor allem auf die Wiener Autoren H. C. Artmann und Ernst Jandl) ein »radikaler Realismus« in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur dominiert habe.47 Vor allem über die Gruppe 47, dem weit verbreiteten bashing überwiegend jüngerer Autoren folgend,48 hat er 39 40

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Daniel Kehlmann (Anm. 35), S. 24, 25. Daniel Kehlmann (Anm. 17), S. 13: »Allerdings, das deutsche Literaturmilieu ist in ingeniösester Weise darauf ausgerichtet, Menschen von der Literaturproduktion abzuhalten.« Ebd., S. 5; Daniel Kehlmann (Anm. 35), S. 26. Vgl. das in Anm. 3 erwähnte Interview mit Daniel Kehlmann von Andreas Austilat und Verena Mayer: Daniel Kehlmann findet Österreichs Nationaldichter Thomas Bernhard verlogen; die Äußerung Kehlmanns bezieht sich auf die Umstände der Publikation von Holzfällen (1983). Wörtlich heißt es, Bernhard sei ein »Mann, der es geschafft hat, weltweit als unterdrückter, verbotener, verfolgter Autor zu gelten und dabei zugleich in seinem eigenen kleinen Land der verehrteste, bestbezahlte, meistausgezeichnete Schriftsteller zu sein. Bernhard ist heute in Österreich, was Schiller 1880 in Deutschland war: die offiziell anerkannte, staatlich unterstützte und empfohlene Literatur.« Daniel Kehlmann (Anm. 35), S. 26: Die »Lektion Weimars« sei es gewesen, »in Kunst und Leben das Gelingen anzustreben«. Vgl. zu Süskinds Parfüm zum Beispiel Rainer Scherf: Der verführte Leser. Eine Interpretation von Patrick Süskinds »Das Parfüm«. Marburg: Tectum 2006. Vgl. Daniel Kehlmann: Borges oder Die Angst vor Spiegeln. In: Jürgen Jakob Becker/Ulrich Janetzki (Hg.): Helden wie ihr. Junge Schriftsteller über ihre literarischen Vorbilder. Berlin: Quadriga 2000, S. 115–120. Daniel Kehlmann (Anm. 17), S. 22 (auf Die Vermessung der Welt bezogen). Vgl. die für den Autor typische, sehr eigenwillige Kritik an der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur in Daniel Kehlmann (Anm. 17), S. 14: »Lautpoesie und soziales Engagement – die zwei bedrückenden Eckpfeiler des radikalen Realismus.« Vgl. Markus Joch/Norbert Christian Wolf: Einleitung (Anm. 12), S. 22. Zur Wertschätzung Sebalds vgl. Daniel Kehlmann (Anm. 35), S. 26, Sebald sei »der beste Chronist der

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sich mehrfach abfällig geäußert, womit er sich in die Kritikergarde des von ihm hoch geschätzten Sebald einreiht. Wichtiger als einige unübersehbare Schwächen und abenteuerliche Konstruktionen in der Kritik literarischer Traditionen sind die Motive der Abgrenzung und der eigenen Positionierung im literarischen Feld. Kehlmann nimmt nicht nur eine Umschreibung des literarischen Kanons vor (wobei er auch eine Reihe offener Türen einrennt), er konstruiert einen neuen literarischen Kanon aus legitimatorischem Eigeninteresse. Er tut dies auch deshalb, weil er sich und seinen Roman Die Vermessung der Welt, sein poetologisches Konzept insgesamt, seine spezielle Erzähldramaturgie, bei manchen Kritikern unverstanden glaubt. Sein literarischer Kanon kulminiert in einem in Deutschland wenig rezipierten Roman der 1960er Jahre, in Nabokovs Pale Fire, in deutscher Übersetzung unter dem Titel Fahles Feuer bekannt geworden.49 Er sieht bei Autoren wie Nabokov,50 aber auch bei Sebald und Borges, ein »Spiel mit dem Gefüge der Realität, der Glaubwürdigkeit des Erzählers und der Zuverlässigkeit eines zwischen den Gattungen oszillierenden Textes«,51 das in Deutschland angeblich keine Chance zur Durchsetzung am Markt gehabt habe. Offenbar fühlt sich Kehlmann verpflichtet, seine Poetik des autonomen Autors und Erzählers ex negativo zu entwickeln, sich immer auch über entschiedene Abgrenzung insbesondere gegenüber der deutschen Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur im literarischen Feld zu positionieren und so seine eigene Schreibweise zu plausibilisieren. Der ehrgeizige Autor, der einige Jahre eine Strategie der permanenten Distanzierung vom literarischen Markt verfolgte – von einem Markt, auf dessen Parkett er sich selbst tadellos bewegte und zu bewegen vermag –, will sich als innovativer Autor im literarischen Feld positionieren. Aufmerksam hatte er, wie seine Interviews und die Poetikvorlesungen zeigen, die Rezeption seines Romans verfolgt und sich veranlasst gesehen, seine Position grundlegend zu reflektieren und zu legitimieren. Dies konnte natürlich nur von einem Punkt aus gelingen, an dem die Validität und Plausibilität dessen, was gesagt wird, nicht mehr über Erfolg oder Misserfolg, über Aufmerksamkeitsgewinne oder -verluste entscheidet, an dem die Literaturkritik die Aussagen des Autors nicht mehr ernsthaft diskutiert. Zur Positionierung im literarischen Feld gehört bei Kehlmann neben dem Insistieren auf thematischer und erzählerischer Exklusivität stets auch ein gewisses Maß an Kritik, bisweilen sogar Verachtung des Literaturbetriebs. Selbst nach Beginn der Erfolgsgeschichte von Die Vermessung der Welt hat Kehlmann seine Strategie nicht geändert: Der kritisch-ironische Ton und der fortwährend ausgestellte Habitus kultureller Distinktion gegenüber den Marktmechanismen der Literaturverwertung, den Literaturvermittlungs- und Verwertungszwängen, der ein hohes

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unspektakulären Tragik des Emigrantenschicksals«, und den auch selbstbezüglichen Hinweis, Sebald sei »Schüler von Borges und Nabokov«. Vladimir Nabokov: Fahles Feuer. Roman. Reinbek: Rowohlt 1968 (amerikan. 1962). Kehlmann erwähnt den Roman zum Beispiel in seiner Weimarer Rede (Anm. 35), S. 25, und bezeichnet ihn dort als »den vielleicht wichtigsten experimentellen Roman«. Zu Nabokov vgl. Daniel Kehlmann (Anm. 17), S. 10f. Ebd., S. 25f.

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Maß an »Selbstwertschätzung« indiziert,52 sind geblieben: So hat er zum Beispiel Institution und Praxis des Deutschen Buchpreises – sein Roman Die Vermessung der Welt stand neben fünf anderen Büchern 2005 auf der für die Kritikerwahrnehmung einflussreichen ›Shortlist‹ zur Auswahl des Preisträgers, der dann Arno Geiger hieß – öffentlich scharf angegriffen.53 Die nachhaltigen Distinktionsbemühungen verschaffen dem kultivierten (mit bürgerlichen wie antibürgerlichen Zügen ausgestatteten) Autor ein hohes Maß an Anerkennung in unterschiedlichen kulturellen Milieus und Teilöffentlichkeiten und lassen den Eindruck eines völlig autonomen, klugen und reflektierten Autors entstehen, dessen Erfolge gleichsam vom Himmel gefallen sind. Auch dies gehört zum stetig entwickelten und weiter ausgebauten, von der Öffentlichkeit honorierten Selbstbild des Autors, wie hybrid dieses Selbstbild – zwangsläufig bei einem erfolgreichen Autor – auch immer aussehen mag.

6. Lust und Glück: Ergänzende Leserperspektiven Ästhetischer Eigen-Sinn bedeutet schon lange nicht mehr zwangsläufig eine marginale Position im literarischen Feld. Bourdieus normative Differenzierung zwischen dem Feld der Massenproduktion, das von kommerziellen Nachfrageinteressen bestimmt wird, und jener production restreinte, der es primär um Aufmerksamkeit und Akzeptanz durch Künstler und Kritiker geht und nicht um den ökonomischen Erfolg, ist ja schon lange fragwürdig. Auch die literarische Kritik bewertet kommerzielle Auszeichnungen keineswegs mehr als Exklusionskriterium, zumal die Kriterien selbst ins Fließen gekommen sind und es objektive Qualitätskriterien nicht mehr zu geben scheint. Möglicherweise hat ein Paradigmenwechsel schon längst stattgefunden: Bestseller sind nicht mehr prinzipiell jene Bücher, die ausschließlich vorgängige Lesererwartungen bestätigen, Vorurteile befördern und befestigen, die Medienklischees bedienen. Eine solche Abgrenzung autonomer Produktion und Rezeption von der vermeintlichen Spekulation auf eine massenhafte Rezeption trifft nicht mehr die Realität des literarischen Marktes. Der Gegensatz ist ein fiktiver, denn woher wüsste man, was heute Avantgarde ist und was nicht, jedenfalls in der Literatur, und auch die literarischen Erfolgsrezepte sind so unterschiedlich wie nie (von Hape Kerkelings Ich bin dann mal weg über Charlotte Roches Feuchtgebiete bis zu Kehlmanns Die Vermessung der Welt – um das Spektrum nur anzudeuten). Die scheinbar so festgefügten Grenzen zwischen Avantgarde und Massenproduktion existieren nicht mehr, unabhängig davon, ob man von weiterhin existierenden Praktiken und einer Logik der feldinternen Vergabe symbolischen Kapitals ausgeht oder nicht – und das bringt methodische Probleme mit sich. Eine soziologische Literaturwissenschaft muss ihr Augenmerk immer auch auf den Leser richten. Verschiebungen in der Medienwelt zeigen, dass man es längst 52 53

Georg Franck (Anm. 12), S. 132. Vgl. Daniel Kehlmann: Entwürdigendes Spektakel. In: FAZ.net vom 20. 9. 2008 (http:// lesesaal.faz.net/deutscherbuchpreis/leser_forum.php?rid=2, 19. 11. 2008).

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schon mit einer Art Selbstermächtigung der Leser im Blick auf ästhetische, auf normative Urteile über literarische Werke zu tun hat, soll heißen: Die traditionellen, für Erfolg oder Misserfolg literarischer Neuerscheinungen lange Zeit maßgeblichen Benennungsmächte, die Literaturkritiker der Zeitungen und Zeitschriften, haben an Einfluss verloren, sind nur noch ein Faktor unter vielen anderen, der symbolisches Kapital zu vergeben vermag. Nimmt man den Leser ernst, der sich via Internet in diversen neuen Teilöffentlichkeiten organisiert und subjektive Kommentare von Laienlesern in Literaturblogs der professionalisierten Literaturkritik vorzuziehen beginnt, dann könnte es sinnvoll sein, noch einmal zurückzugreifen auf jene hedonistische Literaturwissenschaft, die Thomas Anz 1998 (unter dem Titel Literatur und Lust erschienen) konzipiert hat und die als Gegenentwurf zur traditionellen Rezeptions- und empirischen Leserforschung angelegt war, nach anfänglichem Interesse von Seiten der Literaturwissenschaft wie der Literaturkritik aber schon wieder ein wenig in Vergessenheit geraten ist. Anz fragte nach »Arten, Gründe[n] und Bedingungen der Lust oder auch Unlust an Literatur«54 und insistierte darauf, dass das menschliche Streben dadurch gekennzeichnet sei, Lust oder Glück zu erlangen und Unlust oder Unglück zu vermeiden, ganz gleich, ob es sich um Hoch- oder sogenannte Trivialliteratur handelt. Es geht also um den Lustgewinn, um das unausgesprochene Vergnügen an ästhetischen Gegenständen und um jenes Glück, das das Lesen schöngeistiger Literatur zu verschaffen vermag, ganz unabhängig von der Frage, ob es sich um prämierte oder nicht prämierte Literatur handelt. Die Lust am Lesen könnte man, Anz zufolge, auf die sechs Aspekte des Spiels, des Schönen, des Schrecklichen, der Spannung/Entspannung, des Lachens/Weinens und der Erotik beziehen. Die Befreiung von allen Zwängen wäre demnach ein wesentliches Motiv des Lesens, die vollkommene Freiheit im Reich der literarischen Phantasie bringt Lust und Glücksgefühle. Von besonderer Bedeutung ist in der Tat der Spielcharakter: Das erwähnte Spiel mit ›Fakten und Fiktionen‹, das erzählerische Oszillieren zwischen Faktualem und Fiktionalem, das für den Roman konstitutiv ist. Die darüber hinaus verfolgte Strategie der Verrätselung aktiviert den Leser, etwas zu erkennen bzw. wiederzuerkennen oder zu erraten – auch das bedeutet Lustgewinn; Anspielungen, Vorausdeutungen, nachgelieferte Hinweise und Verfremdungen finden sich an zahlreichen Stellen dieses wie auch anderer Erzähltexte. (Ein Beispiel ist das verfremdete Zitat von Goethes Gedicht Wanderers Nachtlied.) Daneben kommt, in der Leserperspektive, der Komik im Roman wohl die größte Bedeutung zu: Sie beruht – im Rahmen der Funktionalisierung von Erzählschemata der Hoch- wie Trivialliteratur – auf der Technik der Kontrastierung des Hohen mit dem Niedrigen, der Hochsprache mit der Umgangssprache und dem Vulgären, des Genialen mit dem Banalen, des Ernsthaften mit dem Lächerlichen, des Tragischen mit dem Komischen, der Kontrastierung schließlich von Personen (Gauß und sein Sohn Eugen, Humboldt und Aimé Bonpland, Gauß und Humboldt). Hierhin gehört auch die Passage über das Zusammentreffen von Gauß und Immanuel Kant: Gauß 54

Thomas Anz: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen. München: C. H. Beck 1998, S. 8.

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nimmt die beschwerliche Reise nach Königsberg auf sich, um mit und gegen Kant über den ›euklidischen Raum‹ und über Zufall und Notwendigkeit zu diskutieren. Kant sagt aber nach den langen Ausführungen von Gauß nur: »Wurst«, und auf Nachfrage: »Der Lampe soll Wurst kaufen [. . .]. Wurst und Sterne.«55 So wird die Komplexität und Kompliziertheit des Diskurszusammenhangs niedriger gehängt; die Komik und das daraus hervorgehende befreiende Lachen lösen die Spannung und geben dem Leser das Gefühl, den Diskurs nachvollzogen zu haben, ohne ihn gleich allzu ernst nehmen zu müssen. Im Roman Beerholms Vorstellung heißt es: »Ja, ich hatte sie in der Hand. Die Reaktion des Publikums war die Unbekannte in der Gleichung gewesen, jene Größe, die man nicht von Anfang an besitzt, die man aber durch die Unerbittlichkeit der Rechnung fassen und bestimmen kann.«56 Was dem Ich-Erzähler, dem Zauberer als Verwandlungskünstler, möglich ist – ein Kunstgriff der Imagination – , lässt sich leider nicht auf die Reaktion des Publikums auf die Vermessung der Welt übertragen. Tatsächlich aber trifft mittlerweile auch auf Daniel Kehlmann, auf die Wahrnehmung seines Romans und auf seine Auftritte zu, was der Zauberer an anderer Stelle sagt: »[D]er Applaus bannte mich an diese Stelle, fesselte mich, hielt mich fest. [. . .] Alle Menschen im Saal [. . .] standen auf ihren Füßen und klatschten.«57 Der Autor selbst war erstaunt über den sensationellen Erfolg seines Buchs und konnte ihn sich nicht erklären. Doch haben auch Autorstrategien im literarischen Feld ihren Teil dazu beigetragen, dass der Roman Die Vermessung der Welt ein Massenerfolg wurde – womit sich das Rätsel natürlich keineswegs ganz lösen lässt: Weshalb wird ein Roman, der eher Lesererwartungen durchbricht als bestätigt, warum wird ein solches Buch zum nationalen und schließlich auch zum internationalen Bestseller? Der Roman der Gegenwart im historischen Gewand der Goethezeit, ein ›Roman comique‹, der mit der Neugier und der Lust des Lesers spielt. Kehlmann – er und seine Erfolgsgeschichte sind bereits 2007 in den Roman Das bin doch ich von Thomas Glavinic eingewandert – scheint längst an dem ›Spiel‹ um Aufmerksamkeitsgewinne, in dem er selbst wechselnde Rollen verkörpert, Spaß zu haben.58

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Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt. Roman. Reinbek: Rowohlt 22005, S. 96f. Daniel Kehlmann: Beerholms Vorstellung. Roman. Wien: Deuticke 1997, S. 210. Ebd., S. 199. Kehlmann publizierte im Vorgriff auf den nächsten Roman mit dem Titel Ruhm (2009) die Erzählung Sein Porträt, in dem auch der Protagonist des Romans auftritt, der Schriftsteller Leo Richter. In diesem Text »erzählt der erfolgreichste deutschsprachige Gegenwartsautor, wie er mit dem Erfolg seines Bestsellers Die Vermessung der Welt fertig wurde. Kehlmann verrät weiter, wie sein neues Buch [. . .] entstanden ist.« (ZEITonline vom 15. 10. 2008 [http://www.zeit.de/online/2008/42/vorab-kehlmann, 19. 11. 2008].)

Andreas Dörner (Marburg) und Ludgera Vogt (Wuppertal)

Medien zwischen Struktur und Handlung Zum Strukturdeterminismus in Bourdieus Kulturtheorie und möglichen Alternativen

1. Einleitung Die soziologischen Arbeiten Pierre Bourdieus haben spätestens seit den 1980er Jahren eine breite Wirkung weit über die Grenzen der Soziologie hinaus entfaltet. Neben den Sozial- und Erziehungswissenschaften sind es vor allem die Kulturwissenschaften, die mit viel Erkenntnisgewinn auf zentrale Konzepte wie ›Feld‹, ›Habitus‹, ›Kapital‹, ›Distinktion‹ und ›sozialer Raum‹ zurückgreifen. Die große Nachfrage erklärt sich erstens aus der Komplexität der Theorie, die vielfältige Anschlussmöglichkeiten für die wissenschaftliche Reflexion bietet. Zweitens überzeugt das theoretische Angebot Bourdieus an vielen Stellen vor allem deshalb, weil es nicht in der Sphäre des reinen Theoretisierens und Bebilderns verbleibt, sondern empirisch klein gearbeitet wird – exemplarisch zu beobachten etwa in der bahnbrechenden Studie zu den Feinen Unterschieden, die das komplexe Geflecht kultureller Praxis mit groß angelegten Korrespondenzanalysen und einer Vielzahl kleiner Fallstudien empirisch sezierte.1 Drittens schließlich war Bourdieu nicht nur ein – ausgesprochen erfolgreicher – Wissenschaftler, sondern eine einflussreiche intellektuelle Figur des öffentlichen Lebens in Frankreich. Anders als beispielsweise der in mancher Hinsicht vergleichbare Jürgen Habermas in Deutschland wirkte Bourdieu überdies nicht nur meinungsbildend, sondern mischte sich auch unmittelbar in die politische Praxis ein: etwa als Berater von Gewerkschaften oder als Mitbegründer der zivilgesellschaftlichen Organisation Attac. Dieses Profil, das den Anspruch einer ›kritischen Theorie‹ nicht nur akademisch formulierte, sondern in der politischen Praxis auch zu leben versuchte, entfaltete ohne Zweifel eine faszinierende Wirkung auf viele Wissenschaftler und Intellektuelle. Die oben angesprochene vielfältige Anschlussfähigkeit von Bourdieus Arbeiten ist nicht zuletzt auf den Anspruch seines Ansatzes zurückzuführen, zwischen den vergleichsweise eingefahrenen Gleisen von Struktur- und Handlungstheorie, Determinismus und Voluntarismus, Mikro- und Makroanalyse einen neuen ›dritten Weg‹ zu entwickeln, der die Schwächen und Engführungen der bisherigen Ansätze vermeiden kann. Der hohe Bedarf an solchen Angeboten zwischen der Skylla des Objektivismus und der Charybdis des Subjektivismus erhellt schon daraus, dass außer Bourdieu beispielsweise die Theorie der Strukturierung von Anthony Gid1

Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982. Weitere empirische Studien Bourdieus beziehen sich auf das Bildungssystem, die Rekrutierung politischer Eliten oder auch auf das Leben in den französischen Vorstädten.

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dens oder auch Niklas Luhmanns Variante der Systemtheorie solche neuen Wege zu beschreiten suchten. Die Frage, die sich freilich bei Bourdieus Arbeiten immer wieder stellt, ist die, ob es ihm wirklich gelingt, eine Alternative zu der althergebrachten Dichotomie zu entwickeln oder ob er nicht letztlich doch dem Primat der Strukturen und damit einer deterministischen Sichtweise verhaftet bleibt. Diese Frage ist nicht pauschal und eindeutig zu beantworten. Wir wollen dennoch im Folgenden einige Aspekte beleuchten und dabei neben den theoretischen Grundlagen vor allem Bourdieus Betrachtungen über das Fernsehen heranziehen, die sehr stark dem traditionellen medienkritischen Diskurs verhaftet bleiben. Diese strukturtheoretisch ausgerichtete Kritik des Fernsehens soll kontrastiert werden mit einem anderen Ansatz, der sich zwar unter anderem auch auf Theoriesegmente Bourdieus stützt, aber im Hinblick auf Determination und Kontingenz bzw. Handlungsfreiheit der kulturellen Praxis einen radikal entgegen gesetzten Standpunkt vertritt. Gemeint ist das Denken von John Fiske, einem der prominentesten wie umstrittensten Vertreter der British Cultural Studies. Im Resultat soll argumentiert werden, dass eine seriöse Medienforschung sinnvoll nur betrieben werden kann, wenn ein Weg jenseits von Determinismus und Widerstandseuphorie oder – um es mit Umberto Eco auszudrücken: jenseits von ›Apokalyptikern‹ und ›Integrierten‹ – in der Kulturanalyse beschritten wird.2

2. Der praxeologische Ansatz als Alternative zur Struktur- und Handlungstheorie Die Alternative zwischen Struktur- und Handlungstheorie formt schon seit dem Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert die sozial- und kulturwissenschaftliche Debatte. In der Soziologie beispielsweise finden sich auf der einen Seite die großen strukturtheoretischen Ansätze von Marx und Durkheim. Der eine hatte die ökonomische Struktur als ›Basis‹ der Gesellschaft analysiert. Diese determinierte den gesamten staatlichen und kulturellen ›Überbau‹, so wie das gesellschaftliche ›Sein‹ im materiellen Sinne auch das Bewusstsein determiniert. Durkheim verzichtete auf eine solche Hierarchie und beschrieb Gesellschaft als eine differenzierte Struktur, in der der einzelne Mensch als Resultat der strukturell geschaffenen ›faits sociaux‹ erschien. Durkheims Arbeiten zur sozialen Arbeitsteilung hatten zunächst den Prozess der sozialen Differenzierung als ein reines Strukturphänomen beschrieben. Veränderungen des Denkens und der Moral erschienen als bloße Folgen eines gesellschaftlichen Strukturwandels. Später wurde dagegen die handlungsleitende Kraft von Normen, Symbolsystemen und Denkmustern in den Mittelpunkt gestellt. Durkheim analysiert vor allem die ›elementaren Formen des religiösen Lebens‹ als eine Infrastruktur von religiöser Mentalität, in der sich ein Bedürfnis nach Gemeinschaft und Sinn artikuliert. Diese kulturelle Infrastruktur von Sym2

Umberto Eco: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur. Frankfurt am Main: Fischer 1984.

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bolen, Ritualen und heiligen versus profanen Räumen definiert einen Wahrnehmungsraum und damit auch einen Handlungsraum für die Akteure. Durkheims strukturalistischer Ansatz hat später Linguisten wie Ferdinand de Saussure und vor allem Anthropologen wie Marcel Mauss und Claude Lévi-Strauss beeinflusst, die wiederum in Bourdieus Denken ihre Spuren hinterließen. Auf der anderen Seite war es vor allem Max Weber, der das Konzept des ›sozialen Handelns‹ in den Mittelpunkt seines Ansatzes stellte. Das sinnhafte Handeln individueller Akteure gestaltet die soziale Welt ebenso wie vorfindbare ökonomische bzw. im weiteren Sinne institutionelle Gegebenheiten. Weber gestand zudem der kulturellen Sphäre eine größere Autonomie gegenüber der ökonomischen Basis zu als Marx und andere Strukturtheoretiker. Kultur bildet hier einen welthistorischen Weichensteller, und sie spielt als unabhängige Variable auch eine wichtige Rolle bei der Konstitution sozialer Ordnung. Hatte Marx die Dynamik der ökonomischen Basis als Ursache für alle sozialen und kulturellen Entwicklungen identifiziert, zeigt Weber in seinen historischen Studien auf, dass erst im Zusammenspiel von Struktur und Kultur, Ideen und Ökonomie jeweils gesellschaftliche Realität entsteht. Neben materiellen Interessen treiben Weber zufolge auch ideelle Interessen die Menschen an, zum Beispiel das Interesse an jenseitigem Seelenheil. Und die großen Weltbilder lenken diese Dynamik der Interessen jeweils in bestimmte Bahnen. Neben Weber speiste sich die handlungsorientierte Kulturanalyse vor allem aus zwei Quellen: zum einen aus dem amerikanischen Pragmatismus etwa bei John Dewey und George Herbert Mead, deren Gedanken sich nachhaltig in den Forschungen der so genannten ›Chicago School‹ zur Kultur der amerikanischen Großstädte niederschlug und beispielsweise die Arbeiten Erving Goffmans und des ›symbolischen Interaktionismus‹ (Herbert Blumer u. a.) inspirierte; und zum anderen aus der phänomenologischen Tradition, die in einer Phänomenologie des sozialen Handelns beispielsweise bei Alfred Schütz, Peter L. Berger und Thomas Luckmann weiterentwickelt wurde. Auch in der anthropologischen Kulturforschung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich eine ausführliche Debatte zwischen ›Kulturalisten‹ und ›Strukturalisten‹ entfaltet. Kulturalisten wie Arnold Kroeber, Margaret Mead oder Ruth Benedict sahen in kulturellen Dispositionen den entscheidenden Faktor für die Steuerung menschlichen Handelns. Die Strukturalisten wie A. R. Radcliffe-Brown oder E. E. Evans-Pritchard sahen dagegen die sozialen Strukturen als entscheidend an. Bourdieu, der seine ersten empirischen Studien als junger Ethnologe bei den kabylischen Berberstämmen in Algerien durchführte, sah es bald als eines der wichtigsten Unterfangen der Theoriebildung an, diese diskursiv hergestellten Dichotomien von Handlung und Struktur, Kulturalismus und Strukturalismus zu vermeiden. Auf der einen Seite hatte er in seinen Forschungen festgestellt, dass Strukturen – sowohl kulturelle als auch ökonomische Strukturen – den sozialen Raum, in dem sich Menschen bewegen, nachhaltig prägen. Hier übernahm er auf der Theorieebene durchaus die deterministischen Implikationen sowohl des anthropologischen Strukturalismus etwa bei Lévi-Strauss als auch des ökonomischen

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Strukturalismus bei Marx und der marxistischen Tradition. Auf der anderen Seite zeigten seine Feldstudien jedoch auch, dass die determinierende Kraft der Strukturen keinesfalls ausreicht, um das konkrete Handeln der Akteure vollständig zu analysieren. Das zentrale theoriepolitische Ziel Bourdieus lag daher in einer Überwindung der schlechten Alternative zwischen ›Objektivismus‹ und ›Subjektivismus‹. Dieser dritte Weg wird von Bourdieu als ›praxeologische Erkenntnisweise‹ bezeichnet und stellt den Anspruch, sowohl die objektiven Rahmenbedingungen als auch die subjektiv-konstruktiven Elemente des sozialen Handelns erfassen zu können: Gegenstand der Erkenntnisweise schließlich, die wir praxeologische nennen wollen, ist nicht allein das von der objektivistischen Erkenntnisweise entworfene System der objektiven Relationen, sondern des weiteren die dialektischen Beziehungen zwischen diesen objektiven Strukturen und den strukturierten Dispositionen, die diese zu aktualisieren und zu reproduzieren trachten; ist mit anderen Worten der doppelte Prozeß der Interiorisierung der Exteriorität und der Exteriorisierung der Interiorität. Diese Erkenntnisweise setzt den Bruch mit der objektivistischen Erkenntnis, setzt die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit und darin nach den Grenzen des objektiven und objektivierten Standpunkts voraus, der, statt aus den verschiedenen Praxisformen das generative Prinzip zu entwickeln, indem er sich auf deren Wirkungen selbst einlässt, sie nur von außen, als faits accomplis, erfasst.3

Gleichzeitig wird der Handlungstheorie vorgeworfen, die Frage nach den immer schon gegebenen Voraussetzungen des Handelns zu vernachlässigen und zu übersehen, dass Sicht- und Handlungsweisen der Akteure stets auch das Ergebnis von strukturell beeinflussten Kämpfen zwischen Klassen und Klassenfraktionen sind. Der praxeologische Ansatz, so Bourdieu, erfasst die Wechselwirkung von Strukturen und Dispositionen, von Handlungen und Rahmenbedingungen. Dies soll mit Hilfe der Begriffe ›Kapital‹, ›Feld‹ und ›Habitus‹ geleistet werden. Um den Zusammenhang zwischen Sozialstruktur und kulturellen Phänomenen gesellschaftstheoretisch klären zu können, erweitert Bourdieu zunächst den Marx’schen Kapitalbegriff. Die Pointe dieser Strategie besteht darin aufzuzeigen, dass Größen wie Lebensstil, Titel, Bildungsabschlüsse, Wohnungseinrichtungen und sogar Essgewohnheiten konkrete sozialstrukturelle Ursachen und Folgen haben. Neben dem ökonomischen Kapital (Geld, Produktionsmittel, Grundbesitz) konzipiert er soziales (Verwandtschaft, Beziehungen), kulturelles (Bildung, Titel, Sprachkompetenz) und schließlich symbolisches Kapital, das als semiotischer Ausdruck und legitime Form der ersten drei Kapitalsorten im Bereich der sozialen Wahrnehmung dient (zum Beispiel Kleidung, Gestik, ›Manieren‹).4 Das symbolische Kapital, dies verdeutlicht Bourdieu in seiner Studie zur Kabylei am Beispiel 3

4

Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, S. 147f. Ebd., S. 335ff.; siehe auch Pierre Bourdieu: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Reinhard Kreckel (Hg.): Soziale Ungleichheiten. Göttingen: Schwartz 1983, S. 183–198; sowie Pierre Bourdieu: Sozialer Raum und »Klassen«. Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, S. 10ff.

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des Ehrverhaltens in einer nordafrikanischen Stammesgesellschaft, kann dabei als eine semiotische Transformation der anderen Kapitalsorten betrachtet werden. Bourdieu geht davon aus, dass sich in der Moderne eine Differenzierung von eigenständigen Handlungsbereichen mit jeweils eigenen Regeln und Legitimitätsnormen vollzieht (Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Politik, Religion etc.). Diese verschiedenen gesellschaftlichen ›Felder‹ strukturieren sich eben nach jenen Machtund Einflussbeziehungen, die sich aufgrund der unterschiedlichen Verteilung von verschiedenen Kapitalsorten konstituieren und den Positionen bzw. den sie ausfüllenden Personen so ihren jeweiligen Ort im Gesellschaftsgefüge zuweisen. Untereinander stehen die verschiedenen Felder ebenfalls in einer strukturhomologen Beziehung: Große Macht auf einem Feld erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass man auch auf einem anderen Feld ein gewichtiges Wort mitreden kann. Gesellschaftliche Realität, das ist eine entscheidende Pointe der Bourdieu’schen Theorie, konstituiert sich nun allerdings nicht nur aufgrund von ›objektiven‹ Strukturen, sondern auch aufgrund des subjektiven Bildes, welches sich die sozialen Akteure von der Wirklichkeit machen. Die Feinabstimmung ist aus der Sicht der Gesellschaft ›gelungen‹, wenn das einzelne Individuum im Laufe seiner Sozialisationsprozesse einen Selbstentwurf entwickelt, der dem von der Gesellschaft für ihn ›vorgesehenen‹ Ort entspricht. Um diesen geheimnisvollen Abstimmungsmechanismus zwischen Gesellschaft und Individuum auch terminologisch herauszustreichen, verwendet Bourdieu den Begriff des Habitus. Damit sind die im Prozess der Sozialisation erworbenen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster gemeint. Wie eine Grammatik des Sozialen steuert der Habitus unser Handeln, ohne dass wir uns überhaupt einer solchen Steuerungsgröße bewusst wären. Auf diese Weise vollzieht sich eine Inkorporierung gesellschaftlicher Strukturen in die Menschen hinein: Der Habitus bewirkt, daß die Gesamtheit der Praxisformen eines Akteurs (oder einer Gruppe von aus ähnlichen Soziallagen hervorgegangenen Akteuren) als Produkt der Anwendung identischer (oder wechselseitig austauschbarer) Schemata zugleich systematischen Charakter tragen und systematisch unterschieden sind von den konstitutiven Praxisformen eines anderen Lebensstils.5

Habitus bezeichnet zwar dauerhafte Dispositionen der Akteure. Das Verhalten wird jedoch nicht mit völliger Sicherheit determiniert, sondern nur mit hoher Wahrscheinlichkeit erwartbar gemacht. Damit wird gerade die Spannung zwischen Regelhaftigkeit und gleichzeitiger relativer Offenheit des Handelns erfasst.6 Sinnlich fassbar wird das überall dort, wo sich tatsächlich eine klassenspezifische Körperlichkeit in Haltungen, Mimik und Gestik ausdrückt. Als unbewusste und in langen Sozialisationsprozessen erworbene Struktur ist dem Habitus dann eine solche Trägheit und Langlebigkeit eigen, dass er das Verhalten über die jeweiligen situativen Bedingungen hinaus prägt. Man denke nur an den verschwenderischen Habitus des verarmten Adeligen. 5 6

Pierre Bourdieu (Anm. 1), S. 278. Pierre Bourdieu (Anm. 3), S. 143ff.

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In der Makroperspektive, so Bourdieus Annahme, liegt die entscheidende Funktion dieser Größe darin, dass sie gegebene gesellschaftliche Konstellationen stabilisiert und reproduziert. Dauerhaftigkeit im Wandel stellt sich also her, weil der Habitus in klassenspezifischer Sozialisation erworben wird und die Sichtweisen der Klassenmitglieder so prägt, dass sie ihren Weg mit großer Wahrscheinlichkeit in der für ihre Klasse vorgesehenen Bahn wählen. Habitus ist die entscheidende Schaltstelle zwischen Individuum und Gesellschaft: Die Gesellschaftsstruktur wird über ihn in das Individuum ›hineingepflanzt‹, und durch die Praxis des Individuums werden die gesellschaftlichen Strukturen gleichzeitig weiter festgeschrieben: [D]er Habitus ist Erzeugungsprinzip objektiv klassifizierbarer Formen von Praxis und Klassifikationssystem (principium divisionis) dieser Formen. In der Beziehung dieser beiden den Habitus definierenden Leistungen: der Hervorbringung klassifizierbarer Praxisformen und Werke zum einen, der Unterscheidung und Bewertung der Formen und Produkte (Geschmack) zum anderen, konstituiert sich die repräsentierte soziale Welt, mit anderen Worten der Raum der Lebensstile.7

Aber: Der Habitus ist nicht nur strukturierende, die Praxis wie deren Wahrnehmung organisierende Struktur, sondern auch strukturierte Struktur: das Prinzip der Teilung in logische Klassen, das der Wahrnehmung der sozialen Welt zugrunde liegt, ist seinerseits Produkt der Verinnerlichung der Teilung in soziale Klassen.8

Der Habitus objektiviert sich schließlich sinnlich wahrnehmbar in sämtlichen Lebensäußerungen und Zeichenverwendungen der Menschen, in ihrem Lebensstil. Bourdieu sieht die konkrete Praxis immer als das Ergebnis des Zusammenwirkens von Habitus und Feldbedingungen an. Die oben angeführten Bestimmungen zeigen dabei, dass letztendlich doch die determinierende Kraft der Strukturen überwiegt. Die ›sozial ererbte‹ Kapitalausstattung der Akteure wie ihre in klassenspezifischer Sozialisation erworbenen Habitusformen steuern das Handeln zwar nicht mit Sicherheit, aber doch mit einer großen Wahrscheinlichkeit, so dass in the long run bestehende Strukturen sich reproduzieren. Zwar bietet die soziale Welt als eine zeichenhaft konstituierte Welt durch Momente der Unbestimmtheit immer auch einen ›archimedischen Punkt‹, an dem politisches als veränderndes Handeln ansetzen kann; daher entbrennt immer wieder zwischen den Akteuren ein Kampf um Benennungen und Benennungsmacht.9 Die Wahrscheinlichkeit steht jedoch eher dagegen. Im Großen und Ganzen bleibt für Kontingenz nur wenig Raum. Dies zeigt sich auch bei der Berücksichtigung situativer, nicht strukturdeterminierter Aspekte in der sozialen Welt. Wohl bringt Bourdieu, so Cornelia Bohn, mit seinem Konzept des ›konjunkturellen Zusammentreffens‹ von Habitus und Feld eine situative Dimension ins Spiel. Gleichwohl nimmt er die Situation als Realität sui generis nicht hinreichend ernst. Die Situation bleibt bei Bourdieu durch die Präsenz sozialstruktureller Merkmale 7 8 9

Pierre Bourdieu (Anm. 1), S. 277f. Ebd., S. 279. Pierre Bourdieu: Sozialer Raum und »Klassen« (Anm. 4), S. 18f.

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und habitueller Prägungen vorstrukturiert und ist letztlich – hier wird Bourdieu Inkonsequenz im Hinblick auf die eigenen Prämissen vorgeworfen – nur ein ›Anwendungsfall‹ stabiler Strukturen.10 Außerdem sind in Situationen oft Kompetenzen erforderlich, die nicht klassenspezifisch erworben, sondern zum Beispiel über die Quantität von feldspezifischen Erfahrungen zu erklären sind. Oft gilt auch die schlichte Weisheit: Wer zu Wort kommen will, muss schnell sein,11 und kommunikative Schnelligkeit ist offensichtlich nicht sozialstrukturell verteilt. Streng genommen widersprechen Bourdieus Konzepte von Habitus und Kapital seiner Feldtheorie. Denkt man daran, dass der Habitus in klassenspezifischer Sozialisation erworben sein und sich gegenüber wechselnden Kontexten stabil verhalten soll, so merkt man, dass hier die deterministischen Tendenzen dieses Begriffes überwiegen. Nähme man Bourdieus plausible Überlegungen zu einem pluralen Nebeneinander und einer Eigendynamik der Felder ernst, so müsste man die Vorstellung von einem klassenspezifischen und somit feldübergreifenden Habitus aufgeben zugunsten einer Vielfalt von feldspezifischen Denk-, Wahrnehmungsund Handlungsmustern. Das schließt keineswegs aus, dass man empirisch – wie ja auch in den Feinen Unterschieden geschehen – durchaus Parallelen und Homologien feststellen kann. Hinzu kommt schließlich, dass Felder immer strukturierte Felder sind. Die Dichotomie zwischen ›hoher‹ und ›niederer‹ Literatur, zwischen Großproduktion und eingeschränkter Produktion (oder, mit York-Gothart Mix: ›wahre Dichtung‹ versus ›Ware Literatur‹12 ) beispielsweise ergibt sich aus ökonomischen und sozialen Mechanismen heraus.13 Und bestimmte Feldpositionen sind nicht beliebig wählbar, sondern ihre Besetzung hängt wiederum von der Verfügbarkeit geeigne10

11 12

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Cornelia Bohn: Habitus und Kontext. Ein kritischer Beitrag zur Sozialtheorie Bourdieus. Opladen: Westdeutscher Verlag 1991, S. 71ff. Ebd., S. 115. York-Gothart Mix: Wahre Dichtung und Ware Literatur. Lyrik, Lohn, Kunstreligion und Konkurrenz auf dem literarischen Markt 1760–1810. In: Markus Joch/Norbert Christian Wolf (Hg.): Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis. Tübingen: Niemeyer 2005, S. 109–135. Pierre Bourdieu: Die Wechselbeziehungen von eingeschränkter Produktion und Großproduktion. In: Christa Bürger/Peter Bürger/Jochen Schulte-Sasse (Hg.): Zur Dichotomisierung von hoher und niederer Literatur. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, S. 40– 61; Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 187ff.; zu Bourdieus Analyse des literarischen Feldes und zur Applikation des Feldkonzepts in der Literaturwissenschaft siehe unter anderem Andreas Dörner/Ludgera Vogt: Literatursoziologie. Literatur, Gesellschaft, Politische Kultur. Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, S. 123ff.; Joseph Jurt: Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995; Ludwig Fischer u. a. (Hg.): »Dann waren die Sieger da«. Studien zur literarischen Kultur in Hamburg 1945–1950. Hamburg: Dölling & Galitz 1999; Markus Joch/Norbert Christian Wolf (Hg.): Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis. Tübingen: Niemeyer 2005; eine Ausweitung auf den gesamten Bereich der Medien findet sich in Georg Mein/Markus Rieger-Ladich (Hg.): Soziale Räume und Praktiken. Über den strategischen Gebrauch von Medien. Bielefeld: transcript 2004.

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ter Kapitalien ab. Auch das Feld erweist sich also in Bourdieu’scher Perspektive als ein Raum, der für Kontingenz und Handlungsfreiräume wenig Platz lässt.

3. Bourdieus Fernsehen Einer der wichtigsten Kommunikationsräume der modernen Gesellschaft wird durch das Fernsehen definiert. Das Fernsehen als soziale Praxis durchzieht in noch immer steigendem Maße das Alltagsleben der meisten Bürger. Es erweist sich nach wie vor als das Leitmedium der Gesellschaft – nicht nur weil beispielsweise der Durchschnittsdeutsche ab dem dritten Lebensjahr pro Tag etwa 212 Minuten vor dem Bildschirm verbringt, Tendenz noch immer weiter steigend.14 Das Fernsehen verfügt auch über die größte Reichweite aller Massenmedien: 89 Prozent der Bevölkerung schauen täglich fern, 95 Prozent zumindest mehrmals die Woche, und die Geräteausstattung hat sich schon seit vielen Jahren konstant auf 98 Prozent eingependelt; das entspricht fast einer Vollversorgung. Andere moderne westliche Gesellschaften weisen ähnliche, mitunter noch höhere Nutzungswerte auf, wenn man beispielsweise an die USA denkt, wo neuerdings schon die Säuglinge mit eigenen Fernsehkanälen bedient werden. Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht überraschend, dass Bourdieu sich – wenn auch vergleichsweise spät – diesem Medium zuwendet. Die zentralen Thesen finden sich in den zwei Vorträgen, die Bourdieu selbst im Fernsehen gehalten hat und die auf Deutsch im Jahre 1998 in einem eigenen Bändchen mit dem Titel Über das Fernsehen veröffentlicht worden sind. Dass Bourdieu hier das Forum des Fernsehens wählt, um mit diesem Medium aus kritischer und aufklärender Funktion abzurechnen, offenbart eine paradoxe Eigenart des Bourdieu’schen Diskurses, die sich an vielen Stellen zeigt und die in mancher Hinsicht typisch ist für die sich ›kritisch‹ verstehende Theorie seit Marx. Ungeachtet aller tendenziell deterministischen Diagnosen der Gesellschaft setzt man doch auf die Kraft der Aufklärung, auf die Möglichkeit, über eine Änderung der Perspektiven auch eine Veränderung der Verhältnisse bewirken zu können. Das impliziert nicht unbedingt eine große Revolution, aber doch schleichende Prozesse der Entzauberung all jener ideologischen Scheinfassaden, die die kapitalistische Gesellschaft zur Stabilisierung ihrer selbst entwickelt hat. Die elementare Bestimmung des Mediums Fernsehen erfolgt, und hier steht Bourdieu tatsächlich in direkter Tradition der ›Kulturindustrie‹-Perspektive der kritischen Theorie,15 durch seine Funktion: Das Fernsehen erscheint als »ein phan14

15

Siehe dazu die aktuellen Daten aus der Langzeitstudie ›Massenkommunikation‹, die seit 1970 die Fernsehnutzung durch die Deutschen quantitativ vermisst: Camille Zubayr/ Heinz Gerhard: Tendenzen im Zuschauerverhalten. Fernsehgewohnheiten und Fernsehreichweiten im Jahr 2006. In: Media Perspektiven 4 (2007), S. 187–199. Siehe dazu das berühmte Kapitel zur »Kulturindustrie« in Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main: Fischer 1971. Zur Tradition der kritischen Medientheorie vgl. Christian Schicha: Kriti-

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tastisches Instrument zur Aufrechterhaltung der symbolischen Ordnung«.16 Das Fernsehen übe »eine besonders schädliche Form von symbolischer Gewalt aus«, »eine Gewalt, die sich der stillschweigenden Komplizität derer bedient, die sie erleiden, und oft auch derjenigen, die sie ausüben, und zwar in dem Maße, in dem beide Seiten sich dessen nicht bewusst sind, dass sie sie ausüben und erleiden«.17 Dieser Funktionsbestimmung liegt die Zuschreibung einer schier unbegrenzten Wirkungsmacht zugrunde, die ebenfalls ihr Vorbild im ›Kulturindustrie‹-Kapitel von Horkheimer und Adorno hat. Die Mediennutzer erscheinen hier wie dort als passive Kulturtrottel, die all jene Inhalte, wie sie in den Medien angeboten werden, unkritisch und ungefiltert in die Köpfe transferiert bekommen. Nur vor dieser impliziten Grundannahme der Nutzerpassivität, die eine nahezu beliebige Formbarkeit der Rezipienten durch das Produkt unterstellt, werden Bourdieus Thesen verständlich, das Fernsehen habe »ein faktisches Monopol bei der Bildung der Hirne eines Großteils der Menschen«18 . Bourdieu scheint hier die Allmachtsfantasien, die die Medienmacher als strategisches Selbstbild entwickelt haben, in seine Medientheorie zu übernehmen: »Über die außerordentliche Macht des vom Fernsehen ausgestrahlten Bildes können die Journalisten Wirkungen ohnegleichen hervorrufen«.19 Alle einschlägigen Studien zur Wirkung von Fernsehsendungen allgemein und von Nachrichtensendungen im Besonderen zeigen, dass Bourdieu das Wirkungspotenzial des Mediums völlig überschätzt. Allerdings wäre Bourdieu viel zu wenig Strukturalist, wenn er nun eine individuelle Schuldzuweisung vornähme. Nicht die journalistischen Akteure oder die Fernsehproduzenten nämlich sind verantwortlich zu machen für die ideologischen Blendwerke, die das Medium täglich in Umlauf bringe. Die Entscheidungen, die im Fernsehen getroffen würden, seien nämlich »subjektlos«, gesteuert durch die ökonomisch bedingte Aufmerksamkeitslogik des Medienmarkts, auf dem ganz klar eine Einschaltquotenmentalität herrsche. Dies bewirke eine Zensur gegenüber all jenen Diskursen, die einer solchen Marktlogik und dem »Druck des Kommerziellen«20 entgegenstünden. Die deterministische Perspektive, die er an die Medien heranträgt, wird konsequenterweise noch einmal strukturtheoretisch zugespitzt, wenn Bourdieu dem »journalistischen Feld« eine »unsichtbare Struktur« zuschreibt, die gleichsam im Rücken der Akteure ihre Wirkung entfaltet: Diese Struktur wird weder von den Fernsehzuschauern noch von den Journalisten wahrgenommen. Sie nehmen die Auswirkungen wahr, sehen aber nicht, wie weit der relative Stellenwert der Institution, in der sie sich befinden, sie selbst, ihre Stellung und ihren Stellenwert innerhalb der Institution bestimmt.21

16 17 18 19 20 21

sche Medientheorien. In: Stefan Weber (Hg.): Theorien der Medien. Konstanz: UVK, S. 108–131. Pierre Bourdieu: Über das Fernsehen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 20. Ebd., S. 21f. Ebd., S. 23. Ebd., S. 27. Ebd., S. 51. Ebd., S. 57.

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Andreas Dörner und Ludgera Vogt

Selbst wenn man an dieser Stelle in Rechnung stellt, dass der Autor für den reichweitenorientierten Diskurs im Fernsehen mancherlei Vereinfachungen und Zuspitzungen in Kauf nimmt, um auch die nicht akademisch vorgebildeten Zuschauer zu erreichen, muss eine solche Aussage doch sehr erstaunen. Nicht nur, dass die Zuschauer ganz im Sinne der ›kritischen‹ Tradition als kulturelle Deppen erscheinen; auch den Journalisten wird hier eine Naivität unterstellt, über die nicht nur viele Fernsehschaffende, sondern auch die Lokalreporter eines Regionalblattes sehr amüsiert wären. Journalisten lernen in ihrer professionalisierten Ausbildung sehr wohl, die Rahmenbedingungen ihrer Tätigkeit auf dem Medienmarkt zu reflektieren. Sie wissen, in welchen Zwängen sie sich bewegen, und sie wissen auch, woraus diese resultieren. Ja, sie können sich bei ihrer täglichen Arbeit in einem gewissen, freilich begrenzten Maße sogar durchaus entscheiden, wie sie jeweils die Strukturerwartungen bedienen, oder auch nach Möglichkeiten suchen, die Logik des Medienmarktes zu unterlaufen. Bourdieus Blick auf das Fernsehen zeigt den deterministischen Strang seiner Argumentation in einer besonders grellen, weil vereinfacht zugespitzten Form. Der Determinismus mündet hier in ein ausgesprochen naives Bild von der Allmacht der Medien. Dieses ist nur durch einen konsequenten Verzicht auf eine differenziertere Sicht sowohl auf Medienmacher wie auf Mediennutzer, also auf die Akteure, ihre Dispositionen und Handlungsweisen aufrechtzuerhalten. Bourdieu opfert in seiner Analyse die empirische Angemessenheit einer normativ-aufklärerisch orientierten Polemik und einem deduktiven Funktionalismus, der glaubt, aus gesellschaftlichen Makrostrukturen ohne Umschweife die Handlungslogik der Akteure auf dem Feld der Massenmedien ableiten zu können – ganz im Sinne der klassischen Maxime Adornos, der zufolge es kein richtiges Leben im falschen geben könne.22

4. Die Perspektive der Mediennutzer: John Fiske, das Vergnügen und der Widerstand Die Bourdieu’sche Fokussierung auf die Macht der Produktionsseite findet ihr diametrales Gegenteil in bestimmten Arbeiten der British Cultural Studies. Die Tradition dieses Paradigmas, das zunächst im Kontext der britischen Linken in den 1950er und 1960er Jahren entwickelt und im Rahmen der Arbeiterbildung auch praktisch angewendet wurde, steht zunächst einmal dem Marxismus Bourdieus

22

Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann u. a. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970ff., Bd. 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980, S. 19. In einer solchen Perspektive erscheint die Frage, ob das Publikum auch etwas wollen (oder sogar handeln) kann, als rein rhetorische Frage; vgl. Th. W. A.: Kann das Publikum wollen? In: Anne R. Katz (Hg.): Vierzehn Mutmaßungen über das Fernsehen. Beiträge zu einem aktuellen Thema. München: Beck 1961, S. 55–66.

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und der kritischen Theorie recht nahe.23 Bald aber entwickelt sich ein Diskurs, in dem die kritische Perspektive verfeinert und von den alten Annahmen der marxistischen Tradition zunehmend abgelöst wird. Medienwissenschaftler wie John Fiske haben seit den 1980er Jahren immer wieder darauf insistiert, dass Populärkultur auch Freiräume und soziale Widerstandspotenziale enthalten kann.24 Man ging aus von der simplen kommunikationstheoretischen Einsicht, dass das, was ein Sender in eine Äußerung hineinsteckt, nicht immer identisch ist mit dem, was ein Empfänger herauszieht. Stuart Hall hat dies in seinem Encoding-Decoding-Modell systematisiert.25 Damit Verständigung zustande kommt, bedarf es einer gewissen Schnittmenge an gemeinsamen Codes. Neben den Gemeinsamkeiten gibt es jedoch immer auch die Möglichkeit der Differenz, die Chance, dass die vom Sender angebotene Vorzugslesart vom Rezipienten mit einer oppositionellen Lesart ›gegen den Strich‹ erwidert wird. Viele Arbeiten der Cultural Studies richten daher konsequent den Schwerpunkt der Aufmerksamkeit auf die eigensinnige Aneignung der Medien durch die Nutzer. Fiske geht so weit, dass er nahezu in jeder medienkulturellen Praxis Potenziale des Widerstands entdeckt, bei Elvis-Fans, die den Tod des King of Rock ’n’ Roll noch immer leugnen, ebenso wie bei jungen Madonna-Fans, die das kommerzielle Angebot in ein Instrument des Widerstands und der emanzipatorischen Artikulation verwandeln, da der ›Text‹ Madonna – wie alle populären Texte – vieldeutig genug für solche Freiräume sei: If her fans are not ›cultural dopes‹, but actively choose to watch, to listen, and imitate her rather than anyone else, there must be some gaps or spaces in her image that escape ideological control and follow her audiences to make meanings that connect with their social experience. For many of her audiences, this social experience is one of powerlessness and subordination, and if Madonna as a site of meaning is not to naturalize this, she must offer opportunities for resisting it. Her image becomes, then, not a model meaning for young girls in patriarchy, but a site of semiotic struggle between the forces of patriarchal control, and feminine resistance, of capitalism and the subordinate, of the adult and the young.26

War bei Adorno das populäre Vergnügen die schöne Verpackung eines unterdrückenden Massenbetrugs, wird es bei Fiske zum kulturellen Kapital, mit dem sich die ›Leute‹ dem Zugriff des ›Machtblocks‹ entziehen können. 23

24

25

26

Zur Genese und Ausdifferenzierung des Paradigmas siehe ausführlich Rainer Winter: Die Kunst des Eigensinns. Cultural Studies als Kritik der Macht. Weilerswist: Velbrück 2001. Einige wichtige Texte Fiskes finden sich in: Rainer Winter/Lothar Mikos (Hg.): Die Fabrikation des Populären. Der John Fiske-Reader. Bielefeld: transcript 2001. Stuart Hall: Encoding/Decoding. In: S. H. u. a. (Hg.): Culture, Media, Language. London: Harper Collins 1980, S. 128–138. Siehe dazu John Fiske: Reading the Popular. Boston: Unwin & Hyman 1989, S. 97; und John Fiske: Elvis: Body of Knowledge. Offizielle und populäre Formen des Wissens um Elvis Presley. In: Karl H. Hörning/Rainer Winter (Hg.): Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 339–377.

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Eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Medienprodukte populär werden, ist Fiske zufolge Polysemie, Mehrdeutigkeit, die einen Text lesbar macht für viele, ganz heterogene Rezipientengruppen. So erklärt sich auch die Popularität des Mediums Fernsehen daraus, dass die televisionären Texte in der Regel ein hohes Maß an Polysemie aufweisen.27 Diese Eigenschaft erklärt sich vor allem aus dem kommerziellen Hintergrund von Unterhaltungskultur. Da die Objekte einerseits möglichst viele Nachfrager auf dem Markt erreichen sollen, die Gruppe des Publikums andererseits jedoch sehr differenziert und heterogen ist, müssen die Texte offen und vielfältig anschlussfähig sein. Diese Polysemie darf allerdings nicht so stark werden, dass der Text semantisch leer und somit völlig beliebig lesbar wird. Stattdessen bedarf er eines Kerns an ›noncontroversial content‹ oder, anders formuliert, an kulturellen Selbstverständlichkeiten, um die herum der Text organisiert ist. Deshalb auch sind populäre Texte in der Regel in einer Balance gehalten zwischen dominanter Ideologie und den multiplen Möglichkeiten widerständiger Lesarten.28 Eine weitere wichtige Voraussetzung von Popularität nach Fiske steht mit der Offenheit der Texte in Zusammenhang. Sie müssen für die Nutzer tatsächlich relevant sein, ihnen auf kognitiver oder emotionaler Ebene etwas geben, das sie in ihrer eigenen Alltagswelt in irgendeiner Weise nutzen können: If the cultural commodities or texts do not contain resources out of which the people can make their own meanings of their social relations and identities, they will be rejected and will fail in the marketplace. They will not be made popular.29

Fiske macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass trotz aller Professionalisierung innerhalb der Kulturindustrie noch immer 80 bis 90 Prozent aller Produkte, die auf den Markt gebracht werden, nicht erfolgreich sind. Die Kulturkonsumenten scheinen in diesen Produkten also die Relevanz für ihr eigenes Leben zu vermissen, sie sortieren sie aus. Die sozialen Relevanzen aber stehen oft quer zur hegemonialen Ideologie, und daraus erwächst für die populärkulturelle Praxis ein Widerstandspotenzial. Anders als in Horkheimers und Adornos Formel »Vergnügt sein heißt einverstanden sein«30 sind für Fiske die ›pleasures‹ der Unterhaltungskultur durchaus mit einer Zurückweisung von hegemonialen Deutungsmustern und Identitätszumutungen vereinbar, indem die Akteure sich ihre Kulturobjekte eigensinnig und kreativ auf ihre Bedürfnisse hin aneignen. Grundsätzlich lassen sich dabei zwei Typen des Widerständigen beobachten: Entweder entziehen sich die Menschen – wie punktuell auch immer – den homogenisierenden Kräften der hegemonialen Kultur, indem sie sich beispielsweise ungehemmt körperlichen Vergnügungen hingeben. Keinesfalls ist das ein trivialer Prozess, denn auf der mikrosozialen Ebene werden in der Regel auch die mentalitären Grundlagen für politische Prozesse und Aktivitäten gelegt. Daher gilt: »Evasion is 27

28 29 30

Vgl. John Fiske: Television. Polysemy and Popularity. In: Critical Studies in Mass Communication 3 (1986), S. 391–408. Vgl. John Fiske: Television Culture. London: Methuen 1987, S. 321. John Fiske: Reading the Popular. Boston: Unwin & Hyman 1989, S. 2. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno (Anm. 15), S. 130.

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the foundation of resistance«.31 Oder aber es findet eine Entfaltung von semiotischer Macht statt, wenn man die Texte ›gegen den Strich‹ liest, eigene Bedeutungen und Wertungen lanciert und letztlich ganz anders kommuniziert und denkt, als dies im hegemonialen Block vorgesehen ist. Aus dieser Art der Aneignung ergibt sich ein semiotisches ›Empowerment‹ und eine Selbstachtung der Individuen, die sich von den ideologischen Vorgaben lösen können. Dies alles sind, so resümiert Fiske, zwar keine revolutionären Prozesse, aber sehr wohl kleine Verschiebungen im komplexen Geflecht von Kultur, die langfristig zur Erosion der Hegemonie führen können. Wenn also Fans aus den kommerziell orientierten Texten von Madonna widerständige Lesarten gegen Patriarchat und Herrschaft entwickeln, verbinden sie das Vergnügen mit der Kritik. Ein weiteres Beispiel Fiskes, auf das hier genauer eingegangen werden soll, beobachtet Obdachlose in einem kirchlichen Heim. Hier werden ihnen bestimmte Möglichkeiten der kulturellen Betätigung eröffnet, dafür aber auch genaue Vorschriften und Verbote erteilt. Fiske zeigt in seiner Ethnografie, wie die Akteure eigensinnig ihre Aneignung des kulturellen Raums betreiben.32 So lesen die Heiminsassen unter dem Deckblatt von dort ausliegenden seriösen Magazinen wie Time ihre Pornomagazine, die in den Aufenthaltsräumen des Heims eigentlich verboten sind. Sie lehnen den Bereich des pädagogisch vorgegebenen, ›korrekten‹ Kulturkonsums auf heimliche Weise ab. Weiterhin beschreibt Fiske die Rezeption des Action-Films Die Hard in der Runde der Obdachlosen. Sie sehen sich ein Videoband, das sie in der öffentlichen Bibliothek kostenlos ausleihen konnten, gemeinsam an. Der Film erzählt die Geschichte eines Polizisten, der zufällig in einen Überfall von Terroristen auf eine japanische Firma in Los Angeles gerät und dann in einem typischen HollywoodSzenario allein den Kampf gegen die Bösen aufnimmt und gewinnt. Fiske zeigt auf, wie die Rezipienten den Film ›gegen den Strich‹ lesen. So wird laut bejubelt, dass die Terroristen einen Panzerwagen der Polizei samt Besatzung in die Luft jagen. Und auch die Tötung einer Geisel, des Firmenvorsitzenden, dessen Bildungs- und Aufstiegskarriere von den Terroristen vor dessen Liquidierung demonstrativ verlesen wurde, stößt auf großen Beifall. Nachdem der Film jedoch seine Wendung ›zum Guten‹, das heißt zum Sieg des Polizisten über die Terroristen genommen hat, sind die Obdachlosen kaum noch interessiert. Lange vor dem Ende des Films wird das Videoband abgeschaltet. Das Publikum genießt hier also die Destruktion der etablierten Ordnung und ihrer Repräsentanten ganz unverhohlen, es durchlebt gleichsam für kurze Zeit deren Überwindung. Die Zuschauer demonstrieren mit ihrem Beifall die Ablehnung der normalen Welt, während die Restituierung der Ordnung auf ihr Desinteresse stößt. Die Akteure entziehen sich durch Abschalten des Films der integrativen Wirkung der Geschichte, die den Sieg der institutionellen Ordnung als HappyEnd für die gesamte Gesellschaft inszeniert. Das Vergnügen der Obdachlosen scheint gerade darin zu liegen, dass sie während ihrer kollektiven Gruppenrezep31 32

John Fiske (Anm. 29), S. 9. John Fiske: Power Plays, Power Works. London: Verso 1993, S. 1–5.

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tion gemeinsam demonstrativ ihre Ablehnung der etablierten Ordnung und somit ihre Selbstachtung inszenieren. Der theoretische Rahmen, innerhalb dessen Fiske derartige vergnügte Widerstandsaktionen analysiert, wird durch ein Konzept von zwei parallel geschalteten Ökonomien definiert. In der finanziellen Ökonomie produzieren Akteure im Kontext der Kulturindustrie bestimmte Güter und Dienstleistungen und bieten sie auf Märkten an. Dort finden sich jeweils mehr oder weniger interessierte Abnehmer, die für die Waren und Dienstleistungen bezahlen. In dieser Ökonomie ist der in Geldwerten ausgedrückte Tauschwert das Maß aller Dinge. Geld fungiert als zentrales Steuerungsmittel. In der kulturellen Ökonomie dagegen dominiert der Gebrauchswert, das heißt an Stelle des Geldwertes werden Bedeutungen, Vergnügungen und soziale Identitäten realisiert. Kulturelle Güter haben dabei keinen festgelegten Gebrauchswert, sondern einen variablen, der sich immer erst im konkreten Prozess der Aneignung konstituiert.33 Fiske verweist in diesem Zusammenhang auf eine ganze Reihe von empirischen Studien, in denen die Diversität von Aneignungsprozessen herausgearbeitet werden konnte.

5. Fazit Bourdieus Pauschalverdammung des Fernsehens und der Populärkultur findet bei Fiske also eine spiegelbildliche Position in der Hymne auf das befreiende Potenzial des Populären. Ein solcher Kulturhedonismus meint noch im Schunkeln des Musikantenstadls das Potenzial einer semiotischen Guerilla entdecken zu können. Medienunterhaltung, so unsere These, ist jedoch weder identisch mit einer hegemonialen Täuschungsmaschinerie der kapitalistischen Kulturindustrie, noch ist sie per se der Aktionsraum widerständiger Kulturpartisanen. Populäre Bildwelten sind nicht einfach der Niederschlag einer hegemonialen kulturellen Ordnung. Sie sind vielmehr Schauplatz von Inszenierungen, konkurrierenden Entwürfen und Zuschreibungen, die dann wiederum Gegenstand der Aneignung durch konkrete Zuschauer werden. Diese Bilder können sich dauerhaft nur dann im öffentlichen Raum behaupten, wenn sie ›relevant‹ sind für die Alltagswelten des Publikums. Und diese Bilder erfahren ihre Erdung erst im Prozess der Aneignung, die den Transfer von der Medien- in die Alltagswelt vollzieht. Erst in dieser Dualität von Angebot und Aneignung wird die komplexe Realität symbolischer Ordnungen in der Mediengesellschaft angemessen erfassbar. Die Medienrealität in der Gegenwartsgesellschaft ist somit anders beschaffen, als es Bourdieus in letzter Konsequenz deterministischer Blick unterstellt. Zum einen sind das Habitus-Konzept wie das Feld-Konzept ungeachtet des deklarierten ›dritten Wegs‹ zwischen Objektivismus und Subjektivismus in unterschiedlicher Weise strukturalistisch gedacht. So dominiert die strukturierende Kraft der ökonomischen ›Basis‹, wie sie sich im Zugang der Akteure zu verschiedenen Kapitalsorten äußert und wie sie sich über die klassenspezifische Sozialisation als Habi33

John Fiske (Anm. 28), S. 311.

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tualisierung in die Akteure hinein inkorporiert. Und die Feldstrukturen bieten jeweils rigide Rahmenbedingungen für das Handeln, die den Intentionen und Strategien der Akteure enge Grenzen setzen. In dieser Perspektive bleibt für Kreativität und Kontingenz nicht viel Raum. Dieser Determinismus schlägt sich in Bourdieus Fernseh-Analyse vor allem in der Perspektive auf die Rezipienten nieder, die ganz im Sinne der marxistischen Tradition als passive, der Macht der Produktion völlig ausgelieferte Subjekte erscheinen. Demgegenüber betont die von John Fiske vertretene Variante der British Cultural Studies die Kreativität und Widerstandsfähigkeit der Rezipienten, die in der Lage sind, dem hegemonialen Diskurs der Herrschenden subversive Strategien des Entziehens oder der Uminterpretation von Kulturprodukten entgegenzusetzen. Auch wenn es insgesamt schwerfällt, dem Widerstandspathos Fiskes zu folgen, so macht er doch auf Handlungsräume aufmerksam, die sich der Eigensinn der aneignenden Akteure zu erarbeiten vermag. Und die neueren Forschungen zur Aneignungsaktivität von Mediennutzern bestätigen eindrucksvoll, dass das Bild vom passiven ›Empfänger‹ medialer Nachrichten an der vorfindbaren Realität deutlich vorbeigeht.34 Selbst dort, wo die Fernsehproduktion eindeutig einer kommerziellen Logik folgt, können Mediennutzer neben populären Vergnügungen auch hilfreiche Diskurse für ihre Positionierung und Identitätsbildung daraus ziehen. Dies konnten wir in einer eigenen kleinen Fallstudie herausarbeiten, die zeigt, wie Jugendliche und junge Erwachsene sich ein Trash-Format wie die RTL-Show Ich bin ein Star, holt mich hier raus aneignen.35 Während Medienethiker heftige Kritik an dem Format äußerten und es als jugendgefährdend einstuften, nutzen die Rezipienten das Ganze, um in Internetforen über Werte wie Achtung und Respekt zu diskutieren sowie Stellung zu bestimmten Aspekten des Generationenkonflikts zu nehmen. Die Fernsehsendung wird hier zum Ausgangspunkt für konstruktive Anschlusskommunikation. Dies ist keineswegs immer mit großen Verweigerungsgesten oder kulturellen Widerstandsakten verbunden, wie Fiske unterstellt. Aber der empirische Blick auf die Rezeption zeigt, dass der Eigensinn der Mediennutzer sich seine Freiräume in der Alltagswelt sucht, die über eine zum Determinismus neigende Strukturtheorie nicht mehr angemessen zu erfassen sind.

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Siehe dazu beispielhaft etwa Rainer Winter: Der produktive Zuschauer. Medienaneignung als kultureller und ästhetischer Prozeß. Berlin: Quintessenz 1995; Udo Göttlich/ Friedrich Krotz/Ingrid Paus-Haase (Hg.): Daily Soaps und Daily Talks im Alltag von Jugendlichen. Opladen: Westdeutscher Verlag 2001; Werner Holly/Ulrich Püschel/Jörg Bergmann (Hg.): Der sprechende Zuschauer. Wie wir uns Fernsehen kommunikativ aneignen. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2001. Andreas Dörner: Respekt im Regenwald. Über Inszenierung und Aneignung von gesellschaftlichen und politischen Ordnungsmustern im Unterhaltungsfernsehen. In: Herfried Münkler/Hartmut Kaelble (Hg.): Zur Visualisierung von Gesellschaft und politischer Ordnung. Berlin: Akademie-Verlag 2008 (im Erscheinen).

Jochen Strobel (Marburg)

Der Großschriftsteller als Fernsehstar Heinrich Breloers Fernsehproduktion Die Manns1

Erscheint es Ihnen lang her oder war es eher gestern? [. . .] Es war eigentlich gestern, da haben Sie ganz Recht.2

1. Nach der Logik einer »Ökonomie der Aufmerksamkeit«3 muss sich das Gespann Thomas Mann/Heinrich Breloer nicht mehr legitimieren: Die ihnen zuteil gewordene Aufmerksamkeit spricht für sich; messbar ist sie als Zuschauerquote bei diversen Fernsehausstrahlungen des 2001 zuerst gesendeten Dreiteilers, als Verkaufszahl von DVDs und Begleitbüchern, schließlich in gewonnenen Preisen und Lobeshymnen des Feuilletons. Thomas Mann besitzt jene Autorität, die unseren Zeitgenossen (noch) verwehrt ist. Er dürfte heute auf dem Höhepunkt seines Ruhms angelangt sein, denn er gilt nach zwei Thomas-Mann-Jahren, die dem 125. Geburtstag und dem 50. Todestag galten, nicht nur als »Übervater der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts«4 , sondern auch als repräsentativer Deutscher dieses Säkulums überhaupt. So trägt Donald Praters umfängliche Biografie den Untertitel »Deutscher und Weltbürger«,5 ist der »Weltdeutsche« zum Topos der Forschung geworden.6 Die Person Thomas Mann ist längst und wird immer mehr zur mythischen Personificatio wertvoller, aber rettungsbedürftiger Traditionen: »Deutscher, Europäer, Weltbürger: In diesem Bezugsrahmen steht Thomas Mann als Zeitzeuge des 20. Jahrhunderts einzigartig

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Die Manns – Ein Jahrhundertroman. Arte 5./6./7. 12. 2001, ARD 17./19./21. 12. 2001. Buch: Horst Königstein; Buch und Regie: Heinrich Breloer, Kamera: Gernot Roll, Schnitt: Monika Bednarz-Rauschenberg, Olaf Strecker. Interview Heinrich Breloers mit Hilde Kahn-Reach. Zitiert nach dem Begleitband zur Fernsehproduktion: Heinrich Breloer/Horst Königstein: Die Manns. Ein Jahrhundertroman. Frankfurt am Main: S. Fischer 2001, S. 308. Vgl. Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. München: dtv 2007. Hans Wißkirchen: Editorial. In: Das zweite Leben. Thomas Mann 1955–2005 [Magazin zur Ausstellung Lübeck 2005], S. 3. Vgl. Donald Prater: Thomas Mann. Deutscher und Weltbürger. Eine Biographie. München, Wien: Carl Hanser 1995. Thomas Goll: Die Deutschen und Thomas Mann. Die Rezeption des Dichters in Abhängigkeit von der Politischen Kultur Deutschlands 1898–1955. (Würzburger Universitätsschriften zu Geschichte und Politik 1) Baden-Baden: Nomos 2000, S. 58.

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Jochen Strobel

da. [. . .] Er verkörperte geradezu das Gewissen der humanistischen Tradition Europas«.7 Das Gedenkjahr 2005, aus Anlass von Thomas Manns 50. Todestag, bot nicht nur der Mann-Gemeinde vielfältige Anlässe zu loben und zu rühmen. Den wissenschaftlichen Ertrag sammelt etwa ein Band mit dem Titel Vom Nachruhm8 , von dem zu lernen ist, wie im 21. Jahrhundert ein klassisch gewordener Autor gefeiert wird, ist doch Thomas Mann erst jetzt, um und nach 2000, tatsächlich jener Nationalschriftsteller geworden, von dem seine Texte immer schon reden, der er aber als von wechselnden Mehrheiten zu Lebzeiten Ungeliebter tatsächlich nicht war. Heute scheint Thomas Mann jener tote Dichter zu sein, auf den alle an Literatur Interessierte sich einigen können. ›Thomas Mann 2005‹ zeigt, was im literarischen Betrieb zwischen dem Purismus des Lesens und Verstehens einerseits und den Zwängen des Medienbetriebs an Kompromissleistungen andererseits möglich ist. Versammelt ist – wieder einmal – Thomas Manns Familie: Der Autor erscheint seit den neunziger Jahren und verstärkt seit Heinrich Breloers Fernsehfilm als Agent und Zentrum eines Familien-Beziehungsnetzes, das es vielen Protagonisten erlaubt, sich zugehörig zu fühlen. Hans Wißkirchen, der Direktor des Lübecker Buddenbrook-Hauses, hat 2005 das Problem der medial erzeugten, fast unliterarischen Popularität benannt, die Thomas Mann heute für sich in Anspruch nehmen kann: »Man braucht das Werk nicht mehr, um die Familie bedeutend zu finden.«9 Eine Thomas-Mann-Rezeption unter genealogischen Vorzeichen kann aber erst zu einer Zeit einsetzen, in der Familien- und Generationsgeschichten boomen,10 in der parallel demografisch und gentechnologisch motivierte Debatten um Zeugung und Vererbung, um Elternschaft und Familie eingesetzt haben. Das Augenmerk gilt also in den letzten Jahren zunehmend der ›Familie Mann‹. Und so werden heute die Manns wahlweise als die deutschen Kennedys oder die deutschen Windsors gehandelt,11 wo7

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Michael Braun/Birgit Lermen: Vorwort. In: M. B./B. L. (Hg.): Man erzählt Geschichten, formt die Wahrheit. Thomas Mann – Deutscher, Europäer, Weltbürger. Frankfurt am Main u. a.: Lang 2003, S. 7–12, hier S. 7 und 9. Vom Nachruhm. Beiträge zur Lübecker Festwoche 2005 aus Anlass des 50. Todesjahres von Thomas Mann. Hg. von Ruprecht Wimmer und Hans Wißkirchen. (Thomas-MannStudien 37) Frankfurt am Main: Klostermann 2007. Hans Wißkirchen auf der Lübecker Thomas-Mann-Tagung 2005. Zitiert nach: Edo Reents: In der Goldschmiede. Unabgegolten: Die Lübecker Tagung zu Thomas Mann. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. 8. 2005, S. 31. Zur »Wiederentdeckung der Familienbande in der Gegenwartsliteratur« vgl. Sigrid Weigel: Familienbande und Vergangenheitspolitik im Generations-Diskurs: Abwehr von/ Sehnsucht nach Herkunft. In: S. W.: Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften. München: Fink 2006, S. 87–105, hier S. 87ff. – Siehe auch das fiktive, parodistische ›Gutachten‹ Dorothea Dieckmanns in D. D.: Eine schrecklich nette Familie. Vorschlag für eine TV-Vorabendserie. In: Neue Rundschau 112 (2001) 3, S. 100–109. Erstmals offenbar in einer Homestory der Illustrierten Bunte vom 28. 4. 1994, deren Schlagzeile lautet: »Die Manns. Eine deutsche Familie. Vier Selbstmörder, ein Nobelpreis, zwei inzestuöse Neigungen, homoerotische Väter und Söhne. Genial und reich. Und

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bei doch auch Unterschiede bestehen, wie etwa die Dominanz einer Person und der offenkundige Mangel an charismatischen Nachfolgern. Eine Funktion der ursprünglich adeligen Großfamilie ist dabei besonders bedeutsam: Sie ist eine Maschine zur Erzeugung homogener Funktionseliten, deren Zugangsmerkmal nicht vorwiegend Leistung ist, sondern traditionell Erziehung und Beziehungen, wobei Erziehung im weitesten Sinn die Vermittlung von Vorbildern des Verhaltens und des Lebensstils meint, die im Elternhaus ausgeprägt sind und weitertradiert werden.12 Diese Familiengeschichte ist als Teil einer deutschen als deutsch-jüdische Geschichte zu lesen, auch sie ist heute nur von der NS-Zeit her zu denken. Umgekehrt erfolgt, wie Harald Welzer gezeigt hat, die Konstruktion der nationalsozialistischen deutschen Vergangenheit über ein emotional konstituiertes Familiengedächtnis. Alterität und Vertrautheit durchdringen einander, wie in den um 2005 häufig gewordenen Geschichten der Vatersuche generell: Einerseits sind wir, so der Gestus von Heinrich Breloers Film Die Manns ebenso wie derjenige von Wibke Bruhns’ Bestseller Meines Vaters Land, alle Kinder von Vätern, andererseits ist keine familiale Instanz so rätselhaft (und so notorisch abwesend) wie der Vater. Es geht zur Abwechslung also nicht um einen verlorenen Sohn, sondern um den verlorenen Vater, den lange vermissten Patriarchen, auch den hinter seiner Maske und hinter seinen Fiktionen verborgenen Zauberer und Repräsentanten. Indem sich offenbar zahlreiche Leser heute darum bemühen, die Wahrheit hinter Thomas Mann und seiner Familie zu finden, machen sie sie zur eigenen Familie und wird die Familiensuche zur Selbstsuche und schließlich zur Suche nach dem VaterLand. Ganz im Gegensatz zum heutigen Mann-Boom stand 1975 die Umstrittenheit vor allem des ›Unpolitischen‹. In dem noch vom Ideal der Progressivität von Literatur bestimmten Post-68er-Klima durfte Manns Ästhetizismus als Skandal gelten, wie Hanjo Kestings berüchtigte Generalabrechnung immer noch am besten dokumentiert: »Als politischer Mensch war Thomas Mann ein Erbe des deutschen Irrationalismus. Er hat ihn nie wirklich überwunden. Politik war für ihn eine Funktion des Überbaus, der Kunst, er analysierte sie nicht mit politischen, sondern mit ästhetischen Kategorien.«13 Es spricht manches dafür, die Zäsur der Mann-Rezeptionswelle um 1990 herum anzusetzen: Nicht nur schienen die nun komplettierten Tagebuchbände dem Leser einen menschlicheren (auch: den homosexuellen) Thomas Mann näherzubringen, vielmehr dürfte er als in Ost und West geschätzter Autor auch ein einsamer Kandidat für den virtuellen Lesekanon des wiedervereinigten Deutschland gewesen sein. Mangels ausführlicher Studien zur Thomas-Mann-Rezeption der vergangenen Jahrzehnte bleibt dies allerdings eine Hypothese.14

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13

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so ziemlich das Verzweifeltste, was man sich vorstellen kann«. Zitiert nach: Das zweite Leben (Anm. 4), S. 55. Vgl. Volker Reinhardt: Einleitung. In: V. R. (Hg.): Deutsche Familien. Historische Portraits von Bismarck bis Weizsäcker. München: Beck 2005, S. 7–24, hier S. 20f. Hanjo Kesting: Thomas Mann oder der Selbsterwählte. In: Der Spiegel 29 (1975) 22, S. 144–148, hier S. 145. Vgl. aber Das zweite Leben (Anm. 4), S. 42ff. und S. 54ff.

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Zu fragen bleibt danach, ob eine Großproduktion des deutschen Fernsehens wie Heinrich Breloers und Horst Königsteins Trilogie Die Manns (2.) das Bild des längst kanonisierten ›Werkes‹ Manns, vielleicht auch das Bild seiner Person, verändert, stilisiert, vereinfacht. Das ›Bild‹ des Werkes meint allgemein die Rede über Manns Texte; sie selbst stehen nicht im Vordergrund, insofern Breloers Film keine Literaturverfilmung ist, nicht etwa einen fiktionalen Text ›übersetzt‹. Nun ist diese Frage beinahe müßig, wenn es um einen etwas bemühten Vergleich zwischen der vielfach, auch wissenschaftlich, rekonstruierten Werkbiografie Thomas Manns und einem fünfstündigen Fernsehfilm geht: Breloers Film soll und kann kein Pendant zur Thomas-Mann-Forschung sein; der Regisseur verwahrt sich explizit gegen eine Überschreitung der Grenze zum wissenschaftlichen Feld.15 Daher tangiert ihn Pierre Bourdieus Kritik am Fernsehen (3.) auch nur partiell. Von Interesse ist aber, wo genau jene Stilisierungen und Verkürzungen einsetzen und woraus sie ihre Legitimation beziehen. Breloer kann sich in seinem Vorgehen nämlich auf Thomas Manns eigene Techniken der Selbstkanonisierung und Popularisierung stützen und sie zudem aktualisieren, für den heutigen Fernsehzuschauer funktionalisieren. Es handelt sich um die Verwischung der Grenze von Fiktionalem und Faktualem, hier: von ›Werk‹ und ›Biografie‹ (4.), um die Einbettung des Fiktionalen in genealogische Ordnungen, vor allem die der Familie, (5.) sowie um das auf Nietzsche zurückgehende Prinzip der ›doppelten Optik‹ (6.), das auf eine nur scheinbar paradoxale Ästhetik des Esoterischen und zugleich Exoterischen hinausläuft, ein zweifach codiertes Kunstwerk gleichzeitig im Subfeld der eingeschränkten Produktion wie in dem der Massenproduktion platziert. In mindestens zweierlei Hinsicht geht Breloer über Mann hinaus: Erstens instrumentalisiert er das Mann’sche Familiengedächtnis für eine bestimmte Lesart deutscher Geschichte und sogar nationaler Identität, zweitens zielt er als Fernsehjournalist erkennbar auf ›Wahrheit‹ und ›Wissen‹, versucht letztlich die Autonomie des literarischen Feldes auf eine Erklärung der Lebenswirklichkeit hin zu überschreiten, wo doch alles, was Thomas Mann je verlauten ließ, immer schon Text der Literatur war und meist als solcher primär auch wahrgenommen wurde, auch wenn der Großschriftsteller als ›Wanderredner der Demokratie‹ (Thomas Mann) unterwegs war.

2. Man darf Heinrich Breloers und Horst Königsteins Dreiteiler von 2001 als gleichermaßen erfolgreich wie umstritten bezeichnen. Der Evangelische Pressedienst resümierte: Breloers Film »nähert sich der Hochkultur durchs Souterrain. Wie 15

Laut Breloer fordert das Genre ›Fernsehfilm‹, »eine Geschichte so zu erzählen, dass sie an drei Abenden von einem Millionenpublikum angenommen wird. Im Mittelpunkt steht dabei die Darstellungstreue, die Wahrheit der Charaktere, die ja alle gelebt haben und noch leben. Ihre Wiedergabe im Film muss einem besonders prüfenden Blick standhalten. Das kann allerdings nicht – vielleicht so oder so niemals – mit wissenschaftlicher Ausführlichkeit geleistet werden. Ein Film verlangt Vereinfachung und Verdichtung zugleich« (Heinrich Breloer/Horst Königstein [Anm. 2], S. 450).

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angekündigt, geht es bei den ›Manns‹ nicht um die als Quotengift gefürchtete Literatur, sondern ums pralle Literaten-Leben – um so viel Sex, Suff und Selbstmord wie möglich«.16 Es nimmt nicht wunder, dass Marcel Reich-Ranicki, der oberste deutsche Mann-Exeget, dies ganz anders sah: Der dreiteilige Film Die Manns – das ist ein Glanzstück, ein Höhepunkt der deutschen Filmkunst. [. . .] Thomas Mann, er, der Emigrant, der in Deutschlands Unglück Deutschlands Glück war – jetzt erst ist er ganz heimgekehrt. Diese Heimkehr ist ein nationales Ereignis. Und wir haben es – das sei einmal klar gesagt – dem Fernsehen zu verdanken.17

Es dürfte Konsens darüber bestehen, dass Thomas Mann nun endgültig vom Autor zum Medienstar wurde – er trägt Armin Mueller-Stahls Züge. Stephen Lowrys Definition des Stars ist fast durchgängig auf Breloers Thomas Mann anwendbar; zu beachten ist der Primat der massenmedialen Vermittlung, sodann aber der Verweis auf die zugrunde liegende (künstlerische) Leistung: Unter einem Star versteht man eine durch die Medien bekannt oder berühmt gewordene Person, insbesondere Schauspieler, Sänger oder Sportler, die durch ihr Image, d. h. durch Vorstellungsbilder von ihren Eigenschaften und ihrer Erscheinung charakterisiert sind. [. . .] Die Attraktivität und die Images von Sportlern, Musikern, Künstlern und ähnlichen Stars basieren auch auf ihrem Erfolg, ihrer Arbeit und ihren Taten. Dadurch setzen sich Stars von anderen Prominenten, Celebrities und Medienpersönlichkeiten ab, die nur als Personen und nur durch ihre Präsenz in der Öffentlichkeit bekannt sind. [. . .] [Es] werden erst diejenigen zu Stars, die auf einen signifikanten Teil der Bevölkerung positiv wirken und Themen verkörpern, die aktuell und für die Gesellschaft oder zumindest eine bestimmte Fangruppe relevant sind.18

Die Relevanz Manns beruht auf seiner familialen und historischen Kontextualisierung, nur in zweiter Linie auch auf seinen künstlerischen und intellektuellen Leistungen. Freilich gab es für den Regisseur ein wesentliches Kriterium für die Wahl seines Gegenstands; das ist nicht nur der Wunsch, irgendeinen repräsentativen Deutschen dem Fernsehpublikum vorzuführen; es sollte eine Identifikationsfigur für den Journalisten Breloer sein, ein Intellektueller, ein Aufklärer: »[W]ir sind von der Fraktion der Aufklärung. Die Großen der deutschen Literatur, Lessing, Goethe, Schiller, Kleist, Brecht[,] Thomas Mann – das waren vor allem meine Vorfahren.«19 16 17

18

19

Epd Medien vom 12. 12. 2001. Zitiert nach: Das zweite Leben (Anm. 4), S. 58. Marcel Reich-Ranicki: Ein nationales Ereignis. Heinrich Breloers Fernsehfilm bedeutet Thomas Manns endgültige Heimkehr. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. 12. 2001, S. 43. Stephen Lowry: Star. In: Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien, Diskussionen. Hg. von Hans-Otto Hügel. Stuttgart, Weimar: Metzler 2003, S. 441–445, hier S. 441f. Wir wollten es einfach wissen. Heinrich Breloer im Gespräch mit Georg Feil. In: Georg Feil (Hg.): Dokumentarisches Fernsehen. Eine aktuelle Bestandsaufnahme. Konstanz: UVK 2003, S. 109–137, hier S. 114. Breloers Aufklärungsbegriff bleibt einigermaßen im Dunkeln; er erinnert verschwommen an 68er-Vorstellungen von progressiver Kunst, während der oben genannte Katalog (abgesehen von Brecht) schlicht den traditionellen Kanon des Bildungsbürgertums zitiert, an den Breloer offenbar auch anschließen will. – Zur Frage der Aktualität siehe weiter unten.

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Der Film spielt zwischen 1923 und 1955 und kreist damit um die Kernzeit der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts von 1933 bis 1945. Wie selbstverständlich endet ein Film, der Die Manns betitelt ist, mit Thomas Manns Tod; er beginnt zu einer Zeit, da Mann begonnen hat, sich als Autor für die Weimarer Republik zu engagieren. Der Ruhm ist bereits da, er muss nur noch verwaltet werden. Manns Positionierungen im literarischen Feld sind nicht von Anpassungs- und Innovationsdruck gekennzeichnet, wie dies möglicherweise für die früheren Lebensjahre gilt. Im Gegensatz zum Bruder Heinrich und zum Sohn Klaus bleibt Thomas Mann der Erfolg auch im Exil treu, das heißt die einer Krise des politischen Feldes geschuldete Verunsicherung der Lebenssituation erschüttert Manns Position im literarischen Feld nur begrenzt. Damit nimmt der Film auch die Perspektive des Zeitgenossen um 2000 ein, für den Größe und Prominenz Manns unhinterfragte Voraussetzungen sind. Die problematischeren Jahre, das Plädoyer für den Krieg von 1914, die politisch schwankende Haltung um 1918, aber auch das menschliche und familiale Desaster, das sich in der offenen Feindschaft zum Bruder Heinrich offenbart hatte, bleiben ganz außen vor. Der große Mann kommt dem Zuschauer privatim näher, gerade als Autor aber bleibt er geheimnisvoll. Das Arbeitszimmer, der eigentlich tabuisierte Ort des Films, birgt und verbirgt das Geheimnis des Genies. Häufig hingegen sind Szenen, in denen Mann das Arbeitszimmer verlässt und seinen Auftritt auf der Familienbühne folgen lässt. Die eigentliche Arbeit Manns – es scheint sich dabei um Zauberei zu handeln. Damit folgt der Film dem alten Mythos des ›Ingenium est ineffabile‹.20 Der Film ist ein Dokudrama, eine dokumentarisch-fiktionale Mischform. Breloers Spezialität ist dabei das gleichberechtigte Nebeneinander von Fiktion und Dokumentation. Archivmaterial, aktuelles Interviewmaterial (hauptsächlich durch die jüngste Tochter und Kronzeugin Elisabeth Mann Borgese bestritten), die Interviewstimme Breloers sowie der Off-Kommentar eines Erzählers wechseln mit Spielszenen, die, auf Interviewpassagen folgend, offenbar Nachstellung von Erinnerungen sind oder es zu sein scheinen. Historische Schauplätze werden aufgesucht oder nachgebaut. Die Fiktion knüpft an das Dokumentarische an; kalkulierter Effekt beim weniger kritischen Zuschauer dürfte der Glaube sein, der historischen Wahrheit teilhaftig zu werden, dabei zu sein. Der Film suggeriert, dass er Erinnerungen an wirklich Erlebtes sichtbar machen könne, zeigen könne, wie es wirklich gewesen ist. Die Korrespondenzen zwischen fiktionalen und dokumentarischen Szenen sind oft so aufdringlich, dass diese Rezeptionshaltung unterstützt wird, obgleich das Konzept doch auf einer »Konstruktion der Fiktion im Modus des Dokumentarischen«21 beruht. Breloer bekennt denn auch: »Es war eine besondere Herausforderung für die Schauspieler, gegen die dokumentierten Vorbilder zu spielen.«22 Zugleich pflegt er eine Emphase der Wahrheit des Dokumentarfilms, 20

21 22

Vgl. Günter Blamberger: Das Geheimnis des Schöpferischen oder: Ingenium est ineffabile? Studien zur Literaturgeschichte der Kreativität zwischen Goethezeit und Moderne. Stuttgart: Metzler 1991; unter anderem zu Thomas Manns Schiller-Novelle Schwere Stunde, die das Geheimnis des Hervorbringens zum Thema macht. Knut Hickethier: Film- und Fernsehanalyse. Stuttgart, Weimar: Metzler 32001, S. 205. Heinrich Breloer/Horst Königstein (Anm. 2), S. 451.

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basierend auf einer schlichten Abbildungsrelation; für ihn ist er eine aufklärerisch wirkende Großaufnahme der sichtbaren Wirklichkeit: Man schaut plötzlich auf einen Menschen und ist von ihm überzeugt, weil er nicht Propaganda für sich macht, sondern weil man ihn abgebildet hat und ihm begegnet ist in der Wahrheit seines Lebens. Weil er nicht lügen kann und weil die Kamera nicht lügen wollte, sondern es gelungen ist, ihn ganz nah an die Zuschauer heranzubringen.23

Der Thomas Mann dieses Films wird aus der Perspektive der jüngsten, vom Vater innig geliebten Tochter Elisabeth gezeichnet, »eine elementare Korrektur [. . . ] jener Darstellung«, wie Frank Schirrmacher bemerkte, »die ihre Geschwister, allen voran Monika, in Umlauf gebracht haben«. Und Schirrmacher weiter: »Es ist: die letzte große Niederlage von Klaus und Heinrich Mann, und eine Demütigung für Monika und Golo«.24 Insbesondere die Verkleinerung Heinrichs zugunsten Thomas’,25 aber auch die anderen impliziten Bewertungen bestätigen die Dominanz des Patriarchen, die aber auch besagt, dass diese Familie ganz eigentlich nur in ihrem bedeutendsten Vertreter existiert habe. Wie in Familien des hohen Adels verblassen die ungekrönten Häupter neben dem einen, dem gesegneten. Alle Familienmitglieder außer ihm selbst erscheinen in diesem Film als erfolglos oder langfristig gescheitert; von ihren Leistungen scheint nichts zu bleiben: Heinrich, Klaus, Erika, Monika, Michael, kaum ein Wort über Golo Manns Lebensleistung.

3. Erst bei Breloers journalistischem Wahrheitsanspruch kann eine Kritik des Fernsehens mit Pierre Bourdieu einsetzen, hatte dieser doch in den 90er Jahren in einem Rundumschlag die Quoten- und also Marktabhängigkeit des Massenmediums beklagt. Sein Vorwurf betraf »die Suche nach dem Sensationellen, dem Spektakulären«.26 Produkte des Fernsehens sind demnach der Massenproduktion zugehörig, nicht der ›eingeschränkten Produktion‹; Fernsehen kann daher mit ›Kunst‹ (die für Bourdieu etwas Esoterisches ist) nichts im Sinn haben: 23 24

25

26

Georg Feil (Anm. 19), S. 115. Frank Schirrmacher: Gesang vom Kindchen. Um einen Thomas Mann von innen bittend: Breloers Film. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. 12. 2001, S. 41; vgl. auch Klaus Harpprecht: Eine strapaziöse Sippschaft. »Die Manns«: Deutschlands heilige Kulturfamilie. Heinrich Breloer hat sie in einem Dokudrama fürs Fernsehen wiedererweckt. In: Die Zeit vom 29. 11. 2001, S. 49. Vgl. dazu Willi Jasper: Heinrich blieb vor der Türe stehen. Breloers gepriesener Fernsehfilm übernimmt die Perspektive von Thomas Mann – und wieder verliert Heinrich den Bruderzwist. In: Die Zeit vom 27. 12. 2001, S. 47; sodann, mit gründlicher Auswertung der Presseberichterstattung: Michael Grisko: Von »Biopics« und »Heinrichbräuten«. Das Bild Heinrich Manns in Breloers Doku-Drama »Die Manns«. In: HeinrichMann-Jahrbuch 21–22 (2003/2004), S. 33–54; sowie: Markus Joch: Ungehörige Lehrer. Heinrich Mann und Gymnasialprofessor Raat. In: Heinrich-Mann-Jahrbuch 23 (2005), S. 27–43, hier S. 27ff. Pierre Bourdieu: Über das Fernsehen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 25.

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Man muß [. . .] wissen, dass historisch gesehen alle Kulturerzeugnisse, die ich jedenfalls schätze – ich hoffe, ich bin nicht der einzige – und die auch noch manch anderer zu den höchsten Errungenschaften der Menschheit zählen mag, Mathematik, Poesie, Literatur, Philosophie –, dass all das gegen das Äquivalent der Einschaltquote, gegen die Logik des Kommerzes entstanden ist.27

Ausgehend von einer politischen Funktion des Journalismus kann Bourdieu das Gegen-Aufklärerische des Fernsehens nur schwer erdulden. Dabei ist seine Kritik des Fernsehens kaum originell zu nennen; ihre Argumente sind vielmehr bis in die 1950er Jahre zurückzuverfolgen.28 Zudem gibt es Bezugspunkte zwischen einem Journalismus mit einer »Vorliebe für das gewöhnliche Ungewöhnliche«29 und der Literatur: Auch sie ist, genau betrachtet, keineswegs immer aufklärerisch oder gar politisch korrekt, man mag ihr Effekthascherei unterstellen; sie versucht auf nicht ganz redliche Weise dasselbe wie der Sensationsjournalismus, nämlich »den effet du réel«30 zu erzeugen. Sie begünstigt ›große‹ Erzählungen statt kleinteiliger Informationen. Und schon aus diesem Grund ist ein Massenmedium wie das Fernsehen (und wie der Film) nicht selten ein Komplize der Literatur. Doch ähnlich wie die Kunst stellt das Fernsehen Verfahren zur Verfügung, die es erlauben, »die richtige von der falschen Wirklichkeit zu trennen«31 . Wäre da nicht wiederum der implizite oder auch explizite Wahrheitsanspruch, der auf der scheinbaren Mimesis der Bilder beruht. Breloer erzeugt gleichsam eine optische Täuschung, mittels derer er auch den einigermaßen medienkompetenten Zuschauer in die Irre führt, ihm vorgaukelt, historische Wirklichkeit zu sehen. Themen des Sensationsjournalismus sind in Die Manns unverkennbar: Interessant ist das Unerlaubte, das aus bürgerlicher Sicht Tabuisierte und Verdrängte. Die Kamera ist der Voyeur, der homo- wie heterosexuellem Begehren nachspürt, dem Drogenkonsum – sei es Morphium oder Alkohol –, dem Suizid, der lebensbedrohlichen Krankheit, dem Familienzerwürfnis. Die Handlung folgt dem Schema »des populären Films mit den Teilelementen Harmonie, Störung der Harmonie, Konflikt, Konfliktlösung«.32 Die Literatur ist hier vordergründig keine wirkliche Konkurrenz; sie ist zitathaft vertreten, doch wie wir aus der Klassikerrezeption wissen, ist Anzitieren nicht gleich Lesen. Hans Castorps Schneetraum aus dem Zauberberg findet Verwendung, Echos Tod in Doktor Faustus kommt zur Sprache, aus Klaus Manns Anja und Esther und sogar aus Heinrich Manns Altersroman Der Atem wird zitiert; daneben stehen viele Tagebuch- und Briefauszüge – jeweils 27 28

29 30 31

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Ebd., S. 37. Vgl. Stefan Münker: Epilog zum Fernsehen. In: Televisionen. Hg. von Stefan Münker und Alexander Roesler. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 220–236, hier S. 222ff. Pierre Bourdieu (Anm. 26), S. 26. Ebd., S. 27. Alexander Roesler: Jenseits des Bildschirms. Mediale Wahrnehmung und Wirklichkeit. In: Stefan Münker/Alexander Roesler (Anm. 28), S. 203–219, hier S. 217. Joan Kristin Bleicher: Die Manns – Ein Jahrhundertroman (Heinrich Breloer). In: Interpretationen. Literaturverfilmungen. Hg. von Anne Bohnenkamp. Stuttgart: Reclam 2005, S. 215–229, hier S. 220.

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sehr selektiv und stets in biografisierender Lesart:33 Literatur dient demnach dazu, Leben zu erklären. Der kommerzielle wie auch der ›ästhetische‹ Erfolg des Unternehmens wird von den Verantwortlichen gerne hervorgekehrt. Eine typische Zeitungsmeldung referiert brav: »Die Manns [. . .] sind auch kommerziell erfolgreich«, um gleichzeitig davon zu berichten, dass man mit dem Emmy einen weiteren, nun internationalen Preis gewonnen habe. Bei der Preisverleihung zog Breloer wiederum das Register des Quotenerfolgs: »Die Manns seien ein Familiendrama, genau wie Dallas und der Denver-Clan – dies sei damals sein Argument gewesen, um die ARDVerantwortlichen zur Produktion zu überreden.«34 Das Bourdieu’sche Verdikt der Marktgängigkeit und der Verkürzung trifft also vor allem die filmischen Biografien (unterhalb derer erst eine poetologische Schicht liegt), die Zeichnung von Charakteren, die Verknüpfung von privater Geschichte und Weltgeschichte, von Familie und Politik – verstanden als Repräsentativität.

4. Thomas Mann hat frühzeitig in seiner literarischen Praxis, in Interviews, Reden und in seiner Publizistik, aber auch etwa beim Lancieren von Rezensionen, an seinem Bild in der Öffentlichkeit gearbeitet, er hat sich von vornherein um den Status eines repräsentativen Autors bemüht. Zu diesem Vertreten und Nach-außen-hinDarstellen gehört das Phantasma der ›Größe‹, gehört es, Aufmerksamkeit zu erregen. Thomas Mann wollte ein Klassiker zu Lebzeiten werden: Zu den Strategien seiner Autorschaft zählte unabdingbar die Selbstkanonisierung, ein »kaum verhohlener Hang zur kanonischen Selbstrepräsentanz und immer wieder eingestreute Überlegungen zu Ruhm und Rangordnung«35 . Eine ganze Reihe seiner fiktionalen Texte wie etwa Tonio Kröger, Der Tod in Venedig oder Lotte in Weimar handelt von fiktiven oder halbfiktiven Autoren, deren poetologische und teils auch biografische Eigenheiten sich sicherlich gewollt mit den Äußerungen ihres Erfinders überschneiden, sich in ihnen spiegeln lassen. In seinem Essay Bilse und ich hatte Mann 1906, also bereits in der Phase seiner Etablierung als Autor von Rang, die Interferenzen von Leben und Werk teils dementiert, teils präzisiert. Er bestreitet vehement, mit Buddenbrooks einen Schlüs33 34

35

Vgl. Heinrich Breloer/Horst Königstein (Anm. 2), S. 46–49, S. 51, S. 361f. und S. 404f. Alle Manns nach vorn. Emmy für Breloers Fernsehverfilmung. In: faz.net vom 26. 11. 2002. – Vgl. auch: Emmy für »Die Manns«. Heinrich Breloers Mehrteiler erhält wichtigsten US-Preis. In: Hamburger Abendblatt vom 27. 11. 2002. Inzwischen hatte die Produktion schon mindestens folgende Preise gewonnen (war also durch die Konsekrationsinstanzen des Fernsehens schon als qualitativ hochwertig eingestuft worden): Deutscher Fernsehpreis, neun Grimme-Preise in Gold, Sonderpreis des Bayerischen Fernsehens, Goldene Kamera. Sigrid Thielking: Vom Kanon als Lebensform zur öffentlichen Didaktik geformten Lebens. Der Fall Thomas Mann. In: Text und Kritik. Sonderband: Literarische Kanonbildung. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. München: Edition Text + Kritik 2002, S. 194–211, hier S. 198.

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selroman verfasst zu haben und Persönlichkeitsrechte wirklicher Menschen verletzt zu haben, indem er sie porträtiert habe. Doch räumt er ein, er finde lieber, als dass er erfinde.36 Thomas Mann reklamiert für sich eine autonome Kunst, die das ›Leben‹ mit all seinen Zwecken zum Spielmaterial macht. Eine ›höhere Identität‹ des Dichters sei in allen Texten präsent. Mit solchen und ähnlichen Äußerungen versucht er einerseits eine Lektüre seiner Texte zu untergraben, die sie auf Figurenund Handlungsebene zu bloßen Abbildern der Wirklichkeit macht, öffnet aber gleichzeitig jeglicher Spekulation über eine ›höhere‹ Präsenz der Persönlichkeit des Autors Tür und Tor. In Bilse und ich formuliert Mann als Leseanweisung: »Nicht von Euch ist die Rede, gar niemals, seid des nun getröstet, sondern von mir, von mir . . .«37 Dem Leser wird damit eine mysteriöse Omnipräsenz des empirischen Autors in seinen Texten suggeriert, eines Autors, der über sein biografisches Rohmaterial souverän verfügt und der, hochgradig selbstreferenziell arbeitend, ein moderner ›Litterat‹ auch dort ist, wo er scheinbar traditionell erzählt. Die Manier, in stets erneuerter Form und in wechselnden Textsorten Leben und Schreiben zu spiegeln, wurde von der Literatur über Thomas Mann, beginnend bei der frühen Kritik, gerne aufgegriffen.38 Wo immer man das Spiel des Autors mit seinen Selbstbespiegelungen unterschätzt (wo man etwa auch poetische Spielereien mit unverlässlichen Erzählern, einmontierten Quellenfragmenten, der Lust am ungedeckten Rollenspiel eines Felix Krull etwa, unterschätzt), bleibt für den Leser diesseits aller Fiktion nur die Wahrheit – womit dieser Leser hinter die Modernität der Mann’schen Erzähltexte zurückfällt. Unterstützt durch kommentierende Begleittexte und sonstige Öffentlichkeitsarbeit werden Thomas Manns große fiktionale Texte also schon bei Erscheinen auch zu Objekten der Selbstrepräsentation, die dem Nimbus des Autors zugute kommen. Spätestens in den USA beherrscht der Star Thomas Mann die Gesetze der Selbstvermarktung, was wiederum seine Übergröße bis heute mitbedingt und einem Projekt wie dem Breloers gewissermaßen vorarbeitet: Von Anfang an gibt sich der Film als Familiengeschichte, als Genealogie einer Familie zu erkennen. Benannt wird in einem einleitenden Off-Kommentar, durch authentisches Fotomaterial unterstützt, das zweifache kulturelle Erbe der Familie, das in Thomas Mann und seinen Geschwistern zusammengeführt werde, der deutsche, nordische Ordnungssinn und die mit dem Süden konnotierte Leidenschaft. Benannt wird der Stammbaum: Von fünf Geschwistern und sechs Kindern Thomas Manns ist die Rede, von Eheschließungen; der Zuschauer sieht Fotos von den Mitgliedern der Familie und vom gemeinsamen Wohnsitz. Er sieht aber auch, wie Dokumentation und Fiktion in einer Technik der Überblendung ihre Grenzen verlieren: Film und Originalfoto, Originalschauplatz und Spielszene folgen dicht aufeinander. Gewiss, 36

37 38

Vgl. Thomas Mann: Bilse und ich. In: T. M.: Essays. Hg. von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski. Frankfurt am Main 1993ff., Bd. 1: Frühlingssturm 1893–1918. Frankfurt am Main: S. Fischer 1993, S. 36–50, hier S. 41f. Ebd., S. 50. Vgl. Meike Schlutt: Der repräsentative Außenseiter. Thomas Mann und sein Werk im Spiegel der deutschen Presse 1898 bis 1933. (Frankfurter Forschungen zur Kultur- und Sprachwissenschaft 5) Frankfurt am Main u. a.: Lang 2002.

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dieser Schauplatz, das Haus in der Münchner Poschingerstraße um 2000, ist leer; diese Leerstelle im Familiengedächtnis ist durch Elisabeth aufzufüllen, die durch die ehemals belebten Räume schreitet: »Das sieht alles sehr anders aus. Sehr anders!«39 – dies spricht Elisabeth aus, ehe die Erinnerung einsetzt, von der aus dann in den Spielszenen die Welt von gestern wieder ersteht. Im Zentrum steht Elisabeth als letzte lebende Zeugin des anderen Thomas Mann, des zärtlichen Vaters. Paradigmatisch ist die Szene des Wiederfindens von Vater und Tochter; hier alternieren eine Interviewszene mit Elisabeth und Breloer sowie eine Dokumentaraufnahme aus dem Jahr 1925 mit Vater und Tochter Mann. Die zeitliche Differenz scheint aufgehoben: Die gealterte Elisabeth blickt auf das Haus, und indem in der nächsten Einstellung die Dokumentaraufnahme folgt, scheint vor Elisabeths innerem Auge diese grandiose Szene zu entstehen oder wiederzuerstehen – und damit vor dem Auge der Kamera, dem Auge des Zuschauers: Der Vater empfängt die Tochter mit offenen Armen. Das Einsetzen der Spielhandlung ausgerechnet 1923 hat zu den schon genannten historischen Gründen einen weiteren guten Grund: Die erste längere Szene spielt nämlich in groben Zügen eine Novelle Thomas Manns nach, die wiederum angeblich vor allem das Familienleben des Autors in der Inflationszeit fiktionalisiert und die ausgerechnet ein kleines Mädchen namens Lorchen zur Hauptfigur hat, in dem man immer schon ein Porträt Elisabeths erkennen wollte:40 Unordnung und frühes Leid. Thomas Manns Poetologie einer Verwischung der Grenzen von Biografik und Fiktion findet also ihre offenbar legitime Fortsetzung in Breloers Filmtechnik. Thomas Mann, als Zauberer verkleidet, tritt als Beobachter auf, der aus der Wirklichkeit der Faschingsfeier seine Fiktion macht; nicht ein kalter, zynischer Analytiker, sondern ein Lebenskünstler, der Leben in Poesie überführt. Als derart ›einfache‹ Operation führt es der Film vor: der Autor Thomas Mann ist braver Abschilderer seiner Lebenswelt; Königstein und Breloer »beschreiben den Prozess der Verarbeitung von Lebenserfahrung in Literatur«.41 Diese Szene führt nun aber neben einem subtilen Verweis auf die Wahrheit des Fiktionalen bei Thomas Mann nach dem Motto »Die Geschichte war genau so«42 auch noch den Motivkomplex der Homosexualität ein, der die strenge bürgerliche Ordnung, die mit Genealogie und Vater-Tochter-Liebe angeschnitten ist, erweitert, konterkariert und der den Film wohl für ein heutiges Publikum umso interessanter macht. Wie in Manns poetologischen Texten verschwimmen also die Grenzen von Fiktion und Wirklichkeit – wobei der aufmerksamere Leser immerhin des Spielerisch-Artistischen von Manns Poetologie gewahr werden dürfte, während das Massenmedium schlicht ›die Wahrheit‹ anbieten will. Breloer macht das Prinzip der poetologischen Imitatio für sich geltend: »Mit Hilfe der von uns entwickelten dokudramatischen Methode wollten wir einen raffiniert verwobenen Teppich 39 40

41 42

Heinrich Breloer/Horst Königstein (Anm. 2), S. 11. Vgl. Hermann Kurzke: Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk. Eine Biographie. München: Beck 1999, S. 308ff. Joan Kristin Bleicher (Anm. 32), S. 4. Heinrich Breloer/Horst Königstein (Anm. 2), S. 25.

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schaffen – eine Verbeugung vor der Mannschen Methode, die eigenen Lebenserfahrungen zu verdichten.«43 Unter anderem diese »Kunstfertigkeit« des »nahtlos[en]« Übergangs zwischen Spiel und Dokumentation macht den Film auch preiswürdig.44 Aus dem gleichzeitig mit der Erstausstrahlung des Films publizierten Band mit dem vollständigen Interviewmaterial geht einerseits Breloers Authentizitätsanspruch hervor, der sich einer Unterfütterung durch Materialien anbequemt, andererseits zeigt er, dass Breloer die symbolische Aufladung von Gegenständen oder die Mythisierung des Vergangenen nicht scheut.45 Wiederum droht der flüchtige Zuschauer die Grenze zwischen Fiktion und historischer Wahrheit zu übersehen. Breloer leistet dem Vorschub, wenn er beispielsweise darauf insistiert, Mann hätte in seinem Roman Doktor Faustus mit dem Tod des kleinen Echo, der bekanntlich nach dem Vorbild Frido Manns gezeichnet ist, seinen eigenen Enkel ermordet, während seine Gesprächspartnerin ihn immer wieder daran erinnert, dass es sich dabei nur um Literatur handle.46 Einer eigenen Untersuchung wert ist Breloers ausgesprochen suggestive Interviewtechnik, die in teils beinahe rhetorischen Fragen nicht nur die Antwort schon vorwegnimmt, sondern sich einer Aura des Erinnerns bedient, so dass der 43 44

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Ebd., S. 451. Emmy für »Die Manns« (Anm. 34). – Vgl. Joan Kristin Bleicher (Anm. 32), S. 227f.: »Peinlich genau hat Breloer nach eigenen Angaben auf bruchlose Übergänge zwischen fiktionalen und dokumentarischen Szenen geachtet und dafür auch die Kamerapositionen festgelegt.« – Den raschen Schnittwechsel bringt Breloer übrigens mit den im MTVZeitalter sich verändernden Sehgewohnheiten in Verbindung: »Da gibt es ja Momente, in denen sehr schnell hin und her geschnitten und die Montage sehr dicht wird. Auf diesem Weg waren wir auch durch die Entwicklung der Sehgewohnheiten der Zuschauer animiert, die durch das Programm zappen und sehr schnell orientiert sind, wo sie in einer Geschichte landen; sie können innerhalb von Bruchteilen von Sekunden Genres unterscheiden« (Georg Feil [Anm. 19], S. 126). Vielmehr wird der Zuschauer herausgefordert, »sich auf den ständigen Wechsel der Erzählweise einzulassen: dieser Wechsel aber wird doch qua Überblendung retuschiert« (Knut Hickethier [Anm. 21], S. 206). »Ich muss das Gegenüber zum sprechenden Erinnern bringen. Fotos, Filmausschnitte, Tonbänder mit den Stimmen der Gestorbenen, Briefe oder handfeste Materialien, eine Uniformjacke, eine Totenmaske, eine Morphiumspritze hole ich aus der Aktentasche und lege sie auf den Tisch – alles, was im richtigen Moment hilft, die Berührung mit den Toten herbeizuführen, den Beschwörungsprozess in Gang zu setzen, Bilder und Szenen aus der Tiefe der Vergangenheit, des Gedächtnisses wieder ans Licht zu holen« (Heinrich Breloer: Vorwort: Unterwegs zu den Manns. In: H. B.: Unterwegs zur Familie Mann. Begegnungen, Gespräche, Interviews. Frankfurt am Main: S. Fischer 2001, S. 7–17, hier S. 14). Vgl. das Interview Breloers (= HB) mit Hilde Kahn-Reach (= HKR): »Wie war es denn, als sie [sic] entdecken mussten, ihren Liebling [sc. Manns Enkel Frido, J. S.], den spinnt er jetzt ein in sein Gewebe und lässt ihn sterben? HKR: Na ja, ich habe die Logik gesehen, das hat mir eingeleuchtet. Er ist sehr überzeugend. Er ist ein Schriftsteller. HB: Aber . . . HKR: Kein Aber. HB: . . . Sie mochten doch den Kleinen, den er da sterben lässt; hat Ihnen das überhaupt nichts ausgemacht? HKR: Nein, ich meine, ich habe mir vorstellen können, dass es der Mutter was ausmacht und all den Verwandten, aber ich habe es halt als Literatur angesehen. HB: Ob Thomas Mann ein schlechtes Gewissen hatte, Menschen so zu gebrauchen, in seine Gewebe einzuspinnen, sterben zu lassen?« (Heinrich Breloer [Anm. 45], S. 385.)

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Gesprächspartner tatsächlich glaubt, sich selbst zu erinnern und nicht etwa die Vorgaben Breloers zu übernehmen.47 Der Eindruck Michael Hanfelds trügt nicht: »Es ist, als würden wir Elisabeth Mann-Borgese und ihren verstorbenen Geschwistern Monika und Golo, die in Rückblenden zu Wort kommen, beim allmählichen Verfertigen der Erinnerung zusehen.«48

5. Immer wieder erzählt Thomas Mann entlang genealogischer Konstruktionen und Fehlkonstruktionen; die erzählte Zeit vieler seiner Texte ist durch den oft misslingenden Versuch der ordnungsgemäßen Fortzeugung von Familien bestimmt. Vor allem der Familienroman Buddenbrooks – den Breloer konsequenterweise inzwischen verfilmt49 – sticht hier ins Auge, auch die genealogische Erzählung von den Anfängen des Volkes Israel in Joseph und seine Brüder, und hanseatische Familienstrukturen begegnen ebenfalls im Zauberberg.50 Die angebliche »Beschreibung des Wechselverhältnisses von Lebens- und Zeitgeschichte« in Die Manns wurde als »eine Art filmisches Äquivalent zum Hauptwerk [sic] Thomas Manns Die [sic] Buddenbrooks« legitimiert.51 Die Mann-Familie als deutscher Erinnerungsort sei, so Irmela von der Lühe, bereits durch die Familie selbst initiiert worden: Alle Familienmitglieder hätten »das Bewusstsein für die familiäre Repräsentationsfunktion« geteilt.52 Diese These mag eine Verklärung ex post sein; die Ausbruchsversuche Klaus oder Monika Manns ignoriert sie jedenfalls. Thomas Manns Familiengründung war sehr wahrscheinlich eher ein von aristokratenhaftem Standesdenken und von Aufstiegswillen als von passionierter Liebe 47

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Vgl. beispielhaft die hier zitierten Interviewauszüge Anm. 46 und 56. Ein weiteres typisches Beispiel für Breloers Fragetechnik findet sich als Motto über diesem Aufsatz. Michael Hanfeld: Ich schneide, also sind sie. Hinter manchem großen Film steht eine starke Frau oder Das Geheimnis des Heinrich Breloer. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. 12. 2001, S. 55. – Und an anderer Stelle: »Mit subtilen Mitteln nämlich weiß er die Rahmenbedingungen psychologisch so zu setzen, dass seine Zeugen nicht anders können, als auf bestimmte Punkte und Momente hinzusteuern, die der Regisseur vorgesehen oder zumindest vorhergesehen hat. Die Antwort, die sie geben könnten, aber, wie ein leichtes Stocken verrät, nicht unbedingt frank und frei herausgeben wollen, weiß er schon. Er braucht nur ein, zwei Stichworte und – es fließt« (Michael Hanfeld: Ich tat nur, wovor meine Eltern mich gewarnt haben. Die Spitze des Eisbergs: Warum Heinrich Breloer große Dimensionen sucht und »Die Manns« nicht sein letzter Jahrhundertroman ist. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. 12. 2001, S. 47). Breloer scheint wiederum sehr ›naturalistisch‹ zu verfahren, vgl. folgende Zeitungsnachricht: 1000 Komparsen für »Buddenbrooks«-Dreh in Lübeck gesucht. In: Lübecker Nachrichten vom 8. 6. 2007. Parallelen in den Familienkonstruktionen von Buddenbrooks und im Josephsroman zeigt auf: Bernd-Jürgen Fischer: Handbuch zu Thomas Manns »Josephsroman«. Tübingen, Basel: Francke 2002, S. 199ff. Joan Kristin Bleicher (Anm. 32), S. 216. Irmela von der Lühe: Die Familie Mann. In: Deutsche Erinnerungsorte I. Hg. von Etienne François und Hagen Schulze. München: Beck 2001, S. 254–271, S. 269.

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bestimmter politischer Akt; man erinnere sich an das berühmte Zitat aus einem Brief an seinen Bruder: »Du bist absolut. Ich dagegen habe geruht, mir eine Verfassung zu geben.«53 Ob die Einheirat des Kaufmannssohns ausgerechnet in eine deutsch-jüdische Gelehrtenfamilie als politisches Kalkül zu lesen sei, ist hier keine Frage; die Rezeptionsgeschichte hat sie längst schon beantwortet, denn natürlich wurde Mann von den Antisemiten unter seinen Kritikern (etwa von Adolf Bartels) deswegen angefeindet, und natürlich besitzt die Familie Mann eben als bürgerliche, deutsch-jüdische Familie ein Höchstmaß an Repräsentanz für das 20. Jahrhundert und: als Emigrantenfamilie für das bessere Deutschland, auch wenn Thomas Mann die Unterscheidung zwischen den zwei Deutschland ablehnte.54 Breloers Sujet hat also Thomas Mann als literarisches und als biografisches ›Thema‹ schon vorweggenommen. Genealogisch bleibt der Film auch, insofern mit der Tochter Elisabeth nun »die neue Stimme der Familie«55 gefunden ist. Die Attraktivität der Familie Mann dürfte auch darin liegen, dass sie, wie Breloer behauptet, historisch eher dem Guten als dem Bösen zuzurechnen sei. Er vereinseitigt aber massiv, wenn er feststellt: »Durch diese Familie sind alle deutschen Geschichten hindurch gegangen. Thomas Mann ist der moralische Gegenspieler Hitlers gewesen, der weiße Magier, der die Deutschen mit Gesittung versehen wollte. Der böse und der gute Zauberer – das ist nicht besser zu haben.«56 Breloer benennt als grundlegendes Motiv für seine gesamte Arbeit die Aufklärung seiner Zuschauer über die deutsche Zeitgeschichte; schon zu Beginn seiner Karriere sei diese Fragestellung leitend gewesen. »Was ist da vor 30 Jahren in diesem so genannten Dritten Reich passiert?«57 Oder, so noch im Nachwort zum Filmbuch: »Wie sollte man eine Rolle, seine persönliche Lebensform in diesem Land finden, 53

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Thomas Mann an Heinrich Mann am 17. 1. 1906. In: Thomas Mann/Heinrich Mann: Briefwechsel 1900–1949. Hg. von Hans Wysling. Frankfurt am Main: S. Fischer 31995, S. 114. Vgl. Jochen Strobel: Entzauberung der Nation. Die Repräsentation Deutschlands im Werk Thomas Manns. (Arbeiten zur Neueren deutschen Literaturgeschichte 1) Dresden: Thelem 2000, S. 177ff. Die Manns (Anm. 2), S. 447. Heinrich Breloer. Zitiert nach: Wolfgang Görl: Ein Haus, wie’s im Buche steht. Wie der Regisseur Heinrich Breloer und sein Team Thomas Manns Leben in dessen nachgebautem Domizil verfilmen. In: Süddeutsche Zeitung vom 5./6. 8. 2000, S. 55. – Vgl. auch: »Man konnte den Dichter als den großen moralischen Gegenspieler zum Volksverderber Hitler entdecken.« (Heinrich Breloer/Horst Königstein [Anm. 2], S. 446.) – Im Interview mit Hilde Kahn-Reach wird folgende ›Erinnerung‹ daraus: »HB: [. . .] Er, der moralische Gegenspieler zu dem Verderber Hitler. HKR: Ja, absolut. HB: Und er macht den Mund auf und sagt es vor allen. HKR: Er sagt es vor allen, und er sagt, eines Tages wird das zu Ende sein. Also, das war sehr schön. HB: Und das haben Sie auch geglaubt in dem Moment? HKR: Ja. [M]an fühlt sich irgendwie getröstet« (Heinrich Breloer [Anm. 45], S. 393). – Seine Produktion zu Albert Speer kündigte Breloer 2002 so an: »Nach dem guten Deutschen Thomas Mann wird das ein Film über den Deutschen, der den faustischen Pakt mit Mephisto, mit Hitler geschlossen hat« (Ein erfolgreicher Mann. Heinrich Breloer erhält den Fernsehpreis »Emmy«. In: Berliner Zeitung vom 27. 11. 2002, S. 10). Georg Feil (Anm. 19), S. 112.

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wenn man nicht den abgedrängten und verborgenen Teil der jüngsten deutsche[n] Geschichte kannte?«58 Doch ist die Familie Mann, die die Leser heute entdecken, nicht eindeutig eine Opfer-Familie, bedroht nach 1933 durch Ausbürgerung und durch die Nürnberger Rassegesetze? Zweifellos trifft dies zu. Thomas Manns Zögern, sich zur Emigration offen zu bekennen und damit den Anschluss an den deutschen Markt zu verlieren, verschweigt der Film nicht. Eins von Manns Lebensthemen, das ›Leiden an Deutschland‹, an der angeblichen deutschen Neigung zum Rausch, zur moralischen Enthemmung, zur Dekadenz, fehlt ebenfalls nicht, doch diese Motive bündelt der Thomas Mann des Films lediglich, indem er den essayistischen Vergleich mit dem »Viertelskünstler« und »Bruder« Hitler anzitiert. Fast beiläufig sinniert der Film-Thomas im Gespräch mit Bruder Heinrich: »Mit ihm ist es etwas Besonderes. Wie er sie alle erlöst von der Anstrengung zu denken, sie von aller Moral und Gesittung befreit – die Sehnsucht nach Entschlossenheit und Vereinfachung der Gefühle, kennen wir das nicht?«59 Es bleibt bei dieser Andeutung; Manns begeisterte Zustimmung zu dem vor allem von Deutschland ausgehenden Ersten Weltkrieg 1914 kommt nicht vor. Das sensible Thema ›Thomas Mann und das Judentum‹, das nicht nur die Forschung zu Thomas Mann seit einigen Jahren in Atem hält, wird ebenfalls kaum berührt. Die heikle Frage nach Spuren des Antisemitischen in Manns Texten erspart man sich.60 Dies ist umso auffälliger, als der Fluchtpunkt der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, der Holocaust, so gut wie keine Erwähnung findet, in der Familie Mann kein Thema zu sein scheint61 – als ob um jeden Preis, auch um den der Verkürzung von Geschichte, jene Lesart von ›Gut‹ versus ›Böse‹ gehalten werden müsse. Manches spricht dafür, dass die Deutschen seit 1990 und erst recht im 21. Jahrhundert wieder nach Leitbildern und Identifikationsfiguren zu suchen beginnen.62 58 59

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Heinrich Breloer/Horst Königstein (Anm. 2), S. 441. Ebd., S. 261; vgl. Thomas Mann: Bruder Hitler. In: T. M.: Essays (Anm. 36). Bd. 4: Achtung, Europa! 1933–1938. Frankfurt am Main: S. Fischer 1995, S. 305–312. Vgl. zum jüngeren Forschungsstand Rolf Thiede: Stereotypen vom Juden. Die frühen Schriften von Heinrich und Thomas Mann. Zum antisemitischen Diskurs der Moderne und dem Versuch seiner Überwindung (Dokumente – Texte – Materialien 23) Berlin: Metropol 1998; Yahya Elsaghe: Die imaginäre Nation. Thomas Mann und das »Deutsche«. München: Fink 2000; Jaques Darmaun: Thomas Mann, Deutschland und die Juden. (Conditio judaica 40) Tübingen: Niemeyer 2003 (frz. Originalausgabe: Bern 1995); Manfred Dierks/Ruprecht Wimmer: Vorwort. In: M. D./R. W. (Hg.): Thomas Mann und das Judentum. Die Vorträge des Berliner Kolloquiums der Deutschen Thomas-MannGesellschaft. (Thomas-Mann-Studien 30) Frankfurt am Main: Klostermann 2004, S. 7– 13; Heinrich Detering: »Juden, Frauen und Litteraten«. Zu einer Denkfigur beim jungen Thomas Mann. Frankfurt am Main: S. Fischer 2005. Zitate aus Mann’schen Rundfunkreden zu den gegen Juden in Europa verübten Greueln betreffen noch die Zeit vor dem Holocaust (vgl. Heinrich Breloer/Horst Königstein [Anm. 2], S. 328); angesichts des Kriegsendes heißt es im Begleitbuch lediglich: »die schrecklichen Enthüllungen reißen nicht ab« (ebd., S. 353). Vgl. dazu im Mann-Kontext auch: Jochen Strobel: »Gut deutsch sein heißt sich entdeutschen«. Thomas Mann zwischen aporetischer Repräsentation und glückender Repräsen-

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Breloer bekennt sich ausdrücklich dazu, Thomas Mann auf diesem Markt wieder etablieren zu wollen: Wir hatten nicht umsonst mit Thomas Mann unseren Erfolg. Ich habe mir schon vorgestellt, dass uns so eine Figur fehlt. Wer sind wir Deutschen? Auch diese Familie gehört zur Deutschen [sic] Geschichte und Identität. Dass wir so was brauchten, das war wohl der Urgrund für diesen Erfolg.63

Der Sozialpsychologe Harald Welzer hat in seiner Untersuchung Opa war kein Nazi neben das wissensbasierte ›Lexikon‹ ein zweites Referenzsystem für die Interpretation der Vergangenheit, konkret: der Vergangenheit Deutschlands unter dem Nationalsozialismus, gestellt: ein emotional basiertes, durch Familienerzählungen von älterer zu jüngerer Generation konstituiertes und tradiertes ›Album‹, das ›Familiengedächtnis‹, dessen bedeutende Funktion nicht nur in der Veranschaulichung des sonst abstrakt bleibenden historischen Wissens besteht, sondern auch in einer auf Kommunikation basierenden Erlösung (oder soll man sagen: Verdrängung) von Schuld: Die privaten Versionen der NS-Vergangenheit sind immer dadurch bestimmt, dass die eigenen Großeltern ›Gutes‹ getan haben, bis hin zu der »Überzeugung, dass Deutsche Opfer waren«.64 Nicht alle angeblichen Erinnerungen entstammen tatsächlich der Biografie der Großväter. So konnte Welzer ermitteln, dass manches Detail großväterlicher Kriegserinnerungen Filmen wie Die Brücke oder Das Boot entstammt;65 doch auch auf der Ebene des Bewusstseins der Erinnernden komme Spielfilmen oder Fernsehserien »die Rolle zu [. . .], als Belege für historische Wirklichkeit zu fungieren«.66 Zweifellos macht Die Manns das Angebot, »fiktionale[. . .] Quellen« erfahrbar zu machen als solche, »die die Wirklichkeit eins zu eins und scheinbar absichtslos wiedergeben«.67 Frappierend ist zudem, dass nach Welzer die kommunikative Tradierung von Geschichte via Familiengedächtnis nach einem filmischen Prinzip, dem Prinzip Breloers, verläuft, nämlich dem der Montage.68 Genau wie das private Familiengedächtnis die Bruchlinien zwischen seinen Versatzstücken verdecken dürfte (darin bestünde der Akt der ›Verdrängung‹), versucht ja auch Breloer die eine, zusammenhängende Geschichte, die Deutschlands und die der Manns, zu erzählen. Zu dieser Geschichte gehören die alkoholkranke Schwägerin und der homosexuelle Sohn ganz genauso wie ein deutsches Weltbürgertum, die

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tanz. In: Michael Ansel/Hans-Edwin Friedrich/Gerhard Lauer (Hg.): Die Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann. Berlin, New York: de Gruyter (erscheint 2009). Georg Feil (Anm. 19), S. 114. Harald Welzer/Sabine Moller/Karoline Tschuggnall: »Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt am Main: S. Fischer 32002, hier S. 16. – Zu dem sich etablierenden Terminus ›Familiengedächtnis‹ vgl. auch: Miriam Gebhardt: Das Familiengedächtnis. Erinnerung im deutsch-jüdischen Bürgertum 1890 bis 1932. Stuttgart: Steiner 1999. Ausgerechnet Das Boot war 1985 der bisher letzte Vorgänger der Manns als EmmyPreisträger. Harald Welzer u. a. (Anm. 64), S. 129. Ebd., S. 133. Vgl. ebd., S. 201.

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Opposition gegen Hitler und die vom Erfolg gekrönte kulturelle Leistung – und wir, die Zuschauer, gehören wie Tochter Elisabeth und Enkel Heinrich (Breloer) dieser Familie an. Heinrich Breloer, Jahrgang 1941, vermittelt mit seinem Film also familiales Wissen der ›Zeitzeugen‹ an die nachfolgenden, die Enkel- und Urenkel-Generationen. Man könnte sagen: Thomas Mann zeigt uns, wie es wirklich war, und er verkörpert den guten Deutschen, den es auch gab, die Identifikationsfigur für die Verdrängungsarbeit des 21. Jahrhunderts. Denn zwischen all der Repräsentativität, dem ganz ›normalen‹ Chaos aus Familienleben und Skandälchen, die das Mann’sche Familiengedächtnis ausmacht, gerät der Ausnahmecharakter dieser Familie ein wenig aus dem Blick. Die kulturnationale Zuordnung der Familie Mann zu Deutschland verschweigt viele der massiven familialen wie auch nationalen Abgrenzungsbedürfnisse, die diese Mitglieder einer deutschen Familie stets hatten. Der abgründigen Problematik nationaler Identitäten verschließt sich der Film.

6. Die Verdoppelung der Optik als Rezeptionsvorgabe hat Mann, wie er in seinem Versuch über das Theater zugibt, Wagner entlehnt, oder vielmehr: Thomas Mann wendet Nietzsches Kritik an Wagners Liebäugeln mit einer »Kunst für die Menge«69 in ein poetologisch produktives Rezept, das eine Verdoppelung der Zielgruppe einschließt: ›Das Volk‹ soll ebenso angesprochen werden wie eine kleine Gruppe von Lesern, die es mit der Avantgarde hält;70 ein der Massenproduktion gegenüber aufgeschlossener Markt will ebenso erreicht werden wie das Feuilleton, die Kollegen und die Kenner. Wie Manns Künstlerfiguren von Tonio Kröger bis Adrian Leverkühn veranschaulichen, bleibt ein Autorschaftskonzept, das Intellekt mit Volkstümlichkeit zu verbinden sucht, stets problembeladen, da paradoxal. Nach nietzscheanischer Psychologie wäre der alles durchschauende Künstler, der Naivität (und Irrationalität) nur vorschützen kann, ein Scharlatan. Doch ›doppelte Optik‹ (statt der Exklusivität von Autor- und Leserschaft) ist Bedingung für Repräsentanz im Sinn von Mehrheitsfähigkeit, Popularität oder Ruhm. Darum ist es schon dem jungen, gern öffentlich auftretenden Thomas Mann zu tun. Der Autor der Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) will nur den Erfolg anerkennen, der sich »bei der Boheme und beim großen Publikum ereigne[t]«.71 Bourdieus agonalem und antagonistischem Verständnis von den Feldern und ihren Akteuren, die jeweiligen Positionierungszwängen unterliegen, müsste eigentlich entgegenkommen, was er über den Widerspruch des Fernsehens aussagt, das Spannungsfeld, das der Fernsehjournalismus bezeichnet: 69 70

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Thomas Mann: Versuch über das Theater. In: T. M.: Essays (Anm. 36), S. 53–93, hier S. 59. Vgl. die immer noch ausgezeichnete Einführung von Hermann Kurzke: Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung. München: Beck 31997, S. 86ff. Vgl. das instruktive Kapitel »Erfolg und ›doppelte Optik‹«. In: Michael Kämper-van den Boogaart: Thomas Mann für die Schule. Berlin: Volk und Wissen 2001, S. 46–55, Zitat S. 49.

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Ich meine den Widerspruch zwischen einerseits den ökonomischen und sozialen Voraussetzungen für die Hervorbringung bestimmter Werke [. . .], Werke, die man ›rein‹ nennt – ein lächerliches Wort, sagen wir: autonom im Hinblick auf kommerzielle Zwänge, – und andererseits den sozialen Voraussetzungen für die Verbreitung der unter solchen Voraussetzungen entstandenen Produkte [. . .]. Das Fernsehen treibt diesen Widerspruch zum Äußersten in dem Maße, in dem es mittels Einschaltquote mehr als alle anderen Bereiche kultureller Produktion dem Druck des Kommerziellen unterworfen ist.72

In der Tat sind von der Einschaltquote entschiedene Kämpfe mitbestimmt durch »Kampfstrategien, die das bestehende Kräfteverhältnis verändern oder erhalten sollen«.73 Man muss sich aber auch vor Augen halten: Breloer kämpft nicht auf verlorenem Posten für eine Verwissenschaftlichung oder Esoterisierung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, sondern versucht filmisch zu realisieren, was er für journalistische und zugleich ästhetische Qualität hält, im Einklang mit einem Millionenpublikum und dessen potenziellen Interessen. O-Ton Breloer aus der Kampfzone: Also haben wir uns nicht schlecht gegen die Stars der Unterhaltung behauptet, weil es da doch eine Marktlücke von offenbar fünf oder sechs Mio. Zuschauern gibt, die dann doch im Gerangel der vielen Kanäle lieber das gut gemachte Stück eigener Geschichte im Öffentlich-rechtlichen sehen. Vor allen Dingen, wenn es etwas ist, was ich gegenüber der Quote, die ja eine reine Quantität darstellt, sage: Es gibt eine Tiefenquote. Es gibt Stücke, die die Anbindung an das öffentlich-rechtliche Fernsehen verstärken, eine Anbindung, die ja sehr locker geworden ist.74

Breloer argumentiert also mit einer Binnendifferenzierung zwischen Qualitätsund bloßem Kommerzfernsehen (verdoppelt die Unterscheidung zwischen eingeschränkter und Massenproduktion also und verschiebt sie auf diesen Mediensektor) und stellt sich selbst auf die ›gute‹ Seite der (relativen) Qualität. Die Kämpfe um Quantität oder Qualität würden demnach auch im Fernsehen immer wieder aufs neue ausgefochten. Manns eigene ›doppelte Optik‹ wiederholt sich also: So wie sich Buddenbrooks wahlweise als spannende Familiensaga lesen oder auf ihre Wagner-Reminiszenzen hin analysieren lassen, so kann der Fernsehzuschauer Die Manns als ein, von bestimmten Interessen getragenes Modell einer Filmerzählung von deutscher Geschichte sehen – oder als simples Identifikationsangebot. Noch einmal Breloer, in Abgrenzung von »Hollywood oder de[m] deutschen Adelskitsch«: »Unsere Geschichten hier waren plötzlich auch sehr spannend und sehr aufregend – mit dem Unterschied, dass sie weiterbringen können.«75 Denn neben dem ästhetischen Anspruch stellt er sich, wie schon angedeutet, in die Tradition eines sozialdemokratischen Verständnisses vom Fernsehen als Bildungseinrichtung.76 72 73 74 75 76

Pierre Bourdieu (Anm. 26), S. 51. Ebd., S. 69. Georg Feil (Anm. 19), S. 122. Ebd., S. 116 und S. 117. »Einfache Menschen gehen nicht ins Theater, sie lesen zu wenig, sie benutzen zu selten die Angebote der Volkshochschule. Wir zeigen es ihnen heute Abend. Das war die uralte Utopie der Sozialdemokratie, auch Arbeiterschichten ins Theater zu bringen, sie an den

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Die Tatsache, dass man im 21. Jahrhundert eine Autorenbiografie verfilmt, als handle es sich um einen Unterhaltungsroman, gar einen Jahrhundertroman, sagt etwas aus über den prekären Status des literarischen Feldes, den drohenden Autonomieverlust, die ›feindliche Übernahme‹ durch das journalistische, das ökonomische, vielleicht auch das politische Feld. In diesem Fahrwasser läuft auch das literarische Œuvre der verhandelten Personen Gefahr, umstandslos zum Feld der Massenproduktion hinübergezogen zu werden; biografisierende Lesarten solcher Texte bietet der Film als Einstieg an. Tatsächlich wäre es müßig, einen Film wie Die Manns an intellektuellen Ansprüchen zu messen; man kann ihn bestenfalls innerhalb der Normalität des um 2000 gegebenen Gesamtangebots an Fernsehsendungen bewerten, also relational vorgehen. Tut man dies, dann wird die Preiswürdigkeit kaum zu bestreiten sein. Akzeptiert man überhaupt die Sujetwahl für das Medium Fernsehen, dann kann man dem Film kaum noch vorwerfen, dass die Autonomie des künstlerischen Feldes in den Hintergrund tritt, dass die Originalität künstlerischer Mittel, der Schreibprozess als Lebenspraxis, die ästhetischen Prämissen Thomas Manns und der Seinen anderswo zur Sprache gebracht werden müssen. Breloer wäre im Sinne Bourdieus dem noch jungen Typus der ›Medienintellektuellen‹ zuzuschlagen, denen erstens »die Einführung neuer Formen kultureller Produktion irgendwo auf halbem Wege zwischen den esoterisch-universitären und den exoterisch-journalistischen Erzeugnissen« und zweitens ein Hinwirken auf verstärkte Marktabhängigkeit von kulturellen Produkten zuzutrauen ist, bedingt dadurch, dass sie »den Sanktionen des Marktes namentlich durch ihre kritischen Urteile einen Schein intellektueller Autorität verleihen«.77 Der Intellektuelle, der literarisch Gebildete unter den Filmemachern, und zugleich der Erfolgreiche, der sich vor der Macht der Quote nicht scheut – dies ist das Bild Breloers in der Öffentlichkeit. Vielleicht darf man, mit Blick auf Thomas Manns eigene Strategien und die Mann-Verehrung Heinrich Breloers, boshafterweise oder zumindest eindeutig zweideutig die These vertreten, der Großschriftsteller habe nun endlich ein ihm würdiges Medium gefunden. Falls aber aus dem Fernsehzuschauer doch ein Thomas-Mann-Leser (oder gar ein Klaus- oder Heinrich-Mann-Leser!) würde, läge dies ganz im Interesse Breloers wie auch in dem des Literaturwissenschaftlers, der wieder einmal als Spielverderber auf verlorenem Posten zu stehen scheint. Immerhin: »Die Buddenbrooks waren nach den Manns ausverkauft. So was hat der Fischer-Verlag lange nicht erlebt.«78

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Schätzen der Kultur teilhaben zu lassen. Wissen ist Macht. Auch heute könnten die Menschen das alles haben, aber sie bleiben oft am seichten Fernsehen hängen. Sie bleiben hängen, weil sie vielleicht müde sind. Weil das Leichtere sich ihnen vorher in den Weg wirft« (ebd., S. 111). Pierre Bourdieu (Anm. 26), S. 114f. Georg Feil (Anm. 19), S. 122.

Nina Zahner (Leipzig)

Die Kunst der Inszenierung Die Transformation des Kunstfeldes der 1960er Jahre als Herausforderung für die Kunstfeldkonzeption Pierre Bourdieus

Pierre Bourdieus Werk über Die Regeln der Kunst hat unser Verständnis zur Entstehung des Feldes der modernen Kunst im Frankreich des 19. Jahrhunderts erheblich vertieft. Für Felder der zeitgenössischen Kunstproduktion stößt seine dort entworfene Konzeption jedoch an Grenzen. Gerade die Trennung des Kulturfeldes in ein Subfeld der ›reinen Produktion‹ und ein Subfeld der ›Massenproduktion‹1 scheint heute nicht mehr zeitgemäß und steht zunehmend in Frage. 1

Das künstlerische Feld organisiert sich bei Bourdieu nach zwei Unterscheidungsprinzipien: dem Gegensatz zwischen dem Prinzip der reinen Produktion des Subfeldes der autonomen Kunst, bestimmt für einen eingeschränkten Markt der Produzenten, und dem der Massenproduktion, ausgerichtet an den Erwartungen des breiten Publikums. Im kulturellen Feld koexistieren folglich zwei antagonistische Produktions- und Zirkulationsweisen, die entgegengesetzten Logiken gehorchen. Vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 198. Am einen Pol findet sich die antiökonomische reine Kunst, die auf der Anerkennung der Werte der Uneigennützigkeit und Interesselosigkeit sowie der Verleumdung des Kommerziellen und des kurzfristigen ökonomischen Profits basiert. Sie bringt eine spezifische Produktion hervor, die keine andere Nachfrage anerkennt als die, die von ihr selbst produziert werden kann und sich an der Akkumulation symbolischen Kapitals orientiert. Am Pol der autonomen Kunst gibt die künstlerische Tradition jene ästhetischen Anforderungen, geistigen Erwartungen sowie Wahrnehmungs- und Denkkategorien vor, welche für die Rezeption des Werkes von Bedeutung sind. Diese stellen den Rahmen dar, in dem sich die künstlerische Tätigkeit entfalten kann: Die Produktion orientiert sich daher einzig an den Erfordernissen des Werkes. Eine Ausrichtung an ökonomischem Profit wird strikt abgelehnt. Entsprechend findet keine Produktion für eine bereits existierende Nachfrage statt. Die Erwartungen des etablierten Publikums werden stattdessen ignoriert beziehungsweise herausgefordert. Da die reinen Kunstwerke nur solchen Konsumenten zugänglich sind, die über die für ihre Bewertung notwendigen Kompetenzen verfügen, sind die Erfolgszyklen der intellektuellen Klassiker eher langfristig angelegt. Das zur adäquaten Rezeption der avantgardistischen Werke notwendige kulturelle Kapital muss oftmals vom Publikum erst noch erworben werden. Vgl. Pierre Bourdieu: Zu Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 108–124; Pierre Bourdieu: The Production of Belief. Contribution to an Economy of Symbolic Goods. In: Media, Culture and Society. A Critical Reader. Hg. von Richard Collins. London: Sage 1986, S. 131–163, hier S. 138. Am anderen Pol des künstlerischen Feldes herrscht die ökonomische Logik, die aus dem Handel mit Kulturgütern einen Handel wie jeden anderen macht, vorrangig auf den sofortigen und temporären Erfolg setzt und sich der bereits vorhandenen Nachfrage ihrer Kundschaft anpasst: Die Rezeption von kommerziellen Produkten ist hierbei vom Bildungsstand der Rezipienten nahezu unabhängig, da diese auf das gesellschaftsweit

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Der vorliegende Beitrag untersucht den Wandel, der sich im Feld der bildenden Kunst der USA in den 1950er und 1960er Jahren mit der Durchsetzung der PopArt vollzogen hat. Dies geschieht unter Rückgriff auf das Bourdieu’sche Erkenntnisinstrumentarium und dient so zugleich dazu, die Grenzen der Bourdieu’schen Kunstfeldkonzeption aufzuzeigen. Der Beitrag stellt ausgewählte Ergebnisse einer Studie vor, die den Transformationsprozess des gesamten Feldes auf der Makroebene der gesellschaftlichen Transformationsprozesse, der Mesoebene der institutionellen Veränderungen und der Mikroebene des künstlerischen Selbstverständnisses bzw. Kunstverständnisses zu rekonstruieren sucht.2 Dieses Erklärungsprogramm arbeitet mit einer qualitativen Einzelfallstudie zur Karriere Andy Warhols als dem herausragenden Protagonisten der Pop-Art im New York der 1950er bis 1980er Jahre. Als Grundlage der Analyse wurden ausschließlich Sekundärdaten herangezogen. Diese existieren in kaum überschaubarem Umfang: Interviews mit dem Künstler, Biografien, Katalogtexte, Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, kunsthistorische Veröffentlichungen, sozialwissenschaftliche Studien zur New Yorker Kunstszene und Veröffentlichungen des Künstlers selbst. Die Karriere Andy Warhols wird als den Wandel zugleich prägend, aber auch repräsentierend gedacht. Zunächst wird die Karriere Andy Warhols im Kunstfeld New Yorks in den 1960er Jahren kurz skizziert. Anschließend werden unter Rückgriff auf die Bourdieu’sche Kunstfeldkonzeption ausgewählte Transformationsprozesses des New Yorker Kunstfeldes dargelegt, die mit der Durchsetzung Warhols als Vertreter einer im Feld um Anerkennung strebenden Heterodoxie gegen die zu jener Zeit dominierende Orthodoxie des Abstrakten Expressionismus einhergingen.

1. Die Karriere Andy Warhols im Kunstfeld der 1960er Jahre in New York City Andy Warhol, am 6. August 1928 als drittes Kind osteuropäischer Einwanderer in Pittsburgh geboren, ging 1949 nach Abschluss seines Studiums der Gebrauchsgrafik in Pittsburgh im Alter von 21 Jahren nach New York. Dort wurde er bald zu einem der gefragtesten und erfolgreichsten Werbegrafiker der USA.3 Seinen Versuchen, auch als ernsthafter Künstler Anerkennung zu finden, war während der 1950er Jahre kein Erfolg beschieden.4

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geteilte Wissen zurückgreifen. Vgl. Pierre Bourdieu: Rede und Antwort. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 228–229. Vgl. Nina Zahner: Die neuen Regeln der Kunst. Andy Warhol und der Umbau des Kunstbetriebs im 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main: Campus 2006. Im Jahre 1953 erhielt er seine erste Art-Directors’-Club-Goldmedaille, den Oscar der Werbebranche, 1954 ein Certificate of Excellence des American Institutes of Graphic Arts und 1956 den Award for Distinctive Merit des Art Directors’ Club für die Schuhwerbung der Firma I. Miller. Vgl. Victor Bockris: Andy Warhol. München: Heyne 1991, S. 107; Antje Dallmann: Andy Warhol – eine Chronologie in Amerika. In: Andy Warhol. Retrospektive. Hg. von Heiner Bastian. Köln: DuMont 2001, S. 291–292. Vgl. David Bourdon: Warhol. Köln: DuMont 1989, S. 68–69.

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Bis Ende der 1950er Jahre war das Kunstfeld New Yorks von den Abstrakten Expressionisten dominiert. Diese hatten ihre Kunstkonzeption in Auseinandersetzung mit jenen Teilen der europäischen Avantgarde entwickelt, die wegen des Krieges nach New York emigriert war – in besonderem Maße dem Surrealismus –, und blieben der Tradition des ästhetischen Modernismus Europas eng verbunden. So stand die Autonomie der Kunst für die Abstrakten Expressionisten außer Frage. Der zentralen Betonung des Individuellen in der europäischen Konzeption gab der Abstrakte Expressionismus eine neuartige Wende, indem man vor allem die individuelle Emotionalität in den Vordergrund rückte. Individuelle Wahrnehmung und Erfahrung der Wirklichkeit nahmen bei den Abstrakten Expressionisten eine zentrale Stellung ein und führten zu einer starken Betonung des Metaphysischen gegenüber den entmenschlichenden Eigenarten einer von Technik dominierten Gesellschaft. Der Künstler wurde als Teil der Natur, als Zeuge im natürlichen Entstehungsprozess gedacht. Die soziale Wirklichkeit mit all ihren Formen der Populärkultur schlossen die Künstler radikal aus ihrem Programm und dem Bereich der Kunst aus.5 Das Feld kam Ende der 1950er Jahre in Bewegung, als Jasper Johns und Robert Rauschenberg mit ihren ersten Einzelausstellungen im Januar und März 1958 in der Castelli Gallery Erfolge feierten. Beide waren Teil einer neuen Künstlergeneration, die eine Wiederanbindung der Lebenswirklichkeit an die Kunst anstrebte und als postmoderne Avantgarde bemüht war, die Wertvorstellungen der Moderne zu persiflieren.6 Ihr institutionelles Zentrum war die Galerie Leo Castellis. Im Herbst 1960 wurde schließlich deutlich, dass sich ein fundamentaler Wandel in der zeitgenössischen Kunst vollzog: Eine ganze Generation von Künstlern, die die Trivialkultur zum Thema wählten, wurde auf dem New Yorker Kunstmarkt sichtbar.7 5

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Vgl. Stewart Buettner: American Art Theory. 1945–1970. Ann Arbor: UMI 1981, S. 73– 74; Diane Crane: The Transformation of the Avant-Garde. The New York Art World 1940–85. Chicago: University of Chicago Press 1987, S. 62; Irving Sandler: Abstract Expressionism. The Triumph of American Painting. London: Pall Mall 1970, S. 200; Karin Thomas: Bis heute. Stilgeschichte der bildenden Kunst im 20. Jahrhundert. Köln: DuMont 1998, S. 191. Vgl. Calvin Tomkins: Off the Wall. Robert Rauschenberg and the Art World of Our Time. Harmondsworth: Penguin 1981, S. 143; Christin J. Mamiya: Pop Art and Consumer Culture. American Supermarket. Austin: University of Texas Press 1992, S. 8. Rauschenberg versuchte, die von ihm angestrebte Wiederanbindung der künstlerischen Bildwirklichkeit an die Lebenswirklichkeit dadurch zu leisten, dass er Teile der realen Welt in seine Kunst hineinholte. Er integrierte in seine Werke Readymades, um sie in der Lücke zwischen Kunst und Leben anzusiedeln. Eine ähnliche Zielsetzung verfolgte auch Johns, der eine Abwendung von den unbestimmten Bildräumen des Abstrakten Expressionismus durch die Einbeziehung von Wirklichkeitszitaten – Fahnen, Schießscheiben und Zahlen – zu leisten suchte. Vgl. Karin Thomas (Anm. 5), S. 267–268. Die Galerien Castelli, Green, Judson, Tanager, Jackson, Stable und Hansa zeigten oder planten Ausstellungen von Robert Rauschenberg, Claes Oldenburg, Tom Wesselmann, Roy Lichtenstein, James Rosenquist, Robert Indiana, Frank Stella, Jim Dine und Lucas Samaras.

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Obwohl auch Warhol in dieser Richtung arbeitete, konnte er zunächst keine Galerie finden.8 Dies änderte sich im Jahr 1962. In dem Bestreben, einen eindeutig identifizierbaren Stil zu finden, konzentrierte sich Warhol nun zunehmend auf die Konsumkultur, Wiederholungsfolgen von Einzelbildern und eine gedruckte Bildwirkung, die er durch Schablonen und Stempel hervorrief. Irving Blum, ein junger Galerist, schlug ihm eine Sommerausstellung der vollständigen Serie der Campbell’s Soup Cans – an der er gerade arbeitete – in seiner Ferus Gallery in Los Angeles vor. Warhol willigte begeistert ein. Etwa zur gleichen Zeit stellte das TimeMagazin in einem Artikel über die neue Kunst Warhol mit seiner »Porträtserie«9 von Suppendosen der breiten Öffentlichkeit vor. Der Artikel zeigte eine Fotografie von Warhol neben einem seiner Suppendosen-Bilder.10 Im Juli 1962 begann Warhol neben Markenartikeln auch Stars der Populärkultur zum Gegenstand seiner Bilder zu machen. Zudem hatte er in diesem Sommer entdeckt, dass sich nach gedruckten Schwarz-Weiß-Fotos Siebdruckvorlagen anfertigen lassen, und arbeitete nun mit dieser Technik, die sich als ideal erwies, um sein Konzept der Wiederholung auszubauen. Die Nutzung dieses Verfahrens und die neue Wahl seiner Sujets unterschieden ihn von allen anderen aufstrebenden Pop-Art-Künstlern, die sich mit Comics, Nahrung, Kleidung und Reklameschildern beschäftigten. Nun stellte sich auch der Erfolg ein. Seine Marylin-, Elvis- und Coca-Cola-Porträts wurden Anfang November 1962 in Eleanor Wards Stable Gallery in New York gezeigt und machten Andy Warhol mit einem Schlag innerhalb der Kunstwelt New Yorks berühmt. Zudem war er mit drei Bildkompositionen in der zeitgleich stattfindenden Gruppenausstellung ›The International Exhibition of the New Realists‹ in der Sidney Janis Gallery präsent. Diese Ausstellung stellte die endgültige Wachablösung in der amerikanischen zeitgenössischen Kunst dar. Die New York Times schrieb: »With this show, ›pop‹ art is officially here«.11 Bereits im Jahr 1964 war die Pop-Art als international führende Kunstrichtung etabliert: Sie war auf der XXXII. Biennale in Venedig sowie der Weltausstellung in New York vertreten. Einem allgemeinen Konsens zufolge stellten Jim Dine, Roy Lichtenstein, Claes Oldenburg, James Rosenquist, Tom Wesselmann und Andy Warhol ihre wichtigsten Vertreter dar. Warhol wechselte nun zur Castelli Gallery, dem institutionellen Zentrum der neuen Kunst.12 8

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Warhol hatte sich zwischenzeitlich seine Kenntnisse aus der kommerziellen Tätigkeit künstlerisch zunutze gemacht und malte große Schwarz-Weiß-Bilder, deren Sujets Reklame für Perücken, Nasenoperationen, TV-Geräte, Konserven und Coca-Cola-Flaschen darstellten, und große Comic-Bilder in grellen Farben. Seine Serien wurden von den Händlern nicht als interessant genug beurteilt, um auf dem Markt Käufer finden zu können. Leo Castelli lehnte es ab, Warhol zu zeigen, da ihm dessen Arbeiten jenen Roy Lichtensteins zu ähnlich waren, den er bereits vertrat. Warhol gab hierauf die ComicVorlagen auf. Vgl. Victor Bockris (Anm. 3), S. 162; Antje Dallmann (Anm. 3), S. 293. The Slice of Cake School. In: Time vom 11. 3. 1962, S. 44. Vgl. David Bourdon (Anm. 4), S. 119. Brian O’Doherty: Art: Avant-Garde Revolt. In: Pop Art. A Critical History. Hg. von Steven H. Madoff. Berkley: University of California Press 1997, S. 41–44, hier S. 42. Vgl. David Bourdon (Anm. 4), S. 130; Calvin Tomkins (Anm. 6), S. 215; Michael Fried: New York Letter. In: Art International vom 20. 12. 1962, S. 57. Castelli sah nun kein

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Von nun an wandte er sich verstärkt anderen Bereichen zu: Die im November 1963 bezogene ›Factory‹ brachte Kunst, Fotografie, Film, Mode, Fernsehen, Musik und Werbung hervor und wurde binnen kurzem zum Treffpunkt der New Yorker Underground-Boheme. Ab Mitte der 1960er Jahre entwickelte sich das Gesamtkunstwerk Factory zu einem wirtschaftlich außerordentlich erfolgreichen Lifestyle-Unternehmen. Sämtliche künstlerische Aktivitäten wurden nun nach Warhols Vorbild des big business gestaltet. Als Andy Warhol am 22. Februar 1987 an den Folgen einer Gallenblasenoperation starb, hinterließ er ein auf nahezu 100 Millionen Dollar geschätztes Vermögen, und sein Wiedererkennungswert entsprach Schätzungen zufolge weltweit beinahe dem Picassos.13

2. Die Expansion des New Yorker Kunstfeldes in den 1950er und 1960er Jahren Warhols Aufstieg zum international gefeierten Künstlerstar fand in den Vereinigten Staaten vor dem Hintergrund eines gewaltigen Wirtschaftsbooms statt.14 Ab 1947 erlebte die amerikanische Volkswirtschaft eine Phase kontinuierlicher Prosperität, in der das durchschnittliche Realeinkommen der Amerikaner deutlich zunahm. Die Folge war eine starke Steigerung des privaten Konsums, von dem anhaltende Wachstumsimpulse ausgingen. Die breiten Bevölkerungsschichten entwickelten einen Lebensstandard, der bis dahin in der Welt einmalig war: Gebrauchsgüter wie Automobile, Fernsehgeräte oder Waschmaschinen wurden für die meisten Amerikaner zur Selbstverständlichkeit. Es bildete sich eine breite Mittelschicht heraus, deren Lebensstil in wachsendem Maße auf Konsum ausgerichtet war. Erstmals war nun das Warenangebot in vielen Bereichen größer als die Nachfrage. In dieser veränderten Marktsituation bildete sich eine riesige Werbewirtschaft heraus, die den Absatz der angebotenen Produkte fördern sollte. Der Anstieg der Werbeausgaben führte zu einem Boom der Massenmedien und der Entwicklung einer

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Problem mehr darin, Roy Lichtenstein und Andy Warhol gleichzeitig zu vertreten, war Letzterer doch zum Siebdruck und zu Serienbildern und mit seinen Brillo-Boxes sogar zu Skulpturen übergegangen. Der Wechsel wirkte sich für Warhol in finanzieller Hinsicht äußerst positiv aus. Vgl. Victor Bockris (Anm. 3), S. 142; Antje Dallmann (Anm. 3), S. 296. Vgl. Heiner Bastian: Rituale unerfüllbarer Individualität – der Verbleib der Emotion. In: Andy Warhol. Retrospektive. Hg. von Heiner Bastian. Köln: DuMont 2001, S. 12– 39, hier S. 33; Paolo Bianchi/Christoph Doswald: Gegenspieler. Andy Warhol, Joseph Beuys. Frankfurt am Main: Fischer 2000, S. 72; Victor Bockris (Anm. 3), S. 212; Wayne Koestenbaum: Andy Warhol. London: Phoenix 2003, S. 141. Amerikas Eintritt in den Zweiten Weltkrieg im Jahre 1941 hatte die Wirtschaft enorm angekurbelt. Die Mobilisierung für den Krieg befreite die amerikanische Wirtschaft aus einer zehnjährigen Krise. Vollbeschäftigung, relative Preisstabilität, wachsende Kaufkraft und Produktionsrekorde kennzeichneten die Kriegsökonomie der USA. Die Arbeitslosigkeit erreichte im Oktober 1944 ihren Tiefststand. Vgl. Detlef Junker: Weltwirtschaftskrise, New Deal, Zweiter Weltkrieg. 1929–1945. In: Länderbericht USA. Bd. 1. Hg. von Willi Paul Adams und Peter Lösche. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1992, S. 164–185, hier S. 173.

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das breite Mittelschichtpublikum ansprechenden Populärkultur. Großen Anteil an dieser Entwicklung hatte das neue Medium Fernsehen. Mit der Öffnung der Universitäten in den 1950er Jahren setzte zudem ein deutlicher Anstieg des Ausbildungsniveaus ein: Der Anteil der Bevölkerung, dessen Schulausbildung mit der elementary school endete, nahm deutlich ab, wohingegen ein deutlicher Anstieg des Bevölkerungsanteils mit College-Abschluss zu beobachten war.15 Für das Kunstfeld hatten die beschriebenen Entwicklungen weitreichende Konsequenzen. Setzt sich das Kunstpublikum in den USA aus jenen Teilen der Bevölkerung zusammen, die ein College besucht haben,16 so vergrößerte es sich in den 1950er und 1960er Jahren mit der steigenden Quote an College-Absolventen stetig. Zudem war eine neue Begeisterung für Kunst seit Ende der 1950er Jahre auch in die Kulturpolitik eingezogen: In den Schulen begann man, vermehrt Wert auf die Vermittlung bildender Kunst zu legen. Dies führte zu einer weiteren Expansion des Kunstpublikums in den 1960er Jahren.17 Auf der Produktionsseite des Kunstfeldes äußerten sich die Bildungsexpansion und der Wirtschaftsboom der 1940er und 1950er Jahre in einem deutlichen Anwachsen der Zahl aufstrebender junger Künstler. Die meisten dieser jungen Künstler entstammten der amerikanischen Mittelschicht, verfügten über akademische Abschlüsse im Bereich der Kunst und sahen ihre Tätigkeit als Künstler mehr als Beruf denn als soziale Rebellion, wie dies die Abstrakten Expressionisten getan hatten. Die Pop-Art-Künstler verstanden Kunst nicht als jenseits des Lebens stehend und dieses von dort aus kritisch betrachtend und reflektierend, sondern als sich am Leben erfreuend, an ihm teilhabend:18 Art which has slept so long in its golden crypts, in its glass graves, is asked to go for a swim, is given a cigarette, a bottle of beer, its hair rumpled, is given a shove and tripped, is taught to laugh, is given clothes of all kinds, goes for a ride on a bike, finds a girl in a cab and feels her up.19 15

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Vgl. Manfred Berg: Die innere Entwicklung der USA seit dem Zweiten Weltkrieg. In: Willi Paul Adams/Peter Lösche (Anm. 14), S. 186–215, hier S. 190–192; Constance W. Glenn: Amerikanische Pop Art. Wie der Mythos geschaffen wurde. In: Pop art. Hg. von Marco Livingstone. München: Prestel 1992, S. 31–41, hier S. 31; Jeffrey P. Hart: When the going was good! American life in the fifties. New York: Crown 1982, S. 5–14. Vgl. Paul DiMaggio/Michael Useem: Cultural Democracy in a Period of Cultural Expansion. The Social Composition of Arts Audiences in the United States. In: Art and Society. Readings in the Sociology of the Arts. Hg. von Arnold W. Foster und Judith R. Blau. Albany: State University of New York Press 1989, S. 141–171. Vgl. Bruce Altshuler: Pop Triumphant. A New Realism. In: Steven H. Madoff (Anm. 11), S. 397–403, hier S. 401; Thomas Crow: Die Kunst der sechziger Jahre. Von der Pop-art zu Yves Klein und Joseph Beuys. Köln: DuMont 1997, S. 76; Alvin Toffler: The Culture Consumers. Baltimore: Penguin 1965, S. 34. Vgl. Paul DiMaggio/Michael Useem (Anm. 16); Birgit Hahn-Woernle: Pop-Art. München: Schuler 1974, S. 100; Richard A. Peterson/Roger M. Kern: Changing Highbrow Taste. From Snob to Omnivore. In: American Sociological Review 61 (1996) 5, S. 900– 907. Vgl. Oldenbourg zitiert nach Ann C. Van Devanter/Alfred V. Frankenstein: American Self-Portraits. 1670–1973. Washington D. C.: International Exhibitions Foundation 1974, S. 216.

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Pop-Art ging eben gerade nicht auf Distanz zur Populärkultur und prangerte deren Inhalte und Mechanismen an, sondern stellte stattdessen den überlieferten Kunstbegriff der Moderne und des Abstrakten Expressionismus in Frage.20 Mit der Expansion des Kunstfeldes auf der Produzenten- und Rezipientenseite, die hauptsächlich durch eine Inklusion der Mittelschicht geprägt war, ging eine grundlegende Transformation des Feldes einher. Die bestehenden Regeln der Konsekration hatten sich in den 1940er Jahren vor einer Feldsituation ausgebildet, in der eine relativ überschaubare Gruppe von Kunstinteressierten, -mittlern und -produzenten mit einem der Moderne verpflichteten Kunstverständnis am Definitionsprozess von Kunst beteiligt war. Im Prozess der Durchsetzung der Abstrakten Expressionisten hatten produktionsorientierte Galerien die Rolle der gatekeeper21 übernommen und geduldig Aufbau- und Förderarbeit für neue künstlerische Positionen betrieben. Eine Auswahl der dort geförderten Künstler wurde später von absatzorientierten Galerien aufgenommen. Diese waren weniger auf die künstlerische Förderung, sondern mehr auf die Vermarktung ihrer Künstler ausgerichtet. Sie stellten den Kontakt zum Kunstmarkt her – zu Sammlern und Museen. Die Karriere der Abstrakten Expressionisten folgte somit einem Pfad, der mit der Konzeption Bourdieus im Einklang stehend von der Aufnahme in produktionsorientierte Galerien über absatzorientierte Galerien bis in die renommierten Museen, den Olymp des kunstfeldinternen Anerkennungsprozesses verlief. Auf intellektuell-theoretischer Ebene wurde dieser Prozess durch eine modernistisch orientierte Kunstkritik unterstützt, die dem kunstinteressierten Publikum durch die kunsthistorische Verortung der Werke den intellektuellen Zugang zu diesen erleichterte. Vor allem der anerkannte Kritiker Clement Greenberg sorgte so dafür, dass der Kunst der Sprung von produktionsorientierten zu absatzorientierten Galerien gelang. Die Massenmedien machten die feldintern bereits anerkannten Werke schließlich dem breiten Publikum bekannt, indem sie sie als Scharlatanerie zurückwiesen.22 Nennenswerten Einfluss auf den feldinternen Anerkennungsprozess der Werke hatte diese Zurückweisung durch die Massenmedien nicht. Die Pop-Art-Künstler hingegen fanden sich in einem massiv expandierenden Kunstfeld wieder, in dem das bestehende modernistisch orientierte Institutionengeflecht und dessen auf der künstlerisch-intellektuellen Anerkennung von Kunst basierender Konsekrationsprozess so nicht mehr als allein gültige firmieren konnten. Mit der Inklusion der Mittelschicht auf Produktions- wie auf Rezeptionsseite des Feldes hatte sich der Kunstbegriff gewandelt. Autonomie und theoretische Selbstbezüglichkeit der Kunst standen nun nicht mehr im Zentrum. Die jungen Pop-Art-Künstler vertraten ebenso wie das ins Feld drängende Mitteklassepublikum ein Kunstverständnis, das die Trennung zwischen Kunst und Leben aufhe20

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Vgl. Barbara Rose: The Value of Didactic Art. In: Artforum 5 (1967), S. 32–36, hier S. 35; Barbara Rose: Problems of Criticism V. The Politics of Art. Part II. In: Artforum 7 (1969), S. 44–49, hier S. 47. Vgl. Marcia Bystryn: Art Galleries as Gatekeepers. The Case of the Abstract Expressionists. In: Social Research 45 (1978), S. 390–408, hier S. 390. Vgl. Nina Zahner (Anm. 2), S. 130–133.

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ben wollte und prinzipiell aufgeschlossen gegenüber der Konsumkultur war. Die Herausforderung für die neuen Künstler bestand nun vor allem darin, für dieses neue Publikum sichtbar zu werden.

3. Die Transformation des Kunstfeldes der 1960er Jahre in New York Warhols erster Erfolg in Bezug auf ein öffentliches In-Erscheinung-Treten war die massenmediale Aufmerksamkeit, die ihm durch den Artikel im populären TimeMagazin von 1962 zuteil wurde. Man hatte eine Fotografie von Warhol neben einem seiner Campbell-Soup-Bilder als Aufmacher für den Artikel über die neue gegenständliche Malerei gewählt. Warhol wurde als einziger der aufstrebenden jungen Künstler mit Bild gezeigt. Er erlangte auf diesem Wege als Künstler eine hohe Bekanntheit in der kunstinteressierten Öffentlichkeit, obwohl er innerhalb der Kunstszene noch eher unbekannt war. Dass Warhol eine derart prominente Präsentation in dem Artikel fand, steht wohl damit in Zusammenhang, dass die klare Konturiertheit und Farbgebung des Suppendosen-Bildes den Anforderungen des Printmediums nach guter Reproduzierbarkeit in besonderer Weise entgegenkam: Seine Arbeit wirkte auch als Schwarz-Weiß-Druck sehr gut. Eine Eigenschaft, die wohl Warhols äußerst erfolgreicher Tätigkeit als Werbegrafiker geschuldet ist. Mindestens ebenso wichtig war aber wohl die Wahl des Sujets selbst gewesen. Die Campbell-Suppendose als Bildinhalt eignete sich gut, um die Aufmerksamkeit der Mittelklasse-Leserschaft des Time-Magazins zu erregen. Sie stellte ein prominentes Symbol des Lebensstils der Mittelklasse dar, das über den hohen Wiedererkennungswert einer für den Massenmarkt werblich durchkomponierten Marke verfügte.23 Innerhalb des expandierenden Kunstfeldes waren es erstmals nicht mehr die innovative Bearbeitung kunstspezifischer Fragestellungen und kunsthistorische Bezüge, die die Aufmerksamkeit des kunstinteressierten Publikums und potenzieller Käufer erregten, sondern die massenmediale Reproduzierbarkeit der Arbeiten und die alltagsweltliche Geläufigkeit der Sujets. Andy Warhols erste Erfolge als Pop-Art-Künstler können wesentlich auf seine äußerst virtuose Anwendung der Technik des Imagetransfers – ein in den 1950er Jahren entwickeltes Instrument der Produktvermarktung – zurückgeführt werden: Indem er den mit Hilfe von 23

Vgl. Eduard Beaucamp: Superstar und Menetekel. Zum Tode Andy Warhols. In: E. B.: Die befragte Kunst. Kritische Streifzüge von Donatello bis Beuys. München: Prestel 1988, S. 177–178; Paolo Bianchi/Christoph Doswald (Anm. 13), S. 67; Diane Crane (Anm. 5), S. 66; Werner Faulstich: Das Versagen der Avantgarde als Bastion der Hochkultur. Zum Wertewandel bei E-Musik und Bildenden Künsten. In: W. F.: Die Kultur der 60er Jahre. München: Fink 2003, S. 61–74, hier S. 66; Max Kozloff: Pop Culture. Metaphysical Disgust and The New Vulgarians. In: Steven H. Madoff (Anm. 11), S. 29–32, hier S. 32; Marco Livingstone: Schöne neue Warenwelt. In: M. L.: Pop art. München: Prestel 1992, S. 10–18, hier S. 17; David McCarthy: Pop Art. Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2001, S. 75–76; Karin Thomas (Anm. 5), S. 265; James Webster/Patricia Phalen: The Mass Audience. Rediscovering the Dominant Model. Mahwah: Erlbaum 1997, S. 49.

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Marketingmaßnahmen konstruierten Publicitywert von Markenartikeln und Filmstars seinen Kunstwerken einverleibte, gelang es ihm, das neu in den Kunstmarkt drängende Mittelschichtpublikum bzw. den neuen Sammler auf seine Werke aufmerksam zu machen. Dass sich Warhol auf dem stark umkämpften expandierenden Kunstmarkt jener Periode durchsetzen konnte, dürfte in hohem Maße darauf zurückzuführen sein, dass er als erfahrener Werbegrafiker beinahe instinktiv wusste, welche Ideen und Themen auffielen. Seine Kenntnisse aus der Tätigkeit als kommerzieller Künstler kamen ihm nun im höchsten Maße zugute. Die Übertragung der in seiner beruflichen Sozialisation im Subfeld der Massenproduktion erworbenen Kenntnisse und Sichtweisen auf das Kunstfeld stellte wohl den zentralen Erfolgsfaktor des Künstlers Andy Warhol im expandierenden Kunstfeld der 1960er und 1970er Jahre dar. Im feldspezifischen Kampf um die Definition legitimer Kunst machte Warhols äußerst erfolgreiche Behandlung von Kunst als Ware und deren Vermarktung nach den Regeln der Konsumkultur deutlich, dass Mechanismen des Massenmarktes auch in der Kunstszene Gültigkeit besaßen. Warhol zeigte, dass in den 1960er Jahren die modernistische Setzung der Autonomie der Kunst in Form einer strikten Trennung von Massenkultur und Kunst, wie sie der Abstrakte Expressionismus propagierte, nicht mehr zeitgemäß war. Die Kunst Warhols gelangte zu Anerkennung, weil sie das neu im Feld in Erscheinung tretende amerikanische Mittelklassepublikum ansprach, das mit der Trennung von Kunst und Populärkultur der europäischen Tradition der Moderne nichts anzufangen wusste.24 Warhol nutzte aber nicht nur die Vermarktungstechniken der Konsumkultur, sondern auch deren Herstellungsmechanismen für seine Kunst: Mit Hilfe von Stempeln und Siebdruck – Verfahren der Massenproduktion – stellte er auch die Originalität des Künstlers 24

Mit der ›Aufhebung der Trennung von Kunst und Leben‹ bezieht Warhol im feldinternen Diskurs im Hinblick auf die Frage, ›was Kunst eigentlich sei‹, auf hohem intellektuellen Niveau selbstreflexiv Position und schließt so an die Tradition der modernen Avantgarden an. Zugleich positioniert er sich innerhalb des feldinternen ästhetischen Diskurses auf eine Weise, die eben dessen Funktionsweise grundsätzlich in Frage stellt und unterscheidet sich hier grundsätzlich von Rauschenberg und Johns: Die Bezugnahme der Werke auf den feldinternen Diskurs ist bei Warhol nie intellektuelle Zugangsvoraussetzung für ein Verständnis der Werke, sondern stellt nur eine Dekodierungsmöglichkeit von vielen dar. Eine andere Möglichkeit zur Dekodierung bieten der klare Bezug der Werke zur Populärkultur und die einfache Verständlichkeit der Werke auf dieser Ebene. Bourdieu spricht hier vom »niedrigen Emissionsniveau« der Werke (vgl. Pierre Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen [Anm. 1]). Das breite Publikum findet so auch ohne Kenntnis des feldinternen Diskurses einen unmittelbaren Zugang zu den Werken. Warhols Werken fehlt damit zumindest scheinbar ebenjene Theoriebedürftigkeit, die so kennzeichnend für die modernen Avantgarden ist und von weiten Teilen des amerikanischen Mittelklassepublikums der 1960er Jahre als elitär intellektuell abgelehnt wird. Indem sein Werk sich gerade als nicht sperrig präsentiert, eröffnet es dem breiten Publikum den Zugang und Warhol einen neuartigen Anerkennungspfad im Feld. Diese verschiedenen Ebenen der Dekodierung der Werke und ihre scheinbar voraussetzungslose Zugänglichkeit werden zum postmodernen Aspekt der Warhol’schen Kunst und zu einem wesentlichen Teil ihres Erfolges.

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als schöpferisches Individuum und die Einzigartigkeit des Werkes – neben der Autonomie der Kunst weitere zentrale Ideen der modernen Kunsttheorie – öffentlichkeitswirksam in Frage.25 Auch in der antiindividuellen Anmutung seiner Werke verband er äußerst geschickt die Logiken beider Subfelder der Kunst nach Bourdieu. Denn indem Warhol seine Siebdrucke künstlerisch nachbearbeitete bzw. nachbearbeiten ließ, wurden die scheinbar massenproduzierten Objekte zu einzigartigen Kunstwerken. Speziell der Siebdruck eröffnete die Möglichkeit, die Wiederholung als Merkmal der Massenproduktion mit dem im damaligen Kunstfeld vorherrschenden Konzept der Einmaligkeit des Kunstwerks zu verbinden. Jeder scheinbar identische Druck konnte je nach Farbgebung, Farbmenge, Ausrichtung und Druckvorgehen zu etwas Einzigartigem werden. Eine einzige Druckvorlage konnte so zu einer geradezu endlosen Zahl an Variationen führen. Jedes Bild war Original und Kopie zugleich: Jedes Bild verfügte über die Aura und damit den ökonomischen Wert eines einzigartigen Kunstwerks, während es zugleich ein Objekt der Massenproduktion darstellte.26 Diese künstlerische Gegenposition zum intellektuell übersteigerten Modernismus, die scheinbar ganz theorielos und äußerst zugänglich daherkam, sprach einen zu jener Zeit neu im Feld in Erscheinung tretenden Sammlertypus27 an. Dieser war mit dem Wirtschaftsboom der 1950er zu Geld gekommen und hatte eine von der Konsumkultur geprägte Weltsicht. In New York waren die Selfmade-Millionäre Ethel und Robert C. Scull, die ihr Vermögen mit einem florierenden Taxiunternehmen erworben hatten, und der Versicherungsmakler Leon Kraushar die bekanntesten Sammler dieses neuen Typs.28 Sowohl Kraushar als auch die Sculls verfügten über wenig kunstspezifisches Hintergrundwissen und wurden vor allem von den 25

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Vgl. Martin Damus: Kunst im 20. Jahrhundert. Von der transzendierenden zur affirmativen Moderne. Reinbek: Rowohlt 2000, S. 295–296; Carol A. Mahsun: Pop art and the critics. Ann Arbor: UMI 1987, S. 64–66; David McCarthy (Anm. 23), S. 25; John Coplans: Early Warhol: The Systematic Evolution of the Impersonal Style. In: Steven H. Madoff (Anm. 11), S. 294–301, S. 296; Carter Ratcliff: Andy Warhol. München: Bucher 1984, S. 7; Karin Thomas (Anm. 5), S. 38; David Bourdon (Anm. 4), S. 10. Vgl. Roland Barthes: That Old Thing, Art. In: Steven H. Madoff (Anm. 11), S. 370–374, hier S. 372; William J. Rorabaugh: Kennedy and the Promise of the Sixties. Cambridge: Cambridge University Press 2002, S. 201–202; Harold Rosenberg: The Art World. Marilyn Mondrian. In: Steven H. Madoff (Anm. 11), S. 180–185, hier S. 180. Im Folgenden wird das Konzept des ›Typus‹ in rein deskriptiver Absicht verwendet, das heißt es findet eine Klassifikation rein nach im Rahmen der qualitativen Fallstudie beobachteten Merkmalen statt. Diese Bildung von ›Realtypen‹ ist grundsätzlich von der Bildung von ›Idealtypen‹ nach Max Weber zu unterscheiden, die als »Gedankenbild [. . .] die Bedeutung eines rein idealen Grenzbegriffs« (Max Weber: Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In: M. W.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen: Mohr 1988, S, 146–214, hier S. 194) und eine erklärende Funktion im Rahmen von Kausalhypothesen haben. Die hier gebildeten Realtypen hingegen dienen lediglich der begrifflichen Ordnung von im institutionellen Wandlungsprozess des Feldes vorfindbaren Einzelmerkmalen (vgl. ebd., S. 190– 212). Vgl. Thomas Crow (Anm. 17), S. 91.

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populären Bildinhalten der neuen Kunst angesprochen: Pop-Art »spoke directly to me about things I understood«.29 Diese neuen Sammler kauften Arbeiten zum Teil direkt von den Künstlern, da die Arbeiten ihnen unmittelbar verständlich und mit ihrem konsumbejahenden Wertesystem in Einklang erschienen.30 Man basierte seine Kaufentscheidung nicht – wie bei den Abstrakten Expressionisten häufig der Fall – auf Empfehlungen von Expertenseite,31 sondern kaufte, was gefiel. Wirtschaftlichkeitsaspekte und der Erwerb öffentlicher Aufmerksamkeit standen im Vordergrund der Sammeltätigkeit: So unterhielten die Sculls mit der Green Gallery eine eigene Galerie, um so manche der exponiertesten Werke zu Preisen erwerben zu können, die sie quasi selbst vorgaben, und Kraushar behandelte seine Werke wie Aktien: »These pictures are like IBM stock, don’t forget that, and this is the time to buy, because pop is never going to die. I’m not planning to sell my IBM stock either«.32 Als Indiz für die Publicity-Orientierung der neuen Sammler kann gelten, dass die Sculls vom Kauf einiger Warhol-Arbeiten zurücktraten, nachdem Ethel Scull auf einer anlässlich der Ausstellung stattfindenden Party zu wenig Aufmerksamkeit von Seiten der Journalisten zuteil wurde. Diese hatten sich zum großen Ärger des Sammler-Ehepaares allein auf Warhol und dessen FactoryGefolge konzentriert.33 Dieser neue Sammlertypus stellte die Hauptklientel eines sich ebenfalls neu im Feld etablierenden Galeristentypus dar. Stellvertretend für diesen Typus können im Rahmen der Karriere Warhols Eleanor Ward und die Castellis gelten. Eleanor Ward war auf der Upper East Side von Manhattan aufgewachsen, hatte ihre Karriere in der Werbebranche begonnen und war Assistentin von Christian Dior in Paris gewesen. 1953 mietete sie ein ehemaliges Stallgebäude, um dort die Stable Gallery zu eröffnen. Ihre Galerie erwarb sich schnell Anerkennung innerhalb der New Yorker Kunstszene und wurde, nachdem sie Rauschenberg und Indiana ausgestellt hatte, der Popbewegung zugerechnet, die sich aus ungefähr hundert Künstlern, Händlern, Kritikern und Sammlern bildete. Ward verfügte innerhalb des New Yorker Kunstfeldes über ein gewisses Prestige als Galeristin für jene neue Kunst, welche die Trivialkultur zum Gegenstand ihrer Werke machte. Sie unter-

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Kraushar zitiert nach John Rublowsky: Pop Art. New York: Basic Books 1965, S. 157. Der mangelnde kommerzielle Erfolg der Desaster-Bilder und der Brillo-Boxen macht dies exemplarisch deutlich: Werke, die sich entweder inhaltlich – in ihrer Position bezüglich der Populärkultur, wie die Desasters – oder konzeptionell – bezüglich der Objekteigenschaften eines Kunstwerks, wie die Brillo-Boxen – zu weit vom populären Geschmack dieser Sammler entfernten, erwiesen sich als kaum verkäuflich. Der Kunstanspruch der Brillo-Boxen wurde von den Ausstellungsbesuchern wahrscheinlich nur als Gesamtkunstwerk, als Werk der Konzeptkunst, im Ausstellungszusammenhang erkannt. Die Ausstellung wurde mehr im Sinne einer begehbaren Installation, als Spektakel rezipiert denn als käufliches Kunstwerk. Das Kunstverständnis, das den Boxen zugrunde lag, wich zu weit vom Bekannten – der klassischen Leinwand bzw. Skulptur – ab. Vgl. Nina Zahner (Anm. 2), S. 116–119. You Bought It – Now Live with It. In: Life vom 21. 2. 1965, S. 59. Vgl. John Rublowsky (Anm. 29), S. 155.

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hielt jedoch kaum über New York hinausgehende nationale oder internationale Verbindungen.34 Leo Castelli, Sohn einer begüterten Triester Familie, und Ileana Sonnabend, Tochter einer wohlhabenden Bukarester Industriellenfamilie, waren bis 1960 verheiratet. Castelli war im Bank- und Versicherungswesen tätig gewesen. Die Castellis emigrierten im März 1941 von Paris nach New York, fanden schnell Kontakt zu den wichtigsten Künstlerkreisen und eröffneten 1957 eine Galerie in der 4 East 77th Street. Sie hatten bereits zuvor in Paris für kurze Zeit eine Galerie besessen und in New York gemeinsam mit Sidney Janis – einem renommierten Galeristen der Szene35 – Ausstellungen organisiert. Zu den Künstlern, die sie fast von Beginn an in New York ausstellten, gehörten Johns und Rauschenberg. Die Castellis erwarben sich vor allem durch ihr Engagement für diese beiden Vertreter eines neuen, post-modernistischen Kunstverständnisses zum Ende der 1950er Jahre Prestige in der Kunstszene. Mit den Ausstellungen von Johns und Rauschenberg gelang es ihnen, ihre Galerie als bedeutenden Ausstellungs- und Verkaufsort der neuen Kunst zu positionieren. Das ohnehin hohe Ansehen der Galerie als Ort künstlerischer Innovation wuchs noch weiter, als Rauschenberg im Jahr 1964 mit dem ersten Preis der XXXII. Biennale in Venedig ausgezeichnet wurde.36 Eleanor Ward und Leo Castelli verfügten beide über einen kommerziellen Hintergrund und übertrugen Vermarktungsstrategien aus der Wirtschaft in zum Teil virtuoser Weise auf den Bereich der Kunst. Sie gingen, was die Vermarktung der Kunst anging, ganz neue Wege: Um die Aufmerksamkeit der publicityorientierten neuen Sammler zu generieren, musste die Kunst die von der Alltagwelt distanzierte weiße Welt der Galerie verlassen und Präsenz in den Massenmedien erlangen. Die Galerien betrieben professionelle Presse- und Marketingarbeit und gestalteten ihre Eröffnungen als öffentlichkeitswirksame Events, die ihnen im expandierenden Feld der Kunst zu medialer Sichtbarkeit verhalfen.37 Mit den Massenmedien und der Etablierung der neuen publicityorientierten Sammler sowie der neuen vermarktungsorientierten Galerien eröffnete sich für Warhol ein von den etablierten Karriereverläufen abweichender Weg. Statt wie die Abstrakten Expressionisten in einer produktionsorientierten Galerie zunächst öffentliche Sichtbarkeit in der Kunstwelt zu erlangen, um anschließend mit Unterstützung der modernistischen Kunstkritik zu einem absatzorientierten Galeristen 34

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Vgl. John Wilcock: The Autobiography & Sex Life of Andy Warhol. New York: Other Scenes 1971, S. 9–10. Sidney Janis hatte sich im Rahmen des Aufstiegs der Abstrakten Expressionisten als eine der bedeutenden Avantgardegalerien in New York positionieren können. Da die Galerie neben einigen bekannten europäischen Künstlern vor allem die bedeutenden Namen des Abstrakten Expressionismus vertrat und bei deren Durchsetzung eine bedeutende Rolle gespielt hatte, verfügte sie innerhalb der etablierten New Yorker Kunstszene über beträchtliches Prestige. Vgl. Laura de Coppet/Alan Jones: The Art Dealers. The Powers Behind the Scene Tell How the Art World Really Works. New York: Crown 1984, S. 36. Vgl. David Bourdon (Anm. 4), S. 188. Vgl. Joni M. Cherbo: Pop Art. Ugly duckling to swan. In: Vera L. Zolberg/J. M. C. (Hg.): Outsider Art. Contesting Boundaries in Contemporary Culture. Cambridge: Cambridge University Press, S. 85–97, hier S. 93; Diane Crane (Anm. 5), S. 111.

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zu wechseln und dort – adäquat vermarktet – ökonomischen Erfolg zu erzielen, gewann Warhol bereits durch den Time-Artikel breite öffentliche Aufmerksamkeit, konnte seine Werke direkt vom Atelier an Sammler verkaufen und erhielt kurz nach Erscheinen des Artikels 1962 eine erste Ausstellung in New York bei der vermarktungsorientierten Galeristin Eleanor Ward. Diese erzeugte immense Aufmerksamkeit innerhalb der Kunstszene und machte ihn über Nacht berühmt. Im April 1964 eröffnete bei Ward die Brillo-Boxen-Ausstellung38 , die zu den wichtigsten Kunstereignissen der frühen 1960er Jahre zählte. Die Ausstellung erzeugte eine immense Publicity – die Leute standen einen Häuserblock lang an, um eingelassen zu werden –, war wirtschaftlich jedoch wenig erfolgreich. Warhol wechselte hierauf zum Ende des Jahres zu Castelli,39 der über deutlich mehr Renomee im Feld verfügte als Ward und ihn nun auch international hochprofessionell vermarktete. Dies wirkte sich auf seine Kunst in wirtschaftlicher Hinsicht äußerst positiv aus.40 Indem Warhol Vermarktungstechniken der Konsumkultur virtuos im Kunstfeld zur Anwendung brachte und institutionelle Unterstützung durch die Massenmedien, die publicityorienterten Sammler und die neuen vermarktungssorientierten Galeristen erfuhr, gelang ihm die Anerkennung als Künstler im New Yorker Kunstfeld der 1960er Jahre, obwohl ihn die modernistisch orientierten Galerien als etablierte Institutionen des Feldes noch immer zurückwiesen und auch die etablierte Kunstkritik die Pop-Art strikt ablehnte. Die Kritiker Clement Greenberg, Harold Rosenberg, Herbert Read und Max Kozloff hatten bei der Durchsetzung des Abstrakten Expressionismus eine entscheidende Rolle gespielt. Ihr modernistisches Kunstverständnis kultivierte das Kunstwerk als subjektive, persönliche Form der Einflussnahme eines einzelnen Individuums auf die Welt. Diese Idee sahen sie durch die Pop-Art so grundsätzlich herausgefordert, dass sie den Werken jeglichen Kunstanspruch absprachen.41 38

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Warhol hatte im Siebdruckverfahren verschiedene Schachteln, die in Größe und Form Pappkartons glichen, mit Warennamen bedruckt und sie zu unregelmäßigen Stapeln aufgestellt: Kellogg’s Corn Flakes, Mott’s Appel Juice, Heinz Ketchup und Del-MontePfirsichhälften. Castelli nahm Warhol erst 1964 in die Galerie auf, da er es zu Beginn der Pop-Bewegung für wichtig gehalten hatte, dass die neue Kunstrichtung von verschiedenen Galerien vertreten wurde, so dass der Eindruck entstand, es handle sich um eine weitverzweigte Bewegung. Im Jahre 1964 war Pop bereits ein anerkannter Stil, und er sah nun keinen Grund mehr, warum er nicht die Besten der Gruppe vertreten solle. Entsprechend übernahm er, als 1965 die Green Gallery schloss, auch James Rosenquist und hatte damit die führenden Künstler der neuen Bewegung zusammen: Neben den berühmten Wegbereitern der PopArt, Rauschenberg und Johns, vertrat er nun auch Lichtenstein, Rosenquist und Warhol. Vgl. Carter Ratcliff (Anm. 25), S. 46; Victor Bockris (Anm. 3), S. 239–240; Antje Dallmann (Anm. 3), S. 296; David Bourdon (Anm. 4), S. 187–188. Vgl. David Bourdon (Anm. 4), S. 10; Martin Damus (Anm. 25), S. 295–296; John Coplans (Anm. 25), S. 296; Henry Geldzahler: The Art Audience and the Critic. In: The Hudson Review 18 (1965), S. 105–109; Carol A. Mahsun (Anm. 25), S. 64–66; David McCarthy (Anm. 23), S. 25; Carter Ratcliff (Anm. 25), S. 7; Karin Thomas (Anm. 5), S. 191; John A. Walker: Art in the Age of Mass Media. London: Pluto 1983, S. 38.

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In der ersten Pop-Art-Kritik in einer renommierten Kunstzeitschrift – Art International – schreibt Kozloff: The truth is, the art galleries are being invaded by the pin-headed and contemptible style of gum chewers, boby soxers, and worse, delinquents. Not only can’t I get romantic about this, I see as little reason to find it appealing as I would an hour of rock and roll into which has been inserted a few notes of modern music.42

Insbesondere Clement Greenberg erwies sich als harter Kritiker der neuen Kunst. Bereits 1939 hatte er in seinem berühmten Artikel Avant-Garde and Kitsch43 vor dem Übergriff des Kitschs in Form serienmäßig produzierter Objekte minderer Qualität auf die Kunst gewarnt. Er vertrat als der bedeutendste Kritiker des Abstrakten Expressionismus ein Kunstverständnis, das Avantgardekunst und Populärkultur als grundlegend widersprüchlich ansah. Aufgabe der Kunst sei es nach Greenberg, das gesellschaftlich Approbierte herauszufordern. Eine Kunst wie die Pop-Art, die gesellschaftlich anerkannte Objekte zu ihrem Gegenstand mache, agiere dagegen im Bereich des etablierten Geschmacks und unterstütze die gesellschaftlich bestehenden Verhältnisse, statt sie herauszufordern und zu transzendieren. Greenberg beklagte in seinem 1962 erschienenen Essay After Abstract Expressionism,44 dass die Pop-Art dem etablierten bürgerlichen Geschmack zu nahe stände, um als Kunst von Interesse zu sein. Im Jahre 1965 bemerkte der Kritiker Harold Rosenberg: »Instead of being [. . .] an act of rebellion, despair or selfindulgence, art is being normalized as a professional activity within society«.45 Read deklarierte die neue Kunst in einem Artikel in Studio International sogar zur Nicht-Kunst; zu einem Teil der Unterhaltungsindustrie: »It is [. . .] a sensational stimulus as brief and banal as any side-show in an amusement park«.46 Die Ablehnung durch die etablierte Kunstkritik, kundgetan in den bedeutenden Kunstzeitschriften der Stadt, machte die Pop-Art, die zunächst lediglich auf dem Kunstmarkt in Erscheinung getreten war, zum Gegenstand des feldinternen Definitionsdiskurses, situierte sie im theoretischen Kampf um die legitime Definition von Kunst.47 Bildinhalte und Mechanismen, die dem Feld der Konsumkultur entnommen waren, wurden nun auf der Ebene des feldinternen Diskurses auf bestehende kunstfeldinterne theoretische Positionen bezogen. Die Pop-Art als Phänomen des Kunstmarktes stand nun auf der intellektuellen Konsekrationsagenda, auch wenn die Werke selbst dort zunächst überwiegend Ablehnung erfuhren.48 42 43

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Max Kozloff (Anm. 23), S. 32. Clement Greenberg: Avant-Garde and Kitsch. In: C. G.: The Collected Essays and Criticism. Bd. 1. Chicago: University of Chicago Press 1986, S. 5–22. Clement Greenberg: From »After Abstract Expressionism«. Excerpt. In: Steven H. Madoff (Anm. 11), S. 13. Harold Rosenberg (Anm. 26), S. 13. Herbert Read: The Disintegration of Form in Modern Art. In: Studio International Nr. 169 (1965), S. 144–155, hier S. 154. Vgl. Robert Hughes: The Rise of Andy Warhol. In: Steven H. Madoff (Anm. 11), S. 375– 385, hier S. 384. In dem mit der Karriere Andy Warhols in Zusammenhang stehenden Definitionsdiskurs lassen sich vier grundlegende Deutungsrichtungen unterscheiden: Die der moder-

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Warhol feuerte diesen feldinternen Diskurs um die Pop-Art gezielt an, als er in einem vielzitierten Interview mit Art News im Jahre 1963 behauptete, dass er den Siebdruck als Verfahren schätze, weil ein Bild so von jedem beliebigen Individuum in gleicher Weise ausgeführt werden könne.49 Sein berühmter Ausspruch ›I want to be a machine‹ unterstrich diese Ausrichtung und betonte, dass die maschinelle Anmutung der Arbeiten intendiert war. Gleichzeitig konterkarierte Warhol mit diesem Ausspruch in provokanter Weise Pollocks »I am nature«50 und das in diesem Ausspruch enthaltene künstlerische Selbstverständnis des Abstrakten Expressionisten.51 In dem Interview machte Warhol deutlich, dass sich seine Kunst der zentralen Setzung künstlerischer Individualität im Kunstbegriff der Moderne nicht nur in ihrer Anmutung widersetzte, sondern dass er selbst sich lediglich als Kreativitätsmotor innerhalb eines großen kollektiven Handlungsapparates sah, in dem Arbeitsteilung eine bedeutende Rolle spielte. Mit der Verwandlung des Ateliers in die Factory – ein kollektives art enviroment – im Jahre 1963 setzte er diese Position auch in seinem künstlerischen Handeln um.52 Auch das Interview selbst stellt ein kollektives Kunstwerk in diesem Sinne dar. Der Interviewer, Gene Swenson, soll es in Übereinkunft mit Warhol in publicitysteigernder Absicht stark nachbearbeitet bzw. teilweise erfunden haben. Warhol, der die Publicityarbeit zu einer neuen performativen Kunstform ausgerufen hatte, ließ Swenson das Interview bewusst darauf ausrichten, stark zu provozieren, um so möglichst viel Aufmerksamkeit für seine Person innerhalb der Kunstszene zu generieren.53 Die Aussagen wurden in provokativer Absicht deutlich auf zentrale Argumente der modernistischen Position ausgerichtet. Wie geplant, löste das Interview einen Skandal in der Kunstszene aus und generierte so massive kunstfeldinterne Aufmerksamkeit für Warhol. Das Interview als klassisches publizistisches Produkt des Subfeldes der Massenproduktion wurde so von Warhol als performative Kunstform54 strategisch dazu genutzt, eine radikale Position innerhalb

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nistischen Kunstkritik, die populärkulturell ausgerichtete der Massenmedien, die eine Trennung von Hoch- und Populärkultur in Frage stellende der neuen postmodernen Kunstkritik und die eines individualistisch ausgerichteten egalitären Kulturjournalismus. Vgl. Nina Zahner (Anm. 2), S. 200–221. Ihre ausführliche Darstellung kann im Rahmen dieses Beitrags leider nicht geleistet werden. Vgl. Gene R. Swenson: What Is Pop Art? Part I. In: Art News 61 (1963), S. 24–27 und 60–64, hier S. 26. Pollock zitiert nach Francis V. O’Connor/Eugene V. Thaw: Jackson Pollock. A catalogue raisonné of paintings, drawings, and other works. New Haven: Yale University Press 1978, S. 226. Vgl. Steven H. Madoff: Wham! Blam! How Pop Art Stormed the High-Art Citadel and What the Critics Say. A Critical History. Berkley: University of California Press 1997, S. xiii–xx, hier S. xiii. Vgl. Diane Crane (Anm. 5), S. 68; Wayne Koestenbaum (Anm. 13), S. 3; Carol A. Mahsun (Anm. 25), S. 73; Vera L. Zolberg: Constructing a Sociology of the Arts. Cambridge: Cambridge University Press 1990, S. 108. Vgl. Wayne Koestenbaum (Anm. 13), S. 70. »He [Warhol, N. Z.] considered interviews to be collaborative art pieces; his job was not to convey truth but to perform« (Wayne Koestenbaum [Anm. 13], S. 70). Widersprüch-

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des intellektuellen kunstfeldinternen Diskurses einzunehmen und damit zugleich breite Aufmerksamkeit für seine Position zu beziehen. Doch mit dem Interview wurde auch ein Zweites deutlich: Die einzigartige künstlerische Intention, deren Auflösung Warhol mit der Fassung von Kunst als Ergebnis eines kollektiven Prozesses plakativ verkündet hatte, fand bei ihm im Starkult, der individuell künstlerischen Gestaltung des Künstlersubjekts selbst, ihr postmodernes Pendant: Mit dem Starkult55 wurde Kunst zu einem Prädikat, das auf Basis der künstlerischen Inszenierung eines Individuums als Marke56 vergeben wurde. Dies führte dazu, dass die Person Andy Warhol anstelle der Werke in das Zentrum der Aufmerksamkeit rückte.57 Dieses Vorgehen stand durchaus im Einklang mit Warhols Kunstauffassung, welche die Trennung zwischen Kunst

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lichkeiten in den Äußerungen waren entsprechend keine Seltenheit: »People used to say I tried to ›put on‹ the media when I would give one autobiography to one newspaper and another autobiography to another newspaper. I used to like to give different information to different magazines« (Andy Warhol: THE Philosophy of Andy Warhol. From A to B and Back Again. New York: Harcourt 1975, S. 79). Auf diese Weise wurden die Inhalte der Interviews ebenso wie die Pop-Art-Werke selbst Gegenstand einer Bandbreite unterschiedlicher Interpretationen. Bereits seit den 1930er und 1940er Jahren dienten Stars der Filmindustrie als Marketinginstrument. Vgl. Hortense Powdermaker: Hollywood, the Dream Factory. An Anthropologist Looks at the Movie-Makers. Boston: Little, Brown & Co 1950. Filmstars wurden unter der Regie des Studios planmäßig aufgebaut, ihre Images wurden entsprechend den beobachteten Publikumspräferenzen bis ins Detail festgelegt und durch aufwendige Kampagnen gepflegt. Stars funktionierten so als Marken, die einen gewissen Kassenerfolg sicherstellten. Vgl. Werner Faulstich: »Kontinuität« – zur Imagefundierung des Filmund Fernsehstars. In: W. F./Helmut Korte (Hg.): Der Star. Geschichte, Rezeption, Bedeutung. München: Fink 1997, S. 11–28, hier S. 13; Bill Ryan: Making Capital from Culture. The Corporate Form of Capitalist Cultural Production. Berlin: de Gruyter 1992, S. 218. Marken sind unter Bedingungen eines Käufermarktes mit zunehmend ununterscheidbaren Produkten von zentraler Bedeutung für die Erlangung eines hohes Marktanteils: »To the potential consumer, brands are made to appear as if a guarantee of worth, signifying that the commodity bearing its name possesses known attributes and properties, and is superior to or at least equal of its competitors, and represents value for money. If successful, it generates brand loyality, where branded product lines attract repeat sales which, if sustained, build market share and sustain annual turnover and profits« (Bill Ryan [Anm. 55], S. 187). Als ein Beispiel für dieses immense öffentliche Interesse an der Person Andy Warhol ist die Eröffnung der Warhol-Retrospektive des Institute of Contemporary Art (ICA) der University of Pennsylvania im Oktober 1965 zu nennen: Am Tag der offiziellen Ausstellungseröffnung drängten sich beinahe zweitausend Kunstliebhaber in die zwei Räume des Instituts, die für siebenhundert Leute Raum boten, und das, obwohl Sam Green nach den Erfahrungen der Vorbesichtigung Warhols Werke sicherheitshalber hatte entfernen lassen. Es fand skurrilerweise eine Kunstausstellung ohne Kunstwerke an den Wänden statt. Als Warhol die Räumlichkeiten betrat, geriet die Menge außer Kontrolle, und zwei Studenten wurden im hinteren Raum wegen der Platznot durch die Fensterscheiben gedrückt (vgl. Victor Bockris [Anm. 3], S. 279–280). Warhol stellte später fest: »Allerdings waren wir nicht auf der Kunstausstellung – wir waren die Kunstausstellung, wir waren die personifizierte Kunst, und in den sechziger Jahren war man scharf auf Leute, nicht auf das, was sie machten. [. . .] Niemanden kümmerte es im Geringsten, dass die Bilder ab-

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und Leben aufheben wollte und die soziale Wirklichkeit zum Gegenstand künstlerischer Gestaltung deklarierte.58 »I don’t know where the artificial stops and the real starts.« 59 Warhols Erfolg als Künstler stützte sich zu einem wesentlichen Teil auf seine Fähigkeiten zur Selbstinszenierung, auf sein Selbstvermarktungsgenie. Voraussetzung für die Praktizierung dieser von ihm als neue Kunstform ausgerufenen Publicityarbeit war die sich in den 1960er Jahren entfaltende Mediengesellschaft. Erst unter den Bedingungen der Mediengesellschaft mit ihrer medialen Dopplung der Realität wurde eine derart umfassende künstlerisch-mediale Inszenierung der Künstlerpersönlichkeit möglich: Warhol erschuf sich in der Kunstform des Interviews bzw. des Events als Lebenskunstwerk. Der Erfolg dieser Strategie lässt sich daran ablesen, dass sich die Berichterstattung der Medien in der zweiten Hälfte der 1960er fast ausschließlich auf die Person Andy Warhol bezog, statt auf dessen Kunst.60 Seine Strategie der medialen Inszenierung seiner Person stellte eine hochkomplexe künstlerische Position dar, die deswegen so gut im Kunstfeld jener Zeit funktionierte, weil sie auf Techniken der massenmedialen Berichterstattung über Pop-Art zurückgriff, die in dieser Zeit im Feld zu beobachten waren. Die Massenmedien legten bei der Berichterstattung über die neue Kunst oftmals alltagsweltliche anstelle kunstfeldspezifischer Kriterien an. Sie beschäftigten sich weniger mit der inhaltlichen Dimension der Kunst, sondern legten stattdessen Wert auf deren Darstellung als aktuelle kulturelle Erscheinung: Themen wie die Beschaffenheit des Publikums und dessen Reaktion auf die neue Kunst sowie die Frage, ob es sich hierbei um einen neuen Modetrend handle, standen dabei im Zentrum des Interesses.61 Damit stellten die Massenmedien mehr den Eventcharakter der Kunst als ihren künstlerischen Gehalt in den Mittelpunkt ihrer Berichterstattung. Dies verdeutlicht ein Kommentar von Newsweek zur Eröffnung einer Warhol-Ausstellung in New York: »These violently groomed, perversely beautiful people want art, fun, ease, and unimpended momentum in every conceivable direction. Pop art is their art.« 62 Mit der Expansion des Feldes und dem damit einhergehenden Bedeutungszuwachs der Massenmedien als Konsekrationsinstanz im Feld wurde eine Form der Berichterstattung zunehmend präsent, die den Künstler als Marke und die Ausstellung als Event zelebrierte und dabei weniger das Werk und seine Bezüge zum etablierten Kanon zum Gegenstand der Berichterstattung machte. Warhol war der erste amerikanische Künstler, der dies konsequent in seine Kunst transformierte. So konnte er den Bedeutungszuwachs der Medien im Feld und die

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gehängt waren. Ich war wirklich froh, dass ich inzwischen Filme machen konnte« (Andy Warhol/Pat Hackett: POPism. The Warhol Sixties. New York: Harcourt 1980, S. 133). Vgl. Werner Faulstich (Anm. 23), S. 67; Wayne Koestenbaum (Anm. 13), S. 51. Warhol zitiert nach Gretchen Berg: Nothing to Lose. An Interview with Andy Warhol. In: Andy Warhol: Film Factory. Hg. von Michael O’Pray. London: British Film Institute 1989, S. 56–60, hier S. 60. Vgl. Victor Bockris (Anm. 3), S. 258. Vgl. Carol A. Mahsun (Anm. 25), S. 87. Saint Andrew. In: Steven H. Madoff (Anm. 11), S. 278–280, hier S. 279.

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damit einhergehenden Transformationen des Regelwerkes der Konsekration von Kunst für sich und seine Karriere umfassend nutzbar machen. Im Verlauf seiner Karriere gestaltete Warhol seine Person mehr und mehr als ein öffentliches Kunstwerk, das in der Funktion einer Marke den Absatz der Produkte seines kulturproduzierenden Unternehmens sicherstellte:63 »Gleich einem gerissenen Investor beteiligte er [Warhol, N. Z.] sich in den späten sechziger Jahren an Produktionen in Musik, Film, Mode und im Verlagswesen, wobei der Name Warhol selbst als Copyright diente.«64 Ergebnis dieses Konstruktionsprozesses war ein neuer künstlerischer Habitus, der Elemente beider Subfelder der eingeschränkten Produktion und der Massenproduktion nach Bourdieu beinhaltete. So inszenierte sich Warhol einerseits in Einklang mit der bestehenden, vom Modernismus geprägten Vorstellung vom Künstler als gesellschaftlichem Außenseiter und Rebell, verfolgte in seinem künstlerischen Schaffen aber andererseits offen eine profitorientierte Haltung, die den Überzeugungen des Modernismus ganz grundsätzlich zuwiderlief. Zum einen schuf er mit der Factory ein Zentrum der New Yorker Underground-Boheme der 1960er Jahre. Dort revoltierte man aber nicht gegen die Konsumgesellschaft und Populärkultur, wie dies die Abstrakten Expressionisten getan hatten, sondern betrieb eine extreme Anfechtung bestehender gesellschaftlicher Konventionen. Die Factory war ein Gesamtkunstwerk, »an environment-as-total-artwork«65 . Factory-Life kultivierte ein kollektives Kunst-Sein, das alltägliche Vorgänge wie Essen, Schlafen, Sprache und Sex als Kunst wahrnahm.66 Zum anderen war die Factory ein wirtschaftlich höchst erfolgreiches Lifestyle-Unternehmen, dessen Zentrum die Person Warhol darstellte. So spielte die Factory-Produktion Trash – ein Film über Drogenabhängigkeit – eine Million Dollar ein und etablierte das amerikanische Undergroundkino als ebenbürtige Alternative zu Hollywood. Das 1969 als Underground-Filmzeitschrift gegründete Magazin Inter/View wurde 1973 zur allerersten Yuppiezeitschrift umgearbeitet.67 Dies sorgte dafür, dass Warhol mit den Beautiful People des Jet Sets in Kontakt kam. Warhol sah das Magazin vor allem als Ergänzung seiner Porträtistentätigkeit, die er 1963 aufgenommen hatte, und drängte die Redaktion des Magazins, hauptsächlich Interviews mit potenziellen Anzeigenkunden oder Auftraggebern für Porträts zu führen.68 Er legte das 63 64 65 66

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Vgl. John A. Walker (Anm. 41), S. 41. David McCarthy (Anm. 23), S. 31. Wayne Koestenbaum (Anm. 13), S. 99. Vgl. Heiner Bastian (Anm. 13), S. 33; Paolo Bianchi/Christoph Doswald (Anm. 13), S. 58– 59; Victor Bockris (Anm. 3), S. 212. Das amateurhafte Filmstar-Magazin wurde zu einer eleganten Zeitschrift, die über Leben und Karriere von Berühmtheiten berichtete. Anstelle der billigen Archivfotos traten nach und nach prächtige Porträts, die von einem festen Fotografenstamm als Auftragsarbeiten geliefert wurden. Dieses neue, von Fred Hughes vorgeschlagene Yuppiekonzept zeigte schnelle Erfolge: Innerhalb von sechs Monaten stieg die Auflage von 31 000 auf 74 000 an, und die Werbeeinnahmen erhöhten sich von 1800 Dollar auf 7000 Dollar pro Heft. Vgl. Victor Bockris (Anm. 3), 463–465; David Bourdon (Anm. 4), S. 303. Vgl. David Bourdon (Anm. 4), S. 326–327.

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Verhalten eines aggressiven Unternehmers an den Tag, der die wachsenden Märkte der Nachkriegsjahre und den sich vergrößernden Kreis der Kunst- und Kulturinteressierten zur Verfolgung wirtschaftlicher Interessen nutzte. Warhol verhielt sich wie ein Kulturproduzent im Feld der Massenproduktion, trat jedoch mit dem Anspruch auf, auch Kunst zu schaffen, und konnte diesen auch durchsetzen. Diese Verbindung der Logiken der beiden von Bourdieu antagonistisch gedachten Felder der reinen und der Massenproduktion kulminierte in Warhols Fassung des »Art Businessman« bzw. des »Business Artist«: »I wanted to be an Art Businessman or a Business Artist. Being good in business is the most fascinating kind of art.« 69 Dass er sich im Laufe seiner Karriere immer klarer zur Profitorientierung bekennen konnte, ohne dadurch seinen Status als anerkannter Künstler einzubüßen, verdeutlicht, dass sich ein fundamentaler Wandel im Feld vollzogen hatte. Zwar wurde die offene Zurschaustellung von Warhols ökonomischer Ausrichtung von den Vertretern des Modernismus scharf angegriffen, und man warf ihm vor, dass er gar kein richtiger Künstler sei, da er keine moralischen Standards habe, dies tat jedoch seiner Anerkennung als Künstler, gemessen an den Preisen, die seine Werke auf dem Markt erzielten, keinen Abbruch.70

4. Ökonomisierung und Medialisierung des Kunstfeldes in den 1960er Jahren Warhol gelang über Massenmedien und Kunstmarkt die Anerkennung als Künstler im New Yorker Kunstfeld der 1960er Jahre, obwohl die etablierten Institutionen des Feldes der reinen Produktion – modernistische Galerien und die modernistische Kunstkritik – seine Kunst strikt ablehnten. Dieser Karrierepfad kann als Indiz dafür gelten, dass sich neben den Konsekrationsinstanzen des Subfeldes der reinen Produktion in den 1960er Jahren ein Feld der erweiterten Produktion herausbildete. Als Überschneidungsraum der Subfelder der reinen Produktion und der Massenproduktion folgte dieses neuen Regeln bei der Anerkennung legitimer Kunst: »Ästhetisch inszenierte Erlebnisszenen«71 dominierten hier »diskursiv begründete Entscheidungsgremien«72 im Kunstkonsekrationsprozess. Die Anerkennung von legitimer Kunst fußte im sich neu herausbildenden Subfeld der erweiterten Produktion vor allem auf Markterfolg und Publicitypotenzial. Im sich ausdifferenzierenden Kunstfeld der 1960er Jahre etablierte sich so neben dem kunstfeldspezifischen Anerkennungsprozess des Subfeldes der reinen Produktion, wie ihn Pierre Bourdieu für die Moderne herausarbeitete, die Orientierung an Marktgängigkeit und an der Generierung öffentlicher Aufmerksamkeit mit Hilfe der alltagsweltlichen Inszenierung »personalisierter Außergewöhnlichkeit«73 als 69 70 71

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Andy Warhol (Anm. 54), S. 92. Vgl. David Bourdon (Anm. 4), S. 397–400. Peter Ludes: Aufstieg und Niedergang von Stars als Teilprozeß der Menschheitsentwicklung. In: Werner Faulstich/Helmut Korte (Anm. 55), S. 78–98, hier S. 93. Ebd., S. 93. Ebd., S. 88.

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zusätzliche, in dieser Art neue Anerkennungsstrategie im Feld der Kunst. Unter den Bedingungen der Expansion des Kunstfeldes in den 1960er Jahren und der mit diesem Prozess einhergehenden Unübersichtlichkeit bot der Star als außergewöhnliche Persönlichkeit einen Orientierungspunkt im Überangebot der Objekte, die mit dem Anspruch auftraten, Kunst zu sein. Kunst wurde so zu einem Prädikat, das nun auch auf Basis der künstlerischen Inszenierung einer Person vergeben werden kann.

Thomas Becker (Berlin)

Vom Bubblegum zum Holocaust Art Spiegelmans MAUS

Dass Art Spiegelman zu den weltweit bekanntesten Comiczeichnern gehört, verdankt er seinem Holocaust-Comic MAUS, dessen erster Teil 1986 in Buchform1 mit dem Untertitel A Survivors Tale. My Father Bleeds History erschien; 1991 folgte die Veröffentlichung des zweiten Teils And Here My Troubles Began. Der Comic setzt nicht nur Interviews visuell um, die der Autor mit seinem Vater Wladek – einem Auschwitz-Überlebenden – geführt hat, sondern schildert auch gleichsam in einer Rahmenerzählung, wie es zu den Interviews über den Holocaust kam. Der Comic ist somit sowohl eine Biografie der Eltern als auch eine Autobiografie des Erzählers. Auf nicht beschönigte Weise schildert Spiegelman das Missverhältnis zwischen Vater und Sohn und bringt damit auch die traumatischen Nachwirkungen des Holocaust in der zweiten Opfergeneration zur Sprache. 1986, direkt nach der Veröffentlichung des ersten Bandes, erhielt MAUS den Cavior Award for Jewish Writing, 1988 dann ebenfalls für den ersten Teil den Preis für den besten fremdsprachigen Comic des größten europäischen Festivals in Angoulême und 1992 den Pulitzerpreis für beide Bände. Damit hat ein Cartoonist zum ersten – und bis dato auch zum letzten – Mal den Pulitzerpreis für Comics erhalten, die nie in einer Tageszeitung erschienen sind. Schon der Publikation des ersten Bandes von 1986 folgten unzählige Interviews und Fernsehauftritte. So hat Georg Stefan Troller 1987 angesichts von Spiegelmans Besuch in Auschwitz eine 45-minütige Dokumentation für das ZDF aufgezeichnet. Es gab weltweite Ausstellungen zu MAUS unter anderem im MOMA in New York, in Paris, Amsterdam und Düsseldorf. Andere zeitgleiche oder frühere Verarbeitungen des Holocaust im Comic2 sind dagegen jenseits eines Comicfachpublikums in Vergessenheit geraten: 1940 hatte Carl Meffert unter dem Künstlernamen Clemens Moreau den satirisch ausgerichteten Comic Mein Kampf veröffentlicht; 1955 waren Bernard Krigsteins Master Race sowie 1986 Patrick Cothias’ und Paul Gillons Au nom de tous les miens gefolgt, dessen deutsche Übersetzung 1989 auf die Empfehlungsliste des vom Land Nordrhein-Westfalen vergebenen Gustav-Heinemann-Friedenspreises gesetzt wurde. Die auf sieben Hefte angelegte Reihe wurde mangels Interesse nach dem zweiten Band eingestellt. Ebenfalls 1989 erschien die zweiteilige Serie Hitler 1

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Sechs Kapitel von MAUS waren zuvor schon in dem von Art Spiegelman und seiner Frau Françoise Mouly seit 1980 herausgegebenen Comicmagazin Raw erschienen. Dazu unten mehr. Zu diesen Versuchen, die nationalsozialistische Geschichte im Comic zu verarbeiten, siehe auch: Jürgen Kagelmann: Hitler und Holocaust im Comic. In: Psychosozial 13 (1990) 4, S. 85–102, hier S. 91ff.

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Thomas Becker

von Friedemann Bedürftig und Dieter Kalenbach. Sie wurde von Spiegelman wegen ihrer gut gemeinten pädagogischen Naivität kritisiert, die wenig reflexiv mit einer Comicbildsprache umgehe.3 Schließlich ist noch Hitler = SS von Philippe Vuillemin und Jean Marie Gourio zu erwähnen, deren schockierende Darstellung der Konzentrationslager im Modus der Abenteuererzählung zur peinlichen Entgleisung geriet und in mehreren Ländern verboten wurde. 2000 kam dann das Album Auschwitz von Pascal Croci bei Editions du Masque heraus, das 2001 den Grand Prix de l’Assemblée nationale erhielt und vom Centre Régional de Documentation Pédagogique du Poitou-Charentes empfohlen wurde, aber laut Kritik einschlägiger Kenner des französischen Comicfeldes nicht nur schlecht gezeichnet ist, sondern darüber hinaus auch noch auf unzureichender Quellenarbeit beruht.4 Auf der ersten Innenseite zur deutschen Ausgabe von MAUS behauptet der Rowohlt-Verlag, es gehe auch Spiegelman um »schockierende Bilder«5 , die seine Herkunft aus der Undergroundszene dokumentierten. Sicherlich ist die Verarbeitung des Holocaust im Comic immer wieder dazu angetan, einen Schock auszulösen. Spiegelman hatte jedoch schon zwei Jahre vor der deutschen Veröffentlichung in einem Interview mit dem Magazin Stern die Absicht einer schockierenden Wirkung in der Machart von MAUS nicht nur dementiert;6 er war sich eines durch Kombination von Holocaustdarstellung und illegitimem Massenmedium zu erwartenden Schockeffektes zwar sehr wohl bewusst, trachtete aber danach, diesem mit den formalen Mitteln eines den Anspruch legitimer Kunst leugnenden Comics entgegenzuarbeiten. There’s kind of shock in people’s minds when they hear that this story is a comic strip – ›Somebody did a comic strip about the Holocaust.‹ Actually, that invests it with a certain lack of hubris. It’s not an opera about the Holocaust; it’s a comic strip – a medium that has a history of being without pretensions or aspirations to art. And perhaps if there can be no art about the Holocaust, then there may at least be comic strips.7 3

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Der Verlag hatte bei Spiegelman angefragt, ob er den Comic befürworte. Siehe dazu das Interview mit Gary Groth (ohne Titel). In: The Comics Journal Nr. 180 (September 1995), S. 52–114, hier S. 54. Thierry Groensteen: Un objet culturel non identifié. Paris: L’An 2 2006, S. 127f. So beruft sich etwa Croci auf Claude Lanzmann, der sich jedoch bekanntlich von jeglicher Darstellbarkeit des Holocaust distanziert hat. Art Spiegelman: MAUS I. Die Geschichte eines Überlebenden. Mein Vater kotzt Geschichte aus. Reinbek: Rowohlt 1989. Jewish Mice, Bubblegum Cards, Comics Art, & Raw Possibilities. Art Spiegelman und Françoise Mouly im Interview mit Joey Cavalieri. In: The Comics Journal Nr. 65 (August 1981), S. 98–125, hier S. 102: »I don’t think my major interests have anything to do with shocking people in that traditional way of what underground comics were about. They were about shock. I think that if there’s a shock in my work now – and I think there is – it’s because the work is involved with explorations that aren’t expected to see in that particular medium and there’s a shock there. The fact that I’m not as involved in entertaining and telling funny stories is a thing that creates a kind of jolt also.« Und ebd., S. 105: »I didn’t intend it [MAUS, Th. B.] to shock. And that’s why I said that this work is different than some of the earlier work.« Art Spiegelman: »If there can be no art about the Holocaust, there may at least be comic strips«. Art Spiegelman im Interview mit Claudia Dreyfus. In: The Progressive 53

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Spiegelmans Arbeit an MAUS und die damit zusammenhängende kontinuierliche Recherche nahmen nach seinen eigenen Aussagen insgesamt 13 Jahre in Anspruch. Seinen ersten Versuch, den Holocaust im Comic darzustellen, hatte er allerdings schon 1972 als dreiseitige Fassung im Comicmagazin Funny Aminals realisiert. Und Ende der 1970er Jahre verarbeitete er die Schuldgefühle am 1968 begangenen Selbstmord seiner Mutter, die ebenfalls eine Auschwitz-Überlebende war, mit dem surreal-expressionistischen, in holzschnittartigen Zeichnungen gehaltenen Undergroundstrip The Prisoner of the Hell Planet, den er dann später in MAUS einfügte. Von einer schnellen Massenproduktion kann also keine Rede sein. Als MAUS 1986 in Buchform veröffentlich wurde, hatte Spiegelman mehr als zwanzig Jahre in der Undergroundszene der Comicproduktion gearbeitet, die sich von Beginn an in Opposition zum Massenmarkt der Mainstreamcomics formierte.8 Dieser Massenmarkt produzierte seine Geschichten über Superheroes genuin für Jugendliche. Auf dem eingeschränkten, gegen ökonomischen Konkurrenzdruck und kurzlebigen Profit ausgerichteten Markt eignete sich Spiegelman erst über jahrelange Arbeit den Habitus jener nachhaltigen Produktionsweise an, die zum Ausgangspunkt klarer Distinktion gegenüber dem Mainstream und den sich schnell verbrauchenden Schockwirkungen geriet, um für die Machart von MAUS stilbildend zu werden.9 Man darf also nicht von den sich immer wieder einstellenden Schockbekundungen angesichts der Existenz eines Holocaust-Comics auf die Machart des Comics selbst schließen. Negative Kritiken von MAUS bestanden jedoch auf der Inadäquatheit einer Kombination des Comic-Genres mit der Holocaust-Thematik. Abgesehen von der überwältigenden Anzahl positiver Kritiken und der unmittelbaren Verleihung jüdischer Buchpreise fielen diese Kritiken durch eine mangelhafte Analyse ihres Gegenstandes auf. Sie waren recht pauschal formuliert und rieben sich vornehm-

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(1989) 11, S. 34–37, hier S. 35. Ebenso Spiegelman in einer Fernsehsendung von 1994, zitiert nach: Deborah R. Geis: Introduction. In: D. R. G. (Hg.): Considering Maus. Approaches to Art Spiegelman’s »Survivor’s Tale« of the Holocaust. Tuscaloosa, London: University of Alabama Press 2003, S. 1–11, hier S. 5. Zur bewussten Wendung der Undergroundcomix gegen Syndikate und Großverlage vgl. Dez Skinn: Comix. The Underground Revolution. London: Chysalis Book Group 2004, S. 8f.; Mark J. Estren: A History of Undergroundcomics. San Francisco: Straight Arrow Books 1974, S. 14ff. »Als ich an ›Maus‹ arbeitete, hatte ich die Vorstellung von einer Comicgeschichte, für die man ein Lesezeichen braucht, die man nicht in wenigen Minuten überfliegen kann.« (Katz und Maus. Art Spiegelman im Interview mit Britta Geithe. In: Tip. Berlin Magazin vom 30.5–12. 6. 1996, S. 71–74, hier S. 71.) Und ebd., S. 72: »Ich glaube, jede Arbeit, die sich zu sehr am Publikum orientiert, ist in Gefahr. Es verführt dazu, den Stoff zu missbrauchen, für den man verantwortlich ist.« Ole Frahm hat herausgearbeitet, wie diese habituelle Disposition die formale Gestaltung der Seitenstruktur beeinflusst hat. Während in anderen Comics Einzelepisoden einer Erzählung auf einer Doppelseite nicht abgeschlossen werden und damit zum Umblättern animieren, ist MAUS auf abgeschlossene Einzelepisoden angelegt, um das Lesen zu verlangsamen (Ole Frahm: Genealogie des Holocaust. Art Spiegelmans MAUS – A Survivor’s Tale. München: Wilhelm Fink 2006, S. 199). Zur habituellen Disposition Spiegelmans, die in die Machart von MAUS eingegangen ist, unten mehr.

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lich an der Darstellung von Menschen in Form einer Tierfabel. Dagegen hielt Henrik M. Broders 1989 in der Zeit erschienene Kritik anlässlich der Veröffentlichung von MAUS in deutscher Sprache fest: Juden als Mäuse, Polen als Schweine, Deutsche als Katzen: der Holocaust als ComicStrip – darf man so was machen? Vermutlich geht es nur noch so. Die Einwände und Bedenken gegen die Form der Darstellung zeugen von der allgemeinen Unsicherheit im Umgang mit der Geschichte und von der Vergeblichkeit der Bemühen, Wissen über das Dritte Reich in einer Art zu verbreiten, die keine Mißverständnisse zuläßt [. . .]. Die Art der Darstellung, die Spiegelman gewählt hat, ist bei aller Verfremdung authentischer und überzeugender als die meisten Versuche, die Leiden der Verfolgten und Alpträume der Überlebenden ›sachlich‹ darzustellen.10

Freilich offenbarte sich die spezifische Provinzialität der Rezeption in Deutschland, wo nach 1945 keine international anerkannte Comicszene für Erwachsene wie etwa im französisch-belgischen Raum entstanden war, darin, dass Broders Besprechung auf der Kinder- und Jugendbuchseite zu lesen war. Ein Comic gehörte nach damaliger Meinung einer deutschen Redaktion nun einmal zur Jugendkultur, während Spiegelmans Arbeit schon zu diesem Zeitpunkt von mehreren seriösen book reviews in den USA besprochen worden war. MAUS ist ein in mittlerweile 25 Sprachen übersetzter Comic, der aber nicht von Comic-, sondern von Buchverlagen vertrieben wird und dadurch eine weltweite intellektuelle Leserschaft erreicht, die normalerweise dieses Genre meidet. Seither ist MAUS ein Gegenstand wissenschaftlicher Diskussion unter Literaturtheoretikern und Historikern11 geworden. In den USA gehört er inzwischen zum Kanon der universitären Lehre über den Holocaust.12 Kein anderer Comic hat jemals eine derart starke Wirkung auf die Autonomisierung der Comicproduktion ausgeübt. Die Publikationsgeschichte des Buches zeigt deutlich, dass Spiegelman nicht die Strategie eines Bestsellerautors verfolgte, sondern vielmehr den Anspruch einer qualitativ hochwertigen, intellektuellen Auseinandersetzung mit dem Holocaust in einem bis dahin für solche Fragestellungen als illegitim erachteten Medium. Der Autor betrieb die Veröffentlichung von MAUS bei dem renommierten Buchverlag Pantheon Books deshalb so forciert, weil er Steven Spielberg zuvorkommen wollte.13 Der berühmte Hollywood-Regisseur hatte nämlich 1986 die Produktion eines Animationsfilms mit dem Titel Feivel. An American Tale angekündigt, in dem eine in Moskau lebende jüdische Familie als Mäuse dargestellt werden sollte, die vor durch Katzen angestachelten Pogromen in die USA fliehen. Spiegelman sah sich gezwungen, noch vor Abschluss seiner Arbeiten einen Verlag zu finden, da er befürchten musste, in der Medienöffentlichkeit als Plagiator 10 11

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Henrik M. Broder: Mauschwitz. In: Die Zeit vom 7. 7. 1989, S. 47. Siehe dazu: Julika Griehm: Tierfabel der Vernichtung. Brüche in der Erinnerung: Art Spiegelmans »Maus« und die postmoderne Historiographie. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. 8. 1998, S. N5. Weitere Hinweise dazu in: Ole Frahm (Anm. 9), S. 9. Bill Kartapoulos: A RAW History. The Magazine. In: Indy Magazine, vierteljährlich erscheinendes Comic-Webmagazin, Winter 2005 (http://64.23.98.142/indy/winter_2005/ raw_02/index.html, 22. 10. 2007).

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Spielbergs angesehen zu werden. Es ist nun äußerst interessant, dass der Verlag keineswegs mit dem sich dann einstellenden Bestsellererfolg gerechnet hat. Wie Françoise Mouly mitteilt, Spiegelmans Ehefrau und Mitverlegerin seines Comicmagazins Raw, in dem zwischen 1980 und 1986 schon sechs Kapitel von MAUS abgedruckt gewesen waren, hatte der Verlag zunächst eine Auflage von nur 3000 Büchern veranschlagt.14 Die in Raw abgedruckten Kapitel des Comics sind in einer Auflage von 12 000 Heften erschienen,15 was – gemessen am Massenmarkt – für Comics eine sehr kleine Auflage darstellt: Sie deckte gerade die Kosten der Produktion, so dass die an diesem Avantgarde-Magazin beteiligten Comiczeichner ohne jeden ökonomischen Gewinn arbeiteten.16 Zum einen zeigt dies, dass die ökonomisch schwache Position eines Comic-Avantgardeblattes ein leichtes Beutestück für ideenklauende Wegelagerer einer institutionell und rechtlich schlecht geschützten Undergroundproduktion war; zum anderen, dass Spiegelman offensichtlich versuchte, ein das Massenpublikum durch legitimierte kulturelle Kompetenz dominierendes Buchpublikum zu erreichen, das trotz seiner geringeren Größe in der Lage war, ihn als originären Erfinder anzuerkennen und damit seine Urheberschaft für die Mausmetapher zu sichern. Die Strategie der Buchveröffentlichung war also nicht auf einen Massenerfolg ausgerichtet, sondern auf den Ritterschlag eines wesentlich eingeschränkteren Marktes intellektuell anspruchsvoller Leser.17 Diese Wirkungsabsicht wird in MAUS selbst repräsentiert: Als Artie, die Erzählerstimme im Comic, seinem Vater Wladek und dessen zweiter Frau Mala erste Teile des Comics zeigt, lässt er durch Mala zum Ausdruck bringen, dass es eine wichtige Arbeit sei, die auch jene beachten würden, die normalerweise keine Comics lesen.18 Dies wird mit einer der wenigen komischen Szenen in MAUS kontrastiert: Wladek, der kein positives Verhältnis zum Beruf seines Sohnes und keinerlei Erfahrung mit Undergroundcomics hat, lobt den zu erwartenden Holocaust-Comic als künftigen Massenerfolg, wel14

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Ebd.: »The editor of Pantheon at the time, 1986, said to Art, right before they published Maus, ›I just want you to be prepared, maybe we’ll only sell 3.000 copies of this. But that’s OK, it’s a good book, that’s all that matters.‹ And Art said, ›Yeah, that’s fine. I just want to have it out before that movie.‹ And that was the goal. And I think we beat it by a few months [. . .].« Ken Tucker: Cats, Mice and History – The Avant-Garde of the Comic Strip. In: The New York Times Book Review vom 26. 5. 1985, S. 3. So bestätigt der mit Spiegelman zusammenarbeitende Zeichner Jerry Moriarty in einem Interview, dass es in Raw genuin um Innovation und nicht um Profit ging: »We all worked for nothing because (Art and Françoise) made no money after production costs. [. . .] Sometimes a comic careerist would go to Raw to show his stuff and want to know how much he would get a page and other professional perks. They were not called back. The point wasn’t the money or the career, but the desire to see your work published in the best possible way.« (Bill Kartapoulos [Anm. 13].) Zur Dichotomie von Massenmarkt und eingeschränktem Markt symbolischer Produktion: Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 227ff. Art Spiegelman (Anm. 5), S. 133.

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cher gar Walt Disney Konkurrenz machen könne, und erregt damit gleichermaßen Verwunderung und Heiterkeit seines Sohnes. Bevor MAUS in Buchform erschien, konnte Spiegelman mit den experimentellen, in sehr geringer Auflage erscheinenden Underground-Comix seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten. Diesen erwarb er sich seit 1966 durch Zeichnungen von Kaugummibildchen für Topps Chewing Gum, in denen er berühmte Werbe-Ikonen von Coca-Cola bis Playboy karikierte. Obwohl er auf diese Weise seine finanzielle Situation sicherte, wurde ihm dadurch doch die spezifisch ambivalente Stellung eines Produzenten von Undergroundcomics zunehmend bewusst:19 Zwar ermöglichte die Unterhaltungsindustrie den Produzenten von Undergroundcomics eine gewisse Unabhängigkeit von den durch den Comiccode20 disziplinierten Syndikaten und Comic-Großverlagen wie Marvel und DC, doch wurde es für Spiegelman in seiner spezifischen sozialen Situation offensichtlich, wie sehr eben diese Industrie die satirische Experimentierfreude der Comicavantgarde für ihre Zwecke stillschweigend vereinnahmte und ausbeutete. Als er von seinem jahrelangen Geldgeber Topps das Copyright der inzwischen berühmt gewordenen Zeichnungen verlangte, die schließlich Millionengewinne erzielt hatten, erteilte man ihm eine klare Abfuhr. Lediglich ein etwas höheres Gehalt bot man ihm stattdessen an. Spiegelman quittierte dieses Angebot mit der Kündigung der mehr als zwanzigjährigen Arbeit für Topps.21 Sein symbolischer Tausch von kulturindustrieller Ausbeutung, welche die ebenso ambivalente wie avantgardistische Position eines Undergroundproduzenten bestimmt, gegen Freiheit in der Themenwahl und freies Verfügen über die Zeit für die eigene Produktion regte auch Spiegelmans Reflexion über die Darstellbarkeit des Holocaust an: Wie kann jene Vereinnahmung des Holocaust für den Massenmarkt verhindert werden, die er selbst als »Holokitsch«22 bezeichnet? Spiegelmans erste Auseinandersetzungen mit dem Holocaust in den 1970er Jahren zeigten deutlich, dass er sich mit abstrakten und scheinbar einfachen Zeichnungen im groben Stil eines Holzdrucks gegen die zunehmende Vereinahmung der Undergroundszene durch die sich verschleißende 19

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Diese Doppelung von Autonomie und Abhängigkeit bestätigte Spiegelman in einem Interview, in dem er seine Arbeit und Konflikte bei Topps beschrieb: Art Spiegelman (Anm. 3), S. 88f. Der Comiccode war eine Selbstverpflichtung der Großverlage, Gewalt-, Drogen- und Sexdarstellungen zum Schutz von Jugendlichen zu meiden. Unter anderem hatte diese Selbstdisziplinierung dazu geführt, dass sich in den 1960er Jahren eine Undergroundszene formierte, die in Überschreitung exakt dieser Tabus eine distinktive Strategie gegenüber Mainstreamcomics sah und sich damit als Comics für Erwachsene empfehlen konnte. Zu diesem Wechselverhältnis von Comiccode und Entstehung des Underground: Joseph Witek: Comic Books as History. The Narrative Art of Jack Jackson, Art Spiegelman and Harvey Pekar. Jackson, London: University Press Mississippi 1989, S. 48ff. Spiegelman kündigte kurz nach dem Erscheinen von MAUS in Buchform, also genau zu dem Zeitpunkt, als sich eine zunehmende Unabhängigkeit abzuzeichnen begann. Die Selbstzweifel aufgrund der symbolischen Ausbeutung waren aber älteren Datums. Vgl. dazu Art Spiegelman (Anm. 3), S. 88ff. Zu dem von ihm erfundenen Begriff des ›Holokitsches‹ vgl. Art Spiegelman/Claudia Dreyfus (Anm. 7), S. 35.

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Schockkultur der Sensationspresse und ihrer bunten Hochglanzformate abzugrenzen versuchte. Laut Pierre Bourdieu ist »die industriell produzierte Literatur – Comic wie Science-fiction – durch ihre Beziehung zur herrschenden Gattung definiert, die sie [. . .] ausschließt. Diese Situation hat Auswirkungen auf die beherrschten Produzenten – in Gestalt von Minderwertigkeitskomplexen, aber auch von ›Prätention‹.«23 Man kann nun angesichts der Buchpublikation eines Comics beides beobachten: willkürliche Herrschaftseffekte des Ausschlusses wie auch die reaktive Entstehung eines Minderwertigkeitskomplexes der Comic-Fangemeinde gegenüber einem neuen intellektuelleren Publikum. Überraschenderweise kam nämlich die massivste Kritik an den Tiermetaphern aus dem Feld der amerikanischen Comicproduktion selbst: So war es Harvey Pekar, unter Comiclesern als Szenarist (Texter) für American Splendor bekannt, der die Tiermetaphern, insbesondere was die Darstellung der Polen als Schweine betrifft, im amerikanischen Fachmagazin The Comics Journal als rassistisch inkriminierte24 und MAUS lediglich »pseudointellectual qualities«25 zusprach. Bezeichnenderweise hatte Pekar seine kritische Stimme nicht erhoben, als die ersten Kapitel in der Zeitschrift Raw erschienen waren, sondern erst dann, als sie in Buchform vorlagen.26 Offensichtlich sollte auf diese Weise das auf ein intellektuelles Publikum zielende Buch in der Comicgemeinde als unkritisch diffamiert werden. Besonders deutlich wird Mitte der 1980er Jahre die über das Ziel hinausschießende Reaktion des für die Comicszene so wichtigen Kritikers Gary Groth in The Comics Journal, wenn er glaubt, die im Literaturfeuilleton auftauchende euphorische Bewertung von MAUS durch Ethan Mordden als »the first masterpiece in comic-book history«27 als eine ignorante Aussage dechiffrieren zu müssen, weil sie die komplexe historische Entwicklung des Genres übersehe, die über MAUS sogar noch hinausgehe. Es mag wohl richtig sein, dass Mordden die Geschichte des Comicfeldes nicht kennt und deshalb nicht angemessen versteht. Mit der Behauptung aber, dass sich einige Comics zu diesem Zeitpunkt mehr Verdienste um die Comicgeschichte erworben haben sollen als MAUS, stand und steht Groth bis heute allein. In seiner Argumentation schwingt deutlich der Versuch mit, das intellektuelle Publikum des literarischen Feuilletons als inkompetent vorzuführen. Da 23

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Pierre Bourdieu: Satz und Gegensatz. Über die Verantwortung des Intellektuellen. Berlin: Wagenbach 1989, S. 77. Siehe dazu: Kai-Steffen Schwarz: Der Holocaust-Comic und die Reaktionen des amerikanischen Publikums. (Schriftenreihe der AG für Symbolische Politik, Kultur & Kommunikation 1) Gießen: Selbstverlag 1992, S. 21ff. Zitiert nach ebd., S. 23. Harvey Pekar: Maus and other Topics. In: The Comics Journal Nr. 113 (Dezember 1986), S. 54–57; Raw war keineswegs nur in New York im Handel, sondern wurde per Comicshops in mehreren amerikanischen Städten, Kanada und Europa vertrieben. Siehe dazu: Art Spiegelman (Anm. 6), S. 108. Einem Comicszenaristen wie Pekar, der zudem mit einer Frau verheiratet war, die einen Comicshop führte, können die ersten Ausgaben von Raw kaum entgangen sein. Ethan Mordden: Kat and Maus. In: The New Yorker 68 (1992) 17, S. 90–96, hier S. 96.

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das Feuilleton ein größeres Publikum als das Comicfachmagazin erreicht, wird es von ihm kurzerhand zum trivialen Massenmarkt erklärt: This review [von Mordden, Th. B.] is an example of what I would call complex ignorance; that is, couching dozens of ignorant observations in a plausible-sounding internally consistent critical construction aimed at readers who are sufficiently out of it to notice. Worst of all, he has in effect used Maus as a battering ram to exclude other work of equivalent or superior merit – an act of Machiavellian benightedness of which I hadn’t dreamed even the mass media was capable. It is an insult to every decent cartoonist working in contemporary comics.28

Wer in dem von Pekar entfachten Streit die Verteidigung von MAUS seitens der Comicfachleute näher betrachtet, wird allerdings nicht umhin kommen festzustellen, dass diese auch nicht sonderlich kompetent ausfiel. So hat man die Schweinemetapher für Polen mit dem fadenscheinigen Argument verteidigt, dass Schweine schon bei Orwell die intelligentesten Tiere darstellten, was für Pekar in der Tat nicht besonders schwierig zu entkräften war.29 Auf diese Art jedenfalls konnte der im Fachmagazin The Comics Journal geäußerte Rassismusvorwurf nie vollkommen ausgeräumt werden. Dabei hätte eine philologisch genaue Lektüre den Verteidigern von MAUS in The Comics Journal bessere Argumente in die Hand geben können. Die Tiermetapher nämlich erweist bei einer aufmerksamen Lektüre ihre eindeutig kritische Stoßrichtung. Spiegelman selber hat auf den Vorwurf Pekars reagiert, indem er ihn als naiv und dumm bezeichnete (was aber selbstredend noch kein überzeugendes Argument ist).30 Dass erst die Buchveröffentlichung die harsche Reaktion im Comicfeld auslöste und dieses somit eindeutig idiosynkratisch auf das neue Publikum reagierte, zeichnet sich noch deutlicher ab, wenn man berücksichtigt, wie die im literarischen Feuilleton vor der Buchveröffentlichung behauptete Ausnahmeerscheinung von MAUS eben nicht als ignorant attackiert wurde. Bernd Riley, der Kurator für populäre und angewandte Grafik der Library of Congress, wurde in der Buchbesprechung der New York Times Book Review mit den Worten zitiert: »Maus brings back an excitement that has been lost in comic art. You get the feeling reading him that you’re on the cutting edge of graphics, a field that has been stagnant for a long time now.«31 Gegen dieses Zitat wurde von Seiten anderer Comicfachleute kein Protest erhoben, wiewohl es implizierte, dass die Entwicklung der Comics seit langem stagniere. Es war aber eben vor der Buchveröffentlichung abgedruckt wor28

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Gary Groth: A Case of Complex Ignorance. In: The Comics Journal Nr. 150 (Mai 1992), S. 4. Bei allem Verdienst, das Kai-Steffen Schwarz für seine zusammengestellten Kritiken im amerikanischen Comicfeld zukommt, muss doch festgestellt werden, dass er diese trivialsoziologische Klassifikation für das literarische Feuilleton unreflektiert übernimmt. Vgl. Kai-Steffen Schwarz (Anm. 24), S. 26. Kulturelles Kapital verhält sich nicht in jedem Fall umgekehrt proportional zur Größe des Publikums. Ebd., S. 24ff. Thierry Groensteen: Questions à Art Spiegelman. In: Les Cahiers de la Bande Dessinée Nr. 78 (November/Dezember 1987), S. 5–6, hier S. 6. Dabei bestätigt Spiegelman aber auch, dass es in Polen harsche Reaktionen gegen die Schweinemetapher gegeben habe. Ken Tucker (Anm. 15), S. 3.

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den.32 In demselben Artikel wird Bill Blackbeard zitiert, der damalige Direktor der San Francisco Academy of Comic Art, der wohl Spiegelman noch von dessen Zeit in San Francisco kannte.33 Blackbeard benennt deutlich die Strategie von Spiegelman, mit MAUS eine intellektuelle Haltung für die Comiclektüre einzufordern: »Comics are usually read by an audience that reads for excitement or amusement alone. It’s an audience that doesn’t want to read for serious purposes. Spiegelman’s work challenges those assumptions.«34 Andererseits war es aufgrund einiger Rezensionen vollkommen berechtigt, Autoren des literarischen Feuilletons für ihre sozialen Ausschlussversuche von Comics aus der legitimen Kunst zu kritisieren. Einige Besprechungen in den Feuilletons zögerten, MAUS als Comic anzuerkennen, da es sich um eine seriöse Arbeit handle – was gegenüber der zu diesem Zeitpunkt über zwanzigjährigen Entwicklung Art Spiegelmans als Comiczeichner eine ignorante Behauptung darstellt. So schrieb ein Kritiker kurz nach der Veröffentlichung des ersten Bandes: »One hesitates, however, to call it a comic book. First, because while it inspires some laugther, its subject is the least funny in the world. And second, because comic book denotes a type of ephemeral literature that Maus is certainly not.«35 Man findet in diesem Streit also Reaktionen, wie sie Bourdieu als soziale Grenzmarkierung zwischen herrschender Kultur und illegitimem Comicfeld hypothetisch angerissen hat: Zum einen willkürliche Ausschlussversuche der legitimen Kultur, die den Kunstcharakter von MAUS nur anerkennen, indem sie ihm den Status eines Comics absprechen. Zum anderen aber auch die ressentimentgeladene Rezeption seitens der Comicfachpresse, die sich aufgrund des neuen Publikums und neuer Konsekrationsinstanzen übergangen fühlte und daher anlässlich der Tiermetaphern eine überzogene Kritik am angeblichen Rassismus von MAUS übte. Spiegelman selbst hat hingegen deutliche Hinweise auf die kritische Funktion der Tiermetaphern gegeben. In einem Epitheton zu Beginn von MAUS zitiert 32 33

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Dies wird auch von Françoise Mouly bestätigt (Bill Kartapoulos [Anm. 13]). Art Spiegelman war in San Francisco nicht nur als Comiczeichner präsent, sondern lehrte als solcher 1974 und 1975 auch an ebenjener San Francisco Academy of Art. Ken Tucker (Anm. 15), S. 3. Robert Grossman: Mauschwitz. In: The Nation vom 10. 1. 1987, S. 23. Joseph Witek zählt spätere Versuche auf, MAUS gerade wegen seiner komplexen Struktur nicht als Comic anzuerkennen: Joseph Witek: Imagetext, or Why Art Spiegelman doesn’t Draw Comics. In: ImageTexT. Interdisciplinary Comics Studies 1/1 (2004). Internetzeitung der University of Florida (http://www.english.ufl.edu/imagetext/archives/v1_1/witek/, 22. 10. 2007): »Most notable was the New York Times Book Review, which began its November 3, 1991 issue with the rather perplexing line, ›Art Spiegelman doesn’t draw comics‹. Then the Village Voice wrote, in a review of a Museum of Modern Art exhibition of materials from the writing of Maus II, ›that Spiegelman is an original, a hybrid artist who has genuinely created a new form. . . . But Maus is not exactly a comic book, either; comics are for kids.‹ These categorical assertions are no doubt news to Art Spiegelman himself, who, though he has labored for years to expand the definition of what a comic book is and what it means to ›draw comics‹, has never suggested that he was doing anything else.«

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er Adolf Hitler, der Juden als minderwertige Rasse bezeichnet hat, die sich wie Ungeziefer vermehre und daher eliminiert werden müsse; das legt die bildliche Verkörperung durch Mäuse mehr als nahe. Und was die Polen betrifft, so wurden sie von den deutschen Nazis als Schweine bezeichnet. Demnach wären die Masken die vom Betrachter einzuholende Projektion eines rassistischen Blicks. Allerdings verdeckt es die dynamische Wechselbeziehung zwischen visueller und sprachlicher Erzählstrategie, wenn man die Tiermetaphern einfach nur als Masken bezeichnet. Denn an einigen Stellen des Comics tragen die Akteure reale Masken – die Eltern Spiegelmans auf ihrer Flucht vor der nationalsozialistischen Verfolgung, indem sie sich als Polen tarnen. Sie tragen dann Schweinsmasken über ihrem Mausgesicht (Abb. 1).36 Eine solch explizite Maske entlastet nicht von der Projektion, sondern bringt diese noch stärker zum Ausdruck, weil hinter ihr ja das Mausgesicht eben dann keine Maske mehr ist, sondern dem Körper angehört. Zudem präsentiert sich der Autor Art Spiegelman zu Beginn des zweiten Kapitels des zweiten Bandes selbst nicht mehr nur als Maus, sondern als menschliche Person mit einer explizit aufgezogenen Mausmaske (Abb. 2).37 Daher muss man zumindest den Grund benennen, warum die in den Körper eingeschriebene Tiermetapher eine andere Art der Maske darstellt als eine explizit gezeichnete Maske. 36 37

Vgl. Art Spiegelman (Anm. 5), S. 136. Vgl. Art Spiegelman: MAUS II. Die Geschichte eines Überlebenden. Und hier begann mein Unglück. Reinbek: Rowohlt 1992, S. 41.

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Abb. 2

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Ein Habitus ist laut Bourdieu unbewusst und implizit, solange er sich in einem ontologischen Einverständnis mit dem sozialen Kontext befindet, dessen Produkt er ist.38 Die Grenzen zwischen individueller Person und sozialer Identität sind in der wie eine Quasi-Natur empfundenen ontologischen Übereinstimmung zwischen Habitus und sozialem Feld relativ fließend.39 Wenn Art Spiegelman sich zu Beginn des zweiten Kapitels von MAUS II mit einer aufgezogenen Mausmaske zeichnet, soll dies gerade die durch gewachsene Reflexion in Gang gebrachte Distanzierung zur sozialen Identität deutlich machen, die ihm der Erfolg von MAUS einbrachte: Hat er den Holocaust für seine Zwecke kommerziell ausgenutzt? Durch die neue massenmediale Aufmerksamkeit verliert er seine bisher als selbstverständlich angenommene Position im Comicfeld, sie wird zur expliziten Maske öffentlicher Projektion. Der symbolische Markt für MAUS ist inzwischen nicht mehr durch die Kräfte des Comicfeldes allein definiert, so dass sich personale Identität und soziale Wahrnehmung in keiner ungebrochenen Übereinstimmung befinden.40 Die für die zweite Opfergeneration nach dem Holocaust stehende Figur des Artie im Comic ist durch den Erfolg Spiegelmans zu einer Projektionsfläche öffentlicher Wahrnehmung geworden, die dem Autor von der Presse aufgesetzt wird. Im letzten Panel der Seite (Abb. 2, vorige Seite), auf der Spiegelman seine Depression über den Hype um MAUS zum Ausdruck bringt, ertönt aus dem Off die Stimme eines Aufnahmeteams von Fernsehreportern: »Okay Mr. Spiegelman, schießen wir los.«41 Selbst die Bedenken des Autors hinsichtlich seines Massenerfolgs werden von den Medien auf mehrfach fragwürdige Weise in Szene gesetzt. Das in der expliziten Mausmaske zum Ausdruck gebrachte Auseinanderklaffen von personaler und sozialer Identität gibt nun aber auch einen Schlüssel für die schematisierten Tiermetaphern in der dargestellten Biografie seines Vaters ab. So kann man die Strategie des Rassismus, die Quasi-Natur als biologisch reale Natur erscheinen zu lassen, als eine Zerstörung des impliziten und weichen Über38

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Vgl. Pierre Bourdieu in: P. B./Loïc J. D. Wacquant: Reflexive Anthropologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 161: »Die menschliche Existenz, der Habitus als das Körper gewordene Soziale, ist jene Sache der Welt, für die es eine Welt gibt; Pascal hat das so ausgedrückt: ›Le monde me comprend, mais je le comprends‹ – also etwa: Ich bin in der Welt enthalten, aber die Welt ist auch in mir enthalten. Die soziale Realität existiert sozusagen zweimal, in den Sachen und in den Köpfen, in den Feldern und in den Habitus, innerhalb und außerhalb der Akteure. Und wenn der Habitus ein Verhältnis zu seiner sozialen Welt eingeht, deren Produkt er ist, dann bewegt er sich wie ein Fisch im Wasser und die Welt erscheint ihm selbstverständlich.« Ebd.: »Der Akteur (der weder ein Subjekt oder Bewußtsein ist noch ein bloßer Träger einer Rolle oder eine bloße Aktualisierung einer Struktur oder Funktion) und die soziale Welt [. . .] sind, darauf haben schon Heidegger und Merleau-Ponty hingewiesen, in einem regelrechten ontologischen Einverständnis.« Vgl. Art Spiegelman/Claudia Dreyfus (Anm. 7), S. 34: »I was more prepared for failure than success. I was just doing what I needed to do. And the implications of commercial success didn’t occur to me. [. . .] an old buddy of mine, Willie Murphy, said, ›Cartoonists are more prepared for failure than success.‹ This is true. I think it’s a working job description of what you need to go into the world as a comic-strip artist.« Ebd.

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gangs zwischen individueller und sozialer Identität eines Habitus ansehen: Die Person verschwindet vollkommen hinter der Wahrnehmung einer globalen sozialen Identität, die mit körperlichen Merkmalen identifiziert und somit fixiert wird. Wenn Wladek während eines Fluchtversuchs sein Mausgesicht durch eine Schweinsmaske verdecken muss, bringt dies erst zum Ausdruck, dass sein implizites Selbstverständnis als Jude durch den nationalsozialistischen Rassismus zum expliziten geworden ist, hinter dem die Person in der öffentlichen Wahrnehmung verschwindet. Unter dem Zwang des nationalsozialistischen Terrors wird ihm gerade das Recht auf eine selbstverständliche Identität abgesprochen, in der sich individuelle Person und soziale Prägung in einem nie eindeutig fixierbaren Übergang befinden können. Die Tiermetaphern sind auf die Entwicklung eines zunehmenden Kontrasts von Identifikation und Projektion hin angelegt, um die rassistische Zerstörung des selbstverständlichen Zusammenhanges von personaler und sozialer Identität ohne ›Einfühlung‹ darstellbar zu machen. So begegnen die Mausfiguren zum ersten Mal in einem Prolog mit einer kleinen Geschichte aus Arties Kindheit, in der zunächst nur eine Andeutung der Prägung seines Vaters durch den Holocaust gemacht wird. Die Mausmasken sind hier noch nicht als rassistische Projektionen zu erkennen. Die Comictheorie Scott McClouds hat in ihren semiotischen Ausführungen gezeigt, dass sich cartoonhafte, schematische Zeichnungen hervorragend für Identifikationen mit einer universalen Reichweite eignen; in ihrer Abstraktheit werden nämlich allzu spezifische Informationen vermieden, die eine realistische Darstellung mit sich bringt.42 Durch den Prolog nimmt MAUS also zunächst jene durch Cartoons normalisierte Form eines globalen Identifikationspotenzials auf, welche schematisierte Tiermetaphern zu transportieren vermögen. Im Verlauf der Erzählung jedoch wird das Identifikationsangebot durch die Funktion der Schematisierung unterwandert. Spiegelman bezieht sich dafür weniger auf Mickey Mouse wie noch in seinem ersten Entwurf von 1972, als auf Little Orphan Annie, einen Comic der 1920er Jahre. Er selbst nennt die Art der Gesichter im Stil von Little Orphan Annie eine Projektionsfläche.43 Wie die Figuren in Little Orphan Annie haben die Mausgesichter keine Pupillen, sondern nur runde Kreise als Augen. Vergleicht man diese starke Schematisierung der Mausgesichter mit den ersten Entwürfen von 1972, so wird deutlich, dass sie wesentlich weniger auf Identifikation der Leser ausgerichtet sind. Im Verlauf der Geschichte wird innerhalb der Erzählung daher zwar die menschliche Person hinter der Tiermetapher zunehmend deutlicher und konkreter, dafür aber die visuelle schematische Projektion aufdringlicher, weil sie immer weniger der personalisierenden Erzählung entspricht. Man kann dies auch den Konflikt von impliziter und expliziter Maske nennen, in dem soziale Identität 42

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Scott McCloud: Comics richtig lesen. Die unsichtbare Kunst. Hamburg: Carlsen 1994, S. 37, 45, 50. Art Spiegelman u. a.: Drawing Pens and Politics. Mightier than the Sorehead. In: The Nation vom 17. 1. 1994, S. 45–54, hier S. 46: »The mouse heads are masks, virtually blank like Little Orphan Annie’s eyeballs – a white screen the reader can project on.«

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und individuelle Personalität immer deutlicher auseinandertreten. Es handelt sich also nicht um eine auf Provokation zielende Übernahme der rassistischen Projektion, wenn Juden als Mäuse im Sinne von Ungeziefer dargestellt werden, sondern um einen im Laufe der Erzählung sich vergrößernden Kontrast zwischen spezifischer Identifikation (mit einzelnen Personen und ihrer konkreten Geschichte) und allgemeiner Projektion (Juden als Mäuse), durch den das Auseinanderfallen von Person und sozialer Identität dem Leser bewusst gemacht wird. Je näher man als Rezipient den Schicksalen einzelner Personen zu sein scheint, desto mehr wird der Blick auf Distanz gehalten. Spiegelman selbst bestätigt, dass der Kontrast von Identifikation und Projektion für die Struktur von MAUS konstitutiv ist, um den zerstörerischen Effekt von Rassismus darstellbar zu machen, ohne auf Empathie setzen zu müssen: Ich habe das KZ nicht erlebt [. . .]. Ich habe schon versucht, die Geschichte mit realen Hauptfiguren zu zeichnen. Aber das Resultat war eine billige, unreale Pseudowirklichkeit, die mehr vorgab, als sie war. Die Mäuse sehen absichtlich alle gleich aus. Einige haben zwar Brillen, aber sie gleichen sich. Wenn man sich die Fotos aus den Konzentrationslagern ansieht, stellt man fest, daß sich fast alle Menschen gleichen, daß alle fast unpersönlich aussehen. Mir schien es eine kraftvolle Aussage, davon auszugehen, daß sich alle Mäuse gleichen, und sie erst innerhalb der Geschichte als eigenständige Personen zu entwickeln.44

In Anlehnung an einen von Bourdieu in anderem Zusammenhang verwendeten Begriff könnte man dies eine Objektivierung des durch Terror und Rassismus ›zerrissenen Habitus‹45 nennen, die ohne subjektivierende Einfühlung auskommt. Dies wirft indes auch weiteres Licht auf die Szene, in der sich der Autor angesichts des Bestsellererfolgs seines ersten Bandes dem skrupulösen Verdacht der Vermarktung des Holocaust aussetzt und sich daher mit aufgesetzter Mausmaske gezeichnet hat (Abb. 2, S. 319).46 Angesichts eines Massenerfolgs, der für einen Comic im Undergroundstil nicht zu erwarten war, bringt die Verunsicherung des Autorhabitus durch den Erfolg zugleich die soziale Vererbung zerrissener Habitusformen innerhalb der Familie zum Vorschein. Auf der nach der Buchveröffentlichung von ihm mit vielen weiteren Zeugnissen nachgereichten CD The Complete MAUS erwähnt Spiegelman, dass die Reihenfolge der Erzählungen seines Vaters nicht der historisch-zeitlichen Abfolge entsprach. Der durch die Traumata der NSVerfolgung zwischen individueller Person und sozialer Identität zerrissene Habitus des Vaters, dessen Erzählungen erst durch den Sohn in eine lineare Reihenfolge gebracht werden, macht sich also auch beim biografischen Modell als zersetzende Wirkung im Erinnerungsakt bemerkbar: Erinnerungen an den Selbstmord seiner Mutter, an die Erzählungen seines Vaters, an die Geburt seiner Tochter und an sei44

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Zit. nach Andreas Knigge: Das Jahrzehnt des Durchbruchs. In: A. K. (Hg.): COMIC Jahrbuch 1991. Hamburg: Carlsen 1991, S. 58. Pierre Bourdieu u. a. Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Konstanz: UVK 1997, S. 656ff. Danach befindet sich der zerrissene Habitus in permanenter Verneinung seiner selbst und seiner Ambivalenzen. Vgl. dazu auch Pierre Bourdieu (Anm. 38), S. 160f. Vgl. Art Spiegelman (Anm. 37), S. 41.

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nen Erfolg umschwirren Spiegelman wie Fliegen (das Kapitel ist im Original mit dem Wortspiel »Time flies« überschrieben); die Ereignisse gehören dabei nicht nur verschiedenen Zeiten an, sondern werden auch von ihm selbst nicht chronologisch vorgetragen. In dieser Situation, in der sich Spiegelman als Autor von unterschiedlichen Medien umlagert sieht, fühlt er sich überfordert und mutiert in einer surrealen Szene zum Kind, das nach der Mutter schreit. Zusammen mit dem Ende von MAUS, als der Vater sich schlafen legt und Artie mit seinem aufgrund der nationalsozialistischen Verfolgung umgekommenen älteren Bruder Richieu verwechselt, wurde diese Szene auch in der literaturwissenschaftlichen Interpretation als Anspielung darauf angesehen, dass Artie sich wie viele Kinder von Überlebenden als Waise empfindet,47 denn: »[T]he placement of the story in the ›infantile‹ and subversive genre of a comic book in the underground comix tradition points to unresolved childhood issues of Artie/Art«.48 Hier liegt wieder eine jener typischen Klassifikationen vor, die den Autorencomic der Undergroundszene in seinem Eigenwert nicht wahrnehmen und deshalb den formalen Gehalt der »Time flies« verpassen müssen. Zunächst gilt festzuhalten, dass sich der Undergroundcomic gerade in Opposition zum Comic jenes Massenmarktes formiert hat, der genuin auf Kinder und Heranwachsende hin ausgerichtet ist. Wenn also schon auf der Subversion des Undergroundcomics bestanden wird, dann kann nicht in gleichem Atemzug von der Infantilität des Mediums die Rede sein. Die formale Anordnung von »Time flies« im zweiten Band verweist vielmehr auf den Comic The Prisoner of the Hell Planet, der im ersten Band den Selbstmord der Mutter thematisiert. In beiden Fällen tritt der Erzähler als Autor seiner Erzählung auf: The Prisoner of the Hell Planet ist die einzige Passage in MAUS, in der Menschen als Menschen figurieren. Spiegelman selbst ist darin sogar zusammen mit seiner Mutter als kleines Kind auf einer Fotografie zu sehen (Abb. 3, nächste Seite).49 Der Bezug des Autors Spiegelman zur eigenen Mutter bildet eine zentrale Stelle im Comic. Was das Verhältnis zum Vater betrifft, so hat Spiegelman dies auf der CD so charakterisiert, dass die von ihm gemachten Interviews nicht etwa als ein Ausschnitt einer umfassenderen Beziehung anzusehen sind. Die Interviews waren vielmehr das einzige Verhältnis, das er zu seinem Vater unterhielt und das in MAUS durch ständig aufbrechende Konflikte charakterisiert wird. Die Geschlechtsdifferenz zwischen Mutter und Vater kann in eine Homologie zur Distinktion zwischen Undergroundproduktion und profitorientiertem Massenmarkt gebracht werden: Wladek, der seinem Sohn rät, Geld mit einem angesehenen Beruf zu verdienen und nicht mit dem Zeichnen von Comics, ist durch seine Fixierung auf 47

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Hamida Bosmajian: The Orphaned Voice in Art Spiegelman’s Maus. In: Deborah R. Geis (Anm. 7), S. 26–43, hier S. 30. Bosmajian verweist auf Helen Epsteins Studie, die an Kindern von Überlebenden die Beobachtung gemacht hat, dass diese ihre Eltern als nicht existent empfinden. Ebd. Unabhängig von dieser etwas seltsamen Beurteilung von Undergroundcomics als einem infantilen Medium gilt es aber festzuhalten, dass Bosmajian viele Aspekte ans Licht bringt, die ein neues Verständnis von MAUS aufschließen. Art Spiegelman (Anm. 5), S. 100.

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Geld gekennzeichnet. Sein überdurchschnittlicher Geiz ist zwar zum einen ein Ergebnis der in Auschwitz erlittenen Traumata, wird aber auch als genuin männlicher Pol einer Konzentration auf ökonomisches Denken innerhalb der Familie dargestellt, die schon vor der nationalsozialistischen Verfolgung im Ansatz existiert hatte. Im ersten Kapitel von MAUS erzählt Wladek, wie er Anja heiratete und dabei den Vorteil nicht übersah, eine Tochter aus reichem Hause zu ehelichen. Sein berechnendes Verhalten geht sogar so weit, dass er insgeheim die Pillen untersucht, die Anja vom Arzt verschrieben wurden, um vor der Heirat sicher zu gehen, dass sie keine vererbbare Krankheit hat. Dagegen wird Anja als eine kulturell versierte und in mehreren Sprachen hoch gebildete Frau geschildert. Spiegelman bestätigte in Interviews, dass er erst durch die Mutter zum Comiczeichnen kam.50 Zudem kommt im Verlauf der Interviews die für Artie schockierende Tatsache heraus, dass Wladek ein von Anja über die Zeit in Auschwitz geführtes Tagebuch nach ihrem Selbstmord verbrannt hat. Wladek wird hier als jemand gezeigt, dessen Achtung gegenüber einer schriftlichen Überlieferung nicht besonders hoch ausfällt. Geld versus Kultur stehen sich als männlicher und weiblicher Pol der Familie gegenüber. In The Prisoner of the Hell Planet fühlt sich Spiegelman nun aber am Tod der Mutter schuldig – und zwar gerade wegen seines am Underground orientierten Protests gegen die Eltern.51 Nach dem Selbstmord der Mutter wird ihm dies denn auch indirekt von angepassten Mitgliedern der jüdischen Gemeinde zum Vorwurf gemacht. Die genuin feminine Orientierung gegen Profitdenken und gegen eine von gut integrierten Akteuren der Gesellschaft als ökonomisch sinnvoll angesehene Berufswahl empfindet er vor diesem Hintergrund als vollkommen illegitim gewordenen Protest, der durch keine soziale Vererbung jüdischen Kulturkapitals innerhalb der Familie mehr gedeckt sein kann.52 Am Ende 50

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Art Spiegelman/Claudia Dreyfus (Anm. 7), S. 36: »What probably started it all off was spending time with a doodling game my mother developed. She had very rudimentary drawing skills and she would play this game when there wasn’t anything else to do. She would make a scribble and ask me to turn it into something. That usually led to cartoon drawings. I had a lot of encouragement from her [. . .]. That made me realize I could make something happen with a pencil and paper.« Spiegelman in einem Radiointerview, zitiert nach Michael E. Staub: The Shoah Goes On and On. Remembrance and Representation in Art Spiegelman’s Maus. In: Melus 20 (1995) 3, S. 33–46, S. 40: »You grow up as a survivor’s kid – it seems to be a common denominator – that as a kid, you’re playing baseball or whatever and you break a window and then your mother or father says, ›Ach, for this I survived?‹ And that’s a heavy load to carry around for breaking a window with baseball – or less. And it tends to make kids who grow up to become doctors, lawyers, professionals, overachievers of one kind or another, who tend to try very hard to make things easy for their parents. And for whatever mad molecule is in my particular genetic makeup, I was in rebellion against my parents from an early age and had a very difficult time coming to terms with them.« Siehe auch zum Verhältnis von Überlebenden und Kindern dieselbe Beschreibung von Schuldgefühl einerseits und Rebellion andererseits als Reaktion in der zweiten Generation bei: David A. Gerber: Children of Holocaust Survivors in Recent Jewish Experience. In: American Jewish History vom 1. 9. 1987, S. 159–175, hier S. 166. »It is within the family structure that one notes the full dimensions of the contemporary problematic of Jewish identity: images of survivors, covenantal questioning, and

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seines surreal-expressiven Comics The Prisoner of the Hell Planet ruft sein Alter Ego – nach dem Selbstmord der Mutter ins Gefängnis geworfen – in einer tragikomischen Anwandlung aus: »Herzlichen Glückwunsch! Du hast das perfekte Verbrechen begangen [. . .]. Du hast mich ermordet, Mami, und nun lässt du mich hier auch noch die Strafe dafür absitzen.«53 Mit dem Einfügen dieses früheren Comics in die Rahmenhandlung von MAUS wird eben nicht mehr nur das Scheitern sozialer Vererbung in der zweiten Opfergeneration zur Darstellung gebracht, sondern überdies die Differenz des Traumas im Vergleich zum Vater, die nun auch das Eingedenken an den Holocaust aus der Sicht des Sohns als eigenständigen Akt der Erinnerung legitimiert und damit paradoxerweise die soziale Vererbung fortsetzt. Pekar hat die unvorteilhafte Darstellung Wladeks in einer entlarvenden Naivität kritisiert, die jener der Realisten des 19. Jahrhunderts gegenüber Flaubert gleichkommt: Es ginge Spiegelman nur darum, sich in besserem Licht als seinen Vater zu zeigen und damit als den eigentlichen Überlebenden zu stilisieren. In der schonungslosen Darstellung von Wladek handelt es sich indes tatsächlich um die seit Goethe und Flaubert zum wichtigen Vorbild moderner Autorschaft geratene Haltung der ›kalten‹ Beschreibung, die sich an wissenschaftlicher Objektivität orientiert und subjektive Einfühlung als Wirkungsziel verwirft. Da dem Holocaust kein geschichtsphilosophischer Sinn eignet, kann nur mit einem ›kalten‹, teilnahmslosen Blick jene komplexe Objektivierung erreicht werden, die selbst keinen Sinn mitkonstruiert. So gilt auch für den Selbstmord der Mutter, dass er zwar mit Auschwitz zu tun hat. Zugleich erwähnt der Comic jedoch schonungslos die Veranlagung Anjas zu starker Depression, die schon vor den Pogromen existiert hatte. Die Aufhebung von Eindeutigkeit bedeutet nicht Verzicht, sondern gerade einen dem wissenschaftlichen Denken entsprechenden Hang zur Objektivierung. Spiegelman war gezwungen, die Differenz zwischen seinem eigenen zerrissenen Habitus und jenem seines Vaters mit einem Comic zu objektivieren, um aus der darstellerischen Distanz heraus eine ›kalte‹ Beschreibung zu schaffen, welche in der Lage ist, dem Holokitsch zu entgehen.54 Die Auflage von MAUS wuchs in den ersten acht Wochen sogleich auf 38 000 und übersteigt heute allein in den USA eine halbe Million.55 Nach Bourdieu nun wird man einen Bestseller nicht der eingeschränkten Produktion autonomer Kunst

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the Jewish future.« (Alan L. Berger: Bearing Witness: Second Generation Literature of the »Shoah«. In: Modern Judaism 10 [1990] 1, S. 43–63, hier S. 44.) Zum Phänomen der sozialen Vererbung, die genuin durch die Familie abgedeckt ist: Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, S. 150ff. Soziale Vererbung ist unter anderem durch mimetische Übertragung definiert, die im Schoß der vertrauten Familie nicht bewusst intendiert ist. Vererbung meint hier lediglich, dass die soziale Reproduktion quasinatürlich empfunden wird. Diese Quasi-Natur ist im Falle von Traumata durch den Holocaust aber gebrochen. Art Spiegelman (Anm. 5), S. 103. Diese Art der kalten Beschreibung wurde auch in Rezensionen herausgestellt: »There is no gore, no close-ups of shootings and beatings, no screams of ›Aieee!‹ The few scenes of mass carnage are seen from an emotional distance and have the silent rhythm of Greek friezes.« (Patty Campbell: Wilson Library Bulletin Nr. 61 [Februar 1987], S. 50.) Art Spiegelman (Anm. 3), S. 62.

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zuordnen können.56 Haben also die Pop-Propheten mit ihrer Unterstellung recht, Spiegelmans Lob durch die Literaturkritik ziele ausschließlich auf einen versteckten Ausschlussversuch anderer hochwertiger Massenprodukte aus der Kunst?57 Oder muss hier nicht vielmehr Bourdieus Modell der Autonomisierung angesichts moderner massenmedialer Phänomene des ausgehenden 20. Jahrhunderts in einigen Punkten korrigiert werden? Dazu folgt eine kritische Abschlussthese. Die hier vorgeführte Autonomisierung des Comics sollte nicht überstrapaziert werden, denn die Autonomie des Genres ist auch nach Spiegelman in der Tat wesentlich schwächer als jene der auf dem schulischen Markt als legitimer vermittelten Literatur.58 ›Schwache‹ Autonomisierungsprozesse sind indes viel schwieriger zu beschreiben als ›starke‹. Die Gegenüberstellung von marché restreint und Massenmarkt funktioniert zur Beschreibung von Autonomisierungsprozessen der legitimen Kultur sehr gut. Aber bei schwachen Autonomisierungsprozessen illegitimer Kulturproduktion ist keineswegs von vorneherein klar, wo die Herrschaftseffekte der Heteronomie aufhören und die Emanzipation der Autonomie beginnt, wie an der Auseinandersetzung zwischen Feuilleton und Comicfachpresse zu sehen war. Während Bourdieu allerdings für die Emanzipation des Romans aus der Massenproduktion innerhalb des französischen Sprachraums überzeugende machtkritische Beschreibungen bereithält, fällt seine elitäre Einstellung insbesondere gegenüber Produktionen der amerikanischen Gegenkultur auf, wenn er über Jazz und Comics spottet. Es sei lächerlich, so Bourdieu, dass die ikonoklastischen Verfechter der Gegenkultur hier Haltungen [. . .] hineintragen, die dem traditionellsten Bildungsarsenal entstammen. Das hat schon Züge einer Parodie: nichts Bildungsbürgerlicheres als Jazz-Sendungen von France-Musique, wo man Ihnen den Namen noch des letzten Trompeters nicht vorenthalten will, noch das Datum der Aufnahme, kurzum: den ganzen alten Schmarren der Ansager klassischer Musik. Die gleichen Perversionen [. . .] dürften sich auch im Bereich von Comic [. . .] finden.59

Nun ist es laut Bourdieu aber gerade ein Anzeichen von Autonomie, dass ab einem bestimmten Entwicklungsstand die Produktionen eines Feldes nicht mehr verständlich sind, wenn man nicht die Geschichte dieses Feldes kennt: Genauso wie es auf Seiten der Produktion [ab einem bestimmten Zeitpunkt der Autonomisierung, Th. B.] keinen Platz für Naive mehr gibt [. . .], so gibt es auch keinen Platz mehr für eine naive Rezeption, eine Rezeption ersten Grades: Das gemäß der Logik eines hoch autonomen Felds produzierte Werk erfordert eine differenzierte, zu Unter-

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Vgl. Pierre Bourdieu (Anm. 17), S. 228f. Neben dem schon erwähnten Gary Groth (Anm. 28) sei für den deutschen Sprachraum erwähnt: Georg Seeßlen: Natural born Nazis. Faschismus in der populären Kultur. Berlin: Tiamat 1996, S. 185. Siehe dazu die von Bourdieu ermittelte Hierarchie, welche durch die Schule eingepaukt wird: An erster Stelle der Legitimität steht Literatur neben Musik, Malerei und Theater. In: Luc Boltanski/Pierre Bourdieu u. a.: Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Fotografie. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2006, S. 107. Pierre Bourdieu (Anm. 23), S. 83f.

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scheidungen fähige, das Augenmerk auf die Abstände zu anderen zeitgenössischen oder vergangenen Werken richtende Wahrnehmung.60

Dies ist in einigen Bereichen des Jazz längst der Fall. Es ist Bourdieu, der hier die soziale Realität eines existierenden Feldes aufgrund seiner eingeschränkten Wahrnehmung auf Unterhaltungsjazz verzerrt, ähnlich den Literaturkritikern, die MAUS nicht von seiner Entstehung aus der avantgardistischen Undergroundszene, sondern vom Massenmarkt der Jugendkultur her (miss)verstanden. Auch wenn man davon ausgeht, dass Bourdieu sich nicht mit Comics beschäftigt hat, so ist doch angesichts des Jazz auffällig, dass er gegenüber amerikanischer Gegenkultur ein französisches Vorurteil hegt, das eines Adorno würdig wäre. Er weiß es geschickt zu verdecken, indem er so tut, als stehe er gleichwohl auf Seiten der Ikonoklasten, wenn er über den »Schmarren der Ansager klassischer Musik« herzieht. Der Erfolg von MAUS wird von Kritikern oftmals mit der Emanzipation des Romans vom Massenmarkt im 19. Jahrhundert verglichen.61 Ähnlich wie bei Zola im 19. Jahrhundert scheint mit Spiegelman allerdings ein Sonderfall des Feldes vorzuliegen. Während des gesamten 19. Jahrhunderts wurde der Roman als eine im Vergleich zur Dichtung mindere Gattung angesehen, so daß sich etwa die Dichter des Symbolismus einem Zola gegenüber als höherrangig einstufen konnten. Und daß Zola nicht von der allgemeinen Verachtung weggespült wurde, die den so genannten populären Roman umgab [. . .], liegt zum großen Teil daran, daß es ihm gelang, die von ihm praktizierte Romanart zu adeln: zunächst durch seine Schreibweise, seine theoretischen Anstrengungen, seine Rückgriffe auf die Experimentalmethode, dann vor allem aber wohl auch, weil sein J’accuse ihn rettete, nämlich als Intellektuellen konstituierte.62

Wenn Spiegelman mit seinem Holocaust-Comic nicht von der Comicverachtung seitens der Literaturkritiker weggespült worden ist, dann deshalb, weil er in der Satire lange die Paarung des Genres mit politischer Kritik eingeübt und im Underground Experimente mit neuen stilistischen Formen zur Abgrenzung gegenüber dem Massenmarkt durchgespielt hat. Insofern hat er nicht 13, sondern über 20 Jahre gebraucht, um MAUS in dieser Form produzieren zu können. Schließlich hat Spiegelman mit seiner Zeitschrift Raw seine Bekanntheit für die nachfolgende Generation von Comicproduzenten eingesetzt – so etwa für Chris Ware, der inzwischen zu einem der führenden Autoren der Comicavantgarde zählen dürfte. Gleichwohl soll hier gerade aus feldsoziologischer Perspektive behauptet werden, dass die Sache noch weitaus komplizierter ist. Zola mag entweder für den marché restreint oder den Massenmarkt geschrieben haben, aber im Fall der Buchveröffentlichung von MAUS war das Publikum weder das des marché restreint avantgardistischer Comiczeichner allein noch das des reinen Massenmarktes von Superman, Batman & Co. Bourdieus Begriff der ›prästabilierten Harmonie‹, die sich in einer Homologie des Habitus von Rezipienten, Produzenten und Kritikern niederschla60

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Pierre Bourdieu: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 71. Ken Tucker (Anm. 15). Pierre Bourdieu (Anm. 23), S. 77.

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gen soll, scheint in diesem Falle nicht weiterzuhelfen.63 Nicht etwa, weil er etwas Falsches beschreibt, sondern hier zu statisch wirkt. Für Spiegelman gilt zunächst, dass er angesichts seiner Auseinandersetzung mit Spielberg einerseits ein Bewusstsein von der prästabilierten Harmonie zwischen intellektuellem Publikum und nachhaltiger Legitimierung des Holocaust-Themas offenbarte, was gerade nicht auf ein zynisches Kalkül, sondern auf eine habituelle Übereinstimmung zwischen seiner Themenwahl und den Vorlieben intellektueller Kritiker zurückging. Mit MAUS wurde andererseits aber auch eine scheinbar prästabilierte Harmonie des Verhältnisses zwischen legitimer und illegitimer Kultur aufgebrochen. Sofern man also einen Legitimitätsanspruch nicht vorschnell in die Gegenkultur tragen will, wie Bourdieu ja durchaus richtig bemerkt, sollte man vielleicht in solchen Fällen eher von einer Mobilisierung von Kräften zur Öffnung jener Codes reden, die über die Grenze zwischen legitimer und illegitimer Kunst entscheiden, wenn Produzenten der illegitimen Kunstgattungen ein sie kulturell bislang dominierendes Publikum der legitimen Kunst erreichen. Eine massenhafte Auflage kann in so einem Fall dann nicht mehr das Kriterium für die Einstufung als heteronome Produktion abgeben. Anders ausgedrückt: Die Ermittlung des ökonomischen Kapitals könnte also in diesem Fall nicht mehr das invariable Datum für die Positionierung eines Autors im Feld abgeben.64 Dies kann man auch als eine operative Vorgabe ansehen, um Umberto Ecos Theorem des offenen Kunstwerks in die Feldtheorie zu integrieren: Autonomisierungstendenzen in Gegenkulturen bringen Produkte hervor, welche in der Lage sind, die Grenze zwischen legitimer und illegitimer Kunst innerhalb der Bedingungen illegitimer Massenproduktion so zu überschreiten, dass sie eben nicht nur eine Imitation ehemaliger, inzwischen verbrauchter Avantgarden der legitimen Kultur darstellen, sondern als eigenständige symbolische Innovationen von der legitimen Kultur selbst anerkannt werden müssen.65

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Pierre Bourdieu (Anm. 17), S. 259ff. Bezeichnenderweise hat Pierre Bourdieu ([Anm. 52], S. 153) in einer längeren Anmerkung behauptet, die Aufwertung des Comic durch die »Rehabilitierung wenig beachteter oder gänzlich unbeachtet gebliebener Autoren« werde von Liebhabern dazu eingesetzt, eine legitime Hierarchie in der Kulturproduktion zu bestreiten, während sie doch gerade damit die für legitime Kunst bezeichnende Scheidung von Massenmarkt und beschränkter Produktion zementiert. Diese Beschreibung passt jedoch offensichtlich nicht auf den weltweit beachteten Comic von Spiegelman. Siehe dazu: Umberto Eco: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 53. »[E]s gibt low brow-Produkte, dazu bestimmt, von einem riesigen Publikum gelesen zu werden, die eine beträchtliche strukturelle Originalität aufweisen und die Grenzen des Zirkels von Produktionen und Konsumtion, in den sie eingebettet sind, zu sprengen vermögen, so daß sie uns wie Kunstwerke von eigentümlichem Wert erscheinen. (Dies ist der Fall bei den Peanuts von Charles M. Schulz oder beim Jazz, der aus der ›Unterhaltungsmusik‹ in den Bordellen von New Orleans hervorgegangen ist.)«

Joseph Jurt (Freiburg i. Br./Basel)

Von der Produktion zur Rezeption Die Aufnahme französischer Gegenwartsliteratur im deutschsprachigen Raum Das Beispiel Jean-Luc Benoziglio

In einer ersten Annäherung kann man wohl festhalten, dass es im Wesentlichen drei Elemente sind, die Literatur ausmachen: erstens der Text, zweitens die Produktion, drittens die Rezeption.

1. Der Text allein In Deutschland herrschte nach 1945 eine immanente Textbetrachtung vor, die vor allem die Strukturen der Texte und die erzähltechnischen Verfahren ins Visier nahm.1 Die Theorie der literarischen Formen, die sich in Frankreich mit Roland Barthes und Gérard Genette entwickelte, ging von einem strukturalistischen Ansatz aus und betrachtete ebenfalls den Text allein in seiner synchronen Dimension. Barthes vertrat die These, der Bezug zwischen Geschichte und literarischem Werk sei nicht relevant. Paul Dirkx sprach darum zu Recht vom »Textualismus«.2 Die Theorie der literarischen Formen schloss so das – individuelle oder kollektive – Subjekt als Erklärungskategorie radikal aus. Sie versteht sich auch nicht als geschichtlich in einem traditionellen Sinne. Genette spricht von einer ›methodischen Suspension‹ der Geschichte, die die formalistische Kritik kennzeichne.3 Über literarische Werke als Texte könne man in diachroner Perspektive keine sinnvolle Aussage machen, außer man betrachte auch die Genese oder die Rezeption. Literaturkritik könne nicht historisch vorgehen, behauptet Genette im Anschluss an Roland Barthes’ »Histoire ou littérature«4 , weil es immer um eine direkte Beziehung der Interpretation gehe, die per definitionem anachron sei. Historisches Objekt seien nicht die Werke, sondern literarische Formen, die überdauern oder sich verändern könnten.5 Siehe Joseph Jurt: De l’analyse immanente à l’histoire sociale de la littérature. A propos des recherches littéraires en Allemagne depuis 1945. In: Actes de la recherche en sciences socials 78 (1989), S. 94–101. 2 Paul Dirkx: Sociologie de la littérature. Paris: Armand Colin 2000, S. 18–26; siehe auch Joseph Jurt: Vu de l’Allemagne. Les théories littéraires en France. In: Eveline Pinto (Hg.): Penser l’art et la culture avec les sciences sociales. En l’honneur de Pierre Bourdieu. Paris: Publications de la Sorbonne 2002, S. 121–137; Joseph Jurt: De Lanson à teoria do campo literário. In: Tempo social. Revista de sociologia da USP 16 (2004) 1, S. 29–59. 3 Gérard Genette: Figures III. Paris: Seuil 1972, S. 13. 4 Roland Barthes: Histoire et littérature. A propos de Racine. In: Annales 3 (1960), S. 524– 537. 5 Gérard Genette (Anm. 3), S. 17–18. 1

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Die Fixierung auf den reinen Text war so in den 1960er Jahren in Frankreich zur dominanten Form der Literaturbetrachtung geworden. Dieses Paradigma wirkte so stark, dass selbst Vertreter der sogenannten ›sociocritique‹ wie Claude Duchet sich diese Ausrichtung zu eigen machten: »Rien que le texte, mais tout le texte.«6

2. Critique génétique Der traditionelle Begriff des Werkes (›œuvre‹) war durch die von Roland Barthes und Julia Kristeva entwickelte Kategorie des ›texte‹ ersetzt worden, der sich selber genügt, als geschlossenes System, dessen Strukturen und Funktionen es zu analysieren gilt. Doch zu Beginn der 1970er Jahre wurde diese radikal synchrone Betrachtungsweise, die die Geschichtlichkeit – wenn auch vor allem aus methodischen Gründen – ausblendete, in Frage gestellt. Selbst ein strukturalistischer Theoretiker wie Roland Barthes begann nun, neben rein formalen Aspekten auch textexterne (kulturhistorische) und textinterne (genetische) Geschichtlichkeit in Betracht zu ziehen.7 Eine eigentliche Wende stellte das 1972 veröffentlichte Buch von Jean Bellemin-Noël Le texte et l’avant-texte8 dar, das auf der Basis einer eingehenden Analyse aller Vorstufen eines Gedichtes von Milosz eine »poétique des brouillons« forderte. Er hielt an den Vorgaben der strukturalistischen Literaturtheorie fest und konzentrierte sich auf die raum-zeitliche Textualität des Werkes, ohne sich auf ein produzierendes Subjekt zu beziehen. Der Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft wurde jedoch von der sich nun ausbildenden critique génétique in radikaler Weise neu definiert. Die strukturalistischen wie die traditionellen Ansätze richteten ihr Augenmerk ausschließlich auf das Werk und seine innere Notwendigkeit in seiner abgeschlossenen, im Druck vorliegenden Form. Die genetische Betrachtungsweise erweiterte das Blickfeld vom Text als geschlossenem Gebilde auf die Produktion, vom Geschriebenen (écrit) auf den Schreibprozess (écriture), vom gedruckten Werk auf die Manuskripte. Sicher hatte man schon vorher Handschriften, Vorstufen untersucht und als Varianten in kritischen Ausgaben aufgeführt; doch geschah das immer in einer teleologischen Perspektive, im Hinblick auf die endgültige Fassung. Die critique génétique führt indes die Zeit, die Diachronie in ihre Betrachtungsweise ein. Im Zentrum steht die Dynamik des Schreibprozesses, dessen Etappen alle als legitime Möglichkeiten eines schöpferischen Vorganges und nicht bloß als Vorstufen des abgeschlossenen Werkes gesehen werden; der durch den Druck fixierte Text erscheint nur als ein Moment dieses Prozesses. Die Originalität der in Frankreich entstandenen critique génétique besteht nach Louis Hay darin, dass sie einen texttheoretischen Anspruch erhebt, Sociocritique. Hg. von Claude Duchet. Paris: Nathan 1979, S. 4. Siehe Roland Barthes: Texte (Théorie du). In: Encyclopaedia Universalis 5 (1973) 15, S. 1677–1689. 8 Jean Bellemin-Noël: Le texte et l’avant-texte. Les brouillons d’un poème de Milosz. Paris: Larousse 1972; siehe dazu auch Jean Bellemin-Noël: Reproduire le manuscrit, présenter les brouillons, établir un avant-texte. In: Littérature 27 (1977), S. 3–8. 6

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aber gleichzeitig auch auf empirischer Basis – der Analyse der handschriftlichen Spuren – arbeitet.9 Die Entwicklung eines neuen literaturwissenschaftlichen Ansatzes wird nicht allein durch Tendenzen der Literatur bestimmt. Oft sind auch Zufälle im Spiel. Für die critique génétique war es die Erwerbung einer bedeutenden Sammlung von Manuskripten Heinrich Heines im Jahre 1968 durch die französische Nationalbibliothek, deren Bearbeitung einer Forschergruppe um Louis Hay anvertraut wurde, der zu einem Pionier der genetischen Literaturbetrachtung wurde. Im Laufe der siebziger Jahre schlossen sich Spezialisten der Proust- und Zola-Manuskripte der Equipe an. Weitere Forscher bearbeiteten in diesem Rahmen Handschriften Flauberts, Valérys, Joyces, Nervals und Sartres. 1982 fanden diese zahlreichen Projekte einen institutionellen Rahmen mit der Begründung des Pariser Institut des Textes et Manuscrits Modernes (ITEM), das in Frankreich zu einem eigentlichen Zentrum der critique génétique wurde.

3. Sozialgeschichtliche Genese Die critique génétique geht, wie gesagt, von einem bestimmten Textverständnis aus; sie entwickelte eine Methode, um das handschriftliche Material sinnvoll zu ordnen, um so die Dynamik des Schreibprozesses sichtbar zu machen. Die Textgenetik erlaubt es so, den äußerst komplexen Prozess der Entstehung eines Werkes, die Arbeit der écriture zu verfolgen. Aber um diesen Prozess zu erklären, liefert der avant-texte und seine interne Logik nicht selber den Schlüssel. Man muss den Bereich der handschriftlichen Zeugnisse verlassen und versuchen, die Ästhetik zu rekonstruieren, die diesen Prozess bestimmt.10 Eine Ästhetik ist immer auch ein soziales Faktum; sie definiert das ›Schöne‹ und dessen Funktion in Bezug auf eine Gesellschaft. Und selbst die Behauptung, das Schöne widersetze sich radikal einer Gesellschaft und ihren Werten, ist noch ein sozialer Akt. Ein Werk publizieren ist schon in sich ein sozialer Akt; dadurch tritt man in den öffentlichen Raum ein. Jacques Neefs hat jedoch recht, zwischen einer critique génétique, die die Bewegung eines Textes durch die Analyse des avant-texte ermitteln will, zu unterscheiden vom Begriff des Genetischen, so wie er seit Lucien Goldmann in den soziologischen Methoden des ›genetischen Strukturalismus‹ erscheint.11 Man wird hier Jacques Neefs durchaus zugestehen, dass eine genetische Betrachtungsweise, die die Homologiebeziehung zwischen der Inhaltsstruktur der Werke und der Weltsicht einer sozialen Gruppe postuliert, die wiederum durch deLouis Hay (Hg.): La naissance du texte. Paris: J. Corti 1989; Louis Hay (Hg.): De la lettre au livre. Sémiotique des manuscrits littéraires. Paris: Éd. du Centre national de la recherche scientifique 1989. 10 Zu Flaubert vgl. Joseph Jurt: Une manière absolue de voir les choses. Flaubert ou l’art pur. In: Daniel Jacob/Thomas Krefeld/Wulf Oesterreicher (Hg.): Sprache, Bewusstsein, Stil. Theoretische und historische Perspektiven. Tübingen: Narr 2005, S. 197–215. 11 Jacques Neefs: Critique génétique et histoire littéraire. In: Henri Béhar/Roger Fayolle (Hg.): L’Histoire littéraire aujourd’hui. Paris: P. U. F. 1990, S. 23–30, hier S. 23. 9

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Joseph Jurt

ren soziale, politische und ökonomische Situation bestimmt ist, recht mechanisch und reduktionistisch vorgeht. Der reduktionistische Charakter dieses genetischen Modells kann trotzdem kein Grund sein, um jede sozialgeschichtlich operierende Erklärung auszuschließen. Pierre-Marc de Biasi stimmt so durchaus zu, dass die Erhellung der Genese nur gelingen kann, wenn man ein selektives kritisches Verfahren über ein außer-textliches Erklärungsmodell zur Hilfe nimmt. Es gibt sozialwissenschaftliche Erklärungsmodelle, die etwas differenzierter operieren als der genetische Strukturalismus Goldmann’scher Observanz und die vor allem einer äußerst wichtigen Tatsache Rechnung tragen: der Autonomisierung der kulturellen Produktion, namentlich im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Ich denke hier an die Theorie des literarischen Feldes, wie sie von Pierre Bourdieu entwickelt wurde. Pierre Bourdieu schreibt so in seinen Regeln der Kunst gerade hinsichtlich der Analyse der sukzessiven Stufen eines Textes, dass diese erst dann ihre erklärende Funktion voll erfüllen kann, wenn sie die Logik der Arbeit am Schreiben, verstanden als unter den Strukturzwängen des Feldes und der von ihm gebotenen Möglichkeiten durchgeführtes Erfinden, zu rekonstruieren unternähme (mag darin auch etwas Künstliches liegen). Man verstünde das Zögern, das Verwerfen, die Rückkehr zu früheren Fassungen besser, wenn man realisierte, daß das Schreiben, diese gefährliche Schifffahrt in einem Ozean drohender Gefahren, in seiner negativen Dimension auch durch eine vorweggenommene Kenntnis der wahrscheinlichen, dem Feld als Möglichkeit innewohnenden Rezeption geleitet wird; daß der Schriftsteller, wie Flaubert ihn sich vorstellt, [. . .] sich von den eingefahrenen Geleisen des Üblichen entfernt und als Experte zeigt in der Kunst, den Weg zwischen jenen Gefahren aufzuspüren, die in Gemeinplätzen und konventionellen Formen bestehen.12

Textgenese und sozialgeschichtliche Genese schließen sich, wie ich meine, nicht aus; sie sind komplementär. Wichtig ist bloß, dass man sich über den Begriff des ›Sozialen‹ im Klaren ist und dass man nicht von einer Dichotomie Individuum vs. Gesellschaft ausgeht. Das ›Individuum‹ ist das verkörperte Soziale. Was auf jeden Fall auffällt, ist die beiderseitige Betonung des genetischen Aspekts. Pierre Bourdieu rief in seinem Gespräch mit Pierre-Marc de Biasi dazu auf, zusammenzuarbeiten, um so eine eigentliche »Theorie der literarischen Produktion zu entwickeln«.13 Der Begriff ›Genese‹ figuriert schon im Untertitel seiner Regeln der Kunst. Das Ziel der wissenschaftlichen Analyse der Literatur ist in seinen Augen, offenzulegen, »was das Kunstwerk notwendig macht, das heißt die Bildungsformel, das Erzeugungsprinzip« (»le principe générateur«).14 Auch die Person Frédérics in der Education sentimentale und die Beschreibung von dessen Position im sozialen Raum liefert Flaubert nach Bourdieu »die seiner eigenen Romanschöpfung zugrundeliegende Erzeugungsformel«15 (»sa formule génératrice«). Nur eine Analyse der Genese, Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S. 315ff. 13 Pierre-Marc de Biasi: Interview mit Pierre Bourdieu. In: Magazine littéraire Nr. 303 (1992), S. 104–111, hier S. 111. 14 Pierre Bourdieu (Anm. 12), S. 15. 15 Ebd., S. 61. 12

Von der Produktion zur Rezeption

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eine Analyse der Entstehung des literarischen Feldes, in dem sich das Flaubertsche Projekt ausgebildet hat, kann zu einem wahren Verständnis sowohl der Erzeugungsformel, die dem Werk zugrunde liegt, als auch der Arbeit führen, mit der Flaubert sie ins Werk zu setzen vermochte, wobei er in ein und derselben Bewegung diese generative Struktur und die gesellschaftliche Struktur, deren Produkt sie ist, objektivierte.16

4. Rezeptionsästhetik Der Aspekt der Rezeption der Literatur war indes sehr stark vernachlässigt worden. Zwar hatte schon Sartre 1947 in seinem Essay Qu’est-ce que la littérature? auf die konstitutive Funktion der Lektüre für das literarische Kunstwerk abgehoben: »Nur die vereinte Anstrengung von Autor und Leser vermag jenes konkrete und imaginäre Objekt, das das Werk des Geistes ist, hervorzubringen. Es gibt Kunst nur für und durch die anderen.«17 Die Betonung der zentralen Rolle des Lesers führt unmittelbar zur Frage ›Für wen schreibt man?‹. Alle Werke enthalten für Sartre auch ein Bild des Lesers, an den sie sich richten. Sie sind nicht allein durch das Ursprungsmilieu des Schriftstellers determiniert, sondern auch durch die Erwartungen des Publikums. Sartre versuchte einen Querschnitt der französischen Literatur, die er vom jeweils anvisierten Adressatenkreis her bestimmte. Dieser Aspekt, der vor allem dem virtuellen Publikum im Text und weniger der realen Rezeption der Texte gilt, wurde jedoch in den Reaktionen auf Sartres Essay kaum beachtet; im Vordergrund stand vielmehr sein Konzept einer engagierten Literatur, die an die Freiheit des Lesers appelliert. Der Rezeptionsaspekt stand dann in der Rezeptionsästhetik, die von Hans Robert Jauss und Wolfgang Iser gegen Ende der 1960er Jahre entwickelt wurde, ganz im Zentrum. In seiner Konstanzer Antrittsvorlesung »Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft« trat Jauss, der in diesem Zusammenhang Sartre nicht einmal erwähnte, mit dem Anspruch auf, die traditionelle Produktionsund Darstellungsästhetik zu ersetzen. Er scheute sich nicht, seinen Ansatz selbst als Paradigmenwechsel auszurufen.18 Die – verbale – Radikalität erklärt auch die große Resonanz, die diese Antrittsvorlesung fand. Das Echo versteht sich wohl auch aus der Tatsache, dass die damals dominante Literaturbetrachtung auf Werkstrukturen oder auf den Autor und die Produktion fixiert war. Jauss ging es auch darum, die Historizität der Literatur zu erfassen, die für ihn in der Aktualisierung der Texte durch den Leser besteht. Die Geschichte der Literatur ist für ihn »ein Prozess ästhetischer Rezeption und Produktion, der sich in der Aktualisierung li