Streit gehört dazu 346630685X, 9783466306855 [PDF]


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German Pages 223 [225] Year 2005

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Table of contents :
Streit gehört dazu (Kösel Verlag, 2005)......Page 1
Inhalt......Page 6
1 »Am Anfang war Erziehung«......Page 8
Welche Konsequenzen Erziehung haben kann......Page 9
Was ich aus meinen Erfahrungen gelernt habe......Page 12
Was ich mit diesem Buch erreichen will......Page 18
Wenn Paare Eltern werden......Page 22
Eltern sein – was heißt das?......Page 26
Eltern sein – wo lernt man das?......Page 30
3 Begegnung mit dem »inneren Kind«......Page 38
Wie Verhaltensmuster entstehen......Page 42
Das DU als Spiegel für das ICH......Page 49
4 Konflikte verstehen statt vermeiden......Page 64
Was ist ein Konflikt?......Page 65
Wie entstehen Konflikte?......Page 68
Welchen Sinn haben Konflikte?......Page 70
Wie Konfliktverhalten gelernt wird......Page 73
5 Typisches, aber ineffektives Konfliktverhalten......Page 78
Methoden der Konfliktbewältigung......Page 82
Test: Mein Konfliktverhalten......Page 79
6 Aspekte der Verständigung......Page 106
Kommunikation – Grundlage der Konfliktklärung......Page 107
Die Bedeutung der Dinge......Page 123
Selbstwert und Identität......Page 131
7 Konfliktfähig werden......Page 144
Selbstbehauptung – Das ICH stärken......Page 147
Wertschätzung – Das DU achten......Page 185
Anmerkungen......Page 222
Adressen......Page 224
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Streit gehört dazu
 346630685X, 9783466306855 [PDF]

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Zitiervorschau

Gabriela Martens



Streit gehört dazu

Gabriela Martens

Streit gehört dazu Wie wir Konflikte in der Familie verstehen und lösen

Kösel

Dalai Lama XIV Jeder besitzt gute Eigenschaften – man muss nur bereit sein, sie zu finden. Wenn Sie das tun, dann müssen Sie zugeben, dass Ihre negative Sicht eines Menschen auf Ihrer eigenen Wahrnehmung beruht, also mehr auf Ihrer geistigen Projektion als auf der wahren Natur dieses Menschen.

© 2005 by Kösel-Verlag GmbH & Co., München Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten Druck und Bindung: Pustet, Regensburg Umschlag: Elisabeth Petersen, München Umschlagmotiv: ZEFA/Pete Leonard Illustrationen: Monica May, München ISBN 3-466-30685-X Gedruckt auf umweltfreundlich hergestelltem Werkdruckpapier (säurefrei und chlorfrei gebleicht)

Inhalt 1

2

3

4

»Am Anfang war Erziehung« . . . . . . . .

7

Welche Konsequenzen Erziehung haben kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8

Was ich aus meinen Erfahrungen gelernt habe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Was ich mit diesem Buch erreichen will . . .

17

Erbarmen mit den Eltern . . . . . . . . . . . . .

21

Wenn Paare Eltern werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eltern sein – was heißt das? . . . . . . . . . . . . . . . . Eltern sein – wo lernt man das? . . . . . . . . . . . . .

21 25 29

Begegnung mit dem »inneren Kind«

37

Wie Verhaltensmuster entstehen . . . . . . . . . . . . Das DU als Spiegel für das ICH . . . . . . . . . . . . . .

41 48

Konflikte verstehen statt vermeiden

63

Was ist ein Konflikt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie entstehen Konflikte?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Welchen Sinn haben Konflikte? . . . . . . . . . . . . . Wie Konfliktverhalten gelernt wird . . . . . . . . . .

64 67 69 72

5

6

7

Typisches, aber ineffektives Konfliktverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

Test: Mein Konfliktverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . Methoden der Konfliktbewältigung . . . . . . . . . .

78 81

Aspekte der Verständigung . . . . . . . . .

105

Kommunikation – Grundlage der Konfliktklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Bedeutung der Dinge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstwert und Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

106 122 130

Konfliktfähig werden . . . . . . . . . . . . . . . . .

143

Selbstbehauptung – Das ICH stärken . . . . . . . .

146

Identität zeigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abgrenzung gegenüber Erwartungen . . . . . . . .

146 163

Wertschätzung – Das DU achten . . . . . . . . . . . .

184

Einfühlungsvermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Toleranz für Gegensätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

184 204

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

221

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Adressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

221 223

1 »Am Anfang war Erziehung« 1 Die unaufgelösten Dissonanzen im Verhältnis von Charakter und Gesinnung der Eltern klingen in dem Wesen des Kindes fort und machen seine innere Leidensgeschichte aus. Friedrich Nietzsche

Ich schreibe dieses Buch aus eigener Betroffenheit, denn ich bin das Kind von Eltern. Es sind also meine eigenen Erfahrungen mit Eltern und Erziehung, die mich veranlasst haben, dem Thema Familie und der Eltern-Kind-Beziehung über viele Jahre hinweg intensiv auf den Grund zu gehen. Das Buch ist aus der Sicht des Kindes entstanden, das – mittlerweile herangewachsen – rückwirkend seine Eltern betrachtet und sieht, wie sehr sie bemüht waren, ihren Kindern das »Beste« zu geben, und doch so vieles versäumt haben. Aber es gibt keinen Grund für Schuldzuweisungen. Heute sehe ich in meinen Eltern jeweils das Kind, das sie einmal waren, und ich kann den Mangel erkennen, den sie selbst erlitten haben. Während meiner Tätigkeit in der Erziehungs- und Familienberatung und in den Elternkursen, die ich leite, hat sich meine Vermutung bestätigt, dass es dieses zu kurz gekommene und verletzte »innere Kind« (siehe Kapitel 3) in vielen Vätern und Müttern gibt und dass es endlich die Aufmerksamkeit, die Zuneigung, das Verständnis und 7

vor allem die Unterstützung braucht, auf die es in der Kindheit hat verzichten müssen. Wenn es Eltern gelingt, dieses so genannte innere Kind in sich selbst wieder zu entdecken und zu heilen, werden sie den Anforderungen des täglichen Miteinanders in der Familie besser gewachsen sein, und zwar ohne Schuldgefühle und ohne sich ständig zu überfordern bei dem Versuch, sich den gesellschaftlichen Normvorstellungen vom Elternsein anzupassen.

Welche Konsequenzen Erziehung haben kann Ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der es die unausgesprochene Regel gab: »Wir wollen eine glückliche Familie sein.« Das heißt so viel wie: »Niemand darf wissen, wie es uns wirklich geht.« Leider wurde diese Regel nicht nur nach außen, sondern auch innerhalb der Familie praktiziert, so dass keiner von uns wusste, wie es dem anderen tatsächlich zumute war. Das brachte ein Gefühl von Isolation und innerer Einsamkeit mit sich. Hinter unserer Familienregel stand – wie ich heute weiß – die Sehnsucht des »inneren Kindes« meiner Eltern nach einem glücklichen Zuhause, und alles, was dieser Vorstellung von Glück widersprach, wurde verleugnet. So waren Gefühle wie Schmerz, Enttäuschung, Ärger, Zorn grundsätzlich tabu. Wenn ich doch einmal in meiner kindlichen Unbefangenheit solche Gefühle gezeigt habe, wurden sie mit Ironie und Sarkasmus abgetan. Ich wurde ausgelacht oder einfach nicht ernst genommen mit den Worten »Stell dich nicht so an«, »Mach nicht so ein Theater« oder »Sei doch vernünftig«. Ich blieb mit meinen ganz alltäglichen Nöten allein und fand keinen Trost. 8

Heute weiß ich, dass meine Eltern diese Gefühle bei mir abwehren mussten, um nicht an den eigenen Kummer erinnert zu werden, den sie nicht noch einmal erleben wollten. Es war ihr Schutzmechanismus. Unbewusst wurde auf diese Weise ein Teil des Lebens ausgeklammert. Statt meine Gefühle zum Ausdruck zu bringen, habe ich gelernt, wie eine Marionette zu funktionieren und die Rolle des braven, vernünftigen Kindes zu übernehmen. Ich wurde »pflegeleicht«, von mir selbst blieb dabei nicht mehr viel übrig. Die »unaufgelösten Dissonanzen« im Wesen meiner Eltern hatten sich – ohne dass sie das wollten – auf mich übertragen. Als ich später selbst Kinder wollte, wurde mir klar, dass ich zuerst auf die Suche nach meinen verschütteten Gefühlen gehen musste, um den eigenen Mangel nicht auch wieder weiterzugeben. Denn wie sollte ich einem Kind Selbstsicherheit, Selbstvertrauen, Selbstverantwortung, Durchsetzungskraft und Lebensfreude vermitteln, ohne selbst zu wissen, wie sich das anfühlt? In der Therapie und in Selbsterfahrungsgruppen lernte ich, mich selbst und die Welt nicht mehr durch die Brille meiner Eltern zu sehen, sondern meiner eigenen Wahrnehmung zu trauen. Diese Entscheidung konnte ich jedoch erst als Erwachsene treffen. In der Abhängigkeit des Kindes, das ich einmal war, wagte ich es nicht, mich gegen die Sichtweise meiner Eltern zu stellen, denn das hätte mir ihren Unwillen eingebracht. Ein Kind ist aber zutiefst auf Zustimmung und Wohlwollen angewiesen. Ein Kind muss glauben, dass die Eltern es gut meinen, dass sie Recht haben, weil sie ja in den ersten Lebensjahren die Personen sind, an denen es sich orientiert. Ein Kind ist eher bereit zu denken, dass etwas mit ihm selbst nicht stimmt, als dass vielleicht mit den Eltern etwas nicht in Ordnung ist. 9

Der nícht immer leichte Weg der Selbstfindung bringt jedoch unschätzbare Vorteile mit sich, die für jeden eine Grundlage für Zufriedenheit und gelingende Beziehungen sind: ● ●

● ●



Ich lerne mich mit meinen Stärken und Schwächen zu akzeptieren. Ich fühle mich nicht mehr als Opfer anderer, sondern entscheide für mich selbst und trage die Verantwortung für mein Handeln, auch wenn mal was schief geht. Der Kontakt zu den eigenen Gefühlen wird wiederhergestellt. Es wird möglich, die Spannungen zwischen den Widersprüchen des Lebens besser auszuhalten, die sowohl innerlich als auch in Beziehungen zu anderen auftauchen. Die Beziehung zu den Eltern normalisiert sich, so dass die Liebe wieder fließen kann, die oft hinter Schmerz und Wut verborgen ist.

In seinem Buch Der Prophet schreibt Khalil Gibran: »Schmerz bedeutet das Brechen der Schale, die euer Verstehen umschließt.«2 Das Brechen der Schale ist vergleichbar mit dem Weizenkorn, das in den Boden fällt: Neues Leben kann erst entstehen, wenn die harte Schale des Korns aufbricht und dadurch die zusammengeballten Energien im Inneren frei werden. Im Laufe dieses Prozesses habe ich einiges über das Zusammenleben in Partnerschaft und Familie verstanden. Das möchte ich im Folgenden gerne an Sie weitergeben. Dabei geht es mir vor allem darum, behindernde Mechanismen im Zusammenleben aufzudecken, Mut zur Selbsterforschung zu machen und Wege aus der Verstrickung aufzuzeigen.

erstellt von ciando

10

Was ich aus meinen Erfahrungen gelernt habe Vor dem Hintergrund meiner Kindheitserlebnisse und deren Auswirkungen auf mein späteres Leben stellte sich mir eine Reihe von Fragen: ● ● ● ● ● ●

Welches Umfeld brauchen Kinder für eine gesunde Entwicklung? Welche Aufgaben haben Eltern und wie werden sie darauf vorbereitet? Wissen Eltern wirklich immer, was das »Beste« für ihre Kinder ist? Warum vertuschen Eltern ihre Ratlosigkeit, Hilflosigkeit und Ängstlichkeit? Warum gibt es Streit und Zerwürfnis zwischen Menschen, die sich eigentlich lieben? Worauf kommt es im Zusammenleben an, damit es zufrieden stellend und wachstumsfördernd ist?

Was Kinder für ein gesundes Wachstum benötigen, nämlich Zuneigung, Aufmerksamkeit, Verständnis, Güte und Nachsicht, ist ausführlich in der einschlägigen Literatur beschrieben worden, ebenso wie eine Fülle von Ratschlägen für so genanntes richtiges elterliches Verhalten. Dieses Wissen klingt sinnvoll und einleuchtend. Aber die Umsetzung in die Praxis scheint nicht so einfach zu sein. Sowohl in meinem Bekanntenkreis als auch bei meiner Arbeit mit Eltern sehe ich immer wieder vergebliche Bemühungen und zermürbende Auseinandersetzungen zwischen Eltern und Kindern. Da geht es um das morgendliche Aufstehen oder das Ins-Bett-Gehen am Abend, um die Hausaufgaben, 11

die Essgewohnheiten, um das Fernsehen, um nur einige Punkte zu nennen. Ich bin überzeugt, dass Eltern in der Regel wirklich das Beste für ihre Kinder wollen. Nur wird in unserer Gesellschaft aus diesem guten Willen stillschweigend die Erwartung abgeleitet, dass Eltern auch immer wissen, was das »Beste« für ihre Kinder ist. Aber wissen sie das wirklich immer oder kann das nur gemeinsam mit den Kindern herausgefunden werden? Eltern handeln normalerweise in guter Absicht und sind dann überrascht, enttäuscht oder ratlos, wenn sie nicht den gewünschten Erfolg haben. Woran liegt es, dass ihre Bemühungen fehlschlagen? Worin besteht die Schwierigkeit, all die wohl durchdachten Ratschläge in die Tat umzusetzen? Verlangen Eltern damit nicht zu viel von sich? Eltern handeln auf der Grundlage dessen, was sie selbst als Kinder erlebt und welche Schlussfolgerungen sie daraus gezogen haben. Die dabei gelernten Denk- und Verhaltensmuster beeinflussen mehr oder weniger bewusst ihr heutiges Handeln ebenso wie ihr Fühlen und Denken. Eltern handeln also auf Grund eigener Erfahrungen und daraus abgeleiteter Schlussfolgerungen. Daher kommt es, dass sie dann entweder an starren Regeln festhalten oder zu nachgiebig sind und den Bezug zur aktuellen Situation nicht ausreichend beachten. Oder sie leben in Abgrenzung zu den eigenen Eltern den Gegenpol im Sinne von »Nur nicht wie meine Mutter«. Trotz aller Bemühungen, sich im Sinne von pädagogischen Vorstellungen und Zielen »richtig« zu verhalten, geben Eltern nur das weiter, was sie in ihrer eigenen Erziehung erworben haben und was ihnen daher zur Verfügung steht. 12

Was in der eigenen Kindheit nicht leben durfte, das können Eltern auch bei ihren Kindern nicht dulden und dagegen kämpfen sie mit Verboten an. Kinder haben zum Beispiel eine ganz unbekümmerte Art, ihre Bedürfnisse anzumelden, weil das für sie noch ganz selbstverständlich ist, während es vielen Erwachsenen schon Schwierigkeiten bereitet, ihre Bedürfnisse überhaupt wahrzunehmen, geschweige denn, sie zu äußern. Diese kindliche Unbefangenheit kann daher von Eltern mit einer langen Geschichte der Unterdrückung eigener Bedürfnisse und Wünsche leicht als Unverschämtheit empfunden werden, die in ihnen Empörung oder Ärger auslöst. Sie sind dann nicht mehr in der Lage, situationsgerecht mit Ja oder Nein zu antworten, was für ein Kind eine klare Orientierung wäre. Vielmehr fließt in ihre Reaktion der lang aufgestaute Ärger über die frühen Selbsteinschränkungen mit hinein. Aus Angst vor dem Auftauchen eigener abgewehrter Wünsche verwehren sie ihrem Kind vielleicht etwas, das sie ihm (und sich selbst) im Grunde gönnen würden. In einem solchen Fall hat das »innere Kind« im Vater oder in der Mutter die Oberhand gewonnen, und so wird die Familientradition bis »ins dritte und vierte Glied« weitergegeben. Eltern bleiben letztlich ihren Kindern das schuldig, was sie selbst als Kind vermisst haben, solange sie die Enttäuschung über den Mangel verdrängen und daher nicht mehr genug spüren, was kindgemäß ist. Das führt unweigerlich zu Spannungen, weil Kinder die Einschränkungen von Selbstausdruck und Wachstum nicht ohne weiteres hinnehmen. Ein Teil der im Familienalltag auftretenden Konflikte mit Kindern spiegelt diese Verdrängungen und inneren Dissonanzen der Eltern wider, die dadurch sichtbar werden und so einer Lösung zugänglich gemacht werden können.

13

Familienkonflikte sind eine Chance für Eltern, ihr »inneres Kind« mit all den unerfüllten Wünschen, Sehnsüchten und Verletzungen wieder zu entdecken und zu heilen, um dadurch ihr Einfühlungsvermögen in das Kindsein neu zu beleben und zu vertiefen. Dabei ist es hilfreich, Konflikte mit Kindern nicht unter dem Motto »Was habe ich denn jetzt falsch gemacht« zu betrachten, sondern sie als einen Hinweis zu sehen, dass es da etwas zu erforschen gibt und es sich lohnt, neugierig zu werden auf die verborgenen Teile in einem selbst, um sie heilen zu können. Ein weiterer Teil der Konflikte im zwischenmenschlichen Bereich gehört einfach zum Leben und ist unvermeidlich, da sich Leben als Spannung zwischen gegensätzlichen Polen abspielt, wie beispielsweise zwischen Ich

und

Du

Innenwelt

und

Außenwelt

Unabhängigkeit

und

Zugehörigkeit

Selbstbehauptung

und

Anpassung

Unter diesem Gesichtspunkt wird die Konflikthaftigkeit menschlicher Beziehungen deutlich. Es kann also nicht darum gehen, Konflikte zu vermeiden, um in Frieden miteinander zu leben. Vielmehr geht es darum, konfliktfähig zu werden, das heißt Konflikt auslösende Mechanismen zu erkennen und geeignete Fähigkeiten zur Konfliktbewältigung zu entwickeln. Aber gerade das haben viele nicht gelernt. Stattdessen sind wir auf demütigende Art besiegt worden, weil die Eltern und andere Erziehungspersonen die Stärkeren 14

waren. Auch heute noch schlagen und demütigen 17 Prozent der Eltern ihre Kinder, wie eine Studie aus dem Jahre 3 2003 ergeben hat. Wir können davon ausgehen, dass es auch heute noch Eltern gibt, die selbst in einer Atmosphäre aufgewachsen sind, in der kein Widerspruch geduldet und strikte Anpassung an Regeln verlangt wurde. Die Meinung des Kindes wurde nicht ernst genommen und den Eltern klingen vielleicht noch Sätze im Ohr wie »Solange du deine Füße unter meinen Tisch streckst, wird getan, was ich sage«; »Was weißt du schon davon«; »Wir wollen doch nur dein Bestes«. Mit diesen Begründungen werden Kinder unterdrückt und können daher nicht lernen, den eigenen Standpunkt zu finden, sich durchzusetzen, ohne andere zu übergehen. Diese Einschränkung von Selbstbehauptung und Selbstausdruck löst Ohnmachtgefühle aus und lässt Kinder aggressiv reagieren. Durch den Wertewandel der 68er-Generation haben viele heutige Eltern in ihrer Kindheit zudem eine Phase der Orientierungslosigkeit erlebt, da ihnen im Zuge der antiautoritären Erziehung zu wenig Grenzen gesetzt wurden und sie in der Familie nicht gelernt haben, sich mit den Eltern konstruktiv auseinander zu setzen. Um dieses Manko auszugleichen, wird heute in Schulen zunehmend die Entwicklung der Sozialkompetenz von Kindern trainiert und gefördert. Auf Grund der genannten Erlebnisse haben Konflikte tatsächlich etwas Beängstigendes an sich und es ist verständlich, dass Konfliktlosigkeit für viele als erstrebenswert gilt. Aber diese Ausweichhaltung führt zu noch größerer Verunsicherung bei den unvermeidlichen Auseinandersetzungen mit Kindern. Auf einmal müssen Eltern erkennen, dass sie ihre Kinder mit den gleichen Worten zurechtweisen, die sie von ihren Eltern gehört haben. Die in der Kindheit erlebte Demütigung hat oft zur Folge, dass Erwachsene unter allen Um15

ständen ihr Gesicht wahren wollen. Deshalb lassen sich Eltern zu Worten und Handlungen hinreißen, die sie eigentlich ablehnen, und dann kommen die Schuldgefühle ... Oft ist es nicht der Konflikt an sich, der Eltern verunsichert, sondern das Nicht-gelernt-Haben, angemessen damit umzugehen, das heißt, ohne den anderen herabzusetzen und ohne sich selbst zu übergehen. Die zentrale Frage ist: Was können Eltern tun, um in Konfliktsituationen mehr Sicherheit zu bekommen? Wenn wir davon ausgehen, dass die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander grundlegend für Wachstum und Entwicklung aller beteiligten Personen sind, dann kommt der Qualität von Beziehungen eine wichtige Bedeutung zu. Worauf beruht nun aber eine gute Beziehung? Beziehungen sind dann befriedigend, wenn die darin auftretenden Gegensätze toleriert sowie die daraus entstehenden Konflikte akzeptiert und auf angemessene Art bewältigt werden. Unbefriedigend sind Beziehungen dann, wenn versucht wird, dem anderen dessen Gefühle und Gedanken auszureden und ihm die eigene Meinung aufzuzwingen. Damit wird versucht, die Existenz von Gegensätzen zu verleugnen. Das führt unweigerlich zum Machtkampf, zu endlosen Rechtfertigungen, zu Siegern und Verlierern. Das Ergebnis ist dann die »Familie als Schlachtfeld«, wie es eine Teilnehmerin in einem meiner Kurse einmal ausdrückte.

16

Was ich mit diesem Buch erreichen will Ich möchte mit diesem Buch einen Beitrag dazu leisten, dass die Beziehung zwischen Eltern und Kindern nicht durch die Vorstellungen beeinträchtigt wird, wie ein Kind sein oder nicht sein »sollte«, sondern dass Eltern ihre Kinder so annehmen können, wie sie sind, nämlich als eigenständige und ab einem bestimmten Alter auch selbstverantwortliche Persönlichkeiten. Dieser Einstellung steht nach all meinen Erfahrungen das nicht beachtete »innere Kind« der Eltern im Weg, dem ich hier Gehör verschaffen will. Ich möchte Eltern Mut machen, sich selbst ernst zu nehmen, neugierig zu werden auf das verborgene »innere Kind« und wieder in Kontakt zu kommen mit den Erlebnissen und Gefühlen der Kindheit, die heute unbewusst im Umgang mit den eigenen Kindern wirksam werden und zu Konflikten führen. Ich will Eltern dabei unterstützen, in Konfliktsituationen mehr Sicherheit zu erlangen und damit den Anforderungen des Familienalltags gelassener begegnen zu können. Zunächst werde ich die Ursachen von Konflikten in der Familie verdeutlichen, danach auf die in unserer Gesellschaft typischen Verhaltensmuster in Konfliktsituationen eingehen und dann aufzeigen, worauf es bei einer gewaltfreien und partnerschaftlichen Konfliktbewältigung ankommt und wie diese gelingen kann. Es ist mir wichtig, bewusst zu machen, ●



wie die Auseinandersetzung mit unseren Unterschieden so gestaltet werden kann, dass wir dabei weder uns selbst noch andere übergehen und verletzen, sondern Verständnis und Vertrauen entwickeln; welchen Stellenwert die Kommunikation für menschliches Zusammenleben hat und wie dadurch die Entwick17







lung von Selbstwert und Persönlichkeit bei Kindern beeinflusst wird; wie die Bedeutung, die wir den Personen und »Dingen« unserer Umwelt geben, unser Verhalten beeinflusst. Ein Kind kann für Eltern unterschiedliche Bedeutung haben (zum Beispiel erwünscht oder unerwünscht), was nicht ohne Auswirkung auf den Umgang zwischen Eltern und Kind bleibt; wie befriedigend das Zusammenleben sein kann, wenn Gegensätze nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung angesehen werden im Sinne einer Lern- und Wachstumsmöglichkeit und wie wir Konflikte als Anstoß zum Nachdenken willkommen heißen und sie zur Vertiefung unserer Beziehungen nutzen können.

Eltern sind mit ihrem jeweils eigenen, unverwechselbaren Lebenshintergrund zu verschieden, als dass man ihnen ein Patentrezept für bestimmte Situationen geben könnte. Sie brauchen vielmehr die Chance, selbst die Hintergründe für ihr Handeln zu ergründen und das für ihre jeweilige Situation Sinnvolle und Machbare herauszufinden. Ohne Fragen kann es keine Antworten geben und so werden Sie in diesem Buch Übungen und Fragen finden, die Ihnen die Möglichkeit für eigene Antworten geben. Dabei gibt es kein »Richtig« oder »Falsch«. Es kann nur darum gehen herauszufinden, ob in Ihrem Leben etwas befriedigend oder unbefriedigend ist. Und jeder hat seine eigenen Vorstellungen von befriedigend und unbefriedigend. Mit den Ausführungen in diesem Buch wende ich mich an alle Eltern, egal, ob sie zusammen oder getrennt leben, Alleinerziehende sind oder in so genannten Patchworkfamilien leben, bei denen zwei geschiedene Partner wieder neu heira18

ten und die Kinder aus der jeweils ersten Verbindung mit in die neue Beziehung bringen. Wichtig ist in solchen Familien vor allem, dass der abwesende Elternteil gewürdigt wird. Günstig wäre es, wenn ein Elternpaar dieses Buch gemeinsam durchlesen würde. Ich habe die Hoffnung, dass sich dies verwirklichen lässt, da nicht nur Mütter, sondern auch immer mehr Väter ihre Rolle bewusster gestalten wollen. Hier hat sich im Vergleich zu 1989, als dieses Buch in seiner Erstfassung erschien, viel zum Positiven verändert. Angesichts der voneinander abweichenden Lebenserfahrungen von Vätern und Müttern und der daraus resultierenden unterschiedlichen Vorstellungen über Elternschaft und Erziehung kann das Buch eine gemeinsame Basis zur Verständigung der Eltern untereinander schaffen. Zudem hätte dies eine positive Auswirkung auf die Partnerschaft zwischen Mann und Frau, in der ebenfalls gelegentlich Konflikte bewältigt werden müssen. Eine gelungene Konfliktbewältigung regelt nicht nur den Konflikt auf der inhaltlichen Ebene, sondern klärt und vertieft gleichzeitig die Beziehung zu unserem Gegenüber. Indem so eine Vertrauensbasis geschaffen wird, fällt es den Beteiligten leichter, bei zukünftigen Konfliktsituationen entspannter und offener aufeinander zuzugehen. Das macht häufig eine endgültige Trennung vom Partner überflüssig, was bisher oft als einziger Ausweg aus einer verfahrenen Situation gesehen wird. Das Vertrauen in eine Beziehung wächst, wenn wir uns um Verständnis bemühen, uns mit Achtsamkeit und Respekt begegnen und dabei weder uns selbst noch andere übergehen. Das ist eine Kunst, die gelernt werden kann.

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2 Erbarmen mit den Eltern Eine glückliche Mutter ist für Kinder segensreicher als hundert Lehrbücher über Erziehung. Lebensweisheit

Wenn Paare Eltern werden Die Ankunft eines Kindes ist für Paare ein einschneidendes Ereignis. Aus Frau und Mann werden Mutter und Vater. Ihre Lebenssituation ändert sich von Grund auf.

21

Bisher war die Aufmerksamkeit der beiden Partner mehr oder weniger bewusst auf die Gestaltung und Festigung ihrer Paarbeziehung gerichtet, wobei immer auch die Verschränkung zweier Lebensgeschichten bewältigt werden muss. Aber jetzt ist aus der Zweierbeziehung (Dyade) eine Dreierbeziehung (Triade) geworden und diese Umwandlung im Beziehungsgefüge ist äußerst krisen- und konfliktanfällig: ●









Die Partner müssen ihre emotionale Zweisamkeit mit einem Dritten teilen und haben nicht mehr uneingeschränkt Zeit füreinander. Das Zusammenleben zu dritt (später zu viert, fünft usw.) verlangt insgesamt eine Neuaufteilung von Zeit, Raum, Energie, Mitteln (Geld), Macht (wer trifft Entscheidungen für welchen Bereich?), Zuwendung und Liebe. Die Regeln für das Zusammenleben müssen neu vereinbart werden, zum Beispiel: Wer macht was, wann und wie lange? In die neue Rolle als Vater und Mutter mit den dazugehörigen Aufgaben muss sich jeder erst hineinleben. Unter Umständen müssen lieb gewordene Gewohnheiten aufgegeben werden. So ist beispielsweise das nächtliche Durchschlafen anfänglich nicht mehr selbstverständlich. Die eigene Elternschaft bedeutet, endgültig von der Kindheit Abschied zu nehmen.

Die Anwesenheit eines Kindes erfordert von den Eltern, eigene Wünsche und Bedürfnisse zunächst zurückzustellen und sich neu zu orientieren, bis wieder ein Gleichgewicht zwischen der Erfüllung eigener Bedürfnisse und denen des Kindes gefunden wird. Dieses Zurückstellen fällt dann besonders schwer, wenn die jungen Eltern selbst noch ein gewisses Nachholbedürfnis aus ihrer frühen Kindheit haben und den Partner zumindest teilweise als Elternersatz betrachten. 22

Die von damals mitgebrachten unerfüllten Wünsche und ungelösten Probleme, die im »inneren Kind« der Eltern noch immer lebendig sind, bilden das Reservoir meist unbewusster Erwartungen an den Partner. Der Partner oder die Partnerin soll für all das entschädigen, was einem in der Herkunftsfamilie versagt war, zum Beispiel die lang ersehnte Anerkennung und Bestätigung, liebevolle Zuwendung, eine von Verlustängsten freie Bindung usw. Es wird auch versucht, ungelöste Konflikte mit den eigenen Eltern in der Übertragung auf den Partner zu bewältigen, beispielsweise endlich selbstständig zu werden und sich gegen einen autoritären Vater oder eine durch ständiges Leiden Schuldgefühle vermittelnde Mutter durchzusetzen. Häufig sucht man sich unbewusst eine(n) Partner(in), der/die dem entsprechenden Elternteil ähnlich ist. In diesen unterschwellig vorhandenen Erwartungen gegenüber dem Partner liegt der Samen für eine ganze Reihe von Missverständnissen und Konflikten, die jetzt unübersehbar auftreten können. An diesen wenigen Beispielen wird sichtbar, wie allein das Dasein eines Kindes Mann und Frau in ihrem bisherigen Selbstverständnis verunsichert und herausfordert, ihre ganze Beziehung zueinander neu zu überdenken. An konflikthaften Situationen fehlt es nicht. Wenn es vorher schon gekriselt hat, wird die Krise jetzt offensichtlich, im Gegensatz zu der weit verbreiteten Ansicht, ein Kind könne eine schlechte Ehe kitten. Das ist nicht der Fall. Stattdessen wird ein Kind mit einem solchen »Auftrag« von Anfang an völlig überfordert und es kommt nicht selten vor, dass diese Kinder später Sätze zu hören bekommen wie: »Seit du da bist, geht es uns schlecht«, »Wenn du nicht wärest, hätte ich deinen Vater nie geheiratet« oder »... dann wäre ich schon längst gegangen«. Die Gründe für das Eingehen einer Lebensgemeinschaft sind vielschichtig und die durch ein Kind ausgelöste Um23

strukturierung der Lebenssituation eines Paares ist eine gute Gelegenheit, sich einmal genauer anzuschauen, was einen zusammengeführt hat. Die Ehe ist in der Tat ein Lernprozess und es ist wichtig, dass sich Paare an der Schwelle zur Elternschaft über ihre Beziehung zueinander klarer werden und diese eventuell neu definieren. Sonst besteht die Gefahr, dass entweder das Kind mit der Lösung unerledigter Probleme »beauftragt« wird (siehe oben) oder dass die Differenzen auf der Paarebene die notwendigen Entscheidungen auf der Elternebene negativ beeinflussen. Für das Verständnis der Partner untereinander ist es notwendig, ● ● ●

sich widersprüchliche Gefühle mitzuteilen, offen darüber zu sprechen, in welchen Bereichen man sich vernachlässigt und zu kurz gekommen fühlt und die Schwierigkeiten, die jeder mit seiner neuen Rolle als Vater beziehungsweise Mutter hat, nicht vor dem anderen zu verbergen.

Nur so kann die Partnerschaft aus dieser typischen und ganz normalen Entwicklungskrise gestärkt und vertieft hervorgehen. Eine sehr verständliche Anleitung für solche klärenden Gespräche finden Sie im Buch Die Wahrheit beginnt zu zweit 4 von Michael Lukas Moeller. Gleichzeitig mit der Neuorientierung in der Paarbeziehung ist eine Neuregelung der Beziehungen zu den eigenen Eltern, die nun Großeltern werden, erforderlich. Die veränderte Situation bedeutet auch für die Großeltern das Ende eines Lebensabschnittes. Manchen fällt es schwer, die mit den Kindern verbundenen Aufgaben loszulassen und sich wieder mehr dem eigenen Leben zuzuwenden. Sie versuchen dem zu entgehen, indem sie sich in alle möglichen Angelegenheiten 24

der jungen Familie bis hin zur Erziehung der Enkel einmischen. Für die Eigenständigkeit der jungen Familie ist es jedoch wichtig, eine klare Abgrenzung zwischen dem eigenen Lebensbereich und dem der (Groß-)Eltern zu schaffen. Im Ringen um Abhängigkeit und Trennung treten häufig bisher unerledigte Konflikte mit den eigenen Eltern noch einmal deutlich zutage. Die endgültige Ablösung von den Eltern bedeutet, einen letzten Rest von Abhängigkeit und Unselbstständigkeit aufzugeben und auf die eigene Lebenstüchtigkeit zu vertrauen. Nur so kann der Abschied von der Kindheit und eine Neuorientierung im Verhältnis zu den Eltern gelingen. Dieser Abschied von der Kindheit ist notwendig, um bewusst zum Elternsein ja sagen zu können, ja zu den neuen Aufgaben.

Eltern sein – was heißt das? Der Mythos von der reinen Glückseligkeit, die den Eltern durch ein Kind zuteil wird, ist eine Illusion und zerrinnt oft schnell unter dem Ansturm widersprüchlichster Gefühle von Glück und Angst, Freude und Ratlosigkeit, Zuversicht und Sorge angesichts der Verantwortung, die die jungen Eltern für das Gedeihen und Wohlergehen dieses neuen Menschenlebens zu tragen haben. Selbst wenn Eltern sich auf Schwangerschaft, Geburt und das erste Lebensjahr vorbereitet haben, sind sie doch diesen gegensätzlichen Gefühlen ausgesetzt sowie der ganzen Unsicherheit, die mit der neuen Lebenssituation einhergeht. Diese Erkenntnis brachte eine Mutter einmal zum Ausdruck, als sie sagte: »Ich glaube, es ist gut, dass man nicht weiß, was da auf einen zukommt, sonst hätte ich es mir wo25

möglich anders überlegt.« Vielleicht ist es eine Beruhigung zu wissen, dass diese unsichere Gefühlslage dazugehört und ganz normal ist. Unsicherheit tritt immer dann auf, wenn Menschen ungewohnten Situationen ausgesetzt sind und sich mit neuen Aufgaben erst vertraut machen müssen. Denken Sie an Ihren ersten Schultag, an die erste Fahrt mit dem Auto, an den ersten Tag am neuen Arbeitsplatz usw. Erst durch die Beschäftigung mit dem Neuen entwickeln sich Zutrauen und Sicherheit. Die damit verbundenen Ängste sind leichter zu überwinden, wenn Unsicherheit als Chance, ja sogar als Voraussetzung für notwendige Lernprozesse gesehen wird, die einem das Leben von Zeit zu Zeit abverlangt. Kinder können als Lehrmeister ihrer Eltern gesehen werden, weil sie die Eltern an ihre Grenzen bringen, die jetzt nach einer Erweiterung verlangen. Für Kinder und ihre Eltern beginnt mit der Geburt – oder auch schon vorher – ein Lernprozess: Sie lernen einander kennen und mit der Zeit entsteht eine Beziehung. Welche Qualität diese Beziehung hat, ob sie als befriedigend oder unbefriedigend erlebt wird, wird von verschiedenen Faktoren geprägt. Ein wesentlicher Faktor ist ganz sicher, ob ein Kind erwünscht ist oder nicht, denn davon wird es in erster Linie abhängen, wie Eltern auf die Bedürfnisse ihres Kindes eingehen und diese befriedigen, nämlich geduldig und nachsichtig, oder unwillig und notgedrungen. Es ist aber auch von Bedeutung, mit welchem Verhalten das Kind die Bemühungen der Eltern beantwortet. Hier findet eine gegenseitige Beeinflussung durch das jeweilige Verhalten statt, denn die Beziehung wird nicht nur durch die Eltern geformt, sondern auch durch das Kind. 26

Stellen wir uns einmal eine liebevolle Mutter vor, die fürsorglich und mit Aufmerksamkeit darauf bedacht ist, sich auf die Bedürfnisse ihres Nachwuchses einzustellen. In der Regel wird ihr Kind darauf wie erwartet mit Zufriedenheit reagieren. Es kommt aber auch vor, dass ein Sprössling seine wohlmeinenden Eltern durch Geschrei zur Verzweiflung bringt oder die verabreichte Nahrung mit Hautausschlägen und Durchfall beantwortet, wodurch er seine Eltern erheblich verunsichern kann und sie einer Hilflosigkeit aussetzt, die schwer zu ertragen ist und auch mal in Wut umschlägt. Wie ich Gesprächen mit Eltern entnehme, kommen ihnen schon mal Gedanken in den Sinn wie »Ich hätte ihn zum Fenster rauswerfen können« oder »Am liebsten hätte ich sie an die Wand geklatscht«. Um diesen Impulsen – die durchaus verständlich sind – nicht nachzugeben, ist nicht nur Selbstbeherrschung nötig, sondern es muss sich eine tragfähige Beziehung zum Kind aufgebaut haben. Das gelingt nicht jedem, wie die Kindesmisshandlungen leider bestätigen. Misshandelnde Eltern sind selbst wie »verletzte Kinder« zu behandeln, die Hilfe brauchen statt Strafe. In den meisten Fällen haben diese Eltern nämlich in der eigenen Kindheit selbst schwere Misshandlungen erlitten und sie geben – gemäß der schon genannten These – das weiter, was ihnen vermittelt wurde, und zwar gerade in Stresssituationen. Zum Wohle der Eltern-Kind-Beziehung wird es spätestens jetzt unumgänglich, dass Eltern mit ihrer Unsicherheit, Ratlosigkeit und Ungeduld – die ja auch in anderen Lebenssituationen auftreten – auf akzeptable Weise umzugehen lernen (siehe Kapitel 7). Wenn Eltern ihren Anspruch auf Allmachtgefühle, die oft mit Autorität verwechselt werden, aufgeben und ihre Hilflosigkeit bejahen, ist schon viel gewonnen. Ge27

lassenheit und Geduld werden der Lohn sein und das eigene Persönlichkeitswachstum wird letztlich auch den Kindern zugute kommen. Wer seinem Kind wirklich klare Richtlinien geben will, muss zuerst Klarheit über sich selbst gewinnen. Die einzelnen Entwicklungsstadien, die ein Kind während seines Heranwachsens durchläuft, sind von Wachstumskrisen begleitet, die immer wieder eine Neuorientierung im Beziehungsgefüge einer Familie notwendig machen. Die in diesem Zusammenhang auftretenden Konflikte sind als natürliche Stationen des Lebens zu sehen. Was von »guten« Eltern erwartet wird, ist häufig beschrieben worden. Aber wer fragt danach, welche Voraussetzungen Eltern eigentlich mitbringen, um all diesen Anforderungen gerecht zu werden? Haben sie selbst als Kinder all das bekommen, was sie für ein gesundes Persönlichkeitswachstum gebraucht hätten? Auf einen Nenner gebracht könnte man sagen: Eltern sein heißt zu geben, ohne etwas zurückzuverlangen. Zu geben, einfach weil es die Notwendigkeit verlangt. Aber wer ist schon in der Lage, aus freien Stücken zu geben, wenn da noch ein »inneres Kind« lebendig ist, das zu kurz gekommen ist und diesen Mangel – der das eigene Selbstwertgefühl untergräbt – noch nicht verwunden hat? Wie leicht gerät da die Beziehung zum Tauschgeschäft: »Wenn du tust, was ich will, werde ich dich lieben; wenn du etwas gegen meinen Willen tust, werde ich dich nicht lieben.« Eine Erweiterung dieser Botschaft kann lauten: »Wenn du nicht tust, was ich 28

will, dann muss ich leiden und du bist egoistisch und herzlos« oder »Wenn du mir nicht gibst, was ich brauche, dann bin ich unglücklich und du bist schuld«. Mit diesen und ähnlichen Botschaften wird dem Kind (manchmal auch dem Partner) suggeriert, es sei für das Wohlergehen von Vater oder Mutter zuständig, wobei es doch gerade umgekehrt der Fall sein sollte. Aber das Kind kann nicht erkennen, dass diese Botschaften nicht vom erwachsenen Teil seiner Eltern kommen, sondern von jenem Teil, den wir das »innere Kind« nennen und das ganz gegen die Gesetze der Logik versucht, sich zu holen, was es braucht, egal, woher. Auch den Eltern ist dieser Vorgang in der Regel nicht bewusst und er kann daher nur aufgedeckt und unterbunden werden, wenn sie beginnen, sich mit ihren bisher verborgenen Wünschen und Bedürfnissen, vor allem mit ihren emotionalen Wunden, auseinander zu setzen. Denn wie kann eine Mutter die Bedürfnisse ihres Kindes verstehen, wenn sie ihre eigenen Bedürfnisse nicht kennt oder verleugnet? Das Gleiche gilt natürlich auch für Väter. Die hier notwendige Selbsterkenntnis braucht Zeit, Geduld und eventuell Unterstützung von außen, beispielsweise durch eine Beratung, eine Selbsthilfegruppe oder durch Familienaufstellungen.

Eltern sein – wo lernt man das? Vielleicht mögen Sie sich einmal fünf Minuten Zeit nehmen und darüber nachdenken, für welche Aufgaben im Leben Sie durch eine gezielte Ausbildung vorbereitet wurden. Und dann überlegen Sie, wo Sie gelernt haben, was Mutter oder Vater sein bedeutet und welche Fähigkeiten für diese doch offensichtlich nicht einfache Aufgabe entwickelt werden müssten. 29

Wohl kaum jemand wird sagen können, dass er auf die Elternrolle ausdrücklich vorbereitet wurde. Was wir sozusagen unmerklich nebenbei erwerben, ist lediglich eine Vorstellung vom Elternsein, die geprägt ist durch das, was wir am Ort unseres Aufwachsens gesehen und erlebt haben. Dieser Ort ist in der Regel die eigene Herkunftsfamilie. Wer nicht bei seinen Eltern aufwächst, sondern bei Verwandten oder in einem Heim, der macht sich dort sein Bild vom Elternsein, von jenen Personen, die ein Kind während der ersten Lebensjahre begleiten. In dieses Bild von Vater und Mutter werden auch Vorstellungen des Kindes mit aufgenommen, wie es sich seine Eltern idealerweise wünscht. Man kann sich denken, dass diese Wunschvorstellungen insbesondere bei Kindern, die von den Eltern getrennt aufwachsen, besonders großen Raum einnehmen, da sie an der Realität nicht geprüft werden können. Ich glaube, je weniger ein Kind seine Eltern als zufrieden stellend erlebt, desto mehr wird dieser Mensch später als Erwachsener auf Grund seiner sehnsuchtsvollen Idealvorstellungen vom Elternsein zum Perfektionismus neigen und sich damit selbst unter Druck setzen, alles »richtig« machen zu wollen. Aber wer kann einem Ideal schon gerecht werden? Ich habe bisher keine Eltern erlebt, die das auf Dauer geschafft hätten. Irgendwann kommen sie an den Punkt, wo sie unmerklich ihren Idealen untreu werden. Wer alles perfekt machen will, wird sich über kurz oder lang so in Ärger und Schuldgefühle sich selbst gegenüber verstricken, dass das Leben kaum noch Spaß macht. Unter Umständen wird dann sogar den »undankbaren« oder »missratenen« Kindern die Schuld zugeschoben, nur weil sie den überzogenen und unerfüllbaren Erwartungshaltungen der Eltern nicht entsprechen, die es »doch nur gut mit ihnen meinen«. Aber sind Fehler nicht eigentlich dazu da, um aus ihnen zu 30

lernen, statt sie als Knüppel gegen sich selbst oder andere zu verwenden? Das würde bedeuten, die eigenen Idealvorstellungen zu überdenken und zu fragen, wem sie etwas nützen. Vielleicht ist es besser, von manchen Idealen Abschied zu nehmen, weil sie nicht zu verwirklichen sind. Eltern sein wird also nirgendwo ausdrücklich gelernt. Zwar mag das aus der eigenen Familie oder von anderswo übernommene Rollenverständnis Abwandlungen und Ergänzungen erfahren, aber als Grundmuster wird das ursprünglich Erlebte immer wieder sichtbar werden, vor allem in Stresssituationen – selbst wenn man sich vorgenommen hat, es ganz anders zu machen. Was uns die eigenen Eltern oder andere Erziehungspersonen vorgelebt haben, spiegelt nicht nur deren ganz persönliches Verständnis von Elternschaft wider, sondern immer auch den gesellschaftlichen Hintergrund mit seiner allgemein anerkannten Meinung über das, was »gute Eltern« tun sollten. In dem Maße, in dem neue Erkenntnisse bekannt werden, ändern sich auch gesellschaftliche Normen. Jede Generation hat daher ihre ganz eigenen Idealbilder von Elternschaft, die den Wandel der Generationen dokumentieren und die zusammengesetzt sind aus persönlicher Überzeugung und wissenschaftlicher Erkenntnis. Zum Beispiel ließ man früher ein Kind unbeachtet weinen, um es nicht zu »verziehen«, während ein weinendes Kind heute mit sofortiger Aufmerksamkeit rechnen kann, damit ihm seelisches Leid erspart bleibt. Jede Generation hat wohl beim Aufwachsen Dinge erlebt, die sie später nicht wiederholen möchte, und so wird das in der Herkunftsfamilie Gelernte in Frage gestellt und nach alternativen Möglichkeiten gesucht. Das heißt nicht, dass unsere Eltern »falsch« gehandelt haben; sie gingen lediglich von anderen Grundsätzen aus, die damals gültig waren. 31

Gemeinsam ist jeder Elterngeneration aber die Vorstellung, dem Kind jenes Maß an Fürsorge, Unterstützung und Förderung zu geben, dass es die in ihm angelegten Fähigkeiten entwickeln kann und seinen ihm gemäßen Platz in der Gemeinschaft findet. Was sich ändert, sind lediglich die Vorstellungen darüber, wie dieses Ziel zu erreichen sei. In unserer Gesellschaft gilt die Norm, dass eine Mutter während der ersten drei Lebensjahre möglichst ganz für ihr Kind da sein sollte, da nach heutigen Gesichtspunkten in dieser Zeit der Grundstein für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung des Kindes gelegt wird. Sicher gibt es eine Vielzahl von Müttern, die diese Anforderung nicht nur gutheißen, sondern sie auch bereitwillig erfüllen. Aber was ist mit all den Frauen, die diese Norm zwar bejahen, aber gar nicht danach handeln können, weil sie zum Lebensunterhalt der Familie beitragen müssen? Und was ist mit den vielen hoch qualifizierten Frauen der heutigen Zeit, die ihren Beruf gerne ausüben und nach Möglichkeiten suchen, Beruf und Kinder miteinander zu verbinden? Es liegt auf der Hand, dass diese Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit zu inneren Spannungen führen muss, die dann im täglichen Umgang mit den Kindern zum Ausdruck kommen, zum Beispiel durch Gereiztheit, Ungeduld, Ärger usw. Aus den Idealvorstellungen sind unmerklich Forderungen geworden: »Ich muss immer für mein Kind da sein« oder »Ich darf nichts falsch machen«. Wenn Forderungen zu Regeln werden, die nicht zu erfüllen sind, treten unweigerlich die bekannten Schuldgefühle auf, begleitet vom Gefühl der Unzulänglichkeit oder gar Minderwertigkeit. Und schon schleicht sich die nächste Forderung ein: »Ich muss mich noch mehr bemühen.« Es ist leicht nachvollziehbar, zu welcher Anspannung das führt und wie dadurch das Klima in einer Familie beeinflusst wird. 32

Der Wunsch, für die eigenen Kinder jene Eltern zu sein, die man sich selbst gewünscht hätte, und der Wunsch nach »idealen« Kindern als Maßstab für das eigene Eltern-Wertgefühl führt dazu, dass sich Eltern gleich von zwei Idealvorstellungen unter Druck gesetzt fühlen:

Ideale scheinen dazu zu verleiten, die Wirklichkeit zu unterschätzen. Der Gegensatz zwischen beidem muss allmählich überbrückt werden, da alle Bemühungen um Perfektion letztlich an der Realität scheitern. Die Frage lautet also: Wie können die Anspannung und der Druck der Schuldgefühle vermindert oder abgebaut werden? Zunächst einmal ist es notwendig, die Tatsache zu akzeptieren, dass nicht alle Gegensätze aus der Welt zu schaffen sind. Wir müssen vielmehr damit leben und zurechtkom33

men. Die auf Seite 32 genannten Idealvorstellungen beinhalten jedoch eher den Versuch, den Gegensatz zwischen Wunsch und Wirklichkeit aufzuheben, woraus sich dann erst ein unlösbarer Konflikt ergibt. Sinnvoller und hilfreicher wäre es, die Forderung »Ich muss immer für mein Kind da sein« umzuwandeln in die wirklichkeitsnahe Erkenntnis »Ich kann leider für mein Kind nur eine begrenzte Zeit da sein, dann aber will ich es auch richtig genießen«. Es kommt nämlich, wie in jeder Beziehung, nicht auf die Quantität, sondern auf die Qualität an. »Dass ich nicht so kann, wie ich will, ist zwar traurig, aber das macht mich noch lange nicht zu einer › schlechten Mutter‹«. Für eine nichtberufstätige Mutter, die sich dennoch überfordert fühlt, könnte die Umwandlung der Regel heißen: »Ich kann für mein Kind da sein, wenn ich auch mir Raum und Zeit für meine Bedürfnisse nehme.« Denn wer sich nicht ab und zu Ruhe und Entspannung gönnt, um neue Kraft aufzutanken, der ist bald ausgebrannt und hat nichts mehr zu geben. Und in einem solchen Zustand ist es schwierig, dem Familienalltag standzuhalten. Um den Druck der Schuldgefühle zu vermindern, hilft nur eines, nämlich die eigene Begrenztheit anzuerkennen und sich einzugestehen: »Ich werde meinem Kind nicht immer gerecht und bleibe ihm manches schuldig, da ich nicht vollkommen bin. Aber ich vertraue darauf, dass mein Kind damit fertig wird, wenn ich offen meine Grenzen zugebe.« Das ist ehrlicher und menschlicher als die Regel »Ich darf nichts falsch machen«. Kinder brauchen keine perfekten Eltern. Das ist eher beängstigend angesichts der eigenen Unvollkommenheit. 34

Kinder können mit Begrenzungen besser fertig werden, wenn das familiäre Klima entspannt ist. Sie müssen ja auch lernen, dass nicht alle Wünsche in Erfüllung gehen. Wenn Eltern ihnen diese Tatsache vorleben, vermitteln sie den Kindern eine realistische Lebenseinstellung. Da das Thema Elternsein in unserer Vorbereitung auf das Leben so vernachlässigt wird, haben Eltern zunächst lediglich ihre Vorstellungen und die eigenen Erfahrungen aus ihrer Kindheit zur Verfügung, nach denen sie handeln. Erst im täglichen Zusammenleben mit den Kindern merken sie, dass sich manches nicht verwirklichen lässt oder es nicht so läuft, wie sie es sich wünschen. Es bleibt ihnen daher nichts anderes übrig, als durch die Schule des Lebens zu lernen, das heißt, den Alltag als Übung zu betrachten und daran zu wachsen. Was spricht dagegen, sich Unterstützung zu holen, wenn man mal nicht weiterweiß? Wenn jemand ein juristisches Problem hat, geht er zum Rechtsanwalt. Warum sollte es nicht genauso selbstverständlich sein, sich bei Erziehungsund Familienfragen Rat und Unterstützung zu holen? Einige hilfreiche Adressen hierzu finden Sie am Ende des Buches.

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3 Begegnung mit dem »inneren Kind« Lerne, dich selbst zu verstehen, und indem du dies tust, wirst du anfangen, andere zu verstehen. Eileen Caddy

Wenn Eltern die Erlebnis- und Gefühlswelt ihres Kindes verstehen und nachvollziehen wollen, tun sie sich entschieden leichter damit, wenn sie sich an ihre eigene Kindheit erinnern: ● ● ● ● ● ● ●

Was hat mir Spaß gemacht? Welche Begebenheiten haben mich nachdenklich gestimmt oder waren unverständlich? Was hat meinen Zorn erregt, was meine Liebe gestärkt? Was hat mich neugierig gemacht? Wann war ich hilflos und ausgeliefert? Was durfte ich von mir zeigen und was habe ich gelernt zu verstecken? Welche meiner Wünsche und Erwartungen sind unerfüllt geblieben?

Das Erinnern mag für manchen ein schmerzlicher Prozess sein, der oft nur mit verständnisvoller Unterstützung von außen gelingen kann (unter Umständen in einer Therapie oder 37

bei Familienaufstellungen). Um aber den Kreislauf der Unterdrückung und Einschränkung zu durchbrechen, der sich in der Erziehung von Generation zu Generation fortsetzt, muss der Mechanismus erkannt werden, mit dem ein Verhalten der eigenen Eltern ungewollt wiederholt wird. Für Eltern ist es wichtig, die Wunden ihrer Kindheit zu erkennen und zu heilen, um sie nicht unbewusst an ihre Kinder weiterzugeben. Es ist daher notwendig, seinen frühen Verletzungen und unerfüllten Wünschen, die im »inneren Kind« gespeichert sind, wieder zu begegnen, jetzt aber mit Verständnis und liebevoller Aufmerksamkeit. Wie das geschehen kann, möchte ich an einem Beispiel verdeutlichen: Eine Freundin von mir, die ich für einige Tage besuchte, hatte eine junge Berner Sennenhündin. Ich erlebte, wie meine Freundin ihren Hund ganz selbstverständlich an ihren täglichen Aktivitäten in Haus und Garten teilhaben ließ. Es schien sie nicht zu stören, dass er ihr überallhin folgte und alles, was sie tat oder in die Hand nahm, genau beobachtete oder beschnupperte. Selbst wenn sie im Bad duschte, war er in ihrer Nähe und auch das Schlafzimmer war nicht tabu für ihn. Meine Freundin setzte dem Hund durchaus Grenzen, zum Beispiel durfte er bei Tisch nicht betteln, und wenn sie nicht mit ihm spielen wollte, bekam er ein ruhiges, aber klares »Nein, jetzt nicht« zu hören. Das funktionierte, weil sie grundsätzlich eine liebevolle, akzeptierende Haltung ihm gegenüber hatte. Sie handelte aus der Überzeugung, dass der Hund zu ihrem Leben gehörte und ein Recht hatte, daran teilzunehmen. Den beiden schien es richtig gut miteinander zu gehen, aber mir wurde immer unbehaglicher zumute. Es machte mich einfach nervös, ständig den Hund um mich zu haben 38

und gar nichts mehr ohne ihn tun zu können. Es war die unbekümmerte, selbstverständliche Art, mit der dieser Hund überall dabei war, und seine ungezügelte Vitalität, die bei mir zunehmend Ärger, ja sogar Wut und eine regelrechte Abwehrhaltung auslösten. Ich machte mir allmählich Gedanken über meine – wie mir schien unangebrachten – Gefühle und im Gespräch mit meiner Freundin kamen wir auf die Parallelen zum Kindsein zu sprechen. Der noch sehr junge Hund verhielt sich nämlich genau wie ein kleines Kind, das seine Umwelt erkundet, um sich darin zurechtzufinden und ganz selbstverständlich überall die »Nase reinzustecken«. Das ständige Nachlaufen eines Kindes hinter seiner Mutter bedeutet nichts anderes, als dass es im Kontakt mit der Mutter an den natürlichen Lebensabläufen teilhaben und sich an den Betätigungen der Mutter orientieren will. Nur so kann ein Kind sich vertraut machen mit den vielfältigen Gegenständen seiner Umwelt und ihrem Gebrauch sowie mit den Handlungen anderer Personen und deren Bedeutungen. Dieser Prozess spiegelt ein natürliches Neugierverhalten wider und ist für das Lernen eines Kindes äußerst wichtig. Was nun mein Unbehagen betraf, so rührte es daher, dass ich in meiner eigenen kindlichen Erkundungsphase erheblich eingeschränkt worden war. Mein damals nicht ausgedrücktes Unbehagen und mein Zorn über diese Einschränkung waren aber noch immer latent in mir vorhanden und wurden durch die jetzige Situation erneut ausgelöst. Hätte ich selbst Kinder gehabt, so hätte ich mit Sicherheit auf deren ständiges Nachlaufen und Alles-anfassen-Wollen ärgerlich reagiert und es abzuwehren versucht, so, wie ich es jetzt bei dem Hund tat. Das Erkennen dieser Zusammenhänge ermöglichte es mir, die Projektion meiner noch nicht geheilten »inneren Wunde« auf die heutige Situation zurückzunehmen. Ich 39

konnte dadurch verständnisvoller auf den Hund reagieren und mir selbst die lange unterdrückten Wünsche nach Zugehörigkeit und Orientierung erlauben sowie meinen Zorn und meine Trauer über das Versäumte verbal ausdrücken. Das war sehr befreiend und brachte mich der Erkenntnis meiner wahren Gefühle und Bedürfnisse ein großes Stück näher. Hilfreich war dabei, dass meine Freundin verständnisvoll zuhörte und meine Gefühle aushalten konnte. Sie war einfach da und war mit ihrer ganzen Aufmerksamkeit bei mir. Das genügt bei solchen Heilungsprozessen. Aus Erzählungen von Müttern weiß ich, dass nicht wenige zumindest zeitweise Ähnliches mit ihren Kindern erleben. Sie finden das ständige Überall-dabei-Sein ihrer Kinder lästig und reagieren mit Abwehr und Verboten darauf. Damit wiederholen sie ungewollt ein Verhalten, das sie selbst als verunsichernd erlebt haben und das sie ihrem eigenen Kind ersparen wollen. Aber die eingefleischte Erfahrung, verbunden mit verletzten Gefühlen, ist stärker als ihr guter Wille. Erst wenn Eltern beginnen, sich ihrem verletzten »inneren Kind« zuzuwenden, haben sie die Möglichkeit, Zorn und Trauer über das Erlebte in angemessener Form auszudrücken und es auf diese Weise zu bewältigen. Dann besteht die Chance, dass sie mit ihren leiblichen Kindern liebevoller und verständnisvoller umgehen, als es mit ihnen selbst geschehen ist. Zum besseren Verständnis möchte ich die Entstehung dieses »inneren Kindes« erläutern. Ich beziehe mich dabei auf ein Modell des Psychologen Jon Eisman5 und auf die Systemische Therapie mit der Inneren Familie (IFS), die vom Familienthe6 rapeuten Richard C. Schwartz in den USA entwickelt wurde. 40

Wie Verhaltensmuster entstehen Alle Erfahrungen, die wir in der Kindheit machen, sind in einem Teil unserer Persönlichkeit gespeichert, der in der Psychotherapie als »inneres Kind« bezeichnet wird. In diesem »inneren Kind« sind allerdings nicht nur angenehme Erlebnisse gespeichert, sondern auch alle Verletzungen, die wir beim Heranwachsen erleben. Das »innere Kind« ist also keine Einheit, sondern es spaltet sich in unterschiedliche Teile auf, die jeweils verschiedene Aufgaben übernehmen, um trotz widriger Umstände das Überleben zu sichern:

Das natürliche Kind Wenn ein Kind zur Welt kommt, befindet es sich im Zustand der Einheit mit sich und seiner Umwelt. Es erlebt sich als Einheit von Geist, Seele und Körper und ist im Zustand bedingungsloser Liebe. Sein Selbst ist noch ungeformt, es wird 41

in der Abbildung auf Seite 41 als natürliches Kind bezeichnet. Dieses Kind beginnt seinen Lebensweg mit dem Ziel, seine in ihm angelegten Talente zu entwickeln und seine Einzigartigkeit und Individualität zu leben. Es vertraut darauf, dass es auf diesem Weg all die Unterstützung bekommt, die es für sein Wachstum braucht.

Das verkörperte Kind In einer idealen Umgebung würde dieses Kind durch verständnisvolle Unterstützung lernen, wie man in Beziehung zu anderen Zufriedenheit erlangen kann, wie man gut mit Gefühlen umgeht, wie Konflikte zufrieden stellend gelöst werden usw. Das natürliche Kind kann auf diese Weise alle Aspekte des Lebens in sich verkörpern (verkörpertes Kind), das heißt alle physischen, mentalen, emotionalen und spirituellen Erfahrungen in sich integrieren und sich dadurch als authentische Person begreifen. Allmählich kann es so zu einem reifen Erwachsenen im wahrsten Sinne des Wortes heranreifen.

Der reife Erwachsene Ein reifer Erwachsener hat all die Tugenden entwickelt, die wir für erstrebenswert halten, zum Beispiel Liebe, Mitgefühl, Vertrauen, Mut, Geduld, Ruhe, Klarheit, Kreativität, Humor, Freude, Weisheit und Dankbarkeit. Er ist in seiner Mitte, lässt sich von den Herausforderungen des Lebens nicht so schnell aus der Ruhe bringen und übergeht bei wichtigen Entscheidungen weder sich selbst noch andere. Herz und Verstand sind in einem ausgewogenen Gleichgewicht. »Der reife Erwachsene hat den Dschungel der Selbstentwicklung erfolgreich durch7 quert und ist zu seinem einzigartigen Selbst geworden.«

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Das verletzte Kind In der Regel wachsen wir jedoch nicht ausschließlich unter idealen Bedingungen auf, sondern machen unweigerlich auch schmerzhafte Erfahrungen. Es kann sein, dass wir ausgelacht, gedemütigt, allein gelassen, ungerecht behandelt, im Stich gelassen, nicht ernst genommen, zurückgewiesen, enttäuscht oder sogar geschlagen und misshandelt werden. Ein Kind bekommt durch diese traumatisierenden Kindheitserlebnisse den Eindruck, nicht so zu genügen, wie es ist. Wenn das natürliche Kind in seinem Selbstausdruck jedoch abgelehnt wird, fühlt es sich verwirrt, ängstlich, beschämt und zunehmend wertlos. Es lernt, dass Teile seines Selbst nicht akzeptabel sind, und beginnt diese zu verachten. Diese abgelehnten Teile sowie alle anderen schmerzlichen Erlebnisse werden zum verletzten Kind, das symbolisch in ein inneres Gefängnis verbannt wird und dort ein »Leben im Exil« führt. Im IFS-Modell werden die nicht akzeptierten Teile daher als Verbannte bezeichnet. Das verletzte Kind wird von uns allein gelassen mit all seinem Kummer, seiner Furcht, Traurigkeit, Verlassenheit, Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit und Wertlosigkeit, die sich im Extremfall bis zur Überlebensangst steigern können. Statt die verletzten Teile in uns zu heilen – was wir als Kind allein oft nicht bewältigen können –, verachten wir die empfindsamen, verletzlichen und weichen Seiten in uns und lassen uns dadurch selbst im Stich. Außerdem entsteht auf diese Weise unser Selbstbild. Kinder interpretieren viele Jahre lang alle äußeren Ereignisse in dem Sinne, dass sie diese auf sich selbst beziehen. So entstehen Überzeugungen wie »Ich bin nicht liebenswert, sonst würden sie mir das nicht antun«, »Er hält sein Versprechen nicht, weil ich schlecht bin«, »Wenn ich mich genug anstrenge, bekomme ich vielleicht 43

die Liebe meiner Eltern doch noch«, »Wenn ich ein braver Junge bin, dann ist Mama nicht mehr so traurig«, »Man kann sich auf niemanden verlassen« usw.

Das strategische Kind Damit ein Kind trotz der schmerzlichen Erlebnisse weiterleben und mit dem Leben irgendwie zurechtkommen kann, wird ein weiterer Aspekt seiner Persönlichkeit erschaffen: das strategische Kind. Die Aufgabe des strategischen Kindes ist es, uns sicher durch das Leben zu steuern und uns vor weiteren Verletzungen zu schützen. Dazu entwickelt es alle möglichen Abwehrstrategien, die den Körper und die Seele verhärten, zum Beispiel Aggression, wütendes Um-sich-Schlagen, überhebliches Verhalten (cool bleiben), Misstrauen, Rache und Vergeltung, Hass oder auch Rückzug in Tagträume und Phantasiewelten. Später im Erwachsenenalter zeigt sich die Abwehr dann darin, bestimmte Situationen oder Personen zu vermeiden, in die Isolation zu flüchten, sich auf keine intimen Beziehungen mehr einzulassen, keine Risiken mehr einzugehen, nichts Neues mehr zu wagen usw. Im IFS-Modell werden diese beschützenden Teile als Manager bezeichnet, die unsere Beziehungen und unsere Umwelt so unter Kontrolle zu halten versuchen, dass wir nie wieder in die Lage geraten, verletzt und enttäuscht zu werden. Die Überlebensstrategien basieren also häufig auf einer »Nie-wieder«-Philosophie, zum Beispiel »Nie wieder werde ich jemanden so nahe an mich heranlassen, dass ich verletzt werden kann«, »Nie wieder werde ich mich so schwach, bedürftig, abhängig, vertrauensvoll usw. zeigen, dass ich wieder enttäuscht werden kann« oder »Nie wieder werde ich ein Risiko eingehen, damit ich keine Niederlage erleben muss«. 44

Sosehr unsere Manager auch versuchen, eine sichere Festung um unser verletztes Kind zu errichten, so kann es dennoch passieren, dass irgendwelche Ereignisse der äußeren Welt unsere Abwehr durchbrechen und bis zu den verletzten und verbannten Teilen vordringen. Das ist ein sehr bedrohlicher Zustand, der sofort alle Abwehrkräfte in uns mobilisiert, um den brennenden Schmerz in uns zu »löschen«. Richard C. Schwartz hat diese Abwehrkräfte daher als Feuerwehrleute bezeichnet, die immer dann auf den Plan treten, wenn die Manager mit ihrer Kontrolle »versagt« haben. Die Methoden, die die Feuerwehrleute dabei anwenden, sind einerseits sozial eher akzeptable Verhaltensweisen wie zum Beispiel zu viel arbeiten (Workaholic), zu viel essen, exzessive sportliche Aktivitäten, stundenlanges Fernsehen, Kauforgien, zu viel Genussgifte wie Zigaretten und Kaffee, Tabletten, Tagträume usw., einfach alles, was uns betäubt, schläfrig und konfus macht und uns in einen mentalen Nebel hüllt, der unsere Wahrnehmung stark einschränkt. Wenn das alles nichts hilft, greifen sie andererseits zu drastischeren und weniger akzeptablen Mitteln der Betäubung, zum Beispiel zu Alkohol, illegalen Drogen, Wutanfällen mit aggressivem Ausagieren, zwanghaftem Sexualverhalten, Selbstverletzungen oder gar Selbstmord. Obwohl das Verhalten der Feuerwehrleute sehr destruktiv sein kann, darf man nicht vergessen, dass sie in guter Absicht handeln: Sie sorgen dafür, dass wir unseren inneren Schmerz nicht wahrnehmen, auch wenn unser verletztes Kind dadurch weiterhin allein gelassen wird und zu den früheren Schmerzen noch weitere hinzukommen. Die Kehrseite all dieser Abwehrstrategien ist, dass sie unser Leben entsprechend einschränken, so dass wir als Erwachsene oft wütend über das strategische Kind (die Manager oder Feuerwehrleute) sind. Aber im Dienste der Schmerzvermeidung nimmt das strategische Kind es in Kauf, dass unsere 45

ursprünglichen Bedürfnisse nach Nähe, Liebe, Geborgenheit, Vertrauen usw. unerfüllt bleiben. Dieser vermehrte Schmerz zieht weiteres Abwehrverhalten nach sich und bestätigt die Überzeugung des strategischen Kindes, dass die Welt bedrohlich und wenig vertrauensvoll ist. Eine paradoxe Situation, die deutlich macht, woher unsere inneren Konflikte kommen und warum wir uns manchmal innerlich so zerrissen fühlen.

Der Scheinerwachsene Durch die Abspaltung und Verbannung seiner echten Gefühle entfernt sich ein Kind immer mehr von seinem wahren Selbst und verkörpert nur einen Teil dessen, was in ihm angelegt ist. Im Laufe der Jahre lernt ein Kind nicht nur seinen Schmerz zu verbannen, sondern auch seine aggressiven Impulse zu verdrängen. Das liegt daran, dass sein strategisches Abwehrverhalten nicht als Suche nach Trost und Unterstützung bei der Bewältigung seiner schmerzlichen Erlebnisse verstanden wird, sondern dass besonders die aggressiven Anteile seiner Abwehr als etwas Ungezogenes und Ungehöriges bekämpft werden. So entwickelt es sich zu einem Scheinerwachsenen, der seine authentischen Teile fallen lässt zugunsten eines Verhaltens, das Zuwendung bringt. Das Kind passt sich zunehmend einem gewünschten Verhalten an, um endlich die so notwendige Anerkennung, Liebe und Unterstützung zu bekommen, die es braucht, um sich sicher und geborgen zu fühlen. Die Botschaften der Eltern wie zum Beispiel »Sei nicht so wehleidig«, »Reiß dich zusammen«, »Schrei hier nicht so rum«, »Ein Indianer kennt keinen Schmerz«, »Sei nicht so aggressiv« usw. werden vom Kind in sein Selbstbild übernommen und lassen einen Scheinerwachsenen mit einem Pseudo-Selbst (IFS) entstehen. 46

Ein Scheinerwachsener ist nur den Jahren nach erwachsen und wirkt in seinem Verhalten teilweise leer und hohl, weil die Lebendigkeit der Emotionen fehlt. Man fragt sich bei solchen Menschen, »ob da jemand zu Hause ist« (= im Körper ist). Im Grunde steht er auf unsicherem Boden, weil seine verbannten Teile immer wieder Gelegenheiten suchen, sich aus dem Untergrund in sein Bewusstsein zu drängen. Gerade in Konfliktsituationen ist diese Gefahr besonders groß.

Der Überlebende Zum Glück bleibt ein Teil unseres natürlichen Kindes mit seinem heilen Selbst von den Verletzungen verschont, so dass dieser Teil nicht verbannt wird, sondern als Basis für ein durchaus intaktes Leben zur Verfügung steht. »Wir erleben dieses Selbst, den Überlebenden, als einen Teil, der sich der Verletzungen bewusst ist, ohne in ihnen zu versinken. (...) Oft funktioniert dieser Teil gut im Alltag. (...) Da der Überlebende sich sowohl der Ganzheit als auch der Verletzungen bewusst ist, treibt er uns in die Veränderungen und führt uns 8 zur Heilung unserer Wunden.« Wenn wir also Unterstützung und Heilung bekommen und über uns selbst Klarheit gewinnen, haben wir die Chance, doch noch zu einem reifen Erwachsenen zu werden, der lebendig, spontan, kreativ, spielerisch, einfühlsam und voller Lebensfreude ist. Abschließend weise ich darauf hin, dass die Gesamtheit dessen, was als »inneres Kind« bezeichnet wird, nicht real in einem Erwachsenen existiert, auch wenn wir uns manchmal so fühlen wie ein Kind. »Es existiert nur eine veraltete und 9 enorm starke Fehlwahrnehmung des Selbst« und diese kann durch neue Erfahrungen, die Heilung bringen, transformiert werden. 47

Das DU als Spiegel für das ICH Die Frage ist nun: Wie können Eltern mit ihren unbewältigten Erlebnissen und verbannten Gefühlen in Kontakt kommen, die unbewusst ihr Verhalten beeinflussen? Die Antwort, die sich auf Grund von Erfahrung bestätigt hat, lautet: Indem sie Konflikte als Möglichkeit zur Selbsterkenntnis und für notwendige Reifungsschritte nutzen. Denn alles, was wir bei anderen verurteilen, kritisieren oder bekämpfen, was uns wütend und traurig macht oder uns verwirrt, hat etwas mit uns selbst zu tun, sonst könnte es uns nicht so verunsichern oder in Rage bringen. Anders ausgedrückt: Wenn wir – symbolisch – mit dem Finger kritisierend, abwertend und verurteilend auf jemanden zeigen, zeigen gleichzeitig drei Finger auf uns selbst. Das bedeutet: Andere Menschen sind für uns wie ein Spiegel, in dem wir uns selbst erkennen können. Es gibt »Spiegel«, in die wir gerne hineinschauen, weil wir unsere liebenswerten, akzeptierten Seiten darin wahrnehmen. Sie bestätigen unser Selbstbild, wie wir uns selbst gerne sehen. Und es gibt »Spiegel«, in die wir gar nicht gerne hineinschauen, weil sie uns an all die ungeliebten, abgelehnten, verdrängten Anteile unserer Persönlichkeit erinnern, ohne dass uns das bewusst ist. Diesen Gedanken möchte ich mit der Abbildung auf Seite 49 verdeutlichen. Nehmen wir einmal an, dass das ICH-Feld den bewussten Teil Ihrer Persönlichkeit darstellt, mit all Ihren Überzeugungen, Werten, Interessen, Bedürfnissen, Gefühlen und Erwartungen. Mit diesem bewussten ICH begegnen Sie anderen Menschen (DU-Feld). Wenn das DU sich Ihren Vorstellungen entsprechend verhält, wird das Zusammen48

sein als angenehm und unkompliziert erlebt. Die Wellenlänge stimmt. Nun ist es aber keineswegs so, dass das DU immer in allem mit Ihnen übereinstimmt. Vielmehr legt der/die andere ab und zu Verhaltensweisen oder Ansichten an den Tag, die Ihnen gar nicht passen, die Sie »blöd« finden, die Sie als störend, unangebracht, verletzend, irritierend oder gar bedrohlich empfinden. In dem Bereich, in dem das DU nicht Ihren Vorstellungen, Erwartungen oder Wünschen entspricht, entsteht ein Konflikt im Sinne eines Zusammenstoßes zweier »Welten« (siehe Kapitel 4). Entscheidend ist jetzt, wie Sie mit dieser Situation umgehen. Normalerweise versucht das ICH das DU dahin gehend zu verändern, dass der/die andere den eigenen Vorstellungen entspricht. Der Gedanke hinter dem Veränderungsversuch 49

ist oft unbewusst und lautet: »Wenn du tust, was ich will, dann ist alles in Ordnung und ich muss mich nicht mit den beunruhigenden Dingen auseinander setzen, die dein Verhalten bei mir auslöst.« Wie jeder schon erfahren hat, bleiben diese Bemühungen in der Regel erfolglos, weil der/die andere sich dem Veränderungsdruck widersetzt, ob es nun die Kinder sind oder der Partner/die Partnerin. Denn umgekehrt könnte das DU ja auch von Ihnen verlangen, dass Sie sich ändern! Und wie würde es Ihnen damit ergehen? Statt also das DU zu kritisieren und verändern zu wollen, ist es auf Dauer gesehen viel erfolgversprechender, wenn das ICH auf sich selbst neugierig wird und sich sagt: »Ach, das ist ja interessant, dass ich mich über dich aufrege, wütend bin, unsicher werde oder nicht mehr weiterweiß usw. Was sagt mir denn das über mich selbst? Woran erinnert mich denn dein Verhalten?« Meine Erfahrungen haben immer wieder gezeigt, dass schwierige Situationen mit anderen eine ganz neue Bedeutung für mich bekommen, wenn ich Interesse an mir und meinen Reaktionen auf meine Umwelt entwickle. Wenn ich bewusst meine Gedanken und Gefühle erlebe und mich selbst erforsche, so, wie bei der weiter oben geschilderten Erfahrung mit dem Hund. Das ist der Weg, auf dem auch Sie mit Ihrem »inneren Kind« in Kontakt kommen können, mit all den verdrängten und unerledigten Erlebnissen Ihrer Kindheit. Auf diese Weise geben Sie diesen verletzten und verbannten Teilen in Ihnen das Gefühl, endlich gehört und ernst genommen zu werden. Das DU zeigt Ihnen einen »blinden Fleck« Ihrer Persönlichkeit, etwas, das Sie in Ihr Unterbewusstsein verdrängt haben, um es nicht mehr fühlen zu müssen und das Sie jetzt bei anderen bekämpfen. Diese »blinden Flecken« oder, wie es 50

C.G. Jung genannt hat, unser »Schatten«, sind in der Regel mit unangenehmen und schmerzlichen Gefühlen verbunden, sonst wären sie ja nicht verdrängt und verleugnet worden. Wenn Sie aber verhindern wollen, dass diese schmerzlichen Erlebnisse von früher Ihr heutiges Verhalten ständig unbewusst beeinflussen, müssen diese ins Bewusstsein gebracht werden. Die unterdrückten Inhalte des verletzten Kindes können sich nur auflösen, wenn sie angenommen und bewusst durchlebt werden. Dann ist Heilung möglich und Sie werden von den Verletzungen der Vergangenheit befreit. Als Folge davon hören die Manager auf zu kontrollieren und die Feuerwehrleute brauchen nichts mehr zu löschen, das heißt, die destruktiven Abwehrmechanismen können aufgelöst werden. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass wir als Erwachsene viel besser in der Lage sind, auch sehr schmerzhafte Ereignisse zu überwinden, die uns als Kind noch völlig überfordert haben. Wie Eltern einen Konflikt als Möglichkeit zur Selbsterforschung und Heilung nutzen können, möchte ich an einem weiteren Beispiel verdeutlichen: Eine Mutter beklagte sich in der Beratung sehr über ihre neunjährige Tochter, weil diese sich gegen das Klavierspielen sträubte und nur widerwillig übte. Die Mutter konnte einfach nicht verstehen, warum ihre Tochter keine Freude daran hatte, und es gab deshalb immer wieder heftige Auseinandersetzungen. Im Gespräch stellte sich heraus, dass es ein Herzenswunsch der Mutter gewesen war, als Mädchen Klavier spielen zu lernen, was damals aber aus finanziellen Gründen nicht möglich war. Aus ihrer Sicht war es also etwas Wunderbares, Klavierunterricht zu bekommen, und es enttäuschte sie sehr, dass ihre Tochter diese Möglichkeit nicht schätzte. Ich fragte die Mutter, ob ihr nie der Gedanke gekommen war, selbst Klavierunterricht zu nehmen. Nein, daran hatte 51

sie nie gedacht, da sie glaubte, mit 35 Jahren könne man das nicht mehr lernen. Ich machte die Anregung, einen Versuch zu unternehmen und während dieser Zeit ihre Tochter vom Klavierspiel zu befreien. Nach einigen Wochen kam die Mutter zu einem weiteren Gespräch und erzählte mit strahlendem Gesicht, das sei die beste Entscheidung ihres Lebens gewesen. Sie mache zwar nur langsam Fortschritte, aber sie sei so froh, dass sich endlich ihr Kindheitswunsch erfülle. Sie fühle sich insgesamt nicht mehr so gereizt wie früher und die Beziehung zu ihrer Tochter habe sich wieder entspannt, seit sie nicht mehr diese hohen Anforderungen an sie stelle. Sie überlasse es jetzt der Tochter selbst, ob sie Klavier spielen will oder nicht. Das war für mich ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie sich eine spannungsgeladene Situation verändert, wenn Eltern sich ihrer unerfüllten Wünsche und Bedürfnisse bewusst werden und diese nicht über ihre Kinder zu lösen versuchen. Eltern stoßen bei ihrem Kind auf Widerstand, wenn sie das »Beste« für ihr Kind an den eigenen Bedürfnissen messen. Diese Verstrickung tritt deshalb so häufig auf, weil Eltern sich in ihren leiblichen Kindern zum Teil wiedererkennen. Wenn wir die psychologische Betrachtungsweise verlassen und die Entwicklung eines Kindes aus spiritueller Sicht ansehen, dann könnte man sagen, dass in jedem Kind eine individuelle Seele lebt, die auf die Erde kam, »um ihre eigene Erfahrung und ihr eigenes Wissen auf ihre eigene Weise entsprechend den Geboten ihres Höheren Selbstes zu erlangen«10, wie es Edward Bach ausdrückt. Bach schreibt weiter, dass »jedes Kind auf seine eigene Weise Wissen aufnehmen und, in Freiheit, instinktiv das wählen kann, was für den Erfolg sei52

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nes Lebens notwendig ist« , gemäß der ihm für dieses Leben bestimmten Aufgaben. Eltern können sich entlasten, wenn sie auf das im Kind angelegte Wissen vertrauen und sich vom individuellen Lerntempo des Kindes lenken lassen. Natürlich wollen sich verantwortungsvolle Eltern nicht den Vorwurf machen, wesentliche Schritte zum Wohle des Kindes unterlassen zu haben. Zum Teil greifen sie jedoch in extremem Maße in das Leben ihrer Kinder ein, um ja keine Förderung (auch im Sinne der westlichen Leistungsorientierung) zu versäumen. Dabei tun sie mitunter zu viel des Guten oder sie tun es unter verkehrten Vorzeichen. Auch Eltern waren einmal Kinder und sind nach den eigenen Geboten angetreten, bis sie unter Umständen von ihrem Weg abgelenkt und in eine andere Richtung gedrängt wurden, weil Mutter oder Vater ihre Einzigartigkeit nicht sehen konnten. Vielleicht wurden auch Sie nach den Vorstellungen Ihrer Eltern geformt, die sich ein Bild davon gemacht hatten, wie ihr Kind sein »sollte«, damit sie sich als »gute Eltern« fühlen konnten. Auf welche Weise Eltern ihre Kinder unbewusst zur Bewältigung eigener Konflikte heranziehen, wurde von Horst-Eberhard Richter zu Beginn der familientherapeutischen Forschung schon vor vielen Jahren in seinem Buch Eltern, Kind und Neurose12 ausführlich beschrieben. Ich will hier lediglich schematisch den Inhalt seines Buches wiedergeben, um aufzuzeigen, mit welchen Rollen Kinder befrachtet werden können, je nach der ungelösten Problematik von Mutter oder Vater:

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Horst-Eberhard Richter macht deutlich, dass Kinder gar nicht selten in eine Familiensituation hineingeboren werden, in der bereits eine von außen gestellte Aufgabe auf sie wartet, bevor sie ihren eigenen individuellen Weg einschlagen können (zum Beispiel »Meine Tochter soll Pianistin werden«, »Unser Sohn soll die Firma übernehmen«, »Mein Kind soll immer für mich da sein« usw.) Kinder sind nicht nur äußerst verletzbar, sondern auch beeinflussbar – auch Sie waren es einmal –, gerade weil sie so abhängig sind. Deshalb sind sie auch gutgläubig. Für das Verhalten von Eltern ist es daher von Bedeutung, wie sie selbst als Kind diese Abhängigkeit erlebt haben und ob sie sich noch an die Erfahrungen aus dieser Zeit erinnern. Vielleicht ist da ja noch ein Teil in ihnen, der endlich auch einmal Recht behalten und nicht schon wieder nachgeben

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möchte, der sich vielleicht sogar für die jahrelange Missachtung der eigenen Person rächen will. Wie leicht geschieht es dann, diesen oft unbewussten Impulsen den eigenen Kindern gegenüber nachzugeben? Je mehr ein Kind von seinen Eltern stellvertretend für die Lösung unerledigter Konflikte »gebraucht« wurde, desto schwieriger wird es später für das Kind, sich von zu Hause zu lösen. Wie viele Erwachsene es gibt, die sich noch immer nicht von der von den Eltern auferlegten Rolle befreit haben, weil ihnen diese zur zweiten Natur geworden ist, kann ich in meinen Seminaren und bei Familienaufstellungen immer wieder erleben. Ich möchte daher allen Eltern empfehlen, selbst einmal ihrem »inneren Kind« zu erlauben, ungehorsam zu sein und aufzubegehren gegenüber jenen, die sie – wenn auch oft unwissentlich – irregeleitet haben. Bevor wir in Freiheit unseren eigenen Weg gehen können, müssen viele ihren vielleicht größten Kampf gegenüber ihrer Herkunftsfamilie führen, um sich von lebensfeindlichen Regeln und Einschränkungen zu befreien. Damit würden sie sich von der Opferrolle verabschieden, Verantwortung für ihr Leben übernehmen und ihrem »inneren Kind« die Möglichkeit geben, über das früher Erlebte hinauszuwachsen. Dann erst kann ein gleichberechtigtes und freundschaftliches Verhältnis zu den eigenen Eltern angestrebt werden. Wenn Eltern sich den Raum nehmen, den sie zum Leben ihrer eigenen Bedürfnisse und Interessen brauchen, können sie sehr viel leichter ihren Kindern das gleiche Recht einräumen. Dann könnte wirkliche Be-ziehung an die Stelle von Er-ziehung treten.

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Wie kommt es nun, dass Kinder die angebotenen Rollen, zum Beispiel als Partnerersatz, übernehmen? Eine Erklärung liegt darin, dass Kinder in ihrer Abhängigkeit glauben müssen, dass die Eltern es gut mit ihnen meinen und dass es in Ordnung sei, sich nach ihnen zu richten. Ein Kind entwickelt daher sein Verhalten in Anlehnung daran, wie es seine Eltern erlebt: Es übernimmt einerseits das Verhalten seiner Bezugspersonen durch Imitation und es erfüllt andererseits weitgehend die oft unausgesprochenen Erwartungen der Eltern – einfach deshalb, weil das seine Überlebenschancen erhöht. Die beiden folgenden Beispiele veranschaulichen diesen Sachverhalt: Eine Mutter beklagt sich über ihr lebhaftes, eher unruhiges und unkonzentriertes vierjähriges Kind. Der Sohn bleibe nie länger bei einer Sache, er mache nichts zu Ende und fange ständig etwas Neues an. Er sei auch immer um sie herum und lasse sie nie alleine. Was sie besonders störe: Das Kind spiele nie mit seinen Spielsachen, sondern interessiere sich ausschließlich für Handwerkszeug und alle Geräte im Haushalt, die es dann in Unordnung bringe. Das alles mache sie so nervös, dass sie schon daran denke, ihm Beruhigungsmittel zu geben. (Rolle: Quälgeist) Bei Gesprächen mit der Mutter stellt sich heraus, dass sie selbst sehr unruhig ist und kaum länger als fünf Minuten ruhig sitzen bleiben kann. Wenn sie mit ihrem Kind spiele, falle ihr ständig ein, was noch alles im Haushalt zu tun sei, und sie unterbreche dann das Spiel, um schnell etwas zu erledigen. Das habe sie von Anfang an so bei ihrem Sohn gemacht. Die Mutter räumt schließlich ein, dass ihr Sohn kaum Gelegenheit habe, bei ihr ein ruhiges, konzentriertes Verhalten zu entwickeln. Sie erkennt, dass sie sich zunächst mit ihrer eigenen Unruhe auseinander setzen muss, um zu einer Lösung dieser belastenden Situation zu kommen. 56

Eine andere Mutter äußert sich besorgt über ihren fünfjährigen Sohn, der im Vergleich zu seiner zwei Jahre älteren Schwester viel ungeschickter sei. Sie habe schon früh die Befürchtung gehabt, er sei in vielen Dingen »unfähig«, weil er langsamer und schwerfälliger sei als die Schwester (zum Beispiel beim Sich-selbst-Anziehen oder beim Verstehen von Spielregeln). Die Mutter ertappe sich dabei, wie sie ihren Sohn beim Anziehen beobachtet und dabei denkt: »Das kann er ja doch nicht«, was dann auch prompt eintrete. (Rolle: Versager) In einem Elternkurs wird die Mutter mit einer Aussage konfrontiert, die sie sehr nachdenklich stimmt: »Dein Kind wird das tun, was du von ihm erwartest.« Sie begreift, dass sie ihrem Sohn etwas zutrauen muss, damit er zu sich selbst Zutrauen gewinnen kann. Dieses Aha-Erlebnis verändert von heute auf morgen ihre Einstellung und kurze Zeit später berichtet sie überglücklich, dass sie bereits in der darauf folgenden Woche erste Anzeichen sehen konnte, wie sich ihre neu gewonnene Haltung positiv auf ihren Sohn auswirkt. – So können sich Verhaltensweisen von Kindern ändern, wenn eine Änderung in der Haltung der Eltern geschieht. Es gibt auch Kinder, die sich gar nicht anpassen, sondern sich augenscheinlich allem widersetzen. In einem solchen Fall würde ich der Frage nachgehen, ob das vorgelebte Verhalten der Eltern nicht so widersprüchlich und dadurch für ein Kind uneinsichtig ist, dass in seinem Verhalten eine Abwehr gegen die Desorientierung zu sehen ist. Vielleicht liegt auch seitens der Eltern oder eines Elternteils überhaupt eine latente Ablehnung des Kindes vor, die durch sein Verhalten gespiegelt wird. Grundsätzlich hat die elterliche Einstellung ihrem Kind gegenüber Auswirkungen auf dessen Verhalten. Dieser Zusammenhang wurde von Leo Kanner13 untersucht und im folgenden Schema dargestellt: 57

Prinzipielle Typen elterlicher Einstellungen Einstellung

Charakteristische Verbalisierung

Behandlung des Kindes

Mögliche Reaktion des Kindes

Akzeptierung und Zuneigung

»Das Kind macht das Heim interessant«

Zärtlichkeit; Spielen; Geduld

Sicherheit; normale Persönlichkeitsentwicklung

Offene Ablehnung

»Ich hasse es. Ich möchte durch es nicht belästigt werden.«

Vernachlässigung; Strenge; Vermeidung von Kontakt; strenge Bestrafung

Aggressivität; Verwahrlosung; Affektflachheit

Perfektionismus (versteckte Ablehnung)

»Ich möchte es nicht so, wie es ist; ich muss es verändern.«

Missbilligung; Kritik; Zwang

Enttäuschung; mangelndes Selbstvertrauen; Zwangserscheinungen

Überbehütung (versteckte Ablehnung)

»Natürlich mag ich es; seht doch, wie ich mich für es aufopfere.«

Verwöhnung; Nörgeln; Übernachsichtigkeit oder umkreisende Beherrschung

Verzögerung der Reifung und Emanzipation; verlängerte Abhängigkeit von der Mutter; Verhalten eines verwöhnten Kindes

Diese Zusammenstellung zeigt deutlich, wie die innere Verfassung der Eltern in ihrem Verhalten dem Kind gegenüber zum Ausdruck kommt und wie sehr kindliches Verhalten ein Spiegel für die innere Verfassung der Eltern ist. Wenn Eltern ihr Kind nicht annehmen können, haben sie selbst in irgendeiner Form Ablehnung erfahren und geben diese häufig unbewusst an ihr Kind weiter. 58

Was kann ein Kind in einer solchen Situation tun? Gegen die offene oder versteckte Form der Ablehnung seitens der Eltern wird ein Kind zunächst rebellieren. Wenn es keinen Erfolg damit hat, gibt es verschiedene Konsequenzen: Entweder wächst das Kind zu einem Erwachsenen heran, der ständig in einer Rebellionshaltung festgefahren ist in der Hoffnung, doch noch akzeptiert zu werden. Oder es gibt eines Tages resigniert auf und passt sich an. Dann kann sich im Kind eine enorme Wut ansammeln, die sich ab und zu in aggressiven Ausbrüchen entlädt oder auch zur völligen Erstarrung führt. Kinder haben ihre ganz individuelle Art, auf eine vorgefundene Situation mit Abwehr oder Anpassung zu reagieren. Aber auch dann, wenn ein Kind in einem wohlwollenden Klima aufwächst, wird es herauszufinden versuchen, wie weit es gehen kann und wo seine Grenzen sind. Das gilt insbesondere für die so genannte Trotzphase im Alter von drei bis vier Jahren, in der ein Kind erste Versuche unternimmt, sich gegen die Eltern abzugrenzen und seinen eigenen Willen durchzusetzen. Nicht etwa, um die Eltern zu ärgern, sondern um die ersten Schritte in Richtung Eigenständigkeit zu erproben. Diese Abgrenzungsversuche sind jedoch immer verbunden mit der Angst, ob die Eltern es dann noch mögen und zu ihm halten, wenn es eigene Wege gehen will, die vielleicht nicht in das Konzept der Eltern passen. Diese Herausforderung führt häufig zum ersten Mal zu einer handfesten Konfrontation zwischen Eltern und Kind, wobei die Qualität der Beziehung offen zutage tritt:

oben

partnerschaftlich Erziehung

unten

oder Beziehung

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Der Ausgang solcher Konfrontationen wird davon bestimmt, ● ● ●

wie Eltern selbst einmal diese Situation erlebt haben; wie sie mit Gegensätzen umzugehen gelernt haben; wie stark ihr Selbstwertgefühl ausgeprägt ist.

Hier zeigt sich, ob Eltern ihren Kindern tatsächlich einen eigenen Spielraum zugestehen können, weil sie ihn auch sich selbst und ihrem »inneren Kind« einräumen. Ich erinnere mich an die Geschichte eines jungen Vaters, der eine Begebenheit aus seiner Kindheit erzählte. Als Fünfjähriger war er einmal so wütend auf seine Mutter, dass er beschloss, von zu Hause wegzugehen. Er packte seine Kindergartentasche und erklärte der Mutter: »Jetzt hab ich genug, ich wandere nach Afrika aus.« Er verließ das Haus, durchquerte den Vorgarten und wollte gerade die Gartentür öffnen, als seine Mutter hinter ihm herkam. »Du hast deine Zahnbürste vergessen«, sagte sie ganz ruhig und gab sie ihm. Er nahm die Zahnbürste und ging die Straße hinunter. Nach einiger Zeit kehrte er dann nach Hause zurück, sein Zorn war verraucht. Das Wesentlichste aber für ihn war: Er fühlte sich ernst genommen und respektiert, was ihm das Zurückkommen sehr erleichterte. Seine Mutter war durch seinen Widerspruch und Zorn offensichtlich nicht in ihrem Selbstwert gekränkt und hatte das Vertrauen, dass er nicht wirklich weglaufen wollte. Mit einem schwachen Selbstwertgefühl hätte sie sich wahrscheinlich Vorwürfe gemacht, ob sie vielleicht nicht doch zu streng gewesen war, und hätte versucht, ihren Sohn umzustimmen und ihn am Gehen zu hindern. Dann aber wäre der Kampf erst richtig losgegangen. Auch dieses Beispiel gibt einen Eindruck davon, wie Kinder zum Spiegel elterlichen Verhaltens und elterlicher Erwar60

tungen werden. Ein Kind nimmt Eltern als Maßstab und es ist deshalb ausschlaggebend, wie Eltern sich verhalten. Das kommt in einer alten indianischen Weisheit zum Ausdruck, die ich hier zitiere: »Die Eltern erzogen die Kinder durch ihr Beispiel und mussten deshalb besonders auf ihr eigenes Verhalten achten, mehr noch als auf das der Kinder. (...) sie beobachteten die Eltern und Alten genau bei dem, was sie sagten und taten. Daher mussten die Älteren so freundlich und würdevoll han14 deln wie möglich.« Wenn nun aber dem »inneren Kind« der Eltern die Erfahrung von Freundlichkeit und Würde fehlt und sie stattdessen selbst verunsichert und orientierungslos sind, können sie nicht immer würdevoll handeln. Ziel für die Eltern muss es daher sein, mit diesem »inneren Kind« in Kontakt zu kommen, um dadurch mehr Verständnis für das eigene, manchmal rational nicht nachvollziehbare Verhalten zu entwickeln und eine Veränderung der eigenen Einstellung und Verhaltensweise anzustreben.

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4 Konflikte verstehen statt vermeiden Ohne Gegensätze gibt es kein Fortschreiten. William Blake

Stellen Sie sich einmal vor, wie das Leben ohne Konflikte wäre. Wenn Sie sich für diese Überlegung einen Moment Zeit nehmen, kommen Sie vielleicht zu den gleichen Ergebnissen wie die TeilnehmerInnen in meinen Seminaren. Obwohl Konflikte durchaus als unangenehm empfunden werden, ist doch die Überzeugung vorherrschend, dass das Leben ohne Konflikte langweilig und eintönig wäre. Da ein Nachdenken über sich selbst sowie eine Auseinandersetzung mit der Sichtweise und den Bedürfnissen anderer Menschen dann nicht mehr erforderlich wären, gäbe es auch keine ● ● ●

Horizonterweiterung, Persönlichkeitsentwicklung, Wachstumsmöglichkeit.

Auch diejenigen, die zunächst meinen, dass das Leben dann einfacher und schöner wäre, räumen nach einigem Nachdenken ein, dass der damit verbundene Stillstand doch nicht so erstrebenswert ist. Konflikte zu vermeiden ist also keine dauerhafte Alternative, wenn wir uns für das Lebensgesetz der 63

Weiterentwicklung entscheiden. Realistischer ist es vielmehr, Konflikte als Bestandteil des Alltags zu betrachten und sie gewaltfrei und partnerschaftlich zu lösen. Nur so können sie zu unserer Persönlichkeitsentwicklung beitragen, statt unser Wachstum zu hemmen und unsere Beziehungen zu gefährden oder gar zu zerstören. Konflikte sind Bestandteil des Alltags und können gewaltfrei und partnerschaftlich gelöst werden. Die Frage ist daher: Wie kommen wir ● ● ●

zu innerer Klarheit, vom Missverständnis zur Verständigung, vom Gegeneinander zum Miteinander?

Der erste Schritt auf diesem Weg ist zu verstehen, was Konflikte im ursprünglichen Sinne bedeuten, wie sie entstehen, welchen Sinn Konflikte in unserem Leben haben und wie wir eine positive Einstellung zu ihnen entwickeln können.

Was ist ein Konflikt? Im herkömmlichen Sprachgebrauch sprechen wir dann von Konflikt, wenn sich bei unterschiedlichen Standpunkten, Interessen oder Bedürfnissen eine Einigung zwischen zwei oder mehreren Personen nur schwer finden lässt oder aussichtslos erscheint, weil keine Seite bereit ist, von ihrer Position abzurücken.

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Da eine solche Situation häufig begleitet ist von einer Störung des Wohlbefindens, erscheint es zunächst eher schwierig zu erkennen, worin denn die Chance zur Weiterentwicklung besteht. Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Konflikt kann uns dabei helfen, Konflikte aus einer ganz anderen Perspektive zu betrachten. Der Begriff Konflikt hat seinen Ursprung im lateinischen confligere = zusammenstoßen, zusammengeraten. Rein sprachlich betrachtet bedeutet Konflikt also zunächst völlig wertfrei »Zusammenstoß«, was nicht gleichbedeutend ist mit streiten oder kämpfen. Die Tatsache, dass Menschen dazu neigen, sich zu bekämpfen, wenn sie mit ihren Unterschieden zusammenstoßen, sagt nur etwas über die Art und Weise aus, mit der sie versuchen, zu einer Lösung zu kommen. Ich unterscheide also einerseits zwischen Konflikt im Sinne von Zusammenstoß von Gegensätzen und andererseits der Methode der Auseinandersetzung mit Konflikten, bei der unsere gelernten Verhaltensmuster wirksam werden. Die Erfahrung zeigt: Nicht der Konflikt ist das Problem, sondern die Art und Weise, wie wir damit umgehen. Für den Ausgang eines Konflikts ist die Einstellung und das Verhalten der beteiligten Personen entscheidend und nicht vorrangig die Sache, um die es geht. Die Tendenz, Konflikte eher zu vermeiden als zu klären oder aber eine Lösung mit destruktiven Mitteln zu erzwingen, liegt ganz offensichtlich darin begründet, dass wir in unserer Gesellschaft immer noch zu wenig lernen, auf konstruktive Weise mit unseren Unterschieden umzugehen. Was wir in Konfliktsituationen häufig erleben, ist eine Ich-gegen-dich-Position, eine Wer-hat-Recht-Haltung, mit den da65

raus sich ergebenden Verhaltensweisen wie zum Beispiel einschüchtern, bekämpfen, drohen, manipulieren, kränken, runterschlucken etc. Es sind unsere Verhaltensmuster, die das Unbehagen und die Angst vor Konflikten auslösen. Die übliche Sieger-Verlierer-Mentalität berücksichtigt nicht das menschliche Grundbedürfnis nach Verständnis, Anerkennung und Respekt, was zu einer konstruktiven Konfliktlösung beitragen würde. Stattdessen ist zu beobachten, wie wir in einem ständigen Kreislauf von siegen und verlieren gefangen sind. Der »Verlierer« wird insgeheim »aufrüsten«, um sich für die erlittene Niederlage zu rächen. Im Grunde werden so beide Seiten zu Verlierern, denn die Folgen eines solchen Verhaltens sind: ● ● ● ● ●

Unzufriedenheit und chronische Daueranspannung, Stressreaktionen in Form von psychosomatischen Beschwerden, Freudlosigkeit bis hin zur Depression, Verminderung der Lebensqualität im privaten und beruflichen Umfeld, verletzte oder gescheiterte Beziehungen.

Es fehlen uns in der Regel eine positive Einstellung und das geeignete »Handwerkszeug«, um Konfliktsituationen so zu lösen, dass das Ergebnis für alle Beteiligten akzeptabel ist und gleichzeitig in der Beziehung zueinander kein »Kurzschluss« entsteht. Das ist ein entscheidender Aspekt, denn wir wollen oder müssen ja auch weiterhin miteinander zu tun haben.

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Wie entstehen Konflikte? Wenn wir den Begriff Konflikt in seiner ursprünglichen Bedeutung (= Zusammenstoß) verwenden, stellt sich die Frage: Was stößt denn hier zusammen? Es sind unsere Unterschiede im Denken, Fühlen und Handeln. Sei es in Familie und Partnerschaft, im Freundeskreis, in der Schule oder am Arbeitsplatz: In all diesen für uns wichtigen Lebensbereichen, wo es um die Gestaltung des alltäglichen Zusammenlebens geht, stoßen wir mit unseren unterschiedlichen Erfahrungen, Überzeugungen, Interessen und Bedürfnissen zusammen. Das will ich mit folgendem Bild verdeutlichen: Deine Welt Deine Wahrheit Deine Wirklichkeit

Meine Welt Meine Wahrheit Meine Wirklichkeit

Erlebnisse Erfahrungen Vorstellungen Überzeugungen Werte

Zusammenstoß von Unterschieden

Missverständnisse

ICH Bedürfnisse Gefühle Interessen Ziele Selbstwert

Erlebnisse Erfahrungen Vorstellungen Überzeugungen Werte

DU

KONFLIKTE

Bedürfnisse Gefühle Interessen Ziele Selbstwert

Bereitschaft zur Verständigung

Wenn zwei Menschen sich begegnen, treffen zwei Welten aufeinander: die Welt, wie ich sie sehe und erlebe, und die Welt, wie du sie siehst und erlebst. Wir können es auch meine Wirklichkeit und deine Wirklichkeit nennen oder meine Wahrheit und deine Wahrheit. Jeder von uns hat im Laufe 67

seines Lebens ganz eigene, unverwechselbare Erlebnisse und Erfahrungen gemacht, denn wir sind in verschiedenen Familien aufgewachsen und vielleicht auch in unterschiedlichen Kulturen. Unser jeweiliges soziales und kulturelles Umfeld hat uns geprägt. Auf Grund dieser unterschiedlichen Lebenserfahrungen entwickelt jeder von uns eigene Vorstellungen, Überzeugungen und Werte, eigene Bedürfnisse und Gefühle, die für uns jeweils wahr sind und auf deren Grundlage wir dann handeln. Auch unser Selbstwertgefühl ist unterschiedlich stark ausgeprägt. Es entsteht durch die Art und Weise, wie unsere Bezugspersonen in der Kindheit mit uns umgegangen sind, ob wir willkommen waren oder eher nur geduldet wurden. Gerade in Partnerschaft und Familie spüren wir oft überdeutlich, dass unsere physischen und psychischen Bedürfnisse nicht immer übereinstimmen. Ein immer wieder auftretendes Thema bei Paaren ist zum Beispiel die Situation, dass der Wunsch nach Nähe und Intimität vom anderen Partner gerade nicht erwidert wird. Ein bekanntes Thema in Familien ist das ständige Ringen um Ordnung im Kinderzimmer, während sich das Kind doch in der Unordnung ganz wohl fühlt. Bedürfnisse werden zu Erwartungen, und wenn diese nicht erfüllt werden, sind wir enttäuscht. Wer kennt nicht das schmerzliche Gefühl, nicht das zu bekommen, was wir uns gerade von nahe stehenden Menschen sosehr wünschen, oder nicht das durchsetzen zu können, was uns selbst als wichtig erscheint? Bedürfnisse werden zu Erwartungen und unerfüllte Bedürfnisse führen zu Konflikten. Unerfüllte Bedürfnisse sind ein wesentlicher Auslöser für Konflikte. Bemerkbar macht sich das darin, dass wir schnel68

ler auf andere ärgerlich werden, wenn wir innerlich unzufrieden sind. Der konstruktivere Weg wäre in einem solchen Fall, sich mit seiner inneren Unzufriedenheit zu beschäftigen, statt den Ärger darüber blind auf andere zu projizieren, um sich selbst zu entlasten. Auf Grund unserer Überzeugungen, Bedürfnisse und Gefühle verfolgen wir bestimmte Interessen und Ziele, die mitunter im Gegensatz zu den Interessen und Zielen der anderen stehen. Da wir nun einmal unterschiedlich denken und fühlen, kann es praktisch keine Beziehung ohne Konflikte geben. Dieses Zusammenstoßen unserer Unterschiede ist weder gut noch schlecht. Es geschieht einfach. Wie unsinnig erscheint unter diesem Gesichtspunkt das Streiten und Kämpfen, unter Umständen mit unfairen Mitteln? Vor allem wenn man bedenkt, dass unsere Beziehungen darunter leiden und wir uns selbst und andere letztlich unglücklich machen.

Welchen Sinn haben Konflikte? Menschen wollen zufrieden sein und in glücklichen Beziehungen leben. Doch aus Erfahrung wissen wir, dass Zufriedenheit und Glück nicht so einfach zu erlangen sind, weil wir keineswegs immer bekommen, was wir uns vorstellen oder wünschen. Die Tatsache, dass Konflikte unausweichlich zum Leben gehören, hat mich zur Frage geführt, ob darin nicht eine tiefere Bedeutung liegen könnte. Wenn wir davon ausgehen, dass es keine Zufälle im Leben gibt, sondern dass alles, was wir erleben, einen Sinn hat (auch wenn wir diesen nicht immer sofort erkennen), dann müssten auch Konflikte einen 69

Sinn für unser Leben haben. Worin besteht dieser Sinn? Vielleicht darin, dass Konflikte erst die zum Leben und Wachsen notwendige Spannung erzeugen. Der Sinn von Konflikten ist also der, uns wachzurütteln. Konflikte dienen zunächst der Selbsterkenntnis und als Folge davon dem besseren Verständnis für andere Menschen. Was könnte unser Leben mehr in Bewegung bringen als Hindernisse, Widersprüche und Komplikationen? Was könnte uns mehr herausfordern, genauer hinzuschauen und hinzuhören? Sind es nicht diese ständig wiederkehrenden Herausforderungen, die uns jedes Mal einen Schritt weiterbringen? Gewiss sind Konflikte immer begleitet von einem Gefühl des Unbehagens, das wir schnell wieder loswerden möchten. Aber »Beklemmung, Zweifel und Hoffnungslosigkeit zeigen Krisen an, Perioden der Ratlosigkeit, die immer dann auftreten, wenn der Mensch unsicher genug ist, um innerlich wachsen zu können. Wir müssen unser Gefühl des Unbehagens immer als die Chance betrachten, das Wachstum zu wäh15 len und nicht die Angst« . Wachstum kann jedoch nur geschehen, wenn wir bereit sind, uns offen und unvoreingenommen mit uns selbst und unseren Mitmenschen auseinander zu setzen. Einerseits gewinnen wir dadurch mehr Klarheit über uns selbst: Durch die Auseinandersetzung mit anderen Menschen werde ich mir meiner Möglichkeiten und Grenzen bewusst. Ich merke, was mich ärgerlich, wütend, nachdenklich, verlegen, traurig macht, aber auch, was mich freut. Ich lerne dadurch die verschiedensten Seiten in mir kennen und kann allmählich lernen, mich so zu akzeptieren, wie ich bin.

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Konflikte sind der Motor unserer Weiterentwicklung. Andererseits lernen wir unser Gegenüber besser kennen, dessen Sichtweisen, Bedürfnisse und Gefühle. Das gibt uns die Möglichkeit, unseren Blickwinkel zu erweitern, unsere Werte und Prinzipien zu überprüfen und mehr Verständnis für andere Menschen zu entwickeln. Es geht bei der Konfliktlösung also nicht darum zu klären, wer Recht hat, sondern um einen Erkenntnisprozess im Sinne von: Wer bin ICH?

Wer bist DU?

Was ist mir wichtig?

Was ist dir wichtig?

Was ist die beste Lösung in der anliegenden Sache, über die wir verschiedener Meinung sind oder in der wir unterschiedliche Erwartungen und/oder Bedürfnisse haben? Nur wer sich selbst ernst nimmt und achtet, kann auch andere in ihrer Andersartigkeit ernst nehmen und achten (siehe nachstehende Checkliste »Wer bin ICH? – Wer bist DU?« auf Seite 72). Konflikte als Wachstums- und Entwicklungspotenzial zu betrachten ist die Voraussetzung dafür, die Feindseligkeit aus unserer Unterschiedlichkeit herauszuhalten.

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WER BIN ICH?

WER BIST DU?

Was zeige ich von mir?

Was sehe ich bei dir?

Wie wirke ich mit meinem Verhalten?

Wie denke ich über dich, welche Einstellung habe ich dir gegenüber?

Was bewirke ich durch die Art, wie ich bin?

Wie deute ich dein Verhalten?

Welches Bild bekommen andere von mir?

Welche Vorurteile habe ich über dich?

Bin ich mit mir selbst in Kontakt?

Habe ich wirkliches Interesse an dir?

Wie nehme ich Kontakt auf?

Bleibe ich in Kontakt mit dir?

Wie erlebe ich mich in Beziehung zu anderen (zum Beispiel unterschiedliche Befindlichkeit je nach Gegenüber)?

Wie erlebe ich dich?

Achte ich mich selbst?

Habe ich Achtung vor dir?

Verstehe ich mich und mein Verhalten?

Will ich dich verstehen (deine Motive, Interessen etc.)?

Bin ich konfliktfähig und setze ich klare Grenzen?

Beziehe ich mich auf dich?

Sind mir meine Gefühle bewusst und kann ich sie akzeptieren?

Erkenne ich deine Gefühle und beziehe ich mich darauf?

Meinen Standort kennen

Deinen Standort kennen

Wie Konfliktverhalten gelernt wird Welche Art der Konfliktlösung wir heute als Erwachsene zur Verfügung haben, hängt wesentlich davon ab, wie in unserer Herkunftsfamilie Konflikte behandelt wurden. Dort sind die Weichen dafür gestellt worden, ob wir überhaupt konfliktfähig werden, das heißt, ob wir Problembewusstsein erlangen 72

als Voraussetzung für die Auseinandersetzung mit Konflikten, oder ob wir eher dazu neigen, Konflikten aus dem Weg zu gehen oder sie zu leugnen. Es ist daher eine vorrangige Aufgabe von Erwachsenen, Kindern die Erfahrung zu vermitteln, dass die zum Leben gehörenden Konflikte auf konstruktive Art gelöst werden können. Gegensätzliche Interessen müssen nicht zwangsläufig zu Machtkampf oder Ohnmacht führen, zum Siegen oder Verlieren, sondern Gegensätze können auch nebeneinander bestehen bleiben. Diese Haltung verlangt jedoch, sich selbst und andere ernst zu nehmen und zu respektieren. Denn Verteidigungsbereitschaft und »innere Aufrüstung« entstehen erst aus der Angst, vom Andersdenkenden »überrollt« zu werden, das Eigene nicht leben zu dürfen. Kinder müssen die Chance bekommen, statt Resignation oder blinder Wut Problembewusstsein zu entwickeln und die partnerschaftliche Auseinandersetzung mit Konflikten einzuüben. Was im kleinen Rahmen gelernt wird, dient später als Grundlage für das Vertrauen, auch bei Konflikten in größeren gesellschaftlichen Zusammenhängen den Mut nicht zu verlieren und handlungsfähig zu bleiben. Friedfertigkeit kann nur entstehen, wenn wir uns nicht hilflos ausgeliefert fühlen, sondern Konflikten standhalten. Grundsätzlich lassen sich zwei Konfliktarten unterscheiden: ●



Der Gegensatz von Interessen und Bedürfnissen innerhalb einer Person wird als »intrapersonaler Konflikt« bezeichnet (intra = innen). Der Gegensatz von Interessen und Bedürfnissen zwischen Personen wird als »interpersonaler Konflikt« bezeichnet (inter = zwischen). 73

Durch das Zusammenstoßen unterschiedlicher Interessen und Bedürfnisse wird einerseits das innere Gleichgewicht, andererseits das Gleichgewicht zwischen Personen beeinträchtigt. Wenn morgens um 6.30 Uhr der Wecker klingelt und er einen unsanft aus dem Schlaf reißt, kommt es nicht selten zu einem inneren Konflikt zwischen dem Wunsch weiterzuschlafen und der Notwendigkeit, den Tag rechtzeitig zu beginnen, um sich später nicht abhetzen zu müssen. In diesem Fall ist das innere Gleichgewicht vorübergehend gestört, bis man sich zu einer Entscheidung durchgerungen hat, eventuell begleitet vom guten Vorsatz, künftig früher schlafen zu gehen. Wenn eine Mutter kurz nach 13.00 Uhr das Mittagessen vorbereitet hat, weil ihre Kinder um diese Zeit von der Schule zurückkommen, diese dann aber auf sich warten lassen und erst um 14.00 Uhr erscheinen, dann haben wir es mit einem Interessenkonflikt zu tun zwischen dem Wunsch der Mutter, zu einem festgelegten Zeitpunkt zu essen, und dem Bedürfnis der Kinder, nach der Schule noch mit Freunden herumzutrödeln. Hier ist das Gleichgewicht zwischen Mutter und Kindern beeinträchtigt, bis beide Seiten zu einer befriedigenden Regelung gekommen sind, die dann auch eingehalten wird. Der Einzelne als Mitglied einer gesellschaftlichen Gruppe (Familie, Schule, Arbeitsplatz) kann sein Handeln also nicht nur an inneren Wünschen und Bedürfnissen ausrichten, sondern muss sein Handeln mit den Verhaltenserwartungen der anderen abstimmen, wenn er an der Gemeinschaft teilhaben will.

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Zwischen den gegensätzlichen Polen von ICH und DU muss ein Ausgleich gefunden werden, bei dem keiner auf Dauer zu kurz kommt. Das geschieht durch gegenseitige Verständigung, bei der die unterschiedlichen Positionen gegeneinander abgewogen werden. Leider gelingt diese Verständigung nicht immer reibungslos. Wir müssen lernen, Frustrationen vorübergehend zu ertragen, bis eine für alle akzeptable Lösung gefunden wird. Um diese notwendige Frustrationstoleranz entwickeln zu können, ist es gerade für Kinder wichtig, dass sie sich in einer akzeptierenden und liebevollen Beziehung zu den Eltern aufgehoben fühlen. Wer sich als Mensch akzeptiert und geliebt fühlt, kann die Spannung einer Konfliktsituation viel besser aushalten. Wenn ein Kind jedoch bei den Erwachsenen beobachtet, dass das Ansprechen von Konflikten zu noch mehr Unbehagen oder zu Zerwürfnissen führt, bekommen Konflikte etwas Bedrohliches, das man besser vermeiden sollte. 75

Bevor wir uns mit dem Gelingen von Verständigung befassen (siehe Kapitel 6 und 7), möchte ich im Sinne einer Bestandsaufnahme zunächst auf jene Verhaltensmuster eingehen, die in unserer Gesellschaft bei Konflikten häufig auftreten und dabei eher zu Frustration führen als zu befriedigenden Lösungen.

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5 Typisches, aber ineffektives Konfliktverhalten Du kannst erst tun, was du willst, wenn du weißt, was du tust. Moshé Feldenkrais

Im Folgenden geht es darum, herauszufinden, welche eigenen Erfahrungen wir im Umgang mit Konflikten gemacht haben. Über welche Methoden der Konfliktlösung verfügen wir und was bewirken diese? Eine solche Bestandsaufnahme lässt uns erkennen, wie wir bisher gehandelt haben, um dann für die Zukunft neue, bessere Entscheidungen treffen zu können. Es ist also ein wesentlicher Schritt auf dem Weg der Verhaltensänderung, nach innen zu schauen, um ein tieferes Verständnis für das eigene, bisher gelernte Konfliktverhalten zu entwickeln. Erst wenn die Stärken und Schwächen des eigenen Verhaltens bewusst sind, können wir gezielt daran gehen, wirksamere Konfliktstrategien zu entwickeln, die zu einem befriedigenden und partnerschaftlichen Konfliktverhalten führen. In diesem Zusammenhang will ich nochmals betonen, dass es dabei kein »richtiges« oder »falsches« Verhalten gibt. Jede Verhaltensweise, die wir uns als Kind angeeignet haben, diente dazu, mit einer gegebenen Situation auf die damals 77

bestmögliche Art fertig zu werden. Kritisieren Sie sich also nicht, wenn Sie sich in der einen oder anderen Verhaltensweise wiederfinden, sondern haben Sie liebevolles Verständnis für das Kind, das Sie einmal waren, und für sein Handeln. Und bedenken Sie, dass sich die Umstände geändert haben und Sie heute als Erwachsener eine neue Entscheidung bezüglich Ihres Handelns treffen können, auch wenn das Umlernen einige Zeit in Anspruch nehmen kann. Der nachstehend aufgeführte Test kann Ihnen dabei helfen, mehr Klarheit über Ihr eigenes Konfliktverhalten zu gewinnen. Versuchen Sie sich in die verschiedenen beispielhaften Situationen zu versetzen, um herauszufinden, wie Sie am ehesten reagieren würden. Später werden wir dann einen Blick auf die Schwächen, aber auch Stärken werfen, die in den jeweiligen Verhaltensmustern enthalten sind, und die notwendigen Lernschritte aufzeigen.

Test: Mein Konfliktverhalten Situation A Sie ärgern sich aus irgendeinem Grund über Ihren Partner/Ihre Partnerin. Was sagen oder tun Sie? 1. Wenn ich wütend bin, explodiere ich einfach. 2. Ich sage dem anderen, worüber ich mich so ärgere und was mich enttäuscht oder verletzt hat. Dann frage ich nach, wie es dem anderen mit dieser Situation geht. 3. Ich sage gar nichts und gehe dem anderen aus dem Weg, bis ich mich wieder beruhigt habe. 4. Ich zeige meinen Ärger nicht, sondern verdränge ihn, weil ich sonst Angst habe, nicht mehr gemocht zu werden. Ob78

wohl ich innerlich koche, bin ich nach außen besonders freundlich. 5. Solange niemand körperlich verletzt wird, kann man seinen Ärger schon ausdrücken. Situation B Es stört Sie, dass Ihre Kinder nicht im Haushalt mithelfen, obwohl das vereinbart wurde. Wie reagieren Sie darauf? 1. Ich resigniere schnell und sage nichts, weil es ja doch nichts nützt. Innerlich bin ich aber frustriert und ich versuche mich mit anderen Aktivitäten zu zerstreuen. 2. Ich mache mit lauter Stimme meinem Ärger Luft und drohe mit Fernsehverbot oder Taschengeldentzug. 3. Offene Auseinandersetzungen sind mir sehr unangenehm und ich vermeide sie nach Möglichkeit. Stattdessen tue ich so, als ob alles in Ordnung sei, bin aber innerlich verärgert. 4. Ich schlage einen Kompromiss vor und übernehme einen Teil der Arbeit wieder selbst. Ich sage mir innerlich zum Beispiel, dass ich die Kinder nicht überfordern sollte oder Ähnliches. 5. Ich sage, wie wichtig mir die Unterstützung ist. Dann finde ich im Gespräch heraus, wie es den Kindern mit der bisherigen Vereinbarung geht und wie es in Zukunft besser klappen kann. Situation C Ein Elternabend zieht sich immer mehr in die Länge, weil eine Mutter auf ihren Einwänden beharrt. Was tun Sie? 1. Ich möchte sie besser verstehen und versuche durch Nachfragen herauszufinden, worauf ihre Einwände beruhen. Dann können wir das Für und Wider einer Entscheidung noch einmal aus ihrer Sicht abwägen. 79

2. Wenn die Mutter mit ihren Argumenten die Gruppe nicht überzeugen kann, sollte sie sich der Mehrheit anschließen. 3. Wenn andere streiten, ziehe ich mich zurück und sage gar nichts mehr. 4. Ich zeige meinen Ärger darüber, dass diese Mutter unsere Entscheidungsfindung behindert, und schlage vor, ohne sie abzustimmen. 5. Meinungsverschiedenheiten stören die Harmonie. Daher dränge ich darauf, zu angenehmeren Tagesordnungspunkten überzugehen. Situation D Sie haben vereinbart, sich in der Kinderpflege und -betreuung abzuwechseln. Die Karriere des Mannes verhindert jedoch seinen häuslichen Einsatz. Wie reagieren Sie darauf? 1. Ich nehme es hin, weil er ja finanziell für die Familie sorgt, wenn er Karriere macht. Ich habe dafür das Sagen im Haus. 2. Ich bin wütend über seine mangelnde Mithilfe, sage das deutlich und finde, dass er es sich zu leicht macht. 3. Um den häuslichen Frieden nicht zu gefährden, schlucke ich meinen Ärger hinunter, damit er nicht merkt, wie frustriert ich bin. 4. Ich sage meinem Mann, wie wichtig mir seine Unterstützung ist. Dann frage ich ihn, wie es ihm mit der jetzigen Situation geht und wie er sich eine Mitarbeit im Haushalt vorstellen kann. 5. Dieses Thema spreche ich nicht an, weil sich dadurch nichts ändern würde. Ich denke mir, dass es ja auch so funktioniert. Die Testauflösung finden Sie am Ende dieses Kapitels. 80

Methoden der Konfliktbewältigung Konflikte treten dann auf, wenn unterschiedliche Interessen, Bedürfnisse usw. aufeinander stoßen. Sie bewirken ein Ungleichgewicht. Alles Lebendige strebt aber nach Ausgewogenheit und Harmonie im Sinne eines Fließgleichgewichts, einer Aussöhnung der Gegensätze, jedoch nicht im Sinne einer Gleichmacherei oder Einebnung von Verschiedenheiten. Der Prozess der Entscheidungsfindung kann sich dabei unter Umständen über einen längeren Zeitraum erstrecken, in dem die Unvereinbarkeit der widersprüchlichen Faktoren vorübergehend ertragen werden muss und die möglichen Lösungen gegeneinander abgewogen werden (Frustrationstoleranz). Ein Beispiel: Die Frage, ob ein Kind aufs Gymnasium überwechselt oder ob seinem Wunsch nach handwerklicher Ausbildung nachgegeben wird, ist oft nicht leicht zu entscheiden. Die Fähigkeiten und Neigungen eines Kindes stehen vielleicht im Gegensatz zum Wunsch der Eltern, ihrem Kind »bessere« Berufschancen zu ermöglichen. Solange wir in einer Gesellschaft leben, in der nicht akademische Berufe geringer geschätzt werden und der Wert des Einzelnen an seinen materiellen Gütern gemessen wird statt an seinen inneren Werten, solange werden Eltern bei der Frage der Ausbildung von einem Prestigedenken gelenkt, das nicht unbedingt dem Wohle des Kindes gerecht wird. Häufiger sind jedoch jene Situationen des Alltags, die eine schnelle Entscheidung erforderlich machen. Wenn ein Kind im Supermarkt beispielsweise unbedingt Schokolade haben will, muss sich die Mutter für ein Ja oder Nein entscheiden. Die Entscheidung wird möglicherweise davon abhängen, ob sich die Mutter im Falle eines Neins dem Wutgeschrei ihres Sprösslings gewachsen fühlt sowie den missbilligenden Bli81

cken aus ihrer Umgebung (»Rabenmutter« usw.). Am einen Tag hat sie vielleicht die Nerven dazu, am anderen nicht und sie wird entsprechend handeln. Es ist also gar nicht so leicht, in einer als konflikthaft erlebten Situation handlungsfähig zu bleiben und auch noch die angemessene Entscheidung zu treffen. Denn in jeder Entscheidung steckt auch ein Verzicht auf alternative Handlungsmöglichkeiten. Und auch Fehlentscheidungen lassen sich nicht ausschließen, da die Konsequenzen oft nicht mit Sicherheit abgeschätzt werden können. »Irren ist menschlich« ist daher ein treffendes Sprichwort. Weiterhin spielt bei Entscheidungen eine Rolle, ob die absehbaren Konsequenzen erträglich erscheinen, nämlich ob Eltern es ertragen, wenn ihr Kind nicht aufs Gymnasium geht, oder ob sie es aushalten, wenn sie ihrem Kind auf Grund äußerer Notwendigkeiten auch einmal einen Wunsch nicht erfüllen können. Es ist zunächst sicher sinnvoll, die Grenzen dessen, was man ertragen kann, bei einer Entscheidung zu berücksichtigen. Wenn diese inneren Grenzen aber dazu führen, dass immer wieder unbefriedigende Entscheidungen getroffen werden (zum Beispiel ständiges Nachgeben), ist man vielleicht doch eines Tages bereit, sich von den Folgen eines Neins nicht sofort verunsichern zu lassen, zum Beispiel vom Wutgeschrei oder den Tränen eines Kindes, dem man einen Wunsch verweigern musste. Jede Entscheidung hat Konsequenzen und risikolose Entscheidungen sind nur selten. Das vorübergehende Ertragen von Unsicherheit und Unbehagen setzt eine Belastbarkeit voraus, die wiederum abhängig ist vom Selbstwertgefühl, dem Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, das jemand beim Heranwachsen aufbauen 82

konnte. Es ist verständlich, dass man Konflikte nicht wahrhaben will oder sich der direkten Auseinandersetzung mit ihnen zu entziehen versucht, wenn man sich der Konfrontation nicht gewachsen fühlt. Dieses Vorgehen hilft aber nur kurzzeitig, denn ungelöste Situationen haben die unangenehme Eigenschaft, ständig wiederzukehren. Der Betroffene verbraucht bei dieser Art des Umgangs mit Konflikten ein hohes Maß an psychischer Energie, entweder um den Konflikt in Schach zu halten oder ihn gar nicht erst in sein Bewusstsein dringen zu lassen. Konflikte verunsichern uns nicht nur, sondern lösen auch eine mehr oder weniger starke Spannung aus, die wir in der Regel als unangenehm empfinden. Wie können wir damit zurechtkommen? Für mich selbst war es ein entscheidender Schritt zur Änderung meines Konfliktverhaltens, als ich begann, Spannungen als etwas zum Leben und zu Beziehungen Gehörendes zu akzeptieren. Allein schon das Wissen darum verhalf mir dazu, Spannungen nicht sofort auflösen zu wollen, sondern neugierig zu werden, was sich daraus entwickeln wird. Geholfen hat mir dabei folgende Überlegung: Spannung kann sich sowohl konstruktiv als auch destruktiv auswirken. So wie mit elektrischer Spannung entweder Licht (konstruktiv) oder ein Kurzschluss (destruktiv) erzeugt wird, so kann auch bei einem Konflikt die Spannung entweder förderlich oder zerstörerisch genutzt werden, je nach unserem Verhalten.

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ICH

DU

Standpunkt

-

+

Gegen-Standpunkt

Spannung

konstruktiv: Konfliktentschärfung

destruktiv: Konfliktverschärfung »Kurzschluss«

»Mir geht ein Licht auf«

Es wird finster - in mir und in der Beziehung

Konfliktentschärfung Wenn wir die Spannung konstruktiv nutzen, sind wir zunächst bestrebt zu verstehen, was der andere denn meint, und geben ihm dadurch das Gefühl, gehört zu werden. Das heißt noch nicht, dass wir inhaltlich zustimmen. Es bedeutet lediglich: »Jetzt habe ich verstanden, wie DU die Situation siehst beziehungsweise wie DU dich fühlst, wie es in › Deiner Welt‹ aussieht.« Uns geht im wahrsten Sinne des Wortes ein Licht auf und im anderen kann sich etwas entspannen, weil er sich wertgeschätzt fühlt. Jetzt ist er eher bereit, auch meine Sichtweise anzuhören. Dann geht in der Regel auch ihm ein Licht auf darüber, wie es in »meiner Welt« aussieht. Entscheidend ist hier die Einstellung zu mir und zum anderen, nämlich sich gegenseitig zu unterstützen und zu fördern statt Recht haben zu wollen. Das ist für beide Seiten ermutigend und fördert eine kreative Konfliktlösung sowie das Vertrauen in die Beziehung. Dadurch entstehen: 84

Verständnis – Kreativität – Wachstum – neue Möglichkeiten – persönliche Entwicklung – tiefere Beziehungen – Freude – Gemeinsamkeiten.

Konfliktverschärfung Wenn wir uns nicht die Mühe machen, den anderen mit seiner »Welt« zu begreifen, dann entsteht ein »Kurzschluss« in der Beziehung. Der andere fühlt sich unverstanden, enttäuscht, allein gelassen, hilflos usw. und wird auch nicht bereit sein, uns zu verstehen, so dass wir uns ebenso unverstanden fühlen. Nicht verstanden zu werden wird als mangelnde Wertschätzung gedeutet. Das führt zur beiderseitigen Entmutigung und ist der Nährboden für die Eskalation von Konflikten. Dadurch entstehen: Ärger – Zorn – Rachegedanken – starres Recht-haben-Wollen – Stillstand – Resignation – Trennung – Leid. Wir haben die Wahl, ob wir einen Kurzschluss produzieren oder lieber Licht machen wollen. Die in unserer Gesellschaft weit verbreiteten Methoden der Konfliktbewältigung kann man als Versuche betrachten, die als unangenehm erlebte Spannung möglichst schnell wieder loszuwerden. Dadurch verursachen sie oft erst den »Kurzschluss« in unseren Beziehungen. Denn in der Regel nehmen wir uns nicht genug Zeit, um das »Licht« des Erkennens einzuschalten. Betrachten wir unter diesem Gesichtspunkt einmal die üblichen Verhaltensmuster bei Konflikten, die ich in Anleh16 nung an die Familientherapeutin Virginia Satir beschreibe und ergänze.

85

Anklagen ●

Angreifen, beschuldigen, kämpfen

Verhalten Er/sie hat eine harte, laute, schrille Stimme; schüchtert andere ein; klagt an, urteilt und vergleicht; macht Vorwürfe; handelt überheblich; stellt Forderungen; ist ein Fehlersucher; die Meinung des DU zählt nicht, wird überhört oder übergangen. Redewendungen »Nie machst du etwas richtig!« – »Wie oft soll ich dir noch sagen ...« – »Dazu bist du doch einfach zu dumm, zu faul, zu blöd usw.« – »Immer machst du so ein Theater!« Innerer Zustand Er/sie ist bemüht, seine/ihre Gewichtigkeit herauszustellen; fühlt sich unsicher und wertlos; wenn ihm/ihr jemand gehorcht, hat er/sie wenigstens das Gefühl, etwas zu bedeuten; sieht bei anderen die Fehler, gesteht aber selbst keine Fehler ein.

Beschwichtigen ●

Vorschnelles Nachgeben um des lieben Friedens willen, den Konflikt herunterspielen

Verhalten Er/sie spricht mit einschmeichelnder Stimme; versucht zu gefallen und es allen recht zu machen; entschuldigt sich; stimmt versöhnlich; ist nett und fürsorglich; besänftigt; stimmt jedem und allem zu; bemäntelt gern. 86

Redewendungen »Was immer du willst, ist in Ordnung.« – »Ich will doch nur, dass du glücklich bist.« – »So war das doch nicht gemeint.« – »Ist ja schon gut.« – »Beruhige dich doch.« Innerer Zustand Gegenpol zum Anklagen; hält die eigene Meinung zurück aus Angst vor Auseinandersetzungen; will kein »Öl ins Feuer gießen«; kommt sich vor wie ein Nichts; fühlt sich wertlos, weil eigene Interessen und Bedürfnisse unterdrückt werden.

Rationalisieren ●

Alles rational erklären, Gefühle übergehen, »Über alles lässt sich doch vernünftig reden«

Verhalten Er/sie hat eine trockene, monotone Stimme; ist überaus vernünftig und korrekt; ohne Anschein eines Gefühls; wirkt kühl; zitiert Autoritäten; belehrt, beweist logisch etwas; erklärt und interpretiert (auch Gefühle); benutzt abstrakte Worte; Gefühle sind ihm/ihr äußerst suspekt (darauf ist kein Verlass), nur der Verstand zählt. Redewendungen »Wenn man genau bedenkt ...« – »Es gibt keinen Grund zur Aufregung.« – »Lass uns doch vernünftig darüber reden.« – »Herr X meint auch ...« – »Neulich habe ich gelesen, dass ...«

87

Innerer Zustand Neigt zum Perfektionismus; hat starke Verspannungen; fühlt sich leicht ausgeliefert; erlaubt sich keinen Fehler; muss über alles Bescheid wissen und ist daher in der Regel sehr gut informiert; vermeidet Gefühle, sie sind ihm äußerst unangenehm und machen ihn unsicher; lässt sich kaum berühren (oder zeigt es zumindest nicht), bleibt cool.

Ablenken ●

Sich dem Konflikt entziehen durch Ablenken vom Thema – eine Form von Flucht

Verhalten Er/sie tut so, als habe er/sie nicht verstanden; stellt sich unverständig und hilflos; lenkt von der Sache ab, indem das Thema gewechselt wird; redet über belanglose Dinge ohne Beziehung zu dem, was ein anderer sagt; spielt den Clown; geht einfach weg oder beschäftigt sich mit etwas anderem; macht witzige Bemerkungen. Redewendungen »Ich weiß gar nicht, wovon du redest.« – »Hast du Lust, heute mit mir ins Kino zu gehen?« – »Hast du schon gehört, dass ...?« – »Ach, da fällt mir ein, dass ich dir noch sagen wollte ...« – »Übrigens habe ich gehört, dass ...« Innerer Zustand Fühlt sich nirgendwo zugehörig; ist damit beschäftigt, den anderen auf ein weniger konfliktgeladenes Thema zu brin88

gen; hat Einsamkeits- und Zwecklosigkeitsgefühle, da eigene Anliegen zu kurz kommen; ist ziellos. Es gibt noch eine nonverbale Variante der Flucht: das schweigende Sich-zurück-Ziehen, für kein Gespräch mehr zugänglich sein:

Schweigen ●

Sich dem Konflikt entziehen durch Sprachlosigkeit

Verhalten Er/sie stellt sich stumm und taub, bricht den Kontakt dadurch ab; geht aus dem Raum; zieht sich stumm zurück; wirkt extrem abweisend und unzugänglich; setzt Schweigen eventuell als Strategie ein, um andere zu zermürben oder zu manipulieren (das muss aber nicht so sein!). Innerer Zustand Fühlt sich überfordert mit der Situation; weiß nicht mehr weiter; versucht mit heftigen Gefühlen innerlich fertig zu werden; erlebt unter Umständen eine innere Starre; braucht Zeit zum Nachdenken. Menschen, die auf diese Weise den Kontakt abbrechen, haben irgendwann aufgehört, daran zu glauben, dass ein Gespräch zur Klärung von Gegensätzen beitragen kann. Dahinter steht entweder die Erfahrung, mit den eigenen Argumenten nicht gehört worden zu sein, so dass Reden sinnlos erscheint, oder es war in der Herkunftsfamilie üblich, bei 89

Konflikten schweigend auseinander zu gehen. Manchmal kann auch das Verhalten des Gegenübers so doppeldeutig sein, dass man sich wie gelähmt fühlt und einem buchstäblich das Wort im Hals stecken bleibt. Durch das Schweigen wird der andere im Unklaren darüber gelassen, was eigentlich los ist. Das führt zu einer tiefen Verunsicherung beim Gegenüber. »Was habe ich denn getan?« ist dann die ständige Frage, und da keine Antwort kommt, schlägt die Verunsicherung in Wut um. Gleichzeitig provoziert das Schweigen massive Schuldgefühle besonders dann, wenn es von einer beleidigten Miene begleitet wird. Schuldgefühle sind umso schwerer zu ertragen, je weniger man deren Ursache kennt. Wenn die Spannung unerträglich geworden ist, gibt man lieber nach und lenkt wieder ein, auch wenn dabei ein unbefriedigtes Gefühl zurückbleibt. Für den Schweigenden hat es den Anschein, als sei der Konflikt nun bereinigt, und er kommt wieder aus seinem Schneckenhaus heraus. Er übersieht jedoch, dass der Konflikt lediglich aufgeschoben ist und bei nächster Gelegenheit wieder hervorbrechen kann. Dann beginnt das Spiel von neuem. Der einzige Ausweg aus diesem Teufelskreis besteht darin, dass der Schweigende den anderen wissen lässt, wie es in ihm aussieht. Er könnte sagen: »Was du sagst, macht mich ganz sprachlos (oder ratlos)«, »Wenn du das tust, fühle ich mich wie gelähmt« oder »Was du von mir verlangst, macht mich wütend«. Durch Sprechen bleibt der Kontakt bestehen und es kann geklärt werden, was an der Situation so schwierig ist. So weit die Beschreibung der bei uns gängigen Methoden der Konfliktlösung. Um es Ihnen zu erleichtern, sich in die genannten Verhaltensmuster hineinzuversetzen und sie nachzuerleben, will ich jene Handlungsweisen, in denen noch gesprochen wird, an einem Beispiel verdeutlichen. 90

Nehmen wir an, Eltern wollen erreichen, dass ihr neunjähriges Schulkind sein Zimmer aufräumt und Ordnung hält, stoßen dabei aber auf Widerstand. Wie reagieren sie? Anklagen: »Jetzt reicht’s mir aber! Wie es bei dir immer aussieht! Das ist ja schlimmer als im Schweinestall! Wenn du nicht sofort dein Zimmer aufräumst, kannst du was erleben!« Dahinter steht: Wenn ich dich genug einschüchtere, tust du vielleicht, was ich sage. Dann gibt es keinen langen Streit und ich muss mich nicht mit dir und diesem Thema auseinander setzen. Beschwichtigen: »Ach, entschuldige, wenn ich dich störe, aber ... hm ... könntest du vielleicht nachher dein Zimmer aufräumen? ... Aber mach nur erst fertig ... weißt du, es wäre doch nötig, mal Staub zu saugen, meinst du nicht auch?« Dahinter steht: Zwischen uns darf es nicht zum Gegensatz kommen, weil ich mich dann verloren fühle. Ich lege mich deshalb nicht fest und warte lieber ab, wie du reagierst, damit ich dir (äußerlich) zustimmen kann. Rationalisieren: »Nun, ich denke, es wäre angebracht, wenn wir uns einmal ganz vernünftig über den Zustand in deinem Zimmer unterhalten. Du weißt ja, ›Ordnung ist das halbe Leben‹ , und du wirst dich einfach leichter tun, wenn deine Sachen geordnet sind. Außerdem ist es aus hygienischen Gründen notwendig, regelmäßig Staub zu saugen.« Dahinter steht: Wenn meine Begründungen vernünftig und logisch genug sind, kann ich deine Gefühle und Empfindungen (denen ich nicht gewachsen bin) entkräften und du wirst mir nicht widersprechen. Damit gibt es keinen Gegensatz zwischen uns.

91

Ablenken (spricht vor sich hin oder zu einem anderen Familienmitglied): »Na ja, irgendwann müsste hier mal wieder aufgeräumt werden.« (Zum Kind): »Sag mal, wie war’s denn heute in der Schule?« (Zum anderen): »Ich gehe jetzt erst mal einkaufen, kommst du mit?« (Für sich): »Vielleicht kann ich ja nachher Staub saugen.« Dahinter steht: Wenn ich möglichst unklar bleibe, kann mich keiner auf eine Meinung festnageln und so vermeide ich jeden Gegensatz und die leidigen Auseinandersetzungen. Natürlich kommen die hier dargestellten Verhaltensmuster nicht immer in Reinkultur vor, sie können sich auch vermischen. Es kann zum Beispiel auf rationalisierende Art beschwichtigt werden: »Es gibt doch gar keinen Grund zur Aufregung, so habe ich es ja gar nicht gemeint.« Bei genauerer Betrachtung dieser gängigen Umgangsformen mit Konflikten fällt jedoch auf, dass sie allesamt eher den Versuch darstellen, Gegensätze zu vermeiden, statt zur Lösung eines Problems beizutragen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die folgenden Reaktionen häufig bei Kindern zu finden sind:

Mögliche Reaktionen des Kindes Reaktion auf anklagende Beschuldigungen Denkt: »Die hat heute aber wieder mal schlechte Laune; immer lässt sie es an mir aus, das werde ich ihr irgendwann heimzahlen.« Oder: »Nie kann ich was recht machen, vielleicht mag sie mich gar nicht.« Folge: Das Kind räumt nur auf, um Strafe zu vermeiden, und entwickelt Rachegefühle. Oder es reagiert rebellisch und geht in den Gegenangriff über. Dann eskaliert der Konflikt zunehmend und der »Kurzschluss« in der Beziehung ist un92

ausweichlich. – Oder das Kind räumt auf, um wieder gemocht zu werden. Das Kind lernt nicht, die Interessen und Bedürfnisse anderer als berechtigt gelten zu lassen, da es selbst auch nicht respektiert wird. Und es bekommt den Eindruck, sich Liebe und Zuneigung durch »Leistung« verdienen zu müssen. Reaktion auf nachgebendes Beschwichtigen Denkt: »Das brauche ich nicht ernst zu nehmen; ich kann hier machen, was ich will, es geschieht mir ja doch nichts; die sind auf mein Wohlwollen angewiesen; ich bin der Boss.« Folge: Das Kind räumt nur auf, wenn es selbst will. Es bekommt keine klare Orientierung und kann kein Gefühl für die Sinnhaftigkeit von Regeln und Normen entwickeln. Das Kind lernt nicht, die Bedürfnisse und Grenzen bei anderen zu respektieren, wenn diese nicht deutlich sagen, was sie wollen. Reaktion auf trockenes Rationalisieren Denkt: »Jetzt geht das wieder mit den Belehrungen los; ich kann es nicht mehr hören; diese Besserwisserei, hoffentlich ist er/sie bald fertig« (denkt an etwas anderes). Folge: Das Kind räumt zögernd und widerwillig auf, damit es seine Ruhe hat. Oder es beginnt seinerseits mit Rechtfertigungen und Erklärungen, was an der Unordnung so toll oder unverzichtbar ist. Beide überbieten sich dann mit ihren Begründungen und Argumenten und es geht nur noch darum, zu beweisen, wer Recht hat. Das Kind lernt nicht, sich in andere einzufühlen, wenn Gefühle überhaupt nicht gezeigt werden. Reaktion auf irritierendes Ablenken Denkt: »Ich weiß überhaupt nicht, was los ist; was will die denn von mir? Meint sie mich überhaupt? Am besten, ich 93

kümmere mich nicht darum; hier kann man ja nur verrückt werden.« Folge: Das Kind ignoriert das Gesagte. Oder es entwickelt ein provokatives Verhalten und räumt extra nicht auf, um endlich eine direkte Mitteilung zu bekommen, an der es sich orientieren kann. Das Kind lernt nicht, andere ernst zu nehmen und in eine sinnvolle Beziehung zu ihnen zu treten, wenn diese nicht deutlich Stellung beziehen. Es ist wohl sichtbar geworden, dass in all diesen Fällen ein Kind schwerlich die von Eltern angestrebte Einsicht in die Notwendigkeit von Ordnung erlangen kann, wobei dahingestellt sei, welche Wichtigkeit diese Normen für den Einzelnen tatsächlich haben. Keine der genannten Methoden zur Konfliktbewältigung führt letztlich zu einer befriedigenden Lösung. Stattdessen schwelt der Konflikt unter der Oberfläche weiter und vergiftet die so sehnlichst angestrebte friedfertige Atmosphäre in der Familie. Wenn es viele solcher unerledigter Themen in einer Familie gibt, tritt häufig die Tendenz auf, immer mehr von der Familie wegzustreben und sich nur noch um die eigenen Interessen zu kümmern. Die Lust, gemeinsam etwas zu unternehmen und sich dabei auf andere zu beziehen, geht allmählich verloren. Es macht sich dafür ein Gefühl von Leere und Sinnlosigkeit breit. Um aus dieser Lage wieder herauszukommen oder gar nicht erst hineinzugeraten, wäre es notwendig, sich den Konflikten offen zu stellen. Erst das Wahrnehmen und Akzeptieren von gegensätzlichen Standpunkten und Gefühlen sowie die Bereitschaft, offen darüber zu sprechen, ermöglichen eine fruchtbare und wachstumsfördernde Auseinandersetzung mit Konflikten. Dadurch wird ein Entscheidungsprozess in Gang gesetzt, in dessen Verlauf sich gemeinsam Lösungen finden lassen, die für beide Seiten an94

nehmbar sind, auch wenn dabei einmal auf etwas verzichtet werden muss. Voraussetzung dafür ist, dass jeder Beteiligte als individuelle Persönlichkeit mit eigenen Bedürfnissen und Überzeugungen gehört und ernst genommen wird. So kann eine Situation entstehen, in der jeder lernt, seinen Standpunkt zu finden, zu überdenken und zu vertreten, ohne dabei den anderen zu übergehen. In einer solchen Atmosphäre findet nicht nur Meinungsbildung statt, sondern wächst auch das Verständnis füreinander und die Bereitschaft, aufeinander zuzugehen und sich zu vertrauen. Mit anderen Worten: Es entsteht beim Einzelnen die Fähigkeit, Beziehungen einzugehen und aufrechtzuerhalten, statt bei der ersten Schwierigkeit gleich davonzulaufen oder ein Drama daraus zu machen mit Äußerungen wie: »Du liebst mich nicht, sonst würdest du tun, was ich verlange« oder »... sonst würdest du mir das Leben nicht so schwer machen«. Mit solchen Sätzen werden Zusammenhänge hergestellt, die jeglicher Grundlage entbehren und eine zu klärende Situation nur noch mehr verwirren. Wir haben nun ein Bild von den Schwächen der in unserer Gesellschaft gängigen Verhaltensmuster in Bezug auf Konfliktlösungen gewonnen. Das soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Verhaltensweisen auch ihre Stärken haben. Unter diesem Aspekt will ich sie noch einmal aufgreifen, um deutlich zu machen, welche Fähigkeiten im jeweiligen Verhalten ausgeprägt sind und welche noch zu entwickeln sind, damit eine Balance zwischen den Gegensätzen von ICH und DU sowie von Verstand und Gefühl entstehen kann.

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Anklagen ●

Angreifen, beschuldigen, kämpfen Stärke Durchsetzungsvermögen, Standfestigkeit; Mut, für sich selbst einzustehen; eigene Meinung äußern; lässt sich nicht so leicht unterkriegen; spricht Konflikte an.

Schwäche Das ICH überwiegt; das DU wird nicht wahrgenommen beziehungsweise übergangen; hört nicht zu; wirkt überheblich; die SACHE ist austauschbar. Lernprozess Auf das DU eingehen; das DU gelten lassen; die Bereitschaft zuzuhören; Einfühlungsvermögen entwickeln; sich selbst vertreten, ohne andere zu beschuldigen; Balance zwischen ICH und DU finden.

Beschwichtigen ●

Vorschnelles Nachgeben, den Konflikt herunterspielen Stärke Einfühlungsvermögen, Sensibilität; zuhören und verstehen; Interesse am Du haben; fähig zur Versöhnung; ausgleichend. Schwäche Das DU überwiegt; das ICH kommt zu

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kurz; die eigene Meinung wird zurückgehalten; mangelnde Selbstbehauptung; lässt andere im Unklaren über eigenen Standpunkt; die SACHE ist austauschbar. Lernprozess Ich-Stärke entwickeln; eigene Bedürfnisse und Interessen wahrnehmen und aussprechen; sich ernst nehmen; Ich-Aussagen machen; zu sich selbst stehen; Balance zwischen ICH und DU finden.

Rationalisieren ●

Alles rational erklären, Gefühle übergehen

Stärke Sachlichkeit; beruhigt eine emotionsgeladene Stimmung; vernünftig; verhandlungsbereit; ermöglicht Kompromisse. Schwäche Gefühle zählen nicht; die SACHE überwiegt; die Personen werden zu seelenlosen »Computern« reduziert; bleibt unberührbar. Lernprozess Die eigenen Gefühle wahrnehmen; Gefühle bei sich selbst und beim anderen zulassen und anerkennen; Balance zwischen Verstand und Gefühl finden.

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Ablenken ●

Sich dem Konflikt entziehen durch Ablenken vom Thema Stärke Entschärft die Situation; nimmt die Dinge leicht; hat Sinn für Humor; ist flexibel; kann eine rational festgefahrene Diskussion auflockern.

Schwäche Hektische Betriebsamkeit; ist ständig beschäftigt und nicht zu fassen; weicht aus; bietet keine Orientierung; die Personen bleiben ohne Bezug zur Sache. Lernprozess Sich zur SACHE äußern, Stellung beziehen; sich betreffen lassen; die eigene Meinung formulieren; zwischen Person und SACHE einen Bezug herstellen.

Schweigen ●

Sich dem Konflikt entziehen durch Sprachlosigkeit Stärke Selbstbeherrschung, -kontrolle, um nicht Dinge zu sagen, die man später bedauert; Abstand und Zeit zum Nachdenken gewinnen; neue Perspektiven entdecken.

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Schwäche Entzieht sich der Situation; wirkt abweisend; verursacht Schuldgefühle und Unbehagen; erhöht die Spannung. Lernprozess Sagen, was los ist; Orientierung geben, zum Beispiel: »Das macht mich sprachlos«, »Ich brauche eine Pause«, »Darüber muss ich erst nachdenken«, »Wir können später noch mal darüber reden« usw.; eigene Gemütsverfassung mitteilen. Stärken verwandeln sich in Schwächen, wenn sie einseitig gelebt werden. Stärken werden Schwächen, wenn der Gegenpol keinen Raum bekommt. An diesem Punkt wird besonders deutlich, was mit der Aussöhnung der Gegensätze gemeint ist. Jedes Ding hat zwei Seiten, und so, wie in der Natur erst das Zusammenwirken gegensätzlicher Pole wie Tag und Nacht, Sommer und Winter, Ebbe und Flut, heiß und kalt ein harmonisches Ganzes erzeugt, so entsteht auch im Zusammenleben von Menschen nur dann Harmonie, wenn ICH und DU, Verstand und Gefühl, Person und SACHE so miteinander in Einklang gebracht werden, dass keine der Seiten übergangen wird. Wer es lernt, bei Entscheidungen gegensätzliche Standpunkte zu berücksichtigen, ist in der Lage, Konflikten standzuhalten und sich mit ihnen konstruktiv auseinander zu setzen. Wenn jemand sich selbst und andere versteht, ist die Grundlage für befriedigende Lösungen gegeben. Virginia Satir nennt dieses Verhalten »kongruent« oder »fließend«.17

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Kongruentes Verhalten ●

Bemühen um Verständigung ●





Ich bin bei mir und teile mein Befinden und meine Vorstellungen mit; ich werde von dir gehört. Du bist bei dir und teilst dein Befinden und deine Vorstellungen mit; du wirst von mir gehört. Wir sehen, in welcher Situation wir beide uns befinden, und suchen nach einer für beide Seiten befriedigenden Lösung.

Jeder auf diese Weise bewältigte Konflikt hebt Hilflosigkeit auf, stärkt das Selbstwertgefühl und lässt Achtung vor sich selbst und vor dem anderen entstehen. Dadurch werden in uns psychische Energien freigesetzt, die zum Handeln zur Verfügung stehen. Anders als beim Versuch, Konflikte zu vermeiden, was Energien für die Verdrängung oder Unterdrückung der Konfliktsituation bindet. Im folgenden Schema wird das veranschaulicht:

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So gesehen ist es gar nicht der Konflikt an sich, der einem zu schaffen macht, sondern dass wir es oft nicht gelernt haben, uns einer unangenehmen Situation zu stellen und uns damit konstruktiv auseinander zu setzen. Aber diese Fähigkeit kann, wie so vieles, nachgelernt werden, wobei Lernen als Prozess zu verstehen ist, bei dem jemand durch ständiges Üben und Überwinden von gelegentlichen Rückschlägen langsam seinem Ziel näher kommt. Im nächsten Kapitel wenden wir uns daher einigen Aspekten zu, die bei der Verständigung eine wesentliche Rolle spielen. Übung Mit den folgenden Fragen können Sie eine Bestandsaufnahme Ihrer eigenen Situation im Umgang mit Konflikten durchführen: 101



● ● ●





Welche Verhaltensmuster bei der Konfliktbewältigung gab es in meiner Familie? (Anklagen, Beschwichtigen usw.) Welche dieser Muster habe ich gelernt beziehungsweise übernommen? Wie fühle ich mich dabei? Was erlebe ich daran eventuell als unbefriedigend? Wende ich je nach Situation verschiedene Verhaltensweisen an (zum Beispiel bei Autoritätspersonen eher beschwichtigend, bei Kindern eher anklagend)? Welche Methoden kann ich beim Kind/Partner erkennen? Was möchte ich gerne verändern? (Bei mir selbst, in meiner Familie) Bin ich bereit, mir Unterstützung für meinen Lernprozess zu holen? Bei wem? (Freunde, Partner usw.) Wo? (Kurse in der VHS, in einer Selbsthilfegruppe, mit einer Psychotherapie, bei einer Familienaufstellung usw., siehe Adressen am Ende des Buches)

Testauflösung: Mein Konfliktverhalten Kreuzen Sie in der nachfolgenden Tabelle an, welche Antwort Sie in der jeweiligen Situation gewählt haben.

Situation A

1

4

5

3

2

B

2

3

4

1

5

C

4

5

2

3

1

D

2

3

1

5

4

Ergebnis

9/1

1/9

5/5

1/1

9/9

102

Die Ergebniszahlen repräsentieren ein jeweils anderes Konfliktverhalten (siehe unten). Die Spalte, in der Sie senkrecht die meisten Kreuze haben, sagt etwas über Ihr übliches Konfliktverhalten aus. Es kann auch sein, dass sich Ihre Kreuze auf zwei oder mehr Spalten verteilen. In diesem Fall verhalten Sie sich je nach Situation flexibel. 9/1: Anklagen Kampf; sich durchsetzen unter Einsatz von Macht und Drohungen; andere übergehen, beschuldigen, herabsetzen, ICHoder-DU- beziehungsweise Sieger-Verlierer-Mentalität. 1/9: Beschwichtigen Vorschnell nachgeben; sich unterwerfen; zurückstecken; auf eigene Ziele/Interessen verzichten; glätten; harmonisieren; Meinungsverschiedenheiten herunterspielen. 5/5: Rationalisieren Kompromiss; jeder rückt von seiner Maximalforderung ab; die emotionale Betroffenheit bleibt unberücksichtigt; Entscheidungen ohne Gefühl. 1/1: Ablenken, Schweigen Flucht; Vermeidung von Auseinandersetzungen; auf ein anderes Thema ausweichen; Rückzug; gar nichts tun; Konflikte ja nicht aufrühren. 9/9: Konsens Gemeinsames Konfliktlösen; Für und Wider abwägen; kreative Zusammenarbeit; trotz Widerständen und Rückschlägen eine beiderseits optimale Lösung finden wollen; jeder gewinnt.

103

104

6 Aspekte der Verständigung Ich glaube daran, dass das größte Geschenk, das ich von jemandem empfangen kann, ist, gesehen, gehört, verstanden und berührt zu werden. Das größte Geschenk, das ich geben kann, ist, den anderen zu sehen, zu hören, zu verstehen und zu berühren. Wenn dies geschieht, entsteht Kontakt. Virginia Satir

Wenn Menschen miteinander in Beziehung treten oder miteinander zu tun haben, teilen sie sich gegenseitig mit, was sie brauchen oder sich wünschen, wie sie sich fühlen, was sie vom anderen erwarten oder was sie zu tun beabsichtigen. Bei diesem Vorgang der Verständigung treten mitunter Störungen auf, die ihrerseits Ursache für Missverständnisse sind und Konflikte eskalieren lassen. Verständigung ist also nicht immer so einfach und gleicht eher einem Hindernislauf als einem gemütlichen Spaziergang. Das gilt insbesondere bei Konfliktsituationen. Bei den Aspekten, die sich auf das Gelingen oder Misslingen von Verständigung auswirken, handelt es sich um

105

● ● ●

die Kommunikation als Grundlage der Konfliktklärung; die Bedeutung, die wir den »Dingen« unserer Umwelt geben; den Selbstwert und die Identität (Persönlichkeit).

Alle diese Aspekte hängen miteinander zusammen (siehe Abbildung) und ich will im Folgenden näher darauf eingehen, damit mögliche Störungen rechtzeitig erkannt und vermieden werden können. offen

ho

versteckt

Kommunikation he rS

formt elb stw

ert

beeinflusst

Identität und Selbstwert

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verzerrt je nach Ausprägung unsere

Wahrnehmung Deutung

Kommunikation – Grundlage der Konfliktklärung Unter Kommunikation verstehen wir den Austausch von Informationen mit dem Ziel der Verständigung mit unserer Umwelt. Dabei kann als Information all das angesehen werden, was Menschen sich mitteilen, was sie miteinander teilen, woran sie den anderen teilhaben lassen. Die eigentliche Be106

deutung von Kommunikation (abgeleitet vom lateinischen »communicatio«) ist also Mitteilung und Anteilnahme. Sie ist die Grundlage menschlichen Zusammenlebens und Handelns. Das aufeinander bezogene Handeln zwischen Personen (auch Interaktion genannt) findet durch Kommunikation statt und ist geprägt von ● ● ● ● ● ●

der Persönlichkeitsstruktur der Beteiligten (zum Beispiel Identität, Selbstwert, Temperament), den gegenseitigen Erwartungen und Vorstellungen, unserer unterschiedlichen Wahrnehmung, der Einschätzung und Deutung der jeweiligen Situation (auf Grund früherer Erfahrungen), unseren Gefühlen und den Bedingungen des gesellschaftlichen Umfeldes (zum Beispiel: Was ist in dieser Situation »erlaubt« oder angebracht?).

Im Wesentlichen geht es bei der Kommunikation um die Fragestellung:

Wie teile ich mich verständlich mit, damit der/die andere mich versteht?

Das ICH als Sender von Informationen

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Wie höre ich wirklich zu, damit sich der/die andere von mir verstanden fühlt?

Das ICH als Empfänger von Informationen

Wir bedienen uns dabei nicht nur der Sprache (verbale Kommunikation). Eine wesentlich größere Rolle bei der Verständigung spielen Gestik, Mimik und Tonfall, denn diese bestimmen darüber, wie das Gesagte verstanden wird (nonverbale Kommunikation). Der tägliche Umgangston in der Familie schafft das Beziehungsklima, in dem Kinder aufwachsen: Es kann warm oder kalt sein, freundlich oder frostig, ermutigend oder niederschmetternd, verständnisvoll oder verletzend, einsichtig oder verwirrend. All das drückt sich in der Art aus, wie Menschen miteinander reden. Vielleicht erinnern Sie sich noch daran, in welchem Beziehungsklima Sie selbst aufgewachsen sind, welche Spuren das bei Ihnen hinterlassen hat und wie dadurch Ihr Wohlbefinden und Ihr Selbstbild beeinflusst wurden?

Wie Missverständnisse entstehen Es hat wohl jeder schon die enttäuschende Erfahrung gemacht, dass es beim Versuch, etwas mitzuteilen, zu Missverständnissen gekommen ist, die sich in der Folge bis zu handfesten Auseinandersetzungen ausgeweitet haben. Das hat verschiedene Ursachen. Betrachten wir zunächst einmal an einem Schema die einzelnen Elemente, die Teil jeder Kommunikation sind: 108

Normalerweise sind uns diese einzelnen Elemente der Kommunikation nicht bewusst. Besonders die drei Schritte beim Empfangen von Mitteilungen laufen so schnell ab, dass sie kaum unser Bewusstsein erreichen. Lassen Sie uns daher jetzt genauer untersuchen, an welchen Stellen der Kommunikation die Ursachen für Missverständnisse zu finden sind.

Was beim Senden schief gehen kann ●

Versteckte Mitteilungen

Versteckt bedeutet: Statt von mir zu sprechen (offen), spreche ich über den anderen (versteckt). Ich verstecke meine wahren Gedanken und Gefühle hinter Anklagen, Beschuldigungen, Vorwürfen oder hinter Worten wie »man« (tut das nicht), »alle« (sind der Meinung, dass ...) oder »wir« (haben das noch nie so gemacht) usw. 109

Wir sagen nicht immer, was wir wirklich denken, erwarten, wünschen oder fühlen. Entweder weil wir innerlich unklar sind oder weil wir auf Grund von Ängsten und Tabus in bestimmten Situationen unsere wahren Absichten verstecken. Das geschieht dann, wenn unser »strategisches inneres Kind« mit all seinen Ängsten die Führung in uns übernimmt. Je mehr wir uns selbst »verstecken«, desto unklarer werden unsere Mitteilungen und desto mehr muss der Empfänger raten, was wir meinen. Das führt unweigerlich zu Fehldeutungen, denn niemand hat Zugang zu unseren Gedanken, Gefühlen oder Motiven, nur zu unseren hörbaren Worten und unserer sichtbaren Körpersprache. Ein solches Verhalten bringt viel Ungewissheit und Verwirrung in unsere Beziehungen und kann Unmut oder Aggressionen beim Gegenüber auslösen.

Was beim Empfangen schief gehen kann ●

Selektive Wahrnehmung

Unsere Wahrnehmung wird von vielen verschiedenen Faktoren beeinflusst, zum Beispiel von unseren bisherigen Erfahrungen, Bedürfnissen und momentanen Gefühlen, von unserer guten oder schlechten Laune, von Stress oder Zeitdruck, von Sympathie oder Antipathie, von der hierarchischen Struktur einer Situation usw. 110

All diese Dinge wirken wie ein Filter und können unsere Wahrnehmung einschränken, so dass ein Teil der Information nicht bei uns ankommt. Das bedeutet, dass unsere Wahrnehmung in der Regel selektiv (auswählend) ist. ●

Subjektive Deutung und Wertung

Wir können nur deuten, was wir wahrnehmen. Wenn wir also auf Grund unserer selektiven Wahrnehmung nicht alles mitbekommen, was der andere meint, kann auch unsere Deutung nicht korrekt sein.

Unsere Deutungen hängen von den Überzeugungen und Werten ab, die wir im Laufe unserer früheren Erfahrungen entwickelt haben. Daher kann es sein, dass zwei Menschen zwar dieselben Worte benutzen, aber jeweils etwas anderes darunter verstehen, was zu erheblichen Missverständnissen führt. Zum Beispiel ist Unordnung für den einen ein »rotes Tuch«, für den anderen dagegen ein Zeichen von Wohlbefinden. Unsere Selbsteinschätzung spielt bei der Deutung und Wertung einer Situation eine große Rolle. Wenn unser Selbstwert niedrig ist, neigen wir zu ängstlichen Gedanken; wir erwarten dann, abgelehnt zu werden, und fühlen uns schnell angegriffen. Bei hohem Selbstwert sind wir vertrauensvoller, offener, aufnahmefähiger und nicht so leicht angreifbar und gereizt. 111

Zusammenfassend können wir sagen, dass die Deutung und Wertung einer Situation immer subjektiv ist, auch wenn wir oft meinen, objektiv zu sein. Das Sich-verständlich-Machen ist also gar nicht so einfach. Entweder drückt sich jemand unklar aus und/oder das Mitgeteilte wird anders wahrgenommen und aufgefasst, als es gemeint war. Beides kann zu erheblichen Konflikten führen, weil ständig aneinander vorbeigeredet wird. Am folgenden Beispiel möchte ich die genannten Punkte verdeutlichen: Eine Mutter fragt ihren Sohn in anklagendem Tonfall und mit resigniertem Gesichtsausdruck: »Warum kannst du eigentlich nie dein Zimmer aufräumen?« Hierbei handelt es sich um eine versteckte Mitteilung, bei der weder die Gedanken noch die Gefühle der Mutter eindeutig zum Ausdruck kommen: ● ● ●

Will sie eine Grundsatzdiskussion führen, will sie, dass ihr Sohn aufräumt oder will sie ihren (berechtigten) Ärger ausdrücken?

Da sie nicht offen von sich selbst spricht, bleibt ihr Sohn im Unklaren und muss nun raten, was gemeint ist, was sie ihm eigentlich sagen will und wie sie zu ihm steht. Aus der Mitteilung hört er auf Grund der Erfahrungen mit der Mutter eine Anklage heraus und nimmt diese vorrangig wahr. Seine selektive Wahrnehmung meldet ihm: »Ich werde angegriffen.« Die wahrgenommene Anklage bedeutet für den Sohn zum Beispiel: »Immer nörgelt sie an mir herum, was hat sie bloß gegen mich?« (Deutung) Durch seine Deutung bekommt er nicht nur das Gefühl, im Unrecht zu sein, sondern auch, nicht gemocht zu werden. (Gefühl) Das drängt ihn in eine Verteidigungsposition und in eine Abwehrhaltung. Nie112

mand gibt gern zu, dass er im Unrecht ist, und ganz unerträglich für ein Kind ist die Gefahr von Liebesverlust. Der Sohn denkt: »Das kann ich nicht auf mir sitzen lassen.« Seine Reaktion fällt entsprechend seiner Deutung und seinem dadurch entstandenen Gefühl aus. (»Dagegen muss ich mich wehren.«) Die Folge ist ein Endlosstreit darüber, wer im Recht oder im Unrecht ist, während die eigentliche Thematik ungelöst bleibt: wie die beiden eine für beide Seiten akzeptable Regelung finden können, was die Unordnung betrifft, und ob sich der Sohn trotz allem angenommen und geliebt fühlen kann. Versteckte Kommunikation drückt sich in Du-Botschaften oder in Verallgemeinerungen aus und führt fast immer zu Missverständnissen. Das Gespräch wird in eine ganz andere Richtung gelenkt, als ursprünglich beabsichtigt war. Statt zur Lösung von Konflikten beizutragen, wozu eine offene Kommunikation in der Lage ist, wird Kommunikation auf diese Weise ins Gegenteil verkehrt. Versteckte Mitteilungen schaffen durch ihre Mehrdeutigkeit neue Konflikte. Die Frage ist hier: Was hindert die Mutter daran, ihre Absicht oder ihr Gefühl oder beides klar und unmissverständlich auszudrücken? Zweifelt sie vielleicht daran, einen Wunsch äußern zu dürfen, nämlich Ordnung zu verlangen? Oder hat sie sich fest vorgenommen, niemals ärgerlich zu sein, weil sie nicht so werden will wie ihr Vater oder ihre Mutter? Oder befürchtet sie, mit ihrem Wunsch – wie so oft – doch nicht gehört zu werden, und versucht sie einem Nein aus dem Weg zu gehen? Die Gründe können unterschiedlich sein, beruhen jedoch in der Regel auf ihren früheren Erfahrungen. 113

Wer als Kind mit seinen Absichten, Wünschen und Gefühlen nicht ernst genommen, sondern lächerlich gemacht, verspottet oder ausgenutzt wurde, hat gelernt, sich nicht mehr offen zu zeigen, um sich vor solch verletzenden Reaktionen zu schützen.

Ausdruck von Gefühlen Gerade im Gefühlsbereich sind viele Menschen stark verunsichert und verschlossen, weil sie in der Kindheit die Erfahrung gemacht haben, dass bestimmte Gefühle wie Ärger, Wut, Eifersucht, Schmerz, Trauer nicht erlaubt waren. Leider gelten diese Gefühle in unserem Kulturkreis als »negativ«, was andeutet, dass sie irgendwie schlecht oder verkehrt sind und deshalb verborgen werden müssen. Aber die Unterdrückung lässt diese Gefühle nicht verschwinden, sondern sie tauchen an anderer Stelle in versteckter Form wieder auf. Der angestaute Ärger (oder Enttäuschung usw.) verursacht ein Unbehagen, das sich unter Umständen in explosionsartigen Ausbrüchen Luft macht, sich in Unpünktlichkeit zeigt oder die stumme Leidensmiene des ewig Beleidigten annimmt. Gefühle, egal, welcher Art, sind jedoch immer berechtigt und machen unser Leben lebendig. Allerdings müssen Gefühle als natürlicher Bestandteil menschlichen Seins akzeptiert und zugelassen werden. Beherrschen heißt nämlich nicht unterdrücken. Wer lernt, sich zu seinen unterschiedlichen Gefühlen und Befindlichkeiten zu bekennen, drückt sie offen aus und kann sie dann ebenfalls seinem Gegenüber zugestehen. Versuchen Eltern aber, einem Kind seine Gefühle auszureden, weil sie selbst damit nicht zurechtkommen, tragen sie zur Verunsicherung des Kindes bei. Zur Entwicklung eines gesunden Selbstvertrauens ist es notwendig, dass ein 114

Kind seiner eigenen Wahrnehmung und seinen Gefühlen trauen darf. Sonst wird es orientierungslos und bleibt abhängig von der Bestätigung durch andere. Kommen wir noch einmal auf das vorgenannte Beispiel zurück. Eine offene Mitteilung der Mutter könnte beispielsweise so lauten: ●







»Für mich ist es sehr unbehaglich, wenn hier so eine Unordnung ist und ich fühle mich mit meinem Wunsch nach mehr Ordnung nicht ernst genommen.« (Klare Ich-Botschaft: Die Mutter zeigt etwas von sich selbst) »Das macht mich richtig ärgerlich, weil ich auf deine Unterstützung gehofft habe.« (Authentisches Gefühl mit Begründung) »Ich möchte mit dir eine Regelung finden, mit der wir beide leben können.« (Die Mutter sagt deutlich, was sie will und bezieht den anderen mit ein) »Wir können dann nach einiger Zeit überprüfen, wie es funktioniert oder ob wir noch einmal eine neue Regelung treffen wollen.« (Vorschlag zum weiteren Vorgehen zeigt Flexibilität)

Die klare Ich-Aussage enthält keine Anklage gegen den Sohn, der sich dadurch nicht angegriffen fühlt und sich nicht ungeliebt vorkommt. Die Mutter zeigt in diesem Fall deutlich, wie es ihr geht und was sie erwartet. Sie sagt also etwas über sich selbst aus. Das ist mit Offenheit gemeint. Die Aussage beinhaltet außerdem einen Verfahrensvorschlag und bezieht das Kind bei der Entscheidung mit ein. Dadurch hat der Sohn die Möglichkeit, ganz anders auf den Wunsch der Mutter zu reagieren. Er kann lernen, sich auf die Bedürfnisse von anderen einzustellen. 115

Ich-Aussagen schaffen einen Spielraum, der dem anderen erlaubt, anders zu sein. Es erfordert ein gewisses Maß an Selbsterkenntnis und Mut, sich zu sich selbst zu bekennen und seine Verletzlichkeit sichtbar zu machen. Falls diese Fähigkeit bei Ihnen unterentwickelt ist, müssen Sie sich diesen Mut erst wieder aneignen. Kinder können hier gute Lehrmeister sein, weil sie noch ungeschminkt und geradeheraus sagen, wie ihnen zumute ist. An diesem Beispiel möchte ich nochmals darauf hinweisen, dass bei einer Kommunikation nicht nur Inhalte mitgeteilt werden, sondern durch die Art, wie etwas gesagt wird, wird gleichzeitig auch die Beziehung zum Gegenüber zum Ausdruck gebracht: ob mir der andere wichtig ist, ob ich ihn mag, ob ich ihn respektiere, ob ich mich ihm überlegen fühle oder ob ich vor ihm Angst habe. Diese Einstellung zum anderen schwingt in jeder Aussage mit und drückt sich in Gestik, Mimik und Tonfall aus. Der Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick hat dieses Phänomen eingehend untersucht und kommt zu dem Schluss: »Jede menschliche Kommunikation hat einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt, wobei die Beziehung bestimmt, wie der Inhalt verstanden wird.«18 Zur Veranschaulichung dieser Aussage kann der Vergleich mit einem Eisberg herangezogen werden, bei dem nur ein kleiner Teil sichtbar ist, während der weitaus größte Teil des Eisbergs unter der Wasseroberfläche liegt und unsichtbar bleibt:

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Nach diesem Modell entsprechen Worte der Spitze eines Eisbergs, während die nonverbale Körpersprache unsere Einstellungen, Motive, Gefühle usw. zum Ausdruck bringt und den unteren Teil des Eisbergs ausmacht. Dieser untere Teil beinhaltet all das, worüber nicht gesprochen wird, was aber sehr wohl empfunden und als »Bauchgefühl« (Intuition) wahrgenommen wird. Wie jeder weiß, finden die Kollisionen mit einem Eisberg in der Regel unterhalb der Oberfläche statt – und so ist es auch bei der Kommunikation. In unserem Beispiel ist die Beziehung der Mutter zu ihrem Sohn getrübt durch den Ärger, den sie nicht deutlich ausdrückt (zum Beispiel: »Ich bin ärgerlich, weil ...«), so dass auch ihre Aussage mehrdeutig wird und der Sohn daher nicht genau weiß, woran er ist. Es gehört zu den ganz alltäglichen Situationen, dass Eltern ihr Kind einerseits lieben, andererseits aber wegen seines Verhaltens verärgert oder enttäuscht sind. Erst die Vorstellung, man dürfe nicht ärgerlich sein auf jemanden, den man liebt, macht die Sache kompliziert. Beziehungen sind meist ambivalent, besonders jene zwischen Eltern und Kind, und es ist besser, offen damit umzugehen. Es würde beiden Seiten 117

die Schuldgefühle ersparen – Kindern geht es umgekehrt mit den Eltern ebenso. Wie der Psychologe Friedemann Schulz von Thun aufgezeigt hat, gibt es neben der Inhalts- und Beziehungsebene noch zwei weitere Aspekte, die für die Verständigung eine Rolle spielen: ● ●

Der Sender zeigt immer auch etwas von sich selbst (Selbstoffenbarung) und es wird eine Aufforderung zum Ausdruck gebracht, wenn auch oft nur versteckt (Appell).

Die vier Seiten einer Mitteilung hat Schulz von Thun mit dem 19 folgenden Schema veranschaulicht:

1) Worüber ich informiere (Inhaltsebene)

2) Was ich von mir selbst zeige (Selbstoffenbarung)

Mitteilung

4) Wozu ich dich veranlassen möchte (Appell)

3) Was ich von dir halte und wie wir zueinander stehen (Beziehungsebene)

Bezogen auf das vorgenannte Beispiel bedeutet das:

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1) Das Zimmer ist nicht aufgeräumt. (Inhaltsebene)

2) Ich bin ärgerlich, resigniert und weiß nicht, was ich noch tun soll, um von dir gehört zu werden. (Selbstoffenbarung)

Warum kannst du eigentlich nie dein Zimmer aufräumen?

4) Räum endlich auf! (Aufforderung, Appell)

3) Du bist ungehorsam und ich mag dich nicht, wenn du mir nicht folgst. (Beziehungsebene)

Unter Berücksichtigung all dieser unterschiedlichen Aspekte wird noch einmal deutlich, wie leicht es zu Missverständnissen kommen kann und wie viel Achtsamkeit notwendig ist, um eine verständnisvolle Kommunikation zu führen.

Zusammenfassung Eine offene und ehrliche Kommunikation, die tatsächlich zur Verständigung beiträgt, bedarf gewisser Voraussetzungen: ●





Ich-Aussagen lassen erkennen, woran jemand bei mir ist und was er von mir zu erwarten hat. (»Ich mag dich, aber was du gerade tust, macht mich wütend.«) Sich zu den eigenen Gefühlen bekennen, selbst wenn diese »negativ« oder widersprüchlich sind, und das damit verbundene Unbehagen vorübergehend aushalten. (Je mehr positive Erfahrungen Sie damit machen, desto mehr verringern sich Ihre Ängste.) Aufmerksam zuhören und bei Unklarheiten rückfragen: »Was willst du mir wirklich sagen?«, »Wie soll ich das verstehen?«, »Was meinst du damit?« usw. (siehe Kapitel 7). 119



Beim Hören/Sehen/Fühlen sich selbst fragen: »Was bedeutet das für mich, wie fasse ich das auf?«

Übung Welche der folgenden Mitteilungen stellen eine offene beziehungsweise versteckte Kommunikation dar? Über wen sagen die Sätze jeweils etwas aus: Über das ICH oder über das DU? offene Ich-Botschaft 1. Immer trödelst du so lange herum. 2. Wenn du doch bloß mal pünktlich sein könntest. 3. Ich werde ganz unsicher, wenn du mir nicht zuhörst. Mir ist es wichtig, mit dir darüber zu sprechen. 4. Mir ist es sehr peinlich, wenn du das tust. 5. Du hörst mir aber auch gar nie zu. 6. Ich werde ganz nervös, wenn du so rumtrödelst, weil ich noch so viel zu erledigen habe. Das bringt mich in Stress. 7. Du bist einfach zu faul, um mir mal im Haushalt zu helfen. 8. Es macht mich ärgerlich, wenn ich so lange auf dich warten muss. Das bringt meinen ganzen Zeitplan durcheinander. 9. Das gehört sich nicht. Merk dir das endlich!

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versteckte Du-Botschaft

offene Ich-Botschaft

versteckte Du-Botschaft

10. Ich bin sehr enttäuscht darüber, dass ich den ganzen Haushalt alleine machen muss. Ich brauche einfach deine Unterstützung.

Die richtigen Antworten finden Sie am Ende dieses sechsten Kapitels auf Seite 141. Versteckte Du-Botschaften sagen etwas über den anderen aus und teilen nichts über den Sprechenden selbst mit. Wenn jemand zu seinen Gefühlen nicht steht, drückt er sie versteckt und in einer anklagenden Art aus, die den anderen ins Unrecht setzt. Eine offene Ich-Botschaft sagt etwas über den Sprechenden selbst aus. Übung ● ● ● ●

Bei welchen Gefühlen wird mir unbehaglich zumute? Welche Gefühle waren in meiner Herkunftsfamilie tabuisiert? Zu welchen meiner Gefühle stehe ich nicht und drücke sie daher versteckt und in anklagendem Ton aus? Welche Gefühle versuche ich meinen Kindern/meinem Partner auszureden? (Zum Beispiel: »Das ist doch gar nicht so schlimm!«, »Stell dich nicht so an!« oder »Sei doch nicht gleich so empfindlich!«)

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Die Bedeutung der Dinge Die Dinge verändern sich nicht. Das Einzige, das sich verändert, ist deine Sichtweise. Carlos Castaneda

In diesem Abschnitt geht es um die Bedeutung, die die »Dinge« unserer Umwelt für uns haben, um unsere subjektive Sichtweise und darum, wie diese Bedeutung unser Fühlen 20 und Handeln beeinflusst. Der Begriff »Ding« oder Objekt ist dabei sehr weit gefasst, er meint alles, was der Mensch in seiner Welt wahrzunehmen vermag: physikalische Objekte: Stuhl, Schrank, Teller, Tasse, Baum; soziale Objekte: Mutter, Bruder, Tochter, Onkel, Student; abstrakte Objekte: moralische Prinzipien (Ge- und Verbote wie »Du sollst nicht lügen«), Ideen wie Mitleid, Gerechtigkeit und Ehrlichkeit sowie Handlungen anderer Personen, zum Beispiel ihre Erwartungen, Wünsche oder Forderungen. Alles, was wir wahrnehmen, auch die Handlungen und Mitteilungen anderer Personen, wird von uns interpretiert, das heißt, die »Dinge« unserer Umwelt nehmen für uns eine bestimmte Bedeutung an, wir bilden uns eine Meinung darüber, auf deren Grundlage wir dann handeln. Diese Meinung ist gefärbt von unseren bisherigen Erfahrungen, unseren ganz persönlichen Vorstellungen und Erwartungen. Bedeutungen entstehen im täglichen Zusammenleben mit anderen Menschen, und zwar durch die Art und Weise, in der andere in Bezug auf ein bestimmtes »Ding« handeln. Ein Kind beginnt eines Tages, die Gegenstände seiner Umgebung zu erforschen. Es greift nach den Dingen, es be-greift sie und sieht, was andere damit tun. Vielleicht hört es auch begleitende Worte: »Das ist eine Puppe, die kann man lieb haben«, »Das ist ein Stuhl, darauf sitzt man«, »Das 122

ist ein Auto, damit fahren wir zur Oma« usw. Auf diese Weise lernt ein Kind die physikalischen Objekte und ihre Bedeutungen kennen. Viel früher hat es schon gelernt, was ihm die Gegenwart von Mutter, Vater oder Geschwistern bedeutet und wie diese sozialen »Objekte« seine Gefühlslage beeinflussen. Noch später kommen dann die abstrakten Inhalte hinzu, unter anderem, was in bestimmten alltäglichen Situationen zu tun und zu lassen ist. Wenn wir die ganz unterschiedlichen Lebensumstände berücksichtigen, unter denen Menschen aufwachsen, so ist leicht nachvollziehbar, dass dasselbe »Objekt« oder dieselbe Situation unterschiedliche Bedeutung für verschiedene Personen haben kann. Ein Beispiel: Ein dreijähriges Mädchen kommt mit einer vollen Saftflasche die Treppe herunter. Die Mutter sieht es und lässt sie gewähren. Sie weiß aus Erfahrung, dass ihre Tochter recht geschickt ist, und freut sich über die wachsende Selbstständigkeit ihres Kindes. In diesem Moment kommt der Vater nach Hause. Er sieht sein Kind auf halber Höhe der Treppe und erschrickt. »Um Gottes willen, wenn sie hinfällt, sie ist doch noch so klein«, denkt er und eilt zu seiner Tochter, um ihr die Flasche wegzunehmen. Für die Tochter ist das Verhalten des Vaters nicht verständlich, sondern eher verwirrend, denn sie selbst hat das Gefühl, das kann ich schon, und denkt vielleicht gerade: »Schau mal, Papa, was ich schon kann!« Sein Verhalten aber verunsichert sie und sie lässt die Flasche fallen. Hier wurde die Handlung der Tochter unterschiedlich gedeutet. Der Vater, der selbst als Kind lange Zeit in Abhängigkeit von seiner Mutter gehalten wurde, die alles für ihn tat, konnte sich einfach nicht vorstellen, dass ein dreijähriges Kind schon so selbstständig sein kann. So bekam er jedes Mal Angst, wenn seine Tochter etwas tat, das er ihr noch nicht zu123

traute, und versuchte sie an ihrem Tun zu hindern. Die Mutter hingegen hatte größeres Zutrauen zu den Fähigkeiten ihrer Tochter. Sie selbst war mit mehreren Geschwistern aufgewachsen und hatte einen größeren Handlungsspielraum in ihrer Familie erlebt. Dadurch war sie in den Dingen des täglichen Lebens weniger ängstlich als ihr Mann. So ist es nicht erstaunlich, dass Menschen Seite an Seite und doch in so verschiedenen Welten leben können. An diesem Beispiel wird wieder sichtbar, worauf die unterschiedlichen Vorstellungen über Erziehung zurückzuführen sind, die oft Ursache für erhebliche Zerwürfnisse zwischen Ehepaaren oder Lebenspartnern sein können. Die Vorstellungen vom Elternsein, die Bedeutung also, die der Elternrolle zugeordnet wird, basieren auf der damaligen Erfahrung und wirken sich auf das heutige Verhalten aus (siehe Kapitel 4, Abbildung Seite 67). Statt sich also gegenseitig Vorhaltungen zu machen, könnte die Frage »Was bedeutet denn diese Situation für dich?« eher zur Klärung von gegensätzlichen Standpunkten beitragen und das Verständnis füreinander fördern.

Verantwortung für unsere Gefühle übernehmen Beim vorgenannten Beispiel wird auch erkennbar, dass die Deutung einer Situation darüber entscheidet, wie wir uns fühlen:

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Der Vater handelt aus dem Gefühl der Angst, die durch seine subjektive Deutung dieser Situation entstanden ist, während die Mutter auf Grund ihrer Deutung ein Gefühl der Gelassenheit empfindet. Im Klartext heißt das: Wir sind für unsere Gefühle selbst verantwortlich. »Was andere sagen oder tun, mag der Auslöser für unsere Gefühle sein, ist aber nie die Ursache.«21 Gefühle sind das Ergebnis unserer Deutungen und Meinungen sowie unserer Erwartungen und Bedürfnisse in der jeweiligen Situation. Darin liegt eine große Freiheit, denn ich selbst entscheide über mein Wohlergehen oder mein Unglück. Im Volksmund heißt das: »Jeder ist seines Glückes Schmied«, und ich möchte ergänzen: »auch seines Unglückes Schmied«. Wie häufig machen wir andere für unseren Ärger, unsere Enttäuschung oder unser Unbehagen verantwortlich? Wenn wir von jemandem etwas haben möchten, was dieser uns nicht geben kann oder will, und wir darüber verzweifelt sind, glauben wir automatisch, es liege am anderen, dass wir unglücklich sind. Das ist ein Irrtum. Unser Gefühl der Verzweiflung ist oft eine Gewohnheit unseres »inneren Kindes«, das früher auf ähnliche Situationen mit Verzweiflung reagiert hat. Damals hat das Kind, das wir einmal waren, vielleicht eine Deutung entwickelt, die lautet: »Ich bin nicht liebenswert, sonst würden mir meine Eltern das nicht abschlagen (oder nicht antun).« Nicht liebenswert zu sein ist für ein Kind äußerst bedrohlich, weil es dann befürchtet, nicht mehr das zu bekommen, was es zum Leben braucht. Wir wiederholen also als Erwachsene ständig die Vergangenheit, auch wenn wir jetzt ganz andere Entscheidungen treffen und dadurch neue Erfahrungen machen könnten.

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Statt unserer Umwelt unvoreingenommen zu begegnen, wirken die in uns gespeicherten Erfahrungen wie ein Filter, durch den wir die Gegenwart wahrnehmen und erleben. Um aus diesem Wiederholungskreislauf herauszukommen, brauchen wir die Bereitschaft, unsere Voreingenommenheit in Frage zu stellen: Ist die Situation wirklich so, wie ich sie deute? Oder kann ich sie auch anders deuten? Das wird sich dann auch auf mein Gefühl auswirken. Gerade in Konfliktsituationen ist es sehr wichtig, das Tempo zu verlangsamen und innezuhalten, damit die beteiligten Personen bemerken können, was in ihrem Inneren gerade passiert. Im Buddhismus wird diese Art nach innen zu schauen als »innere Achtsamkeit« bezeichnet. Zunächst gelingt das Innehalten am ehesten, wenn wir unser Gefühl wahrnehmen und uns dann bewusst werden, wie wir die Situation denn gedeutet haben, bevor wir reagieren. Dann haben wir die Wahl, besonnener zu handeln. Mit einiger Übung gelingt das Innehalten schon bei der Wahrnehmung, so dass wir bewusst unsere Deutung mitbekommen.

Wie sehr unsere Deutungen die Wirklichkeit verzerren können, hat Paul Watzlawick sehr anschaulich in der folgenden Geschichte erzählt: 126

»Ein Mann will ein Bild aufhängen. Den Nagel hat er, nicht aber den Hammer. Der Nachbar hat einen. Also beschließt unser Mann, hinüberzugehen und ihn auszuborgen. Doch da kommt ihm ein Zweifel: Was, wenn der Nachbar mir den Hammer nicht leihen will? Gestern schon grüßte er mich nur so flüchtig. Vielleicht war er in Eile. Aber vielleicht war die Eile nur vorgetäuscht und er hat was gegen mich. Und was? Ich habe ihm nichts angetan; der bildet sich da etwas ein. Wenn jemand von mir ein Werkzeug borgen wollte, ich gäbe es ihm sofort. Und warum er nicht? Wie kann man einem Mitmenschen einen so einfachen Gefallen abschlagen? Leute wie dieser Kerl vergiften einem das Leben. Und dann bildet er sich noch ein, ich sei auf ihn angewiesen. Bloß weil er einen Hammer hat. Jetzt reicht’s mir wirklich. – Und so stürmt er hinüber, läutet, der Nachbar öffnet, doch bevor er ›Guten Tag‹ sagen kann, schreit ihn unser Mann an: ›Behal22 ten Sie sich Ihren Hammer, Sie Rüpel!‹ « Dieser Mann hat also sein »inneres Heimkino« (= seine Deutung) für die Wahrheit gehalten und entsprechend reagiert. Kennen Sie ähnliche Vorgänge auch bei sich? Jeder Einzelne handelt auf der Grundlage dessen, was die Handlung oder Mitteilung des anderen ihm bedeutet. Daraus folgt konsequenterweise: Will ich das Verhalten von Menschen verstehen, muss ich die Bedeutungen kennen, die sie den »Dingen« ihrer Umwelt zuordnen. Unter diesem Gesichtspunkt ist letztlich jedes Verhalten sinnvoll, da jeder nach seiner Sicht der »Dinge« handelt. Für Außenstehende mag das nicht immer nachvollziehbar sein, denn sie sehen die »Dinge« von ihrem – anderen – Standpunkt. Und hier beginnen oft die langwierigen Auseinander127

setzungen, die nie zu einem befriedigenden Ergebnis führen, weil jeder versucht, den anderen von der Richtigkeit seiner Vorstellungen zu überzeugen. Dem anderen aber erlauben, anders zu sein, ist oft sehr schwer, besonders wenn man sich selbst in einer Sache nicht so sicher ist. Dann besteht – oft unbewusst – ein großes Bedürfnis, vom anderen Zustimmung zu bekommen, während eine gegensätzliche Meinung noch stärker verunsichert. Viele meinen auch, wenn sie den anderen verstehen, bedeute das, den eigenen Standpunkt aufgeben zu müssen. Nein, das muss nicht so sein, es sei denn, man ist wirklich von der anderen Position überzeugt worden. Eltern befürchten auch oft, ihre Autorität den Kindern gegenüber zu verlieren, wenn sie mal unsicher sind oder ihren Standpunkt ändern. Dabei ist es für die Orientierung der Kinder viel wertvoller, wenn sie authentische Eltern haben, als solche, die stur irgendwelche Regeln einhalten, auch wenn diese der momentanen Situation gar nicht angemessen sind. Es geht nicht darum, wer im Recht ist (jeder ist es auf seine Weise), sondern wie wir trotz der Gegensätze unser Leben gemeinsam gestalten. Die Möglichkeit, Gegensätze nebeneinander bestehen zu lassen, wird oft nicht ins Auge gefasst. Das liegt wohl an der weit verbreiteten Auffassung, eine glückliche Partnerschaft oder Familie zeichne sich dadurch aus, dass man niemals verschiedener Meinung ist, dass zum Beispiel die Freizeit »immer« gemeinsam gestaltet werden muss. Das ist eine Illusion. Es gibt persönliche Unterschiede im Erleben und die können nicht wegdiskutiert oder verschwiegen werden. Aber die Bereitschaft, Gegensätze bestehen zu lassen und sich darüber auszutauschen, macht einen wieder offen für vorhandene Gemeinsamkeiten. 128

Wer mehr darüber wissen will, kann es einmal mit folgender Übung versuchen: Sie setzen sich im Kreis zusammen, entspannen sich und schließen zur besseren Konzentration die Augen. Jetzt sagen Sie ein Wort, zum Beispiel »Baum« (Blume, Haus usw.). Anschließend teilt jeder mit, welche Art von Baum oder Blume usw. er gesehen hat. In der Regel tauchen sehr unterschiedliche Baumbilder auf, aber es gibt auch Übereinstimmungen. Wenn Sie die Übung mit Kindern machen, könnte jedes seinen Baum zuerst malen und anschließend darüber sprechen. Daran könnte sich ein Gespräch darüber anschließen, dass Menschen die Dinge verschieden sehen, dass sie auch unterschiedlich fühlen und es deshalb keinen Grund gibt, andere dafür auszulachen oder sie nicht ernst zu nehmen. Jeder ist in Ordnung, so, wie er ist, denkt und fühlt. Um mehr über die verschiedenen Gefühlswelten zu erfahren, kann dieselbe Übung auch mit dem Wort »Mutter« (Vater, Lehrer usw.) durchgeführt werden, wobei jeder mitteilt, welche Gefühle das Wort bei ihm ausgelöst hat. Hier können sich die Unterschiede von »kuscheliges, warmes Gefühl« bis zu »Mir ist ganz kalt geworden« erstrecken. Es ist wichtig, jedem sein Gefühl zu lassen, es nicht zu rechtfertigen oder wegzuerklären mit Äußerungen wie »Aber deine Mutter hat doch sicher auch gute Seiten gehabt« oder »Damals hatte sie es aber auch sehr schwer«. Das mag zwar zutreffen, aber all diese Erklärungen ändern ja nichts am persönlichen Gefühl. Erst wenn ein so genanntes negatives Gefühl akzeptiert wird, kann es sich umwandeln, etwa in ein Bedauern darüber, dass damals zum Beispiel die Mutter leider nicht anders gehandelt hat.

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Übung Die folgenden Fragen können dazu dienen, sich mehr über das eigene Leben und die dabei entstandenen Bedeutungen und Sichtweisen bewusst zu werden: ● ●

● ● ● ● ● ● ●

Wie habe ich selbst als Kind Erziehung erlebt? Welche Vorstellungen vom Elternsein habe ich dabei entwickelt? (Zum Beispiel: Das mache ich auch so, das will ich anders machen, das will ich meinem Kind ersparen usw.) Welche heutige Situation mit Kindern oder dem Partner erlebe ich als konflikthaft? Welche Bedeutung hat diese Situation für mich und wie fühle ich mich damit? Sehe ich einen Zusammenhang mit einer ähnlichen Situation aus meinem früheren Leben, meiner Kindheit? Wie bin ich damals damit umgegangen und wie habe ich mich dabei gefühlt? Wie könnte ich die damalige Situation aus heutiger Sicht umdeuten und wie verändert das mein Gefühl? Wie wirken sich die früh gelernten Bedeutungen auf mein heutiges Handeln aus? Welche Bedeutung hat mein Partner/meine Partnerin für mein Leben?

Selbstwert und Identität Wer nur bei anderen »ankommen« will, wird niemals bei sich selber ankommen. Eugen Drewermann

So wie wir allmählich die Bedeutung von Personen und Gegenständen unserer Umgebung erlernen, so lernen wir beim Heranwachsen auch unsere eigene Bedeutung in dieser Welt, 130

und damit verknüpft ist unsere Vorstellung vom eigenen Wert. »Gefühle und Vorstellungen, die man über sich selbst hat«, nennt die Familientherapeutin Virginia Satir den 23 Selbstwert. Sie führt aus, »dass der entscheidende Faktor für das, was sich in einem Menschen abspielt, die Vorstellung 24 von dem eigenen Wert ist, die jeder mit sich herumträgt«. Dieser Wert kann entweder hoch (positiv) oder niedrig (negativ) sein und umfasst die ganze Variationsbreite zwischen diesen beiden Polen. Er gibt dem Einzelnen ein gewisses Lebensgrundgefühl, das Ausgangspunkt dafür wird, wie weitere Erfahrungen mit der Umwelt gedeutet werden. Ein Mensch mit hohem Selbstwertgefühl »weiß, dass er etwas bedeutet und dass die Welt ein kleines Stückchen reicher ist, weil er da ist. Er glaubt an seine eigenen Fähigkeiten. (...) Weil er sich selber wertschätzt, kann er auch den Wert seiner Mitmenschen wahrnehmen und achten. Er strahlt Vertrauen und Hoffnung aus.«25 Menschen mit niedrigem Selbstwertgefühl dagegen strahlen Misstrauen, Unsicherheit und Ablehnung aus. »Weil sie sich selber wenig wert finden, erwarten sie von ihren Mitmenschen, dass sie 26 sie hintergehen, mit Füßen treten und verachten.« Durch ihr Misstrauen von »anderen Menschen entfernt, werden sie unansprechbar und gleichgültig gegen sich selbst und andere« und kommen daher eher in Gefahr, »andere zu überge27 hen und zu verletzen«. Auf welche Weise entsteht nun das Gefühl für den eigenen Wert? Kann im Menschen ein Wissen um den Selbstwert unabhängig von der Umwelt entstehen? Oder ist es nicht vielmehr so, dass die Entstehung von Selbstwert und Selbstachtung eng mit dem Grad des Ansehens verbunden ist, den man bei anderen hat? Wie schon erwähnt, entwickeln sich Bedeutungen auf Grund von Erfahrungen, die wir mit der Umwelt machen. So 131

prägen auch die Erfahrungen mit den frühen Bezugspersonen unser Selbstwertgefühl, einmal durch die Art und Weise, wie diese uns gegenüber handeln, zum anderen durch Zuschreibungen wie »Du bist lieb, du bist brav, du bist aber ungeschickt, du bist dumm, du bist Mamas Liebling, du machst alles falsch, du gehst mir auf die Nerven«. Virginia Satir schreibt dazu: »Ein neugeborenes Kind hat keine Vergangenheit, keine Erfahrungen im Umgang mit sich selbst und keinen Maßstab, an dem es seinen eigenen Wert messen könnte. Es muss sich verlassen auf die Erfahrungen mit seiner Umwelt und die Botschaften, die es von dort bekommt hinsichtlich seines Wertes als Mensch. (...) Jedes Wort, jeder Ausdruck im Gesicht oder in der Haltung und jede Handlung der Eltern gibt dem Kind einen Hinweis über 28 seinen Wert.« Diese Worte könnten bei manchen Eltern die altbekannten Perfektionsphantasien aufkommen lassen wie »Ich darf nie meinen Ärger zeigen, damit mein Kind keinen Schaden nimmt«. Jeder, der ehrlich mit sich selbst ist, weiß, dass das nicht geht. Entscheidend ist vielmehr, ob Gefühle wie Ärger, Zorn usw. versteckt in einer Anklage ausgedrückt werden oder ob die Eltern offen von sich selbst und ihren Gefühlen sprechen, so dass das Kind sich nicht abgewertet fühlt. Nicht akzeptierendes und anklagendes Verhalten beruht unter anderem darauf, dass sich Eltern ihrer Aufgabe nicht immer gewachsen fühlen und überfordert sind, und zwar aus Gründen, die in ihrer eigenen Lebensgeschichte liegen. Wenn es Eltern gelingt, diese Überforderung als Grenze ihrer Belastbarkeit zu sehen und dafür zu sorgen, den eigenen »Energietank« wieder aufzufüllen, können sie ihrem Kind signalisieren, dass auch sie ihre Grenzen haben. Dann braucht sich das Kind nicht als Last zu empfinden und sein Selbstwert im Sinne eines positiven Lebensgrundgefühls wird nicht so leicht erschüttert. 132

Ein Beispiel: Eine Mutter sagt: »Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen ist gar nicht so einfach für mich. Manchmal fühle ich mich überfordert und unter Stress und dann reagiere ich gereizt. Das tut mir dann hinterher Leid.« Dadurch zeigt sie etwas von sich (offene Mitteilung) und vermeidet so, ihr Gereiztsein in einer Anklage gegen das Kind auszudrücken (versteckte Mitteilung): »Du bist eine Nervensäge.« Diese Aussage kränkt und verunsichert das Kind bezüglich seines Selbstwertes. Selbstwert entsteht dadurch, dass man von anderen beurteilt wird. Man sieht sich so aus der Perspektive der anderen und schätzt sich entsprechend ein. Das jeweils vermittelte Gefühl von Wert oder Unwert prägt das Bild, das jemand von sich hat. Somit ist die Entstehung von Selbstwert eng verknüpft mit dem Prozess der Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung. Lothar Krappmann, auf den ich mich hier beziehe, beschreibt Identität (= wer ich bin) als Balanceakt zwischen den Anforderungen des ICH (Triebe, Bedürfnisse, Wünsche = was ich will) und den Anforderungen der sozialen Umwelt (was andere von mir wollen beziehungsweise erwarten). Er spricht daher von »Balancierender Identität«29 und unterscheidet dabei einen persönlichen (inneren) und sozialen (äußeren) Aspekt:

133

Persönliche Identität

Soziale Identität

etwas Besonderes, Einmaliges sein; sich unterscheiden

so sein wie alle anderen

sich gegen allgemeine Erwartungen abgrenzen

sich den allgemeinen Erwartungen anpassen

wie ich mich sehe

wie andere mich sehen

Selbstbild

Fremdbild

Balancierende Identität

Identität ist demnach das Ergebnis der Auseinandersetzung zwischen dem persönlichen und dem sozialen Aspekt der Identität, zwischen Selbstbild und Fremdbild. Es ist eine immer wieder neu zu erbringende Leistung des Einzelnen, diese beiden Aspekte in Einklang zu bringen, also sowohl eigene Bedürfnisse und Wünsche als auch die Erwartungen der sozialen Umwelt bei unseren Entscheidungen und Handlungen zu berücksichtigen. Kommt eine der zwei Seiten auf Dauer zu kurz, entsteht ein Ungleichgewicht, das von Unbehagen begleitet ist. Wenn ein Kind tun und lassen kann, was es will, und von außen keinerlei Grenzen erfährt, wird es sozusagen »entgrenzt«. Der persönliche Aspekt der Identität kann sich endlos ausdehnen und bekommt dadurch ein Übergewicht, weil im sozialen Bereich keine Begrenzung erlebt wird. Die Folge ist zu starke Ich-Bezogenheit mit der Gefahr,

134

● ● ●

die anderen mit eigenen Bedürfnissen zu tyrannisieren; aus der Gemeinschaft der anderen ausgeschlossen zu werden (weil sich das keiner gefallen lassen will); sich selbst von den Mitmenschen abzusondern (weil die einen ja doch nur enttäuschen).

Wer so – ohne Grenzen – aufwächst, entwickelt kaum ein Gefühl für den Mitmenschen und für äußere Notwendigkeiten. Vielmehr wird er von seinen Gefühlen und Wünschen überflutet und lernt nicht, diese Impulse angemessen zu begrenzen, so dass auch noch andere neben ihm Platz haben. Er kann die Balance zwischen persönlicher und sozialer Identität nicht herstellen und damit seine Mitte nicht finden. Eine Überbetonung der persönlichen Identität entsteht bei zu großer Nachgiebigkeit von Eltern, die schwer nein sagen können. Auch hierzu ein Beispiel: Eine Mutter, die selbst sehr unter der übergroßen Strenge ihrer Eltern gelitten hatte, wollte diese Strenge ihren eigenen Kindern ersparen. Sie verfiel ins andere Extrem, indem sie ungeachtet ihrer eigenen Bedürfnisse den Kindern völlig freie Hand ließ. Heute sind sie herangewachsen, und die Mutter musste erkennen, dass ihre Kinder mit dem Leben nicht zurechtkommen, »weil ich sie verzogen habe«, wie sie sich ausdrückte. Grenzen bedeuten nicht nur Einschränkung, sondern auch Orientierung, vorausgesetzt, das rechte Maß wird gefunden. Damit kommen wir zur anderen Seite der Medaille: Wird zu viel Gewicht auf den sozialen Aspekt der Identität gelegt, wird also vom Kind verlangt, sich streng nach bestehenden Regeln und Normen, Ge- und Verboten zu richten, ohne der persönlichen Identität ausreichend Spielraum zu lassen, so kann beim Kind entweder Überangepasstheit entstehen oder es rebelliert gegen zu enge Grenzen. Bei der 135

Überanpassung wird das Kind bemüht sein, es immer allen recht zu machen, und es kann daher keine eigene – vielleicht gegensätzliche – Meinungsbildung stattfinden. Das Besondere, Einmalige eines Menschen wird so zu einem Schattendasein verurteilt, aus dem es nur gelegentlich hervorbricht und dann mit Schuldgefühlen verbunden ist. Auch hier kann die eigene Mitte nicht gefunden werden, solange der persönliche Bereich nicht leben darf. Erst durch den Ausgleich der persönlichen und sozialen Identität entsteht eine Ausgewogenheit im Menschen, die ihn befähigt, für sich und andere verantwortungsvoll zu handeln, weil er weder sich selbst noch den anderen übergeht. WER BIN ICH?

persönliche IDENTITÄT

soziale IDENTITÄT

Bedürfnisse Temperament Talente

Ge- / Verbote Regeln Normen Werte

GEFÜHLE

VERSTAND

Was WILL ich?

Was SOLL ich?

Eigenständigkeit

Anpassung

Mitte

Wie ENTSCHEIDE ich? HANDLUNG Verantwortung

136

Die Mitte zwischen beiden Aspekten ist nicht statisch, sondern muss in jeder neuen Situation unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände durch ein Abwägen und Ausbalancieren immer wieder neu gefunden werden. Besonders die Pubertät ist eine Zeit, in der dieses Abwägen zwischen »Was will ich?« und »Was soll ich?« bei Jugendlichen einen großen Raum einnimmt. Gerade in diesem schwierigen Übergang von der Kindheit zum Erwachsenendasein sind Jugendliche damit beschäftigt, aus ihren bisherigen Erfahrungen ein stimmiges Selbstbild, eine Identität zu entwerfen, mit eigenen Regeln und Normen, mit eigenen Überzeugungen und Interessen, die denen der Eltern durchaus widersprechen können. Jugendliche lösen sich allmählich aus der Abhängigkeit von den Eltern und suchen ihren Weg in die Unabhängigkeit. Und das ist auch richtig und wichtig, denn sonst können sie nicht wirklich Verantwortung für ihr Leben übernehmen. Natürlich ist das ein Prozess, der sich über Jahre hinzieht und Verständnis und Geduld erfordert. Für die Eltern bedeutet diese Zeit ein Loslassen der Kinder und eine Neuorientierung für die Gestaltung ihres eigenen weiteren Lebens. Das beinhaltet auch die Auseinandersetzung mit dem Älterwerden. Wie die Ausgewogenheit zwischen persönlicher und sozialer Identität erlangt werden kann, vor allem unter dem Aspekt der Konfliktfähigkeit, werde ich im Kapitel 7 ausführlich behandeln. Zusammenfassend kann festgestellt werden: ●

Selbstwert und Ich-Identität sind das Ergebnis von Kommunikationsprozessen, in denen sich der Einzelne mit seiner Umwelt auseinander setzt und dabei ein Bild von sich selbst und seiner Umwelt formt. 137



Selbstwert und Ich-Identität beeinflussen umgekehrt auch die Kommunikation mit anderen (Partner/in, Kinder). Jeder handelt auf der Grundlage dessen, wie er sich selbst sieht, zum Beispiel schwach, hilflos, unsicher, stark, überlegen, gleichwertig usw., unter Berücksichtigung der Beziehung, die er zum anderen hat, und der Bedeutung, die er ihm beimisst.

Wer im Laufe des Heranwachsens ein relativ festes und anerkennendes Gefühl seines Selbstwertes entwickeln konnte, wird später nicht so leicht durch äußere Einflüsse zu erschüttern sein. Wem das jedoch nicht gelungen ist, der wird überempfindlich auf äußere Achtung oder Missachtung reagieren: Die Achtung braucht er, um sein schwaches Selbstwertgefühl zu stützen; die Missachtung bedroht ihn in seiner gesamten Existenz und muss daher abgewehrt werden, wobei jedes In-Frage-Stellen der eigenen Handlungen durch andere schon als persönliche Missachtung gedeutet wird. Daran wird erkennbar, welchen Einfluss der Selbstwert auf den Umgang mit Konflikten hat: ● ●

Wer ein starkes Selbstwertgefühl hat, hält Konflikten besser stand. Menschen mit schwachem Selbstwertgefühl neigen eher dazu, Konflikten aus dem Weg zu gehen, um eine Erschütterung ihres schwachen Selbstwertes zu vermeiden.

Wer zufrieden stellend mit seiner Umwelt in Beziehung treten will, muss unter anderem die Fähigkeit entwickeln, Konflikten standzuhalten.

138

Übung ● ● ●

Wie sehe ich mich? (Selbstbild) Zum Beispiel neugierig, klug, langsam, impulsiv, nachdenklich usw. Wie haben mich meine Eltern gesehen? (Fremdbild) Wie sehen mich meine Freunde? (Fremdbild)

Sprechen Sie über die Unterschiede, die Sie vielleicht entdecken, mit einem vertrauten Menschen. ●

● ●

Konnte ich meine persönliche und soziale Identität in gleichem Maße entwickeln oder ist eine Seite auf Kosten der anderen zu kurz gekommen? Wenn ja, wie wirkt sich das auf mein heutiges Leben, meine Beziehungen aus? Welche Schritte könnte ich unternehmen, um einen Ausgleich zwischen persönlicher und sozialer Identität herzustellen? Wer könnte mich dabei unterstützen?

In Bezug auf die Partnerschaft und die eigenen Kinder sind folgende Fragen von Bedeutung: ● ● ● ●

Wie sehe ich mein Kind? (Welche Eigenschaften hat es?) Wie sehe ich meinen Partner/meine Partnerin? Welche Vorstellungen habe ich darüber, wie mein Kind sein »sollte«? Was erwarte ich von einer Partnerschaft?

Fragen zum Selbstwert 1. Was verletzt und schwächt mein Selbstwertgefühl? ¨ ¨ ¨ ¨ ¨

Angriffe/Vorwürfe Zurechtweisung Unterdrückung Bevormundung Nichtbeachtung 139

¨ ¨ ¨ ¨

Ausgrenzung Kritik negative Vorurteile mir gegenüber Sonstiges: ...

Wie reagiere ich, wenn mein Selbstwertgefühl verletzt wird? ¨ ¨ ¨ ¨ ¨ ¨ ¨ ¨ ¨ ¨ ¨

Verunsicherung Rückzug/Schweigen beleidigt sein verletzt sein unterwürfiges, passives Verhalten ängstliches, nachgiebiges Verhalten aggressive, unsachliche Gegenangriffe Traurigkeit cool bleiben, mir nichts anmerken lassen Überheblichkeit Sonstiges: ...

2. Was stärkt und unterstützt mein Selbstwertgefühl? ¨ ¨ ¨ ¨ ¨ ¨ ¨ ¨ ¨ ¨ ¨

Lob/Anerkennung Zustimmung Respekt/Wertschätzung Zuneigung/Liebe Mut machen konstruktive Kritik Vertrauen/mir etwas zutrauen Gleichberechtigung Potenziale erkennen und nutzen Verantwortung übernehmen Sonstiges: ...

Wie fühlt sich das an? 140

3. Womit könnte ich das Selbstwertgefühl bei anderen stärken?

Richtige Antworten zu den Fragen auf Seite 120 f.: offene Ich-Botschaft

versteckte Du-Botschaft

1.

X

2.

X

3.

X

4.

X

5. 6.

X X

7. 8.

X X

9. 10.

X X

141

7 Konfliktfähig werden Gewinnen ist mehr als siegen. Anonym

Nachdem wir uns mit der Entstehung von Konflikten, gängigen Methoden der Konfliktlösung und wichtigen Aspekten der Verständigung beschäftigt haben, geht es nun um das Entwickeln von Fähigkeiten, die einen zufrieden stellenden Umgang mit Konflikten ermöglichen. Wodurch kann es gelingen, zwischen ICH und DU, zwischen eigenen und fremden Bedürfnissen und Interessen, zwischen inneren und äußeren Notwendigkeiten so zu gewichten, dass ein Ausgleich zwischen den Gegensätzen entstehen kann, keine der beteiligten Personen übergangen wird und in der SACHE eine angemessene Lösung gefunden wird? Es ist mir bewusst, dass das Lesen dieses Buches allein vermutlich nicht reichen wird, um Handlungsmuster zu verändern beziehungsweise neue zu entwickeln. Es dient hauptsächlich dazu, die Aufmerksamkeit auf bestimmte Dinge zu lenken, die Wahrnehmung zu schärfen und Einstellungen zu erkennen und zu hinterfragen. Da das eigene Erleben ein wesentlicher Teil von Lernprozessen und eine notwendige Ergänzung für den Erkenntnisprozess ist, kann ich nur hoffen, dass Sie die Anregungen, Fragestellungen und Übungen in diesem Buch wirklich nutzen, um auch Ihr Erleben und

143

Empfinden miteinzubeziehen. Um mit Goethe zu sprechen: »Es ist nicht genug zu wissen, man muss es auch anwenden; es ist nicht genug zu wollen, man muss es auch tun.« Wenn wir davon ausgehen, dass sowohl das ICH als auch das DU gesehen, gehört und ernst genommen werden wollen, müssen wir den Mut aufbringen, einerseits für uns selbst einzustehen (Selbstbehauptung) und andererseits unser Gegenüber mit Respekt und Achtung zu behandeln, damit er/sie die Selbstachtung bewahren kann (Wertschätzung). Um dies zu erreichen, brauchen wir die folgenden vier Fähigkeiten:30 Identität zeigen Das heißt sichtbar machen der Individualität durch Mitteilung eigener Vorstellungen, Wünsche, Gefühle und Erwartungen = Ich spreche von mir und nicht über andere. Abgrenzung gegenüber Erwartungen Das heißt nein sagen können, sich gegen Erwartungen und Forderungen abgrenzen, Regeln und Normen in Frage stellen und eventuell abändern = Ich setze klare Grenzen. Einfühlungsvermögen Das heißt sich in die Lage des anderen versetzen, Interesse haben an seiner Sicht der Dinge, sich auf den anderen einstellen können = Ich höre zu und achte »deine Welt«. Toleranz für Gegensätze Das heißt aushalten von widersprüchlichen Erwartungen oder Situationen sowie ertragen von unvollständiger Bedürfnisbefriedigung = Ich halte die Spannung zwischen den Gegensätzen vorübergehend aus und kann auch mal verzichten (Frustrationstoleranz).

144

Konstruktives Konfliktverhalten

Risiko:

Risiko:

Überheblichkeit

Zurückweisung

Identität zeigen

Abgrenzung gegenüber Erwartungen Selbstbehauptung Selbstachtung

Existenz

ICH

VERSTÄNDIGUNG durch Kommunikation

DU

Koexistenz

Respekt/Achtung Wertschätzung Einfühlungsvermögen

Toleranz für Gegensätze

Risiko:

Risiko:

Überanpassung

Verunsicherung

Diese vier Fähigkeiten sind nicht nur geeignet, eine innere Balance zwischen persönlicher und sozialer Identität herzustellen, sondern sind ebenfalls die Grundlage zur Entwicklung von Konfliktfähigkeit, bei der es ja auch um das Ausbalancieren von Gegensätzen geht. So, wie es eine Leistung des 145

Individuums ist, »seine Normalität zu demonstrieren, ohne 31 auf seine Einzigartigkeit zu verzichten«, so ist es auch eine Leistung des Einzelnen, bei Konflikten weder sich selbst noch den anderen zu übergehen. Auf diese Weise werden Sie zum Gewinner und machen auch andere zu Gewinnern.

Selbstbehauptung – Das ICH stärken Das wichtigste Instrument für den Umgang mit unseren Mitmenschen ist die eigene Persönlichkeit. Ich muss dieses Instrument, also mich selbst, gut kennen, um zu wissen, wie ich durch meine Einstellungen und Verhaltensweisen das Verhalten anderer zum Guten wie zum Schlechten beeinflusse, ob ich mir dessen bewusst bin oder nicht. Das »Erkenne dich selbst« am Eingang zum Apollotempel in Delphi ist eine jahrtausendalte Weisheit von ewiger Gültigkeit und steht am Beginn jeder Verhaltensänderung. Daher stelle ich die beiden Fähigkeiten Identität zeigen sowie Abgrenzung gegenüber Erwartungen an den Anfang der folgenden Betrachtungen, denn diese Fähigkeiten setzen Selbsterkenntnis voraus und befähigen uns zur Selbstbehauptung.

Identität zeigen Werde, wer du bist. Georg Wilhelm Friedrich Hegel

Was heißt Identität zeigen? Alle Menschen haben ein Grundbedürfnis gemeinsam: Sie wollen wahrgenommen, also gesehen und gehört werden. Es gibt uns das Gefühl, vorhanden zu sein und anderen etwas zu bedeuten. 146

Wenn es uns wichtig ist, wahrgenommen zu werden, müssen wir allerdings auch etwas von uns zeigen. Der andere muss etwas von uns erfahren, damit er sich ein Bild von uns machen kann. Wir müssen also den Mut haben, uns so ehrlich wie möglich mitzuteilen – auch wenn das manchmal unbequem ist – und unser Gegenüber wissen lassen, was wir brauchen oder was wir uns wünschen, wie wir uns fühlen, was wir vom anderen erwarten, was uns stört und was wir zu tun beabsichtigen. Das ist keine Garantie für die Erfüllung unserer Wünsche, wohl aber eine Voraussetzung dafür, als eigenständige Person wahrgenommen zu werden und dem anderen eine klare Orientierung zu geben. Je offener und klarer meine Aussagen sind, desto sicherer weiß der andere, woran er bei mir ist, und desto weniger Raum bleibt für Fehldeutungen und Missverständnisse. Bezug nehmend auf das Kapitel 6 möchte ich noch einmal auf die Wirkung von offenen und versteckten Mitteilungen aufmerksam machen. Lassen Sie einmal die folgenden Aussagen auf sich wirken und spüren Sie nach, welches Gefühl diese jeweils bei Ihnen auslösen:

offen Ich spreche von mir (Ich-Botschaft)

versteckt Ich spreche über dich (Du-Botschaft)



Ich fühle mich heute sehr erschöpft und brauche Ruhe.



Du bist wirklich eine Nervensäge!



Es macht mich ärgerlich, wenn du unpünktlich bist, weil es meinen Tagesablauf durcheinander bringt.



Warum kannst du nie pünktlich zum Essen kommen!?

147

offen Ich spreche von mir (Ich-Botschaft)

versteckt Ich spreche über dich (Du-Botschaft)



Es verunsichert mich sehr, wenn es dir nicht schmeckt; jetzt weiß ich gar nicht mehr weiter.



Immer nörgelst du am Essen herum; dir schmeckt aber auch gar nichts!



Ich mache mir große Sorgen um dich, wenn du in der Schule so schlechte Noten schreibst.



Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du dich mehr anstrengen sollst, du Faulpelz!

Welche dieser Aussagen geben Ihnen als Zuhörer ein angenehmeres Gefühl? In welchen Sätzen wird die sprechende Person sichtbarer? Wahrscheinlich entdecken Sie, dass die Ich-Botschaften eindeutiger sind und mehr Verständnis in Ihnen auslösen, weil Sie sich nicht angegriffen fühlen. Umgekehrt geht es anderen mit Ihnen, wenn Sie sich offen ausdrücken. Mit Offenheit ist hier nicht gemeint, dass ich dem anderen mal so richtig die Meinung sage und ihm zu verstehen gebe, was für ein Idiot, Trottel, Faulpelz usw. er ist. Diese Art von Beschimpfung entsteht, wenn wir in Stresssituationen ausrasten. Offenheit bedeutet, mich so zu zeigen, wie mir zumute ist. Mit dem Sichtbarmachen der eigenen Befindlichkeit nimmt ein Mensch natürlich Raum ein, er beansprucht sozusagen Aufmerksamkeit, und das ist sein gutes Recht. Aber offenbar fällt es nicht jedem leicht, dieses Recht auch in Anspruch zu nehmen, denn die Kehrseite davon ist, dass wir uns damit auch verletzbar machen. Wer aber nicht den Mut hat, sich im 148

wahrsten Sinne des Wortes zuzumuten, bleibt für andere wenig greifbar und kann nicht damit rechnen, wahrgenommen oder gar ernst genommen zu werden. Es wird ihm wohl auch schwer fallen, diesen Raum seinen Mitmenschen zuzugestehen. Wenn doch, dann stellt sich oftmals ein ärgerliches Gefühl ein – vielleicht auch Neid –, weil die anderen »sich so viel herausnehmen«. Diese Haltung ist häufig bei überlasteten Müttern zu finden, die den Eindruck haben, nur noch für die anderen da zu sein. Sie merken sicher schon, dass dieser Abschnitt insbesondere jene Menschen ansprechen soll, die mehr Ich-Stärke entwickeln müssen, um ein Gleichgewicht zwischen ICH und DU zu finden; ebenso jene Menschen, die nicht zu ihren Gefühlen stehen und diese eher verdrängen, statt sie angemessen auszudrücken, und die dadurch zu verstandesbetont wirken. Voraussetzungen, um Identität zu zeigen Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, um offene und ehrliche Aussagen machen zu können? Es ist wohl zunächst unumgänglich, sich selbst gegenüber aufmerksam zu sein, sich selbst wahrzunehmen, sich über die Fragen »Wie geht es mir mit dem anderen?«, »Was ist mir wichtig?«, »Was will ich?« Gedanken zu machen. Im Einzelnen bedeutet es das Bewusstwerden von Bedürfnissen Wünschen Gefühlen Erwartungen Einstellungen

sich selbst gegenüber

anderen Personen bestimmten Situationen

usw.

149

Es geht um den persönlichen Aspekt der Identität, der für manchen – zumindest teilweise – verschüttet ist. Über sich selbst Bescheid zu wissen, sich ernst zu nehmen und sich die eigenen Bedürfnisse und Gefühle auch einzugestehen, ist eine Grundvoraussetzung für ehrliche, offene Kommunikation. Ich kann mich schwerlich »zeigen«, wenn ich nichts über mich weiß, wenn ich kein Bewusstsein von mir habe. Wie Sie sich selbst besser kennen lernen können, ist im Kapitel über das »innere Kind« ausführlicher beschrieben worden. Es genügt jedoch nicht, sich lediglich zu »kennen«. Wenn wir für unsere Interessen einstehen wollen, müssen wir auch dahinter stehen, müssen uns annehmen, nicht nur mit unseren Stärken, sondern vor allem auch mit unseren Schwächen und unserer Begrenztheit. Selbstannahme ist jedoch nicht gleichbedeutend mit dem Standpunkt »So bin ich und so bleibe ich«. Das wäre ein bequemes Ausharren im einmal Erreichten, was nur zu Erstarrung führt und zu einer Abwehr menschlichen Wachsens. Mit Selbstannahme ist vielmehr gemeint, dass jemand zu seinem So-geworden-Sein ja sagt, zu den Umständen, die ihn zu dem haben werden lassen, der er heute ist: ja zu seiner Verletzbarkeit und zu seinen Schwachstellen, ja zu seinen Gefühlen und schließlich ja zu dem, was bisher im Leben nicht hat sein können, worauf bisher verzichtet werden musste und was zu einer Erwartungshaltung führen kann, die den anderen manchmal überfordert. Wer zu sich selbst ja sagt, kann auch vertreten und verantworten, was von ihm kommt, zum Beispiel Gefühle, Wünsche, Erwartungen. Ein sich selbst akzeptierender Mensch entwickelt Selbstvertrauen, weil er die Basis, auf der er steht, kennt und bejaht. Er kann daher Konflikten besser standhalten. Dieses Selbstvertrauen sowie die notwendige Selbstverantwortung können sich nicht entwickeln, wenn wir uns nur nach anderen rich150

ten und nur nach äußeren Regeln handeln, zum Beispiel »Man muss ...«, »Man darf nicht ...«, »Was sagen denn die Leute...« usw. (soziale Identität), ohne diese Regeln für uns selbst überprüft zu haben. Sich selbst ernst zu nehmen (was etwas anderes ist, als sich wichtig zu nehmen) ist also Voraussetzung für ● ● ● ● ●

Selbstwahrnehmung: Wie geht es mir gerade? Wie geht es mir mit dir? Selbstbewusstsein: Die eigenen Stärken und Schwächen kennen. Selbstakzeptanz: Sich selbst annehmen und bejahen. Selbstvertrauen: Ich glaube an mich und meine Fähigkeiten, auch wenn ich nicht perfekt bin. Selbstverantwortung: Ich entscheide über mein Leben und bin nicht das Opfer anderer Menschen oder der Umstände.

Alle diese Aspekte stärken unser Selbstwertgefühl und vermitteln uns eine Selbstachtung, aus der heraus wir mit Würde und Zuversicht die Schwierigkeiten und Krisen des Lebens bewältigen können. Ist es nicht das, was Eltern ihren Kindern vermitteln wollen? Am besten wäre es natürlich, wenn sie es den Kindern vorlebten. Leider haben aber nicht alle beim Heranwachsen die Möglichkeit gehabt, Selbstakzeptanz zu entwickeln. Dadurch sind sie leichter zu verunsichern und für die unvermeidlichen Konflikte im Leben nur unzulänglich vorbereitet. Um den Mut, zu sich selbst zu stehen, wiederzuerlangen, ist es hilfreich herauszufinden, was einen im Einzelnen daran hindert.

151

Mögliche Hindernisse Zur Klärung der Frage »Was hindert mich eigentlich daran, offen mitzuteilen, was ich brauche, will oder fühle?« beginne ich bei den Kindern. Was bei ihnen zunächst am meisten auffällt, sind der freie Selbstausdruck und die Selbstverständlichkeit, mit der sie Raum und Aufmerksamkeit beanspruchen. Sie sind in Kontakt mit ihren Gefühlen, wissen, was sie brauchen, und äußern beides ungeniert. Im Laufe der Jahre machen sie dann die Erfahrung, dass sie mit ihrer unbekümmerten Art nicht immer Erfolg haben, dass sie vielleicht nicht gehört oder ausgelacht oder missverstanden werden. Sie stoßen auf Einschränkungen oder gar Abwehr vielfältigster Art. Begrenzungen sind in der Erziehung grundsätzlich notwendig. Sie müssen jedoch eindeutig und der Situation angemessen sein und sollten der Persönlichkeitsentfaltung einen gesunden Spielraum lassen. Dieser Gedanke wurde von der 68er-Generation aufgegriffen und hat die Erziehung von Kindern durch neue Werte und Normen beeinflusst. Das Aufbegehren dieser Generation richtete sich gegen eine bis dahin vorherrschende autoritäre Erziehung, die vor allem daran ausgerichtet war, Gehorsam, Unterordnung und Folgsamkeit als Werte zu vermitteln. Es wurde früher also vor allem auf die Ausprägung der sozialen Identität Wert gelegt, während die persönliche Identität ein mehr oder weniger großes Schattendasein führte. Was die 68er-Generation selbst häufig noch erlebt hat und wogegen sie sich vehement zur Wehr setzte, könnte man bildlich so darstellen:

152

Können Sie die körperlich spürbare Einengung wahrnehmen, die von diesen Sätzen ausgeht? Regeln dieser Art wirken wie eine Gehirnwäsche, die im Kind zur Vorstellung führen, so, wie es ist, dürfe es nicht sein. Aber wie dann? Ohne die Erfahrung, ich bin willkommen, ich werde mit meiner Art angenommen und gehört, versiegt allmählich die Bereitschaft, von sich etwas zu zeigen. Es entstehen Unsicherheit und Ängste, die das Selbstwertgefühl und damit die Selbstachtung untergraben und bis zur Selbstverleugnung führen können. Mit dem Vorwurf »Sei nicht so egoistisch« ist manchem schon in frühen Jahren ein gesundes Einstehen für die eigene Person ausgetrieben worden. 153

Unter dem Trommelfeuer all dieser Ermahnungen – auch wenn sie »gut gemeint« sind – verlieren Kinder allmählich ihre Sicherheit und spontane Art. Sie werden zu Scheinerwachsenen, die in ihrem Selbstausdruck und in der Selbstbehauptung behindert sind und nur noch versteckt ihre Gefühle, Wünsche und Erwartungen mitteilen, sofern sie sich derer überhaupt noch bewusst sind. Oft wissen sie nur noch wenig über sich, über ihre wahre Natur, und haben das Vertrauen in sich verloren. Für sich selbst etwas zu wollen und dafür auch noch einzustehen, kommt ihnen irgendwie unangemessen vor. Verstärkt wird diese Haltung noch von der oft nur halb verstandenen christlichen Maxime »Du sollst deinen Nächsten lieben ...«, wobei die zweite Hälfte dieses Satzes – »... wie dich selbst« – vielfach unterschlagen wird. Die Gesamtheit dieses Gebotes macht aber sehr deutlich, dass man sich selbst lieben muss, sich selbst nicht übergehen darf, wenn man zu wirklicher Nächstenliebe fähig sein will. Und implizit sagt dieses Gebot aus: Ich kann für den Nächsten nur so viel echte Liebe und Verständnis aufbringen, wie ich es für mich selbst tue. Im Laufe der Jahre verlagern sich die äußeren Einschränkungen und Verunsicherungen nach innen und verdichten sich zu einem Körperempfinden, das nur noch wenig Bewegungsfreiheit lässt:

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Ich kriege keine Luft. Mein Hals ist wie zugeschnürt. Meine Schultern tun weh. Mein Herz ist verkrampft. Ich habe Herzstiche. Ich habe keinen Hunger. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich bin so unentschlossen. Ich fühle mich eingeengt.

Ich habe das Gefühl zu ersticken. Meine Arme und Hände sind leblos. Mein Brustkorb wird wie von einem eisernen Panzer eingedrückt. Mein Unterleib ist tot. Die Hände sind immer kalt. Mein Kreuz schmerzt. Meine Beine sind starr. Ich gebe nicht nach. Ich fühle mich leblos.

Die Füße sind immer kalt. Ich spüre den Boden unter meinen Füßen nicht. Ich habe einen schwachen Stand.

Die übermäßigen Reglementierungen drücken sich nicht nur im körperlichen Bereich aus, sondern sie formen sich auch zu dem, was wir »das Gewissen« nennen. Als Erwachsene endlich befreit von äußeren Erziehungspersonen, meinen wir, nun endlich tun und lassen zu können, was wir schon immer wollten. Und dann merken wir, wie uns eine »unsichtbare Macht« daran hindert. Die nach innen genommenen Ge- und Verbote unserer Jugendzeit haben die Form eines »inneren Richters« angenommen, der uns sofort mit Schuldgefühlen straft, wenn wir eines der früheren Gebote übertreten. Schuldgefühle zeigen an, dass wir uns noch immer mit dem »unartigen Kind« identifizieren, das andere in uns gesehen haben. Und schon stecken wir wieder zurück und trauen uns nicht, die eigenen Bedürfnisse und Wünsche ernst zu nehmen und nach den eigenen Gesetzen zu leben. 155

Es sind also Ängste, Tabus und Verunsicherungen, die den Selbstausdruck behindern. Das macht übermäßig abhängig von äußerer Zustimmung und schränkt die Fähigkeit ein, sich den anderen mit den eigenen Interessen zuzumuten. Es kann auch sein, dass dieser eingeschränkte Selbstausdruck zum entgegengesetzten Extrem führt, nämlich sich über alle Ängste und Verunsicherungen hinwegzusetzen und keinerlei Regeln mehr zu respektieren. In beiden Fällen geht die innere Mitte verloren und das verhindert ein besonnenes Verhalten. Wenn Eltern also mit einem eingeengten und verunsicherten »inneren Kind« zu kämpfen haben, können sie entweder die Spontaneität ihrer eigenen Kinder nur schwer ertragen und führen – ungewollt – den Kreislauf der Unterdrückung fort, weil sie in ihren Kindern das abwehren, was ihnen selbst nicht erlaubt war. Oder sie setzen ihren Kindern keinerlei Grenzen mehr, um sie in ihrer Persönlichkeitsentfaltung nicht einzuschränken, was von der 68er-Generation häufig praktiziert wurde. Um beide Extreme zu vermeiden, müssen Eltern den Zugang zu den verschütteten Anteilen ihrer persönlichen Identität wiedergewinnen und sich vom früher Erlebten befreien. Der Weg dorthin ist nicht einfach und erfordert viel Geduld. Die im folgenden genannten Schritte und Anregungen können als »Entwicklungshelfer« dienen. Entwicklungs- und Lernschritte Bei allen Entwicklungs- und Änderungsprozessen, die den zwischenmenschlichen Bereich betreffen, muss ein großes Hindernis überwunden werden: der Widerstand der anderen gegenüber den eigenen Bestrebungen nach Veränderung, wenn man nicht das Glück hat, auf verständnisvolle und einsichtige Menschen zu stoßen. Nehmen wir als Beispiel die folgende Situation: Eine Frau 156

hat sich jahrelang (vielleicht jahrzehntelang) ganz und gar auf die Bedürfnisse ihrer Familie eingestellt und dabei versucht, es jedem recht zu machen. Eines Tages bemerkt sie ihre zunehmende Enttäuschung darüber, dass sie selbst in all den Jahren zu kurz gekommen ist. Sie beginnt nun, sich selbst mehr Raum zu nehmen – auch im übertragenen Sinne – und ihrerseits Erwartungen und Wünsche anzumelden. Damit stößt sie aber in ihrer Umgebung zunächst auf Unverständnis und heftige Abwehr. Woran liegt das? Nun, das Bild, das sich jemand von einem Menschen macht, beruht darauf, wie dieser sich gibt, und es bilden sich bestimmte Handlungsmuster im Zusammenleben mit ihm heraus. Verändert dieser Mensch sein Verhalten plötzlich, stellt das für seine Umwelt eine Verunsicherung dar. Wie soll man jetzt diesem Menschen begegnen? Wie soll man ihn einschätzen? Wer also für sich mehr Raum beansprucht als bisher, löst damit eine Veränderung auf der Beziehungsebene aus, die dem anderen vielleicht nicht passt, weil sich dadurch auch für ihn einiges ändert und er eventuell Nachteile für sich befürchtet. Unter Umständen sieht er seine Privilegien in Gefahr, zum Beispiel das Vorrecht, bei Entscheidungen freie Hand zu haben, oder er hat Angst, in Zukunft im Haushalt mehr mithelfen zu müssen. Der Widerstand beruht auf der Unsicherheit, die die neue Situation mit sich bringt, und ist nicht primär gegen die neuen Bestrebungen gerichtet. So kann es sein, dass der andere sich taub stellt, einen nicht ernst nimmt oder sich lustig macht; genau jene Reaktionen, die einen schon als Kind eingeschüchtert haben. Wenn Sie trotzdem auf Ihrem neuen Standpunkt bestehen – wobei einem oft nur der Mut der Verzweiflung hilft – und sich nicht abbringen lassen, hat Ihr Gegenüber die Möglichkeit umzudenken und in der neuen Situation vielleicht auch Vorteile für sich zu finden. Aber lassen Sie dem anderen Zeit, sich mit 157

der neuen Lage vertraut zu machen. Er hat ja den inneren Prozess, der Sie zu dem Befreiungsschritt gebracht hat, für sich noch nicht vollzogen. In der Regel wird eine Übergangssituation entstehen, in der letztlich beide Seiten mit ihrer Unsicherheit fertig werden müssen, und es ist wichtig, darüber zu sprechen. Denn wenn für beide klar ist, dass es keiner leicht hat, dann muss sich auch niemand in der schwächeren Position fühlen. Das erleichtert den Prozess der Wandlung. Bezogen auf die Paarbeziehung hat Michael Lukas Moeller in seinem Buch Die 32 Wahrheit beginnt zu zweit sehr eindrücklich beschrieben, wie durch das so genannte Zwiegespräch mehr Verständnis zwischen den Partnern geschaffen wird. Insbesondere zeigt er einen gangbaren Weg auf, wie »Beziehung als Entwicklung zu zweit« gelebt werden kann. Neben diesem äußeren Hindernis müssen gleichzeitig die inneren Hindernisse in Form von Verunsicherung und vielfachen Ängsten überwunden werden, zum Beispiel die Angst, angegriffen, missverstanden, abgelehnt zu werden oder den anderen zu verärgern. Diese inneren Hindernisse führen dazu, dass man seine eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Gefühle gar nicht mehr genau kennt oder sie nur versteckt mitzuteilen fähig ist. Da es aber für die befriedigende Lösung eines Konfliktes notwendig ist, seinen eigenen Standpunkt sichtbar zu machen, besteht der erste Schritt darin, über sich selbst mehr Klarheit zu gewinnen. Übung Die folgenden Anregungen können als eine »Schatzsuche« nach den verschütteten Anteilen Ihrer Persönlichkeit betrachtet werden, durch die Sie wieder Zugang zu Ihren Bedürfnissen usw. bekommen können. Dazu beginnen Sie am besten, folgende Fragen für sich zu beantworten: 158



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Habe ich gelernt, meine Bedürfnisse/Gefühle wahrzunehmen und zu äußern? Welche davon? Oder halte ich sie eher zurück? Welche? Welche Gefühle habe ich, welche zeige ich? (Oft wird Ärger zum Beispiel hinter Tränen versteckt.) Welche Wünsche/Erwartungen habe ich an mein Leben? Was davon habe ich verwirklicht? Was war bisher nicht möglich? Welche Wünsche/Erwartungen habe ich an meinen Partner/meine Partnerin? Welche Wünsche/Erwartungen habe ich an mein(e) Kind(er)? Welche Entbehrungen liegen diesen Erwartungen zugrunde? Kann ich mir diese eingestehen oder sogar offen darüber sprechen? Mit wem? Welche dieser Wünsche/Erwartungen könnte ich mir heute selbst erfüllen? Oder warte ich immer noch auf Erlaubnis?

Möglicherweise fallen Ihnen nicht sofort Antworten ein, da Sie die Wahrnehmung Ihrer selbst zu lange vernachlässigt haben. Dann tragen Sie die Fragen einfach eine Zeit lang mit sich herum und vertrauen Sie darauf, dass Ihnen die Antwort über kurz oder lang zufallen wird. Sie brauchen lediglich sich selbst gegenüber aufmerksam zu sein, was am Anfang vielleicht noch etwas schwer fällt. Als Nächstes geht es darum, wieder ein Gespür dafür zu entwickeln, wie sich das Raumnehmen anfühlt. Ich treffe in meinen Seminaren immer wieder auf Menschen, denen es ganz und gar unangenehm ist, auch nur für einen kurzen Moment Aufmerksamkeit zu bekommen, obwohl sie sich innerlich nichts sehnlicher wünschen. Um diese Schwellenangst zu überwinden, können Sie sich die gewünschte Aufmerksamkeit zunächst selbst geben. 159

Übung Folgende Übung können Sie immer dann wiederholen, wenn Ihnen alles über den Kopf wächst, und Sie zu Ihrer Mitte zurückfinden wollen: Ziehen Sie sich an einen Ort zurück, an dem Sie für eine Weile ungestört sein können, und sorgen Sie dafür, dass Sie wirklich von keinem gestört werden. Vielleicht wollen Sie diese Übung auch in der freien Natur machen. Stellen Sie sich vor, in einem Kreis zu sitzen, der so weit gesteckt ist, dass Sie sich darin wohl fühlen. Es soll symbolisch der Raum sein, den Sie für sich brauchen und in den keiner eindringen kann, wenn Sie das nicht wollen. Dann spüren Sie, wie sich dieser selbst geschaffene Raum anfühlt. Lassen Sie sich dabei Zeit und gehen Sie den folgenden Gedanken nach: ●









Kann ich diesen Raum genießen? Bekomme ich mehr Luft zum Atmen? Oder habe ich eher ein unbehagliches Gefühl? Wie viel Raum hatte ich als Kind zur Verfügung? Hatte ich das Gefühl, wichtig zu sein, oder waren das nur die anderen? Kann ich mir heute die Erlaubnis geben, diesen Raum zu beanspruchen? (Stellen Sie sich vor, Sie müssten ihn verteidigen.) Möchte ich diesen Raum für mich alleine haben oder dürfen da auch andere Menschen hinein? Wenn ja, wer und wie lange? Wie fühlt sich dieser Raum zusammen mit anderen an? Hat mein Raum Öffnungen, durch die man hinein- und hinauskann oder ist er ganz geschlossen?

Nehmen Sie einfach Ihre Gefühle und Gedanken wahr, ohne sie zu bewerten. Wenn Sie am liebsten »keinen mehr sehen 160

und hören wollen«, dann gönnen Sie sich dieses Gefühl. Es ist nichts weiter als ein Zeichen dafür, dass Ihnen irgendetwas zu viel ist. Vielleicht entdecken Sie, was es ist. Wenn Sie nach einer Weile den Wunsch verspüren, Ihren Raum zu verändern, beispielsweise, ihn zu erweitern oder eine Öffnung zu schaffen, dann tun Sie das. Wichtig ist nur, dass Sie sich in Ihrem Raum wohl fühlen. Überlegen Sie, wie Sie sich im Alltag Raum schaffen könnten. In welchen Bereichen oder durch welche Menschen fühlen Sie sich zu stark eingeengt oder missverstanden? Formulieren Sie zunächst einmal nur für sich, was Sie dem anderen mitteilen möchten. Manchmal hilft es, diese Sätze aufzuschreiben. Dann kommt der nächste Schritt: Wie können Sie Ihr Anliegen so ausdrücken, dass Sie auch gehört werden? Je nachdem, wie lange Sie sich schon zurückgehalten haben, fällt es Ihnen möglicherweise schwer, Ihre Bedürfnisse ohne vorwurfsvollen oder beleidigten Unterton anzumelden. Dadurch wird der andere in eine Verteidigungshaltung gedrängt. Um das zu vermeiden, gestehen Sie sich zunächst einmal das Gefühl ein, das hinter dem Vorwurf oder Beleidigtsein steckt. Ist es Ärger, Schmerz, Zorn oder Enttäuschung? Teilen Sie dieses Gefühl mit, ebenso, wie unglücklich Sie über die ganze Situation sind. So wird es auch verständlicher, warum Sie jetzt eine Änderung wollen. Es ist möglich, dass es nicht ausreicht, nur einmal darüber zu sprechen. Der andere muss sich ja erst an das neue Bild gewöhnen, das Sie von sich zeigen. Die Ängste, die Sie dabei haben, müssen Sie aushalten. Warten Sie mit dem Äußern Ihrer Interessen nicht darauf, bis eines Tages keine Angst mehr spürbar ist, denn dann warten Sie »ewig«. Es ist das »innere Kind« in Ihnen, das ängstlich ist, und Sie können es beruhigen, indem Ihr erwachsener Teil diesem »Kind« Mut zuspricht. Denken Sie daran: 161

Eine erfüllende Beziehung ist nur möglich, wenn keiner auf sich selbst verzichtet ... ... und jeder die grundlegenden Rechte des Menschen für sich beansprucht (und dem anderen ebenfalls zugesteht). In Anlehnung an Alexander Lowen handelt es sich dabei 33 um folgende Rechte: 1. Das Recht zu existieren (Daseinsberechtigung), das heißt, als individueller Organismus auf der Welt zu sein. 2. Das Recht, seine Bedürfnisse befriedigen zu können (beruht auf dem Halt und der nährenden Funktion der Mutter). 3. Das Recht, selbstständig und unabhängig zu sein, das heißt nicht den Bedürfnissen anderer Menschen unterworfen zu sein (Selbstbehauptung und Opposition gegen die Eltern; Trotzphase). 4. Das Recht, zu wünschen und zu begehren, und seine Wünsche unmittelbar und offen zu befriedigen, jedoch nicht auf Kosten anderer (starke Ich-Komponente). In welchem dieser Rechte fühlen Sie sich eingeschränkt? Was nehmen Sie sich nicht heraus, wie es zum Beispiel Ihre Kinder ganz selbstverständlich tun? Wer immer Ihnen wohlgesonnen ist, wird Ihnen diese Rechte zugestehen. Ansonsten müssen Sie wohl oder übel um diese Rechte und den Raum, der Ihnen zusteht, kämpfen, eventuell mit Rückendeckung von Dritten (zum Beispiel mit einer Beratung, Psychotherapie oder Selbsthilfegruppe). Anregungen für positive Gedanken ● ●

Ich bin willkommen. Ich darf mich zumuten.

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Ich darf Aufmerksamkeit beanspruchen. Ich bin eine Bereicherung für diese Welt. Ich wende mich liebevoll und aufmerksam meinem »inneren Kind« zu. Ich bejahe mich mit all meinen Gefühlen und Wünschen. Ich nehme mich ernst, aber nicht wichtig. Ich übernehme Verantwortung für mein Handeln und trage die Konsequenzen.

Abgrenzung gegenüber Erwartungen Es ist eine Illusion zu glauben, dass wir etwas nicht tun können, wenn der andere dem nicht zustimmt. Chris Griscom

Was heißt Abgrenzung? Im Laufe des Lebens wächst jeder von uns in verschiedene soziale Rollen hinein. Im familiären Bereich sind wir Sohn/ Tochter, Enkel/in, Partner/in, Vater/Mutter, Onkel/Tante, Schwiegersohn/-tochter usw. Hinzu kommen die Rollen, die wir im Berufsleben einnehmen, bei Nachbarn und Freunden oder in Vereinen. An all diese Rollen sind jeweils ganz bestimmte Verhaltenserwartungen geknüpft. So wird von einem fünfjährigen Kind etwas ganz anderes erwartet als von einem zwölfjährigen, von einer Mutter etwas anderes als von einer Angestellten, von einem Vater etwas anderes als von einem Schwiegersohn. Die an die soziale Rolle gerichteten Erwartungen und Anforderungen sind Ausdruck geltender gesellschaftlicher Normen. Allerdings bleibt für die Ausgestaltung der jeweiligen Rolle ein gewisser Handlungs- und Ermessensspielraum offen. Die Vaterrolle wird beispielsweise nicht von jedem Mann gleich ausgeübt, hier spielen Aspekte wie Alter, Persönlich163

keit und die Erfahrungen mit dem eigenen Vater mit hinein. Das Gleiche gilt für die Mutterrolle. Verhaltensweisen dienen als Orientierungsrahmen für soziales Verhalten und lassen eine individuelle Gestaltung zu. Daraus ergibt sich, dass wir nicht unbesehen mit allen gesellschaftlichen Normen – die sich durch die Entwicklung der Gesellschaft auch ändern – einverstanden sein müssen. Wir haben eine gewisse Entscheidungsfreiheit, sollten uns diese Freiheit aber auch nehmen. Es ist sicher nachvollziehbar, dass wir nicht immer und zu jeder Zeit allen Anforderungen gerecht werden können oder wollen. Das wird besonders deutlich, wenn wir uns bewusst machen, dass an ein und dieselbe Person oft gleichzeitig unterschiedliche Erwartungen gerichtet werden, zum Beispiel:

Diese und ähnliche Situationen sind sicher jedem geläufig. Um in einem solchen Fall nicht buchstäblich »zerrissen« zu werden, ist es notwendig, zu gewichten, Prioritäten zu set164

zen, eine zeitliche Abfolge zu beachten und sich die eigenen Grenzen der Belastbarkeit einzugestehen. Zudem müssen auch die Erwartungen und Anforderungen von außen in Einklang gebracht werden mit dem, was man selbst will. Dieser Punkt kommt häufig zu kurz. Das Nichtbeachten der eigenen Bedürfnisse führt über kurz oder lang zu einem Gefühl von Unmut und Enttäuschung. Die Schuld wird dann bei anderen gesucht. Der hier notwendige Balanceakt kann nur gelingen, wenn wir uns gegen Erwartungen abgrenzen können und nein sagen lernen, und zwar mit dem Gefühl, dass das erlaubt und auch notwendig ist. Ein Nein bedeutet lediglich, dass wir unsere Grenzen klar machen, und nicht, dass wir den anderen nicht mögen oder den Kontakt zu ihm/ihr abbrechen. Letzteres geschieht meist erst dann, wenn wir mit dem Nein zu lange warten und dann das Gefühl bekommen, durch die Erwartungen von außen erdrückt zu werden. Im Grunde ist es eher so, dass wir uns innerlich selbst unter Druck setzen bei dem Versuch, es uns mit niemandem zu verderben und es allen recht zu machen. Den unangenehmen Folgen eines Neins standzuhalten mag vielleicht schwer fallen, aber bedenken Sie, dass keiner etwas von Ihnen hat, wenn Sie nur noch ein Nervenbündel sind oder unter der Last der »Verpflichtungen« zusammenbrechen. Jeder Einzelne muss für sich herausfinden, was in einer gegebenen Situation für ihn machbar ist und was nicht. Ich möchte das an der Einstellung zur Mutterrolle verdeutlichen. Bei uns gilt die gesellschaftliche Norm, dass eine Mutter idealerweise nur für ihr Kind da sein sollte, zumindest während 165

der ersten drei Lebensjahre. Abgesehen davon, dass es aus wirtschaftlichen Gründen nicht jeder Frau möglich ist, drei Jahre oder länger ohne Berufstätigkeit zu bleiben oder sie gerne in ihrem Beruf tätig ist, kann diese Rollenerwartung unterschiedlich interpretiert werden: 1. Die Mutter entscheidet sich dafür, dass sie ihrem Kind für eine begrenzte Zeit viel Aufmerksamkeit schenkt, danach aber wieder mehr ihren eigenen Interessen beziehungsweise ihrem Beruf nachgeht. Sie unterstützt die wachsende Selbstständigkeit ihres Kindes und beide werden frei. 2. Die Mutter sieht ihren ganzen Lebensinhalt im Kind, erzieht es zur Unselbstständigkeit, indem sie immer alles für ihr Kind tut, und hält sich so an ihm fest bis ins Erwachsenenalter. Das Kind – geplagt von Schuldgefühlen – rebelliert dagegen, bis es eines Tages vielleicht resigniert. Die Mutter rechtfertigt ihr Vorgehen mit Sätzen wie »Ich habe doch immer alles für dich getan«, »Ich war immer für dich da« und erwartet nun aus Dankbarkeit von ihrem erwachsenen Kind dasselbe für sich. Was diese Mutter nicht ausspricht, weil es ihr vielleicht gar nicht bewusst ist: »Ich habe solche Angst vor dem Alleinsein. Deshalb musst du immer für mich da sein, so wie ich für dich.« Die soziale Norm wird hier zur Rechtfertigung und Verführung benutzt. Im Grunde bleiben beide unfrei. So unterschiedlich können die Auffassungen über eine Rollennorm sein. Grundsätzlich gibt es drei Möglichkeiten, auf Rollenerwartungen zu reagieren: ● ● ●

zustimmen (Ja); abändern (Kompromiss finden); ablehnen (nein sagen).

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Im Falle einer Übereinstimmung gibt es keine Probleme. Bei der Kompromissfindung muss zumindest das gegenseitige Zuhören gewährleistet sein, damit sich keiner übergangen fühlt und gemeinsam eine für beide Seiten akzeptable Lösung gefunden werden kann. Wenn aber ein Nein notwendig ist, entsteht ein Konflikt, eine Spannung. Manche können sich deshalb nicht für ein notwendiges und klares Nein entscheiden, weil sie die dadurch entstehende Spannung zwischen den Gegensätzen schwer ertragen können. Außerdem stellt uns ein Nein unter Umständen vor einige Hürden, die uns eine Entscheidung schwer machen. Solche Hürden sind von Hedwig Kellner in 34 ihrem Buch Ein klares Nein muss manchmal sein sehr anschaulich beschrieben worden, zum Beispiel ● ● ● ● ●

Dankbarkeit für selbst in Anspruch genommene Gefälligkeiten; Mitleid mit einem einsamen Menschen; man bringt ein Nein aus Liebe nicht übers Herz; Pflichtgefühl; Missstimmung in der Freundschaft.

Wenn wir unser Leben jedoch selbst bestimmen wollen, haben wir keine andere Wahl, als hin und wieder nein zu sagen, um nicht sang- und klanglos, wenn auch nicht klaglos, unterzugehen. Voraussetzungen für das Neinsagen Als Grundlage für eine klare Abgrenzung gegenüber dem, was einem zu viel ist, muss man zunächst den eigenen Standpunkt kennen: ● ●

Welche Erwartungen bin ich bereit zu erfüllen? Welche Anforderung übersteigt meine Möglichkeiten im Moment? 167

● ●

Wem gegenüber muss ich zur Wahrung meiner Grenzen nein sagen? In welchen Bereichen kann ich nicht zustimmen?

Zur Abklärung dieser und ähnlicher Fragen ist es gut, sich der verschiedenen Rollen bewusst zu werden, die wir im Leben spielen, und die dazugehörigen Verhaltenserwartungen genauer zu betrachten. Es gibt durchaus Unterschiede zwischen eigenen und fremden Vorstellungen über das Verhalten in einer bestimmten Rolle. Es kann beispielsweise sein, dass eine Mutter von ihrer erwachsenen Tochter erwartet, dass diese sich weit mehr um sie kümmert, als es der Tochter recht ist, da sie inzwischen selbst eine Familie zu versorgen hat. Oder eine Frau erwartet von ihrem Mann, dass er sich als Vater mehr mit den Kindern beschäftigt. Oder ein Mann erwartet von seiner Frau, dass sie mehr Zeit für ihn hat und sich nicht ganz von den Kindern und/oder dem Beruf in Beschlag nehmen lässt. Um Klarheit über die eigene Situation zu bekommen, ist es hilfreich, die verschiedenen sozialen Rollen aufzuschreiben, in denen Sie sich befinden, sowie die Erwartungen, die von verschiedenen Personen jeweils an Sie gerichtet werden:

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Beim Vergleich der vielfältigen Anforderungen werden Sie merken, dass Sie schnell überfordert sind, wenn Sie es jedem recht machen wollen. Zumindest kommen Sie ständig in innere Zerreißproben, bis Sie eines Tages »am liebsten alles hinschmeißen und davonlaufen würden«. An diesen Punkt kommt jeder, der nicht rechtzeitig nein sagen kann. Oft steht dahinter die irrige Vorstellung, Nächstenliebe drücke sich darin aus, dass man immer für andere da sein müsse. Das ist eine unerfüllbare Regel und bringt einen letztlich in die missliche Lage, anderen tatsächlich etwas schuldig zu bleiben, weil mehr versprochen wurde, als gehalten werden kann. Dieser Stress lässt sich vermeiden, wenn wir uns die Grenzen unserer Belastbarkeit eingestehen und sie auch deutlich machen. Das ist eine weitere Voraussetzung für das Neinsagen. Die Bereitschaft, sich mit einem klaren Nein gegen Erwartungen abzugrenzen, setzt jedoch ein gewisses Maß an Selbstbewusstsein und ein relativ stabiles Selbstwertgefühl voraus, so dass wir die enttäuschten Reaktionen der anderen nicht als persönliche Herabsetzung sehen. Das ist wohl die schwierigste Hürde, die hier zu überwinden ist. Ein stabiles Selbstwertgefühl hilft uns, die enttäuschten Reaktionen der anderen nicht als persönliche Herabsetzung zu sehen. Was behindert die Abgrenzung? Die Tendenz, ein notwendiges Nein nicht auszusprechen, beruht auf den nicht immer erfreulichen Erfahrungen, die wir damit gemacht haben. In der Regel wird ein Nein ja nicht verständnisvoll hingenommen. Ganz im Gegenteil: Wer anderen etwas abschlägt, muss mit enttäuschten Gefühlen und Reaktionen rechnen, die erst einmal auszuhal169

ten sind. Dazu gehört eine gute Portion Standfestigkeit, besonders wenn unser Gegenüber mit Anklagen, Vorwürfen, Rückzug oder Beleidigtsein reagiert. Derartiges Verhalten lässt nämlich in uns das unangenehme Gefühl aufkommen, irgendwie »schlecht«, »böse« oder »im Unrecht« zu sein, und das will niemand auf sich sitzen lassen. Deshalb führen Anklagen und Vorwürfe wie »Du bist ungerecht«, »Du hast nie Zeit für mich« und was sonst noch von den zunächst Enttäuschten zu hören ist, üblicherweise zu endlosen Rechtfertigungen, die ein Gefühl von Leere und Sinnlosigkeit hinterlassen, während Rückzug oder Beleidigtsein frühere Ängste aus der Kindheit weckt, nun nicht mehr gemocht oder gar verlassen zu werden. Der drohende Kontaktverlust in beiden Fällen ist für die meisten Menschen am schwersten zu ertragen, weil er – zumindest vorübergehend – die Gemeinsamkeit aufhebt. Zusätzlich lösen die Reaktionen der Enttäuschten Schuldgefühle aus, die immer dann entstehen, wenn wir uns mit dem »unartigen Kind« in unserem Inneren identifizieren, das nicht tut, was von ihm verlangt wird. Weit verbreitet ist die Meinung: Wenn ich nicht den Ansprüchen anderer genüge, bin ich an deren Unglück schuld und muss mit Bestrafung rechnen. Diese Vorstellung hängt mit dem Erziehungsmuster unserer Eltern zusammen, die uns die Botschaft vermittelten: »Wenn du tust, was ich will, bist du ein › liebes‹ Kind und ich werde dich lieben. Wenn du etwas gegen meinen Willen tust, bist du ein › schlechtes‹ Kind und ich werde dich nicht lieben.« Mit diesem massiven Druckmittel versuchen Eltern (oft aus Hilflosigkeit) ihr abhängiges Kind gefügig zu machen. Sie hoffen, sich damit Auseinandersetzungen ersparen zu können, und nehmen unbewusst in Kauf, dass das Kind dadurch sehr verunsichert wird. Im Übrigen verlagern sich 170

die Auseinandersetzungen lediglich auf andere Bereiche im Zusammenleben. Ein solches früh eingeprägtes Muster macht die inzwischen Erwachsenen noch anfällig für derartige Manipulationen, sofern sie sich noch nicht von der Rolle des »unartigen Kindes« verabschiedet haben. Nicht selten sind diese Manipulationen ein wirksames Mittel, uns umzustimmen und von unserem Nein wieder abzubringen. Besonders anfällig sind dafür Menschen, die stark von der Zustimmung anderer abhängig sind und es daher allen recht zu machen versuchen. Um nun all diese unangenehmen Folgen eines Neins zu vermeiden, erscheint es manchem das Beste zu sein, den anderen gar nicht erst mit einem Nein zu konfrontieren. Damit geht man zwar momentan einem äußeren Konflikt aus dem Weg, kommt aber in den inneren Konflikt, mit sich selbst unehrlich zu sein. Damit verbunden findet sich häufig die vorwurfsvolle Haltung: »Wenn du nicht so und so reagieren würdest, könnte ich leichter nein sagen.« Damit machen wir uns jedoch von der Reaktion des anderen abhängig und handeln nicht mehr aus freien Stücken. Wer sich von anderen »unterdrückt« fühlt, entwickelt einen geheimen Ärger, der wie ein schleichendes Gift die Beziehung unterminiert und bei anderer Gelegenheit wieder auftaucht, dann aber ganz unverständlich wirkt. Das einzige Gegenmittel hierfür ist die Erkenntnis, dass man sich selbst unterdrückt, um eine Konfrontation zu vermeiden. Es gibt noch eine weitere Begründung, mit der manche ein nicht ausgesprochenes Nein rechtfertigen. Uns selbst ist auch schon manches abgeschlagen worden, und wer erinnert sich nicht an das unbehagliche Gefühl von Enttäuschung, das mehr oder weniger stark mit Schmerz, Zorn und Ohnmacht einhergeht? Alles Gefühle, die wir eher zu unterdrücken als auszudrücken gelernt haben. 171

Wir kennen also aus eigenem Erleben das Unbehagen, das wir mit unserem Nein – vermeintlich – auch anderen zufügen. Wir wollen diese deshalb schonen, wollen ihnen »das nicht antun«. Nicht immer steht hinter dieser Rücksichtnahme einzig und allein ein wirkliches Mitgefühl und Gespür für den anderen. Unter Umständen kann sich hier ein versteckter Selbstschutz mit dem Gedanken bemerkbar machen: »Wenn ich dir alle Wünsche erfülle, wirst du auch mir alle erfüllen«, oder: »Wenn ich dir keine Schwierigkeiten mache, machst du mir auch keine«. Wer so denkt, bezieht sich gerne auf das Sprichwort: »Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu«. Ich habe früher selbst nach diesem Motto gelebt, war nett und freundlich und wunderte mich, dass dieser Handel nicht so recht klappte. Ich hatte ganz einfach das Sprichwort falsch verstanden, denn es meint, dass man nicht mutwillig anderen wehtun soll. Wenn ich aber auf Grund der eigenen Begrenzung etwas abschlage, geschieht das nicht aus böser Absicht, auch wenn mein Gegenüber daran zu beißen hat und mir diese »böse Absicht« vielleicht unterstellt. Wenn ich mit mir und anderen ehrlich sein will, ist es unvermeidbar, ab und zu die Erwartungen anderer zu enttäuschen, so wie ich ja auch von anderen enttäuscht werde. Im Grunde sind gerade diese schmerzhaften Enttäuschungen lehrreiche Wachstumsschritte im Leben, da sie uns unabhängiger und selbstständiger machen können. Sich und andere vor Enttäuschung zu schützen führt zu einem Stagnieren, einem Einfrieren von Beziehungen, die dann nur noch von falsch verstandener Rücksichtnahme getragen werden und in denen alle Freude und Lebendigkeit erstickt. Ist das nicht ein zu hoher Preis? Egal, ob wir nun auf der Seite des »Opfers« oder des »Täters« stehen: 172

Es sind die Folgen eines Neins, die uns Unbehagen verursachen und die wir deshalb zu vermeiden suchen. In dieser Vermeidungshaltung liegt das entscheidende Hindernis. Wir müssen lernen, den Reaktionen auf ein Nein standzuhalten. Entwicklungs- und Lernschritte Die Kunst der Abgrenzung vollzieht sich in drei wesentlichen Schritten: 1. Sich über die Erwartungen und Anforderungen klar werden, die an uns gerichtet sind, und die eigene Position dazu finden. 2. Ein notwendiges Nein freundlich, aber direkt und überzeugend zum Ausdruck bringen. 3. Den Reaktionen unseres Gegenübers standhalten. 1. Sich über Erwartungen klar werden Da es hier vor allem um das Verhalten in der Elternrolle geht, möchte ich folgende Frage aufwerfen: Welche Richtlinien für elterliches Verhalten gibt es in unserer Gesellschaft? Diese Frage habe ich auch in meinen Kursen direkt an Eltern gestellt und gebe die dazu gesammelten Antworten nachstehend weiter. Betrachten Sie diese als Denkanstoß, um zu klären, welchen Standpunkt Sie selbst zur Elternrolle einnehmen und wie sehr dieser von Idealvorstellungen geprägt ist. Welchen Normen/Erwartungen stimmen Sie zu, welche lehnen Sie ab und welche würden Sie ändern oder nur bedingt annehmen? Kreuzen Sie entsprechend »ja«, »nein« oder »bedingt« an und ergänzen Sie die Liste eventuell mit eigenen Überzeugungen: 173

Übung Normen für elterliches Verhalten 1. Eltern sollten den Kindern ein gutes Vorbild sein. 2. Eltern sollten alle Kinder gleich lieben. 3. Eltern sollten unfehlbar sein. 4. Eltern entscheiden, was gut ist für das Kind, und sollten dabei immer das Richtige treffen. 5. Eltern sollten verlässlich, liebevoll, gütig und geduldig sein. 6. Eltern sollten verfügbar sein. 7. Eltern sollten Toleranz und Verständnis für ihre Kinder haben. 8. Eltern sollten sich in Erziehungsfragen einig sein. 9. Eltern sollten die Verantwortung gemeinsam tragen. 10. Eltern sollten den Kindern Spielraum geben. 11. Eltern sollten den Kindern Struktur und Regeln in Maßen geben. 12. Eltern sollten ihre Kinder gut erziehen, damit sie sich in die Gesellschaft einordnen können. 13. Eltern sollten ihren Kindern alle Möglichkeiten geben, um sich für die Zukunft gut vorzubereiten (Ausbildung). 14. Kinder sollten einen Rückhalt haben durch ein gutes, stabiles Elternhaus.

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ja

nein

bedingt

Normen für elterliches Verhalten

ja

nein

bedingt

15. Eltern sollten vor den Kindern nicht streiten. 16. Als Mutter sollte ich immer für alle in der Familie da sein. 17. Als Mutter bin ich verantwortlich – für den Familienzusammenhalt; – für das Familienglück. 18. Eine Mutter sollte nicht berufstätig sein. 19. Ein Vater sollte sich Zeit für die Kinder nehmen. 20. Ein Vater sollte im Haushalt mithelfen.

Sie werden vielleicht feststellen, dass es gar nicht so einfach ist, die eigene Position zu bestimmen. In diesem Fall versuchen Sie im Gespräch mit anderen und in der bewussten Auseinandersetzung mit den genannten Normen allmählich Ihren eigenen Standpunkt zu finden. Vielleicht wird es Ihnen möglich sein, Idealvorstellungen loszulassen, die für Sie nicht zu verwirklichen sind. Besonders wichtig wäre ein gedanklicher Austausch mit Ihrem Partner oder Ihrer Partnerin, der/die vermutlich in manchen Punkten nicht mit Ihnen übereinstimmt. Sprechen Sie darüber, wie und auf Grund welcher Erfahrungen Ihre unterschiedlichen Meinungen zustande gekommen sind, und vermeiden Sie dabei ein vorschnelles Verurteilen des anderen. Denken Sie dabei daran: Verständigung ist nur möglich, wenn jeder in seinem Anderssein respektiert wird. 175

Ich halte es übrigens nicht für notwendig, dass Eltern in allen Erziehungsfragen übereinstimmen, was sich bei der Unterschiedlichkeit von zwei Menschen wohl auch kaum erreichen lässt. Es ist jedoch überaus wichtig, dass Sie sich nicht gegenseitig herabsetzen und bekämpfen, sondern Ihre verschiedenen Sichtweisen gleichwertig nebeneinander bestehen lassen. Nur so lässt sich vermeiden, dass Kinder ihre Eltern gegeneinander ausspielen. Stattdessen geben die Eltern ein Beispiel dafür, dass Unterschiede kein Hinderungsgrund für ein friedvolles Zusammenleben darstellen müssen. Es ist weitaus realistischer, wenn wir lernen, mit Verschiedenheiten zu leben, als eine Angleichung von Gegensätzen zu erzwingen. Je bewusster Sie Ihre Vorstellung von der Elternrolle erkennen, desto weniger sind Sie in Gefahr, durch andere verunsichert und in ein bestimmtes, von außen erwartetes Rollenverhalten hineingezwängt zu werden. Dann fällt es Ihnen auch leichter, ein Nein direkt und mit Überzeugung auszusprechen – womit wir beim zweiten Schritt sind: 2. Freundlich, aber direkt und überzeugend nein sagen Ein Nein kann entweder direkt oder indirekt, freundlich oder verletzend bis vernichtend ausgedrückt werden. Es macht einen Unterschied, ob Sie sagen: ●

»Nein, jetzt habe ich keine Zeit, mit dir zu spielen, aber in einer Stunde« (wobei Sie innerlich den Wunsch des Kindes als Ausdruck seines momentanen Interesses akzeptieren und das in einem liebevollen Tonfall spürbar wird),

oder ob Sie sagen: ●

»Kannst du nicht alleine spielen?« (unsicher-ablehnender Tonfall; das Kind fühlt sich in seinen Fähigkeiten angezweifelt);

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»Magst du nicht ein bisschen in den Garten gehen?« (ablenkender Ratschlag; das Kind fühlt sich nicht ernst genommen); »Du siehst doch, dass ich gerade beschäftigt bin!« (ärgerlich-anklagender Tonfall; das Kind fühlt sich lästig und/oder schuldig).

Versetzen Sie sich einmal in Ihr Kind und versuchen Sie nachzuempfinden, welche Gefühle durch diese Aussagen ausgelöst werden, zum Beispiel: ● ● ●

Ich werde unsicher oder ärgerlich. Ich bekomme Angst, nicht mehr gemocht zu werden. Ich fühle mich wegen des Wunsches schuldig oder lästig.

Spüren Sie, wie viele Deutungsmöglichkeiten die umschreibenden, indirekten Antworten offen lassen? Was wird hier eigentlich abgelehnt? Ist es der momentane Wunsch des Kindes oder das Kind als Person? Und wo bleibt Ihr eigener Standpunkt? Wer indirekt nein sagt, gibt seinem Gegenüber geradezu die Einladung, es noch einmal zu versuchen, denn ● ●

so ganz eindeutig war die Absage ja nicht, da lässt sich vielleicht doch noch etwas erreichen und ich brauche Klarheit darüber, ob das Nein nur meinem Wunsch gilt oder ob ich als Person abgelehnt werde.

Auf jeden Fall kann der andere nur mutmaßen, was gemeint ist. Das kann auf Dauer gesehen so mühsam sein, dass er oder sie es vorzieht, sich aus der Beziehung zurückzuziehen und in die innere Emigration zu gehen. Der befürchtete Kontaktverlust kommt so eher zustande als durch ein offenes Nein, das doch zumindest eine Orientie177

rung dafür gibt, was im Moment in der Beziehung möglich ist. Soll der andere durch das indirekte Nein »geschont« werden, wird ihm unterstellt, dass er mit einem Nein nicht fertig wird. Er wird sozusagen als »unmündig« betrachtet. Diese Haltung löst nicht nur bei Kindern, sondern besonders gegenüber dem Partner leicht das Gefühl aus, nicht für voll genommen zu werden. Auf diese Weise wird die angestrebte Harmonie auf einer tieferen Ebene gefährdet, als dies durch ein ehrliches Nein geschehen würde. Diese »Schonhaltung« gegenüber anderen ist genau genommen der Versuch, sich selbst vor den befürchteten Reaktionen auf ein Nein zu schützen. Übung Anhand der folgenden Fragen können Sie wieder mehr Einsicht in Ihr eigenes Verhalten bekommen: ● ●

● ●

Bei welchen Personen fällt mir ein direktes Nein besonders schwer? Woran könnte das liegen? Zum Beispiel: – Wie wichtig ist mir die Zustimmung dieser Person (sehr wichtig – wichtig – kaum wichtig) – Was geschieht mit mir (mit meinem »inneren Kind«), wenn ich auf die Zustimmung verzichte und bei meinem Nein bleibe? – Könnte ich auch ohne diese Person weiterleben? Könnte ich mir die Zustimmung selbst geben oder von jemand anderem holen? Was bringt mich dazu, den anderen schonen zu wollen? – Macht er einen zerbrechlichen Eindruck? – Fühle ich mich als Retter oder Erlöser, wenn ich andere vor der Härte des Lebens bewahre? – Will ich mich selbst schützen vor einer möglichen unangenehmen Reaktion?

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Ein direktes klares Nein wirkt dann nicht verletzend, wenn es gelingt, zwischen Person und Sache oder Situation zu trennen. Wenn Sie Ihrem Gegenüber – ob Kind oder Partner – die Botschaft vermitteln: »Ich sage zwar jetzt nein zu deinem Wunsch, weil ich hier eine Begrenzung habe, das heißt aber nicht, dass ich dich als Person ablehne«, dann ist das Nein leichter zu ertragen, weil sich der andere nicht persönlich herabgesetzt fühlt. Vielmehr schwingt in einem solchen Nein Verständnis für den geäußerten Wunsch mit. Übung Wenn Ihnen die Unterscheidung zwischen Person und Sache nur schwer gelingt, überprüfen Sie folgende Fragen für sich: ● ● ● ●



Habe ich einen versteckten Ärger gegenüber dem anderen, den ich nicht offen zu zeigen wage? Benutze ich das Nein, um mich wegen einer anderen Sache zu rächen? Würde ich der Sache im Grunde zustimmen, habe ich aber noch eine »alte Rechnung« zu begleichen? Fühle ich mich momentan überfordert, unsicher oder ratlos und richte ich daher mein Nein gegen die Person, die mir durch ihren Wunsch dieses Unbehagen verursacht? Was würde geschehen, wenn ich meine Überforderung, Unsicherheit oder Ratlosigkeit zugäbe?

Solange sich ein Nein nicht nur auf die Sache (den Wunsch, die Erwartung, die Forderung) bezieht, sondern sich gleichzeitig gegen die Person richtet (zum Beispiel »Du bist mir jetzt lästig« oder »Lass mich doch in Ruhe mit deinem ...«), solange fühlt sich der andere in seinem Selbstwert gekränkt und versucht, sich durch langatmige Rechtfertigungen wieder »ins rechte Licht zu rücken«. Das hört sich dann etwa so 179

an: »Das stimmt doch gar nicht, dass ich dich immer störe!«, »Das finde ich aber sehr ungerecht, weil...!« oder »Wie kommst du denn darauf, dass...!« Auf diese Weise ist die sachliche Klärung einer Situation nicht mehr möglich, weil das Gespräch in eine ganz andere Richtung abdriftet. Da die Lösung nicht zum bestehenden Problem passt, schafft sie ein neues. Das kann sicher nicht das angestrebte Ziel sein. In Anbetracht der Tatsache, dass ein indirektes Nein nicht wie erhofft vor unangenehmen Folgen schützt, sondern sich wie ein verschleiernder Nebel über die Beziehung legt und die Dinge noch komplizierter macht, scheint es sinnvoller zu sein, die Vermeidungshaltung aufzugeben und den Reaktionen Ihres Gegenübers ins Auge zu schauen. Vielleicht ist die Realität gar nicht so beängstigend, wie Sie vermuten. Wenn Sie sich dann noch die Vorteile bewusst machen, die ein überzeugendes Nein mit sich bringt, haben Sie schon 35 halb gewonnen: 1. Sie können Ihre Zeit selbst einteilen und verplanen. 2. Sie stärken Ihr Selbstbewusstsein. 3. Sie erkennen, wer Ihre Freunde sind und wer Ihre Ausnutzer. 3. Den Reaktionen auf ein Nein standhalten Auf Grund früherer Erfahrungen ruft ein Nein eine Fülle von Phantasien über mögliche Katastrophen in uns wach, die letztlich in zwei menschlichen Grundgefühlen gipfeln: ● ●

die Angst vor Liebesverlust und dem daraus entstehenden Gefühl, wertlos zu sein; das Schuldgefühl, bestimmten Anforderungen nicht zu genügen und deshalb bestraft zu werden.

Beide Gefühle machen einen Menschen manipulierbar. In der Situation des abhängigen Kindes sind diese Gefühle über180

mächtig und können nur beschwichtigt werden, indem sich das Kind den Wünschen der Erwachsenen beugt, zumindest äußerlich. Heute als Erwachsene müssen wir uns aber bewusst machen, dass wir rein objektiv nicht mehr das abhängige und durch eine Trennung vom anderen in seiner Existenz bedrohte Kind sind. Wir gehen auch nicht zugrunde, wenn unser Gegenüber vorübergehend zornig auf uns ist. Ängste und Schuldgefühle sind leichter zu ertragen und zu überwinden, wenn wir sehen können, dass es unser »inneres Kind« ist, das da reagiert. Wenn wir diesem Teil in uns verständnisvoll und mit tröstenden Worten begegnen, wird er sich auch wieder beruhigen. Je stärker das verantwortungsbewusste Erwachsenen-Ich in uns wird, desto mehr können wir dem verängstigten Kind in uns beistehen und desto weniger sind wir in Gefahr, uns von den enttäuschten Reaktionen der anderen manipulieren und umstimmen zu lassen. Dazu ist es notwendig, sich schon im Vorfeld auf jene Reaktionen gefasst zu machen, die besonders schwer zu ertragen sind. Übung Welche der nachstehenden Reaktionen auf ein Nein macht mir am meisten zu schaffen? ¨ ¨ ¨ ¨ ¨ ¨ ¨ ¨ ¨

beleidigt sein/gekränkt sein schmollen Vorwürfe/Anklagen Tränen Ärger/Wut/Gewalt Androhung von Sanktionen Rückzug/schweigen nicht ernst genommen werden überreden/Manipulation (»Ach, sei doch nicht so...«) 181

¨ ¨ ¨

lächerlich gemacht werden Sarkasmus/Zynismus jammern

Mit welchem Verhalten reagiere ich meinerseits auf die genannten Reaktionen (zum Beispiel Hilflosigkeit, Ohnmacht, Ärger usw.)? Wenn Sie erkannt haben, mit welchen Reaktionen Ihres Gegenübers Sie am ehesten umzustimmen sind, können Sie sich auch dagegen wappnen. Stellen Sie sich zur Übung die Person mit deren Reaktion deutlich vor und sagen Sie sich innerlich: ● ● ●

»Auch wenn du mir Leid tust, bleibe ich bei meinem Nein!«, »Auch wenn du mir drohst, bleibe ich ruhig und entschlossen!« oder »Auch wenn du traurig bist, stehe ich zu meinem Nein!«

Sehr wirkungsvoll ist diese Übung, wenn Sie die Sätze laut vor dem Spiegel sagen, bis Sie sich damit sicher fühlen. Wichtig ist, dass Sie von Ihrem Nein überzeugt sind, denn dann können Sie auch andere davon überzeugen. Da ein Nein vom Gegenüber oft als persönliche Herabsetzung gedeutet wird, können Sie diese Wirkung abmildern. Bleiben Sie in der konkreten Gesprächssituation mit dem anderen in Kontakt und sprechen Sie dessen gefühlsmäßige Reaktion auf Ihr Nein an, zum Beispiel: ● ●

»Ich weiß, dass das jetzt nicht einfach für dich ist« oder »Ich kann mir vorstellen, dass du jetzt verärgert, enttäuscht, sauer auf mich bist.«

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Mit diesen Sätzen zeigen Sie Verständnis für Ihr Gegenüber und schaffen einen Rahmen, in dem enttäuschte Gefühle gezeigt werden können. Sie lassen den anderen nicht allein damit. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass Sie wirklich einfühlsam auf den anderen eingehen, sonst könnten diese Sätze leicht als zynisch missverstanden werden. Auch hier macht der Ton die Musik. Wenn wir Enttäuschungen als Teil unseres Wachstumsprozesses verstehen, in dem Sinne, dass sie uns von Täuschungen befreien und uns der Wirklichkeit näher bringen, verlieren auch die daraus resultierenden Ängste und Schuldgefühle ihre Bedrohung. Wir sind dann eher bereit, den Reaktionen auf ein Nein standzuhalten, was die Konfliktfähigkeit in erheblichem Maße steigert. Ent-täuschungen bedeuten, dass wir von einer Täuschung befreit werden. Anregungen für positive Gedanken ● ● ●

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Das Nein zu dir ist ein Ja zu mir. Indem ich mir selbst treu bin, werde ich manchmal andere enttäuschen. Wenn ich meine eigene Enttäuschung ertragen kann, werde ich auch die enttäuschten Reaktionen der anderen aushalten. Auch wenn ich nein sage, bleibe ich in Kontakt mit dir. Jeder Mensch wird mit einem Nein fertig. Ich bin liebenswert, auch wenn ich die Erwartungen anderer nicht erfülle.

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Wertschätzung – Das DU achten Die folgenden beiden Fähigkeiten Einfühlungsvermögen und Toleranz für Gegensätze sind notwendig, um unserem Gegenüber mit Achtung und Respekt begegnen zu können. Das DU darf nicht übergangen werden, wenn wir zu dauerhaft befriedigenden Lösungen kommen wollen. Idealerweise hat daher jede Konfliktlösung auch die Verbesserung der Beziehung zwischen den Konfliktparteien zum Ziel, gerade in Familie und Partnerschaft. Indem wir den anderen mit »seiner Welt« ernst nehmen, bringen wir ihm Wertschätzung entgegen.

Einfühlungsvermögen Wenn jemand mir zuhört, ohne mich zu verurteilen, ohne für mich Verantwortung zu übernehmen und ohne mich verändern zu wollen, dann fühlt sich das verdammt gut an. Carl Rogers

Was heißt Einfühlungsvermögen? So, wie es beim Identitätzeigen darum ging, sich selbst Raum zu nehmen, so geht es jetzt darum, umgekehrt auch dem anderen – zeitlich begrenzt – den Raum zu geben, den er für die Darstellung seiner Sichtweise braucht. Auch der andere will wahrgenommen, gesehen und gehört werden. Auch er braucht Aufmerksamkeit für seine Bedürfnisse, Wünsche und Erwartungen, was nicht heißt, dass diese immer erfüllt werden oder ich seinen Ansichten zustimme. Wahre Anteilnahme zeigt sich darin, dass der andere sich in seiner momentanen Befindlichkeit angenommen fühlt, so dass ein Gefühl von Nicht-verstanden-Werden und Verlas184

senheit gar nicht erst aufkommen kann. Wer sich gehört und ernst genommen fühlt, braucht seinen Wunsch, sein Bedürfnis usw. auch nicht ständig zu wiederholen oder langatmig zu erklären. Die Botschaft ist ja gehört worden und nun kann abgewartet werden, was daraus wird. Ich will das an einem Beispiel deutlich machen: Ein Kind, das den Wunsch nach einem Haustier äußert, was für die Eltern aber nicht in Frage kommt, könnte folgende Antwort bekommen: »Ja, du möchtest also gern ein Meerschweinchen haben und ich denke, das wäre wirklich schön für dich zum Spielen und Schmusen. Aber trotzdem bin ich dagegen. Wir fahren so oft weg, auch übers Wochenende, dass wir dann immer jemanden finden müssten, der das Tier versorgt. Das ist mir einfach zu aufwendig.« Das Kind ist natürlich frustriert, dass sein Wunsch nicht erfüllt wird, und reagiert enttäuscht, mit Tränen oder ärgerlich. Eine einfühlsame Reaktion darauf wäre: »Ja, das kann ich gut verstehen, dass dich das traurig macht (ärgert).« Die Mutter tröstet ihr Kind und nimmt es eventuell in den Arm. Sie lässt ihrem Kind das verständliche Gefühl und nimmt es damit ernst. Sie hält die Enttäuschung, die Tränen oder den Ärger aus. Die Reaktion des Kindes ist ja ganz natürlich; auch Erwachsene sind enttäuscht, traurig oder ärgerlich, wenn Wünsche nicht erfüllt werden. Was wir dann brauchen, ist eher ein verständnisvolles oder tröstendes Wort, damit wir unsere Enttäuschung besser annehmen und überwinden können. Wenn diese Art von Gefühlen – herkömmlicherweise als »negativ« bezeichnet – ausgedrückt wird, gehen sie vorbei und wir tragen sie nicht ein Leben lang mit uns herum. Bei dieser Vorgehensweise darf das Kind seinen Wunsch haben, er wird als berechtigt angesehen und ihm nicht ausgeredet, und sein Gefühl der Enttäuschung wird respektiert. 185

Das Kind fühlt sich verstanden, auch wenn es letztlich verzichten muss, und nach kurzer Zeit wird es sich beruhigen. Die Beziehung zur Mutter oder zum Vater ist nicht abgebrochen, sondern vertieft sich durch das gezeigte Verständnis. Bei ganz brennenden Wünschen wird ein Kind natürlich versuchen, die Eltern doch noch umzustimmen. Sich für etwas einsetzen zu können ist eine wichtige Fähigkeit, die geübt werden muss. Trotzdem dürfen Eltern bei ihrem Nein bleiben, auch wenn solche Fälle eine harte Herausforderung an die eigene Standfestigkeit darstellen. Ganz anders verläuft die oben genannte Situation, wenn versucht wird, den Wunsch des Kindes als unsinnig abzutun, weil man ihn nicht erfüllen will oder kann. In diesem Falle wird das Kind seinen Wunsch zu rechtfertigen suchen und das Thema wird so zum »Dauerbrenner«. Oder wenn nach einem Nein die Enttäuschung des Kindes abgewertet wird mit einem »Stell dich nicht so an« oder »Jammer nicht so herum«; hier können die Eltern offenbar die Folgen nicht ertragen, die entstehen, wenn sie ihrem Kind etwas abschlagen. Dadurch verlängern sie aber den unglücklichen Zustand des Kindes, weil es sich nicht nur unverstanden und nicht ernst genommen, sondern auch noch allein gelassen fühlt. Der Mangel an Einfühlungsvermögen, nämlich die Situation aus der Sicht des Kindes zu betrachten und nachzuempfinden, kann daher kommen, dass die Eltern in ihrem Leben nicht die Erfahrung verständnisvoller Aufmerksamkeit gemacht haben und ihnen eine solche Verhaltensweise daher fremd ist. Es kann auch sein, dass sie vielleicht gerade ebenfalls eine Enttäuschung verarbeiten müssen und im Moment eigentlich selbst einfühlsame und tröstliche Worte bräuchten. Vielleicht hat gerade der Partner angerufen, um mitzuteilen, dass er sich heute Abend mit Freunden treffen will und nicht zum Essen kommt. Kaum ist das Gespräch beendet, 186

kommt der Sprössling mit dem dringenden Wunsch nach einem Haustier oder etwas anderem, und dann wird die Enttäuschung über den Partner am Kind abreagiert. Natürlich hat das eine nichts mit dem anderen zu tun und hinterher tut einem die eigene Reaktion Leid. Zuhören und verstehen bedeutet noch nicht, in allem zuzustimmen. Es heißt, sich betreffen zu lassen von dem, was dem anderen wichtig ist, ohne dabei den eigenen Standpunkt zu verlieren. Voraussetzungen für Einfühlungsvermögen Die Grundlage für Einfühlungsvermögen ist zunächst einmal eine zugewandte und offene Haltung, die uns umso besser gelingt, je mehr wir in Kontakt zu unseren Gefühlen sind und je klarer der eigene Standpunkt ist. Damit ist nicht gemeint, dass wir immer über alles genau Bescheid wissen. Ein klarer Standpunkt kann sich auch darin zeigen, dass die momentane Unsicherheit in einer Sache ausgedrückt wird, zum Beispiel: »Das kann ich jetzt noch nicht sagen, darüber muss ich erst nachdenken«. Diese Haltung befreit uns von dem Druck, auf alles, was der andere vorbringt, immer gleich eine gültige Antwort parat zu haben. Genau genommen kann ein Unsicherwerden sogar sehr nützlich sein, wenn wir bereit sind, uns darauf einzulassen. Es fordert uns nämlich heraus, unseren Standpunkt bewusst zu überdenken. Können wir wirklich mit Überzeugung vertreten, was wir wollen oder vom anderen verlangen? Wenn ja, dann festigt jede Konfrontation unseren Standpunkt, weil wir ihn nochmals – auch vor uns selbst – begründen müssen und dabei spüren, wie sicher wir dazu stehen. Vielleicht stellen wir aber auch fest, dass wir nur blind die Meinung anderer übernommen haben, ohne uns Gedanken 187

darüber gemacht zu haben, ob diese für unser ganz persönliches Empfinden zutrifft. Dann kann die Verunsicherung zu einer Überprüfung angelernter fremder Meinungen führen, um letztlich doch noch zu einem eigenen Standpunkt zu finden, den wir dann mit Überzeugung vertreten können. Im Einzelnen setzt Einfühlungsvermögen also voraus: 1. Zunächst wertfrei wahrzunehmen, was der andere vorbringt und dies einfach als seinen Standpunkt gelten zu lassen, auch wenn es zunächst nicht akzeptierbar erscheint, gemessen an den eigenen Vorstellungen. 2. Die Bereitschaft, den anderen wirklich verstehen zu wollen. Dabei hilft die Einstellung »Was zeigt mir denn der andere gerade von sich und › seiner Welt‹ ?« 3. Vorübergehende Distanz zu den eigenen Erwartungen und Wünschen. Sicher erleichtert es das Offensein für den anderen, wenn wir ihm ein Gefühl von Liebe, Zuneigung oder Sympathie entgegenbringen. Wo das nicht der Fall ist, weil unausgesprochene Gefühle wie Ärger oder Enttäuschung einen blockieren, wird das Zuhören schon schwieriger. Es müsste zumindest die Achtung vor dem anderen so weit vorhanden sein, dass wir ihn wenigstens anhören. Dieses Anhören ist gerade zwischen Partnern oft erschwert. Entweder hören sie einander aus Gewohnheit nicht mehr richtig zu oder die Fronten sind durch jahrelange Enttäuschungen und Verletzungen schon so verhärtet, dass die beiden die Bereitschaft zum aufmerksamen Zuhören erst wieder lernen müssen. Wenn wir unser Gegenüber – ob Kind oder Partner/in – wirklich genauso ernst nehmen wie uns selbst, dann müssen wir ihm das Recht auf einen eigenen Standpunkt, auf eigene Gefühle oder Bedürfnisse usw. zugestehen, auch wenn diese 188

ganz konträr sind zur eigenen Sichtweise und Empfindung. Das fällt nicht ganz leicht, denn wir neigen dazu, Menschen und Situationen auf Grund eigener Vorstellungen und Erwartungen zu bewerten und dann sofort zu reagieren, zum Beispiel mit Gegenvorschlägen, Abwertungen oder Abwehr. Dadurch nehmen wir uns oft nicht die Zeit, die Meinung des anderen zunächst einmal auf uns wirken zu lassen, wie wir uns das ja umgekehrt auch wünschen. Stattdessen sind wir zu sehr darauf bedacht, den eigenen Standpunkt zu verteidigen, und wirken dadurch auf unser Gegenüber so, als wären wir an seiner Meinung nicht interessiert. Wahre Ich-Stärke zeigt sich aber darin, dass wir vorübergehend unsere Sichtweise beiseite lassen und uns in die Lage des anderen hineinversetzen. Danach können beide Meinungen gleichberechtigt gegenübergestellt werden und man kann gemeinsam entscheiden, was in der gegebenen Situation am sinnvollsten zu tun ist. Die Bereitschaft, einen Kompromiss auszuhandeln oder auch mal zu verzichten, ist dann viel größer. Es könnten auch beide Seiten mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen zum Zuge kommen. So wird eventuell entschieden, dass der eine zum Wandern geht und der andere gemütlich zu Hause bleibt oder einem Hobby nachgeht, weil ihm/ihr das im Moment mehr entspricht. Die Zufriedenheit, die daraus für den Einzelnen entsteht, trägt mehr zu einer friedvollen und liebevollen Atmosphäre bei, als wenn »immer alles gemeinsam« gemacht wird. Das gelingt jedoch nur, wenn wir dem anderen sein Anderssein lassen. Natürlich fällt es uns leichter, jene Gefühle und Gedanken beim anderen nachzuempfinden, die wir bei uns selbst kennen und zulassen. Wir kommen also auch hier nicht um uns selbst herum, denn:

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Wer sich selbst übergeht, der übergeht leicht auch andere. Je besser wir über uns Bescheid wissen und je ehrlicher wir zu uns selbst sind, desto offener und toleranter sind wir gegenüber den Interessen unserer Mitmenschen. Beim Religionsphilosophen Martin Buber habe ich einen Satz gefunden, der die Voraussetzung für Einfühlungsvermögen sehr treffend zum Ausdruck bringt: »Freilich muss man, um zum andern ausgehen zu können, den Ausgangsort innehaben, man muss bei sich gewesen sein, bei sich sein.«36 Was behindert das Einfühlungsvermögen? Auf die Frage, was einen eigentlich daran hindert, dem anderen offen zuzuhören und sich vorübergehend in ihn hineinzuversetzen, haben TeilnehmerInnen in meinen Seminaren immer wieder die folgenden Punkte genannt: ● ● ● ● ● ● ● ● ●

Ungeduld/Zeitdruck; Bequemlichkeit; eigene Unsicherheit; Vorurteile und vorgefasste Meinungen (wie etwas sein sollte); mangelnde Flexibilität (starres Festhalten an Regeln und eigenen Denkweisen); Angst vor Neuem/Unbekanntem (was nicht in das eigene Weltbild passt, wird abgewehrt); Angst vor Überlastung (nicht nein sagen können); verstecktes Misstrauen (zum Beispiel: »Das sagt er ja nur, um mich zu ärgern«); Trotz/beleidigt sein (»Mir hört auch keiner zu«).

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All diese Punkte drücken eine innere Haltung aus, die wir – ausgehend von uns selbst – anderen gegenüber haben. Ob bewusst oder unbewusst, immer ist es der eigene Standpunkt, der »Ausgangsort«, wie Martin Buber sagt, von dem aus wir anderen begegnen. Er färbt unsere Wahrnehmung und Deutung einer Situation und beeinträchtigt damit unsere Fähigkeit zur Einfühlung entscheidend. Zum eigenen Standpunkt gehört nicht nur, was wir wollen, sondern auch, wie wir uns selbst in Bezug zum anderen sehen, zum Beispiel stark oder schwach, überlegen oder unterlegen beziehungsweise gleichrangig. Ebenso gehört dazu, welches Bild wir uns vom anderen machen und was wir auf Grund dessen von ihm erwarten. Nicht selten sind Beziehungen von Idealvorstellungen belastet, weil wir andere durch die Brille unserer Vorstellungen und Erwartungen sehen, und wir sind dann enttäuscht, verärgert oder verunsichert, wenn der/die andere unsere Erwartungen nicht erfüllt. Die Schwierigkeiten ergeben sich eben erst, wenn der andere anders will als wir oder sich in einer Weise verhält, die wir missbilligen, wenn wir also mit dem Anderssein konfrontiert werden. Dann müssen wir uns die Mühe machen, fremdes Erleben nachzuvollziehen, um die Verständigung mit unserem Gegenüber nicht zu verlieren. Darin liegt eine Chance und eine Gefahr: Zum einen erweitert sich unser Blickwinkel, wenn wir einmal die Dinge aus der Perspektive des anderen betrachten. Zum anderen besteht die Gefahr der Überfremdung, das heißt so stark beeinflusst zu werden, dass der eigene Standpunkt ins Wanken gerät. Und davor versuchen wir uns zu schützen, zum Teil so sehr, dass der Schutz zum Hindernis wird. Die innere Einstellung bestimmt letztlich darüber, wie sehr wir uns dem anderen öffnen oder verschließen, ob wir eher Nähe zulassen oder 191

mehr auf Distanz gehen. Hier spielt wieder der Selbstwert, die Selbsteinschätzung eine Rolle. Menschen mit einem stabilen Selbstwertgefühl haben einen relativ sicheren Stand und können Nähe gut zulassen und sich leichter in andere hineinversetzen. Sie müssen nicht befürchten, den eigenen Standpunkt durch neue Eindrücke zu gefährden. Was ihnen wichtig ist, dafür setzen sie sich ein. Sie sind aber auch bereit, Ungewohntes auf sich einwirken zu lassen und offen zu sein für das, was sich daraus ergibt. Menschen mit schwachem Selbstwertgefühl und starken Selbstzweifeln haben hingegen einen unsicheren Stand. Sie neigen dazu, auf Distanz zu gehen, um sich vor einer möglichen Verunsicherung zu schützen. Sie sind bemüht, Dinge von sich fern zu halten, die sie beunruhigen oder verunsichern, und sie sind verschlossen gegenüber dem, was nicht ins eigene Weltbild passt. Aus Angst, sich nicht durchsetzen zu können, hören sie gar nicht erst genau hin, reagieren vorschnell mit Abwehr und verhalten sich unter Umständen eher autoritär. Diese Haltung erschwert es tatsächlich, sich auf andere einzustellen, wobei sich die Unsicherheit möglicherweise nur gelegentlich in ganz bestimmten Situationen zeigt. Dann kann eine gegensätzliche Meinung oder ein Widerspruch aufgefasst werden als ● ● ●

Angriff (»Du willst mir nur das Leben schwer machen«); Zurückweisung (»Du liebst mich nicht, sonst würdest du tun, was ich sage«); Unverschämtheit (»Das hätte ich mir bei meinen Eltern nicht erlauben dürfen«);

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Zumutung (»Du wagst es, mir zu widersprechen!«); Belehrung (»Von dir lasse ich mir nichts sagen«) und Ähnliches.

Diese Reaktionen zeigen, dass Menschen Situationen unterschiedlich erleben und wie wichtig es daher ist, auf die Bedeutung zu achten, die eine Situation für einen selbst und für den anderen hat. Eine andere Meinung könnte ja auch als Herausforderung gesehen werden, sich mit einer Sache bewusst auseinander zu setzen, ohne sich gleich persönlich angegriffen zu fühlen. So aber spiegelt sich die innere Verunsicherung in der äußeren Reaktion wider und führt zu Missverständnissen und Komplikationen. Entwicklungs- und Lernschritte Es geht bei Konflikten also darum, die Lage des anderen zu beachten und seinen Standpunkt zunächst gelten zu lassen. Das setzt eine Offenheit voraus, die nur möglich ist, wenn es gelingt, vom eigenen Standpunkt vorübergehend Abstand zu nehmen, da dieser sonst wie eine unsichtbare Wand zwischen ICH und DU steht. Um diese Distanz zu den eigenen Vorstellungen und Erwartungen, Wünschen und Befürchtungen herstellen zu können, ist es zunächst einmal notwendig, den Blick für die eigene innere Haltung zu öffnen. Solange diese Haltung unbewusst bleibt, erscheint es oft rätselhaft, warum gerade ganz bestimmte Situationen immer wieder zu Konflikten führen, während man sonst mit dem anderen Menschen ganz gut zurechtkommt. Ich möchte an einem Beispiel die behindernde Wirkung dieser »unsichtbaren Wand« aus Vorstellungen und Gefühlen sichtbar machen und dann aufzeigen, wie eine gelungene Distanz dazu so viel Offenheit schafft, dass sich das Gegenüber verstanden fühlt und die ganze Situation entschärft 193

wird. Anhand dieses Beispiels haben Sie dann die Möglichkeit, der eigenen »unsichtbaren Wand« auf die Spur zu kommen. Es geht um das in meinen Seminaren ständig wiederkehrende Thema der Hausaufgaben. Die meisten Eltern sind der Meinung, Hausaufgaben müssten gleich nach dem Essen gemacht werden, gemäß der alten Erziehungsregel »Zuerst die Pflicht, dann das Vergnügen«. Ungeachtet dessen, dass dieser Zeitpunkt rein physiologisch (das Blut fließt vermehrt in die Verdauungsorgane) für geistige Anstrengung und Konzentration reichlich ungeeignet erscheint, beginnt an diesem Punkt in vielen Familien ein zermürbender Kampf zwischen wohlmeinender Mutter und unwilligem Kind, der sich dann ungefähr so abspielt: Kind: »Ich hab gar keine Lust, meine Hausaufgaben zu machen.« Reaktion 1 der Mutter: ●





»Ach komm, das wird schon gehen. Ich helfe dir dabei.« (Was unter Umständen Stunden dauern kann – beschwichtigend), »Immer machst du so einen Zirkus! Du setzt dich jetzt sofort hin, sonst gibt es heute kein Fernsehen.« (Anklagend, einschüchternd) oder »Das geht aber nicht. Du weißt genau, dass du dann schlechte Noten schreibst. Je eher du anfängst, desto schneller bist du fertig.« (Rationalisierend, die Gefühle des Kindes werden ignoriert).

Mehr oder weniger sanft wird hier Druck ausgeübt, weil das, was ist – nämlich die Unlust des Kindes – offenbar nicht sein darf, worauf das Kind natürlich vermehrt seine Unlust beteuert und sie damit verfestigt. 194

Stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten überhaupt keine Lust zum Kochen oder Fensterputzen und jemand übt Druck auf Sie aus, es doch zu tun. Wie fühlen Sie sich dabei? Ermutigt Sie das? Oder vermehrt das nur Ihren Widerstand? Fühlen Sie sich angenommen? Glauben Sie, dass sich dieses Kind angenommen fühlt? Besteht ein echter Kontakt zwischen Mutter und Kind oder steht nicht jeder mit seiner Äußerung verlassen und ungehört da? Was hinter diesen und ähnlichen Reaktionen steht, aber nicht sichtbar wird, sind die Vorstellungen, Befürchtungen, Ängste der Mutter, von denen sie sich manche vielleicht selbst nicht ganz eingesteht, zum Beispiel: ●



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Ich fühle mich verantwortlich für das Vorankommen meines Kindes und bin deshalb auch für seine Hausaufgaben verantwortlich. Ich will, dass es meinem Kind einmal besser geht. (Das heißt, die eigene Unzufriedenheit mit dem Leben soll vom Kind ausgeglichen werden.) Wenn mein Kind das Klassenziel nicht schafft, gilt es als unfähig oder gar als dumm – und wie stehe ich dann da? Das Kind erinnert mich an meine eigenen Schulschwierigkeiten und dafür schäme ich mich noch heute. Wenn mein Kind die Hausaufgaben nicht macht und/oder schlechte Noten schreibt, muss ich zur Lehrerin, und das ist mir unangenehm. Ich fühle mich bei Lehrern immer wie ein dummes Schulkind. ...dann macht mir mein Mann Vorwürfe, dass ich mich nicht richtig um die Hausaufgaben kümmere/dass ich das Kind nicht genug unterstütze. Und dagegen kann ich mich so schlecht wehren. Ich habe Angst, selbst als unwissend dazustehen, und will auf keinen Fall, dass es meinem Kind auch so geht. 195

All diese Gedanken und Gefühle sind vor dem Lebenshintergrund der Mutter zu sehen und es ist verständlich, dass sie sich (und ihrem »inneren Kind«) Unannehmlichkeiten ersparen will. Sie meint daher: »Wenn mein Kind nur tut, was es soll, dann werden all diese schrecklichen Dinge nicht passieren und ich muss mich nicht mit meinen Ängsten und Unsicherheiten auseinander setzen.« Unglücklicherweise gibt sie damit ihren inneren Druck an das Kind weiter. Es scheint hier mehr um das Wohl der Mutter zu gehen als um das des Kindes. Zumindest findet eine Vermischung zwischen beidem statt, was zur Folge hat, dass die ganze Situation unklar und verworren wird. Solange die Mutter keine Distanz herstellt zwischen ihrer Problemlage (die einer anderen Lösung bedarf) und dem Erlebnisbereich ihres Kindes, kann sie es in seinem momentanen Zustand der Unlust auch nicht wertfrei wahrnehmen. Vielmehr spürt das Kind unterschwellig, dass es Macht über die Mutter hat, da sie ihr Wohlbefinden so ängstlich von seinem Handeln abhängig macht. Sie wird dadurch manipulierbar und das Drama um die Hausaufgaben kann »ewig« weitergehen. Wenn sich diese Szene tatsächlich bereits wiederholt und Sie denken: »Jetzt fängt das schon wieder an«, könnten Sie sich fragen, ob Sie Ihr Kind bisher vielleicht wirklich nicht recht angehört haben und es deshalb »schon wieder damit anfängt«. Abgesehen davon, dass es Kinder gibt, die auf diese Weise die sonst nicht ausreichend vorhandene Aufmerksamkeit und Zuwendung ihrer Mutter zu bekommen hoffen, könnten Sie einmal trotz Ihrer Ängste versuchen, der Unlust des Kindes auf den Grund zu gehen und in Erfahrung zu bringen, was dahinter steckt. Damit komme ich zur

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Reaktion 2 der Mutter: ●

»Du hast keine Lust? Dann erzähl doch mal, was los ist.« (Sie nimmt ihr Kind in den Arm oder auf den Schoß und wartet ab.)

Vielleicht ist das Kind einfach nur müde, vielleicht hat es Ärger mit der Lehrerin gehabt, ist es von Schulkameraden gehänselt worden, versteht es die Aufgabe nicht oder fühlt sich überfordert, weil es gerade andere seelische Nöte zu bewältigen hat, die mit der Schule gar nichts zu tun haben. Es gibt so viele Möglichkeiten, warum ihm die Schule und alles, was damit zusammenhängt, verleidet ist, und das geht auch wieder vorüber. Im Moment kommt es nur darauf an, das Nichtausgesprochene ans Licht zu bringen und herauszufinden, was das Hausaufgabenmachen für das Kind bedeutet. Entscheidend ist bei der zweiten Reaktion das Verhalten der Mutter. Auch sie hat ein Interesse daran, dass ihr Kind vorankommt und Erfolg hat. Aber es gelingt ihr, die eigenen Erwartungen und Befürchtungen vorübergehend zurückzustellen, also Abstand zu sich selbst zu nehmen und nicht mit emotionalem Druck zu reagieren. Sie übergeht die momentanen Gefühle ihres Kindes nicht, sondern nimmt es damit ernst und schafft so einen Raum, der es ermöglicht, sich auszusprechen und Klarheit zu schaffen. Nach einer solchen Aussprache kann das Kind neuen Mut fassen und sich aus freiem Willen an seine Aufgabe machen. Ich habe in der Erziehungsberatung immer wieder mit Erstaunen erlebt, wie viel Lerneifer ein Kind entwickelte, nachdem ich mir seine Sorgen und Nöte angehört oder ihm die Möglichkeit gegeben hatte, in einer Spielsituation seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Dabei habe ich immer darauf geachtet, dass das Kind die Hausaufgaben zu seiner Sache macht, und ihm die Verantwortung dafür nicht abgenom197

men. Hingegen halten sich in aller Regel Eltern für die Hausaufgaben verantwortlich, was in unserem Schulsystem leider auch gefördert wird. Wer hier neue Wege gehen will, dem empfehle ich, Kontakt mit der Aktion Humane Schule aufzunehmen, die es sich unter anderem zur Aufgabe macht, das Klima zwischen Eltern und Schule zu entlasten (Adresse am Ende des Buches). Sobald die Lage des Kindes geklärt ist und es seine Hausaufgaben macht, beruhigen sich wohl auch die Befürchtungen der Mutter. Sie kann sich nun Zeit nehmen, sich mit ihrer inneren Haltung näher zu befassen und diese zu erforschen (siehe Kapitel 3). Das wird besonders dann notwendig sein, wenn ihre Befürchtungen und Ängste so stark sind, dass ihr das Abstandnehmen sehr schwer fällt. Dann ist es sinnvoll, den eigenen Standpunkt, der sie so unter Druck setzt, bewusst zu überprüfen. Vielleicht stellt sie fest, dass ihre Ängste (zum Beispiel vor dem Lehrer) ein Überbleibsel aus ihrer Kindheit sind, die langsam abgebaut werden können, vielleicht mit professioneller Hilfe (Beratung, Psychotherapie). Erst wenn die Mutter ihre Befürchtungen und Ängste als zu ihrer Persönlichkeit gehörig erkennt, wird sie diese nicht mehr auf ihr Kind projizieren und kann unabhängig von ihm eine Lösung für sich selbst finden. Dann wird es ihr auch gelingen, sich einfühlsam ihrem Kind zuzuwenden, das nun nicht mehr für ihr Wohlergehen »zuständig« gemacht wird. Alles, was ich hier über das Verhalten einer Mutter sage, trifft in entsprechenden Situationen natürlich auch auf Väter oder andere Erziehungspersonen zu. Übung Wenn Sie inzwischen neugierig geworden sind auf ihre eigene »unsichtbare Wand«, dann können die folgenden Anregungen als Unterstützung bei Ihrer Entdeckungsreise dienen. 198

Stellen Sie sich eine Person vor, mit der Sie so in einer konflikthaften Situation verstrickt sind, dass Ihnen das Abstandnehmen wirklich schwer fällt, und überprüfen Sie mit Hilfe der nachstehenden Fragen Ihre Einstellung zu diesem Menschen (wenn es mehrere Personen sind, gehen Sie nacheinander vor): ● ●





Welche der auf Seite 190 und 192 f. genannten Punkte treffen auf mich zu (bezogen auf die fragliche Situation)? Welche Haltung nehme ich in Beziehung zum anderen ein: schwach – hilflos – ausgeliefert – unterlegen – unsicher – stark – überlegen – gleichrangig – ebenbürtig – unabhängig ...? (Ist meine Beziehung zum anderen mehr von meinem »inneren Kind« geprägt, das sich Unterstützung erwartet, oder mehr von meinem erwachsenen Teil, der selbst für sich sorgen kann?) Welche Vorstellungen habe ich über dich und welche Erwartungen ergeben sich daraus? – Wie du sein solltest (brav – folgsam – nachgiebig – ordentlich – ruhig – einsichtig ...), damit ich (stolz auf dich sein kann – Unterstützung von dir bekomme – keine zusätzliche Mühe habe ...) – Was du tun solltest (konkret in dieser Situation, zum Beispiel Zimmer aufräumen – leise sein – Hausaufgaben machen ...), damit ich (keinen Ärger bekomme – keine Unannehmlichkeiten mit Nachbarn/Lehrern habe – bequem sein kann – nicht unsicher/traurig werde ...) (Ergänzen Sie die Sätze entsprechend Ihrer Situation.) Was haben meine Erwartungen an dich mit eigenen unerfüllten Wünschen und Bedürfnissen zu tun? Zum Beispiel: Wenn du ein guter Schüler/Sportler bist, gleich das meine eigene Unzulänglichkeit aus. Wenn du 199



Klavier spielen lernst, erfüllt sich in dir, was mir als Kind versagt war. (Was könnte ich unternehmen, um mir meine Wünsche selbst zu erfüllen? Bin ich eventuell bereit, um das, was in meinem Leben nicht möglich war, zu trauern und davon Abschied zu nehmen?) Welche Befürchtungen, Ängste und Unsicherheiten werden durch dein unerwünschtes Handeln bei mir ausgelöst? (Versuche ich unangenehme Gefühle zu vermeiden, indem ich dich unter Druck setze? Oder bin ich bereit, diese als Teil meiner selbst zu akzeptieren und unabhängig von dir eine Lösung zu finden?)

Es gehören Mut und Aufrichtigkeit dazu, sich die wahren Gedanken, Gefühle und Absichten einzugestehen, die hinter dem eigenen Handeln stehen. Und es mag leichter erscheinen, vom anderen zu verlangen, er solle sich ändern, damit wir uns nicht der Mühe einer Auseinandersetzung mit uns selbst unterziehen müssen. Aber mit demselben Recht könnte unser Gegenüber das Gleiche von uns verlangen. Diese Forderung führt letztlich nur zu endlosem Streit, destruktiven Manipulationen und Unzufriedenheit. Erst das Bemühen um Verständnis wird zu befriedigenden Lösungen führen, weil sich dabei die beteiligten Personen in ihrer Gesamtpersönlichkeit geachtet und ernst genommen fühlen. Auf diese Weise wird der Weg frei für eine einfühlsamere Haltung, auch sich selbst gegenüber. Dazu gehört natürlich eine gewisse persönliche Reife, die nicht einfach herzuzaubern ist. Kinder treffen ihre Eltern genau da, wo diese noch unsicher sind, und fordern dadurch Eltern heraus, notwendige Reifungsschritte zu tun. 200

Übung Mit den folgenden konkreten Handlungsschritten können Sie Ihr Einfühlungsvermögen vertiefen beziehungsweise zum Ausdruck bringen sowie Ihrem Gegenüber Verständnisbereitschaft zeigen. ●

Einfühlsames Zuhören

Durch einfühlsames Zuhören zeige ich meinem Gegenüber, dass ich nicht nur dessen Worte höre, sondern gleichzeitig mitbekomme, wie es dem anderen gefühlsmäßig geht. Das vermittelt meinem Gesprächspartner ein tiefes Gefühl von Verstandenwerden. Außerdem dient es der Überprüfung der eigenen Wahrnehmung: Indem ich in eigenen Worten wiedergebe, wie das Gesagte bei mir angekommen ist, vergewissere ich mich, ob ich richtig verstanden habe. Der andere hat dann die Möglichkeit, meine Wahrnehmung zu bestätigen oder mit anderen Worten zu wiederholen, was er meint. Ein Beispiel: Kind: »Der Peter ist richtig doof.« Mutter (einfühlsam): »Der hat wohl etwas gemacht, das dir gar nicht gefallen hat, hm?« Kind: »Ja, immer will der mir mein Auto wegnehmen, wenn ich gerade so schön spiele.« Mutter (einfühlsam): »Das macht dich wohl sehr traurig?« Kind: »Nein, ich bin sooo wütend.« Mutter (einfühlsam): »Ah, das macht dich wütend, ja, das kann ich verstehen. Und was tust du dann?« Usw. Die Mutter hört nicht nur die Worte, sondern fühlt sich gleichzeitig in ihr Kind ein und benennt das Gefühl, das sie 201

heraushört. Selbst wenn sie damit nicht richtig liegt, ermutigt sie dadurch ihr Kind, das tatsächliche Gefühl (hier die Wut) zum Ausdruck zu bringen. Dadurch fühlt sich ihr Kind wirklich verstanden und es spürt das Interesse der Mutter an seinem Erlebnis. Auch bei einem Konfliktgespräch unter Erwachsenen ist es hilfreich, wenn ich zunächst wiedergebe, was bei mir angekommen ist, und das Gefühl benenne, das ich beim anderen vermute. Erst wenn der Gesprächspartner sich wirklich verstanden fühlt, beginne ich meinen Standpunkt darzulegen und mitzuteilen, wie mir zumute ist. Wenn ich sichergehen will, ob ich auch richtig verstanden wurde, kann ich mein Gegenüber fragen, wie es das von mir Gesagte auffasst. Diese Vorgehensweise schafft einen gewissen Spielraum zwischen Argument und Gegenargument und ist geeignet, vorschnelle Reaktionen und das Aneinander-Vorbeireden zu vermeiden. Anfangs werden Sie sich mit diesem Vorgehen vielleicht etwas »komisch« fühlen, bis Sie die Erfahrung gemacht haben, dass sich dadurch das gegenseitige Verständnis wesentlich verbessert. ●

Bedeutungen hinterfragen

Das Einfühlen und Verstehen bezieht sich nicht nur auf Gefühle, sondern zeigt sich auch in der Beachtung unterschiedlicher Deutungen einer Situation (siehe Kapitel 6). Eine Frau schlägt beispielsweise Ihrem Partner einen gemeinsamen Kinobesuch am Abend vor. Er zuckt mit den Schultern, was sie als persönliche Zurückweisung deutet, noch bevor er etwas gesagt hat. Sie reagiert darauf verletzt mit den Worten: »Nie machst du was mit mir gemeinsam!« Die Reaktion der Frau ist ein »Verschmelzungsprodukt« der drei Empfangsvorgänge,37 wobei sie ihre Deutung der Situation für wahr hält. 202

Ein Schulterzucken kann auch noch anderes bedeuten, zum Beispiel »Ich weiß noch nicht, ob ich dazu Lust habe« oder »Kommt drauf an, welcher Film«. Statt verletzt zu reagieren, könnte die Frau innehalten und ihre Deutung überprüfen: »Ich sehe, wie du mit den Schultern zuckst, und vermute, dass ich dir nicht wichtig bin – stimmt das?« Bei dieser Rückfrage wird sich ihr Partner nicht angegriffen fühlen, sondern bekommt eher den Eindruck, dass die Frau an seiner Sichtweise interessiert ist. Das Gespräch kann dann auf konstruktivere Weise fortgeführt werden. Immer wenn Sie sich in einem Konflikt nur noch Anschuldigungen und Rechtfertigungen an den Kopf werfen, sollte der Gesprächsverlauf unbedingt unterbrochen werden, um zu klären, was da gerade schief läuft. Wenn der/die andere eine für Sie unverständliche Reaktion zeigt (zum Beispiel aufgebracht oder beleidigt reagiert), dann wird vielleicht das, was Sie sagen, anders aufgefasst, als Sie es meinen. Oder es schwingt in Ihrer Aussage etwas mit, das Ihnen selbst gar nicht bewusst ist (zum Beispiel versteckter Ärger). In einem solchen Fall ist es sehr ratsam, das Tempo zu verlangsamen und durch Nachfragen zu überprüfen, ob die eigene Deutung dessen, was der andere sagt oder tut, überhaupt zutrifft. Mit Sätzen wie »Was bedeutet das jetzt für dich?«, »Wie hast du das denn aufgefasst?« oder »Ich sage mal, was bei mir jetzt angekommen ist« usw. kann eine Atmosphäre der Verständigung geschaffen werden, die recht 203

schnell zur Klärung eines Missverständnisses führt, vorausgesetzt, Sie lassen das Erleben und Empfinden des anderen als seine Wahrheit gelten. Es kann natürlich sein, dass Sie beim genauen Zuhören und Nachfragen Dinge zur Kenntnis nehmen müssen, die Sie lieber nicht wahrhaben wollen. Dann liegt es in Ihrer Entscheidung, ob Sie durch Überhören dieser Dinge die Verständigung erschweren beziehungsweise blockieren oder ob Sie dem Unangenehmen ins Auge schauen und so wenigstens den Kontakt zum Gegenüber aufrechterhalten. Anregungen für positive Gedanken ● ● ● ● ● ●

Zuhören bedeutet noch nicht zustimmen. Ich bin bereit, deine Sichtweise/Meinung kennen zu lernen. Wir müssen nicht in allem übereinstimmen. Ich nehme dich ernst, so, wie ich mich ernst nehme. Ich lasse deinen Standpunkt gelten, auch wenn er mir unverständlich ist. Ich darf meinen Standpunkt behalten, auch wenn du einen anderen hast.

Toleranz für Gegensätze Jede Wahrheit ist eine kurze Formel für den Blick in die Welt von einem bestimmten Pol aus, und es gibt keinen Pol ohne Gegenpol. Hermann Hesse

Was heißt Toleranz? Wenn Menschen miteinander zu tun haben, wird es immer Bereiche geben, in denen sich die gegenseitigen Erwartungen und Interessen nicht decken. So entstehen zwei- oder mehr204

deutige Situationen, denn jeder sieht die Dinge im Lichte seiner ganz persönlich gefärbten Überzeugungen und Bedürfnisse. Wollen wir trotzdem im Gespräch bleiben – und das müssen wir, um zu befriedigenden Lösungen zu kommen –, brauchen wir die Fähigkeit, Gegensätze nebeneinander bestehen zu lassen und sie zu tolerieren. Die Verunsicherung über den Ausgang eines Konflikts muss eine Zeit lang ausgehalten werden. Nicht nur das: Wir müssen sogar bereit sein, teilweise oder ganz auf die Befriedigung unserer Bedürfnisse zu verzichten und uns stattdessen auf Kompromisse einlassen. Nicht, weil wir mit unserer Sichtweise etwa im Unrecht wären, sondern weil die Situation einfach eine andere Entscheidung erfordert. Am folgenden Beispiel möchte ich veranschaulichen, wie der Interessenkonflikt zwischen einem Elternpaar gelöst wurde, weil beide Partner sich Zeit genommen haben und zu einem klärenden Gespräch bereit waren: Ein fast sechsjähriger Junge, jüngstes von vier Kindern, soll auf Wunsch des Vaters vorzeitig eingeschult werden. Als Grund gibt er an: Der ältere Bruder habe einmal eine Klasse wiederholt und der jüngere soll dazu auch die Möglichkeit haben, das heißt, wenn er früher eingeschult wird, hat er ein Jahr »gut«. Die Mutter ist jedoch gegen eine vorzeitige Einschulung und begründet dies mit der verzögerten Sprachentwicklung und Motorik des Kindes, das deshalb zurzeit bei einer Krankengymnastin gefördert wird. Die Eltern beschließen, genauere Informationen einzuholen, und melden sich zu einem Gespräch bei der Schulpsychologin an. Das Gespräch dort nimmt eine überraschende Wende, als bisher nicht ausgesprochene persönliche Wünsche und Bedürfnisse beider Eltern zur Sprache kommen: Der Vater hat im Grunde den Wunsch, dass seine Kinder schnell erwachsen und berufstätig werden, damit er so früh 205

wie möglich von der finanziellen Belastung befreit wird, die für die Unterstützung seiner Kinder erforderlich ist. Die Mutter hingegen will ihr jüngstes Kind noch zu Hause behalten, weil sie Angst hat, sonst die Tätigkeit in einem ungeliebten Beruf wieder aufnehmen zu müssen, wenn sie zu Hause nicht mehr gebraucht wird. Das Eingeständnis dieser tiefer liegenden und in der Gesellschaft nicht unbedingt akzeptierten Wünsche macht es beiden Eltern leichter, den Standpunkt des jeweils anderen besser zu verstehen. Das Wissen um die wahren Beweggründe für ihre unterschiedliche Haltung bringt sie einander näher. Es wird ihnen daraufhin möglich, eine an der realen Entwicklung ihres Kindes orientierte gemeinsame Entscheidung zu treffen: Die Einschulung wird um ein Jahr zurückgestellt. Indem diese Eltern ihre eigenen Bedürfnisse nicht mehr hinter den Belangen des Kindes verstecken, sind sie in der Lage, sich verständnisvoller mit ihren persönlichen Wünschen auseinander zu setzen und fühlen sich damit nicht mehr alleine. Dieses Beispiel zeigt sehr deutlich, welche Chance in einem Konflikt verborgen liegt, wenn man sich Zeit lässt und keine übereilten Schritte unternimmt, nur um möglichst schnell die unangenehme Spannung abzubauen. Wir kommen damit zur Frage, wie gerade in schwierigen Situationen ein Spannungsbogen zwischen ICH und DU gehalten werden kann, ohne in hektische Betriebsamkeit zu verfallen und ohne vorschnelle Entscheidungen zu treffen. Voraussetzungen für die Toleranz von Gegensätzen Wenn Gegensätze aufeinander stoßen, werden wir zunächst auf uns selbst zurückgeworfen. Wir stehen sozusagen alleine da mit unserer Sichtweise, da sie nicht von außen bestätigt wird. Um die dadurch entstehende Distanz zum anderen und 206

eine eventuelle Verunsicherung zu überbrücken, brauchen wir ein gewisses Maß an Ich-Stärke, die sich in Standfestigkeit, Geduld und Vertrauen zeigt. Standfestigkeit beziehen wir aus einem positiven Selbstwertgefühl. Meinungen oder Interessen können zwar entgegengesetzt sein, aber sie sind immer als gleichwertig zu betrachten. Wenn wir zu einer gewissen Befriedigung unserer Bedürfnisse gelangen wollen, müssen wir uns auch gegen Widerstände für das einsetzen, was uns wichtig ist und was wir als richtig empfinden. Die Kunst besteht darin, flexibel zu bleiben und den Ausgang offen zu lassen. Das geschieht am besten dadurch, dass wir unser Anliegen als Wunsch oder Bitte äußern und nicht als Forderung. Nur so können wir uns behaupten, ohne starr in einer Haltung stecken zu bleiben und ohne andere mit unserer Überzeugung unter Druck zu setzen. Nach einer ernsthaft geführten, fairen Auseinandersetzung, in der jeder mit seiner Wahrheit gehört worden ist, beugt man sich leichter den momentanen Notwendigkeiten, ohne dass damit der Selbstwert und die Selbstachtung in Frage gestellt werden. Geduld drückt sich darin aus, etwas abwarten zu können, etwas reifen zu lassen, ohne vorschnell zu handeln. So wie eine Frau zum Beispiel eine Schwangerschaft bis zur Geburt abwarten muss, ohne den Vorgang beschleunigen zu können, auch wenn es ihr manchmal noch so beschwerlich ist. Durch die bewusste Auseinandersetzung mit einem widersprüchlichen Thema wird unser unbewusstes kreatives Potenzial angeregt, das gerade in Konfliktsituationen zu arbeiten beginnt und seine Lösungsmöglichkeiten nur entfalten kann, wenn wir uns Zeit lassen. Geduld geht einher mit dem Vertrauen darauf, dass es immer eine Lösung geben wird, auch wenn die Lage zunächst 207

aussichtslos erscheint. Bekanntlich wird »nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird«. Vertrauen kann sich auf die Vorstellung stützen, dass unser Schicksal letztlich in der Hand einer höheren Macht ruht und auch von dort Hilfe kommt, wenn wir darum bitten. Alle Lösungen für unsere Konflikte liegen im großen Reservoir des Unbewussten bereit und können durch innere Achtsamkeit und ein Nach-innen-Horchen ins Bewusstsein gehoben werden. Sicher haben Sie auch schon die Erfahrung gemacht, dass ein Darüber-Schlafen die Dinge bereits in einem anderen Licht erscheinen lässt. Wenn wir Vertrauen in das eigene kreative Potenzial und in das des anderen haben, kann sich aus beidem etwas qualitativ Neues ergeben, etwas, das bisher noch nicht einmal erahnt wurde. Wer sich also mit Vertrauen und Geduld auf diesen inneren Prozess einlassen kann und sich mit dem anderen darüber austauscht, wird ganz neue Handlungsmöglichkeiten entdecken. Alle Beteiligten erfahren dadurch mehr über sich selbst, können ihren Erkenntnishorizont erweitern und mehr Verständnis für andere aufbringen. Das ist die positive Seite eines Konflikts. Was behindert die Toleranz für Gegensätze? Für viele ist das Ertragen von Gegensätzen deshalb so schwer, weil das damit verbundene Getrenntsein vom anderen frühe Verlustängste aufleben lässt. In der allgemein üblichen Erziehungspraxis wird ein Widerspruch gegen die Eltern nicht immer als eigenständige Meinung gewertet, sondern ist mitunter von Zurückweisung, Anschuldigungen, Bestrafung und Liebesverlust bedroht. So haben wir als Kind nicht gelernt, spannungsreichen Situationen offen und angstfrei zu begegnen und sie geduldig durchzustehen. Vielmehr haben wir in unserem Wunsch nach Anerkennung und Zuge208

hörigkeit Wege gesucht, um der drohenden Zurückweisung und dem Ins-Unrecht-gesetzt-Werden zu entgehen. Das brachte uns dazu, eine direkte Auseinandersetzung möglichst schnell zu beenden und auf Umwegen unser Ziel zu erreichen. Zu welchen Verhaltensweisen das führt, habe ich in Kapitel 5 ausführlich beschrieben. Im Folgenden möchte ich näher auf die inneren Haltungen eingehen, die Grundlage für die genannten Verhaltensmuster sind. ●

Die Verdrängung von Konflikten

Eine der Abwehrhaltungen besteht darin, einen Konflikt von außen nach innen zu verlagern, indem die eigenen Bedürfnisse übergangen, zurückgestellt (»Ist nicht so wichtig«), kurz verdrängt werden, um sich den Erwartungen anderer anpassen zu können. Auf diese Weise wird zwar ein Gegensatz zwischen ICH und DU und damit eine äußere Spannung vermieden, aber es entsteht eine innere Spannung, die auf Dauer zu Stresssymptomen führt (zum Beispiel Kopfschmerzen, Rückenbeschwerden usw.) und sich an anderer Stelle entlädt. Die Chance, seine Bedürfnisse in angemessener Form befriedigen zu können, wird hier nicht wahrgenommen. Häufige Folge sind depressive Verstimmungen (Depression = Unterdrückung, zum Beispiel von Bedürfnissen, Gefühlen), wobei die Betroffenen sich oft nicht erklären können, was sie so bedrückt. Ein Beispiel: Eine Frau, seit 14 Jahren verheiratet, Mutter eines Kindes, kommt zur Beratung, weil sie sich so »leer und erschöpft« fühlt, ohne sagen zu können, woran das liegt. Im Laufe der Gespräche stellt sich heraus, dass sie seit vielen Jahren alle familiären Entscheidungen ihrem Mann überlässt, obwohl sie selbst die Dinge oft anders sieht als er. Zu Beginn der Ehe war es ihr ganz recht, ihm die Verantwortung überlassen zu können. Als sie später aber in manchen Dingen eine 209

gegensätzliche Meinung geäußert hatte, war er »immer gleich so aufbrausend«. Das hat sie so eingeschüchtert, dass sie jetzt zu allem nur noch ja sagt, auch wenn sie anders fühlt. Diese Situation sei zwar unbefriedigend, aber offenen Streit könne sie noch weniger ertragen. Trotzdem komme es regelmäßig zu Missstimmungen, weil sie die von ihrem Mann vorgeschlagenen Unternehmungen (wie zum Beispiel bergsteigen) torpediert, indem sie gerade dann unpässlich ist und nicht mitkommt. Auf diese Weise gäbe es immer weniger Gemeinsamkeiten. Während die Frau ihre Geschichte erzählt, erkennt sie, dass es ihr So-tun-als-ob ist, was sie bis zur Erschöpfung anstrengt und sie immer mehr von ihren wahren Gefühlen entfremdet. Es macht sie betroffen, dass sie sich selbst so wenig ernst nimmt. Sie kann auch sehen, dass sie sich auf Grund ihres mangelnden Durchsetzungsvermögens selbst in diese Situation gebracht hat und dass ihre Unpässlichkeiten ein verstecktes Nein gegenüber ihrem Mann darstellen. Die ganze Situation erinnert sie an ihre Kindheit, in der sie einem strengen Vater gegenüber keinen Widerspruch wagte. Dieses Beispiel zeigt deutlich: Wer zu schnell nachgibt und ja sagt, bleibt dem Konflikt etwas schuldig, nämlich seinen Beitrag zur Lösungsfindung. Diese Person stellt damit ihr kreatives Potenzial nicht zur Verfügung und trägt dazu bei, dass es zu einseitigen Entscheidungen kommt und sie sich selbst übergangen und unzufrieden fühlt.

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Die Verleugnung von Konflikten

Eine andere Abwehrhaltung besteht darin, die Tatsache eines bestehenden Konflikts ganz zu leugnen. Eine an sich komplexe (mehrdeutige) Situation wird in eine einfache umgedeutet, indem nur der eigene Standpunkt zählt und der des anderen ignoriert wird. Die eigene Meinung wird zum Maßstab aller Dinge, und wer etwas dagegenhält, wird als bösartig oder gar verrückt angesehen. Paul Watzlawick nennt dies die »schrecklichen Vereinfachungen«, denen man machtlos gegenübersteht. »Die Verleugnung einer Schwierigkeit und die Verteufelung derer, die darauf hinweisen und sich damit auseinander zu setzen versuchen, gehen also meist Hand in Hand.«38 Durch das fehlende Verständnis für die Sichtweise des anderen kommt es allmählich zum Abbruch von sozialen Beziehungen. Diese Abwehrhaltung ist bei autoritären Persönlichkeiten zu finden, die durch ihr Verhalten immer unzugänglicher werden und dadurch in Isolation und Vereinsamung geraten. Sie denken dann: »Alle sind gegen mich«, »Keiner versteht mich«, wobei sie übersehen, dass sie selbst ursprünglich die anderen nicht verstehen wollten. Während im vorgenannten Fall der Mutter die Innenwelt (eigene Bedürfnisse) verdrängt wird, wird hier die Außenwelt (Bedürfnisse der anderen) geleugnet. Auch hierfür ein Beispiel: Ein 16-jähriges Mädchen, sie besucht die 10. Klasse der Realschule, ist schwanger geworden. Ihr Freund, 22 Jahre alt, ist noch in der Berufsausbildung. Beide möchten zusammenleben und heiraten. Sie sprechen von der »großen Liebe«.

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Die Eltern des Mädchens sind gegen eine Heirat. Sie meinen, es handle sich um eine Jugendliebe, die schnell vorbeigehen werde, wenn der Kontakt zum Freund abgebrochen wird. Sie planen für ihre Tochter und deren Kind die Zukunft, wobei sie die Gefühle und Bedürfnisse der Tochter ignorieren und so tun, als ob es den Freund und Vater des Kindes gar nicht gäbe. Sie sind bereit, das Neugeborene zu versorgen, damit ihre Tochter unbesorgt die Schule beenden und eine Berufsausbildung absolvieren könne. Das ist aus Sicht der Eltern die einfachste und beste Lösung. Die Tochter ist jedoch verzweifelt: Sie sieht sich von ihrem Lebensglück abgeschnitten; sie will ihr Kind nicht ohne Vater aufwachsen lassen; sie kann unter diesen Umständen nicht »unbesorgt« die Schule beenden; sie will sich selbst um ihr Kind kümmern, auf das sie sich freut; sie fühlt sich entmündigt und ist wütend auf die Eltern, gleichzeitig aber von ihnen abhängig, und würde am liebsten davonlaufen. Eine komplexe Situation, die nicht dadurch vereinfacht werden kann, dass eine Seite übergangen wird, denn der verleugnete Teil wird sich rächen. Egal, ob der Konflikt im Sinne der Eltern oder im Sinne der Tochter gelöst wird: In beiden Fällen wird das Mädchen Schwierigkeiten zu bewältigen haben. Für die Eltern stellt sich die Frage, ob sie ihrer Tochter ein Recht auf eigene, vielleicht sogar schmerzliche Erfahrungen zugestehen wollen und die Entwicklung ihrer Persönlichkeit unter erschwerten, aber selbst gewählten Umständen gelten lassen können. Auch auf diesem Weg könnten sie die Tochter ja unterstützen und ihr Mut machen. Außerdem müssten sie sich damit auseinander setzen, was die frühe Ablösung ihrer Tochter vom Elternhaus für sie selbst bedeutet, zum Beispiel, welchen neuen Lebensabschnitt diese Situation einleitet. Beide Abwehrhaltungen stellen einen Versuch dar, sich den Widersprüchen zu entziehen, um auf diese Weise Aus212

einandersetzungen zu vermeiden und Trennungsgefühle oder Verlustängste zu besänftigen. Wer jedoch zu schnell nachgibt oder aber seinen Willen mit Druck durchsetzt, kommt nur zu Scheinlösungen, wobei die tiefer liegenden Schichten eines Konflikts nicht aufgedeckt werden. Dadurch kann es auch kein Wachsen am Konflikt geben. Die so gefundenen »Lösungen« werden weder der Sache noch den Bedürfnissen der beteiligten Personen gerecht. Vielmehr ist anzunehmen, dass sich diese Lösungen ihrerseits im weiteren Verlauf zu handfesten Problemen ausweiten. Vor allem wird die Beziehung zwischen den beteiligten Personen sehr stark beeinträchtigt. Unter diesem Gesichtspunkt kann man sagen: ●



Je ausgeprägter meine Strategien sind, um die Zeitspanne zwischen Aufkommen eines Konflikts und dessen Lösung zu verkürzen, desto weniger konfliktfähig bin ich. Je weniger ausgeprägt meine Strategien sind, um diese Zeitspanne zu verkürzen, desto konfliktfähiger bin ich, weil ich mir die Zeit nehme, zu einer beidseitig zufrieden stellenden Lösung zu kommen.

Wenden wir uns nun den Möglichkeiten zu, die uns befähigen, den erforderlichen Spannungsbogen in einer Konfliktsituation zu halten. Entwicklungs- und Lernschritte Jeder Konflikt nimmt uns vorübergehend das seelische Gleichgewicht, was zu einer Verunsicherung führt, die wir erst einmal aushalten müssen. Übung Machen Sie sich zunächst bewusst, was in Ihnen passiert, wenn Sie sich verunsichert fühlen: 213





● ● ●



Wie lange kann ich die Unsicherheit einer ungeklärten Situation aushalten, bis eine Lösung gefunden wird? (Drei Minuten – eine halbe Stunde – einen Tag – eine Nacht darüber schlafen usw.) Bei welchen Menschen oder in welchen Situationen ist Unsicherheit besonders unerträglich für mich? Was genau verunsichert mich? Wem gegenüber gebe ich eher nach (zum Beispiel Autoritätspersonen)? Wem gegenüber setze ich mich eher durch? Habe ich eine der nachstehenden Abwehrhaltungen entwickelt? – Verdrängung der eigenen Bedürfnisse/Interessen (ICH wird übergangen) – Verleugnung der Bedürfnisse/Interessen anderer (DU wird übergangen) Was vermeide ich dadurch? Was ist der Vorteil, was der Nachteil meiner Abwehrhaltung?

Die Verunsicherung macht uns vorübergehend mehr oder weniger orientierungslos und handlungsunfähig, bis wir ein neues Gleichgewicht mit erweitertem Blickfeld wiedergefunden haben. Aber gerade in der Verunsicherung sind wir weich und formbar genug, um neue Gedanken und Einsichten zuzulassen. Die Psychoanalytikerin Verena Kast hat im Rahmen der Krisenintervention vier Phasen beschrieben, in denen kreative Lösungsprozesse ablaufen.39 Das Wissen um diese vier Phasen, die ich im Folgenden schematisch darstelle, kann auch bei der Lösung von Konflikten dazu dienen, die Verunsicherung durchzustehen und die Spannung zu ertragen.

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Phasen kreativer Lösungsprozesse Phasen

Begleitende Emotion

1. Vorbereitungsphase ● sich den Konflikt bewusst machen ● ansammeln von Informationen und Wissenswertem ● gut zuhören/viel aufnehmen, wenig ordnen

Spannung

2. Inkubationsphase ● Konflikt gärt in uns, spitzt sich zu ● innere Verarbeitung der Informationen wird wird als Krise erlebt: Blockierung, »Stau«

Unruhe Frustration Zweifel an Selbstwert und Kompetenz

3. Einsichtsphase Deutliche Erkenntnis, »Aha«-Erlebnis

Freude Erleichterung

4. Überprüfungsphase ● Einsicht wird geprüft, getestet ● gefundene Lösung wird umgesetzt und überprüft, ob sie funktioniert

Konzentration Tatkraft

Angst

Wie diese vier Phasen zeigen, ist Ausdauer notwendig, um einem Konflikt auf den Grund zu gehen und nicht nur oberflächlich eine schnelle Lösung zu finden. Alles Leben ereignet sich in der Spannung zwischen gegensätzlichen Polen.

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Vermeiden wir die Spannung ganz, kommt auch das Leben zum Stillstand und erfährt keinen Impuls zur Weiterentwicklung. In diesem Sinne kann die durch Konflikte erzeugte Spannung als ein Mittel zur Anregung unseres kreativen Potenzials, unseres schöpferischen Unbewussten genutzt werden, wodurch immer wieder Neues in die Welt und in das Leben jedes Einzelnen kommt (siehe Kapitel 5, Seite 84). Um den Spannungsbogen zwischen den beiden Polen jedoch einige Zeit halten zu können, ist es notwendig, sich zwischendurch zu entspannen. In der Entspannung haben unsere schöpferischen Kräfte mehr Raum zur Entfaltung und nehmen leichter Gestalt an. Wir gewinnen einen gewissen Abstand zu den Dingen, der uns gelassener macht und uns besonnener handeln lässt. Sind wir geduldig genug, dann geschieht es, dass uns in der Stille ganz plötzlich ein Licht aufgeht, uns etwas Entscheidendes einfällt und wir wissen, was als Nächstes zu tun ist. Übung Um sich zu entspannen, nenne ich im Folgenden einige Möglichkeiten zur Auswahl: 1. Wenn man sich in einer angespannten Lage befindet, ist die Atmung meist flach und ungenügend, was die Spannung im Körper noch verstärkt. Konzentrieren Sie sich daher auf Ihren Atem. Beobachten Sie, wie er ohne Ihr Zutun ein- und ausströmt, und begleiten Sie ihn mit folgenden Gedanken: Einatmen: Neue Energie strömt in meinen Körper. Ausatmen: Alle Spannung verlässt den Körper. (Stellen Sie sich dabei vor, wie die Spannung durch die Fußsohlen hinausgeatmet wird.) 216

Zum Schluss beim Ausatmen: Ich bin ruhig und entspannt. Nach fünf bis zehn Atemzügen wird der Atem von selbst tiefer und voller, Sie spüren neue Kräfte und werden gelassener. 2. In einer sehr aufgebrachten und erregten Stimmung gehen Sie ein paar Mal um den Häuserblock, bis Sie etwas Abstand gewonnen haben. Die Bewegung an frischer Luft verhindert in jedem Fall den Anstau von Energie, der sich sonst womöglich in einer Kurzschlusshandlung auswirkt. Auch Rad fahren kann den inneren Druck mildern. Auf jeden Fall ist Bewegung hilfreich, in welcher Form auch immer. Wenn Sie gelassener geworden sind, können Sie die vorgenannte Atemübung anschließen. 3. Eine tiefere Entspannung und Sammlung neuer Kräfte erlangt man durch Ruhigstellung des ganzen Körpers und der Gedanken (Autogenes Training): ● Setzen Sie sich bequem auf einen Stuhl mit gerader Rückenlehne, füllen Sie dabei die gesamte Sitzfläche aus. ● Die Füße ruhen mit der ganzen Sohle auf dem Boden. ● Die Hände liegen entspannt auf den Oberschenkeln, mit den Handflächen nach unten. ● Der Rücken ist mit aufrechter Wirbelsäule angelehnt; das stärkt das Rückgrat. ● Achten Sie bewusst auf die Atembewegung und lassen Sie bei jedem Ausatmen die Schultern etwas mehr los. ● Gehen Sie dann mit Ihrer Aufmerksamkeit ins Becken, dem Zentrum Ihrer Kraft, lassen Sie Ihr Gewicht nach unten sinken, werden Sie immer schwerer. ● Spüren Sie, wie der Boden Sie trägt, Sie können ganz loslassen. ● Dann stellen Sie sich innerlich auf folgende Gedanken ein: 217

Ausatmen: Ich bin ganz ruhig und entspannt. (Mehrmals wiederholen, bis ein Gefühl der Ruhe den Körper erfüllt.) Einatmen: Der rechte Arm ... Ausatmen: ... ist ganz schwer. (Wiederholen, bis die Schwerewelle sich über den ganzen Körper ausbreitet; das dient der Muskelentspannung.) Zum Schluss beim Ausatmen: Der ganze Körper ist schwer. Einatmen: Der rechte Arm ... Ausatmen: ... ist ganz warm. (Wiederholen, bis sich der Körper wohlig durchwärmt anfühlt, wie bei einem heißen Vollbad.) Zum Schluss beim Ausatmen: Der ganze Körper ist warm. Einatmen: Mein Atem ist ... Ausatmen: ... ruhig und tief. (Lassen Sie sich vom Auf und Ab des Atems tragen, wie ein Schiff von den Wellen des Meeres; mit dem Atem werden noch vorhandene Spannungen gelockert und hinausgeatmet.) Sobald der Körper entspannt ist, wird man zumindest anfangs von einer Flut von Gedanken überschwemmt. Wehren Sie sich nicht dagegen, das würde nur wieder Spannung erzeugen. Lassen Sie die Gedanken vorbeiziehen wie Wolken am Himmel oder wie Bilder eines Films, ohne daran hängen zu bleiben. Bleiben Sie in der Rolle des Beobachters und konzentrieren Sie sich auf die Vertiefung der Entspannung. Stellen Sie sich vor, dass es in Ihnen einen Ort völliger Ruhe und Harmonie gibt, zu dem Sie jederzeit gehen können, um sich wieder mit Kraft und Zuversicht aufzutanken. Diese Entspannungsübung kann auch im 218

Liegen durchgeführt werden, zum Beispiel abends vor dem Einschlafen. Die Arme liegen dann neben dem Körper. Die Übung entfaltet ihre beruhigende und kräftigende Wirkung am besten, wenn sie regelmäßig wiederholt wird. Durch die völlige Entspannung wird der Kontakt zwischen Bewusstsein und Unbewusstem vertieft, wodurch Sie für Inspirationen und neue Lösungen aufgeschlossener sind. 4. Eine sehr beruhigende Wirkung kann ein Spaziergang in guter Luft und unberührter Natur haben. Hier können die Gedanken zur Ruhe kommen und sich sammeln. Vielleicht spüren Sie auch Ihr Eingebundensein in ein größeres Ganzes. Wenn Sie einen gewissen Abstand gewonnen haben und ruhiger geworden sind, betrachten Sie Ihren Konflikt einmal unter den folgenden Gesichtspunkten: ● ●

Was sagt mein Verstand zu der Situation? Was sagt mein Gefühl zu der Situation?

Möglicherweise entdecken Sie, dass es in Ihnen selbst einen Widerspruch zwischen Denken und Fühlen gibt. Das ist gar nicht so selten. Die Wahrnehmung der eigenen inneren Gegensätze kann dazu beitragen, verhärtete Denkmuster (wie etwas sein sollte) aufzulösen und sich für den Standpunkt des anderen mehr zu öffnen. Das Klima für eine faire Auseinandersetzung wird günstig beeinflusst, wenn über diese inneren Widersprüche offen gesprochen wird. Es macht einen Unterschied, ob ich zu hören bekomme: »Ich will, dass das Kind jetzt eingeschult wird«, oder: »Mir wäre es am liebsten, das 219

Kind jetzt schon einzuschulen, aber ich fürchte auch, dass es vielleicht überfordert ist und den Spaß am Lernen verliert«. Die erste Aussage begünstigt die Bildung harter Fronten, die man glaubt verteidigen zu müssen. Die zweite Aussage signalisiert Verhandlungsbereitschaft, da die Lösung noch offen ist und damit das Gegenüber ermutigt wird, die eigenen Gedanken und Gefühle zur Situation mitzuteilen. So wird ein flexibler Rahmen geschaffen, in dem das Für und Wider in Ruhe besprochen und geklärt werden kann. Und das bedeutet: offen sein für Gegensätze. Anregungen für positive Gedanken ● ● ● ● ●

Dein Standpunkt ist anders, aber gleichwertig. Gegensätze erzeugen die zum Leben notwendige Spannung. Aus Gegensätzen kann etwas Neues entstehen. Ich bin ruhig und gelassen. Ich vertraue der schöpferischen Kraft in mir.

Wie der Held im Märchen haben wir auf diesem Lebensweg eine Reihe von Schwierigkeiten und Herausforderungen zu bewältigen, wozu auch innere und äußere Konflikte zählen. In der Notwendigkeit, immer wieder Klarheit zu erlangen, liegt die Chance, sich selbst zu finden und andere zu verstehen. Das ist der Weg vom Gegeneinander zum Miteinander, der Weg zum Frieden. Ich wünsche Ihnen viele Erfolgserlebnisse auf Ihrem Weg.

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Anhang Anmerkungen 1 Am Anfang war Erziehung von Alice Miller ist ein viel beachtetes Buch der Schweizer Psychoanalytikerin, in dem sie sehr eindrücklich schildert, wie die frühen Erlebnisse der Kindheit und Jugend einen Menschen wie zum Beispiel Adolf Hitler geformt haben. (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 21. Aufl. 2004) 2 Khalil Gibran: Der Prophet. Wegweiser zu einem sinnvollen Leben, Olten und Freiburg: Walter, 12. Aufl. 1981 3 Diese Studie wurde im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend von Professor Dr. Kai Bussmann von der Universität Halle-Wittenberg durchgeführt. Sie trägt den Titel Gewaltfreie Erziehung. Eine Bilanz nach Einführung des Rechts auf gewaltfreie Erziehung 2003. Die Studie kann heruntergeladen werden unter www.bmfsfj.de. 4 Michael Lukas Moeller: Die Wahrheit beginnt zu zweit. Das Paar im Gespräch, Reinbek: Rowohlt-TB, 21. Aufl. 2004 5 Jon Eisman: Der Bewußtseinszustand des Kindes und die Formierung des Selbst. Ausgewählte Texte zur HAKOMI-Ausbildung 1992–1994 (o.J.) 6 Richard C. Schwartz: Systemische Therapie mit der inneren Familie, Stuttgart: Klett-Cotta, 4. Aufl. 2004 7 Jon Eisman: Der Bewußtseinszustand des Kindes ..., a.a.O. 8 Ebd. 9 Ebd. 10 Edward Bach: Blumen, die durch die Seele heilen. Die wahre Ursache von Krankheit – Diagnose und Therapie, München: Hugendubel, 17. Aufl. 1999 11 Ebd. 12 Horst-Eberhard Richter: Eltern, Kind und Neurose. Die Rolle des Kindes in der Familie, Reinbek: Rowohlt-TB, 31. Aufl. 2003 13 Leo Kanner: Child Psychiatry, Springfield: Thomas Publishing, 3. Aufl. 1957, zitiert in Horst-Eberhard Richter: Eltern, Kind und Neurose, a.a.O.

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14 »Chief Standing Bear«, Lakota, in U. Wolff: Mein Name ist »Ich lebe«, München 1979 15 Sheldon B. Kopp: Triffst du Buddha unterwegs ... Psychotherapie und Selbsterfahrung, Frankfurt/M.: Fischer-TB, 21. Aufl. 1997 16 Virginia Satir: Selbstwert und Kommunikation. Familientherapie für Berater und zur Selbsthilfe, Stuttgart: Klett-Cotta, 16. Aufl. 2004 17 Ebd. 18 Paul Watzlawick, Janet H. Beavin u. Don D. Jackson: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien, Bern: Hans Huber, Nachdruck 2003 19 Friedemann Schulz von Thun: Miteinander reden. Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation, Reinbek: Rowohlt-TB 1981 20 In diesem Abschnitt beziehe ich mich auf die Theorie des »Symbolischen Interaktionismus« (SI). Der SI ist ein theoretisches Konzept zur Erklärung menschlichen Zusammenlebens und Verhaltens und wurde von Herbert Blumer formuliert in: »Der methodologische Standort des Symbolischen Interaktionismus«, in: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg.): Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, Band 1 u. 2, Opladen 1981, S. 80–146 21 Marshall B. Rosenberg: Gewaltfreie Kommunikation. Aufrichtig und einfühlsam miteinander sprechen, Paderborn: Junfermann 2001 22 Paul Watzlawick: Anleitung zum Unglücklichsein, München: Piper, 25. Aufl. 2003, © Piper Verlag GmbH, München 1983 23 Virginia Satir: Selbstwert und Kommunikation, a.a.O. 24 Ebd. 25 Ebd. 26 Ebd. 27 Ebd. 28 Ebd. 29 Lothar Krappmann: Soziologische Dimensionen der Identität. Strukturelle Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen, Stuttgart: Klett-Cotta, 9. Aufl. 2000 30 In diesem Kapitel beziehe ich mich auf das Denkmodell von Lothar Krappmann (siehe Anmerkung 29), der die folgenden vier Fähigkeiten als Bedingung für die Teilnahme an Interaktionsprozessen beschreibt: Identitätsdarstellung, Empathie, Rollendistanz, Ambiguitätstoleranz. 31 Lothar Krappmann: Soziologische Dimensionen der Identität, a.a.O. 32 Michael Lukas Moeller: Die Wahrheit beginnt zu zweit a.a.O.

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33 In Anlehnung an Alexander Lowen: Bioenergetik, Therapie der Seele durch Arbeit mit dem Körper, Reinbek: Rowohlt-TB, Neuausgabe 2002 34 Hedwig Kellner: Ein klares Nein muss manchmal sein. Das Trainingsprogramm zum selbstbewussten Neinsagen, München: Kösel 2003 35 Ebd. 36 Martin Buber: Das dialogische Prinzip. Ich und Du. Zwiesprache. Die Frage an den Einzelnen. Elemente des Zwischenmenschlichen, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 9. Aufl. 2002 37 Friedemann Schulz von Thun: Miteinander reden, a.a.O. 38 Paul Watzlawick, John H. Weakland u. Richard Fisch: Lösungen. Zur Theorie und Praxis menschlichen Wandels, Bern: Hans Huber, 6. Aufl. 2000 39 Verena Kast: Der schöpferische Sprung. Vom therapeutischen Umgang mit Krisen, München: dtv 1993

Adressen Bei den nachstehenden Adressen können Sie bundesweit Informationsmaterial zum Thema dieses Buches anfordern: Aktion Humane Schule Bundesverband Eugen-Bolz-Str. 13 73430 Aalen Tel.: 0 73 61/4 18 58 Fax: 0 73 61/46 08 58 www.aktion-humane-schule.de HAKOMI-Institute of Europe Bergheimerstr. 69a 69115 Heidelberg Tel.: 0 62 21/16 65 60 Fax: 0 62 21/16 66 09 www.hakomi.de www.ifs-europe.net Die IFS-Therapie (Internes Familiensystem) wird über das HAKOMI-Institute angeboten, bei dem Sie auch eine Liste von Therapeuten in der Nähe Ihres Wohnorts anfordern können.

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Die Karl Kübel Stiftung für Kind und Familie bietet Seminare mit Familienthemen in folgenden Instituten an: Felsenweg-Institut Tolkewitzer Str. 30 01279 Dresden Tel.: 03 51/2 16 87-0 Fax: 03 51/2 16 87-29 E-Mail: [email protected] www.felsenweginstitut.de Odenwald-Institut Tromm 25 69483 Wald-Michelbach Tel.: 0 62 07/6 05-0 Fax: 0 62 07/6 05-111 E-Mail: [email protected] www.odenwaldinstitut.de Osterberg-Institut Am Hang 24306 Niederkleveez Tel.: 0 45 23/99 29-0 Fax: 0 45 23/99 29-50 E-Mail: [email protected] www.osterberginstitut.de Darüber hinaus finden Sie bundesweit wie auch in den meisten Städten Österreichs und der Schweiz Beratungsstellen, die Sie bei der Konfliktbewältigung in der Familie unterstützen können. Konkrete Hinweise finden Sie in den örtlichen Telefonbüchern und übers Internet unter Stichworten wie »Beratungsstelle«, »Elternberatung«, »Erziehungsberatung«, »Familienberatung« und »Konfliktberatung«.