Psychologie Für Den Lehrberuf [PDF]

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Zitiervorschau

Detlef Urhahne · Markus Dresel Frank Fischer Hrsg.

Psychologie für den Lehrberuf

Psychologie für den Lehrberuf

Detlef Urhahne Markus Dresel Frank Fischer (Hrsg.)

Psychologie für den Lehrberuf

Hrsg. Detlef Urhahne Universität Passau Deutschland

Frank Fischer Ludwig-Maximilians-Universität München Deutschland

Markus Dresel Universität Augsburg Deutschland

Ergänzendes Online-Material zu diesem Buch finden Sie auf https://lehrbuch-psychologie.springer.com ISBN 978-3-662-55753-2 https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9

ISBN 978-3-662-55754-9 (eBook)

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und MarkenschutzGesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Verantwortlich im Verlag: Marion Krämer Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

V

Vorwort Wenn Lehramtsstudierende mit ihrer Ausbildung an der Universität beginnen, wollen sie oft vor allem eines: eine gute Lehrkraft werden. Eine, die bei ihren Schülerinnen und Schülern etwas bewirkt – in fachlicher wie erzieherischer Hinsicht. Zur Förderung dieser Aspekte ist umfangreiches Wissen erforderlich: über Lernen, Gedächtnis und Wissenserwerb, die geistigen, motivationalen und emotionalen Voraussetzungen des Lernens sowie die tief greifenden Entwicklungen im Kindes- und Jugendalter. Doch auch über effektives Lehren und Unterrichten, das wechselseitige Miteinander in Schule und Unterricht, professionales Erfassen und Bewerten von Lernprozessen und Lernleistungen sowie über häufige Lern- und Verhaltensauffälligkeiten von Schülerinnen und Schülern sollte Wissen vorhanden sein. Kurzum: ein umfassendes psychologisches Wissen! Die Psychologie bietet differenzierte und empirisch fundierte Erkenntnisse zu Fragen und Herausforderungen in Unterricht und Schule in der genannten Breite. Als Bezugsdisziplin von Pädagogik und Fachdidaktiken liefert sie darüber hinaus zentrale theoretische und methodische Grundlagen für allgemein- und schulpädagogische sowie fachdidaktische Theorie-, Praxis- und Forschungsansätze. Qualitätsvolles professionelles Handeln als Lehrkraft ist ohne grundlegende Kenntnis des psychologischen Wissens nicht denkbar. Eine gute Lehrkraft sein, heißt, Expertin oder Experte für Lernen, Lehren und Erziehen zu sein. Manchmal wird der psychologische Teil der Ausbildung von Studienanfängerinnen und Studienanfängern in der Bedeutung unterschätzt. Der Nutzen des psychologischen Wissens zeigt sich jedoch spätestens dann, wenn man im Praktikum, Referendariat oder als ausgebildete Lehrkraft selbst vor der Klasse steht und nicht nur mehr oder minder gelassen selbst darinsitzt. Plötzlich drängen sich Gedanken darüber in den Vordergrund, ob der Lehrstoff dem Entwicklungsstand der Schülerinnen und Schüler angemessen ist, welche Lehrmethode die günstigste ist und welcher Umgangston mit Kindern und Jugendlichen der richtige ist. Es gilt, die Motivation und Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler zu fördern, Lern- und Verhaltensprobleme zu erkennen und schulische Leistungen gerecht zu bewerten. Eine Lehrkraft sollte dabei nicht allein ihrer Intuition vertrauen, sondern versuchen, die verschiedenen Fra-

gen auf der Basis einer umfassenden pädagogischpsychologischen Expertise begründet zu klären. Die Psychologie, die Wissenschaft vom Erleben und Verhalten von Menschen, stellt zu diesen und vielen weiteren Fragen einen breiten Wissenskanon zur Verfügung. Die psychologischen Erkenntnisse wurden in allen Schulformen bei Schülerinnen und Schülern jeden Alters und jedes sozialen, ethnischen und kulturellen Hintergrundes gewonnen. Die theoretischen Ansätze und empirischen Befunde sind so zahlreich, dass sie ohne eine ordnende Orientierung, wie sie dieses Lehrbuch bietet, kaum zu überblicken sind. Die psychologischen Befunde und Methoden werden häufig in übergreifenden Analysen, sog. Metaanalysen, zusammengefasst. Diese Erkenntnisse – und dies ist die Idee des evidenzorientierten, professionellen Handelns – sollen in die eigenen Entscheidungen in Unterricht und Schule einfließen, um so das Lernen und die Entwicklung der Schülerinnen und Schüler positiv zu beeinflussen. Werden die empirisch fundierten Einsichten in Schule und Unterricht produktiv genutzt, werden Lehrpersonen mit größerer Wahrscheinlichkeit das sein, was sie gerne sein möchten: gute Lehrkräfte. Dieses Lehrbuch informiert in sieben Teilen mit dreißig Kapiteln umfassend über Erkenntnisse, Ansätze, Theorien und Befunde der Psychologie in Schule und Unterricht. Der erste Teil über Lernen, Gedächtnis und Wissenserwerb betrachtet das Lernen von all seinen Seiten. Schülerinnen und Schüler – wie auch Lehrkräfte – lernen immer und überall, und dementsprechend breit sollte das professionelle Wissen der Lehrkräfte über das Lernen sein. Angefangen bei behavioristischen Theorien zu Lernen und Verhalten (7 Kap. 1) über kognitive Erklärungsansätze zu Gedächtnis und Wissenserwerb (7 Kap. 2) sowie Problemlösen und Expertiseerwerb (7 Kap. 3) bis hin zu Modellen des selbstregulierten Lernens (7 Kap. 4) werden in den ersten Kapiteln unterschiedliche Betrachtungsweisen zum Lernen von Schülerinnen und Schülern präsentiert. Darüber hinaus ermöglicht es uns die moderne Hirnforschung, Einblicke in Gehirn und Lernen (7 Kap. 5) zu nehmen und so den physiologischen Grundlagen von Lernprozessen auf die Spur zu kommen. In den weiteren Kapiteln des Buchteils treten die Kontexte des Lernens in den Vordergrund. Beim inter-

VI

Vorwort

kulturellen Lernen (7 Kap. 6) ist es die Rolle anderer Kulturen. Beim informellen Lernen (7 Kap. 7) fungieren Familien, Gleichaltrige, Medien und außerschulische Orte als Lernkontexte. Schließlich wird beim fachlichen Lernen (7 Kap. 8) deutlich, in welcher Weise Bildungsstandards, fachliche Curricula und fachdidaktische Modelle das schulische Unterrichten und Lernen prägen.

nen gelernt werden. Beständiges Üben erleichtert ihren Erwerb. Welche Effekte digitale Medien auf das Lernen im Unterricht haben und welche Kompetenzen Lehrkräfte für das Unterrichten in einer zunehmend digitalen Welt benötigen, wird ebenso ausführlich erläutert (7 Kap. 19). Schließlich zeigt das Kapitel zu Kompetenzen und beruflicher Entwicklung von Lehrkräften (7 Kap. 20), dass bei der Ausübung der Lehrtätigkeit neben spezifischem Der zweite Teil behandelt wichtige Merkmale von professionellem Wissen auch förderliche motivaLernenden und konzentriert sich hier auf die kog- tionale Orientierungen und berufliche Überzeunitiven und affektiv-motivationalen Bedingungen gungen sowie selbstregulative Fähigkeiten erforgelingender Lernprozesse. Diese mehr oder we- derlich sind. niger stabilen Merkmale sind einerseits Ausdruck der Persönlichkeit von Schülerinnen und Schülern, Der fünfte Teil beschäftigt sich mit sozialen Prozesandererseits aber auch abhängig von der schuli- sen in Schule und Unterricht. Damit ist gemeint, schen und außerschulischen Umwelt. Das heißt, dass die tatsächliche oder auch nur vorgestellte die Lehrkraft kann Einfluss auf sie nehmen. Intel- Anwesenheit von anderen Personen wie Lehrkräfligenz, Kreativität und Begabung (7 Kap. 9) liefern ten, Freunden oder Eltern das Erleben und Verunstrittig eine wichtige Grundlage für das Lernen halten der Schülerinnen und Schüler beeinflusst. in der Schule. Im Unterricht nicht weniger zu be- Schülerinnen und Schüler beeinflussen sich unachten sind das emotionale Erleben (7 Kap. 10) und tereinander – ebenso wie sie mit Lehrpersonen die Motivation (7 Kap. 11) der Schülerinnen und in ein wechselseitiges Bedingungsgefüge eingebunSchüler. den sind. Kompetente Lehrkräfte gestalten die Beziehung zu Schülerinnen und Schülern bewusst so, Der dritte Teil widmet sich der Entwicklung dass sie durch emotionale Wertschätzung und Emim Kindes- und Jugendalter. In diesen Phasen pathie gekennzeichnet ist. Dabei ist die Sprache das durchlaufen Schülerinnen und Schüler grundle- wichtigste Instrument der Lehrkraft, und dementgende Veränderungen im Erleben und Verhalten, sprechend zentral sind kommunikative Prozesse über die Lehrkräfte gut informiert sein sollten. im und außerhalb vom Unterricht (7 Kap. 21). Des Ein einführendes Kapitel erläutert die theoreti- Weiteren gilt es, soziale Strukturen in Gruppen und schen Modelle und Bedingungen der Entwick- sich darin vollziehende soziale Prozesse (7 Kap. 22) lung (7 Kap. 12). Die weiteren Kapitel beschäftigen zu beachten. Auch nehmen soziale Einstellungen sich mit spezifischen Entwicklungsaspekten. Dazu wie Stereotype und Vorurteile gegenüber bestimmzählen die psychosexuelle und soziale Entwick- ten Gruppen Einfluss auf Schule und Unterricht lung (7 Kap. 13) von Kindern und Jugendlichen, (7 Kap. 23). die kognitiv-sprachliche Entwicklung (7 Kap. 14), die motivationale und emotionale Entwicklung Der sechste Teil umfasst den Bereich von Diag(7 Kap. 15) sowie die Entwicklung des Selbst und nostik, Evaluation und Forschungsmethoden. Die Psychologie verfügt über eine breite Palette an diader Persönlichkeit (7 Kap. 16). gnostischen Methoden und Verfahren, die helfen, Der vierte Teil über Lehren, Unterrichtsquali- pädagogisches Handeln zu optimieren und Veräntät und Klassenführung liefert eine Darstellung derungen der gegenwärtigen Situation von Schüledes psychologischen Forschungsstands über Un- rinnen und Schülern zu erreichen. Auf ein Basiskaterricht und die dazu notwendigen Kompeten- pitel zu Grundlagen und Kriterien der Diagnostik zen von Lehrpersonen. Unterricht kann sehr un- (7 Kap. 24) folgt ein Kapitel speziell zum Messen terschiedliche Auswirkungen auf Wissen, Können und Bewerten von Lernergebnissen (7 Kap. 25), und Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler einer wichtigen Alltagsaufgabe von Lehrkräften. haben. Damit wird erfolgreiches Unterrichten zur Fragen der Evaluation und Qualitätssicherung in zentralen Herausforderung des Lehrberufs. Nach der Schule (7 Kap. 26) richten sich auf die wiseinem Einführungskapitel zum Lehren und Un- senschaftsgestützte Untersuchung und Bewertung terrichten (7 Kap. 17) werden die aktuellen Er- von Unterricht, Maßnahmen, Programmen oder kenntnisse der Psychologie zur Unterrichtsqualität Institutionen. Ein Kapitel zu Forschungsmetho(7 Kap. 18) eingehend dargestellt. Gutes und ef- den (7 Kap. 27) soll helfen, Forschungsergebnisse fektives Unterrichten erfordert unter anderem ein aus Psychologie und Bildungsforschung zu rezibreites Repertoire an Unterrichtsmethoden und pieren, zu bewerten und für die schulische TätigLehrtechniken. Die gute Nachricht ist: Sie kön- keit nutzen zu können. Es bietet gewissermaßen

VII Vorwort

einen Blick hinter die Kulissen der Forschung – alle Schritte des Forschungsprozesses von der Formulierung der Fragestellung bis zum fertigen Fachartikel werden dargelegt. Der siebte und letzte Teil thematisiert den Bereich der Lern- und Verhaltensauffälligkeiten. Als Lern- und Verhaltensstörungen (7 Kap. 28) wird zunächst auf Störungen der grundlegenden Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen sowie der Aufmerksamkeit eingegangen. Als Auffälligkeiten im Erleben und Sozialverhalten (7 Kap. 29) werden weitere schulrelevante psychische Probleme wie Angst, Depression oder Disziplinschwierigkeiten beschrieben und erklärt. Ein abschließender Beitrag erläutert Möglichkeiten der Prävention und Intervention bei psychischen Auffälligkeiten im Schulalter (7 Kap. 30) und zeigt die Chancen zur Stärkung der psychischen Gesundheit von Schülerinnen und Schülern auf. Um den Zugang zur Psychologie und das Verständnis der Fachtexte zu erleichtern, haben wir in dem Lehrbuch von einigen lernförderlichen Gestaltungselementen Gebrauch gemacht. Eine ausführliche Gliederung zu Kapitelbeginn verdeutlicht auf einen Blick dessen Aufbau und hilft, speziell interessierende Bereiche schnell ausfindig zu machen. Definitionen zentraler Begriffe und Konzepte werden durch Kästen besonders hervorgehoben. Am Ende des Buches sorgt ein Glossar für ein genaues Verständnis der Fachtermini. Vom Text abgehoben werden ausgewählte Studien und Mythen der schulischen Bildung präsentiert. Die empirischen Studien liefern Belege für die Reichweite und den Wert von Theorien. Die Mythen nehmen vorherrschende, aber unzutreffende alltagspsychologische Meinungen zu Schule und Unterricht ins Visier, die durch geeignete Belege entkräftet werden. Unter der Bezeichnung „Im Fokus“ finden sich darüber hinaus psychologische Kontroversen, Modelle und Exkurse, die zur weiterführenden Auseinandersetzung mit dem Text anregen. In einer Zusammenfassung werden die wichtigsten Inhalte des Kapitels noch einmal resümierend dargestellt. Verständnisfragen am Ende der Kapitel sollen die zentralen Aspekte des Textes in Erinnerung ru-

fen und die praktische Bedeutsamkeit der psychologischen Theorien und Forschungsergebnisse in Hinblick auf Schule und Unterricht bewusst machen. Lösungsvorschläge zu den Verständnisfragen finden sich auf einer begleitenden Webseite zum Buch. Unser ganz besonderer Dank gilt den vielen engagierten und fachkundigen Autorinnen und Autoren, die neben ihrem universitären Lehr- und Forschungsalltag Zeit gefunden haben, Erkenntnisse ihres psychologischen Spezialgebiets allgemeinverständlich aufzubereiten und darzulegen. Ohne ihr Mitwirken wäre ein solch umfangreiches Lehrbuch nicht zu verwirklichen gewesen. Darüber hinaus bedanken wir uns bei Tihomir Vrdoljak, der uns in vielen editorischen Aktivitäten unterstützt hat – die Qualität dieses Werkes ist auch sein Verdienst. Justine Stang, Raphaela Fenzl und Marlene Wagner möchten wir für ihre Arbeiten bei der Vor- und Aufbereitung des Lehrbuchs danken. Ein großer Dank gebührt zudem den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Springer-Verlags, insbesondere Marion Krämer und Bettina Saglio, die uns über den gesamten Entstehungsprozess des Buches hilfreich begleitet und mit Rat und Tat zur Seite gestanden haben. Gute Lehrkräfte sind Expertinnen oder Experten für Lernen, Lehren und Erziehen. Dazu ist natürlich mehr nötig, als ein Lehrbuch zu lesen – vor allem viel reflektierte Erfahrung. Das Lehrbuch kann aber eine wichtige Hilfe beim Aneignen der psychologischen Grundlagen von Schule und Unterricht oder beim Erwerb vertiefender Kenntnisse sein. Dieses psychologische Wissen kann damit Lehramtsstudierenden, Referendarinnen und Referendaren sowie Lehrkräften helfen, eigene Erfahrungen in Schule und Unterricht vorzubereiten, zu reflektieren und damit ihre professionellen Kompetenzen kontinuierlich zu entwickeln. Detlef Urhahne Markus Dresel Frank Fischer

Passau, Augsburg und München Dezember 2018

IX

Inhaltsverzeichnis I

Lernen, Gedächtnis und Wissenserwerb

1

Lernen und Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

Detlef Urhahne 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffsbestimmung Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klassische Konditionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Operante Konditionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beobachtungslernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4 4 5 9 16

2

Gedächtnis und Wissenserwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

Christof Zoelch, Valérie-Danielle Berner und Joachim Thomas 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffsbestimmung Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Komponenten des menschlichen Gedächtnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modellannahmen zu Erinnerungs- und Vergessensprozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretische Perspektiven zum Wissenserwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Formen und Bedingungen von Wissenserwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24 24 25 36 42 44

3

Problemlösen und Expertiseerwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

Hans Gruber, Michael Scheumann und Stefan Krauss 3.1 3.2 3.3 3.4

Expertiseerwerb in der Schule – Ist das denn überhaupt möglich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Problemlösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Expertise: Wissensbasiertes Problemlösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Expertiseerwerb im Kontext Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54 54 56 60

4

Selbstreguliertes Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

Ulrike E. Nett und Thomas Götz 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5

Definition selbstregulierten Lernens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modelle selbstregulierten Lernens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Effekte selbstregulierten Lernens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostik selbstregulierten Lernens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Förderung selbstregulierten Lernens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

68 70 73 75 79

5

Gehirn und Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

Jörg Meinhardt 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7 5.8 5.9

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundbausteine des Gehirns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gehirnstrukturen und ihre Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lokalisation von Gehirnfunktionen am Beispiel der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gehirnentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Imaging-Studien zur Gehirnentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neurokognitive Forschungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erfahrung, Lernen und neuronale Plastizität des Gehirns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuromythen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87 87 88 92 93 94 95 98 100

6

Interkulturelles Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

6.1 6.2 6.3 6.4

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffsbestimmungen: Kultur, interkulturelle Kompetenz und interkulturelles Lernen . . . . . . . . . . . . . Interkulturelle Psychologie im Wechselspiel mit anderen (psychologischen) Disziplinen . . . . . . . . . . . . Interkulturelles Lernen und interkulturelle Öffnung in der Schule: Herausforderungen und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Carlos Kölbl, Andrea Kreuzer und Astrid Utler 108 108 109 114

X

Inhaltsverzeichnis

7

Informelles Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

7.1 7.2 7.3 7.4 7.5

Relevanz des informellen Lernens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffsentwicklung, definitorische Zugänge und Abgrenzung des informellen Lernens . . . . . . . . . . . . Kontexte informellen Lernens im Kindes- und Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beziehung formales und informelles Lernen in der Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsmethodische Zugänge zum informellen Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8

Fachliches Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

8.1 8.2 8.3 8.4 8.5

Schülervorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissenserwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kompetenzerwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fachsprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufgabeneinsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

II

Kognitive, motivationale und emotionale Bedingungen des Lernens

9

Intelligenz, Kreativität und Begabung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

9.1 9.2 9.3

Begriffsklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intelligenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kreativität und Problemlösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

10

Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

10.1 10.2 10.3 10.4 10.5 10.6

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was sind „Emotionen“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Welche Emotionen gibt es und wie werden sie verursacht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interindividuelle Unterschiede im emotionalen Erleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emotionen in der Schule – sechs Themenfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emotionale Einflüsse auf Lernen und Wissenserwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

11.1 11.2 11.3 11.4 11.5

Grundvorstellungen zur Motivation von Lernenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Erwartungskomponente im Fokus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wertkomponente im Fokus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Handlungsverlauf im Fokus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Förderung der Lern- und Leistungsmotivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

III

Entwicklung im Kindes- und Jugendalter

12

Modelle und Bedingungen der Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

12.1 12.2 12.3 12.4

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen und zentrale Fragen der Entwicklungspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theorien der Entwicklungspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Psychosexuelle und soziale Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

13.1 13.2

Psychosexuelle Entwicklung, Sexualverhalten und sexuelle Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Entwicklung: Die Beziehung zu Gleichaltrigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Doris Lewalter und Katrin Neubauer 126 126 129 136 138

Birgit Jana Neuhaus, Detlef Urhahne und Stefan Ufer 145 148 150 153 155

Eva Stumpf und Christoph Perleth 166 168 179

Christof Kuhbandner und Anne C. Frenzel 186 186 189 193 196 199

Robert Grassinger, Oliver Dickhäuser und Markus Dresel 208 211 213 218 221

Katja Seitz-Stein und Valérie-Danielle Berner 232 232 238 246

Markus Paulus 254 258

XI Inhaltsverzeichnis

14

Kognitiv-sprachliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273

14.1 14.2 14.3 14.4

Entwicklung von sprachlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung von Lernen und Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklung von Denken und Problemlösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beziehungen zwischen kognitiver und sprachlicher Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

Motivationale und emotionale Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295

15.1 15.2

Motivations- und Interessenentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emotionale Entwicklung und Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

16

Entwicklung des Selbst und der Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315

16.1 16.2 16.3 16.4 16.5 16.6

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kernmerkmale der Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstkonzept und Selbstwert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wertsystem: Moralisches Urteil und Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einflüsse der Persönlichkeit auf die Bewältigung schulischer Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IV

Lehren und Unterrichten

17

Lehren und Unterrichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333

17.1 17.2 17.3 17.4 17.5 17.6 17.7

Ein begriffliches Rahmenmodell zur Konzeptualisierung von unterrichtlichen Lehr-Lernprozessen . . Die Schülerebene: Zur Bedeutung von Lernaktivitäten und -prozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiele für lernförderliche Lernaktivitäten und -prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Lehrerebene: Zur Unterscheidung zwischen Unterrichtsmethoden und Lehrtechniken . . . . . . . . . Unterrichtmethoden: Von der direkten Instruktion bis zum Knowledge Building . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswahl und Einsatz von Lehrtechniken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18

Unterrichtsqualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353

18.1 18.2 18.3 18.4

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modelle der Unterrichtsqualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Basisdimensionen der Unterrichtsqualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenspiel verschiedener Aspekte von Unterrichtsqualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

Medien im Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373

19.1 19.2 19.3

Informationen vermitteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Individuelle Lernaktivitäten ermöglichen und unterstützen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikation und Kooperation ermöglichen und unterstützen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

20

Kompetenzen und berufliche Entwicklung von Lehrkräften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395

20.1 20.2 20.3 20.4

Anforderungen des Lehrberufs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine gute Lehrkraft – wie wird man das? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kompetenzmodelle zur Beschreibung der „guten Lehrkraft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berufliche Entwicklung von Lehrkräften – Verlaufsperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dorothea Dornheim und Sabine Weinert 274 277 285 290

Klaudia Kramer und Gottfried Spangler 296 304

Martin Pinquart 316 316 318 322 324 326

Ingo Kollar und Frank Fischer 334 335 336 338 339 344 347

Barbara Drechsel und Ann-Kathrin Schindler 354 354 358 367

Christof Wecker und Karsten Stegmann 376 381 386

Cordula Artelt und Mareike Kunter 396 396 398 407

XII

Inhaltsverzeichnis

V

Soziale Prozesse in Schule und Unterricht

21

Soziale Interaktion und Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421

21.1 21.2 21.3 21.4

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Interaktionen und Kommunikation im Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikation in Elterngesprächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikation im Kollegium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22

Soziale Strukturen und Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439

22.1 22.2 22.3 22.4 22.5

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . In der Klasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einfluss auf Strukturen und Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Außerhalb des Klassenzimmers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlegende kritische Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

Soziale Einstellungen im Schulkontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457

23.1 23.2 23.3 23.4

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Einfluss von sozialen Einstellungen auf Wahrnehmungs- und Beurteilungsprozesse . . . . . . . . . . . . Die Änderung von sozialen Einstellungen im Schulkontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VI

Diagnostik, Evaluation und Forschungsmethoden

24

Grundlagen und Kriterien der Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471

24.1 24.2 24.3 24.4 24.5 24.6 24.7

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definition der psychologischen Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der diagnostische Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostische Strategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gütekriterien diagnostischer Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diagnostische Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewertung diagnostischer Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

Messen und Bewerten von Lernergebnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493

25.1 25.2 25.3

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lernergebnisse messen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lernen und Gelerntem Bedeutungen verleihen: Bewerten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26

Evaluation und Qualitätssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517

26.1 26.2 26.3 26.4

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlagen der wissenschaftlichen Evaluation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildungsmonitoring als Spezialform von Evaluation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Evaluation aus praktischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

Forschungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533

27.1 27.2 27.3 27.4 27.5 27.6

Macht Kaugummikauen schlau? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie entsteht empirisch gesichertes Wissen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erhebungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Untersuchungsdesigns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analysemethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Finden, Lesen und Bewerten von psychologischen Forschungsstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ann-Kathrin Schindler, Doris Holzberger, Kathleen Stürmer, Maximilian Knogler und Tina Seidel 422 423 430 432

Gisela Steins, Kristin Behnke und Anna Haep 440 440 448 452 454

Lars-Eric Petersen 458 458 461 465

Matthias Schwaighofer, Moritz Heene und Markus Bühner 472 472 473 474 476 482 488

Marc Worbach, Barbara Drechsel und Claus H. Carstensen 494 494 506

Marko Lüftenegger, Barbara Schober und Christiane Spiel 518 518 525 527

Tobias Engelschalk, Martin Daumiller, Marion Reindl und Markus Dresel 534 534 537 544 550 554

XIII Inhaltsverzeichnis

VII

Lern- und Verhaltensauffälligkeiten

28

Lern- und Verhaltensstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565

28.1 28.2 28.3 28.4

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechenstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lese-Rechtschreibstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

Auffälligkeiten im Erleben und im Sozialverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587

29.1 29.2 29.3

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internalisierende Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Externalisierende Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30

Pädagogische Prävention und Intervention bei psychischen Auffälligkeiten im Schulalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603

30.1 30.2 30.3 30.4 30.5 30.6

Psychische Auffälligkeiten im Schulalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Ängstlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Depressivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstverletzendes Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Posttraumatische Belastungsreaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlafauffälligkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Wolfgang Schneider, Wolfgang Lenhard und Peter Marx 566 566 572 576

Beate Schuster 588 588 596

Armin Castello 604 604 606 608 610 611

Serviceteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

618 628

Autorenverzeichnis Herausgeber Detlef Urhahne

Frank Fischer

Universität Passau Deutschland

Ludwig-Maximilians-Universität München Deutschland

Markus Dresel Universität Augsburg Deutschland

Autoren Cordula Artelt

Markus Dresel

Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LIfBi) und Universität Bamberg Deutschland

Universität Augsburg Deutschland

Tobias Engelschalk Kristin Behnke Universität Duisburg-Essen Deutschland

Universität Augsburg Deutschland

Frank Fischer Valérie-Danielle Berner Kath. Universität Eichstätt-Ingolstadt Deutschland

Ludwig-Maximilians-Universität München Deutschland

Anne C. Frenzel Markus Bühner Ludwig-Maximilians-Universität München Deutschland

Ludwig-Maximilians-Universität München Deutschland

Thomas Götz Claus H. Carstensen Universität Bamberg Deutschland

Universität Konstanz und Pädagogische Hochschule Thurgau Deutschland und Schweiz

Armin Castello

Robert Grassinger

Europa-Universität Flensburg Deutschland

Pädagogische Hochschule Weingarten Deutschland

Martin Daumiller

Hans Gruber

Universität Augsburg Deutschland

Universität Regensburg Deutschland

Oliver Dickhäuser

Anna Haep

Universität Mannheim Deutschland

Universität Duisburg-Essen Deutschland

Dorothea Dornheim

Moritz Heene

Universität Bamberg Deutschland

Ludwig-Maximilians-Universität München Deutschland

Barbara Drechsel

Doris Holzberger

Universität Bamberg Deutschland

TU München Deutschland

XV Autorenverzeichnis

Maximilian Knogler

Katrin Neubauer

TU München Deutschland

TU München Deutschland

Carlos Kölbl

Birgit Jana Neuhaus

Universität Bayreuth Deutschland

Ludwig-Maximilians-Universität München Deutschland

Ingo Kollar

Markus Paulus

Universität Augsburg Deutschland

Ludwig-Maximilians-Universität München Deutschland

Klaudia Kramer

Christoph Perleth

Universität Erlangen-Nürnberg Deutschland

Universität Rostock Deutschland

Stefan Krauss

Lars-Eric Petersen

Universität Regensburg Deutschland

Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Deutschland

Andrea Kreuzer

Martin Pinquart

Universität Bayreuth Deutschland

Universität Marburg Deutschland

Christof Kuhbandner

Marion Reindl

Universität Regensburg Deutschland

Universität Salzburg Österreich

Mareike Kunter

Michael Scheumann

Goethe-Universität Frankfurt am Main Deutschland

Universität Regensburg Deutschland

Wolfgang Lenhard

Ann-Kathrin Schindler

Universität Würzburg Deutschland

TU München Deutschland

Doris Lewalter

Wolfgang Schneider

TU München Deutschland

Universität Würzburg Deutschland

Marko Lüftenegger

Barbara Schober

Universität Wien Österreich

Universität Wien Österreich

Peter Marx

Beate Schuster

Universität Würzburg Deutschland

Ludwig-Maximilians-Universität München Deutschland

Jörg Meinhardt

Matthias Schwaighofer

Ludwig-Maximilians-Universität München Deutschland

Ludwig-Maximilians-Universität München Deutschland

Ulrike E. Nett

Tina Seidel

Universität Augsburg Deutschland

TU München Deutschland

XVI

Autorenverzeichnis

Katja Seitz-Stein

Stefan Ufer

Kath. Universität Eichstätt-Ingolstadt Deutschland

Ludwig-Maximilians-Universität München Deutschland

Gottfried Spangler

Detlef Urhahne

Universität Erlangen-Nürnberg Deutschland

Universität Passau Deutschland

Christiane Spiel

Astrid Utler

Universität Wien Österreich

Universität Bayreuth Deutschland

Karsten Stegmann

Christof Wecker

Ludwig-Maximilians-Universität München Deutschland

Universität Hildesheim Deutschland

Gisela Steins

Sabine Weinert

Universität Duisburg-Essen Deutschland

Universität Bamberg Deutschland

Eva Stumpf

Marc Worbach

Universität Rostock Deutschland

Universität Bamberg Deutschland

Kathleen Stürmer

Christof Zoelch

Eberhard-Karls-Universität Tübingen Deutschland

Kath. Universität Eichstätt-Ingolstadt Deutschland

Joachim Thomas Kath. Universität Eichstätt-Ingolstadt Deutschland

1

Lernen, Gedächtnis und Wissenserwerb Inhaltsverzeichnis Kapitel 1

Lernen und Verhalten – 3

Kapitel 2

Gedächtnis und Wissenserwerb – 23

Kapitel 3

Problemlösen und Expertiseerwerb – 53

Kapitel 4

Selbstreguliertes Lernen – 67

Kapitel 5

Gehirn und Lernen – 85

Kapitel 6

Interkulturelles Lernen – 107

Kapitel 7

Informelles Lernen – 125

Kapitel 8

Fachliches Lernen – 143

I

3

Lernen und Verhalten Detlef Urhahne

1.1

Einleitung – 4

1.2

Begriffsbestimmung Lernen – 4

1.3

Klassische Konditionierung – 5

1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.3.4

Phasen der klassischen Konditionierung – 5 Eigenschaften der klassischen Konditionierung – 7 Anwendung der klassischen Konditionierung – 8 Kritik der klassischen Konditionierung – 8

1.4

Operante Konditionierung – 9

1.4.1 1.4.2 1.4.3 1.4.4

Phasen der operanten Konditionierung – 10 Eigenschaften der operanten Konditionierung – 10 Anwendung des operanten Konditionierens – 14 Kritik des operanten Konditionierens – 15

1.5

Beobachtungslernen – 16

1.5.1 1.5.2 1.5.3 1.5.4

Phasen des Beobachtungslernens – 17 Eigenschaften des Beobachtungslernens – 18 Anwendung des Beobachtungslernens – 19 Kritik des Beobachtungslernens – 20

Verständnisfragen – 20 Literatur – 21

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Urhahne, M. Dresel, F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9_1

1

4

1

1.1

Kapitel 1  Lernen und Verhalten

Einleitung

Lernvorgänge lassen sich besser mithilfe kognitionspsychologischer Modellvorstellungen erklären (Schunk 2004).

In diesem Kapitel werden verhaltenstheoretische Erklärungen für das Lernen vorgestellt. Dazu zählen das klassische 1.2 Begriffsbestimmung Lernen Konditionieren, das operante Konditionieren und in Ansätzen auch das Beobachtungslernen. Es werden die Phasen und In der Schule lernen Schülerinnen und Schüler ein großes Eigenschaften der Lernmodelle erläutert, die Anwendungs- Repertoire an Fähigkeiten und Fertigkeiten aufzubauen. Nemöglichkeiten in Schule und Unterricht aufgezeigt sowie die ben dem Erwerb grundlegender Kulturtechniken wie Lesen, Unterschiede und Defizite der Ansätze verdeutlicht. Rechnen und Schreiben wird eine Ausbildung in FremdBehavioristische Theorien erklären Lernen auf der sprachen, Gesellschaftswissenschaften, Naturwissenschaften, Grundlage von Ereignissen in der Umwelt. Verhaltenstheore- Technik, Musik, Kunst, Religion, Ethik und Sport gefördert. tiker bestreiten nicht, dass es Phänomene wie Wahrnehmen, Obwohl die einzelnen Fächer und die darin geforderten KomDenken, Fühlen, Problemlösen und Entscheiden gibt. Um petenzen sehr unterschiedlich erscheinen, lassen sich doch Lernen zu erklären, argumentierte jedoch der Behaviorist Gemeinsamkeiten in den Lernvorgängen feststellen. Eine BeJohn B. Watson (1978–1958), sei es nicht notwendig, sich griffsbestimmung von Lernen soll die Ähnlichkeiten verdeutmentalen Erscheinungen zuzuwenden. Es genüge, sich auf lichen. die Beschreibung der Umstände und des beobachtbaren Verhaltens zu konzentrieren. Das Gehirn des Menschen sei eine Black Box, über die keine wissenschaftlich fundierten Lernen ist ein Prozess, der zu relativ dauerhaften VerAussagen möglich wären. So sollte alles Subjektive aus der änderungen von Verhalten oder Verhaltenspotentialen Psychologie verbannt und der Weg zu einer vollkommen obaufgrund von Erfahrungen führt (nach Bodenmann, Perrez jektiven, empirischen Wissenschaft geebnet werden (Watson & Schär 2011). 1913). Viele Erkenntnisse der Behavioristen wurden an Tieren An dieser Definition von Lernen sind drei Punkte hervorgewonnen. Sie haben die Geschichte des Wissenschaftszweiges entscheidend mitgeprägt. Iwan P. Pawlow (1849–1936) zuheben (Gerrig 2015): entdeckte das Prinzip der klassischen Konditionierung an Hunden. Er erkannte, dass die wiederholte Darbietung von1 1. Lernen beruht auf Erfahrungen Futter zusammen mit einem Glockenton zu einer konditio- Lernen kommt durch einen Austausch zwischen Person und nierten Reaktion führte. Nach einer Zeit floss dem Hund Umwelt zustande. Durch die Erfahrungen, die eine Person bereits der Speichel im Maul zusammen, wenn nur die Glocke macht, erhalten Reize in der Umwelt Bedeutung. Die Reize ertönte (Pawlow 1906). Edward L. Thorndike (1874–1949) führen zu erfahrungsbedingten Reaktionen. Wenn die Lehrüberprüfte seine Ideen zum Lernen durch Versuch und Irr- kraft den Schweigefuchs zeigt und die Spitzen von Daumen, tum mithilfe von Katzen. Er setzte eine Katze in einen soge- Mittel- und Ringfinger zusammenführt, werden die Kinder nannten Problemkäfig, aus dem sie nur durch eine festgelegte ruhig. Hier hat ein Reiz in der Umwelt durch vorauslaufende Abfolge von Handlungsschritten entkommen konnte. Nach Lernerfahrungen eine Wirkung erlangt. Lernen findet ausschließlich durch Erfahrung statt und einer Reihe zufälliger Versuche schaffte es die Katze zunehmend schneller, sich aus dem Käfig zu befreien (Thorndike ist von Prozessen der Reifung abzugrenzen. Ein Kleinkind 1911). Burrhus F. Skinner (1904–1990) sammelte Grundla- beginnt zu krabbeln, stehen, laufen und sprechen, wenn eigenwissen über das operante Konditionieren an Ratten und ne reifungsbedingte Bereitschaft vorhanden ist. Des WeiteTauben. In einer Experimentalkammer lernten Ratten zum ren sollten gelernte Veränderungen nicht auf physiologische Erhalt von Futter oder Vermeidung von Stromschlägen einen Ursachen wie Erkrankung, Müdigkeit, Alkohol- oder DroHebel zu betätigen. Dadurch konnten positive Konsequen- genkonsum zurückzuführen sein. Wenn am Abend vor der zen herbeigeführt und negative umgangen werden (Skinner Prüfung nichts mehr in den Kopf hinein will und nur noch 1938). An Tauben erforschte Skinner die schrittweise For- Unsinniges hängen bleibt, könnte es beispielsweise daran liemung von Verhalten. Durch Belohnung und Bestrafung eig- gen, dass die Person zu diesem Zeitpunkt krank, übermüdet neten sich die Tiere eine erstaunliche Bandbreite verschiede- oder berauscht ist. ner, teils recht eigentümlicher Verhaltensweisen an (Skinner 1948). 1 2. Lernen führt zur Veränderung von Verhalten oder Viele der an Tieren erlangten Einsichten über das Lernen Verhaltenspotentialen wurden in späteren Phasen auf den Menschen übertragen. Lernen ist ein nicht beobachtbarer Prozess. Um zu beurteilen, Behavioristische Lerntheorien können einige in der Schule ob Lernen stattgefunden hat, müssen Veränderungen eingebedeutsame Lernprozesse gut erklären. Es handelt sich vor treten sein. Durch Lernen wird eine Disposition erworben, allem um einfache Lernvorgänge, die ohne theoretische Vor- sich in bestimmter Weise zu verhalten. Nach dem Lernen stellungen über geistige Prozesse auskommen. Komplexere kann zum Beispiel ein Gedicht aufgesagt oder ein Musikstück

5 1.3  Klassische Konditionierung

gespielt werden. Beobachtbare sprachliche oder psychomotorische Veränderungen sind ein direkter Beleg für Lernen. Selbst wenn ein Kind nur stumm und teilnahmslos im Unterricht sitzt, können sich Lernvorgänge ereignen. Entscheidend ist dann, ob sich das Verhaltenspotential verändert hat. Wenn die Fragen der Lehrkraft beantwortet werden können, ist offenbar gelernt worden.

1.3.1

Phasen der klassischen Konditionierung

Der Vorgang des Konditionierens lässt sich in mehrere Phasen aufteilen. . Abb. 1.1 vermittelt einen Überblick über das Konditionieren von Emotionen. In der Kontrollphase werden die Qualitäten des unkonditionierten, emotionsauslösenden Reizes und des neutralen Reizes überprüft. In der 1 3. Lernen sorgt für eine verhältnismäßig dauerhafte Konditionierungsphase wird der neutrale Reiz emotional aufVeränderung Damit ein Verhalten als gelernt gelten kann, muss es zu ver- geladen und wandelt sich zum konditionierten Reiz. In der schiedenen Gelegenheiten reproduzierbar sein. Wenn gelernt Löschungsphase büßt der konditionierte Reiz seinen emowurde mit Messer und Gabel zu essen, kann das zu un- tionalen Charakter wieder ein. Die Spontanerholung bringt terschiedlichen Anlässen gezeigt werden. Beim schulischen die emotionale Bedeutung des konditionierten Reizes in geWissen scheinen die Veränderungen weit weniger zeitlich sta- ringerer Stärke kurzzeitig zurück (Spada, Rummel & Ernst bil zu sein. Wissen Sie noch, wer Franz Ferdinand war oder 2006). was die Newtonschen Gesetze besagen? Eine Wissenslücke an dieser Stelle bedeutet nicht unmittelbar, dass das Wis-1 Kontrollphase sen verlorengegangen ist. Durch geeignete Hinweisreize kann Die klassische Konditionierung ist an Reflexe gebunden. es wieder verfügbar gemacht werden. Wenn auch diese Ver- Ein Reflex besteht aus einer ungelernten Reiz-Reaktionssuche scheitern, hat der Lernprozess nicht die gewünschte, Verbindung. Ein Schlag auf die Patellasehne (Reiz) lässt das relativ dauerhafte Veränderung bewirkt. Es muss neu gelernt Knie hochschnellen (Reaktion). Ein Luftstoß aufs Auge (Reiz) werden. führt zu einem Blinzeln (Reaktion). Ein solcher Reiz wird in der Konditionierungsterminologie als unkonditionierter Stimulus bezeichnet. Er ist nicht an Konditionen wie vorheriges 1.3 Klassische Konditionierung Lernen gebunden. Die zugehörige Reaktion wird unkonditionierte Reaktion genannt. Sie erfolgt automatisch und beruht Die Faszination des klassischen Konditionierens liegt wohl in nicht auf Bedingungen wie willentliches Zutun. In der Konder Möglichkeit begründet, ein Verhalten durch äußere Reize trollphase vor der eigentlichen Konditionierung wird überin eine bestimmte Richtung zu formen. Der Amerikaner John prüft, ob der unkonditionierte Stimulus die unkonditionierte B. Watson glaubte so sehr an die Gültigkeit des Verfahrens, Reaktion zuverlässig auslöst. Auch Watson und Rayner (1920) nahmen in ihrem Exdass er den ebenso bekannten wie folgenschweren Satz prägte: periment zum Erlernen emotionaler Verhaltensweisen eine » Gebt mir ein Dutzend gesunder, gutgeratener Kinder und Eingangsüberprüfung vor. Ein lautes Schlagen mit einem meine eigene Welt, um sie aufzuziehen, und ich garantiere Hammer auf eine Eisenstange sollte Furchtreaktionen zur dafür, dass ich ein beliebiges aussuchen und es zu einem Folge haben. Ihr Proband Albert B. war der Sohn einer Amme Spezialisten meiner Wahl machen kann – einem Arzt, des benachbarten Kinderheims. Zu Beginn des Experiments einem Anwalt, einem Künstler, einem Kaufmann und war er acht Monate alt. Albert war von Geburt an ein gesunja sogar zu einem Bettler und Dieb, ungeachtet seiner der Junge und eines der am besten entwickelten Kinder. Sein Talente, Neigungen, Tendenzen, Fähigkeiten, Berufungen Temperament war ausgeglichen und wenig emotional, so dass und der Rasse seiner Vorfahren (Watson 1930, S. 104). Watson und Rayner (1920) geringen Schaden befürchteten, Watson ging von der Vorstellung aus, dass Kinder nur wenn er an den Versuchen teilnahm. Die Eingangskontrolle verlief wie folgt: Während ein Verüber wenige angeborene Reaktionsmuster verfügen. Um die große Bandbreite von Reaktionen im Erwachsenenalter zu er- suchsleiter den Kopf des Kindes wegdrehte, hämmerte ein klären, sollte es eine einfache Methode geben, diese zu erwei- anderer hinter dem Rücken von Albert mit Kraft wiedertern. Als Erklärungsprinzip vermutete er die Konditionierung holt gegen das Metall. Beim ersten Hammerschlag zuckte das von Reflexen (Watson & Morgan 1917). Zum Beleg seiner Kind heftig zusammen und riss die Arme in die Luft. Beim These führte Watson zusammen mit seiner späteren Frau zweiten Hammerschlag verzogen sich zusätzlich die Lippen Rosalie Rayner eines der bekanntesten, zugleich aber auch und fingen an zu zittern. Beim dritten Hammerschlag brach umstrittensten Experimente in der Geschichte der Psycholo- das Kleinkind in einen plötzlichen Weinkrampf aus. Des Weiteren wird in der Kontrollphase überprüft, ob gie durch. Die Mängel an ethischer Vertretbarkeit und methodischer Stringenz sind offenkundig und wurden vielfach der neutrale Reiz für die Konditionierung geeignet ist. Der moniert (American Psychological Association 2002; Harris neutrale Stimulus sollte mit einer Orientierungsreaktion ver1979; Paul & Blumenthal 1989). Zur Veranschaulichung des bunden sein, die sich erkennbar von der unkonditionierten klassischen Konditionierens von menschlichen Emotionen Reaktion abhebt. Ansonsten ließe sich im Nachhinein nicht soll das Vorgehen an dieser Stelle jedoch ausführlich erläutert beurteilen, ob tatsächlich eine Konditionierung stattgefunden hätte. werden (Watson & Rayner 1920).

1

6

1

Kapitel 1  Lernen und Verhalten

Kontrollphase Unkonditionierter Reiz (lautes Geräusch) Neutraler Reiz (weiße Ratte)

Unkonditionierte Reaktion (Furcht) Orientierungsreaktion (Zuwendung)

Konditionierungsphase Neutraler Reiz (weiße Ratte) und Unkonditionierter Reiz (lautes Geräuch)

Unkonditionierte Reaktion (Furcht)

Ergebnis der Konditionierungsphase Konditionierter Reiz (weiße Ratte)

Konditioniere Reaktion (Furcht)

Löschungsphase Kein unkonditionierter Reiz Konditionierter Reiz (weiße Ratte)

Abnehmende konditionierte Reaktion (sinkende Furcht)

Spontanerholung Kein unkonditionierter Reiz Konditionierter Reiz (weiße Ratte)

Schwache konditionierte Reaktion (leichte Furcht)

. Abb. 1.1 Phasen der klassischen Konditionierung

Watson und Rayner (1920) setzten dem kleinen Albert verschiedene neutrale Reize vor. Auf einen dieser Reize sollte die emotionale Konditionierung erfolgen. Nacheinander wurde er mit einer weißen Ratte (neutraler Stimulus), einem Kaninchen, einem Hund, einem Äffchen, Masken mit und ohne Haaren und einem großen Baumwollbüschel konfrontiert. Der Junge war interessiert und fasste die Objekte an (Orientierungsreaktion), zeigte aber bei keinem Anzeichen von Furcht (unkonditionierte Reaktion). 1 Konditionierungsphase

gehämmert (unkonditionierter Stimulus). Dieses Mal fing er an zu wimmern (unkonditionierte Reaktion). Um das Kind nicht zu sehr zu verstören, wurden eine Woche keine weiteren Tests unternommen. Bei einer erfolgreichen Konditionierung wandelt sich der neutrale Stimulus zu einem konditionierten Stimulus. Alleine dargeboten ist er in der Lage, eine konditionierte Reaktion auszulösen. Die konditionierte Reaktion ist der unkonditionierten ähnlich, kann aber weitere Verhaltensweisen miteinschließen (Bodenmann et al. 2011). In der darauffolgenden Sitzung wiederholten Watson und Rayner (1920) die Prozedur. Drei Mal wurde die weiße Ratte zusammen mit dem lauten Geräusch präsentiert. Daraufhin wurde Albert lediglich die Ratte vorgesetzt, um zu prüfen, ob die Konditionierung der Reaktion eingetreten war. Er verzog das Gesicht, wimmerte und lehnte den Körper stark zur Seite herüber. Nach zwei weiteren Durchgängen hatte sich der neutrale Reiz zum konditionierten Reiz gewandelt. Sobald Albert die weiße Ratte gezeigt wurde, fing er an zu schreien. Er fiel zur Seite, rappelte sich auf und krabbelte so schnell es ging davon. Fünf Tage später wurde Albert erneut mit der Ratte in Kontakt gebracht. Er fing sofort an zu weinen und versuchte zu fliehen. Weitere Tests zeigten, dass sich seine Furcht auch auf ein Kaninchen, einen Hund, einen Pelzmantel, einen großen Baumwollbüschel und eine Nikolausmaske ausgedehnt hatte.

Nachdem die Eingangsvoraussetzungen geprüft worden sind, folgt die Phase der Konditionierung. Beim Konditionierungsprozess werden der neutrale und der unkonditionierte Stimulus wiederholt gemeinsam dargeboten und auf diese Weise miteinander verkoppelt. Das Auftreten des einen Stimulus erfolgt in räumlicher und zeitlicher Nähe zum anderen. Optimal ist die Kontiguität, wenn der neutrale Reiz zeitlich vor und während oder vollständig zeitgleich mit dem unkonditionierten Reiz dargeboten wird (Spada et al. 2006). Der neutrale Stimulus bewirkt zu diesem Zeitpunkt noch keine eigenständige emotionale Reaktion. Der unkonditionierte Stimulus löst verlässlich die unkonditionierte Reaktion aus. Als Albert elf Monate alt war, begannen Watson und Rayner (1920) mit den Konditionierungsversuchen. Aus einem Korb wurde eine weiße Ratte (neutraler Stimulus) hervorgeholt und Albert gezeigt. Als er begann, sich danach zu strecken und seine Hand das Tier berührte, wurde sofort hinter seinem Rücken gegen das Eisen geschlagen. Albert fiel mit1 Löschungsphase einem Ruck nach vorn, weinte aber nicht. Als er noch ein- Durch die alleinige Darbietung des konditionierten Stimulus mal die Ratte berühren wollte, wurde erneut gegen die Stange ohne den unkonditionierten Stimulus wird das konditionier-

7 1.3  Klassische Konditionierung

te Verhalten wieder gelöscht. Anfänglich wird der kondi- 1.3.2 Eigenschaften der klassischen tionierte Reiz nach erfolgreicher Konditionierung noch eine Konditionierung recht starke konditionierte Reaktion hervorrufen. Je öfter jedoch nur der konditionierte Stimulus dargeboten wird, desto schwächer wird die bedingte Reaktion, bis sie vollkommen1 Bekräftigung Der Erwerb einer konditionierten Reaktion ist an die wiederverschwindet. Dem kleinen Albert wäre zu wünschen gewesen, dass sei- holte Koppelung von neutralem und unkonditioniertem Reiz ne Furcht vor Tieren wieder gelöscht worden wäre. Jedoch gebunden. Im Falle des kleinen Alberts waren sieben Durchwurde die Verbindung zwischen dem Hämmern auf die Me- gänge erforderlich, bevor der neutrale zum konditionierten tallstange und der weißen Ratte nie gelöst. Kurz nach Been- Stimulus wurde. Entscheidend ist die Intensität des unkondidigung der letzten Sitzungen wurde Albert von einer anderen tionierten Reizes: Ist er stark wie ein Hammerschlag, reichen Familie außerhalb der Stadt adoptiert und eine Löschung des bereits wenige Lernsequenzen, um die Verbindung zum neukonditionierten Verhaltens fand nicht statt (Watson 1930). tralen Reiz herzustellen (Steiner 1996). Beim Erwerb einer Watson und Rayner (1920) mutmaßten, dass Alberts Furcht Geschmacksaversion kann sogar der einmalige Verzehr einer vor behaarten Tieren und haarigen Gegenständen ohne ge- Speise genügen (De Silva & Rachman 1987). eignete Gegenmaßnahmen bestehen bleiben würde. In kriminalistischer Kleinarbeit machten sich verschiede-1 Generalisierung ne Autoren daran, den weiteren Werdegang des kleinen Al- Die konditionierte Reaktion sollte auch bei anderen Stimuli bert nachzuverfolgen (Beck, Levinson & Irons 2009; Powell, auftreten, die dem konditionierten Reiz ähnlich sind. Dieses Digdon, Harris & Smithson 2014). Die wenigen Angaben aus Phänomen wird als Reizgeneralisierung bezeichnet. Der kleiWatsons Schriften und einem historischen Lehrfilm führten ne Albert fürchtete sich nach der Konditionierung auch vor zunächst zu einer falschen Person (Beck et al. 2009; Powell anderen haarigen Objekten. Die konditionierte Reaktion auf 2010). Doch schließlich konnte mit Albert Barger ein Mann die weiße Ratte hatte sich auf andere Tiere und Gegenstände ausfindig gemacht werden, der den Suchkriterien in den we- übertragen. sentlichen Punkten entsprach (Powell et al. 2014). William Albert Martin, so sein späterer Name, starb 2007. Von ihm1 Diskrimination sagte seine Nichte, dass er zwar keine phobische Furcht, aber Der umgekehrte Vorgang zur Generalisierung nennt sich eine Abneigung gegenüber Tieren besessen hätte. Tiere hat- Reizdiskrimination. Die konditionierte Reaktion kann nicht ten für den immer fein gekleideten und gepflegt auftretenden bei Stimuli verzeichnet werden, die vom konditionierten Reiz verschieden sind. Um den kleinen Albert zu beruhigen, hatte Albert etwas Unsauberes an sich gehabt. Watson und Rayner (1920) wussten bereits, wie sie dem er zwischen den Reizdarbietungen immer wieder Gelegenkleinen Albert hätten helfen können und wären wohl auch heit, mit Bauklötzen zu spielen. Die Bauklötze riefen keine dazu bereitet gewesen. Um die konditionierte Furcht zu be- Furchtreaktion, sondern Freude und Lachen hervor. Er fing seitigen, zogen sie nicht nur die alleinige Darbietung des sofort an zu spielen. Albert hatte gelernt, zwischen Reizen zu konditionierten Stimulus, sondern auch die Möglichkeit der diskriminieren, die mit dem unkonditionierten Reiz verbunGegenkonditionierung in Erwägung. Immer wenn Albert mit den sind oder losgelöst davon erscheinen. dem furchtbesetzten Tier in Kontakt käme, würde er etwas Süßes erhalten. Die angenehmen Gefühle beim Verzehr wür-1 Konditionierung höherer Ordnung den das Kind beruhigen und Gefühle der Angst im Laufe der Wird ein konditionierter Reiz beständig mit weiteren neuZeit durch die Gegenkonditionierung verschwinden lassen tralen Reizen gekoppelt, sind diese bald selbst in der Lage, (Jones 1924). konditionierte Reaktionen auszulösen. Dieser Prozess wird als Konditionieren höherer Ordnung bezeichnet. Das Schreiben einer Klassenarbeit kann mit Misserfolg verbunden sein. 1 Spontanerholung Nach der Löschung eines konditionierten Verhaltens kann es Die Wissensprüfung wird zum konditionierten Reiz, welzu einer Spontanerholung kommen. Damit ist gemeint, dass cher die konditionierte Reaktion Furcht auslöst. Mit der Zeit der konditionierte Stimulus die vermeintlich gelöschte, kon- können auch andere, vormals neutrale Reize dieselbe Qualiditionierte Reaktion wieder auslösen kann. Die Wirkung ist tät gewinnen (Schunk 2004). Dann werden die Schülerinnen und Schüler bereits ängstlich, wenn die Lehrkraft einen Stapel nicht mehr so stark wie zuvor. Weil Watson und Rayner (1920) das Furchtverhalten des Papier aus der Tasche zieht oder die Tischordnung geändert kleinen Albert nicht gelöscht hatten, lässt sich über eine Spon- worden ist. Schon die Ankündigung „Morgen, Klassenartanerholung keine Aussage treffen. Es wäre falsch zu glauben, beit!“ kann Furcht hervorrufen. Papierstapel, Tischordnundass allein das Verstreichen von Zeit zu einer Löschung kon- gen und sprachliche Äußerungen sind konditionierte Reize ditionierter Verhaltensweisen führt. Wenn konditionierter höherer Ordnung. und unkonditionierter Stimulus nicht entkoppelt werden, behält der konditionierte Reiz seinen Signalcharakter (Spada et al. 2006).

1

1

8

Kapitel 1  Lernen und Verhalten

1.3.3

Anwendung der klassischen Konditionierung

Crombez 2010). Anfänglich neutrale Stimuli, dargeboten in Kombination mit beliebten oder unbeliebten Stimuli, konnten ihre Wertigkeit in die jeweilige Richtung mit mittlerer Effektstärke verändern.

Die Theorie des klassischen Konditionierens kann einige Auffälligkeiten im schulischen Bereich gut erklären. Verschiedene fiktionale Beispiele sollen den Praxisbezug deutlich machen. Außerhalb des Forschungslabors ist klassische 1.3.4 Kritik der klassischen Konditionierung Konditionierung schwer nachzuweisen, weil sie sich beiläufig ereignet. Eine starre Bindung an Reflexe ist nicht zwin-1 Mechanistische Lernauffassung gend gegeben. Es können auch andere, unbewusst ablaufende Der Methode des klassischen Konditionierens liegt eine meVerarbeitungsvorgänge Konditionierungsreaktionen hervor- chanistische, von außen steuerbare Auffassung von Lernen rufen. zugrunde. Es müssen nur die geeigneten UmweltbedingunMancher Schüler denkt mit Unbehagen an seinen ma- gen geschaffen werden, dann stellen sich die gewünschten thematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht. Insbesonde- Verhaltensweisen ein. Menschen reagieren jedoch sehr unterre der Umgang mit Formeln und Symbolen verursacht vie- schiedlich auf scheinbar gleiche Umweltbedingungen. Trotz le Probleme. Eine „Formelphobie“ kann durch klassische des gleichen Stoffangebots ergeben sich am Ende des UnterKonditionierung erworben werden (Gage & Berliner 1996). richts im Lernstand der Schülerinnen und Schüler erhebliche Schwierige Inhalte (unkonditionierter Stimulus) in Verbin- Unterschiede. dung mit mathematischen Symbolen (neutraler Stimulus) bereiten Lernenden Kopfzerbrechen und ein ungutes Gefühl1 Fehlende Erklärung für neues Verhalten (unkonditionierte Reaktion). Durch die geistige Anstrengung Das klassische Konditionieren kann nicht erklären, wie neuerhalten Formeln und Symbole einen negativen Anstrich. es Verhalten entsteht und sich Handlungskompetenzen verSchreibt die Lehrkraft in Formelsprache (konditionierter Sti- größern. Durch die Methode werden keine neuen Verhalmulus) etwas an die Tafel, wird dies schnell nicht verstanden tensweisen gelernt, sondern lediglich die Verbindungen mit und ruft Gefühle des Versagens (konditionierte Reaktion) verhaltensauslösenden Reizen gestärkt (Steiner 1996). Die hervor. Reaktionen selbst sind davon unbeeinflusst und verändern Mit dem Wechsel von der Grundschule auf die weiter- sich nicht. führende Schule erweitert sich der Fächerkanon. Unbekannte Fächer (neutrale Stimuli) wie Erdkunde, Französisch oder1 Beschränkte Anwendbarkeit Wirtschaft kommen hinzu. Wenn die Lehrkraft eines neu- Die klassische Konditionierung ist nur auf ein eingeen Fachs eine sehr sympathische Person (unkonditionierter schränktes Spektrum von Verhaltensweisen anwendbar. Sie Stimulus) ist, welche die Schülerinnen und Schüler gerne beruht auf Reflexen, also feststehenden Reiz-Reaktionsmögen (unkonditionierte Reaktion), wird sich der Eindruck Verbindungen. Die Begrenztheit des Verfahrens wird schnell vom Fach zum Guten hin verändern (Lefrançois 2006). Zu- offensichtlich, wenn man es auf das gezielte Vermitteln sätzlichen Lernangeboten in diesem Bereich (konditionierter von Verhaltensweisen übertragen möchte. Ein Sportlehrer Stimulus) wird mit einer positiven Einstellung (konditionier- kann versuchen, Kindern aufgrund des Kniesehnenreflexes te Reaktion) begegnet. das Fußballspielen beizubringen. Geeignete SchusspositioUmgekehrt können negative Erlebnisse in der Schule da- nen vor dem Tor müssten mit dem Reflex fest verkoppelt zu führen, dass der Ort des Lernens (neutraler Stimulus) werden. Dieses Spiel wäre jedoch wenig flexibel und häteine andere Bedeutung erhält (Gage & Berliner 1996). Ei- te mehr Ähnlichkeit mit Tischfußball als einem wirklichen gene Lerndefizite, Konflikte mit den Mitschülern oder eine Fußballspiel. Andere Lernprinzipien sind gefordert, um die bedrohliche Wahrnehmung der Lehrkraft (unkonditionier- vielfältigen Verhaltensmöglichkeiten des Menschen begreifte Stimuli) können mit Gefühlen der Angst und Ablehnung lich zu machen. (unkonditionierte Reaktion) verbunden sein. So kann bereits beim Betreten des Gebäudes (konditionierter Stimulus) ein1 Fehlende Generalisierbarkeit beklemmendes Gefühl (konditionierte Reaktion) entstehen. Weiteren Forschern gelang es nicht, die Befunde von WatUm den unangenehmen Zustand zu vermeiden, werden be- son und Rayner (1920) zu replizieren (Bregman 1934; English troffene Schülerinnen und Schüler etwa versuchen, die Schule 1929; Valentine 1930). Bregman (1934) verwendete in ihrer zu schwänzen. Studie zur Induktion von Emotionen allerdings sehr neuIm Grunde genommen können vielerlei Reize in unse- trale Stimuli wie hölzerne Dreiecke, Rechtecke und Ringe rer Umwelt an einen unkonditionierten Reiz gekoppelt wer- oder Stücke gefärbten Stoffs. Aufgrund einer biologischen den und so ihre Bedeutung ändern. Selbst der langweiligste Bereitschaft lernen Menschen jedoch nur gegenüber gewisUnterricht kann mit einem lustigen Sitznachbarn zu einem sen Gegenständen mit Furcht zu reagieren (Seligman & Hager echten Erlebnis werden. Metaanalytische Befunde deuten da- 1972). Objekte mit Fell oder Haaren scheinen dazu zu gehörauf hin, dass umwertendes Konditionieren beim Menschen ren, Sachen aus Holz oder Stoff dagegen nicht. Die Erklärung gut funktioniert (Hofmann, De Houwer, Perugini, Baeyens & dafür liegt in unserem biologischen Erbe. Um plötzliche Ge-

9 1.4  Operante Konditionierung

fahren wie ein wildes Tier oder einen Feind abzuwehren, haben sich flexible Reaktionsmechanismen etabliert (Öhman & Mineka 2001). Sie sorgen für unterschiedliche Handlungsbereitschaften auf die Vorgabe verschiedener Reize.

Die Methode hat allerdings ihre Tücken, selbst wenn die Karte des Erstklässlers zum „Fatatak“ die meisten Väter erfreuen dürfte. Aus lerntheoretischer Sicht kann ein Gesetz des Behavioristen Edward R. Guthrie die Probleme des Schreibens nach Gehör erklären. Die Erkenntnis Guthries lautet: „Reize, die eine Antwort begleiten, neigen bei ihrer Wiederkehr dazu, diese Reaktion erneut hervorzurufen.“ (Guthrie 1930, S. 412). Sollte das Kind erneut zum Vatertag gratulieren, wird es mit höherer Wahrscheinlichkeit die gleichen Fehler noch einmal begehen. Weil auch keine Berichtigung erfolgt, können sich fehlerhafte Schreibweisen einschleifen. Günstiger wäre es nach Guthries Theorie, Schülerinnen und Schülern von Anfang an das Richtige zu lehren. In einer Metaanalyse hat Funke (2014) 16 Studien mit über 800 Schulklassen zusammengetragen, in denen das Schreiben nach Gehör mit der herkömmlichen Lesefibel-Methode verglichen wurde. In den Klassenstufen zwei bis vier waren die „Schreiben nach Gehör“-Klassen den „Lesefibel“-Klassen im Rechtschreiben mit mittlerer Effektstärke signifikant unterlegen. Es ist mithin ein Bildungsmythos, dass Kinder durch die Methode des Schreibens nach Gehör die deutsche Rechtschreibung besser erlernen.

1 Alternative Erklärungsansätze

Kognitionswissenschaftler würden bestimmte Befunde der klassischen Konditionierung einfacher und prägnanter deuten. Sie würden davon ausgehen, dass Personen in Konditionierungsstudien die Erwartung bilden, dass der konditionierte Reiz ein Ereignis ankündigt (Rescorla 1987). Verhaltenstheoretiker würden ein kognitives Konstrukt wie eine Erwartung ablehnen. Gleichwohl ließe sich damit erklären, warum Rückwärtskonditionierung – der unkonditionierte Stimulus erscheint vor dem neutralen Stimulus – eher schlecht funktioniert (Angermeier & Peters 1973). Der konditionierte Stimulus führt in diesem Fall nicht zur Erwartung, dass ein wichtiges Ereignis bevorsteht. 1 Begrenzte praktische Bedeutung

Watson und Rayner hatten zwei Söhne, William und James, die sie streng nach behavioristischen Prinzipien aufzogen. Ihre Erkenntnisse veröffentlichte das Ehepaar in einem Erziehungsratgeber (Watson & Watson 1928), der sich gut verkaufte. Watson war davon überzeugt, dass zu viel Mutterliebe und elterliche Bindung den Kindern dabei schade, Unabhängigkeit zu erlangen. Die Jungen sollten wie kleine Erwachsene behandelt und der Ausdruck offener elterlicher Zuneigung vermieden werden (Nelson-Jones 2006). Watsons Glaube an die Formbarkeit von Persönlichkeiten durch die Gesetze des Behaviorismus wurde jedoch arg erschüttert, als William sich gegen den Willen seines Vaters entschied, Psychiater zu werden. Das war nicht der einzige Rückschlag für Watsons Erziehungsvorstellungen. Beide Söhne begingen Selbstmordversuche. William kam dabei ums Leben (Smirle 2013). Die von Watson eingangs zitierte Auffassung über die scheinbar beliebige Veränderbarkeit von Heranwachsenden wird durch diese Erziehungsergebnisse deutlich in Frage gestellt.

Mythos: Schreiben nach Gehör Um den Einstieg in den Schriftspracherwerb zu erleichtern, empfahl der Schweizer Reformpädagoge Jürgen Reichen (1939–2009), Kinder nach Gehör schreiben zu lassen (Reichen 1988). Kinder sollten die Worte so zu Papier bringen, wie sie sie wahrnehmen. Begriffe können dadurch auch ohne Buchstabenkenntnis geschrieben werden. Die gehörten Laute werden einfach miteinander kombiniert. Dabei hilft eine Anlauttabelle mit passenden Bildern zu jedem Laut: Ufo steht für U oder Auto für Au. Rechtschreibfehler werden zunächst nicht korrigiert, um die Motivation der Schreibanfänger nicht zu beeinträchtigen. Brügelmann (1992) schloss auf der Grundlage früher Untersuchungen, dass man diesen Unterricht guten Gewissens praktizieren könne.

1.4

Operante Konditionierung

Es gibt viele Verhaltensweisen von Schülerinnen und Schülern, welche die Nerven einer Lehrkraft belasten: mit dem Stuhl kippeln, unvermittelt aufstehen, in der Klasse herumlaufen, den Tisch verrücken, heimlich das Handy benutzen, mit dem Nachbarn quatschen, mit den Fingern schnipsen, in die Klasse hineinrufen, etwas vom Tisch fallen lassen oder geistesabwesend aus dem Fenster schauen. Das unerwünschte Schülerverhalten, mit dem sie die Lehrkraft gewollt oder ungewollt reizen, lässt sich als Lernen durch Versuch und Irrtum beschreiben. Es werden so lange unterschiedliche Verhaltensweisen ausprobiert, bis eine davon die Lehrkraft ausreichend provoziert, um dagegen vorzugehen. Dann erst wird den Schülerinnen und Schülern klar, dass sie solche Verhaltensweisen in Zukunft besser unterlassen sollten. Ausschlaggebend beim Lernen durch Versuch und Irrtum sind nicht wie beim klassischen Konditionieren die dem Verhalten vorauslaufenden Reize in der Umgebung, sprich die situativen Gegebenheiten im Klassenzimmer. Entscheidend sind vielmehr die auf das Verhalten folgenden Reize, also die Folgen oder Konsequenzen. Im Gesetz der Wirkung (law of effect) hat Edward L. Thorndike (1913) diesen Zusammenhang formuliert. Erfolgreiche Verhaltensweisen mit zufriedenstellenden Konsequenzen werden zukünftig wahrscheinlich häufiger gezeigt, während erfolglose Verhaltensweisen mit unbefriedigenden Konsequenzen in Zukunft wahrscheinlich seltener auftreten.

1

10

1

Kapitel 1  Lernen und Verhalten

Die Methode der operanten Konditionierung von Burr- mit gleicher Häufigkeit auf. Dies war Voraussetzung dafür, die hus F. Skinner (1953) baut auf den Erkenntnissen Thorndikes Gruppen miteinander vergleichen und den Erfolg der weiteauf. Auch Skinner war der Überzeugung, dass Verhalten vor ren Maßnahmen bestimmen zu können. allem von seinen Konsequenzen bestimmt ist. Operante Verhaltensweisen – das sind solche, die auf die Umwelt operie-1 Verstärkung des Verhaltens ren und damit Einfluss auf sie nehmen – können durch die In der zweiten Phase des Experiments wurde versucht, das Verhaltensfolgen konditioniert werden. In Abhängigkeit von unerwünschte Verhalten zu konditionieren. Auf unangemesden Konsequenzen wird ihr zukünftiges Auftreten mehr oder senes Reden sollte die junge Lehrerin in der Versuchsklasse minder wahrscheinlich (Schunk 2004). mit direkten, verbalen Zurechtweisungen reagieren und die Grundlegend für das Verständnis der operanten Kon- Jugendlichen dabei nach Möglichkeit mit Namen ansprechen: ditionierung ist das Prinzip der Verstärkung. Verstärkung „John, sei leise“, „Jane, hör auf zu reden“ oder „Ihr da drüberuht auf der Gabe oder dem Entzug von Verstärkern. Ein ben, seid ruhig“. Den Schülerinnen und Schülern wurde aber Verstärker ist jeder Reiz in der Folge eines Verhaltens, durch nicht mit weiteren Konsequenzen wie Nachsitzen gedroht. den sich die Stärke des Verhaltens ändert. Lächeln, Lob, Be- Wenn sich die Klasse eine Weile ruhig verhalten hatte, verachtung, Anerkennung, Wertschätzung, Hausaufgabenfrei, stärkte die Lehrerin das Verhalten mit Lob: „Danke, dass ihr Smileys, Sticker, Lehrerstempel, Süßigkeiten und gute No- ruhig seid“ oder „Danke, dass ihr jetzt nicht redet“. Wie aus ten werden von Lehrkräften für gewöhnlich als Verstärker . Abb. 1.2 hervorgeht, waren die Konditionierungsbemühuneingesetzt. Ob ein Verstärker wirksam ist, lässt sich erst im gen der Lehrkraft erfolgreich. Zwischen dem 28. und dem 62. Nachhinein feststellen. Dann zeigt sich, ob eine geplante Schultag ging das unerwünschte Redeverhalten in der VerBelohnung tatsächlich verstärkend gewirkt und die Auftre- suchsklasse stark zurück, während es in der Kontrollklasse tenswahrscheinlichkeit des Verhaltens sich verändert hat. Ein ohne Intervention unverändert stark blieb. Die weiteren PhaVerstärker soll verstärken. Tut er das nicht, handelt es sich um sen der operanten Konditionierung verdeutlichen die möglikeinen Verstärker. che Entwicklung des Schülerverhaltens nach Beendigung der Trainingsmaßnahme.

Phasen der operanten Konditionierung 1

Löschung des Verhaltens Um ein Verhalten zu löschen, wird es nicht weiter verstärkt. Wenn die Klasse ungefragt reden und die Lehrkraft nicht mit Bei der Veränderung von operantem Verhalten mithilfe von Lob und Tadel verstärken würde, würde das konditionierte Verstärkern lassen sich in Analogie zur klassischen Konditio- Verhalten gelöscht. Durch die Löschung ließe die Kraft der nierung vier verschiedene Phasen unterscheiden. Sie werden Maßnahme allmählich nach, bis überhaupt kein Effekt mehr als Bestimmung der Basisrate, Verstärkung des Verhaltens, feststellbar wäre. Die Jugendlichen würden sich dann wieder Löschung des Verhaltens und Spontanerholung bezeichnet. so häufig unterhalten wie zu Beginn der KonditionierungsDie unterschiedlichen Phasen sollen anhand eines konkreten phase. Falls in der Schule erläutert werden (McAllister, Stachowiak, Baer & Conderman 1969). 1 Spontanerholung In der Studie von McAllister et al. (1969) wurden die WirBei der Spontanerholung tritt das gewünschte Verhalten erkungen von Lob und Tadel der Lehrkraft auf unangemessenes neut zutage, sobald die Konditionierungssituation wiederherSchülerverhalten untersucht. Zur Teilnahme an der Untersugestellt ist. Daran würde ersichtlich, dass das Verhalten nicht chung erklärte sich eine 23-jährige Lehrerin mit einjähriger verlernt worden ist. Lob und Tadel der Lehrerin könnten den Berufserfahrung bereit. Sie berichtete über Schwierigkeiten, Redefluss der Schülerinnen und Schüler nun schnell stoppen zwei von ihr unterrichtete Oberstufenklassen unter Kontrolle und dafür sorgen, sich angemessen zu benehmen. Allerdings zu halten. Besonders störte sie das unaufgeforderte Reden der wäre der Effekt weniger ausgeprägt als am Ende der KondiSchülerinnen und Schüler im Unterricht. Von der Teilnahme tionierungsphase. an der Forschungsstudie erhoffte sie sich, das Problem besser in den Griff zu bekommen. 1.4.1

1 Bestimmung der Basisrate

1.4.2 Eigenschaften der operanten Zu Beginn des Schulexperiments wurde zwischen dem 1. und Konditionierung 27. Schultag eine Grundrate bestimmt und dabei gemessen, wie häufig das zu konditionierende Verhalten spontan auftrat. Für jede Minute des Unterrichts wurde durch einen Beob-1 Verstärkungsformen achter festgehalten, ob die Schülerinnen und Schüler sich Die operante Konditionierung basiert auf der Verstärkung unterhielten oder dem Unterricht folgten. . Abb. 1.2 zeigt den und Bestrafung von Verhalten. . Tab. 1.1 gibt einen Überprozentualen Anteil unerwünschten Gesprächsverhaltens am blick über die verschiedenen Verstärkungsformen. Die VerUnterricht. In der Phase zur Bestimmung der Basisrate trat wendung der Begriffe positiv und negativ führt darin oft zu unerlaubtes Reden in der Versuchs- und Kontrollklasse etwa Missverständnissen. Als Attribut von Verstärkung und Be-

11 1.4  Operante Konditionierung

50

Häufigkeit des unerwünschten Gesrpächsverhaltens (in Prozent)

45 Experimentalgruppe Kontrollgruppe 40

35

30

25

20

15

10 Beginn der Konditionierung

5

0

2

4

6

8

10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 Zeit (in Tagen)

. Abb. 1.2 Täglicher Anteil von Zeitintervallen unangemessenen Redeverhaltens in der Versuchs- und Kontrollgruppe während der Ausgangs- und Konditionierungsphase (nach McAllister et al. 1969, S. 281)

. Tabelle 1.1 Formen der operanten Konditionierung Darbietung

Entzug

Positiver Reiz

Positive Verstärkung (Lob für gute Mitarbeit)

Negative Bestrafung (Wegnahme des Handys)

Negativer Reiz

Positive Bestrafung (Ermahnung bei Unterrichtsstörung)

Negative Verstärkung (Befreiung von Hausaufgaben)

Kein Reiz

Löschung

strafung meinen sie, ob ein Reiz gegeben oder genommen wird. Bei positiver Verstärkung wird durch Hinzufügen eines angenehmen Reizes als Antwort auf das Verhalten die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten des Verhaltens in der konkreten Situation erhöht. Die Anerkennung der Lehrkraft für gute Mitarbeit macht die zukünftige Unterrichtsbeteiligung der Schülerinnen und Schüler wahrscheinlicher. Bei negativer Verstärkung wird durch Wegnahme eines unangenehmen Reizes als Antwort auf das Verhalten die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten des Verhaltens in der konkreten Situation erhöht. Die Befreiung von Hausaufgaben für konzentrierte Mitarbeit bestärkt viele Schülerinnen und Schüler in ihrem Lernengagement.

Zu beachten gilt, dass mit positiver und negativer Verstärkung gleichgerichtete Wirkungen erzielt werden. In beiden Fällen von Verstärkung wird die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten des Verhaltens größer. Im Fokus: Richtiges Loben

Im Rahmen des Verstärkungslernens bietet das Lob der Lehrkraft Schülerinnen und Schülern eine effektive Orientierungshilfe. Mit Lob bedachte Verhaltensweisen werden wahrscheinlich häufiger gezeigt werden, während nicht durch Lob oder andere Verstärker belohnte Verhaltensweisen wahrscheinlich der Löschung unterliegen (Landrum & Kauffman 2006). Allerdings wird mit dem Lehrkraftlob nicht ausschließlich der Zweck verfolgt, verstärkend zu wirken. Ein Lob kann auch ausgesprochen werden, um eine soziale Beziehung aufzubauen („Du zeigst heute wieder dein sonnigstes Lächeln“). Zudem wird ein zur Verstärkung eingesetztes Lob – wie für angemessenes Verhalten – von Schülerinnen und Schülern nicht immer als solches empfunden („Ich finde es toll, wie wunderbar gerade du sitzt“). Schülerinnen und Schüler bevorzugen ein ruhiges, persönliches Lob gegenüber lautstark öffentlich vorgetragenen Belobigungen und wollen eher für ihre schulischen Leistungen als für ihr gutes Verhalten Anerkennung finden (Good & Brophy 2008).

1

12

1

Kapitel 1  Lernen und Verhalten

Die Häufigkeit des Lehrkraftlobs hat praktisch keinen Einfluss auf den Leistungsfortschritt von Schülerinnen und Schülern (Brophy 1981). Entscheidend ist die Qualität des Lobes. Besonders wirksam ist Lob, das die Entwicklung und den Fähigkeitserwerb der Schülerinnen und Schüler in den Vordergrund rückt. Richtiges Lob würdigt die unternommenen Anstrengungen oder die erbrachten Leistungen. Das gilt insbesondere auch für Lernschwächere, die nicht anders als ihre Klassenkameraden behandelt werden wollen. Lob sollte eine spontane, aufrichtige Stellungnahme zu Schülerleistungen sein und nicht dem Kalkül entspringen, Schülerinnen und Schüler beeinflussen zu wollen (Good & Brophy 2008).

Isolation oder der Aufbau inkompatibler Verhaltensweisen eine so sofortige, andauernde und allgemeine Wirkung wie mit Vernunft angewandtes Strafen (Johnston 1972). In Fällen, in denen ein gefährliches oder äußerst unerwünschtes Verhalten wiederholt auftritt, wird eine Lehrkraft um die Anwendung von Strafen nicht herumkommen. Strafen sollten als letzter Ausweg zur Reduktion falscher Verhaltensweisen gesehen werden, wenn aller Ausdruck von Besorgtheit und jedes Angebot von Unterstützung nicht zum Ziel geführt haben. Lehrkräfte sollten in diesen Fällen Folgendes beachten (Julius 2004): 4 Schülerinnen und Schüler müssen genau wissen, wofür sie bestraft werden. 4 Die Bestrafung sollte erst erfolgen, wenn die betreffenden Schülerinnen und Schüler nicht mehr aufgeregt sind. 4 Nach der Bestrafung sollte es die Lehrkraft vermeiden, im Unterricht noch einmal auf das Fehlverhalten einzugehen, um niemanden bloß zu stellen. 4 Falsches Verhalten sollte bereits in den Anfängen und nicht erst am Ende unterbunden und mit Strafe belegt werden. 4 Regelgerechtes Verhalten sollte systematisch verstärkt werden.

Umgekehrt verhält es sich bei Bestrafung. Bestrafung dient nicht der Stärkung, sondern der Unterdrückung eines Verhaltens. Es wird zwischen positiver und negativer Bestrafung unterschieden. In beiden Fällen von Bestrafung wird die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten des Verhaltens kleiner. Bei positiver Bestrafung wird durch Hinzufügen eines unangenehmen Reizes als Antwort auf das Verhalten die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten des Verhaltens in der konkreten Situation gesenkt. Die Ordnungsrufe der Lehrkraft auf die Unterrichtsstörungen machen zukünftiges Störverhalten der Schülerinnen und Schüler weniger wahrscheinlich. Bei negativer Bestrafung wird durch Wegnahme eines1 Primäre und sekundäre Verstärkung angenehmen Reizes als Antwort auf das Verhalten die Wahr- Eine grundlegende Unterscheidung wird zwischen primärer scheinlichkeit für das Auftreten des Verhaltens in der kon- und sekundärer Verstärkung getroffen. Primäre Verstärkung kreten Situation verringert. Der Entzug des Smartphones beruht auf der Befriedigung physiologischer Bedürfnisse wie bei Benutzung im Unterricht macht dessen zukünftigen Ge- Essen, Trinken und Schlafen, bei Erwachsenen zählt auch Sex brauch in der Schule nach Rückgabe weniger wahrscheinlich. dazu. Primäre Verstärker wie mitgebrachte Kuchen, freie GeDie positive Bestrafung entspricht unserem Grundver- tränke oder die Möglichkeit sich auszuruhen, werden in der ständnis von Strafe. Es wird einer Person etwas Unangeneh- Schule verhältnismäßig selten genutzt. Schulisch bedeutsames zugefügt. Die negative Bestrafung erscheint auf den ers- mer ist die sekundäre Verstärkung. Sie ist sozialen Ursprungs ten Blick humaner, kann aber als ebenso schmerzhaft erlebt und wird erst im Laufe der Entwicklung eines Menschen werden. Wenn wegen eines Verstoßes gegen die Schulord- mutmaßlich durch klassische Konditionierung gelernt. Danung die Klassenfahrt nicht mitgemacht werden darf, ist der bei steht die Befriedigung von Bedürfnissen wie Sicherheit, empfundene Schmerz oft groß. Geborgenheit, soziale Anerkennung oder Selbstverwirklichung im Vordergrund. Als sekundäre Verstärker können ein freundliches Lächeln der Lehrkraft, Lob, gute Noten, Geld der Im Fokus: Richtiges Strafen Eltern oder Gestaltungsspielräume wirksam sein. Das operante Konditionieren von Burrhus F. Skinner wurde Für die Lehrkraft kommt es darauf an, die für die Klasoft wegen der Betonung von Strafen zur Verhaltenssteuese oder einzelnen Klassenmitglieder geeigneten Verstärker zu rung kritisiert. Dabei hatte Skinner selbst sich für die finden (Gage & Berliner 1996). Das heißt nicht, Schülerinnen Verwendung positiver Verstärkung anstelle von Bestrafung und Schüler mit Süßigkeiten zu überhäufen. Wenn ein Kind oder aversiver Reize ausgesprochen (Hjelle & Ziegler 1981). gerne liest, kann ein spannendes Buch ein geeigneter VerstärSkinner sah den Gebrauch von Strafen als wenig nützlich ker sein. Wenn es gerne malt, darf es zur Belohnung für ein an, weil sie (a) eine Person nicht lehren, wie sie sich besser Verhalten etwas zeichnen. Durch die Wahl passender Verstärverhalten könnte, (b) das unerwünschte Verhalten nicht notker besitzt die Lehrkraft die Möglichkeit, das Verhalten der wendigerweise beseitigen und (c) Verhaltensweisen nach Schülerinnen und Schüler in die richtigen Bahnen zu lenken. sich ziehen, die noch schlimmer sein können als die bestraften (DeBell & Harless 1992). Andererseits hat keine andere 1 Premack-Prinzip Vorgehensweise wie eine Veränderung der auslösenden Das Premack-Prinzip macht sich den Umstand zunutze, dass Reize, Verhaltenslöschung, Verhaltenssättigung, soziale ein bevorzugtes Verhalten als effektiver Verstärker für ein

weniger bevorzugtes Verhalten eingesetzt werden kann (Pre-

13 1.4  Operante Konditionierung

mack 1965). Viele kennen das Prinzip von zuhause, wo es die Eltern intuitiv verwenden: Erst wird aufgegessen, dann darf gespielt werden. Erst werden die Hausaufgaben erledigt, dann geht es an den Computer. Die bevorzugte Tätigkeit wird zum positiven Verstärker der weniger beliebten Aktivität. Beim Premack-Prinzip gilt es die Reihenfolge der Tätigkeiten zu beachten. Wenn Hausaufgaben gemacht werden sollen, aber das Kind noch ein wenig am Computer spielen möchte, darf der Erziehende jetzt nicht nachgeben. Sonst könnte das Computerspiel nicht mehr als Verstärker für das Erledigen der Hausaufgaben dienen. Stattdessen sollte für eine halbe Stunde konzentrierten Arbeitens eine kurze Spielphase in Aussicht gestellt werden (Homme & Tosti 1971). Lehrkräfte können sich das Prinzip der Verhaltensverstärker zunutze machen, indem sie beobachten oder danach fragen, welchen Tätigkeiten die Schülerinnen und Schüler am liebsten nachgehen. Beliebte Tätigkeiten können als Belohnung für die gewissenhafte Erledigung weniger beliebter Tätigkeiten zugesagt werden. Die Gefahr, dass die Kinder dann vielleicht nur noch vor dem Computer sitzen oder mit dem Handy spielen, ist nicht zwangsläufig gegeben. Der Wert einer beliebten Tätigkeit sinkt, wenn sie länger praktiziert wird und lässt andere Aktivitäten im Wert steigen. Auf einmal werden sogar solche Tätigkeiten interessant, die sonst nicht zu den beliebtesten zählen (Schunk 2004). 1 Verstärkerpläne

Beim operanten Konditionieren ist entscheidend, dass Verhalten und Verhaltensfolgen als kontingent zueinander, d. h. zusammengehörig wahrgenommen werden. Es muss vorhersehbar sein, welche Konsequenzen ein Verhalten haben wird. Die Kontingenz zwischen Verhalten und Verhaltenskonsequenzen kann auf unterschiedliche Weise hergestellt werden (Bodenmann et al. 2011). Bei kontinuierlicher Verstärkung wird jede richtige Verhaltensweise verstärkt. Das kann gerade in frühen Stadien des Fertigkeitserwerbs unterstützend wirken. Wenn Kinder ihre ersten Buchstaben oder Zahlen zu Papier bringen, wird bei kontinuierlicher Verstärkung jedes halbwegs richtig geschriebene Zeichen mit Lob bedacht. Bei intermittierender Verstärkung werden nur einige, aber nicht alle korrekten Verhaltensweisen verstärkt. Über intermittierende Verstärkung gelerntes Verhalten erweist sich als stärker löschungsresistent (Skinner 1973). Es verschwindet nicht so schnell, wenn es nicht mehr belohnt wird. Weil nur gelegentlich verstärkt wird, müssen operante Verhaltensweisen auch unbelohnt wiederholt werden. Die unterbrochene Gabe von Verstärkern kann durch Quoten oder zeitliche Intervalle geregelt sein. Bei Quotenplänen erfolgt die Verstärkung nach einer festgelegten Anzahl richtiger Verhaltensweisen. Bei Intervallplänen wird immer nur ein passendes Verhalten innerhalb eines bestimmten Zeitabschnitts verstärkt. Weil sowohl Quoten als auch Intervalle fix oder variabel gehalten sein können, ergeben sich bei intermittierender Verstärkung vier mögliche Verstärkerpläne. Bei fixen Quotenplänen wird nach einem festgelegten Schema jede x-te Verhaltensweise verstärkt. Die Quote er-

rechnet sich aus dem Verhältnis der verstärkten zu den nicht verstärkten Verhaltensweisen. Kirby und Shields (1971) gaben dem 13-jährigen Tom jeden Tag ein Arbeitsblatt mit zwanzig verschiedenen Rechenproblemen. Für jede zweite richtig gelöste Mathematikaufgabe sprachen sie ihm ein besonderes Lob aus. Innerhalb weniger Tage erhöhte sich die Anzahl richtig gelöster Aufgaben pro Minute von 0,47 auf 1,36. Selbst als das Lob entfiel, war die Rechengeschwindigkeit mit 0,98 richtig gelösten Aufgaben pro Minute noch doppelt hoch wie zu Beginn der Verstärkungsphase. Bei variablen Quotenplänen wird nicht genau, sondern im Durchschnitt jede x-te Verhaltensweise verstärkt. Dadurch verändert sich fortwährend die Anzahl gewünschter Verhaltensweisen, nach der eine Verstärkung erfolgt. Beispielsweise melden sich Schülerinnen und Schüler sehr viel häufiger, als sie drangenommen werden. Bei einer variablen Quote von 1 : 3 wird ein Lernender bei jeder dritten Meldung seine Antwort sagen dürfen. Weil das Auftreten der Verstärkung, der Aufruf durch die Lehrkraft, um den Wert von 1:3 schwankt, wird der Lernende mal beim dritten, mal beim fünften oder mal gleich wieder beim nächsten Aufzeigen drankommen. Ein variabler Quotenplan sorgt für ein äußerst löschungsresistentes Verhalten. Das lässt sich besonders gut bei süchtigen Glücks- oder Computerspielerinnen und -spielern beobachten. Die möglicherweise schon bald erfolgende nächste Verstärkung wird zum Antrieb des schwer löschbaren Suchtverhaltens. Bei fixen Intervallplänen wird das gewünschte Verhalten nach einem festgelegten Zeitschema verstärkt. Das hat zur Folge, dass das Wunschverhalten in dem Zeitintervall relativ selten gezeigt wird, aber kurz vor der Verstärkergabe umso häufiger. In einer amerikanischen Studie wurde das Lernverhalten von Psychologiestudierenden untersucht, die entweder täglich, wöchentlich oder im Abstand von drei Wochen getestet wurden (Mawhinney, Bostow, Laws, Blumenfeld & Hopkins 1971). Bei täglicher Wissensüberprüfung zeigten die Studierenden konstantes Lernverhalten und waren regelmäßig im Raum für die Prüfungsvorbereitung anzutreffen. Bei wöchentlicher oder dreiwöchentlicher Testung wurden die Studierenden jedoch zu Saisonarbeitern, die erst dann richtig zu lernen begannen, wenn die nächste Prüfung kurz bevorstand. Bei variablen Intervallplänen wird innerhalb eines bestimmten Zeitabschnitts ein Verhalten zu einem unbestimmten Zeitpunkt verstärkt. Bei diesem Vorgehen wissen die Schülerinnen und Schüler nicht, wann die Verstärkung erfolgt. Sie wissen nur, dass sie innerhalb eines gewissen Zeitintervalls erfolgt. An weiterführenden Schulen in Bayern gibt es sogenannte Stegreifaufgaben oder Extemporale. Das sind kurze schriftliche Prüfungen über die Lerninhalte von ein oder zwei vorauslaufenden Unterrichtsstunden. Weil diese Prüfungen jederzeit erfolgen können, bewirken sie ein besonders gleichmäßiges Lernverhalten. Damit scheinen variable Intervallpläne zur Unterstützung des schulischen Lernens ideal geeignet zu sein. Das ist jedoch nur bedingt richtig, weil die emotionale Seite des Lernprozesses davon beeinträchtigt werden kann (Gage & Berliner 1996).

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Kapitel 1  Lernen und Verhalten

1 Hinweisreize

in mehrere Teilprobleme auf, zu denen bereits GrundlagenBislang wurde bei der Erklärung des operanten Konditio- wissen vorhanden ist. Dann arbeiten die Schülerinnen und nierens immer nur die Kontingenz zwischen Verhalten und Schüler selbstständig an den Teilproblemen und suchen nach Verhaltensfolge mit ihren verstärkenden Eigenschaften be- deren Lösungen. Jede Annäherung an die richtige Lösung tont. Allerdings können auch die dem Verhalten vorausge- einer Teilfrage wird von der Lehrkraft mit Lob und Anerhenden Bedingungen von Bedeutung sein. Es kann zu einer kennung verstärkt. Sind alle Teilprobleme gelöst, werden sie dreigliedrigen Kontingenz, sprich einer festen Verbindung zu einer Lösung der Gesamtaufgabe zusammengefügt. Durch zwischen vorauslaufenden Reizen, Verhalten und Verhaltens- die Verkettung der Teilaufgaben lernen die Schülerinnen und konsequenzen kommen. Reize, die in eine solche Dreifach- Schüler, komplexe mathematische Probleme mit der Zeit eiSequenz eingebunden sind, werden als Hinweisreize oder genständig zu bewältigen. diskriminative Stimuli bezeichnet. Sie ermöglichen das Verhalten entsprechend der Situation auszurichten, um an den1 Generalisierung Verstärker zu gelangen. Wie beim klassischen Konditionieren können auch beim Angenommen ein Schüler kommt mit einer schlechten operanten Konditionieren Generalisierungseffekte auftreten. Note nach Hause. Der Schüler fürchtet um die Konsequenzen Generalisierung bedeutet, dass eine zuvor erlernte Verhalund sucht nach einem günstigen Zeitpunkt, um das Ergeb- tensweise auf eine ähnliche Situation übertragen wird. Wenn nis seinen Eltern mitzuteilen. Wenn er die Note seinen Eltern die Schulkinder bei ihrer Klassenlehrerin gelernt haben, wie nach dem Abendbrot berichtet, werden sie gelassener reagie- sie sich zu verhalten haben, werden sie mit höherer Wahrren, als wenn er sie vorher kundtut. Das Abendessen wird für scheinlichkeit das gleiche Verhalten auch gegenüber anderen den Schüler in diesem Fall zum diskriminativen Stimulus, der Lehrkräften zeigen. In Bayern werden die Kinder aufstehen, bei gleichem Verhalten unterschiedliche Konsequenzen zur wenn eine neue Lehrkraft den Raum betritt, um sie willkomFolge hat (Bodenmann et al. 2011). men zu heißen. Sobald eine neue Situation ähnliche Reize bietet wie eine bereits bekannte, wird versucht, das Verhalten 1 Verhaltensformung zu generalisieren. Die Verhaltensformung (Shaping) ist eine Methode auf der Grundlage der operanten Konditionierung, mit der Verände-1 Diskrimination rungen im Verhalten hervorgerufen werden können. Dabei Die Diskrimination ist der entgegengesetzte Vorgang zur Gewird ein spontan gezeigtes Verhalten differentiell verstärkt, neralisierung. Bedeutsam sind bei der Reizdiskrimination um es schrittweise dem gewünschten Verhalten anzunähern. nicht die Gemeinsamkeiten, sondern die Unterschiede zwiZu Beginn des Englischunterrichts haben viele Schüle- schen Situationen. Aufgrund unterschiedlicher situationaler rinnen und Schüler Schwierigkeiten mit der Aussprache des Gegebenheiten wird verschiedenartig reagiert. Diskrimina„th“. Oft sprechen sie einen „s“-Laut, der beim Gegenein- tionslernen hilft, sozial angepasstes Verhalten zu entwickeln anderpressen der oberen und unteren Vorderzähne erzeugt (Lefrançois 2006). So darf in der Klasse kein unnötiger Lärm wird. Wenn stattdessen die Zungenspitze an die oberen Vor- erzeugt werden, auf dem Schulhof dagegen schon. Beim derzähne geführt wird, nähern sie sich allmählich dem „th“- Vokabelabfragen ist kreatives Verhalten wenig gefragt, im Laut an. Verstärkt die Lehrkraft jede Annäherung mit Lob, Kunstunterricht und beim Ballspiel dafür umso mehr. wird die Aussprache der Lernenden sukzessive überformt und entwickelt sich in die gewünschte Richtung. 1 Verhaltensverkettung

1.4.3

Anwendung des operanten Konditionierens

Zumeist ist menschliches Verhalten nicht ein einzelnes Ereignis, wie das Ausstellen des Weckers, wenn man noch länger schlafen möchte, sondern eine Verkettung von Verhaltens- Wie aus den vorherigen Beispielen bereits deutlich geworden weisen (Chaining). Beim morgendlichen Zähneputzen muss sein sollte, weist das operante Konditionieren vielfältige prakdie Zahnpastatube geöffnet, die Zahnpasta auf die Zahnbürs- tische Bezüge auf. Menschen reagieren in ihrem Verhalten te gedrückt, die Tube geschlossen, der Mund geöffnet und die sehr sensibel auf den Einsatz von Belohnung und Bestrafung. Bürste zum Mund geführt werden. Eine solche Verhaltensket- Dementsprechend groß kann die Anwendungsbreite des Verte wird über Verstärker in Verbindung mit diskriminativen fahrens gesehen werden. Zur Veranschaulichung der NutStimuli erlernt (Lefrançois 2006). Beispielsweise genügt ein zung operanter Prinzipien im Unterricht werden an dieser schwacher Druck auf die Zahnpastatube, solange sie noch voll Stelle einige Beispiele aus dem technischen und erzieheriist. Ist nur noch ein kleiner Rest vorhanden, muss entspre- schen Bereich vorgestellt. chend kräftiger gedrückt werden. Die Restmenge in der Tube wird zum diskriminativen Stimulus, auf den mit unterschied-1 Lernprogramme lichem Daumendruck reagiert wird. Um Lernende aus ihrer passiven Rolle im Unterricht herAuch im Unterricht kann das Prinzip der Verhaltensver- auszuholen, schlug Skinner (1958) den Einsatz von Lehrmakettung produktiv genutzt werden. Wenn in Mathematik ein schinen (Teaching machines) vor. Lernende sollten die Fragen komplexes Problem gelöst werden soll, bricht die Lehrkraft es eines Multiple-Choice-Tests über die Druckknöpfe einer Ma-

15 1.4  Operante Konditionierung

schine beantworten. Die meisten Fragen waren recht einfach gehalten, um vorwiegend richtiges Antwortverhalten beständig verstärken zu können. War die Antwort richtig, wurde vom Gerät die nächste Frage vorgegeben. War die Antwort falsch, wurde sie aufgezeichnet und weitere Antworten mussten gewählt werden, bis eine davon korrekt war. Das selbstständige Arbeiten an den Aufgaben sorgte für eine stärkere Individualisierung des Unterrichts. Idealerweise lernte jeder Lernende so lange, bis er den Stoff sicher beherrschte, was von Bloom (1971) als Mastery-Learning bezeichnet wurde Das Prinzip der Lehrmaschinen war so einfach und erfolgsträchtig, dass es sich bis in die heutige Zeit gehalten hat. Moderne Learner-Response-Systeme – umgangssprachlich auch Clicker genannt – arbeiten nach genau dem gleichen Muster. Die scheckkartengroßen Geräte zeichnen die Lösungsversuche der Schülerinnen und Schüler bei MultipleChoice-Fragen auf und senden sie an den Laptop der Lehrkraft. Diese kann sich ein differenziertes Bild von den Stärken und Schwächen der Klasse als auch einzelner Lernender machen. Keough (2012) berichtete in einer Überblicksarbeit, dass sich in 22 der 34 Clicker-Studien die Lernleistungen der Schülerinnen und Schüler im Untersuchungszeitraum signifikant verbesserten. 1 Token-Programme

baum & Price 1976). Generell ist es zu empfehlen, dass Token nicht nur hinzugewonnen, sondern auch verloren gehen können. Schülerinnen und Schüler bevorzugen die sogenannte Verlustkontingenz. In dieser herausfordernden Variante gewinnen sie mehr Token und behalten auch mehr von diesen (Donaldson, DeLeon, Fisher & Kahng 2014). Studie: Lernenden eine Auszeit geben Um negative Verhaltensweisen zu beseitigen, bieten sich im Rahmen des operanten Konditionierens verschiedene Möglichkeiten an: ignorieren, die auslösenden Reize verändern, das störende Verhalten mit unvereinbaren Verhaltensweisen verkoppeln oder es ausleben lassen und dadurch sättigen. Als vermeintlich letzte Alternative kann ein vorübergehender sozialer Ausschluss aus dem Klassenverband in Erwägung gezogen werden. Lewis, Romi und Roche (2012) haben die Gründe für eine Auszeit (time out) untersucht und Wege erarbeitet, wie es Lehrkräften besser gelingt, störende Schülerinnen und Schüler von der Verantwortlichkeit für ihr eigenes Handeln zu überzeugen. In sieben australischen Sekundarschulen wurden 302 Selbstberichtsfragebögenvon Schülerinnen und Schülern ausgefüllt, die eine Auszeit erhalten hatten. Als wesentliche Gründe für den zeitweisen Ausschluss aus der Klasse wurden Konflikte mit der Lehrkraft genannt. Sie hätten die Lehrkraft wütend gemacht (71 %), sich mit ihr angelegt (45 %) oder Anweisungen in den Wind geschlagen (44 %). Oft sagten die Betroffenen auch, dass die Lehrkraft sie nicht ausstehen könne (47 %) oder permanent an ihnen etwas auszusetzen hätte (47 %). Erst danach wurden Verfehlungen wie das Abhalten anderer von der Arbeit (38 %) oder Herumlärmen (35 %) angegeben. Zur Begründung des Ausschlusses wurde den Schülerinnen und Schülern mitgeteilt, dass sie das Falsche gemacht (83 %), ein unakzeptables Verhalten gezeigt (68 %) oder andere vom Lernen abgehalten hätten (53 %). Nicht alle Ausgeschlossenen waren bereit, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. Die Übernahme von Verantwortung ließ sich am besten fördern, wenn Lehrkräfte vorherige Warnungen und Strafen aussprachen, die Notwendigkeit der Auszeit erklärten und hinterher mit den Betroffenen das Gespräch suchten.

In Token-Programmen soll durch den Einsatz von positiven Verstärkern eine schnelle Veränderung des Lern- oder Sozialverhaltens erreicht werden. Das gilt insbesondere für Schülerinnen und Schüler, die mit anderen Mitteln nur schwer zu beeinflussen sind. Zur Durchführung eines Token-Programms werden mit den Lernenden Vereinbarungen getroffen, für welches Verhalten eine Verstärkung erfolgt. Als typische Verhaltensweisen in der Schule bieten sich pünktliches Erscheinen im Unterricht, aufmerksames Zuhören, fleißiges Mitarbeiten, gewissenhaftes Erledigen der Hausaufgaben oder das Schreiben einer guten Klassenarbeit an. Für kontingent gezeigtes Zielverhalten werden von der Lehrkraft Token (engl. Münzen) verteilt. Dabei handelt es sich um Plastikchips, laminierte Punkte oder Smileys, die später nach festgelegten Regeln in reale Verstärker wie Essbares, Spielzeug, Kinogutscheine, Fantasy-Romane, Musik-Downloads, Privilegien, Freizeit etc. eingetauscht werden können (O’Leary & O’Leary 1977). Die Einführung eines Token-Programms kann nützlich 1.4.4 Kritik des operanten Konditionierens sein, wenn persönlicher Zuspruch der Lehrkraft, genaue Planung der Unterrichtsstunden und häufige Rückmeldungen1 Einfluss auf die Lernkultur nicht ausreichen, gutes Lernverhalten in der Klasse zu eta- Das Verstärkungslernen wird oft wegen seines Einflusses auf blieren. Bei schulischen Verhaltensproblemen konnte in einer die Lernkultur kritisiert. Die Lehrkraft braucht anscheinend Metaanalyse auf Einzelfall- und Klassenebene eine signifi- nur die richtigen Verstärker wählen, um die Schülerinnen kante Verbesserung des Schülerverhaltens festgestellt wer- und Schüler zum Lernen anzuhalten. Klassenregeln, Hausden (Maggin, Chafouleas, Goddard & Johnson 2011). To- aufgaben, Noten und Zeugnisse wirken wie die Karotte, die ken-Programme wirkten auch bei Kindern mit intellektuellen dem Esel vorgehalten wird, um ihn vorwärts zu treiben. Wenn Beeinträchtigungen oder Autismus erfolgreich (Matson & das nicht genügt, sind auch Strafen ein zulässiges Mittel, um Boisjoli 2009). Bei aufmerksamkeitsgestörten, hyperaktiven Verhalten in die richtige Richtung zu lenken. Welche perKindern sollte ein Token-Programm als verhaltenstherapeu- sönlichen Bedürfnisse, Wünsche, Absichten und Ziele die tische Alternative zur pharmakologischen Behandlung unbe- Lernenden in ihrem Schulalltag verfolgen, spielt beim opedingt in Betracht gezogen werden (O’Leary, Pelham, Rosen- ranten Konditionieren keine Rolle (Good & Brophy 2008).

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16

1

Kapitel 1  Lernen und Verhalten

1 Ethische Probleme

Das operante Konditionieren folgt dem Grundgedanken, dass die Ursachen für Verhalten in der Umwelt und nicht im Menschen selbst liegen. Durch die gezielte Manipulation von Hinweisreizen und Verhaltenskonsequenzen kann menschliches Verhalten unter Kontrolle gebracht werden. Kritiker sahen darin die Gefahr, dass sich der Mensch zu einer Lernmarionette entwickeln könnte. Es könnten ihm Verhaltensweisen antrainiert werden, die der Freiheit und Würde des selbstständigen Wesens entgegenstehen (Bandura 1979; Lefrançois 2006). Andererseits eröffnen sich gerade durch die operante Lerntheorie gezielte Eingriffsmöglichkeiten, die nur richtig genutzt werden müssen. Wenn undisziplinierte, aggressive oder hyperaktive Schülerinnen und Schüler zu einem angemessenen Lernverhalten geführt werden können, lässt sich der Einwand der Verhaltensmanipulation deutlich entkräften. Der Einsatz von Belohnung und Bestrafung kann helfen, akute Verhaltensprobleme zu überwinden. Er darf nur nicht so weit gehen, dass die Klasse allgemein ruhiggestellt wird, damit die Lehrkraft entspannter arbeiten kann (Gage & Berliner 1996). 1 Mangelnde Konditionierbarkeit von Verhalten

Verstärker können uneinheitliche Wirkungen nach sich ziehen. Missbilligendes oder strafendes Verhalten der Lehrkraft sorgt nicht automatisch für eine Reduzierung von Störverhalten. Manches Mal wirkt eine vermeintliche Strafe sogar wie ein positiver Verstärker. McAllister et al. (1969) mussten in ihrer Konditionierungsstudie feststellen, dass missbilligendes Verhalten der Lehrkraft keine einheitlichen Wirkungen bei den Schülerinnen und Schülern hervorrief. Was als strafende Äußerung gemeint war, führte gelegentlich sogar zu einem stärkeren Fehlverhalten. Um die Wirkungen von Verstärkern genau zu verstehen, muss die Erfahrungs- und Lerngeschichte von Personen im Detail betrachtet werden. Doch wer ist überhaupt in der Lage, sich ein differenziertes Bild von der Vorgeschichte und dem Umfeld jedes einzelnen Lernenden einer Klasse zu machen? 1 Ablehnung alternativer Erklärungen

Kognitive Konstrukte zur Erklärung von Verhalten wurden von Skinner nicht als notwendig erachtet. Dementsprechend lehnte er auch Ziele zur Erklärung von Verhalten ab. Für Skinner konnte ein Verhalten nicht durch etwas Zukünftiges ausgelöst werden. Ein Ziel, das noch nicht stattgefunden hatte, kam seiner Meinung nach nicht als Taktgeber von Verhalten infrage. Vielmehr beruht Verhalten beim operanten Konditionieren auf vorherigem Verhalten. Eine Verhaltensweise tritt auf, weil sie zuvor verstärkt wurde, nicht weil sie verstärkt werden könnte (Iversen 1992). Erst mit der kognitiven Wende in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts änderte sich diese Betrachtungsweise. 1 Lernen ohne Belohnung

Lernen erfolgt im operanten Konditionierungsparadigma durch die Anwendung von Belohnung oder Bestrafung. Ein großer Teil menschlichen Lernens findet allerdings ohne je-

de Belohnung statt. Kinder geben oft Äußerungen von sich, ohne dafür in irgendeiner Weise verstärkt worden zu sein. Der Linguist Noam Chomsky (1959) meinte, dass Spracherwerb und Sprachverständnis allenfalls grob und vordergründig mit Verstärkungslernen in Verbindung ständen. Das operante Konditionieren beschäftige sich nur mit den oberflächlichen Eigenschaften von Sprache, könne aber die Frage des Erwerbs einer Grammatik nicht beantworten. Ein Satz wie „Das Mädchen warf den Ball.“ verfügt über eine andere Oberflächenstruktur als der Satz „Der Ball wurde vom Mädchen geworfen.“ Die unterschiedlichen Reizkonfigurationen müssten zu unterschiedlichen Reaktionen führen. Dennoch werden beide Sätze als bedeutungsgleich wahrgenommen. Es muss andere Lernmechanismen geben, um den Erwerb höherer geistiger Prozesse wie Sprache erklären zu können (Schunk 2004).

1.5

Beobachtungslernen

Das Beobachtungslernen nach Albert Bandura hat sich aus der Kritik an der verhaltenstheoretischen Sichtweise entwickelt. Bandura hielt die experimentellen Studien mit einzelnen Personen zum Beleg der behavioristischen Lernprinzipien nicht für ausreichend, um den Erwerb und die Veränderung von Verhalten in sozialen Beziehungen erklären zu können (Bandura & Walters 1963). Ein Beispiel soll die Unzulänglichkeiten der behavioristischen Auffassung veranschaulichen. Der erste Teil verdeutlicht noch einmal die Erklärungsweise des operanten Konditionierens, der zweite Teil zeigt deren Schwachpunkte. Ein Migrantenkind kommt neu in die Klasse. Es versteht noch kein Wort Deutsch, doch die Lehrkraft ist gleich darum bemüht, ihm einige Begriffe beizubringen. Die Lehrkraft deutet auf einen freien Stuhl und sagt „Setzen“. Mit angewinkelten Händen und Hüften deutet sie zugleich eine Sitzposition an. Dazu bewegt sie lautstumm ihre Lippen, um das Kind zu einer sprachlichen Äußerung zu veranlassen. Nach einigen etwas holprigen Bemühungen wiederholt das Kind klar und deutlich das Wort „Setzen“ und nimmt auf dem freien Stuhl Platz. Die Lehrperson lobt den Neuankömmling mit einem „Gut gemacht“. Die Theorie der operanten Konditionierung würde den Lernvorgang wie folgt deuten: freier Stuhl, Körper- und Lippenbewegungen wären diskriminative Stimuli, die Wiederholung des Wortes „Setzen“ das operante Verhalten und das Lob der Lehrkraft die verstärkende Verhaltenskonsequenz. Eine andere Szene: In der Pause steht das Migrantenkind allein auf dem Schulhof. Es ist kalt und der Wind pfeift über das Gelände. Plötzlich reißt ein Windstoß ihm die Mütze vom Kopf. Die Lehrkraft, die den Vorgang beobachtet hat, läuft flugs hinterher und bringt dem Kind die Mütze zurück. Zum Dank sagt das Kind „Gut gemacht“. Das Kind hat offenbar sehr schnell Deutsch gelernt. Doch wie lässt sich der Lernvorgang von theoretischer Seite deu-

17 1.5  Beobachtungslernen

ten? Der Ansatz der operanten Konditionierung kann für das beschreiben, Techniken beim Malen und Zeichnen vormasprachliche Verhalten des Kindes mit keiner passenden Er- chen oder Tanzbewegungen zur Musik erläutern. Die sozialklärung aufwarten. Das Kind hat den Ausdruck vorher nie kognitive Lerntheorie besagt, dass Lernende die Situation benutzt (fehlendes Verhalten), es ist dafür nie verstärkt wor- aufmerksamer wahrnehmen, wenn die Modellierungsreize den (fehlende Verstärkung) und auch die Situation, in der es besonders deutlich hervortreten (Deutlichkeit), emotional die Äußerung das erste Mal vernommen hat, ist eine andere berührend wirken (emotionale Valenz), nicht zu komplex sind (Komplexität) und einen Wert für zukünftiges Han(fehlende Hinweisreize). Banduras Erklärung für den spontanen Spracherwerb deln aufweisen (funktionaler Wert). Lernende selbst sollten mutet dagegen vergleichsweise simpel an: Das Kind hat über über Beobachtermerkmale wie ausreichende Fähigkeiten zur Beobachtung gelernt. Es hat ein sprachliches Verhalten an Wahrnehmung der Lehrkrafthandlungen verfügen (Wahreinem Modell – in diesem Fall die Lehrkraft – beobachtet nehmungskapazität), beim Lernen weder aufgeregt noch geund es sich selbst in einer passenden Situation zunutze ge- langweilt sein (Erregungsniveau), mit der richtigen Einstelmacht. Als das Migrantenkind den Ausdruck lernte, musste es lung das Geschehen verfolgen (Wahrnehmungseinstellung) ihn selbst nicht verbalisieren. Es musste auch nicht verstärkt und bereits früher positive Erfahrungen mit dem Erkenntniswerden, um ihn zu benutzen. Weil allein die Beobachtung gegenstand gesammelt haben (frühere Verstärkung). einer Person genügt, um ein Verhalten zu erwerben und zu zeigen, nannte Bandura diesen Lernvorgang Beobachtungs-1 Behaltensphase lernen oder Lernen am Modell (Bandura 1976; Bandura & Um das Modell später nachahmen zu können, müssen die Jeffrey 1973). einzelnen Tätigkeitsschritte im Gedächtnis gespeichert werden. Dieses kann in sprachlicher oder bildlicher Form geschehen. Ein Modellverhalten kann in sprachliche Symbole gefasst oder in bildhafte Vorstellungen von Handlungsschrit1.5.1 Phasen des Beobachtungslernens ten überführt werden (symbolische Kodierung). Um diese Auffassung wissenschaftlich zu unterfüttern, zeigten BanduBanduras sozial-kognitive Lerntheorie nutzt kognitive Ele- ra und Jeffrey (1973) Psychologiestudierenden einen kurzen mente, um den Erwerb und die Nachahmung sozial ange- Film, in dem ein Modell komplexe Bewegungsfolgen ausmessenen Verhaltens zu erklären (Bandura 1976, 1979). Ent- führte. Diejenigen Studierenden, die angewiesen wurden, den scheidend für das Lernen in sozialen Beziehungen ist, was einzelnen Handlungsschritten Nummern oder Buchstaben ein Mensch für Modellerfahrungen sammelt und wie er das zuzuweisen, konnten später deutlich mehr Bewegungsfolgen Verhalten eines Modells symbolisch repräsentiert. Behavio- des Modells erinnern als Studierende, die lediglich eine willristische Elemente wie Verstärker sind in Banduras Theorie kürliche Unterteilung der gezeigten Handlungssequenz vordurchaus noch vorhanden, spielen aber nicht die Hauptrolle. nahmen. Bandura (1979) folgerte aus dem Befund, dass erst Im Mittelpunkt von Banduras Überlegungen stehen kognitive die Fähigkeit zur symbolischen Kodierung effizientes Lernen Konstrukte, damit beobachtetes Verhalten dauerhaft gespei- durch Beobachtung ermöglicht. chert und bei passender Gelegenheit nachgeahmt werden Des Weiteren empfiehlt Bandura den Einsatz von Lernkann. strategien, um sich bedeutsame Modellinformationen besser Der Prozess des Lernens durch Beobachtung von Mo- zu behalten. Dazu gehört, den Lernstoff in leicht merkbare dellverhalten gliedert sich in vier Phasen: Aufmerksamkeits-, Teile zu zergliedern (kognitive Organisation) und das modelBehaltens-, Nachbildungs- und Motivationsphase. Die ersten lierte Verhalten zu wiederholen. Geistiges Vorstellen des Bebeiden Phasen dienen dem Erwerb von Modellverhalten, die wegungsablaufs (symbolische Wiederholung) oder konkretes letzten beiden Phasen betreffen die Verhaltensausführung. Üben der Handlungsschritte (motorische Wiederholung) beDurch die Aufgliederung wird dem Umstand Rechnung ge- wirkt, dass sich das Verhalten besser im Gedächtnis einprägt. tragen, dass der Erwerb und die Ausführung eines Verhaltens Diese Techniken machen sich insbesondere Akteure des Spitauseinanderfallen können, wie es bereits Tolman und Honzik zensports zunutze, wenn sie den Slalom-Parcours oder die (1930) in ihren Experimenten zum latenten Lernen gezeigt Bobbahn vor dem inneren Auge Revue passieren lassen. hatten. In . Abb. 1.3 sind die phasenhaft zu durchlaufenden Prozesse des Beobachtungslernens dargestellt. 1 Nachbildungsphase Wenn das Modellverhalten gut gespeichert wurde, sollte es prinzipiell reproduzierbar sein. Bandura (1979) weist jedoch 1 Aufmerksamkeitsphase Zunächst müssen die Schülerinnen und Schüler ihre Auf- auf verschiedene Fehlerquellen hin, die eine korrekte Nachmerksamkeit auf die relevanten Reize der Lernsituation rich- bildung des Modellverhaltens verhindern können. Wenn beiten. Aus der großen Fülle von Modellreizen müssen sie die spielsweise Schülerinnen und Schüler selbstständig mikrowichtigsten Informationen herausfiltern. Eine Lehrkraft kann skopieren sollen, müssen sie über bestimmte feinmotorische mit ihrem Verhalten die Aufmerksamkeit der Schülerinnen Fähigkeiten verfügen, um den Objektträger festzuklemmen und Schüler auf die grundlegenden Details der Situation len- oder das Triebrad des Mikroskops zu drehen (körperliche Fäken. Sie kann auf Gestaltungselemente der Dichtung und higkeiten). Sie müssen wissen, wie man mit dem Triebrad die des Romans hinweisen, die Lösungswege von Sachaufgaben Schärfe und mit der Blende die Helligkeit des Objekts verän-

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18

Kapitel 1  Lernen und Verhalten

1

Modellierte Ereignisse

Aufmerksamkeitsphase

Behaltensphase

Nachbildungsphase

Motivationsphase

Modellierungsreize Deutlichkeit Affektive Valenz Komplexität Funktionaler Wert

Symbolische Codierung Kognitive Organisation Symbolische Wiederholung Motorische Wiederholung

Körperliche Fähigkeiten Verfügbarkeit der Teilreaktionen Selbstbeobachtung bei den Reproduktionen Feedback der Genauigkeit

Externe Verstärkung Materielle Belohnung Soziale Reaktionen Sensorische Stimulationen Kontrollerleben Stellvertretende Verstärkung Selbstverstärkung

Merkmale des Beobachters Wahrnehmungskapazität Erregungsniveau Wahrnehmungseinstellung Frühere Verstärkung

Nachbildungsleistungen

. Abb. 1.3 Phasen des Beobachtungslernens (adaptiert nach Bandura 1976, S. 31; 1979, S. 32)

dert (Verfügbarkeit der Teilreaktionen). Sie müssen prüfen, ob sie einer systematischen Vorgehensweise folgen und den Objektträger nicht wahllos über den Objekttisch hin- und herschieben (Selbstbeobachtung bei den Reproduktionen). Schließlich müssen sie das gefundene Objekt genau betrachten und abzeichnen. Durch Beobachtungen kann die Lehrkraft ihnen Rückmeldung zur Genauigkeit ihres Vorgehens geben (Feedback der Genauigkeit).

daraus Motivation für neue Aufgaben schöpfen. Diese Erkenntnis, dass Verstärkung nicht nur von außen, sondern auch selbst erzeugt werden kann, hebt das Modelllernen deutlich vom operanten Konditionieren ab.

1.5.2

Eigenschaften des Beobachtungslernens

1 Motivationsphase

Bandura (1979) integrierte die Erkenntnisse des Behavioris- Bandura hat stets versucht, empirische Belege für seine theomus über die Wirkungen von Verstärkern in sein Lernmodell. retischen Auffassungen beizubringen. Dementsprechend gut Er unterschied drei Arten von Verstärkung, die eine Person gesichert sind die Überlegungen, auf denen seine sozialzu einem Verhalten motivieren. Im Falle der externen Ver- kognitive Lerntheorie gründet. In verschiedenen Studien stärkung ist eine äußere Quelle für das Verhalten der Person wurden Faktoren ermittelt, die Einfluss auf das Beobachverantwortlich. Geld (materielle Belohnung), Lob (soziale tungslernen nehmen wie Entwicklungsstand des Rezipienten, Reaktionen), Schulterklopfen (sensorische Stimulation) oder Ansehen und Fähigkeiten der Modellperson oder vom Moglänzende Erfolgsaussichten (Kontrollerleben) sind wichti- dell erfahrene Konsequenzen. Vom Modelllernen beeinflusst ge externe Verstärker, die im schulischen Kontext z. B. als werden Ergebniserwartungen, Zielsetzung und SelbstwirkReaktion auf das Schreiben einer guten Klassenarbeit auftre- samkeit (Schunk 2004). ten. Im Falle der stellvertretenden Verstärkung wird nicht die eigene, sondern eine beobachtete Person für ihr Verhalten1 Entwicklungsstand verstärkt. Kounin (2006) prägte in diesem Zusammenhang Die Qualität des Beobachtungslernens ist von der körperliden Begriff Wellen-Effekt, der in der Klasse auftritt, wenn chen und geistigen Entwicklung der Kinder abhängig. Jüngeein Störenfried durch Zurechtweisung einer Lehrkraft be- re Kinder sind gegenüber älteren Kindern weniger reif, was straft wird. Wie eine Welle schwappt die positive Bestrafung ihnen das Beobachtungslernen erschwert. Sie können sich auf die Klassenkameraden über und sorgt dafür, dass diese noch nicht für lange Zeit konzentrieren und haben Schwiesich in der Folge ruhig verhalten, um nicht selbst gescholten rigkeiten, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Sie verzu werden. Schließlich ist im Falle der Selbstverstärkung die wenden keine ausgefeilten Lernstrategien und repräsentieren eigene Person für das Verstärkungserleben verantwortlich. Informationen aufgrund oberflächlicher Eigenschaften, aber Wenn endlich ein schwieriges Fremdwort richtig geschrie- nicht symbolisch. Jüngeren Kindern fällt es schwerer, Geben wurde, eine mathematische Operation gelungen, eine dächtnisinformationen in Handlungen umzusetzen und das geschichtliche Entwicklung verstanden oder eine Turnübung eigene Handeln zu planen, zu steuern und zu überwachen. geglückt ist, kann der Lernende sich selbst verstärken und Jüngere werden durch die sofortigen Wirkungen ihres Han-

19 1.5  Beobachtungslernen

delns motiviert und nicht wie Ältere aufgrund bestehender sondern auch deren schulische Leistungen positiv beeinflussten (Bandura, Barbaranelli, Caprara & Pastorelli 1996). Werte und Ziele (Bandura 1989). 1 Ansehen und Fähigkeiten des Modells

Modellverhalten wird schneller übernommen, wenn es von einer angesehenen und besonders fähigen Person vorgemacht wird. Das ist im besten Fall die Lehrkraft. Ihr ist ein hoher Status garantiert, weil sie die Entscheidungen über Lerninhalte, Unterrichtsgestaltung und Notengebung trifft. Ein vorbildliches und kompetentes Auftreten der Lehrkraft hilft, Lernende für sich zu gewinnen und ihnen die Fähigkeiten und Verhaltensweisen zu vermitteln, die die Lehrperson selbst für erstrebenswert hält.

1.5.3

Anwendung des Beobachtungslernens

Bandura hat die Vielseitigkeit des Modelllernens durch eine große Bandbreite an Forschungsstudien dokumentiert. Dazu zählen Untersuchungen zum Belohnungsaufschub – dem Verzicht auf eine sofortige kleine Belohnung zugunsten einer später erfolgenden größeren – oder zur Selbstverstärkung von Verhalten, dem Vorläufer des selbstregulierten Lernens (Bandura & Kupers 1964; Bandura & Mischel 1965). Besonders bekannt geworden sind jedoch Banduras Arbeiten zum Ein1 Stellvertretende Konsequenzen Der wesentliche Vorteil des Beobachtungslernens liegt darin, fluss der Medien auf das Erlernen von Aggression (Bandura dass man kein eigenes Verhalten zeigen muss, um herauszu- 1973). finden, ob es von Vorteil ist. Es genügt, wenn jemand anderes – stellvertretend für einen selbst – die Konsequenzen des1 Mediengewalt Handelns erfährt. Von Bedeutung ist, ob die Modellperson Bandura (1965) war davon überzeugt, dass Konsequenzen Erfolg oder Misserfolg hat und wie ähnlich sie zu einem selbst zwar die Ausführung, aber nicht den Erwerb aggressiver ist. Wenn ein Gleichaltriger beobachtet werden kann, der die Verhaltensweisen beeinflussen. In einem Experiment sahen gleichen Schwierigkeiten wie der Lernende selbst aufweist Kindergartenkinder in einer Filmsequenz, wie ein Erwachseund diese überwindet, fördert dies das Selbstbewusstsein so- ner Gewalt gegen ein großes, aufblasbares Stehaufmännchen gar mehr als beispielhaftes Lehrkraftverhalten (Schunk & ausübte. In einer Experimentalbedingung wurde der Erwachsene für sein aggressives Verhalten belohnt, in einer zweiten Hanson 1985). Bedingung wurde er bestraft und in einer dritten Bedingung blieb sein Verhalten ohne Konsequenzen. In einem Spielzim1 Ergebniserwartungen Ergebniserwartungen sind persönliche Vorstellungen über mer durften die kleinen Kinder anschließend das Verhalten die späteren Ergebnisse eines Verhaltens. Wenn Lehrkraft des Modells nachahmen. Es zeigte sich, dass Kinder der Beoder Eltern erklären, dass fleißiges Lernen gewiss zu einer gu- dingung mit dem bestraften Erwachsenen signifikant weniger ten Note führt, werden sich viele Schülerinnen und Schüler Gewaltakte ausführten als Kinder der beiden anderen Bediese Vorstellung zu Eigen machen. Solche positiven Ergeb- dingungen. Gab man den Kindern jedoch positive Anreize, niserwartungen sorgen dafür, dass beharrlich weitergelernt um das Gewaltverhalten zu imitieren, und belohnte sie mit wird, selbst wenn die tatsächlichen Ergebnisse einmal nicht Fruchtsaft und Stickern für jeden aggressiven Akt, an den sie sich aus dem Film erinnern konnten, ergaben sich keine ganz so exzellent ausfallen. Unterschiede zwischen den drei Gruppen. Bandura folgerte daraus, dass Verstärkung zwar das Zeigen, nicht aber das Er1 Zielsetzung Personen setzen sich häufig Ziele über die Quantität oder lernen aggressiven Verhaltens beeinflusst. Heutzutage darf durch verschiedene Metaanalysen als geQualität eines Verhaltens. Das Zielsetzungsverhalten kann durch signifikante Andere wie Lehrkräfte, Eltern oder Mit- sichert gelten, dass das Beobachten von Mediengewalt einen schüler beeinflusst werden. Wenn befreundete Klassenkame- Risikofaktor für die Entstehung aggressiver Verhaltensweiraden sich vornehmen, von jetzt an mehr Vokabeln zu lernen, sen darstellt. Das gilt für den Konsum von Fernsehgewalt kann sich das begünstigend auf das eigene Lernverhalten aus- (Paik & Comstock 1994) wie für die Benutzung gewaltverwirken. Voraussetzung ist, dass eine feste Bindung an das herrlichender Videospiele (Anderson & Bushman 2001). In gesetzte Ziel erfolgt (Locke & Latham 1990). Andernfalls kön- einer großen Untersuchung mit deutschen Jugendlichen über nen Ziele schnell wieder fallen gelassen werden und eben einen Zeitraum von zwei Jahren wurde deutlich, dass der gewohnheitsmäßige Gebrauch gewalthaltiger Medien zu einer nicht zu besseren Lernergebnissen führen. signifikanten Erhöhung der von Lehrkräften eingeschätzten Aggression der Jugendlichen führte. Nahmen die Jugendli1 Selbstwirksamkeit Als Selbstwirksamkeit werden persönliche Vorstellungen chen jedoch Abstand von gewalthaltigen Medien und verüber das Wirksamwerden in der Umwelt bezeichnet. Nur ringerten deren Nutzung, ging auch ihr Aggressionspotenzial wenn eine Person von den eigenen Handlungskompeten- zurück (Krahé, Busching & Möller 2012). zen überzeugt ist, wird sie diese verwenden. Modelle sind eine wichtige Informationsquelle für die eigene Selbstwirk-1 Die Lehrkraft als Modell samkeit. Es ließ sich zeigen, dass die elterlichen Bildungsan- Die Lehrkraft ist das dominierende Modell, das Schülerinsprüche für ihre Kinder nicht nur deren Selbstwirksamkeit, nen und Schüler Tag für Tag beobachten können. Auf das in

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Kapitel 1  Lernen und Verhalten

Deutschland typische, eng geführte Klassengespräch entfal- der Klasse entwickelt haben. Dafür können beispielsweise gelen etwa achtzig Prozent der effektiven Unterrichtszeit. Davon netische Unterschiede in der Intelligenz verantwortlich zeichredet zu drei Vierteln die Lehrkraft (Seidel 2003). Dieser Be- nen, die im sozial-kognitiven Ansatz nicht enthalten sind. fund macht die herausragende Bedeutung des Wirkens der Lehrkraft als Modell für die Lernenden deutlich. Das gilt insbesondere in der Grundschule, in der die Schülerinnen und Zusammenfassung Schüler der Lehrperson noch verhältnismäßig unkritisch geIn diesem Kapitel wurden drei grundlegende Ansätze zur genüberstehen (Ammer, Buggle, Wetzel & Wilhelm 1976). Erklärung von Lernen beim Menschen vorgestellt. Durch Die Lehrkraft kann sich ein gutes Verhalten als Modell Prozesse des Lernens wird eine verhältnismäßig dauerhafaneignen. Zimmermann und Kleefeld (1977) trainierten eine te Veränderung von Verhalten oder VerhaltenspotentiaGruppe von Lehrkräften Modellierungstechniken anzuwenlen aufgrund von Erfahrungen bewirkt. Beim klassischen den und jeden Schritt ihres Verhaltens zu erklären, bevor die Konditionieren liegen diese Erfahrungen in der gelernLernenden selbstständig handeln durften. Im Vergleich zu ten Verbindung eines unkonditionierten Reizes mit einem einer untrainierten Gruppe von Lehrkräften waren die Erneutralen Reiz. Dem kleinen Albert wurde so die Furcht gebnisse der Lernenden bei der trainierten Gruppe deutlich vor einer weißen Ratte antrainiert. Das klassische Kondibesser. Zu Recht forderten Gage und Berliner (1996), sich tionieren beinhaltet die Kontroll-, Konditionierungs- und nicht nur Gedanken darüber zu machen, was wir unterrichLöschungsphase sowie die Spontanerholung. Im schuliten, sondern vor allem, wie wir unterrichten.

1.5.4

Kritik des Beobachtungslernens

1 Breite der Theorie

Banduras sozial-kognitive Theorie ist sehr breit angelegt. Jedes darin enthaltene Element wurde auf seine Wirkungsweise geprüft. Im Gegensatz zu den behavioristischen Lerntheorien lässt sich die sozial-kognitive Theorie jedoch nicht auf ein einzelnes Prinzip reduzieren. Es ist schwierig, die Theorie in Gänze umzusetzen und zu überprüfen. Oftmals werden daher lediglich einzelne Konzepte wie z. B. Selbstwirksamkeit aus der Theorie herausgenommen und empirisch untersucht. 1 Ethische Probleme

Bandura war daran interessiert, den Lernmechanismus für die Entstehung aggressiven Verhaltens aufzudecken. Dazu nahm er die Überschreitung ethischer Richtlinien in Kauf. Eltern würden heutzutage lauthals protestieren, wenn ihren Kleinkindern Gewaltszenen gezeigt würden, um zu testen, ob sie dadurch aggressive Verhaltensweisen erwerben können. 1 Mangelnde Berücksichtigung von Emotionen

Bandura zufolge wird aggressives Verhalten durch Beobachtung und Verstärkung gelernt. Aggressive Handlungen entstehen jedoch oft aus dem Affekt heraus. Eine Erweiterung des sozial-kognitiven Erklärungsansatzes um biologische Ursachen wie Emotionen wäre vorstellbar. Ein Herauswachsender benötigt nicht zwingend die Veranschaulichung durch ein Modell, um aus Wut oder Enttäuschung eine aggressive Handlung vorzunehmen. 1 Vernachlässigung genetischer Unterschiede

Nach der sozial-kognitiven Lerntheorie lässt sich das Wissen der Schülerinnen und Schüler fördern, indem die Lehrkraft als Modell agiert und richtiges Antwortverhalten geeignet verstärkt. Dennoch wird sie am Ende einer Unterrichtseinheit feststellen, dass sich erhebliche Unterschiede im Lernstand

schen Bereich findet es Anwendung bei der Entstehung emotionaler Reaktionen. Beim operanten Konditionieren wird vor allem aufgrund der Konsequenzen eines Verhaltens gelernt. Durch die Gabe oder den Entzug von Verstärkern lassen sich Verhaltensänderungen hervorrufen. Eine Lehrkraft kann durch verbale Belohnung und Bestrafung eine Klasse zu mehr Disziplin anleiten. Das operante Konditionieren gliedert sich in die Phasen Bestimmung der Basisrate, Verstärkung und Löschung des Verhaltens sowie Spontanerholung. Im Schulkontext lässt es u. a. sich auf medienpädagogische und erzieherische Fragestellungen anwenden. Beim Beobachtungslernen genügt die Beobachtung eines Modells, um ein Verhalten zu erwerben und zu demonstrieren. Ein sprachliches Verhalten kann gezeigt werden, wenn es zuvor an einer Modellperson beobachtet wurde. Das Beobachtungslernen durchläuft die Aufmerksamkeits-, Behaltens-, Nachbildungs- und Motivationsphase. Das wichtigste Modell in der Schule ist die Lehrkraft. Alle drei Erklärungsansätze für menschliches Lernen weisen unterschiedliche Defizite auf.

Verständnisfragen ?1. Warum haben sich Behavioristen dagegen ausgespro2. 3.

4. 5. 6.

chen, Phänomene wie Lernen durch Konstrukte wie Wissen, Intelligenz oder Gedächtnis zu erklären? Welche Unterschiede bestehen zwischen klassischem und operantem Konditionieren? Welche Lernform kann den Erwerb von Verhaltensweisen wie Schwimmen, Basteln oder Radfahren am besten erklären? Wird durch das Verteilen einer Belohnung ein Verhalten automatisch verstärkt? Begründen Sie, warum Verstärkung als nützlicher angesehen werden muss als Bestrafung? . Abb. 1.2 zeigt die ersten beiden Phasen der operanten Konditionierung. Welchen Verlauf würde

21 Literatur

7. 8.

9.

10.

11.

12.

das Diagramm in den Phasen der Löschung und Spontanerholung nehmen? Ist es richtig, dass sekundäre Verstärker weniger wirkungsvoll sind als primäre? Ein Kind in der Klasse neigt zum Lügen. Erklären sie sein Verhalten mithilfe der Prinzipien der operanten Konditionierung. Was können Sie dagegen tun? Zeigen Sie am Experiment von Bandura (1965) zur Mediengewalt, dass die Aufmerksamkeits- und Behaltensphase dem Erwerb und die Nachbildungsund Motivationsphase der Demonstration aggressiver Verhaltensweisen dienen. Welche Lernform kann den Erwerb neuer Verhaltensweisen gut erklären und welche kann dieses nicht? Einigen Schülerinnen und Schülern bereitet Lesen sehr viel Freude, aber Rechnen mögen Sie nicht besonders. Bei anderen Schülerinnen und Schülern ist es genau anders herum. Wie lassen sich die unterschiedlichen Präferenzen der Schülergruppen produktiv für das Lernen nutzen? Warum genügt es nicht, unangemessene Verhaltensweisen von Schülerinnen und Schülern einfach nur zu ignorieren, um sie zum Verschwinden zu bringen?

Literatur American Psychological Association (2002). Ethical principles of psychologists and code of conduct. American Psychologist, 57, 1060–1073. Ammer, C., Buggle, F., Wetzel, H., & Wilhelm, U. (1976). Veränderung von Schülerverhalten. München: Urban & Schwarzenberg. Anderson, C. A., & Bushman, B. J. (2001). Effects of violent video games on aggressive behavior, aggressive cognition, aggressive affect, physiological arousal, and prosocial behavior: A meta-analytic review of the scientific literature. Psychological Science, 12, 353–359. Angermeier, W. F., & Peters, M. (1973). Bedingte Reaktionen. Berlin: Springer. Bandura, A. (1965). Influence of model’s reinforcement contingencies on the acquisition of imitative responses. Journal of Personality and Social Psychology, 1, 589–595. Bandura, A. (1973). Aggression: A social learning analysis. Englewood Cliffs, NJ: Prentice Hall. Bandura, A. (1976). Lernen am Modell. Ansätze zu einer sozial-kognitiven Lerntheorie. Stuttgart: Klett. Bandura, A. (1979). Sozial-kognitive Lerntheorie. Stuttgart: Klett-Cotta. Bandura, A. (1989). Social cognitive theory. In R. Vasta (Hrsg.), Theories of child development. Annals of child development, (Bd. 6, S. 1–60). Greenwich, CT: Jai Press. Bandura, A., Barbaranelli, C., Caprara, G. V., & Pastorelli, C. (1996). Multifaceted impact of self-efficacy beliefs on academic functioning. Child Development, 67, 1206–1222. Bandura, A., & Jeffrey, R. W. (1973). Role of symbolic coding and rehearsal processes in observational learning. Journal of Personality and Social Psychology, 26, 122–130. Bandura, A., & Kupers, C. J. (1964). Transmission of patterns of selfreinforcement through modeling. Journal of Abnormal and Social Psychology, 69, 1–9. Bandura, A., & Mischel, W. (1965). Modification of self-imposed delay of reward through exposure to live and symbolic models. Journal of Personality and Social Psychology, 2, 698–703. Bandura, A., & Walters, R. H. (1963). Social learning and personality development. London: Holt, Rinehart & Winston.

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Kapitel 1  Lernen und Verhalten

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23

Gedächtnis und Wissenserwerb Christof Zoelch, Valérie-Danielle Berner und Joachim Thomas

2.1

Einleitung – 24

2.2

Begriffsbestimmung Gedächtnis – 24

2.3

Komponenten des menschlichen Gedächtnisses – 25

2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.3.5 2.3.6

Einspeichermodelle – 25 Mehrspeichermodelle – 26 Sensorisches Gedächtnis – 27 Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnis – 27 Langzeitgedächtnis – 30 Formen der Wissensrepräsentation im Langzeitgedächtnis – 31

2.4

Modellannahmen zu Erinnerungs- und Vergessensprozessen – 36

2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.4.4 2.4.5

Abruf vs. „Wiedererinnern“ – 36 Vergessen – 38 Vergessen als Zerfall von Gedächtnisspuren vs. Konsolidierung im zentralen Nervensystem – 39 Vergessen durch Interferenz – 40 Vergessen durch Abruf von Wissensinhalten – 40

2.5

Theoretische Perspektiven zum Wissenserwerb – 42

2.6

Formen und Bedingungen von Wissenserwerb – 44

2.6.1 2.6.2 2.6.3 2.6.4 2.6.5

Wissenserwerb durch Texte – 44 Wissenserwerb durch Zuhören – 45 Wissenserwerb durch Schreiben – 46 Wissenserwerb durch Beispiele und Modelle – 47 Wissenserwerb durch Aufgabenlösen – 47

Verständnisfragen – 49 Literatur – 50

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Urhahne, M. Dresel, F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9_2

2

24

2.1

2

Kapitel 2  Gedächtnis und Wissenserwerb

Einleitung

In nahezu allen Bildungskontexten geht es darum, möglichst viel und effektiv zu lernen, sich Wissen anzueignen. In diesem Kapitel wird das Lernen als Wissenserwerb und seine Rolle im Schulkontext dargestellt. Ob es sich konkret um das Erinnern eines historischen Ereignisses anhand einer Jahreszahl („Welches bedeutsame Ereignis der deutschen Geschichte fand am 3. Oktober 1990 statt?“), das Abrufen eines Rechenergebnisses des kleinen Einmaleins („Wie viel ergibt 7  8?“) oder dem Wiedererinnern der Wortbedeutung von Vokabeln zum Übersetzen eines lateinischen Textes handelt: Im Kontext des schulischen Lernens spielt das Gedächtnis eine fundamentale Rolle. Wie wird Lernstoff im Gedächtnis gespeichert, in welchem Format wird er dort niedergelegt? Dazu werden zunächst Modellannahmen zum Aufbau und zur Funktion des menschlichen Gedächtnisses erläutert. Je nach theoretischem Verständnis des menschlichen Gedächtnisses werden unterschiedliche „Gedächtnisse“ nach ihrer Funktion (z. B. Art der zu speichernden Information, Kapazität und/oder Dauer der Speicherung von Information) und dem Format des gespeicherten Wissens differenziert. Warum kann einmal gelernter Stoff gar nicht, lediglich teilweise oder nur fehlerhaft abgerufen werden? Zur Erklärung des Vergessens beim schulischen Lernen werden unterschiedliche gedächtnispsychologische Theorien dargestellt und hinsichtlich ihrer Tragweite für schulische Vergessensphänomene beurteilt. Wie kann man als Lehrender Lernende dabei unterstützen, Wissen mit Hilfe von Lernprozessen aufzubauen, langzeitig zu speichern und flexibel abzurufen und anwenden zu können? Zu Beantwortung dieser Frage werden unterschiedliche Möglichkeiten des Wissenserwerbs dargestellt und anhand verschiedener Wissensarten und Lernformen unterschieden. Darauf aufbauend werden Möglichkeiten dargestellt, im schulischen Lernkontext gezielt Bedingungen herzustellen, die den Wissenserwerb optimal fördern können und die flexible Nutzung von Wissensstrukturen begünstigen.

2.2

Begriffsbestimmung Gedächtnis

„Ein Leben ohne Gedächtnis wäre kein Leben . . . Unser Gedächtnis ist unser Zusammenhalt, unser Grund, unser Handeln, unser Gefühl. Ohne Gedächtnis sind wir nichts“ – so eindrucksvoll äußerte sich Luis Buñuel in seinen Memoiren „Mein letzter Seufzer“ (1983, S. 2) zur menschlichen Fähigkeit der Erinnerung. Neben der offensichtlichen Bedeutsamkeit des Gedächtnisses für alle Arten schulischen Lernens, können wir uns tatsächlich nur über unser Gedächtnis an vergangene Ereignisse und Wissen erinnern, Gegenwärtiges sinnvoll wahrnehmen und verstehen, zielgerichtet handeln als auch Zukünftiges planen. Ohne Gedächtnis besäßen wir z. B. auch keine Vorstellung über die eigene Identität (7 Kap. 16) oder wären hilflos gefangen in der Gegenwart (vgl. dazu die Falldarstellung „Der verlorene Seemann“ in Sacks 1988), da über die Sinneswahrnehmung neu aufgenomme-

ne Information nicht in bereits Bekanntes und Unbekanntes differenziert werden kann. Das Lernen neuer Inhalte sowie das Verknüpfen mit bereits vorhandenem Wissen wäre ebenso wenig möglich, wie das Ausführen komplexer motorischer Fertigkeiten wie das Spielen eines Musikinstruments, das Wiedererkennen ehemaliger Mitschülerinnen und Mitschüler nach vielen Jahren oder die Auswahl und der Einsatz geeigneter Lehrmethoden im Unterricht. Auch wenn die geschilderten Phänomene keineswegs die komplette Bandbreite der alltäglichen Anforderungen an unser Gedächtnis wiedergeben, wird deutlich, wie fundamental und vielschichtig die Funktionen des menschlichen Gedächtnisses sind. In der kognitionspsychologischen Sichtweise wird das Gedächtnis anhand seiner unterschiedlichen Funktionen (z. B. langfristiges vs. kurzfristiges Speichern) und der Art der gespeicherten Inhalte (z. B. das Gedächtnis für persönliche biografische Informationen oder das Gedächtnis für Faktenwissen) differenziert. Nach Zimbardo, Gerrig und Graf (2008) lässt sich das Gedächtnis definieren als „mentale Fähigkeit, Information aufzunehmen, zu speichern und wieder abzurufen“ (S. 232). Das Abspeichern und Wiedererinnern von Information kann dabei bewusst und durch aktive Anstrengung passieren, was auch als intentionales Lernen bezeichnet wird. Als inzidentelles Lernen hingegen wird die quasi beiläufig – ohne eine gezielte Absicht – vorgenommene Aufnahme und/oder der Abruf von Informationen bezeichnet. Entgegen der in der kognitiven Psychologie gelegentlich bemühten Computermetapher – z. B. die vereinfachende Sichtweise des Langzeitgedächtnisses als Festplatte oder des Arbeitsgedächtnisses als Arbeitsspeicher – wird das Gedächtnis nicht als statischer, passiver Wissensspeicher aufgefasst, sondern als ein aktives, dynamisches Informationsverarbeitungssystem. Das bedeutet, dass sich die Strukturen und die Verarbeitungsprozesse dieses Systems mit der fortwährenden Aufnahme, Speicherung und dem Abruf verändern (Lefrançois 2015). Das Einspeichern und Erinnern eines selbsterlebten Ereignisses wie z. B. des ersten Schultages ist nach heutiger Sichtweise keineswegs in Analogie zum Aufnehmen und Wiedergeben einer (objektiven) Filmsequenz zu betrachten. Schon beim Einspeichern wird neu Erlebtes mit bereits Bekanntem abgeglichen, bewertet und möglicherweise mit unterschiedlichem emotionalen Gehalt versehen. Beim Wiedererinnern werden Gedächtnisinhalte nicht erschöpfend und analog zum eigentlichen Ereignis abgerufen, sondern meist aus einer Vielzahl einzelner Erinnerungsfragmente rekonstruiert und entsprechend der individuellen Vorerfahrung „ergänzt“. Aktuelle Emotionen, Einstellungen oder Vorurteile können dabei das Wiedererinnern ebenso verzerren wie zwischenzeitlich gemachte Erfahrungen. Dies erklärt im Ansatz auch, warum es im Rückblick auf manche biografischen Erlebnisse zu einer Art Schönfärbung der Erinnerungen kommen kann. Erinnerungsverzerrungen stellen ein alltägliches Phänomen dar und werden gerade dann deutlich, wenn mehrere unterschiedliche Beobachter den gleichen Sachverhalt wiedererinnern sollen – etwa bei Aussagen von Augenzeugen.

25 2.3  Komponenten des menschlichen Gedächtnisses

Das gemeinsame Moment von Gedächtnis und Lernen bezieht sich auf die Wirkungen von in der Vergangenheit gemachten Erfahrungen auf das gegenwärtige Verhalten. Auch wenn in der Literatur mancherorts die beiden Begriffe wenig trennscharf behandelt werden, soll Lernen thematisiert werden als Erfahrungen, die zu Veränderungen im Verhaltenspotenzial – also dem tatsächlichen wie dem möglichen Verhalten – führen. Hingegen werden unter dem Thema Gedächtnis die Bewahrung und Reproduktion der vollzogenen Änderungen im Verhaltenspotenzial behandelt werden (vgl. Hoffmann & Engelkamp 2017). Gedächtnis – Das Gedächtnis kann als ein aktives, dynamisches und veränderbares Informationsverarbeitungssystem angesehen werden, das Informationen aufnimmt, speichert und abruft (Zimbardo et al. 2008). Die folgenden drei Prozesse des menschlichen Gedächtnisses werden unterschieden: Enkodierung, Speicherung und Abruf. Enkodierung – Mit Enkodierung wird ein Prozess bezeichnet, durch den Informationen (z. B. Sinnesreize) so transformiert werden, dass sie von einem System (z. B. dem menschlichen Gedächtnis) aufgenommen und verarbeitet (z. B. verändert und gespeichert) werden können. Speicherung – Die Speicherung bezeichnet das mehr oder weniger dauerhafte Halten von Information (z. B. eine Telefonnummer) in einem System (z. B. einem Kurzzeit- oder Langzeitspeicher) um sie entweder aktuell oder zu einem späteren Zeitpunkt abzurufen oder weiter zu verarbeiten (oder längerfristig zu halten). Abruf – Unter Abruf versteht man das (erneute) Verfügbarmachen von gespeicherter Information (z. B. Wiedererinnern einer Telefonnummer) um diese auszugeben (z. B. einer anderen Person mitteilen) oder innerhalb eines Systems weiterzuverarbeiten (z. B. Telefonnummer mit einer Person verknüpfen).

Zur Differenzierung unterschiedlicher „Gedächtnisse“ wird in der kognitiven Psychologie einerseits nach der Art der zu speichernden und wiederabzurufenden Information (z. B. semantisches, episodisches oder prozedurales Gedächtnis) unterschieden und andererseits nach Gesichtspunkten wie der Speicherdauer und -kapazität sowie der Funktion im zeitlichen Verlauf der Informationsverarbeitung (Sensorisches Gedächtnis, Arbeits- und Langzeitgedächtnis).

2.3

Komponenten des menschlichen Gedächtnisses

Der Beginn der empirischen Gedächtnisforschung geht auf die Arbeiten von Hermann Ebbinghaus (1885/1992) zurück, der die Funktionsweise des menschlichen Gedächtnisses experimentell mittels dem Einprägen von Listen sog. „sinnloser“ Silben untersucht hat. Damit wollte er den Einfluss individuell unterschiedlicher Vorerfahrungen auf die Erinnerungsleistung minimieren, wie er bei sinnhaftem Material auftreten kann. Neben der Bedeutung mehrfacher Lerndurchgänge für den Erwerb relativ sinnarmer Silbenreihen thematisiert er das Vergessen von Gelerntem über die Zeit. Dabei fiel ihm auf, dass das Vergessen von gelernten Silben unmittelbar nach Abschluss der Lernphase zunächst sehr stark war und mit zunehmend verstreichender Zeitdauer immer geringer wurde. Auch stellte er fest, dass für das erneute

Lernen bereits vergessener Information weniger Zeit benötigt wurde. Beide Befunde wurden vielfach repliziert und haben bis heute Gültigkeit. Mit der sogenannten „kognitiven Wende“ in den 1960er Jahren wurde vor allem auf die Art und den zeitlichen Ablauf der Informationsverarbeitung fokussiert. Dies führte zunächst zum Postulat unterschiedlich funktionierender Speichersysteme (7 Definitionen). Zunächst lag der Fokus auf sogenannten Mehrspeichermodellen, bei den von separaten Speichern je nach Behaltensdauer ausgegangen wird. In derartigen Modellen wird nach der Speicherdauer zwischen einem sensorischen Gedächtnis (Speicherdauer: Bruchteile einer Sekunde), einem kurzzeitigen Arbeitsgedächtnis (Speicherdauer: wenige Sekunden) und einem Langzeitgedächtnis (unbegrenzte Speicherdauer) unterschieden. In sogenannte Einspeichermodellen wird ein Speicher postuliert, der über verschiedene Speicher- und Verarbeitungsprozesse unterschiedlich genutzt wird. 2.3.1

Einspeichermodelle

Einspeichermodelle sind historisch gesehen jünger und erlangen in der gegenwärtigen kognitiven Psychologie zunehmend an Bedeutung. In ihnen wird die Grundannahme vertreten, dass es außer einem Langzeitgedächtnis keine separaten Speicher gibt. Zwei grundlegend unterschiedliche Ansätze dieser Art sind die ACT-R-Theorie und das Prozessmodell der Verarbeitungstiefe. Die ACT-R-Theorie (Adaptive Control of Thought) von Anderson (Anderson & Funke 2013) sieht anstelle der sensorischen Speicher unterschiedliche Enkodierungs- und Verarbeitungsprozesse auf initialer Ebene vor. Anstatt eines separaten Arbeitsgedächtnisses werden kurzzeitige Speicherund Verarbeitungsprozesse als aktivierter Teil des Langzeitgedächtnisses angenommen. Dazu propagiert Anderson automatische und kontrollierte Prozesse bei der Kodierung, Speicherung und Verarbeitung von Information. Kontrollierte Prozesse erfordern weitreichende Aufmerksamkeitsressourcen und verlaufen seriell, also nacheinander. Demgegenüber sind automatische Prozesse parallel, unbewusst und mit geringen oder keinen nennenswerten Aufmerksamkeitsressourcen verbunden. Ebenso wie bei anderen Einspeichermodellen wird der Unterschied zwischen aktivierter und nichtaktivierter Information innerhalb eines einheitlichen Langzeitgedächtnisses thematisiert. Die aktivierte Information ist direkt verfügbar (wie in einem kurzzeitigen Gedächtnis), die nicht aktivierte Information muss im Gedächtnis erst aktiviert werden (vergleichbar mit dem Abruf aus einem Langzeitgedächtnis). Sowohl beim Einprägen als auch beim Erinnern können derartige Aktivierungsprozesse automatisch oder kontrolliert ablaufen. Craik und Lockhart (1972) vertreten ein Prozessmodell der Verarbeitungstiefe. Gedächtnisleistungen spielen sich in einem einheitlichen Gedächtnis ab und sind das Ergebnis von verschiedenen Graden der Informationsverarbeitung. Wird beispielsweise ein gelesenes Wort memoriert, kann

2

26

Kapitel 2  Gedächtnis und Wissenserwerb

Selektion

Organisation Aufmerksamkeit

2 Sensorisches Register

Rehearsal

Integration Recodierung, Reorganisation, usw.

Kurzzeitgedächtnis (KZG)

Langzeitgedächtnis (LZG)

Abruf Ikonisches Gedächtnis (visuelles sensorisches Register)

Deklarativ/explizit

Phonologische Schleife

Episodisch/ Ereignisse

Zentrale Exekutive Echoisches Gedächtnis (auditorisches sensorisches Register)

Semantisch/ Ereignisse

Nondeklarativ/prozedural/implizit

Visuell-räumlicher Notizblock

Fertigkeiten Priming Konditio- usw. (skills) nierung

. Abb. 2.1 Das Gedächtnismodell nach Atkinson und Shiffrin (1968)

dies unterschiedliche Stufen der Verarbeitung durchlaufen. Je nachdem wie „tief“ diese Verarbeitung abläuft, wird die Information besser behalten. Zunächst wird auf der ersten Verarbeitungsstufe das Wort strukturell verarbeitet, d. h. Oberflächenmerkmale wie die Form werden analysiert und gespeichert. Auf der zweiten Verarbeitungsstufe erfolgt eine phonologische Analyse und Kodierung. Auf der dritten Verarbeitungsstufe schließlich erfolgt eine semantische Kodierung und ermöglicht im weiteren Sinn die Bildung von Sinnzusammenhängen. In späteren Studien wurde nachgewiesen, dass auch das Ausmaß der weitergehenden Verarbeitung – auch Elaboration genannt – auf den jeweiligen Verarbeitungsebenen zur Speichergüte beträgt. Ferner ist nicht die bloße Verarbeitungszeit („mehr Verarbeitungszeit – bessere Speicherung?“) sondern tatsächlich die Tiefe der Verarbeitung für die Behaltensgüte wesentlich (vgl. Craik & Tulving 1975). Damit weisen Craik und Lockhart (1972; 2008) gegenüber Mehrspeichermodellen den Aspekten des Bedeutungsgehalts einen größeren Stellenwert bei Lernprozessen zu. An der Theorie der Verarbeitungstiefe wurde jedoch auch Kritik geübt: Die Theorie erlaube keine Vorhersagen, inwiefern unterschiedliche Lern- oder Gedächtnisanforderungen zu unterschiedlicher Verarbeitungstiefe führen. Ferner erlaube die Theorie keine eindeutigen Aussagen, welchen Unterschied es hinsichtlich der Verarbeitungstiefe macht, ob z. B. ein Wort akustisch oder visuell dargeboten wird (vgl. Hoffmann & Engelkamp 2017). Wenngleich das Modell von Craik und Lockhart kritisch diskutiert wird, hat das Prinzip der Verarbeitungstiefe bis heute in viele kognitionspsychologischen Ansätze Eingang gefunden. Bezugnehmend auf das schulische Lernen kann festgehalten werden: Wissenserwerb basiert in den Einspeichermodellen auf Aktivierung von Information im Gedächtnis und auf der Modifikation durch kognitive Prozesse, z. B. durch Verknüpfung zwischen neuen und bereits vorhandenen Gedächtnisinhalten.

2.3.2

Mehrspeichermodelle

Eines der bekanntesten Mehrspeichermodelle stammt von Atkinson und Shiffrin (1968; . Abb. 2.1). Es beruht auf der Annahme von drei miteinander interagierenden Speichersystemen: dem sensorischen Speicher (sensorisches Gedächtnis, Ultrakurzzeitgedächtnis; 7 Abschn. 2.3.3), dem kurzzeitigen Speicher (Kurzzeitgedächtnis; 7 Abschn. 2.3.4) und dem langzeitigen Speicher (Langzeitgedächtnis; 7 Abschn. 2.3.5). Beim sensorischen Speicher wird eine neu eingehende Information sehr kurz – für den Bruchteil einer Sekunde – aufgenommen und gefiltert. Informationen, die nicht weiterverarbeitet werden, „zerfallen“, wohingegen Informationen, die für die Weiterverarbeitung ausgewählt wurden, an ein Kurzzeitoder Arbeitsgedächtnis weitergeleitet werden. Die Bezeichnung „Kurzzeitspeicher“ meint, dass es hier um eine bloße Speicherung von Information geht, wohingegen der Begriff „Arbeitsgedächtnis“ mit der Speicherung und Verarbeitung von Information assoziiert ist. Wird Information im Arbeitsgedächtnis nicht nur kurzzeitig gespeichert, sondern auch verarbeitet, so kann dies sowohl über den Abgleich mit neu eingehender Information als auch mit bereits im Langzeitgedächtnis abgespeicherten Inhalten passieren. Damit kommt dem Arbeitsgedächtnis eine Funktion als Schnittstelle zu. Um Informationen länger in einem Kurzzeit- oder Arbeitsspeicher zu halten, können kurzzeitige Gedächtnisstrategien zur Wiederauffrischung angewandt werden (7 Abschn. 2.3.4). Information kann aber durch Wiederholung vom kurzzeitigen oder Arbeitsspeicher in den langzeitigen Speicher übertragen werden. An dem Mehrspeichermodell wurde weitreichende Kritik geäußert, die sich zum einen um die Notwendigkeit eines eigenen sensorischen Speichers dreht und zum anderen um die unklare Beschreibung der Funktionen des kurzzeitigen und langzeitigen Speichers. Ferner wurde kritisiert, dass das Zusammenwirken der einzelnen Speicher in dem Modell nur oberflächlich benannt wurde. Trotzdem wird dem

27 2.3  Komponenten des menschlichen Gedächtnisses

dazu wird die zur Weiterverarbeitung ausgewählte Information in das Kurzzeit- bzw. Arbeitsgedächtnis übertragen. Experimentelle Studien führten zu diesen Annahmen aus, dass es im Bereich des ikonischen Gedächtnisses wahrscheinlich zwei grundlegende Prozesse geben dürfte: eine eigentliche sensorische Phase die etwa 150 bis 250 Millisekunden dauert und eine zweite Phase, in der auch höhere z. B. abstrakte Merkmale der aufgenommenen visuellen Information repräsentiert werden und Mustererkennungsprozesse stattfinden. Das sensorische Register ist also eine Art „Echo“, welches 2.3.3 Sensorisches Gedächtnis in wenigen Sekunden zerfällt, wenn keine Aufmerksamkeit darauf gerichtet wird (vgl. Lefrançois 2015). Zwischen dem Wird neue Informationen über die Sinnesorgane aufgenom- sensorischen Register und dem Kurzzeitgedächtnis wird damen, so durchläuft diese zunächst das sensorische Gedächt- her mittlerweile von manchen Forschern eine weitere Funknis. In einigen Darstellungen wird dies auch sensorisches tion angenommen, ein Filter, welcher auch als selektive AufRegister, Ultrakurzzeitgedächtnis oder Ultrakurzzeitspeicher merksamkeit bezeichnet wird. genannt. Atkinson und Shiffrin (1968) postulierten, dass es separate, parallel arbeitende sensorische Gedächtnisse für jede Sinnesmodalität gibt. So ist das ikonische Gedächtnis für 2.3.4 Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnis die Verarbeitung visueller Information und das echoische Gedächtnis für Verarbeitung eingehender auditiver InformaDas Kurzzeitgedächtnis hat eine begrenzte Speicherdauer tion zuständig (Neisser 1976). Sensorische Gedächtnissysteund -kapazität, Information kann dort für wenige Sekunme für andere Sinnesmodalitäten werden bislang lediglich den gehalten werden. Atkinson und Shiffrin (1968; 1971) angenommen, in der Literatur existieren bisher aber weder weisen in ihrem Mehrspeichermodell dem kurzzeitigen Speisystematische theoretische Ausarbeitungen noch empirische cher eine Mittlerrolle zwischen eingehender Information (aus Studien, die etwa ein haptisches (Fühlen), ein gustatorisches dem sensorischen Speicher) und Abruf aus dem Langzeit(Schmecken) oder ein olfaktorisches (Riechen) sensorisches gedächtnis zu, sehen die beiden Speicher aber als relativ Gedächtnis konzeptualisieren und belegen könnten. unabhängig voneinander an. Die zeitliche Limitierung des Die Anforderungen an einen sensorischen Speicher sind Speichers beträgt nur wenige Sekunden, d. h., dass Informatiimmens: Es müssen äußerst schnell ungeheure Information im Kurzzeitspeicher nach wenigen Sekunden nicht mehr onsmengen bewältigt werden. So wird geschätzt, dass diese abrufbar ist. Dieser Verfall kann durch das sogenannte ReInformationsmenge im visuellen System in etwa einer Gröhearsal – der stetigen (inneren) Wiederholung des Materials 9 11 ßenordnung von 10 bis 10 Bits pro Sekunde entspricht (ein aufgehalten werden. Z. B. kann eine Telefonnummer stetig Bit stellt die kleinstmögliche Informationseinheit „Binary wiederholt werden „042738 – 042738 – 042738. . . “. InforDigit“ dar; zum Vergleich: Eine vollgeschriebene Seite dieses mationen bleiben dann länger in diesem Kurzzeitspeicher 4 Buches enthält in etwa 10 Bits). Die Information ist aber nur und können so mit höherer Wahrscheinlichkeit zur dauerhaffür eine äußerst kurze Zeit verfügbar. Man geht davon aus, ten Speicherung in das Langzeitgedächtnis überführt werden. dass eine im ikonischen Gedächtnis angekommene InforIm Kurzzeitgedächtnis wird u. a. verbale, visuelle oder taktile mation nur etwa 0,5 bis 1 Sekunde aufrechterhalten werden Information weiterverarbeitet. Die Kapazität des Kurzzeitgekann und dann „zerfällt“ (vgl. Sperling 1960). Die Haltedaudächtnisses wurde seit den Arbeiten von Miller (1956) mit er für akustische Information im echoischen Speicher wird 7 ˙ 2 Informationseinheiten oder Chunks angegeben (7 Im mit etwa 2 Sekunden angegeben, wenn auch die Angaben Fokus). Mittlerweile wird dieser Umfang stark diskutiert und uneinheitlich zwischen 0,5 und mehreren Sekunden Dauer neuere Arbeiten gehen eher von einer geringeren Kapazischwanken (vgl. Baddeley, Eysenck & Anderson 2015). tät von etwa vier Informationseinheiten, aber bedeutsameren Die sehr kurze Haltedauer und quasi unbegrenzte KapaziChunkingprozessen aus (vgl. Cowan 2001). tät der sensorischen Speicher erklärt sich über ihre Funktion im Informationsverarbeitungsprozess: Aus der großen InIm Fokus: Chunking formationsfülle muss die relevante Information ausgewählt und in den Kurzzeitspeicher bzw. das Arbeitsgedächtnis weiAus einzelnen Informationseinheiten – z. B. Zahlen, Buchtergeleitet werden. Die Aufgaben der sensorischen Speicher staben oder Tönen – können größere, bedeutungstragende reichen vom groben Erkennen von Merkmalen wie Form Informationseinheiten zusammengefasst werden. Chunks und Farbe bis hin zu komplexen Mustererkennungsprozeswerden im Kurzzeit- oder Arbeitsgedächtnis gebildet, sen. Letztere kann in einem Erfassen von semantischer Inindem auf der Basis von (semantischem) Vorwissen aus dem formation, also die den Inhalt betreffenden Aspekte wie z. B. Langzeitgedächtnis Informationen verdichtet werden. Buchstaben- oder Wortbedeutung liegen. Es erfolgt aber keine Bewertung oder bewusste inhaltliche Reizverarbeitung, ursprünglichen Modell von Atkinson und Shiffrin ein hohe heuristischer Wert für die nachfolgende Forschung zugesprochen (vgl. Hoffmann & Engelkamp 2017). Um schulisches Lernen im Rahmen der Mehrspeichermodelle aufgreifen zu können, soll im Folgenden auf die einzelnen Speicher und die damit verbundenen Prozesse – basierend auf der Struktur des Modells von Atkinson und Shiffrin – eingegangen werden.

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Kapitel 2  Gedächtnis und Wissenserwerb

So könnten beispielsweise aus der zu memorierenden zehnteiligen Buchstabenreihe „i-t-b-m-w-m-f-g-z-b“ die vier Chunks „IT – BMW – mfG – z. B.“ werden. Mit zunehmender Übung und/oder Expertise in bestimmten Wissensgebieten steigt auch die Fähigkeit, durch den Prozess des Chunkings immer mehr Informationseinheiten zu immer größeren Chunks zusammenzufassen (Chase & Simon 1973). Durch Vorwissensunterschiede können auch Unterschiede im Chunking bzw. der Gedächtniskapazität (7 Abschn. 2.3.5) teilweise erklärt werden. Der Prozess des Chunkings wird in der Literatur nicht eindeutig von dem der Gruppierung (Grouping) getrennt, manche Autoren sehen die Bedeutungshaltigkeit beim Chunking als Unterschied gegenüber der Gruppierung. Bei der Gruppierung können Informationseinheiten z. B. durch zeitliche Aufteilung zusammengefasst werden, ohne dass die erhaltenen Informationseinheiten einen zusätzlichen Bedeutungszuwachs erhalten haben. Z. B. werden aus einer zwölfstelligen Zahlenreihe vier Dreiergruppen gebildet: 715483561937

715  483  561  937

(Gruppierung)

sogenannte proaktive Hemmung (Interferenz) beim Lernen neuer Inhalte im Kurzzeitgedächtnis gibt. Im Rahmen einer proaktiven Hemmung gehen zu lernenden Informationen semantische Störereignisse voraus, z. B. indem zu lernenden Vokabeln aus der gleichen Kategorie einer neu zu lernenden Vokabel vorausgehen (Tiger – Löwe – Gepard – neu: Luchs). Stammen die vorausgehenden Vokabeln aus einer anderen Kategorie als die neue Vokabel (Apfel – Birne – Orange – neu: Luchs) tritt diese Störung nicht vergleichbar auf. Ein Gros der anfänglichen Forschung zum Kurzzeitgedächtnis fokussierte den Bereich verbaler Gedächtnisleistungen, daher werden Prozesse zu diesem Speicher meist anhand von Beispielen und Befunden zu verbalen Gedächtnisleistungen ausgeführt. Dies hat auch dazu geführt, dass der kurzzeitige Speicher nach Atkinson und Shiffrin als eher phonetischer Speicher gesehen wurde und wegen dieser Einseitigkeit kritisiert wurde (vgl. Hoffmann & Engelkamp 2017). Mit zunehmendem Fokus auf Verarbeitungsprozesse im Kurzzeitspeicher und zahlreichen empirische Befunden wuchs die Kritik am rein passiven Kurzzeitgedächtnis für überwiegend phonologische Informationen, wie Atkinson und Shiffrin es in ihrem Mehrspeichermodell konzipiert hatten. Weder die Rolle semantischer Information (z. B. beim Chunking) noch die Art des Zusammenwirkens mit dem Langzeitgedächtnis konnten durch diese frühen Modelle des Kurzzeitgedächtnisses erschöpfend erklärt werden. Daneben erschien es verkürzt anzunehmen, dass allein das Wiederholen von Information (Rehearsal) im Kurzzeitspeicher zu einer langfristigen Speicherung führen würde.

Unbestritten ist, dass mittels Chunking die begrenzte Kapazität eines Kurzzeit- oder Arbeitsgedächtnissesbesser genutzt werden kann. Für Lernprozesse spielt das Chunking damit eine entscheidende Rolle. Chunking ist nicht nur auf diskrete Informationen wie Zahlen- oder Buchstabensequenzen begrenzt. Ganze Verhaltenssequenzen, die sich aus einzelnen Teilsequenzen zusammensetzen, können durch Chunking besser gelernt werden (Song & Cohen 2014). Dazu ließe 1 Modell des Arbeitsgedächtnisses sich beispielhaft das Vermitteln der Kür im Geräteturnen In der Folge entwickelten Baddeley und Hitch (1974) das aus einzelnen Bewegungssequenzen im Sportunterricht Modell eines Arbeitsgedächtnisses (. Abb. 2.2). Dieses sollanführen. Mit zunehmenden Fähigkeiten im Turnen können te neben einer kurzzeitigen Speicherung von phonologischer diese Verhaltenssequenzen zu Chunks zusammengefasst und visuell-räumlicher Information vor allem auch diese und besser und schneller erinnert werden. kurzfristig gehaltene Information manipulieren können. Da-

Über Chunking als Möglichkeit, einzelne Informationseinheiten auf Basis von Information aus dem Langzeitgedächtnis zu größeren Informationseinheiten zusammenfassen, kann der Speicher „effizienter“ genutzt werden. Der Rückgriff auf die semantische Information aus dem Langzeitgedächtnis durch Prozesse im kurzzeitigen Speicher zeigt, dass die Speichersysteme im Mehrspeichermodell, entgegen der ursprünglichen Annahme von Atkinson und Shiffrin, nicht unabhängig voneinander arbeiten. Die Einbindung semantischer Information in kurzzeitige Gedächtnisprozesse zeigt aber noch etwas Anderes: Gerade der für Lernprozesse bedeutsame Rückgriff auf das Langzeitgedächtnis kann auch Interferenzeffekte im Kurzzeitgedächtnis erklären (Abruf bestimmter Gedächtnisinhalte wird durch das Lernen anderer Inhalte erschwert). Dabei wird zwischen retroaktiver (neue Inhalte erschweren den Abruf bestimmter Gedächtnisinhalte) und proaktiver Interferenz differenziert (bestimmte Gedächtnisinhalte erschweren den Abruf neuer Inhalte). Wickens (1973) konnte in einem Experiment zeigen, dass es eine

mit ist beispielsweise gemeint, dass das Arbeitsgedächtnis bei mehrstelligen mentalen Additionsaufgaben nicht nur die Summanden speichert und das Ergebnis aus dem Langzeitgedächtnis abruft, sondern auch Zwischenergebnisse bereithält und die Auswahl und Durchführung von komplexen Rechenalgorithmen initiiert und überwacht. Damit legen Baddeley und Hitch in ihrem Modell einen Fokus auf komplexe kognitive Aktivitäten, zu denen auch bewusste Denkund Repräsentationsprozesse gehören. Um derartigen Anforderungen gerecht zu werden unterteilten sie das Modell in zwei modalitätsspezifische Speicherinstanzen – die phonologische Schleife (phonological loop) für phonologische Information und den visuell-räumlichen Notizblock (visuospatial sketchpad) für visuell-räumliche Information – und eine übergeordnete Kontrollinstanz – die zentrale Exekutive (central executive). Die phonologische Schleife und der visuell-räumliche Notizblock beziehen ihre Informationen entweder aus den sensorischen Registern oder durch einen Abruf aus dem Langzeitgedächtnis. Die phonologische Schleife ist für die Speicherung und kurzzeitige Verarbeitung von phonologischer Information

29 2.3  Komponenten des menschlichen Gedächtnisses

Zentrale Exekutive

Visuell-räumlicher Notizblock

Episodischer Puffer

Phonologische Schleife

Visuelle Semantik

Episodisches LZG

Sprache

. Abb. 2.2 Arbeitsgedächtnis nach Baddeley und Hitch (Quelle: Baddeley 2000)

zuständig, das heißt, Informationen die in erster Linie unterschiedliche Aspekte wie akustische und bedeutungstragende (semantische) Merkmale der Sprache betreffen. Darüber hinaus werden auch musikbezogene Aspekte wie melodische oder rhythmische Informationen in diesem Subsystem verarbeitet. Auch können phonologische Informationen, die visuell erfasst werden, z. B. beim Lesen eines Wortes oder Erfassen eines in Notschrift dargebotenen Rhythmus, in einen phonologischen Code umgewandelt und in der phonologischen Schleife verarbeitet werden (phonologische Rekodierung). Der visuell-räumliche Notizblock ist für die Speicherung und Verarbeitung von visueller und räumlicher Information zuständig. In diesem Zusammenhang werden unter „visueller Information“ Aspekte wie die Form, Farbe oder Maserung eines Reizes verstanden. Unter „räumlicher Information“ wird die Position eines Reizes im Raum oder in Relation zu anderen Reizen oder die Bewegung eines Reizes verstanden. Baddeley spricht den beiden Subsystemen neben einer reinen Speicherfunktion auch basale Verarbeitungsfunktionen zu, etwa das „Kreisen“ oder Wiederholen (Rehearsal) von Informationen, um diese länger im Speicher halten zu können oder in das Langzeitgedächtnis transferieren zu können. Die übergeordnete Kontrollinstanz der zentralen Exekutive war lange Zeit wenig spezifiziert, damit kam ihr in gewisser Weise die Funktion einer Art „Resterampe“ zu: Alle Phänomene, die nicht über die Subsysteme erklärbar waren, wurden der zentralen Exekutive zugesprochen. Baddeley (1986; 1996; 2002) unternahm mehrere Vorstöße, die zentrale Exekutive näher zu erklären: Neben der Kontrolle von Enkodier- und Abrufstrategien, der Fokussierung der Aufmerksamkeit und der Koordination und dem Wechsel zwischen zwei zeitgleich ablaufenden Aufgaben wurde auch die Kommunikation mit dem Langzeitgedächtnis als Prozess der zentralen Exekutive diskutiert. Da gerade die Verbindung zum Langzeitgedächtnis über die zentrale Exekutive nicht plausibel zu erklären war, erweiterte Baddeley (2000) das ursprünglich dreigliedrige Arbeitsgedächtnismodell um eine vierte Instanz, den sogenannten episodischen Puffer. Baddeley hoffte damit komplexe Prozesse wie das Chunking besser erklären zu können, indem er dem episodischen Puffer die Aufgabe der Integration von Information aus den Subsystemen phonologische Schleife und visuell-räumlicher Notizblock zuwies. Zudem hoffte er, so die Einbindung von längerfristig gespeicherter Information näher erklären zu können.

Bezogen auf das Ausführen einer schriftlich dargebotenen Rechenaufgabe im Mathematikunterricht würden die aus den visuellen sensorischen Registern weitergeleiteten Informationen zunächst über den visuell-räumlichen Notizblock aufgenommen und – phonologisch rekodiert – in der phonologischen Schleife zwischengespeichert und aufrechterhalten werden. Der Abruf und die Anwendung der zur Bearbeitung der Aufgabe notwendigen Rechenalgorithmen vollzieht sich nach dem Modell über die zentrale Exekutive. Die Kontrolle und Koordination der Rechenoperationen sowie die Speicherung und Synthese von Zwischen- und Endergebnissen in der phonologischen Schleife wird ebenfalls von der zentralen Exekutive vorgenommen. In empirischen Untersuchungen konnten Nachweise für die Bedeutung des Arbeitsgedächtnisses für den Erwerb des Lesens (Gathercole & Baddeley 1993), das Leseverständnis (Hasselhorn & Marx 2000), das Textverstehen (McCallum et al. 2006) sowie für die mentale Addition und Multiplikation (De Rammelaere, Stuyven & Vandierendonck 2001; Seitz & Schumann-Hengsteler 2000) erbracht werden. Mittlerweile werden Arbeitsgedächtnisprozesse zu den wichtigsten (kognitiven) Bedingungsfaktoren sowohl für kurz- und langfristige Lernvorgänge (Kyllonen 1996) als auch im Bereich von Lernstörungen (Swanson 2005) gezählt. Veränderungen innerhalb der Gedächtnisentwicklung von Kindern wurden in erster Linie auf die Veränderungen von kognitiven Prozesse zurückgeführt, die eng mit der Grad der Funktionalität des Arbeitsgedächtnisses zusammenhängen (Schneider & Pressley 1997). Generell werden die Ursachen dieser entwicklungsbezogenen Veränderungen im Bereich des Gedächtnisses nochmals ausdifferenziert: Entweder kommen diese durch Verbesserungen in der „Hardware“ (Vergrößerung der Gedächtniskapazität und der Verarbeitungsgeschwindigkeit) oder im Bereich der „Software“ (Zunahme und Effizienz des Gebrauchs von Gedächtnisstrategien, Zuwachs und Organisation von Vorwissen, Veränderungen im Metagedächtnis) zustande. Dazu zählen auch die über das Arbeitsgedächtnis ablaufenden kurzzeitigen Gedächtnisstrategien. Als Strategien lassen sich potenziell bewusste, intentionale Aktivitäten begreifen, die zwar im Arbeitsgedächtnis ablaufen, jedoch im Langzeitgedächtnis gespeichert werden. Diese sollen dabei helfen, eine Gedächtnisanforderung besser zu bewältigen, indem sie die vorhandenen Ressourcen effizienter nutzen. Generell werden sogenannte Enkodierstrategien, die vor allem bei der Einspeicherung von Informationen bedeutsam sind, von Abrufstrategien abgegrenzt. Letztere kommen während des Erinnerns von Lernmaterial zum Einsatz und bestehen z. B. im Abruf von Informationen nach Oberbegriffen, dem sogenannten Clustern. Zu den Enkodierstrategien zählen beispielsweise das Wiederholen (Rehearsal), das Kategorisieren nach semantisch plausiblen Oberbegriffen (Einspeichern von chemischen Elementen aus dem Periodensystem nach Kategorien, z. B. „Edelgase“: Helium, Neon, Radon usw.) und das Elaborieren („Eselsbrücken“ bilden, wie z. B. „Mein Vater erklärt mir jeden Sonntag unseren Nachthimmel“ als Merksatz, um sich die Planeten des Sonnensystems zu merken oder das Einspeichern der b- und #-Tonarten des Quintenzirkels

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Kapitel 2  Gedächtnis und Wissenserwerb

im Musikunterricht anhand der Sätze „Frische Bananen essen Asiaten deshalb gerne.“ bzw. „Geh, Du alter Esel, hol Fische!“). Die Bedeutung strategischer Prozesse bei der Erklärung entwicklungsbedingter Veränderungen in den kurzzeitigen Gedächtnisleistungen wurde seit den 1980er-Jahren allerdings auch kritisch hinterfragt ( vgl. auch Hühnerkopf, Schneider & Hasselhorn 2006). 1 Alternative Arbeitsgedächtnisansätze

Die Frage nach dem Zusammenwirken von kurzzeitigen Speicher- und Verarbeitungsprozessen und langfristig gespeicherter Information hat neben dem ArbeitsgedächtnisModell von Baddeley und Hitch zu alternativen Arbeitsgedächtnisansätzen geführt. Einer der bekanntesten ist das Modell von Cowan (2001). Cowan stellt die Bedeutung von Aufmerksamkeitsprozessen für die Speicherung und den Abruf von Information in den Vordergrund und sieht das Arbeitsgedächtnis als einen aktivierten Teil eines Langzeitgedächtnisses. In diesem Zusammenhang bedeutet Aktivierung, dass die Information im Gedächtnissystem ein erhöhtes Erregungsniveau besitzt. Es findet ein Aufmerksamkeitsfokus auf die entsprechend aktivierte Information statt, die somit besser verarbeitet und gespeichert werden kann. Neu eingehende Information kann mit der Aktivierung von langzeitig abgelegten Gedächtnisinhalten einhergehen und mit diesen zur weiteren Verarbeitung im Aufmerksamkeitsfokus gehalten werden. Der Aufmerksamkeitsfokus ist kapazitätsbegrenzt und kann etwa drei bis fünf bedeutungshaltige Informationseinheiten enthalten. Das Konzept von Cowan macht auch nochmals deutlich, worin der Unterschied zwischen einem reinen Kurzzeit- und einem Arbeitsgedächtnis besteht: Neben einer Aktivierung und Aufrechterhaltung von langfristig abgelegten Gedächtnisspuren, verfügt das Arbeitsgedächtnis über eine kontrollierte Aufmerksamkeitsfunktion. Erst diese macht das aktive Verarbeiten/Manipulieren von Information möglich und reicht damit über einen passiven Kurzzeitspeicher hinaus. Im Gegensatz zum Arbeitsgedächtnismodell nach Baddeley geht es bei Cowan nicht um Strukturen wie die phonologische Schleife oder den visuell-räumlichen Notizblock, sondern um Prozesse, die einer Gedächtnisleistung zugrunde liegen. Zudem sieht Cowan das Arbeitsgedächtnis als einen eingebundenen Teil des Langzeitgedächtnisses. Ein anderer alternativer Arbeitsgedächtnisansatz wurde von Case (1985) vorgelegt. In seinem Ansatz werden entwicklungsbedingte Veränderungen der Speicherkapazität des Arbeitsgedächtnisses (totale Kapazität) über zwei Grundfunktionen erklärt: Einen Verarbeitungsspeicher (operating space), in erster Linie für strategische Prozesse zuständig, und einen Kurzzeitspeicher (storage space) mit reiner Speicherfunktion. Trotz gleichbleibender Größe der beiden Speicherfunktion können entwicklungsbedingte Kapazitätszuwächse – es kann mehr Information mit zunehmender Entwicklung eines Kindes gespeichert werden – erklärt werden. Dazu nimmt Case Veränderungen im Bereich der beiden Grundfunktionen an: So steigt mit zunehmender Entwicklung die Verarbeitungsgeschwindigkeit und die Effizienz innerhalb der Nutzung strategischer Prozesse im Verarbeitungsspei-

cher. Dies führt dazu, dass weniger Verarbeitungsspeicher für kognitive Prozesse benötigt wird und in der Folge mehr Platz im Kurzeitspeicher zur Verfügung steht.

2.3.5

Langzeitgedächtnis

Unterschiedliche Modelle zum Langzeitgedächtnis teilen die Annahme, dass es sich theoretisch durch eine unbegrenzte Speicherkapazität und Behaltensdauer auszeichnet. Ursprünglich ging man davon aus, dass die Wahrscheinlichkeit, dass neu eingehende Information im Langzeitspeicher abgelegt wird, mit zunehmender Verweildauer im Kurzzeitgedächtnis ansteigt. Dem widersprechen aber Befunde, bei denen Information ohne ein nennenswertes Rehearsal oder sonstige Anwendungen von Gedächtnisstrategien in das Langzeitgedächtnis gelangten (vgl. die Darstellung der Bedeutung von Emotionen bei der Speicherung von Gedächtnisinhalten bei McGaugh 2003). Damit erscheint auch der von Atkinson und Shiffrin zwingend vorgeschlagene serielle Informationsverarbeitungsverlauf durch die sensorischen Register über den Kurzzeitspeicher zur dauerhaften Speicherung in das Langzeitgedächtnis fraglich. Heutzutage herrscht die Ansicht vor, dass das Ausmaß der Verarbeitungstiefe einen plausibleren Mechanismus für die dauerhafte Abspeicherung im Langzeitgedächtnis darstellt. Als allgemein anerkannt gilt die Sichtweise, dass das Langzeitgedächtnis aus unterschiedlichen Teilsystemen besteht (vgl. Squire 1992), nämlich dem deklarativen und nichtdeklarativen Gedächtnis. Im deklarativen Gedächtnis (explizites Gedächtnis) werden episodisch-autobiografische Ereignisse sowie Fakten – in manchen Lehrbüchern auch als „Weltwissen“ bezeichnet – gespeichert. Diese sind verbalisierbar und gehen tendenziell mit bewusster Erinnerung einher. Daher wird das deklarative Gedächtnis auch oft als explizites Gedächtnis bezeichnet. Es wird auf Anregung von Tulving (1972) weiter unterteilt in ein episodisches und ein semantisches Gedächtnis. Dem episodischen Gedächtnis wird die Speicherung von konkreten, autobiografischen Ereignissen zugesprochen, die sich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort zugetragen haben. Dabei kann es sich um so einschneidende persönliche Erlebnisse wie den ersten Schultag handeln oder alltägliche Information wie das Parken des eignen Autos am Uniparkplatz („Wo habe ich heute Morgen nur mein Auto abgestellt?“). Auch Kontextinformationen, also wann und wo sich etwas zugetragen hat, werden in diesem Zusammenhang gespeichert und dazu genutzt, die Information entsprechend zu organisieren und einzuordnen. Es wird vermutet, dass Informationen in diesem Gedächtnissystem in eher dynamisch-bildhafter Form gespeichert werden. Demgegenüber enthält das semantische Gedächtnis Wissen über allgemeine, weniger kontextabhängige Fakten („Wie heißt die Hauptstadt von Italien?“; „Welche Farbe hat eine reife Avocado?“; „Wie beginnt Beethovens fünfte Sinfonie?“), Wissen zu komplexen Zusammenhängen („Je mehr Zeit verstreicht, desto mehr vergisst man gelernten Stoff“) und Wortbedeutungen

31 2.3  Komponenten des menschlichen Gedächtnisses

(„Was bedeutet Äquivalenz?“). Allen genannten Beispielen ist gemein, dass sie das Wissen darüber ausdrücken, was einen Sachverhalt ausmacht. Modellannahmen zum deklarativen Gedächtnis definieren Wissenseinheiten als Begriffe und semantische Relationen, die jedoch auch komplexere Konfigurationen bilden können (Schemata, Scripts, Propositionen, mentale Modelle; 7 Abschn. 2.3.6). Bis heute wird kontrovers diskutiert, ob das episodische und semantische Gedächtnis separate Gedächtnissysteme darstellen oder zusammen ein einheitliches System bilden, das lediglich anforderungs- und kontextbezogen unterschiedlich arbeitet. Theoretisch wäre so das semantische Gedächtnis als Akkumulation vieler einzelner Episoden vorstellbar und würde jene Merkmale und kategorialen Aspekte repräsentieren, die diesen Episoden gemeinsam sind (vgl. Baddeley 1995). Unter dem nicht-deklarativen oder impliziten Gedächtnis wird die Fähigkeit zum Erinnern verhaltensbezogener Phänomene zusammengefasst, die sich nicht oder nur unzureichend verbalisieren lassen. Die Gedächtnisinhalte sind in diesem Sinn nicht-deklarativ. Darunter können neben Verhaltensweisen, die über das operante und klassische Konditionieren erworben werden, auch wahrnehmungsbezogene, motorische, aber auch automatisiert ablaufende kognitive Fertigkeiten oder darüber hinaus Phänomene wie das Priming verstanden werden (7 Kap. 1). Oftmals genannt werden in diesem Zusammenhang Beispiele mit relativ starkem prozeduralen Charakter, wie das Spielen eines Musikinstruments oder das Fahrradfahren. Daher wird in diesem Zusammenhang auch vom prozeduralen Gedächtnis gesprochen. Es werden also Informationen darüber gespeichert, wie etwas getan wird bzw. zu tun ist. Dazu zählen manche Forscher (Anderson & Funke 2013) aber auch seriell ablaufende Handlungsweisen, wie z. B. die Anwendung komplexer Lösungsalgorithmen bei kognitiven Aufgaben, oder den Einsatz von Suchheurismen, etwa bei der Beschaffung von Informationen zu einem bestimmten Sachverhalt in einer Bibliothek. Neben dem deklarativen Wissen („In welcher Datenbank kann zu welchem Gegenstand Auskunft gefunden werden?“) kommt nicht-deklaratives, prozedurales Wissen in Form von Suchheurismen zur Anwendung („Wie sucht man mit Schlagworten?“ oder „Wie verknüpft man in einer Suche mehrere Schlagworte?“ oder „Wie lässt sich eine Suche anhand bestimmter Aspekte und Operationen einschränken?“). Das folgende Beispiel soll zeigen, das Inhalte des prozeduralen Gedächtnisses unmittelbar nur bedingt durch Inhalte aus dem deklarativen Gedächtnis beeinflussbar sind: Die Kenntnisse von physikalischen Prozessen beim Fußballspielen – etwa der Beeinflussbarkeit der Flugbahn eines Balles durch unterschiedliche Krafteinwirkungen – führt zumindest nicht unmittelbar zur Entwicklung eines besseren Schussverhaltens bei einem Fußballspieler. Nur mit erheblichem Übungsund Zeitaufwand und durch Ausführung der entsprechenden Verhaltensweisen kann dies allmählich erworben und optimiert werden. Für das Fußballbeispiel würde dies bedeuten, dass physikalisches Wissen nur indirekt, über entsprechend motorisch-prozedurale Trainingsmaßnahmen, in die Schusstechnik eines Fußballspielers integriert werden könnte.

Abseits der klassischen Beispiele zum prozeduralen Wissen, mit starker Ausrichtung an motorisch orientierten Fertigkeiten wie Sport oder dem Spielen eines Musikinstruments, wird die Grenzziehung zwischen deklarativem und prozeduralem Wissen fließend. Dies gilt vor allem für den Erwerb schulischer Fertigkeiten, wie z. B. mathematischer Kompetenzen im Bereich der Grundrechenarten. Wissen wird hier explizit und verbalisierbar (deklarativ) als Rechenregeln oder -algorithmen vermittelt. Die Fertigkeit, diese Rechenregeln im konkreten Fall anzuwenden, repräsentiert aber prozedurales Wissen. Innerhalb der mathematischen Fertigkeiten existiert für jede Problemstellung deklaratives Wissen, auch wenn dieses anschließend, durch Übung in seiner Anwendung zunehmend automatisiert, in prozedurales Wissen überführt wird. Anderson schildert in seiner ACT-Theorie den Übergang von deklarativem in prozedurales Wissen (vgl. z. B. Anderson & Lebiere 1998) und konstatiert, dass ursprünglich deklaratives Wissen, das in prozedurales Wissen überführt wurde, später nicht mehr explizit abrufbar ist. Dem widersprechen de Jong und Ferguson-Hessler (1996) indem sie auch das verbalisierbare Wissen über einen Lösungsweg als prozedurales Wissen bezeichnen.

2.3.6

Formen der Wissensrepräsentation im Langzeitgedächtnis

Im Folgenden soll auf unterschiedliche Formen der Wissensrepräsentation eingegangen werden. Dabei handelt es sich um Modellvorstellungen wie dieses Wissen langfristig gespeichert und organisiert wird. Ferner zeigen diese Modelle, welche Anteile des Wissens überhaupt gespeichert und verarbeitet werden und welche Information dann für einen Abruf tatsächlich zur Verfügung steht. Innerhalb der theoretischen Betrachtung der Wissensrepräsentation werden zwei Einheiten unterschieden: Begriffe und Relationen zwischen Begriffen. Begriffe sind elementare Wissenseinheiten und ermöglichen klassifizierendes Erkennen. Dazu werden kognitive Strukturen gebildet in denen Bedeutungen über einzelne Aspekte der Wirklichkeit abgelegt und organisiert sind. Begriffe werden mit einem Wort oder Symbol bezeichnet, das nicht mit ihrer Bedeutung zu verwechseln ist. Die Bedeutung eines Begriffs entsteht durch Unterscheidung verschiedener Aspekte eines Sachverhalts und über das Erkennen der Relationen zwischen diesen Elementen. Begriffe lassen sich daher z. B. in Netzwerken organisieren und entsprechend ihres Inhalts darstellen. Generell hat sich eine Unterscheidung von zwei Begriffsarten in der Wissenspsychologie etabliert: Eigenschafts- und Erklärungsbegriffe. Eigenschaftsbegriffe sind Kategorien, mit denen sich Objekte und Phänomene der Wirklichkeit anhand bestimmter Merkmale ordnen und kategorisieren lassen (z. B. bestimmte Vogelarten). Eigenschaftsbegriffe werden über das Erkennen relevanter und herausragender Attribute gebildet, die für die meisten Exemplare einer Kategorie charakteristisch sind („Vögel können fliegen.“; „Vögel haben Federn.“).

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Kapitel 2  Gedächtnis und Wissenserwerb

Dabei können sich die charakteristischen Eigenschaften auf die Funktion eines Gegenstandes („Auto – Fortbewegung“) oder das Erscheinungsbild („Vogel – Federkleid“) beziehen. Es geht also um den Erwerb einer Bezeichnung und das Verstehen seiner Bedeutung. Demgegenüber haben Erklärungsbegriffe die Funktion, Phänomene oder Funktionen von Wissensinhalten zu deuten und/oder zu verstehen. 1 Propositionale Repräsentationen

O P1 S Kilian

ein Heft

S P2

P

P kauft

neues

. Abb. 2.3 Propositionale Netzwerkdarstellung des Satzes „Kilian kauft ein neues Heft“. Die Kreise repräsentieren die Propositionen (P1 und P2) und werden auch als Knoten bezeichnet. Die Pfeile verweisen auf die unterschiedlichen funktionalen Elemente der Propositionen (S D Subjekt, O D Objekt, P D Prädikat)

Zur Frage, wie die Bedeutung von Information im (deklarativen) Langzeitgedächtnis gespeichert und repräsentiert werden, hat sich seit den 1970er-Jahren die Darstellung von Propositionen etabliert. Unter einer Proposition wird in der wurde, variiert die Wiedergabe der propositionalen Inforkognitiven Psychologie die kleinste Wissenseinheit verstan- mation über unterschiedliche Individuen hinweg („Das neue den, die eine selbständige Aussage bilden kann. Dieser Begriff Heft wurde von Kilian gekauft“ oder „Kilian kaufte ein Heft, ist aus der Linguistik und Logik übernommen worden. Eine das neu war“). Entsprechend wird ein Schüler oder eine SchüProposition lässt sich logisch als wahr oder falsch beurtei- lerin gelernte Information (egal ob gelesen, gehört oder auf len und am besten an sprachlicher Information erläutern. anderem Zugangsweg erworben) meist nicht wörtlich wieAuf der Grundlage vorausgegangener Lernerfahrungen ha- dergeben, außer es geht um wörtlich auswendig gelernte ben sich im Gedächtnis zwischen den verschiedenen Elemen- Sätze. Eine sinngemäße Wiedergabe zeigt also eher eine erten Verbindungen (Assoziationen) gebildet, die sich in Form folgreiche Verarbeitung der enthaltenen relationalen Bezüge von Aussagen darstellen lassen. Auf Basis dieser Aussagen oder der zugrundeliegenden Konzepte an. lassen sich entsprechende Netzwerke bilden (Propositionale Netzwerke; . Abb. 2.3), in denen logisch zusammenhängen-1 Semantische Netzwerke de Aussagen gespeichert sind. Folgender Satz lässt sich in zwei Werden Informationen nach ihrer kategorialen Zugehörigeinzelne Aussagen aufteilen. keit gespeichert und repräsentiert, ist es notwendig, diese InKilian kauft ein neues Heft. formationen zunächst vom unmittelbaren Wahrnehmungs4 Kilian kauft ein Heft. eindruck und von spezifischen Erfahrungen zu abstrahie4 Das Heft ist neu. ren. Dazu werden herausragende Merkmale von Objekten einer Kategorie erfasst und im Sinne eines mentalen, protoWäre einer dieser zwei einfachen Sätze falsch, wäre auch der typischen Vorstellungsbildes „gesammelt“. Z. B. haben Mitkomplexere Ausgangssatz nicht richtig. Die einfachen Aus- glieder der Kategorie „Hase“ lange Ohren, können Haken sagen entsprechen den Propositionen, die dem komplexen schlagen, fressen bevorzugt Gras, Kräuter und Mohrrüben, Satz zu Grunde liegen und sind damit separate Bedeutungs- haben hervorstehende Schneidezähne und ein kuscheliges einheiten. Empirische Studien (z. B. Sachs 1967) ergaben den Fell. Worin besteht der Nutzen einer derartigen RepräsentaNachweis, dass nicht der exakte Wortlaut von Sätzen ge- tion der Kategorie „Hase“? Anderson und Funke (2013) sieht speichert wird, sondern die enthaltenen Propositionen. In eine Effizienzsteigerung bei der Repräsentation und Mitteilder Forschung zu Propositionen hat es sich durchgesetzt, barkeit von persönlicher Erfahrung („Ich habe den Hasen die Relationen in einer Proposition im Hinblick auf ihre be- gestern mit Löwenzahn gefüttert.“ anstatt „Ich habe gestern deutungshaltigen Elemente darzustellen. Diese bestehen aus dieses Tier mit den langen Ohren und den hervorstehenArgumenten wie einem Subjekt (z. B. Kilian) und einem Ob- den Schneidezähnen, das ein kuscheliges Fell hat und Haken jekt (z. B. Heft), die über ein Prädikat (z. B. kauft) in Bezie- schlagen kann, mit Blättern einer Pflanze gefüttert, die gelbe hung gesetzt werden. Man entnimmt einer Proposition also Blüten hat und einen milchigen Saft. . . “). Im Kommunikatietwas über das Subjekt, das etwas tut oder mit dem etwas onsprozess kann eine Person, der vom Füttern eines Hasen geschieht, ebenso etwas über Ziele einer Aktivität, über die berichtet wird, somit gewisse Vorhersagen über das AusseZeitpunkte oder Orte, an denen eine Aktivität stattfindet und hen, die Charakteristik und das Verhalten des Hasen machen, die Personen oder Gegenstände mit denen etwas stattfindet. sofern Vorwissen über die mitgeteilte Erfahrung vorliegt. Ist Propositionen lassen sich auf unterschiedliche Weise darstel- dies der Fall, wird für die zuhörende Person die mitgeteilte Erlen, z. B. in grafisch-propositionalen Netzwerkdarstellungen fahrung ohne großen Aufwand nachvollziehbar. Semantische (. Abb. 2.3) oder in linearen Darstellungen: Netzwerke stellen somit eine Möglichkeit dar, wie eine derartige Kategorisierung gebildet, dargestellt und zur Interpreta4 (Heft, Kilian, kaufen) tion eigener und fremder Erfahrungen genutzt werden kann. 4 (neu, Heft) Eine Form eines semantischen Netzwerksmodells wurde von Beim Abruf von Informationseinheiten aus dem Gedächt- Collins und Quillian (1969) vorgeschlagen: In dem von ihnen nis müssen Lernende also die Bedeutung entsprechend ihrer propagierten Netzwerk werden Informationen über unterRepräsentation im propositionalen Netzwerk abrufen und in schiedliche Kategorien hierarchisch gespeichert (. Abb. 2.4). Sätzen wiedergeben. Da aber nur der Sinngehalt gespeichert Darin sind Oberbegriff-Unterbegriff Relationen wie z. B. „Ei-

33 2.3  Komponenten des menschlichen Gedächtnisses

hat eine Haut kann sich bewegen Tier

frisst atmet

hat Kiemen

hat Flügel Vogel

Fisch

kann fliegen

hat Flossen

hat Federn

kann singen Amsel

Pinguin ist schwarz-grau

ist Räuber

frisst Fische kann schwimmen kann nicht fliegen

kann schwimmen

Hai

Lachs ist gefährlich

lebt im Meer ist essbar schwimmt stromaufwärts zum Laichen

. Abb. 2.4 Ein hypothetisches hierarchisches Netzwerk mit drei Stufen (nach Collins und Quillian 1969)

ne Amsel ist ein Vogel“ gespeichert. Wenn also ein Merkmal1 Schemata („kann fliegen“) eines Konzepts wie „Amsel“ nicht direkt bei In Schemata sind kategoriale Informationen über spezifidem Konzept gespeichert ist, kann es von einem übergeord- sche, häufig auftretende Situationen in abstrahierter Weise neten Konzept abgerufen werden. niedergelegt. Das bedeutet, dass die Information über ein An den ursprünglich postulierten semantischen Netz- bestimmtes Objekt oder Konzept in abstrakter, allgemeiner werkmodellen wurde kritisiert, dass es Abweichungen in Form gespeichert ist und auf vorausgegangenen Erfahrungen einer Unterkategorie gibt, die mit einer Oberkategorie nur beruht. Ein Schema enthält Wissen, das in Form von Leerstelunzureichend in Einklang zu bringen sind. Dazu lässt sich len oder Slots organisiert ist. Das Schema eines Vogels entdas Bespiel des Pinguins aus der Kategorie „Vogel“ anfüh- hält also Vorstellungen über das Erscheinungsbild („Feder“, ren. Er kann nicht fliegen, obwohl dies in der hierarchischen „Schnabel“), was ein Vogel typischerweise macht (“fliegen“), Oberkategorie so festgelegt ist und gehört aber trotzdem der welchen Lebensraum („Baum“, „Nest“) er bewohnt und dass Kategorie „Vogel“ an. Auf Basis dieser Kritik wurde diskutiert, er einer übergeordneten Kategorie zuzuordnen ist („Tiere“). wie zwingend bzw. genau derartige Kriterien eingehalten sein Gibt es unterschiedliche Exemplare eines Schemas, können müssen. Ferner wurde festgestellt, dass es damit Konzepte die jeweiligen Ausprägungen der Attribute in die Leerstellen gibt, die sehr typische und eher untypische Vertreter haben oder Slots eingefügt werden. So könnten in den Slots „na(Rosch 1975). Z. B. zählen Amsel und Kanarienvogel im Be- türlicher Lebensraum“ zu den Schemata von „Amsel“ und reich der Kategorie Vogel zu den typischen, Pinguin, Strauß „Pinguin“ jeweils unterschiedliche Begriffe stehen, bei Amsel und Huhn eher zu den untypischen Vertretern. Die Zuge- z. B. „gemäßigte Zonen Mitteleuropas, Nordafrika und südlihörigkeit von Objekten zu einer Kategorie ist also nicht klar ches Australien“, hingegen bei Pinguin „Küstengewässer der definiert und kann über unterschiedliche Personen hinweg Antarktis, Neuseelands, Südafrikas und südliches Australischwanken. en“. Für die typischen Ausprägungen eines Schemas gibt es In semantischen Netzwerken werden nur Eigenschaften Standard- oder Defaultwerte, diese sind aber nicht zwingend, der jeweiligen Konzepte relativ statisch und ohne Berücksich- lassen also Ausnahmen zu, beziehungsweise können übertigung des Kontextes gespeichert. Damit werden derartige schrieben werden. Der Standardwert des Schemas „Vogel“ Repräsentationen der tatsächlichen Komplexität der Kon- im Slot „Fortbewegung“ könnte also beispielsweise „fliegen“ zepte nicht annähernd gerecht. Modernere Ansätze greifen bedeuten. Die Standardwerte in den Slots der Schemata bildennoch die ursprüngliche Idee der kategorialen Organisa- den also ab, was Dingen, Objekten oder auch Ereignissen tion von Wissen auf. Sie betrachten dabei aber die kategoriale in der Regel gemeinsam ist. Trotzdem ist es unproblemaZuordnung wesentlich dynamischer bzw. propagieren dyna- tisch, den Pinguin als Exemplar dem Schema „Vogel“ zuzumische neuronale Netzwerke zur Darstellung und Simulation ordnen, da Standardwerte entweder überschrieben werden der kategorialen Organisation von Bedeutungen (vgl. dazu können oder aber auch Ausnahmen zulassen. Am Beispiel des einen guten Überblick bei Hoffmann & Engelkamp 2017). Ein „Vogel“-Schemas wird auch deutlich, dass manche Attribute anderer Weg der Darstellung von Wissen in Netzwerken sind eher wahrnehmungsbezogen („Erscheinungsbild: Federn“), Schemata. andere eher propositional („Fortpflanzung: legen Eier“) sind.

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Kapitel 2  Gedächtnis und Wissenserwerb

Manche Forscher gehen auch davon aus, dass episodische Information im Sinne einer persönlichen Erfahrung mit einer spezifischen Erscheinungsform des Schemas repräsentiert sind („Hansi, mein erster Kanarienvogel“). Schemata ermöglichen es zum einen, Vorhersagen über die Ausprägung von Attributen eines Gegenstandes vorzunehmen, auch dann, wenn diese Information aktuell nicht verfügbar ist. Zum anderen können Informationen zu einem aktuell wahrgenommenen Geschehen aus den entsprechenden Schemata ergänzt werden, wie das folgende Beispiel frei nach Rumelhart und Ortony (1977) deutlich macht: 4 Sarah hörte das Eisauto kommen. 4 Sie erinnerte sich an das Taschengeld. 4 Sie lief rasch in das Haus.

ihre Versuchspersonen einzeln in einen typischen Büroraum eines Hochschuldozenten und baten diese dann unmittelbar in einen anderen Raum. Nun wurden die Versuchspersonen gebeten, alle Gegenstände aus dem Dozentenzimmer aufzuschreiben, an die sie sich noch erinnerten. Brewer und Treyens nahmen an, dass alle Gegenstände, die zu dem Frame über Büros von Dozenten passten, relativ gut wiedergegeben werden sollten. Hingegen sollten Gegenstände, die normalerweise nicht mit einem Dozentenbüro in Verbindung gebracht werden, schlechter behalten werden. Zusätzlich erwarteten sie, dass Gegenstände, die man gemeinhin mit einem Büroraum assoziiert, die aber nicht in der aktuellen Versuchsanordnung zu finden waren, fälschlicherweise von den Probanden genannt werden würden. Alle drei Annahmen ließen sich empirisch bestätigen. Interessanterweisewurden tatsächlich Dinge von den Versuchspersonen „ergänzt“, die sich nicht im Dozentenzimmer befanden, die man aber normalerweise dort vermutet (z.B. Bücher, Aktenregal).

Wahrscheinlich lassen sich folgende Annahmen über Sarah anstellen: Sarah hat Lust auf Eiscreme und will sich welche am Eisauto kaufen. Eiscreme kostet aber Geld. Sarah hat Taschengeld, dieses ist aber im Haus. Sarah hat eine begrenzte Zeit, bevor das Eisauto wieder abfährt, und muss sich daher Die Befunde von Brewer und Treyens (1981) legen dar, beeilen, das Geld aus dem Haus zu holen. dass Schemata und Frames nicht nur bei aktuellen ProblemAuch wenn sich die Geschichte anders zutragen kann, stellungen und Wahrnehmungen helfen, sondern auch beim ist es doch wahrscheinlich, dass die Annahmen zutreffen, Abruf von episodischer Informationen aus dem Langzeitgeauch wenn keine oder nur wenig explizite Information zu dächtnis. Gerade wenn Teile der Erinnerung nicht mehr verden Annahmen in den drei Sätzen zu finden sind. Hierbei fügbar sind, wird die „Standardinformation“ aus den Schemawird deutlich, dass Schemata es ermöglichen, fehlende Infor- ta/Frames zur Wissensrekonstruktion genutzt. Ein weiteres mation auf Basis der vorhandenen Information zu ergänzen Beispiel für Schemata, die im Bereich von Handlungsfolgen und adäquat in den Kontext zu rücken. Das Potenzial von die Informationsverarbeitung erleichtern, sind sogenannte Schemata liegt nicht nur in der Ergänzung von fehlender In- „Skripts“. formation bei alltäglichen Schilderungen, sondern auch in der Anwendung bei Problemlöseprozessen. So lässt sich die1 Skripts – Schemata für Handlungsfolgen Abstraktion eines bereits erfolgreich bewältigten Problemlö- Neben den Schemata über Personen, Objekte und visuellseprozesses, z. B. der Lösung einer mathematischen Dreisatz- räumliche Repräsentationen, existieren auch Modellannahaufgabe, bei ähnlichen Problemstellungen erneut anwenden. men darüber, wie Informationen zum typischen Ablauf von Dies geschieht indem die Spezifika einer aktuellen Problem- Handlungen und Ereignissen in Schemata oder sogenannte stellung mit den Standardwerten des Schemas verglichen und Skripts (Schank & Abelson 1977) repräsentiert werden köndann eingesetzt werden. Z. B. werden Slots der abstrakten Va- nen. Jeder Mensch hat derartige prototypische Ereignisfolriablen des Dreisatzes mit konkreten Zahlen der aktuellen gen als verallgemeinerbare Handlungsschemata individuell Problemstellung ausgefüllt. repräsentiert. Bower, Black und Turner (1979) baten VerEs existieren aber nicht nur Schemata zu verbalisierbarer, suchspersonen, typische Ereignisfolgen wie z. B. den Ablauf abstrakter Information, sondern auch zu visuellen Bereichen. eines Restaurantbesuches zu schildern. Zwar fanden sie keiDiese werden als Frames bezeichnet und stellen Schemata ne absolute Übereinstimmung der einzelnen Schilderungen über Gegebenheiten in der physischen Welt wie z. B. Be- – keine einzige Handlung wurde von allen Versuchspersonen standteile eines Gebäudes (Dach, Fußboden, Fenster, Türe übereinstimmend genannt – trotzdem waren beträchtliche usw.) und entsprechenden Slots über die Beschaffenheit und Gemeinsamkeiten in den Schilderungen zu finden. So gaben das Zusammenspiel dieser Gegebenheiten („Ein Wohnhaus mehr als 70 % der Befragten an, dass zu einem normalen Reist aus Holz, Stein, Mörtel, Metall usw. gebaut.“; „Durch die staurantbesuch Tätigkeiten wie „Platz nehmen, Speisekarte Tür betritt man ein Wohnhaus.“) dar. Derartiges Wissen ge- lesen, Essen bestellen, Essen, Zahlen und Gehen“ zum Stanwährleistet eine schnelle und ressourcenschonende visuelle dardablauf gehören. Informationsverarbeitung und das Erschließen von KontextSkripts beeinflussen in gleicher Weise wie alle Arten von information (7 Studie). Schemata die Enkodierung und das Speichern von ereignisbezogenen Informationen. Fehlende Informationen werden ergänzt und Erwartungen über die nächste Teilhandlung Studie: Die Bedeutung von Frames bei der Rekonstruktion werden abgeleitet. Dies ermöglicht eine ressourcenschonenvon visuell-räumlichen Gedächtnisleistungen de Bewältigung alltäglicher Handlungsabläufe und entspreBrewer und Treyens (1981) haben die Bedeutung von Frames chend dem Kontext angemessene Verhaltensweisen, da über für die Wahrnehmung von Szenen und die visuelle GedächtSkripts Informationen darüber verfügbar sind, was in einer nisleistung auf eindrucksvolle Weise nachgewiesen: Sie führten

35 2.3  Komponenten des menschlichen Gedächtnisses

Situation zu erwarten, zu tun aber auch zu unterlassen ist. die Annahmen und Vorhersagen auf Basis des mentalen MoEine weitere Funktion von Skripts besteht darin, neuarti- dells nicht zu, kann das mentale Modell entweder verworfen ge Handlungsabläufe auf Basis ähnlicher Handlungsabläufe und durch ein alternatives Gegenmodell ersetzt werden oder leichter zu internalisieren. Dies geschieht, indem vergleich- entsprechend der in der Wirklichkeit vorgefundenen Gegenbare Teilhandlungen aus bereits vorhanden Skripts übernom- evidenz modifiziert werden. Gerade für das Ausgangsbeimen werden. So konnten Studierende, denen eine unbekann- spiel fehlerhafter physikalischer Konzepte/mentaler Modelle ten Erzählung präsentiert wird, nicht nur fehlende Angaben ist die Rolle des Lehrenden von enormer Bedeutung. Im Rahim Erzählungsverlauf ergänzen, sondern auch ungeordnete men des Conceptual-Change-Ansatzes (vgl. eine Übersicht bei Erzählungen, deren Ablauf in der Reihfolge nicht gängigen Vosniadou & Mason 2012) wird thematisiert, mit welchen Erzählschemata gehorcht, diese ohne Schwierigkeiten verste- Lehrmethoden eine Veränderung fehlerhafter Konzepte bzw. hen und zusammenfassen (vgl. Kintsch, Mandel & Kozmins- mentaler Modelle initiiert und unterstützt werden kann. ky 1977). Das bedeutet, dass Skripts für das Textverstehen eine Rolle spielen, da über sie fehlende Informationen er-1 Metakognitives Wissen gänzt werden können. Das birgt auf der anderen Seite auch Die Begriffe „Metakognition“ und „Metagedächtnis“ wurden die Gefahr, dass durch die Ergänzung von Informationen in den 1970er Jahren von Flavell in die wissenschaftliche Lidurch Skripts auch spezifische Gedächtnisfehler „rekonstru- teratur eingeführt. Die Vorsilbe „Meta“ soll andeuten, dass iert“ werden, also Informationen abgeleitet werden, die so in es sich um höherrangige, übergeordnete Prozesse der Kognieinem Text oder einer Handlung nicht vorhanden waren (vgl. tion handelt. Metakognition wird oft als das „Denken über Owens, Bower & Black 1979). das Denken“ oder als „Wissen über das Wissen“ dargestellt. Insofern nimmt metakognitives Wissen eine Sonderstellung ein, da es unter anderem das Wissen über den Wissenserwerb 1 Mentale Modelle – subjektive Abbilder des thematisiert. Flavell (1979) charakterisiert Metakognition geFunktionierens der Welt Die Forscher Michael McCloskey und Deborah Kohl (1983) nerell als Wissen einer Person über kognitive Zustände und baten studentische Versuchspersonen um eine Vorhersage in Prozesse, wenngleich diese Zustände und Prozesse der Person einer klassischen Physikaufgabe zum Impulserhaltungssatz: nicht notwendigerweise bewusst sein müssen. MetakogniEin in einer spiralförmigen Röhre beschleunigter Ball tritt aus tives Wissen wird auch weiter nach den unterschiedlichen der Röhre aus. Die Frage lautete, ob sich dieser Ball nach dem Bereichen der Kognition, also z. B. Wissen über die AufmerkAustritt aus der Röhre spiralförmig, bogenförmig oder gera- samkeit oder das Gedächtnis („Metagedächtnis“) differendeaus bewegt. Über die Hälfte der Befragten vermuteten, dass ziert. Generell wird in Analogie zu verschiedenen Formen des sich der Ball nicht geradeaus – die richtige Antwort – sondern bogen- oder spiralförmig aus der Röhre heraus bewegen Langzeitgedächtnisses zwischen deklarativem und prozeduwürde. Dabei griffen offensichtlich viele der Studierenden ralem metakognitiven Wissen als Wissensformen über das auf erfahrungsbasierte, naive physikalische Konzepte zurück. Gedächtnis unterschieden (vgl. Lockl & Schneider 2007). Johnson-Laird (1983) bezeichnet diese als mentale Modelle. Deklaratives metakognitives Wissen wird noch weiter ausdifUnter mentalen Modellen versteht man subjektive Repräsen- ferenziert in Wissen zu Strategien-, Aufgaben- und Personentationen von relevanten Faktoren und ihrem Zusammenwir- variablen. Unter Personenvariablen können Charakteristika ken in der konkreten Welt. Darunter fallen z. B. physikalische der eigenen Person oder anderer Personen verstanden werund soziale Prozesse sowie deduktive oder induktive Schluss- den. Darunter fallen Vorstellungen über Stärken und Schwäfolgerungen. Mentale Modelle werden wie Schemata, Skripts chen in Bezug auf die eigene Kognition, also beispielsweise, oder Frames erfahrungsbasiert generiert. Gegenüber diesen dass man sich bildhafte Information nur schwer merken kann stellen sie Modellvorstellungen über das dynamische Zusam- aber ein relativ gutes Gedächtnis für Zahlen hat, oder dass menwirken von Zuständen, Bedingungen für diese Zustände ein Mitglied der eigenen Lerngruppe sehr gerne abends lernt, und Funktionen in komplexen Systemen dar. Dazu können man selbst aber eher am frühen Morgen gut lernen kann. neben den bereits erwähnten naiven physikalischen Kon- Aufgabenvariablen beziehen sich auf Informationen, die eizepten z. B. auch Modellvorstellungen über die Dynamik in ne Lernanforderung erschweren oder vereinfachen, z. B. die Gruppen, implizite psychologische Annahmen zur mensch- Länge einer zu lernenden Vokabelliste oder die scheinbare lichen Intelligenz oder über das Funktionieren komplexer Vertrautheit italienischer Vokabeln durch ihre Ähnlichkeit technischer Geräte gezählt werden. Mentale Modelle füh- mit bereits bekannten lateinischen Begriffen. Strategievariaren zu analogen und realitätsnahen Repräsentationen, die im blen beinhalten Wissen über Enkodierungs- und AbrufstraArbeitsgedächtnis verarbeitet und im deklarativem Langzeit- tegien, also die Kenntnis warum es sich beispielsweise um gedächtnis abgelegt werden (Johnson-Laird 1983). Mentale eine Elaborationsstrategie handelt und in welchem ZusamModelle sind weniger komplex als die Ihnen zugrundeliegen- menhang man diese lernförderlich einsetzen kann. Dieser de Wirklichkeit. Johnson-Laird führt dies vor allem auf die Wissensbereich wird gelegentlich als eigenständige Form bebegrenzten Arbeitsgedächtnisressourcen zurück, die bei der zeichnet, das sogenannte konditionale metakognitive Wissen. Generierung mentaler Modelle eine Rolle zu spielen schei- Dazu zählt auch die Kenntnis, warum z. B. manche Stratenen. Sie werden, wie im obigen Beispiel, zur Ableitung von gien in einem bestimmten Kontext besser funktionieren als Schlussfolgerungen und Vorhersagen hinzugezogen. Treffen andere. Prozedurales metakognitives Wissen wird als relativ

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Kapitel 2  Gedächtnis und Wissenserwerb

unabhängig vom deklarativen metakognitiven Wissen angesehen. Es umfasst die Fähigkeit zur Überwachung, Regulation und Kontrolle von kognitiven Tätigkeiten, oder allgemein: das Wissen, wie die Steuerung von kognitiven Vorgängen vorzunehmen ist (vgl. Nelson & Narens 1994). Vor allem die Überwachung (Monitoring) und die Kontrolle von Lern- und Gedächtnisprozessen ist dabei in den Fokus der Forschung gerückt. Überwachungsvorgänge ermöglichen das Beobachten und Reflektieren eigener kognitiver Prozesse, helfen also einem Lernenden sich den momentanen Zustand eines Lernvorgangs in Relation zum gesetzten Ziel zu vergegenwärtigen. Beispielsweise kann eine Person das Gefühl haben, trotz mehrmaligen Lesen einen Text noch nicht verstanden zu haben oder bei nur einmaligem Wiederholen eine Liste von Vokabeln bereits verinnerlicht zu haben. Demgegenüber sind metakognitive Kontrollvorgänge die Entscheidungen und Handlungen, die aufgrund der Überwachungsaktivitäten bewusst oder unbewusst getroffen werden. Ist einer Person nach mehrmaligem Durchlesen durch die Überwachungsaktivitäten bewusst geworden, dass sie den Text noch nicht verstanden hat, wird sie im Rahmen der Kontrollaktivitäten den Text entweder nochmals lesen oder zusätzliche Strategien zum besseren Textverständnis anwenden. In den letzten Jahren gab es auch Versuche, bestimmte Teilbereiche des metakognitiven Wissens weiter zu spezifizieren oder zu erweitern (vgl. Efklides 2008). So wurden metakognitive Teilbereiche postuliert, in denen epistemologische Überzeugungen thematisiert werden, also die Frage danach, was Wissen überhaupt ist, auf welche Weise es erworben wird und was die Qualität und den Anspruch an Wissen definiert (vgl. Khine 2008). Die Bedeutung metakognitiven Wissens wird sowohl im Rahmen der kognitiven Entwicklung als auch für Beschreibung interindividueller Unterschiede bei Lernvorgängen immer wieder betont. Bereits ab dem Kindergartenalter ist metakognitives Wissen rudimentär nachweisbar, mit zunehmender Erfahrung im Bereich der Kognition und steigender Beschulungsdauer nimmt nicht nur die Anzahl verfügbarer Strategien zu, sondern auch die Selbsteinschätzung eigener kognitiver Prozesse wird immer realistischer. Schneider und Pressley (1997) haben in ihrem Konzept des „guten Informationsverarbeiters“ exemplarisch herausgestellt, in welcher Weise metakognitives Wissen bei der Planung und Kontrolle von Lernvorgängen eine herausragende Rolle spielt.

2.4

2.4.1

Modellannahmen zu Erinnerungs- und Vergessensprozessen Abruf vs. „Wiedererinnern“

Um die Bedeutung des Vergessens für Lernprozesse zu verdeutlichen, muss zunächst auf das Abrufen von Informationen aus dem Langzeitgedächtnis eingegangen werden. Generell unterscheidet man dabei zwischen Wiedererinnern (Recall) und dem Wiedererkennen (Rekognition) von Infor-

mationen. Beide Arten des Abrufs lassen sich exemplarisch anhand einer schulischen Prüfungssituation erklären. In einer typischen Multiple-Choice-Aufgabe werden einem Prüfling neben einer Frage – auch Itemstamm genannt – (z. B.: „Welche der folgenden Städte liegt/liegen in Europa?“) mehrere Antwortmöglichkeiten angeboten (z. B.: „A New York; B Paris; C Rom; D Sydney“). Aus dieser Auswahl muss der Prüfling nun die richtigen Antworten – auch Targets genannt – (in diesem Fall: Antworten B und C) identifizieren und von den falschen Antwortmöglichkeiten trennen, die als Distraktoren bezeichnet werden (Antworten A und D). Die Informationen müssen also nur aus einer Auswahl wiedererkannt (Rekognition) werden. Dies ist in der Regel leichter, als die Informationen zu erinnern bzw. zu reproduzieren. Beim Wiedererinnern (Recall) gibt es keine Hinweise außer der entsprechenden Frage (z. B.: „Nennen Sie vier Städte, die in Europa liegen!“). Daher ist die Leistung in Gedächtnisuntersuchungen bei Recall-Aufgaben fast immer schlechter als in Rekognitions-Aufgaben (vgl. auch weitere Unterscheidungen und typische experimentelle Anordnungen zur Untersuchung des Abrufs aus dem Gedächtnis; 7 Im Fokus). Im Fokus: Typische Lern- und Gedächtnisexperimente

Normalerweise lassen sich in Lern- und Gedächtnisexperimenten drei Phasen unterscheiden: 1. Präsentations- oder Studierphase 2. Behaltens- oder Retentionsphase 3. Abruf- oder Behaltenstestphase In der Präsentations- oder Studierphase (Enkodierphase) werden Stimuli präsentiert, die von der jeweiligen Versuchsperson gespeichert werden müssen. Als typische Reize (Items) kommen hier klassischerweise verbale Stimuli in Form von Wortlisten, Wortpaaren, Zahlenreihen oder auch sinnarme Silben zum Einsatz. Möglich ist auch die Präsentation von visuellen oder räumlichen Informationen wie Bildern, Formen, Bewegungsmustern oder Wegen. Dabei können die Items einmalig oder mehrmalig für eine festgesetzte Dauer präsentiert werden, oder solange, bis eine Versuchsperson alle Items gelernt hat. Daran schließt sich die zweite Phase, die Behaltens- oder Retentionsphase an, in der die zu merkende Information im Gedächtnis behalten werden soll. Die Dauer dieser Phase ist experimentell variierbar und reicht von wenigen Sekunden bis zu mehreren Stunden oder Tagen. Ungewöhnlich sind längere Zeiträume wie Wochen oder gar Jahre. Fällt die Behaltensphase komplett weg – was für Kurzzeit- oder Arbeitsgedächtnisuntersuchungen häufig der Fall ist – schließt sich die Abruf- oder Behaltenstestphase direkt an das Enkodieren in der Präsentations- und Studierphase an. Dann spricht man von unmittelbarer Reproduktion oder unmittelbarem Abruf. Im Behaltenstest gibt die Versuchsperson all das wieder, was sie aus der Enkodierung während der ersten Phase (Studierphase) noch behalten hat. Hier sind unterschiedliche Abrufanforderungen möglich:

37 2.4  Modellannahmen zu Erinnerungs- und Vergessensprozessen

Entweder fordert man die Versuchsperson dazu auf, ohne Rücksicht auf die ursprüngliche Darbietungsreihenfolge alles ungeordnet wiederzugeben (Free Recall). Soll beim Abruf auch die Darbietungsreihenfolge mitberücksichtigt werden, spricht man von einem Serial Recall. Werden Stimuluspaare (z. B. Wortpaare wie „Hund – Knochen“) gelernt (z. B. beim Paar-Assoziationslernen), kann einer der beiden Stimuli als Hinweisreiz (Cue) fungieren und der andere muss entsprechend wiedergegeben werden (Cued Recall). Müssen in der Abrufphase die zu erinnernden Items aus einer Menge anderer Reize (Items) korrekt identifiziert werden, spricht man vom Wiedererkennen (Rekognition). Die Behaltensleistung ergibt sich aus der Anzahl der korrekt erinnerten Reize beim Wiedererkennen bzw. beim Wiedererinnern.

Theoretisch wird dieser Unterschied des Abrufs von Informationen aus dem Langzeitgedächtnis über die unterschiedliche Art und Komplexität der jeweils beteiligten Prozesse erklärt. Werden beim Wiedererinnern von Items aus einer gelernten Wortliste (z. B. Vokabelliste) zuerst potenzielle Itemkandidaten generiert (Generierungsphase) und dann geprüft, ob diese tatsächlich in der Liste vorkamen (Rekognizierungsphase), reicht hingegen beim Wiedererkennen eine einfachere Rekognitionsphase. In der dargebotenen Liste von Antwortalternativen muss/müssen lediglich der oder die „richtige(n)“ Inhalt(e) erkannt werden. Das bedeutet, dass beim Wiedererinnern in der Regel zwei Prozessphasen durchlaufen werden müssen, beim Wiedererkennen hingegen nur eine. Zum Verständnis des Unterschieds zwischen Recall und Rekognition ist es notwendig, das Prinzip der Enkodierspezifität (Tulving & Thomson 1973) einzuführen, das mit dem Abruf von Information eng verknüpft ist. Dies besagt, dass das Gelingen eines Abrufs vom Ausmaß der Ähnlichkeit von Enkodier- und Abrufsituation abhängt. Prinzipiell ist damit gemeint, dass neben der Enkodierung des zu erinnernden Inhalts auch immer weitere Informationen gespeichert werden, welche als zusätzliche Hinweisreize beim Abruf der Zielreize fungieren können. Dabei ist es entscheidend, welche zusätzlichen Informationen neben der explizit zu behaltenden Information noch gespeichert werden, in welchem Umfang das passiert und wie sie mit der zu merkenden Information im Zusammenhang stehen. Das Prinzip der Verbesserung des Abrufens durch ähnlichen Lern- und Erinnerungskontext wird Enkodierspezifität genannt (Tulving und Thomson 1973). Müssen z. B. italienische Wörter wie „tavolo“ (Tisch) oder „mela“ (Apfel) aus einer dargebotenen Wortliste behalten werden, gelingt ein späterer Abruf in der Regel besser, wenn mit den beiden Wörtern auch noch zusätzliche, sie unmittelbar betreffende Informationen gespeichert werden. Im Falle des Apfels, könnten dies visuelle Informationen wie seine Farbe oder Form sein, im Falle des Tischs, seine Farbe („braun“), das Material („Nußbaumholz“) und seine Form („rund“). Je mehr zusätzliche relevante Hinweisreize mit enkodiert werden, desto besser kann der spätere Abruf des

Zielreizes gelingen. Werden in der Abrufphase Hinweisreize aktiviert, „springt“ die Aktivierung auf den Zielreiz über und erleichtert so den Abruf dieser Informationen. Hinweisreize stellen damit Abrufhilfen dar und sind dann besonders wirksam, wenn sie plausibel zum Zielreiz „passen“. Das können zunächst einmal Informationen sein, die – um das Konzept der Verarbeitungstiefe aufzugreifen – zusätzliche phonologische oder semantische Hinweise zum Zielreiz liefern: etwa den Klang der Stimme der Lehrkraft beim Vorlesen der Wörter oder persönliche Assoziationen, wie etwa die Vorstellung, wie sich eine Katze anfühlt („weiches, flauschiges Fell“) oder wie ein Apfel schmeckt („süß und saftig“) oder wie das typische Erscheinungsbild des zu merkenden Items aussieht. Dabei spielt nicht nur die Plausibilität der Relation zwischen dem Zielreiz und den Hinweisreizen eine Rolle, sondern auch, mit welcher Güte diese miteinander verknüpft wurden. Die Verknüpfung hängt von der Zeit und den dafür aufgewandten Aufmerksamkeitsressourcen bei der Enkodierung ab. Aber auch situative Aspekte wie der allgemeine Zustand des Lernenden während der Enkodierung spielen eine Rolle. Dabei wird unter Zustand in diesem Zusammenhang sowohl die innere Befindlichkeit einer Person (Emotionen, Bedürfnisse, Motive, Bewusstseinsinhalte) als auch die außerhalb der Person liegenden Bedingungen (Temperatur, alleine vs. in Gesellschaft, Umgebung etc.) verstanden. So wurde von Godden und Baddeley (1975) eindrucksvoll nachgewiesen, dass Taucher, die Wortlisten unter Wasser lernten, diese auch unter Wasser besser abrufen konnten als an Land. Gleiches galt für Wortlisten die an Land gelernt wurden: Diese wurden besser an Land als unter Wasser wiedergegeben. Neben derartigen Befunden zu den Umgebungsvariablen wurde eine Reihe von Studien zur Rolle des physiologischen Zustands von Lernenden bei Enkodierung und Abruf durchgeführt. Ähnlich spektakulär wie der Befund von Godden und Baddeley mutet die Erkenntnis aus der Studie von Goodwin und Kollegen an (Goodwin, Powell, Bremer, Hoine & Stern 1969). Sie fanden, dass Informationen, die im betrunkenen Zustand gelernt wurden, auch besser in einem betrunkenen als in nüchternem Zustand wieder abgerufen werden konnten. Darüber hinaus wurde auch die Art des Abrufs untersucht. Der Effekt zeigte sich dann stärker, wenn das zu lernende Material wiedererinnert (Recall) werden musste, und schwächer, wenn der Abruf des Zielreizes über eine Rekognitionsanforderung getestet wurde. Aber auch natürliche Änderungen des physiologischen Zustandes wurden im Rahmen des „zustandsabhängigen Lernens“ untersucht. Miles and Hardman (1998) präsentierten eine zu lernende Wortliste und teilten ihre Versuchspersonen in zwei Gruppen auf: Eine Gruppe lernte die Wortliste in einer Ruhebedingung, die andere unter physiologischer Anstrengung – sie mussten auf einem Fahrrad-Ergometer sitzend ihren Puls konstant zwischen 120 und 150 bpm (Schlägen pro Minute) halten. Es zeigte sich, dass die Wortlisten besser abgerufen werden konnten, wenn die physiologischen Zustände von Enkodierung und Abruf übereinstimmten. Wurden in Ruhe gelernte Information im Zustand der erhöhten Herzrate abgerufen, führte dies zu Leistungseinbußen von ca. 20 %. Gleiches galt für Abruf von

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Kapitel 2  Gedächtnis und Wissenserwerb

Information in Ruhe, die unter erhöhter Herzrate gelernt wurde. Nicht nur der physiologische Zustand, sondern auch die Stimmungskongruenz des Lernenden zwischen Enkodierung und Abruf wirkt sich auf die Lernleistung aus. Eich, Macaulay und Ryan (1994) konnten in einem Experiment zeigen, dass das, was man in gehobener Stimmung lernt, auch entsprechend besser in gehobener Stimmung erinnert wird. Bei dem Transfer des Prinzips der Enkodierspezifität auf schulische Lernsituationen, soll zunächst nochmals betont werden, dass dieses Prinzip in stärkerem Maß beim Wiedererinnern und weniger beim Wiedererkennen eine Rolle zu spielen scheint. Dieser Sachverhalt kann z. B. bei der Gestaltung von Prüfungen eine Rolle spielen, indem beiden Abrufarten oder je nach Fragestellung einer der beiden stärker Rechnung getragen wird. Die Übertragbarkeit der Befunde hat, wie so oft in der kognitiven Psychologie, auch eine gewisse Einschränkung: Oft wurden Befunde im Labor anhand von Wortlisten und inhaltlich nur eingeschränkt zusammenhängendem Stimulusmaterial gewonnen. Damit wird möglicherweise die Rolle assoziativer Verknüpfungen von neuem mit bereits bestehendem Wissen in Untersuchungen zur Enkodierspezifität nicht adäquat eingeschätzt. Im Schulalltag dürfte es schwierig sein, eine vollständige situative Passung zwischen der Lern- und Prüfungsumgebung herzustellen. Eine weitere Möglichkeit, die im Zusammenhang gerade mit älteren Schülerinnen und Schülern diskutiert wird, besteht darin, sich mental in den Zustand der Enkodiersituation hineinzuversetzen (vgl. Smith 1984). Eine derartige Technik wird beispielsweise auch bei der Befragung von Augenzeugen im Rahmen des „Kognitiven Interviews“ eingesetzt. Hier werden Zeugen aufgefordert, sich kognitiv und emotional in die Beobachtungssituation zurückzuversetzen und die Situation so gut wie möglich akustisch und visuell vorzustellen. Um möglichst viele Hinweisreize zu aktivieren, sollen alle verfügbaren Details berichtet werden. Auch nebensächliche oder unwichtig erscheinende Details sollen dabei nicht ausgelassen werden. Das Ziel dieser Technik besteht darin, über Abrufhilfen möglichst viele Gedächtnisspuren zu reaktivieren. Im Unterschied zu einer Zeugenbefragung kann in einer schulischen Lernsituation eine Lehrkraft bereits auch auf die Enkodierphase Einfluss nehmen. So kann hier gezielt versucht werden, möglichst viele Hilfsreize in der Enkodierphase zur Verfügung zu stellen und den Abruf von Zielreizen entsprechend zu erleichtern. Ferner ist es möglich, Imaginationstechniken wie die Loci-Technik einzuführen. Hier werden in der Enkodiersituation zu behaltende Inhalte mit Plätzen an einem vertrauten Weg (Schulweg) oder Gegenständen in einem bekannten Raum (das eigene Arbeitszimmer) verknüpft. Die Imagination des Weges und der einzelnen Orte in der Abrufsituation stellt dann eine Passung zur Enkodiersituation her und erleichtert den Abruf der damit assoziativ verknüpften Zielreize. Die Bildung von Assoziationen als Verknüpfen von neu gelernter Information mit bereits vorhandener Information ist für das Lernen substantiell. Assoziationen stellen dabei strukturelle Verbindungen zwischen Gedächtnisspuren dar, die in ihrer Stärke variieren können. Die oftmals für das Ler-

nen als wünschenswert zitierte multiple Assoziationsbildung bedeutet nichts anderes, als dass über Assoziationen zwischen vielen Hinweisreizen und einem Zielreiz die Wahrscheinlichkeit für einen erfolgreichen Abruf steigt.

2.4.2

Vergessen

Im Kontext von Lernprozessen ist nicht selten zu beobachten, dass der Abruf nur teilweise oder gar nicht gelingt. Dieses Phänomen wird als Vergessen bezeichnet und bedeutet, dass Informationen aktuell nicht verfügbar sind. Für die Lernenden bleibt unklar, ob die Information nur nicht abrufbar ist oder für immer aus dem Gedächtnis verloren ist. Das Phänomen des Vergessens spiegelt aber lediglich die Ökonomie des Gedächtnisses wieder: Gedächtnisinhalte, die scheinbar wenig Bedeutung für die Informationsverarbeitung haben, werden möglicherweise vergessen. Das Langzeitgedächtnis (7 Abschn. 2.3.5) besitzt zwar eine schier unbegrenzte Speicherkapazität, hingegen scheint die Fähigkeit zum Abruf einer Begrenzung zu unterliegen (Bjork 2011). Gäbe es diese begrenzte Abrufkapazität nicht, würden wir uns an alles erinnern und in der unbegrenzten Erinnerung „untergehen“. Um im Hier und Jetzt sinnvoll und effizient agieren zu können, müssen wir bestimmte Sachverhalte problemlos erinnern, andere jedoch unterdrücken oder scheinbar vergessen. Deswegen wird durch den oftmaligen Abruf bestimmter Information (z. B. das täglich mehrmals benutzte Computerpasswort) auch deren Verfügbarkeit erhöht. Seltener benutzte Information wird hingegen unzugänglicher. Das heißt aber nicht, dass sie für immer verschwunden ist, sie rutscht quasi in den Hintergrund und kann bei Bedarf wieder reaktiviert werden. Der Vorteil dabei ist, dass seltener benutzte Information nicht den Abruf von häufiger benutzter Information stört. Vergessen wird in der experimentellen Gedächtnispsychologie über das Verhältnis von gelernter und abgerufener Information operationalisiert. Seit Ebbinghaus wird dabei oftmals untersucht, wie Vergessen über die Zeit verläuft. Zwei bekannte Phänomene, die das Vergessen von seriellen, also die Reihenfolge betreffende Informationen über die Zeit angehen, sind die sogenannten Primacy- und Recency-Effekte. Beide Effekte können im Rahmen des seriellen Wiedererinnerns (Serial Recall) auftreten: Versuchspersonen werden aufgefordert, seriell präsentierte Informationen (z. B. Items einer Wortliste) in der Reihenfolge, in der die einzelnen Listenitems gelernt worden sind unmittelbar wiederzugeben. Dabei lässt sich durchwegs finden, dass die zuerst (Primacy-Effekt) und die zuletzt dargebotenen Items (Recency-Effekt) besser behalten werden als die Items der Listenmitte. Im Rahmen der Mehrspeichermodelle wurde für den Primacy-Effekt die Speicherung im Langzeitgedächtnis und für den Recency-Effekt die Speicherung im Kurzzeitgedächtnis verantwortlich gemacht. Bei den Items des Listenanfangs kann in höherem Maße Rehearsal stattfinden, damit dürfte hier die Wahrscheinlichkeit höher sein, dass diese in das Langzeitgedächtnis transferiert werden. Die Items am Ende der Liste werden zwar nicht in das

39 2.4  Modellannahmen zu Erinnerungs- und Vergessensprozessen

Langzeitgedächtnis transferiert, dürften aber noch im Kurzzeitgedächtnis präsent sein und daher erinnert werden. Alternative Erklärungsansätze erklären den Primacy-Effekt damit, dass Items am Anfang der Liste mehr Möglichkeiten haben, assoziative Verbindungen mit nachfolgenden Items einzugehen und diese über ein Rehearsal entsprechend zu festigen. Der Recency-Effekt lässt sich damit erklären, dass die zuletzt dargebotenen Wörter einer Liste sich besser unterscheiden lassen, da ihnen nur wenige weitere Items folgen. In den folgenden drei Unterkapiteln soll Vergessen aus gedächtnispsychologischer Sicht erklärt werden.

2.4.3

Vergessen als Zerfall von Gedächtnisspuren vs. Konsolidierung im zentralen Nervensystem

In einer der verbreitetsten Sichtweisen wird Vergessens als Verblassen von Gedächtnisinhalten oder als Zerfall von Gedächtnisspuren aufgefasst. Damit verbunden ist die Grundannahme, dass der Verlust von Gedächtnisinhalten unwiederbringlich ist und ein Phänomen darstellt, das mit zunehmender Zeit zusammenhängt, die verstreicht: Je länger ein Ereignis oder zu behaltende Information zurückliegt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit diese nicht wieder zu erinnern. Wird bei Gedächtnisprozessen innerhalb des Kurzzeitoder Arbeitsgedächtnisses Information nicht durch Wiederholung oder andere strategische Prozesse wiederaufgefrischt, zerfällt sie. Für Informationen, die z. B. durch Wiederholung längere Zeit im Kurzzeit- oder Arbeitsgedächtnis gehalten werden, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass diese in das Langzeitgedächtnis überführt werden. Aus den Neurowissenschaften stammt die Annahme, dass die Information im zentralen Nervensystem einen Erregungskreis aus mehreren erregten Neuronenverbänden formt, in denen ein Erregungsmuster – die Information aus dem Kurzzeit- oder Arbeitsgedächtnis – einige Zeit aufrechterhalten werden kann. Wird die Erregungszirkulation gestört, z. B. durch neu eingehende Nervenimpulse, kann keine langzeitige Speicherung erfolgen. Folglich kann die Darbietung ähnlicher oder neuer Inhalte zu Problemen bei der langzeitigen Speicherung von Information führen. Daher wurde Schlaf als ideale Phase für die Erregungszirkulation von Information diskutiert (vgl. Jenkins & Dallenbach 1924).

Mythos: Trägt Schlaf nach dem Lernen zum besseren Behalten von Lernstoff bei? Gut gemeinte Ratschläge empfehlen Lernpausen nach ausgedehnten Lernphasen damit sich Lernstoff „setzen“ kann. Aus den Neurowissenschaften stammt dafür der Begriff der Konsolidierung. Neben dem Übergang von Information in das Langzeitgedächtnis wird damit auch eine „Verfestigung“ von ursprünglich flüchtigen Gedächtnisspuren

zum Ausdruck gebracht. Diese Gedächtnisspuren sind anfangs noch störanfälliger und werden mit zunehmender Konsolidierung immer robuster. Wichtig ist, dass gerade in Konsolidierungsphasen wenig Störung stattfindet. Daher wird gelegentlich empfohlen, die Konsolidierung von Lernstoff durch eine Schlafphase zu fördern. Dieser Ratschlag geht auf die klassische Studie von Jenkins und Dallenbach (1924) zurück. Ihre Versuchspersonen vergaßen nach einer Lernphase weniger, wenn sie vor dem Abruf schliefen, als wenn sie wachblieben. Die Bedeutung des Schlafs als Konsolidierungsphase nach einer Lernphase blieb jedoch nicht unumstritten. Hockey und Kollegen gingen z. B. davon aus, das Lernen dann besonders effizient und nachhaltig ist, wenn es in hohen kognitiven Aktivierungszeiten stattfindet (Hockey, Davies & Gray 1972). Derartige Aktivierungsphasen, so ihre Überlegung, finden möglicherweise vor einer Schlafphase statt. Um dieses Überlegung zu testen, untersuchten die Autoren Collegestudierende. Deren höchste Aktivierungszeit lag tatsächlich in den frühen Abendstunden. Wurden die Studierenden gebeten, die gelernten Inhalte im Anschluss an eine Aktivierungsphase ohne eine dazwischen eingelegt Schlafphase wiederzugegeben, schnitten die Studierenden genauso gut ab wie nach einer Schlafphase. Die Autoren schlossen daraus, dass das Aktivierungslevel und nicht die anschließende Schlafphase für die Konsolidierung und damit die Güte der Lernleistung entscheidend sind.

Die Dauer der Konsolidierung wird unterschiedlich angesetzt und reicht von einigen Stunden bis zu mehreren Tagen. Die Störanfälligkeit neuer Erinnerungen erscheint nach dem Konsolidierungsprinzip erhöht: „Neue Erinnerung sind klar aber fragil und alte Erinnerungen sind verblasst aber robust“ (Übersetzung durch die Autoren; Wixted 2004; S. 265). Auch wenn länger zurückliegende Erinnerungen mit der Zeit verblassen oder scheinbar verschwinden, ist damit nicht sicher festzustellen, ob sie tatsächlich dauerhaft verschwunden sind oder einfach nur nicht verfügbar. Oder um eine oft gebrauchte Analogie zu bemühen: Wird ein gesuchtes Buch (Erinnerung) in einer Bibliothek nicht gefunden, kann dies darauf zurückzuführen sein, dass es nie in die Bibliothek aufgenommen wurde (die Erinnerung wurde nie in das Langzeitgedächtnis transferiert). Das Konzept des Spurenzerfalls (Fading-Theory) und der dauerhafte Verlust von Information ist allerdings methodisch schwer nachzuweisen. Als Maß, ob und wann eine Gedächtnisspur zerfällt, wurde die Enkodierungsstärke vorgeschlagen (vgl. Bahrick 1984). Information wird dann stärker enkodiert, wenn sie öfter und/oder tiefergehend enkodiert wird (vgl. dazu den Ansatz zur Verarbeitungstiefe von Craik und Lockhart; 7 Abschn. 2.3.1). Allgemein lassen sich zwei relevante Aspekte zur Gewährleistung einer möglichst dauerhaften Lernleistung ableiten: Erstens sollte das Lernen von Information in den Phasen der höchsten Aktivierung stattfinden und mit ausreichen-

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Kapitel 2  Gedächtnis und Wissenserwerb

der Möglichkeit eine möglichst hohe Enkodierstärke für den Reiz zu produzieren. Damit ist – selbst wenn dies wie ein Allgemeinplatz anmutet – ein Plädoyer für aktive, konstruktivistische Lernformen (7 Kap. 1) als auch eine sinnvolle Portionierung des Lernstoffes verbunden (7 Kap. 17). Die Frage, zu welcher Tageszeit eine höhere Aktivierung für erfolgreicheres Lernen anzunehmen ist, lässt sich nicht pauschal beantworten, sondern muss für jeden Lernenden individuell beantwortet werden (vgl. dazu den Überblick zu Effekten der Tageszeit bei Anderson 2000). Zweitens spricht dies für ausreichende Konsolidierungsphasen nach entsprechenden Lerndurchgängen. Auch wenn der Schlaf wahrscheinlich nicht das ursächliche Kriterium für eine Konsolidierung darstellt, kann dort eine „ungestörte“ Konsolidierung noch am ehesten stattfinden. An der Sichtweise von Vergessen als Zerfall von Gedächtnisspuren wurde kritisiert, dass diese keine psychologischen Mechanismen identifiziert, warum es zu diesem Zerfall kommt.

2.4.4

Vergessen durch Interferenz

Eine weitere theoretische Sichtweise betrachtet Vergessen als Interferenz einander überlappender Gedächtnisspuren. Das heißt, dass der Zerfall von Information durch das Lernen zusätzlicher Informationen auftritt. Dieser Annahme soll im nächsten Abschnitt nachgegangen werden. Interferenz kann beim Abruf von unterschiedlichen Inhalten im Langzeitgedächtnis auftreten, da sich Gedächtnisspuren überlappen (7 Abschn. 2.3.5). Das Überlappen von Gedächtnisspuren tritt eher dann auf, wenn es sich um ähnliche Inhalte handelt. Sollen ebendiese Inhalte nun abgerufen werden, interferieren deren Gedächtnisspuren. Hierbei wird unterschieden zwischen einer Störung der aktuell zu lernenden oder abzurufenden Inhalte durch früher gelernte Inhalte (proaktive Interferenz) oder durch später gelernte Inhalte (retroaktive Interferenz). Empirische Befunde zu Interferenz (vgl. den Überblick bei Anderson & Neely 1996) machen deutlich, dass Interferenz nicht automatisch dann auftritt, wenn nach einer Lernphase eine andere Lernphase mit anderem Material eingeschoben wird. Dazu muss es eine hohe Ähnlichkeit zwischen den beiden Inhalten in den aufeinanderfolgenden Lernphasen geben. Da fast alle Befunde zur Interferenz von Gedächtnisinhalten anhand von Laborbefunden mittels verbalen Materials gewonnen wurden und damit das explizite Gedächtnis ansprechen, stellt sich die Frage der Verallgemeinerbarkeit auf andere Gedächtnisinhalte und -systeme. So wird angenommen, dass sowohl innerhalb des impliziten Gedächtnisses (Lustig & Hasher 2001) als auch im Arbeitsgedächtnis (Lustig, May & Hasher 2001) pro- bzw. retroaktive Interferenz stattfinden kann. Baddeley, Eysenck und Anderson (2015) gehen davon aus, dass sich beide Interferenzeffekte auch auf konkrete Lernsituationen außerhalb des Labors anwenden lassen, wenn die grundlegenden Faktoren für Interferenz entsprechend erfüllt sind. Damit stellt sich die Frage, ob sich für konkrete Lernsituationen beim schulischen Lernen pro-

und retroaktive Interferenzeffekte bei der Unterrichtsplanung berücksichtigen lassen. Der gelegentlich in Lehrbüchern vorzufindende Vorschlag bei der Stundenplanung den Mathematikunterricht ob der etwaigen „Ähnlichkeit“ der Inhalte mit dem Physikunterricht nicht aufeinanderfolgen zu lassen, mutet dabei als verkürzt an, da hier nicht im Sinne der Überschneidung konkreter Inhalte, sondern auf Basis kategorialer Nähe und Verwandtschaft der beiden Fachgebiete argumentiert wird. Versucht man die Laborbefunde auf das Vokabellernen in zwei unterschiedlichen Fremdsprachen zu übertragen, könnte Interferenz nur dann entstehen, wenn auf einen Reiz (z. B. das deutsche Wort „Tisch“) in aufeinanderfolgenden Lerndurchgängen zunächst die englische Vokabel („table“) und dann die italienische Vokabel („tavolo“) gelernt werden müsste. Bradshaw und Anderson (1982) konnten nachweisen, dass ein Interferenzeffekt nur dann auftritt, wenn die beiden miteinander konkurrierenden Informationen irrelevanter Natur sind. Sobald die neue mit der alten Information sinnvoll und kausal in Beziehung stand, trat kein Interferenzeffekt auf und es ergab sich tendenziell sogar eine Verbesserung der Lernleistung. Das bedeutet, dass später erworbene zusätzliche Information zu einem Sachverhalt, die in einem Sinnzusammenhang zur früher gelernten Information steht oder mit dieser vereinbar ist, nicht zu Interferenz führt. Konkurrieren aber früher und später gelernte Information, etwa wenn die eine durch die andere in Frage gestellt oder ersetzt wird, kann Interferenz auftreten. Beispielsweise kann ein neu eingerichtetes Passwort ein früheres ersetzen und damit zu Interferenz führen: Das neue Passwort wird nicht erinnert, dafür aber das alte (vgl. Baddeley und Hitch 1977).

2.4.5

Vergessen durch Abruf von Wissensinhalten

Eine Erklärung für das Vergessen besteht auch darin, dass durch das Erinnern einer bestimmten Information der Abruf einer anderen Information erschwert wird. Um dieser Frage nachzugehen, müssen zunächst zwei Aspekte erörtert werden. Der erste Aspekt beinhaltet eine Grundannahme zum Vergessen: Information, die es einmal in den Langzeitspeicher geschafft hat, bleibt dort für immer verfügbar. Vergessen würde also damit im Sinne des eingangs bemühten Bibliothekbeispiels bedeuten, dass Information (das Buch in der Bibliothek) vorhanden ist, der Abruf aber erschwert oder gegenwärtig nicht möglich ist, da der Zugriff nicht erfolgen kann (das Buch zwar vorhanden ist, aber nicht gefunden werden kann, da es z. B. falsch einsortiert wurde). Für den richtigen Zugriff fehlt der entsprechende Abrufreiz („cue“ oder im Bibliotheksbeispiel die richtige Information über den aktuellen Standort des Buchs). Der zweite Aspekt dreht sich um das Phänomen, dass nicht nur das mehrmalige Üben/Wiederholen von Lernstoff zu einer besseren Erinnerung führen kann, sondern auch der Abruf einer Information zur Festigung der Gedächtnisspur dieser Information führt. Das im vorherigen Abschnitt zitierte Passwortbeispiel lässt sich auch

41 2.4  Modellannahmen zu Erinnerungs- und Vergessensprozessen

in diesem Zusammenhang aufgreifen: Je öfter wir ein Passwort abrufen und korrekt eingeben, desto besser behalten wir es – mit der bereits erwähnten Konsequenz, dass wir uns manchmal schwertun, ein unmittelbar neu eingerichtetes Passwort zu merken. Dieses Phänomen erklärt übrigens auch die Persistenz von hartnäckigen Fehlern: Werden Informationen mehrfach falsch abgerufen, wird durch den fehlerhaften Abruf die falsche Information gelernt. Wie kann es zum erschwerten Abruf von Information kommen, die eigentlich im Langzeitgedächtnis vorhanden ist? Eine Vielzahl von Experimenten zum abrufinduziertem Vergessen (eines der ersten Experimente dazu wurde von Slamecka 1966 durchgeführt) nutzen dazu ein typisches Vorgehen, das sogenannte Paradigma der Abrufübung (7 Im Fokus). Im Fokus: Das Paradigma der Abrufübung (Anderson 2003)

Zunächst lernen Versuchspersonen einfache Kategorienbezeichnungen (z. B. „Früchte“, „Getränke“ oder „Bäume“) und entsprechende Exemplare der Kategorien (z. B. „Apfel“ oder „Birne“ als Items der Kategorie „Früchte“, oder „Bier“ und „Wasser“ für die Kategorie „Getränke“). Dann werden die Untersuchungsteilnehmer aufgefordert nur einige Exemplare einer Kategorie über Hinweisreize abzurufen („Früchte – Ap. . . ?“). Wichtig ist dabei, dass nicht alle Exemplare einer Kategorie abgerufen werden und dass es Kategorien (z. B. „Getränke“) gibt, deren Items überhaupt nicht abgerufen werden. Nach dieser selektiven Abrufübung (Teillistenabruf ) werden die Versuchspersonen gebeten, so viele Exemplare einer Kategorie wie möglich zu erinnern. Wie erwartet, werden dabei die Items einer Kategorie, die vorher durch den Abruf „geübt“ wurden, besser erinnert. Das heißt, die Erinnerungsraten gegenüber Items aus anderen, nicht abgerufenen Kategorien wie zum Bespiel „Getränke-Bier“ sind deutlich erhöht. Interessanterweise liegt die Erinnerungsrate für die nicht durch Abruf geübten Items einer Kategorie (z. B. „Früchte – Birne“) noch deutlich unter der Erinnerungsrate für Exemplare einer Kategorie, die überhaupt nicht durch Abruf geübt wurden (z. B. sämtliche Items der Kategorie „Getränke“). Dies bedeutet, dass der wiederholte Abruf von Items einer Kategorie dazu führt, dass diese besser gelernt werden. Allerdings geschieht dies zu Lasten der Items der gleichen Kategorie, die nicht abgerufen wurden. Diese werden zunehmend schlechter behalten. Items anderer Kategorien sind hiervon nicht betroffen.

Abrufinduziertes Vergessen bedeutet also, dass der (mehrmalige) Abruf einer Information deren Verfügbarkeit erhöht; dies geschieht aber zu Lasten anderer Informationen, deren Erinnerung damit behindert wird. Zur Erklärung dieses Phänomens gibt es unterschiedliche Positionen: Durch den selektiven Abrufprozess (Teillistenabruf) werden die Assoziationen zwischen den Teillistenitems beeinflusst. Dies kann entweder bedeuten, dass die Assoziationen der geübten Reize

zur Kategorie gestärkt und damit besser erinnert werden (im obigen Beispiel die Assoziation „Früchte – Apfel“; 7 Im Fokus). Oder aber, die Assoziation zwischen den nicht geübten Reizen und der Kategorie wird geschwächt (im Beispiel die Assoziation „Früchte – Birne“; 7 Im Fokus). Der Hinweisreiz „Frucht“ im Behaltenstest ruft damit wahrscheinlicher die geübten Items hervor. Ein weiterer Ansatz erklärt das abrufinduzierte Vergessen über einen Hemmungsprozess. Damit die wiederholt abgerufenen Kategorie-Items-Assoziationen (z. B. „Frucht – Apfel“) leichter erinnert werden können, werden die nicht abgerufenen Items der Kategorie (z. B. „Birne“) gehemmt. Im abschließenden Behaltenstest wird ihre Verfügbarkeit damit erheblich reduziert. Egal, wie das abrufinduzierte Vergessen erklärt wird, spiegelt es doch einen funktionalen Aspekt des Gedächtnisses wieder. Öfter benötigte, wichtige Informationen werden öfter abgerufen als weniger wichtige Informationen und erhalten damit durch zunehmende Assoziationsstärke Vorrang. Dieses Prinzip spiegelt auch eine Effizienzsteigerung bzw. Ökonomie im Umgang mit begrenzten Ressourcen wieder. Dafür spricht auch, dass derartige Abrufhemmungen nicht dauerhaft, sondern nur temporär auftreten: Aus der Studie von Chan (2009) geht hervor, dass die Abrufhemmung mindestens 20 Minuten anhält. Der Effekt kann aber länger anhalten, wenn zwischen Abrufübung und Behaltensprüfung eine nächtliche Schlafphase liegt (Abel & Bäuml 2012).

Studie: Wie wirkt die Abrufhemmung bei schulischen Lerninhalten? Macrae und MacLeod (1999) untersuchten die Abrufhemmung, indem sie 32 studentischen Versuchspersonen Wissen über zwei fiktive Inseln („Tok“ und „Bilu“) in der Art typischen geografischen Faktenwissens präsentierten („Der einzige Exportartikel Bilus ist Kupfer.“). Im Anschluss an die Lernphase wurde für die Hälfte der gelernten Fakten zu einer Insel ein dreimaliger Teillistenabruf vorgenommen. Für die restlichen Fakten sowie die Fakten zur anderen Insel wurde keine Abrufübung unternommen. Anhand eines abschließenden Behaltenstest nach einem etwa fünfminütigen Behaltensintervall konnten sie nachweisen, dass die Behaltensleistung für die durch Abruf geübten Fakten signifikant besser wurde. Dies geschah zu Lasten der nicht geübten Fakten zur gleichen Insel. Deren Behaltensleistung lag noch unter der Leistung zu den Fakten zur zweiten Insel, zu denen keinerlei Abrufübung unternommen wurde. Die Autoren diskutieren anhand ihres Befundes die Rolle der selektiven Abrufübung von Lernstoff während einer Prüfung und der Prüfungsvorbereitung. Dabei lassen sie allerdings sowohl die Frage der Bedeutungshaltigkeit von Lerninhalten als auch die zeitliche Komponente der Abrufhemmung außeracht: Eine teilweise Wiederholung von Lerninhalten durch Teilabruf erzeugt sicherlich eine kurzfristige Abrufhemmung der nicht abgerufenen Inhalte; es erscheint zweifelhaft, dass dieser Effekt über Stunden und Tage hinaus bestehen bleibt. Ob bedeutungshaltige Lerninhalte, die mit bereits bestehendem Wissen assoziativ verknüpft werden können, einer ebenso starken Abrufhemmung unterliegen, lässt sich anhand der Studie von Macrae und

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Kapitel 2  Gedächtnis und Wissenserwerb

Qualität der Informationsverarbeitungsprozesse („Perspektive der fokussierten Informationsverarbeitung“) und auch eine eher pluralistische Sichtweise auf das Lernen ab: LerAuf Basis bisheriger Studien ist nicht klar, ob die Ab- nen als Wissenskonstruktion mit situativem Charakter durch rufhemmung auch bei mehrmaligen Lerndurchgängen nach aktive Verarbeitung von Information. dem Teillistenabruf bestehen bleibt. Daher kann für das schulische Lernen lediglich geäußert werden, dass nach einer1 Wissenserwerb als aktive und fokussierte selektiven Abrufübung eine erneute Lernphase eingelegt werInformationsverarbeitung – Prozessuale Komponenten den sollte, in der der relevante Lernstoff möglichst umfassend des Wissenserwerbs wiederholt werden sollte. Sollte sich die Relevanz des Teillis- Die bereits im Abschnitt zum Gedächtnis (7 Abschn. 2.2) eintenabrufs für das schulische Lernen anhand weiterer Befunde geführte Informationsverarbeitungsperspektive erlangte seit konkretisieren, bestünde die Möglichkeit, den Teillistenabruf den 1960er-Jahren zunehmende Bedeutung für die Erkläals Instrument zur selektiven Wiederholung und Übung be- rung, Beschreibung und Untersuchung von Lernvorgängen. sonders relevanter Lerninhalte einzusetzen. Neben einer produktorientierten Betrachtung („Was wird gelernt?“) wurde im Sinne einer Prozessorientierung vor allem auf Vorgänge beim Lernen und Erinnern fokussiert („Wie 2.5 Theoretische Perspektiven zum wird gelernt?“ oder „Wie wird Gelerntes repräsentiert?“ oder Wissenserwerb „Wie wird Gelerntes abgerufen?“). Unter den sogenannten Informationsverarbeitungsansätzen werden allerdings TheoDer Erwerb von Wissen durch Lernende ist ein Hauptan- rien und Modelle zusammengefasst, die in unterschiedlichsliegen von Bildungsinstitutionen wie beispielsweise Schule, ter Art und Weise die menschliche InformationsverarbeiHochschule bzw. sämtlichen Fort- und Weiterbildungsein- tung und damit auch den Wissenserwerb thematisieren. Darichtungen. Die Begriffe „Lernen“ und „Wissenserwerb“ wer- her verwundert es auch nicht, dass für die Betrachtung des den fast durchgängig synonym gebraucht. Wissenserwerb Lernens auch Sichtweisen der konstruktivistischen Ansätze umfasst eine Vielzahl unterschiedlicher Wissensarten und aufgegriffen werden: Lernen wird als individuelle, selbstgeZugänge. Lernen im Sinne von Wissenserwerb ist der Auf- steuerte Wissenskonstruktion mit einer zunehmenden Modibau und die ständige Modifikation von Wissensrepräsenta- fikation des Wissens und der Wissensstrukturen aufgefasst. tionen. Diese finden über bereichsspezifische, dynamische Dazu muss zu lernende Information aktiv selektiert, interund mehrstufige Prozesse statt und umfassen unter anderem pretiert und in mentalen Strukturen und Repräsentationen die Auswahl, Verarbeitung, Organisation sowie das Speichern gespeichert werden. Die für die Situiertheits- und konstrukund Abrufen von unterschiedlichen Informationen. Wissen tivistische Perspektive wesentliche Fokussierung auf offene kann in verschiedenen Formen vom Lernenden repräsentiert Lernaktivitäten in der Tradition behavioristischer Lerntheowerden. Unterschiedlichste Faktoren wie Vorwissen, Form rien (7 Kap. 1) wird durch die Vertreter der Informationsverder Wissensdarbietung, Art der Verarbeitung und Speiche- arbeitungsperspektive nicht abgelehnt. Für sie ist offene Lernrung, Motivation sowie strategische Prozesse wirken sich auf aktivität immer dann interessant, wenn damit mentale Lerndie Güte und Nachhaltigkeit von Wissensrepräsentation aus. prozesse aktiviert werden. Aktive Informationsverarbeitung Die theoretischen Sichtweisen des Wissenserwerbs bedeutet in dieser Sichtweise, dass Information nicht pasdurchliefen entsprechend den vorherrschenden psycholo- siv unterschiedliche Speicher- und Verarbeitungsinstanzen gischen Theorierichtungen einen Wandel: Wurde Lernen (7 Abschn. 2.3) durchläuft, sondern dass Information selekim Rahmen des Behaviorismus noch verhaltensorientiert tiert und interpretiert wird. Renkl (2011) erweitert die Sichtbetrachtet („Nur was als Reiz und Reaktion beobachtbar weise der aktiven Informationsverarbeitung um die Perspekist, zeigt, dass Lernen stattfindet“; 7 Kap. 1), so erfolgte in tive der fokussierten Informationsverarbeitung. Gegenüber Abkehr vom Behaviorismus eine verstärkte Zuwendung der Perspektive der aktiven Informationsverarbeitung wird zu inneren Prozessen im Lernenden. Wissenserwerb wur- hier betont, dass nicht das Vorhandensein mentaler Aktivität de nun – z. B. in der konstruktivistischen Perspektive von per se bereits einen gelungenen Wissenserwerb gewährleisPiaget (7 Kap. 12) – als aktive Konstruktion und Abstrak- tet. Um dessen Wahrscheinlichkeit zu steigern, muss es sich tion von Wissensinhalten verstanden. Mit der kognitiven nach Renkl um mentale Aktivitäten handeln, die auf die Wende wurde der Wissenserwerb als Aufnahme, Verarbei- zentralen Konzepte und Prinzipien eines bestimmten Fachtung und Repräsentation von Information betrachtet. In gebiets fokussieren. Schmidt, De Volder, De Grave, Moust Anlehnung an eine behavioristische Forschungsmethodik und Patel (1989) untersuchten die Bedeutung der Aktiviewaren es zunächst vor allem sichtbare aktive Lernhandlun- rung von Vorwissen durch die Diskussion in Kleingruppen. gen (Perspektive des aktiven Tuns) die als Indikatoren für College-Studenten sollten über folgendes Phänomen diskuerfolgreiches Lernen angesehen wurden. Dem folgte eine tieren: Eine rote Blutzelle, die in reines Wasser eingetaucht Zuwendung zu inneren aktiven Informationsverarbeitungs- wird, schwillt zunächst an, um dann zu zerplatzen. Hingeprozessen, die indirekt experimentell erschlossen werden. gen schrumpft eine Blutzelle in Salzwasser. Die Studierenden Heutzutage zeichnet sich eine noch stärkere Betonung der sollten versuchen, dies zu erklären. Den Lernerfolg aus eiMacLeod (1999) nicht sagen, da hier fiktiver Lernstoff zum Einsatz kam.

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43 2.5  Theoretische Perspektiven zum Wissenserwerb

nem im Anschluss an die Diskussion gegebenen Text über das Osmose-Prinzip konnte durch die Diskussion in Kleingruppen bedeutsam gesteigert werden. In einem zweiten Experiment wurde zwischen Studierenden mit großem (Experten) und geringem Vorwissen (Novizen) unterschieden. Es konnte nachgewiesen werden, dass selbst Lernende mit geringerem Vorwissen durch die Fokussierung in der vorausgehenden Diskussion profitierten. Diese Diskussion hatte eine aktivierende Wirkung, indem sie einen spezifischen Fokus für die Hauptphase des Lernens über den Osmose-Text induzierte. Das Arbeitsgedächtnis spielt eine zentrale Rolle bei Lernvorgängen. An dieser Schnittstelle zwischen neu eingehender Information und Abruf von Wissen aus dem Langzeitgedächtnis finden bewusste Denkvorgänge statt. Unter anderem wird hier in der Tradition konstruktivistischer Ansätze angenommen, dass neu eingehende Information mit bestehendem Wissen verknüpft oder aber vor einer individuellen Wissensbasis interpretiert werden. Gerade die Interpretation von Information trägt auch dazu bei, die begrenzten Ressourcen des Arbeitsgedächtnisses optimal nutzen zu können (7 Abschn. 2.3.4). Die Bedeutung begrenzter Arbeitsgedächtnisressourcen für den Wissenserwerb wurde von Sweller in der sogenannten Cognitive-Load-Theorie thematisiert (7 Im Fokus). Im Fokus: Cognitive-Load-Theorie

Die Cognitive-Load-Theorie (Sweller, van Merrienboer & Paas 1998) konkretisiert die Rolle von Arbeitsgedächtnisprozessen beim Wissenserwerb. Die Theorie geht von der Annahme begrenzter Ressourcen des Arbeitsgedächtnisses aus und legt dar, wie diese durch unterschiedliche Aspekte im Lernstoff, in den Lernenden und durch den Lernprozess per se belastet bzw. überlastet werden. Damit erlaubt die Theorie Erklärungen und Vorhersagen, inwiefern Lernprozesse zu einer erfolgreichen Wissensrepräsentation führen können. Somit lassen sich Hinweise ableiten, wie Lernarrangements gestaltet werden können, damit eine Überlastung der Arbeitsgedächtnisressourcen vermieden wird. Im Einzelnen lassen sich drei Belastungen des Arbeitsgedächtnisses während des Wissenserwerbs unterscheiden: 1. Die intrinsische Belastung (intrinsic load) wird durch die Lerninhalte selbst definiert und steigt mit der Komplexität der Inhalte bzw. der zu ihrer Repräsentation benötigten Schemata. Sie ist abhängig von der Anzahl einzelner Informationseinheiten, die gleichzeitig verarbeitet werden müssen (Sweller & Chandler 1994). Die intrinsische Belastung ist durch den Lehrenden nicht direkt beeinflussbar.

2. Die lernbezogene Belastung (germane load) umfasst alle ressourcenfordernden Aspekte, die durch den eigentlichen Lernprozess im Lernenden entstehen. Dieser definiert sich über den mentalen Aufwand beim Aufbau von Wissensrepräsentationen, z. B. bei der Anwendung von Lernstrategien. Diese Belastung kann personenbezogen sehr stark variieren und definiert sich z. B. über den Umfang des Vorwissens bzw. den Grad der Expertise in einem Lerngebiet. Ferner spielen die Verfügbarkeit und Automatisierung von strategischen Prozessen für das Ausmaß der lernbezogenen Belastung eine Rolle. Auch letztere ist durch einen Lehrenden nicht unmittelbar beeinflussbar, wenngleich langfristig durch die Vermittlung von strategischem und inhaltlichem Wissen eine bedingte Einflussnahme möglich erscheint. 3. Die extrinsische Belastung (extraneous load) entsteht durch die Verarbeitung von Gestaltungselementen einer Lernumgebung. Sind diese für den Aufbau von Wissensrepräsentationen irrelevant oder nicht förderlich, etwa weil sie redundante oder unnötige Information liefern, absorbieren sie unnötigerweise Arbeitsgedächtnisressourcen, ohne letztendlich zum Wissenserwerb beizutragen. Beispielsweise kann es nach der Cognitive-Load-Theorie bei der schriftlichen Darstellung des Dreisatzes in der Algebra zu einer erhöhten extrinsischen Belastung führen, wenn neben der schrittweisen textlichen Darstellung des Lösungswegs jeweils bei jedem Schritt auf ein Beispiel in einer Exkursbox verwiesen wird. Das „Hin- und Herschalten“ zwischen der textlichen Darstellung und dem konkreten Beispiel könnte vor allem Lernende mit geringen Vorwissen im Sinne eines geteilten Aufmerskamkeitseffekts (split attention effect) überfordern. Die so absorbierten Ressourcen stehen dann nicht für den Lernprozess zur Verfügung. Sind durch erhöhte Inhaltskomplexität und mangelndes Vorwissen die intrinsische und die lernbezogene Belastung ebenfalls hoch, kann es zu einer generellen Überlastung (overload) kommen, die den Aufbau von Wissensschemata unmöglich macht.

Lernen findet auf vielfältige Weise und über unterschiedliche Formen von Lernprozessen statt. Eingehender Lernstoff wird anhand des Vorwissens interpretiert, selektiert, organisiert und elaboriert. Weitere bedeutsame Lernprozesse sind die Stärkung des Wissens, die Generierung neuen Wissens und die metakognitive Steuerung des Lernens. Anhand unterschiedlicher Lernformen soll nun die jeweilige Bedeutung der Lernprozesse erläutert werden.

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Kapitel 2  Gedächtnis und Wissenserwerb

2.6

Formen und Bedingungen von Wissenserwerb

In diesem Abschnitt sollen Besonderheiten beim Wissenserwerb erörtert werden, die bei verschiedenartigen Lernaktivitäten bekannt sind. Weder ist diese Darstellung erschöpfend, noch ist davon auszugehen, dass diese Aktivitäten in der schulischen Praxis stets in Reinform Anwendung finden. Vielmehr sollen hier Möglichkeiten für die Anwendung (und auch Kombination) durch Lehrende bei unterschiedlichen Ansprüchen und Lernbereichen erörtert werden.

2.6.1

Wissenserwerb durch Texte

Wissenserwerb über das Lernen aus Texten spielt sowohl im schulischen Alltag als auch im Bereich der Weiterbildung und dem tertiären Bildungsbereich eine gewichtige Rolle. Im erweiterten Sinne können darunter auch akustisch dargebotene Texte – etwa in computergestützten, multimedialen Lernsetting oder der klassischen Vorlesung an Hochschulen – verstanden werden. Die Rezeption von Textinformation soll in den seltensten Fällen zu einer anschließenden wörtlichen Wiedergabe des Lernstoffs führen, sondern bereits beim Lesen des Textes zu einem Verständnis und einer Selektion relevanter Inhalte zur Weiterverarbeitung führen. Van Dijk und Kintsch (1992) schlagen in ihrem Modell des Textverstehens drei Ebenen der mentalen Repräsentation beim Lesen von Texten vor. Es handelt sich zum ersten um die Textoberfläche. Damit ist sowohl das visuelle Erscheinungsbild (z. B. die verwendete Schriftart, die Absatzstruktur) als auch die sprachliche Umsetzung des Textes (der sprachliche Stil, verwendete Begriffe) gemeint. Die Textoberfläche spielt meist eine untergeordnete Rolle, es sei denn, ein wörtliches Wiedergeben der Textinformation ist explizit gefordert, wie etwa bei einem auswendig zu lernenden Gedicht oder einer wörtlich wiederzugebenden Definition. Manchmal wird ein Auswendiglernen der Textoberfläche von den Lernenden selbst angestrebt, etwa wenn ein tiefergehendes Verständnis der Textinhalte nicht möglich oder zu aufwändig erscheint. Zum zweiten handelt es sich um die Textbasis. Hier geht es – unabhängig von der sprachlichen oder visuellen Erscheinungsform – um grundlegende Aussagen, die ein Text transportiert. Werden diese grundlegenden Aussagen von den Lernenden dem Text entnommen, besteht die Möglichkeit, dass die Aussagen in Form von Propositionen repräsentiert werden (7 Abschn. 2.3.6). Über die Aktivierung von Vorwissen ist es den Lernenden möglich, Propositionen in Netzwerken zu organisieren. Die Aktivierung des Vorwissens ist insofern eine wesentliche Voraussetzung für die Extraktion von Aussagen aus dem Text und die Bildung und Organisation von Propositionen, als dass ein Text kaum alle für das Verständnis notwendigen Informationen enthalten kann. Texte, die dies leisten wollten, wären hoffnungslos überfrachtet, endlos und unökonomisch. Ferner bestünde beim Lesen eines derartigen Textes im Sinne der Cognitive-Load-Theorie (7 Im Fokus) die

Gefahr einer Überbeanspruchung der Arbeitsgedächtnisressourcen. Daher werden Bezüge zwischen unterschiedlichen Sätzen/Aussagen im Text hergestellt und können von den Lernenden meist auch nachvollzogen werden. Bei den beiden folgenden Sätzen werden die Aussagen und ihr Überlappungsbereich in einem Netzwerk in Beziehung gesetzt: „Donald Trumps Tweets sorgen für Furore – und für wenig Begeisterung bei seinen Beratern. Sie würden ihm am liebsten ein Schreibverbot erteilen.“ Der Überlappungsbereich „Berater“ im ersten und „Sie“ im zweiten Satz bzw. „Trump“ im ersten und „ihm“ im zweiten Satz ist relativ einfach nachvollziehbar und wird als lokale Kohärenzbildung bezeichnet. Dazu zählen neben Überlappungen oder Redundanzen unmittelbare Zusammenhänge. Bei der globalen Kohärenzbildung handelt es um die Möglichkeit der Organisation von Aussagen in ein übergeordnetes Netzwerk – eine Art roten Faden, dem der Text folgt. Dazu werden aus einzelnen Propositionen sogenannten Makropositionen gebildet. Dies geschieht beispielsweise durch Auslassen unwesentlicher Einzelpropositionen, der Verallgemeinerung oder Abstraktion von Propositionen oder der Neubildung von übergeordneten Propositionen die für eine Anzahl einzelner Propositionen stehen. Bezogen auf die beiden Sätze über Donald Trump könnte eine derartige übergeordnete Proposition im nicht immer unproblematischen Umgang von Trump mit seinen Beratern oder die Art und Weise seiner Kommunikation mit der Außenwelt bestehen (z. B. „Donald Trumps Kommunikation über die sozialen Medien ist gewöhnungsbedürftig.“). Die dritte von van Dijk und Kintsch postulierte Ebene wird als Situationsmodell bezeichnet. Tiefergehende Repräsentationen erfordern diese Stufe und finden dann statt, wenn eine über den Text hinausreichende Anreicherung des Textinhalts mit Vorwissen stattfindet. Nur auf Basis eines Situationsmodells ist es möglich, eine „ganzheitliche“ Repräsentation der Textinformation aufzubauen, die über eine rein propositionale Repräsentation hinausreicht. Damit können weiterreichende, abstrahierende Schlussfolgerungen abgeleitet oder Probleme gelöst werden. Beispielsweise kann folgende Problemstellung nur über die Repräsentation eines Situationsmodells adäquat gelöst werden. Eine Kuh produziert im Durchschnitt 12 Liter Milch am Tag. Wie viele Kühe bräuchte man, um in 4 Tagen 120 Liter zu produzieren? Ohne tiefergehendes Textverständnis dürfte die Antwort möglicherweise „2,5“ lauten. Bei einer Repräsentation im Sinne des Situationsmodells dürfte die Antwort dergestalt ausfallen: „Mindestens drei! Denn erstens gibt es keine halben Kühe und zweitens produzieren Kühe nicht immer gleich viel Milch!“

Über ein Situationsmodell repräsentiertes Wissen unterliegt dem Vergessen weniger als nur über die Textoberfläche repräsentiertes Wissen. Der erfolgreiche Wissenserwerb über Lernen mittels Texten ist ebenso von der Qualität des Textes als auch von personenbezogenen Faktoren wie dem vorhandenen Vorwissen und Art der mentalen Aktivitäten abhängig.

45 2.6  Formen und Bedingungen von Wissenserwerb

Zur mentalen Aktivität beim Lesen gehört neben der adäquaten Informationsselektion auch der Einsatz von Lernstrategien. Um Situationsmodelle generieren zu können, sind z. B. folgende Strategien hilfreich: über den Text hinausreichende Fragen generieren, Zusammenhänge grafisch in sogenannten Concept Maps verdeutlichen oder Textabschnitte in zusammenfassenden Kernaussagen reduzieren. Für die Anwendung derartiger Strategien spielt das Vorwissen der Lernenden eine bedeutsame Rolle. Das Vorwissen ist aber auch eine wesentliche Basis für das Textverstehen per se. Aus einem Text können Lernende mit großem Vorwissen mehr neue Information ableiten als Lernende mit geringem Vorwissen, es sei denn, das geringere Vorwissen umfasst bereits alle Informationen, die im Text dargeboten sind. Dies gilt sowohl für die Selektion relevanter Inhalte (Jarodzka, Scheiter, Gerjets & van Gog 2010) als auch für die Integration und Organisation des neuen Wissens (Chi, Feltovich & Glaser 1981). Das Vorwissen interagiert aber auch mit der Qualität des Textes: Lernende mit hohem Vorwissen profitieren beispielsweise von suboptimalen Texten, da diese Lernenden durch kritisches Hinterfragen die Reflexion und damit die Verarbeitungstiefe erhöhen können. Studie: Training von verständnisfördernden Strategien bei geringem Vorwissen Um die Anwendung von verständnisfördernden Strategien zu erleichtern hat McNamara (2004) das auf drei Phasen basierende Trainingsprogramm SERT (Self-Explanation-ReadingTraining) entwickelt. In der ersten Phase werden die Lernenden zur Reflexion durch „lautes Nachdenken“ über die Bedeutung von Wörtern, Sätzen und Aussagen im Text angeregt. In der zweiten Phase bekommen die Lernenden Informationen zu Lernstrategien und zu metakognitiven Strategien (7 Kap. 4). Zu den Lernstrategien zählen neben einfachen Wiederholungsauch komplexere Elaborationstrategien. In der dritten Phase werden die Lernenden angehalten, die in den beiden vorangegangenen Phasen erworbenen Strategien beim Lesen eines konkreten Textes anzuwenden. McNamara untersuchte in einer Trainingsstudie an 42 Studierenden die Wirkung des SERTProgramms. 24 Teilnehmer (Trainingsgruppe) wurden mittels des SERT-Programms in Strategien zur Überwachung des Verstehens, zum Paraphrasieren des Textes und zum Herstellen von Bezügen zwischen Textinhalten und dem eigenen Vorwissen bei der Bearbeitung von vier wissenschaftlichen Texten unterwiesen. Die 18 restlichen Teilnehmer (Kontrollgruppe) mussten ebenfalls die vier wissenschaftlichen Texte bearbeiten, sie wurden aber lediglich aufgefordert, diese laut zu lesen. McNamara konnte gerade für Personen mit geringem fachspezifischen Vorwissen eine Steigerung des Textverständnisses und der Reflexion über den Text nachweisen. Sie gibt jedoch zu bedenken, dass das Training fehlendes Vorwissen nicht ersetzen kann, denn nur textbasierte Fragen konnten von den Teilnehmern ihrer Studie besser beantwortet werden. Das SERT-Trainingsprogramm half den Lernenden, ihre allgemeinen kognitiven Fähigkeiten wie logisches Denken oder Allgemeinwissen zur Beantwortung der Fragen zum Text besser zu nutzen. Die Beantwortung von über den Text hinausgehen-

den schlussfolgenden Fragen konnte durch das Trainingsprogramm jedoch nicht gesteigert werden. McNamara sieht gerade in der Kombination von Selbsterklärungen und verständnisfördernden Lesestrategien eine Möglichkeit zur Verbesserung der Textrepräsentation.

2.6.2

Wissenserwerb durch Zuhören

Der Wissenserwerb durch Zuhören stellt eine der häufigsten Lernformen im schulischen Setting dar. Die zu lernende Information wird auditiv präsentiert, ist also zeitgebunden und unterliegt damit einer gewissen Flüchtigkeit. D. h. entgegen dem Lernen über Texte können die Lernenden die Information nicht mehrmals wiederholen oder das Lerntempo selbst bestimmen, sondern sind von der Lehrperson abhängig, die den Lernstoff präsentiert. Auch beim Lernen durch Zuhören lassen sich die von van Dijk und Kintsch (1992) postulierten drei mentalen Repräsentationstufen annehmen. Das Generieren eines Situationsmodells gewährleistet ebenso wie beim Wissenserwerb durch Texte die dauerhafteste und tiefgehendste Repräsentationsstufe. Wird die vorgetragene Information durch die Lehrperson nicht vorstrukturiert oder durch visuelle Organisationshilfen unterstützt, müssen die Prozesse der Selektion relevanter Information, der Organisation und Integration in bestehende Vorwissensstrukturen unter dem Aspekt begrenzter zeitlicher und kognitiver Ressourcen von den Lernenden eigenständig bewerkstelligt werden. Damit Wissenserwerb unter derartigen Bedingungen stattfinden kann, sind metakognitive Steuer- und Überwachungsprozesse vor, während und nach dem Zuhören von großer Wichtigkeit: Bereits vor dem Beginn des Zuhörens können Erwartungen über die Lerninhalte generiert werden. Diese Erwartungen können beispielsweise von Studierenden vor einer Vorlesung anhand des Titels oder der durch die Dozierenden angekündigten Inhalte selbständig gebildet werden. Im schulischen Kontext tragen häufig die Lehrkräfte maßgeblich zur Bildung von Erwartungen bei. So können vorab präsentierte Fragen Erwartungen erzeugen und bei der Aktivierung vorhandenen Vorwissens helfen. Im Verlauf einer Vorlesung können Studierende durch Monitoringprozesse sowohl ihr begriffliches Verständnis als auch das Verständnis wesentlicher Aussagen, Zusammenhänge und Konzepte überprüfen. Im schulischen Kontext kann dies durch die Lehrperson während kurzer Unterbrechungen des Vortrags durch Kontroll- bzw. Verständnisfragen unterstützt werden. Dies eröffnet auch die Möglichkeit, nochmals vertieft auf Problembereiche in einem Inhaltsbereich einzugehen. In einer Vorlesung kommt dem Anfertigen von Notizen oder Ergänzen von Skripten eine gewichtige Bedeutung zu (vgl. zu einer Übersicht über Formen und Funktion von Notizen, Staub 2006). Durch Notizen besteht die Möglichkeit des Verknüpfens mit vorangegangenen Lerninhalten und somit der Aktivierung von Vorwissen. Die Organisation und Selektion von relevanter Information wird ebenfalls durch das Anfertigen von Notizen oder die Kennzeichnung relevan-

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Kapitel 2  Gedächtnis und Wissenserwerb

ter Informationen in Skripten oder Handouts befördert. Im schulischen Setting trägt vor allem in jüngeren Jahrgangsstufen das Ergänzen von (unvollständigen) Handouts oder das angeleitete Anfertigen von Hefteinträgen zur Selektion und Organisation des Lernstoffs bei. Neben den bereits dargestellten Aspekten werden dem selbstständigen Anfertigen von Notizen, wie es bei Vorträgen stattfinden kann, zwei Funktionen zugesprochen: Zum einen kann es eine Enkodierhilfe für den Lernstoff darstellen und das Behalten der notierten Inhalte steigern (vgl. zu einem Überblick, Kobayashi 2005). Dies geschieht sowohl über die Wiederholung des Lernstoffs in schriftlicher Form – einer Art schriftlichem Rehearsal – als auch über die Selektion des Stoffs, der Reduktion und damit einer Fokussierung auf Kernaussagen des Lernstoffs. Selektion und Organisation finden effizienter und ertragreicher bei ausreichendem Vorwissen statt. Damit kann der Prozess des Wissenserwerbs erleichtert werden. Zum anderen können Notizen als Produkt einer Vortragsmitschrift die Funktion einer externen Gedächtnishilfe haben (vgl. Hadwin, Kirby & Woodhouse 1999). Diese Bedeutung wird relevant, wenn es zu einer Nachbearbeitung der Notizen und damit der Lerninhalte kommt. Dies lässt sich gedächtnispsychologisch mit einer selektiven Wiederholung des Abrufs von Lerninhalten erklären (7 Abschn. 2.4.1). Eine Nachbearbeitung der Notizen trägt auch zur Festigung der Strukturierung von Lerninhalten bei. Die Repräsentation des Lernstoffs über ein Situationsmodell kann bei der Nachbearbeitung der Notizen durch das Erstellen kritischer Fragen zum Inhalt begünstigt werden. Dieser Effekt wird zusätzlich begünstigt, wenn in Kleingruppen gearbeitet werden kann. Führen die Fragen zu einer Diskussion, steigt die Wahrscheinlichkeit dafür, dass ein Situationsmodell aufgebaut wird. Ist das selbstständige Erstellen von Fragen zu einem Lehrvortrag oder die kritische Diskussion nur erschwert möglich, wie etwa in den frühen Grundschuljahren, kann die Lehrperson durch den Hinweis auf wichtige Sachverhalte, das Setzen von Pausen und Präsentieren von Fragen oder die Zusammenfassung wesentlicher Inhalte ähnliche Wirkungen erzielen, wie sie durch das Anfertigen von Notizen beschrieben wurden.

2.6.3

Wissenserwerb durch Schreiben

Im Unterschied zu den eher rezeptiv orientierten Lernformen – beispielsweise dem Lernen durch Lesen oder durch Zuhören – erfordert das Lernen durch Schreiben eine sichtbare Produktion von Text. Lernen durch schreiben setzt einen automatisierten Schreibprozess voraus und ist damit hinsichtlich des schulischen Lernens eher für die Sekundarstufe angemessen. Das damit im klassischen Sinne umgesetzte Lernen durch aktives Tun kann je nach Anforderungen an das schriftliche Endprodukt mehrere Funktionen erfüllen. Schreiben kann als ein schriftlicher Problemlöseprozess ver-

standen werden, wenn in einem Aufsatz beispielsweise eine Argumentation im Sinne einer Kontrastierung von These vs. Gegenthese gefordert ist. Eine derartige Anforderung ist aber eher in höheren Jahrgängen der Sekundarstufe bzw. im hochschulischen Kontext anzutreffen und erfordert neben einer schriftlich-rhetorischen Komponente auch weitreichendes Faktenwissen und interpretatorische Fähigkeiten. Damit birgt es – wenn die erforderlichen semantischen und rhetorischen Fähigkeiten bei den Lernenden noch nicht gegeben sind – die Gefahr einer Überforderung. Soll das Schreiben von Aufsätzen oder Essays als Fähigkeit per se erworben werden, stellt der Erwerbsprozess Anforderungen an die metakognitiven Fähigkeiten, den Schreibprozess zu planen, zu strukturieren und zu überwachen. Damit werden neben den zentralen kognitiven Anforderungen – Informationen zu selektieren und aufzubereiten, zu organisieren und zu transformieren bzw. in eigenen Worten auszudrücken – vor allem selbstregulatorische Fähigkeiten trainiert. Gerade diese Anforderungen tragen auch dazu bei, dass der Lerninhalt vertieft im Sinne eines Situationsmodells repräsentiert wird. Soll die metakognitive Komponente von selbstreguliertem Lernen längerfristig angeregt werden eignet sich das Führen von Lerntagebüchern. Dazu sind – anders als beim Schreiben von Aufsätzen oder Erörterungen – keine vergleichbaren stilistischen oder rhetorischen Voraussetzungen erforderlich. Der Einsatz von Lerntagebüchern ist damit bereits im Grundschulbereich möglich. Die Anregung metakognitiver Prozesse geschieht über die grundsätzliche Anforderung von Lerntagebüchern: Die Lernenden sollen nach einer Lernphase festhalten, was gelernt wurde, was verstanden oder nicht verstanden wurde, gegebenenfalls auch was unternommen werden soll, um noch nicht bewältigten Stoff zu lernen. Den Lernenden ist es dabei freigestellt, wie sie diese Aspekte im Lerntagebuch festhalten; je nach Maßgaben steht es ihnen frei, worüber sie zum Lernprozess etwas schreiben und wie sie dies tun. Als hilfreich haben sich allerdings gerade in der Anfangsphase des Führens eines Lerntagebuchs unterstützende Leitfragen durch den Lehrenden erwiesen. Diese Fragen oder Prompts werden von den Lernenden zu Beginn nur unzureichend selbständig generiert. Gerade sie helfen dabei, den Hauptgedanken eines Lernstoffs zu identifizieren und den Stoff zu gliedern, ihn hierarchisch zu strukturieren. Neben diesen organisationalen Strategien werden auch einige metakognitive Strategien durch das Führen eines Lerntagebuchs initiiert: Durch das Reflektieren von Verständnisschwierigkeiten beim Wissenserwerb werden diese nicht nur benannt, sondern auch gleichzeitig Lösungsansätze zu deren Behebung überlegt. Beispielsweise können nicht verstandene Begriffe in einem Wörterbuch oder Lexikon nachgeschlagen werden oder zusätzliche Quellen zum Erreichen eines vertieften Verständnisses hinzugezogen werden. Ferner kann anhand selbstgenerierter Beispiele das Verständnis des Lernstoffs gefestigt und durch das zusätzliche Finden von Pro- und Kontra-Argumenten dessen Reflexion angeregt werden.

47 2.6  Formen und Bedingungen von Wissenserwerb

2.6.4

Wissenserwerb durch Beispiele und Modelle

Neben dem Generieren eigener Beispiele kann der Wissenserwerbsprozess auch durch die Vorgabe von Beispielen und Modellen durch Lehrende gefördert werden. Gerade zu Beginn des Erwerbs von kognitiven Fertigkeiten, wie etwa dem Verständnis von Algorithmen im Bereich der Mathematik, kann über das Lernen mittels Beispielen der Einstieg wesentlich erleichtert werden (Carroll 1994). Grundlegend gehören zur Präsentation eines Beispiels zunächst die Darstellung einer Problemstellung, ein dezidierter Lösungsansatz über einzelne Lösungsschritte sowie als Produkt eine Lösung, die unter Bezugnahme auf die Ausgangsfragestellung erläutert wird. Das beispielbasierte Lernen meint aber nicht, dass nach dem Einführen eines Lösungsalgorithmus durch den Lehrenden ein Beispiel bearbeitet wird und dann die Lernenden ähnlich geartete Aufgaben bearbeiten. Vielmehr fußt das beispielbasierte Lernen darauf, dass Lernende mehrere Beispiele so bearbeiten, dass auf dieser Basis ein Verständnis grundlegender Prinzipien oder wesentlicher (logischer) Aspekte des Lernstoffs erreicht wird. Erst dann werden selbstständig und verstehensorientiert vergleichbare Aufgaben bearbeitet und gelöst. Wird beispielbasiertes Lernen in dieser Form durchgeführt, erweist es sich in den meisten Fällen als effizienter, effektiver und nachhaltiger als andere Lernformen (vgl. McLaren, van Gog, Ganoe, Karabinos & Yaron 2016) wie etwa das im schulischen Kontext praktizierte Vorgehen der Präsentation der Prinzipien und eines Beispiels durch die Lehrkraft mit nachfolgender wiederholter Aufgabenbearbeitung durch die Lernenden. Die wichtigste theoretische Erklärung der Überlegenheit von Beispielen gegenüber eigenständigem Problemlösen bei der Aufgabenbearbeitung insbesondere bei geringem Vorwissen basiert übrigens auf der Cognitive-LoadTheorie: Der selbst gesteuerte Problemlöseprozess benötigt so viele kognitive Ressourcen im Arbeitsgedächtnis, dass die eigentlichen Lernprozesse nur noch eingeschränkt stattfinden können. Werden in dieser Lernform sehr komplexe Beispiele bearbeitet hat sich dafür auch die Bezeichnung „Lernen durch Modelle“ eingebürgert. Gerade bei komplexeren Beispielen oder Modellen können sich aber auch Probleme ergeben. Sind Beispiele nicht eindeutig dargestellt oder enthalten nicht aufeinander bezogene visuelle Darstellungen und Textinformationen, kann es im Sinne der Cognitive-Load-Theorie (7 Abschn. 2.5) zu einer Überlastung vorhandener Arbeitsgedächtnisressourcen führen. Renkl (2005) empfiehlt, dass für die Präsentation von textbasierten und grafischen Beispielen unterschiedliche Zugangs- und Verarbeitungskanäle (visuell und akustisch/phonologisch) genutzt werden sollten. Damit beim Lernen aus Lösungsbeispielen möglichst die Logik der zu erwerbenden Prinzipien („prinzipienbasiertes Verständnis“) verstanden und extrahiert wird, können Lehrende bei der Präsentation mit sogenannten Prompts oder inhaltlichen Leitfragen arbeiten. Schworm und Renkl (2007) konnten nachweisen, dass Studierende dann besonders effizient Argumentationsstrukturen aus Videobeispielen

übernehmen, wenn sie aufgefordert wurden, Videobeispiele prinzipienbasiert zu erklären. Chi und Kollegen (Chi, Bassok, Lewis, Reimann & Glaser 1989) propagieren in diesem Zusammenhang den Begriff der Selbsterklärung: Lernende machen sich anhand der Lösungsbeispiele die darin enthaltene Logik selbständig bewusst. Der Profit aus Selbsterklärungen ist dann besonders hoch, wenn in den Beispielen fehlende Begründungen selbstständig erschlossen werden und damit ein tiefergehendes Verständnis der logischen Prinzipien eines Beispiels möglich wird. Chiu und Chi (2014) diskutieren positive Auswirkung der Selbsterklärung auf Problemlöseprozesse und metakognitive Kontrollprozesse und stellen Möglichkeiten dar, wie Selbsterklärungen im Unterricht initiiert und gefördert werden können. Damit beispielsbasiertes Lernen weiterreichende Effekte nach sich ziehen kann, muss es jedoch über das reine Verständnis von Lösungsprinzipien hinausgehen. Eine Anwendung und Automatisierung von Fertigkeiten findet nur dann statt, wenn der Übergang zwischen dem Studium von Lösungsbeispielen und dem selbstständigen Bearbeiten von Problemaufgaben möglichst „organisch“ gestaltet wird. Dies kann bedeuten, dass mit Lösungsbeispielen gearbeitet wird, die im Abgleich mit dem individuellen Lernstand der Lernenden zunehmende Auslassungen bezüglich des Lösungsweges aufweisen. Diese Auslassungen müssen von den Lernenden selbst ergänzt werden und führen zu den von Chi und Kollegen (1989) beschriebenen optimalen Selbsterklärungen. Renkl und Atkinson (2003) präsentieren ein genaues Vorgehen, wie dieses zunehmende Ausblenden des Lösungsweges in eine eigenständige Aufgabenbearbeitung ohne Präsentation des Lösungsweges übergehen kann.

2.6.5

Wissenserwerb durch Aufgabenlösen

Werden im schulischen Unterricht Übungsaufgaben eingesetzt, so kann dies, wie im vorangegangen Abschnitt beschrieben, anhand von Aufgaben mit beispielhaften Lösungen erfolgen. Dabei können schrittweise Lösungshilfen ausgeblendet werden, sodass eine eigenständige Aufgabenbearbeitung ohne Lösungsweg bzw. Unterstützung durch den Lehrenden vorgenommen werden kann. Mittlerweile gibt es auch computerbasierte Tutorensysteme, die den individuellen Ausgangsvoraussetzungen und Lernfortschritten der Lernenden Rechnung tragen. Werden diese mit dem Vorgehen des Lehrenden im Unterricht optimal abgestimmt, können damit das Verstehen und prozedurales Wissen effizienter gefördert werden als durch traditionelle Unterrichtskonzepte (vgl. Koedinger & Corbett 2006). Für den deutschen Sprachraum gibt es bislang nur wenige kognitive/intelligente Tutorensystem. Ein Beispiel ist das System LARGO (Pinkwart, Aleven, Ashley & Lynch 2008) für den Bereich der Rechtswissenschaften. Es soll Jurastudierenden helfen, Argumentationsstrategien zu erlernen bzw. zu optimieren. Das Bearbeiten von Aufgaben, nachdem grundlegende Prinzipien bereits verstanden und erworben wurden, dient aber auch der Festigung des Lernstoffs durch Übung. Mit

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Kapitel 2  Gedächtnis und Wissenserwerb

dem Üben im Rahmen der Aufgabenbearbeitung erfolgt eine Feinabstimmung und Automatisierung der beteiligten Prozesse. Gerade die Automatisierung entlastet die Arbeitsgedächtnisressourcen, vermindert den kognitiven Aufwand (Cognitive-Load-Theorie; 7 Abschn. 2.5) und führt zu einer schnelleren und effizienteren Aufgabenbearbeitung. Die ACT-R-Theorie von Anderson (Anderson & Funke 2013) thematisiert unter anderem den Übergang von deklarativem Wissen zu prozeduralem Wissen durch Übung und zunehmende Automatisierung. Die durch die Automatisierung freigewordenen Ressourcen können für andere Prozesse genutzt werden. Gerade zu Beginn einer Übungsphase ist dabei oftmals ein stärkerer Leistungsanstieg zu verzeichnen, der sich asymptotisch allmählich einem Leistungsplateau annähert. Dieses Plateau wird beispielsweise dann überwunden, wenn es zu einem Strategiewechsel in dem Sinne kommt, dass eine nicht optimale Strategie zugunsten einer optimalen aber komplexeren Strategie aufgegeben wird. Aus dem Bereich des Erwerbs von Additionsstrategien kann hier folgendes Beispiel angeführt werden: Erwerben Kinder das generelle Additionsprinzip, beginnen sie oftmals damit, beide Summanden abzuzählen. So wird die Aufgabe „2 C 7“ so gelöst, dass zunächst der erste Summand gezählt wird „1, 2“ und dann der zweite Summand dazugezählt wird „3, 4, 5, 6, 7, 8, 9“. Am Ende des Zählvorgangs steht als Ergebnis die Summe „9“. Diese Strategie (counting all) ist gerade bei größeren Summanden relativ aufwändig und wird daher zugunsten einer effizienteren Strategie aufgegeben: Nun wird der erste der beiden Summanden nicht mehr aufgezählt, sondern es wird lediglich der zweite Summand „darauf “ gezählt. In diesem Beispiel wird als ausgehend von der „2“ die „7“ aufgezählt (counting min). Eine weitere Steigerung wird durch die „counting max“Strategie hergestellt: Hier werden vor dem Zählvorgang die beiden Summanden betrachtet und der größere Summand als Ausgangsbasis für den Aufzählvorgang genommen („7“); damit wird der Zählvorgang reduziert, das Ergebnis kann schneller und effizienter erzielt werden. Schließlich mündet die Wiederholung von immer wieder gleichen Additionsaufgaben nicht mehr in einem Rechenvorgang, sondern führt zu einem Abruf des Rechenergebnisses aus dem Langzeitgedächtnis. Dies stellt die effizienteste und schnellste Strategie dar. Damit Üben durch Aufgabenbearbeitung zu einer Stärkung der beteiligten Verarbeitungsprozesse und einer höheren Effektivität führt, wurden in der Vergangenheit einige wichtige Prinzipien diskutiert. Gerade im Bereich des sogenannten „deliberate practice“-Ansatzes (Ericsson, Krampe & Tesch-Römer 1993; van Gog, Ericsson, Rikers & Paas 2005) wurden einige dieser Prinzipien untersucht und auf Ihre Anwendbarkeit im Bereich des akademischen Lernens (Ericsson 2015) sowie des Erwerbs von Expertise im Sport oder in der Musik diskutiert (Lehmann & Ericsson 1997). Vier der wesentlichen Prinzipien für effizientes Üben sind „Überlernen“, „verteilte Übung“, „Übung im Kontext des Ganzen“ und „reflektierte Übung“. Unter dem Prinzip des Überlernens versteht man, dass ein Übevorgang nicht dann stoppen sollte, wenn das intendierte Fertigkeitenniveau erreicht ist, sondern

darüber hinausreichen sollte. Nur so kann sichergestellt werden, dass das Fertigkeitenniveau nach einiger Zeit nicht wieder deutlich unter das angestrebte Niveau abfällt. Dabei wird kritisch diskutiert, ob das Überlernen wirklich einen langfristigen Nutzen erzielt (Rohrer, Taylor, Pashler, Wixted & Cepeda 2005). Gerade für Bereiche mit einem hohen prozeduralen Anteil – wie dem Übern eines Musikinstruments oder dem Ausführen komplexer Bewegungsmuster im Sport – scheint die mit dem Überlernen verbundene Feinabstimmung und Automatisierung motorischer Handlungen aber unerlässlich zu sein (Krampe & Ericsson 1996). Das Prinzip der verteilten Übung beinhaltet, dass viele kleinere Übungseinheiten über mehrere Zeitpunkte verteilt einen größeren und nachhaltigeren Effekt erzielen als eine massierte Übung über einen oder wenige Zeitpunkte hinweg (Taylor & Rohrer 2010). Die praktische Erfahrung dieses Prinzips lässt sich aus der Erfahrung des eigenen Musikunterrichts ableiten: Eine kleine tägliche Übungseinheit am Musikinstrument führt meist zu robusterem (weniger störanfälligem) und besserem Lernen eines Musikstücks als das einmalige stundenlange Üben unmittelbar vor der Musikstunde. Die dabei kritisch zu erörternde Frage ist, wie klein die verteilten Übungseinheiten sein dürfen, damit ein derartiger positiver Effekt gegenüber dem sogenannten massierten Üben überhaupt entstehen kann. Im Musikunterricht wird gelegentlich die Strategie angewandt, einzelne Bestandteile eines zu übenden Musikstücks so herunterzubrechen und aufzuteilen, dass immer nur kleine Einheiten – einzelne Takte oder Melodiesequenzen – geübt und dann wieder in den Kontext des ganzen Musikstücks integriert und zusammengefügt werden. Eine Übertragung eines derartigen Vorgehens auf den Erwerb von komplexen Fertigkeiten kann aber auch seine Grenzen haben, was durch das Prinzip der Übung im Kontext des Ganzen deutlich wird. Das Aufteilen einer zu übenden Fertigkeit oder eines Fähigkeitenbereichs in einzelnen Teilfertigkeiten ist dann nicht sinnvoll, wenn die Teilfertigkeiten so losgelöst vom Gesamtkontext erscheinen, dass sie für die Lernenden keinen Sinn mehr ergeben (vgl. van Merrienboer, Kirschner & Kester 2003). Kann die Verbindung zum Kontext nicht mehr hergestellt werden, ergeben sich Verständnisprobleme und eine Festigung und Automatisierung von Teilprozessen ist stark erschwert. Ist ein Aufteilen in Teilabläufe aufgrund der Komplexität oder ressourcenintensiver Erfordernisse unerlässlich sollte ein Bezug zur Gesamtaufgabe oder zur gesamten Fertigkeit im Rahmen des Übens immer wieder hergestellt werden. Neben dem wiederholten Bezug zum großen Ganzen einer Aufgabe oder Fertigkeit hat es sich als sinnvoll herausgestellt, auch während länger dauernder Übungsphasen immer wieder auf die basalen Prinzipien einzugehen, die einer Fertigkeit oder Vorgehensweise immanent sind. Dazu stammt aus der Forschung über komplexe Lernvorgänge und den Expertiseerwerb das Prinzip der reflektierten Übung. Werden die Prinzipien von Zeit zu Zeit thematisiert, ermöglicht dies neben einer Stärkung der Inhalte auch ein Feintuning derselben und einen flexiblen Umgang mit den Prinzipien bei der Bewältigung von Sonderfällen. Gerade das reflektierte Üben wird als ein potenzieller Mechanismus für den Übergang auf einen hö-

49 2.6  Formen und Bedingungen von Wissenserwerb

heren Kompetenzstand bzw. dem Erlangen von Expertise in einem bestimmten Inhaltsgebiet verantwortlich gemacht. Da reflektiertes Üben hinsichtlich der Arbeitsgedächtnis- und Aufmerksamkeitsressourcen besonders fordernd ist, wird es als sehr anstrengend und zum Teil als aversiv erlebt. Soll eine Verbesserung der Leistungsfähigkeit in einem Lernbereich bis hin zu einem Expertenniveau erreicht werden, muss neben einer großen Regelmäßigkeit eine hohe Strukturierung des Übevorgangs über einen sehr langen Zeitraum bewältigt werden – hier werden Zeiträume von etwa 10 und mehr Jahren diskutiert. Ein hoher Leistungsanspruch, das Fokussieren auf Schwächen sowie der gezielte Einbezug von Feedback durch Lehrende oder Mentoren sind weitere Faktoren für eine derartig hohe Übungseffizienz (7 Kap. 3).

Zusammenfassung In diesem Kapitel wurden grundlegende Aspekte der Struktur und Funktion des menschlichen Gedächtnisses (sensorisches Register, Kurzzeit- bzw. Arbeitsgedächtnis sowie Langzeitgedächtnis) erörtert. Das Arbeitsgedächtnis fungiert dabei als Schnittstelle zwischen neu eingehender und langzeitig gespeicherter Information. Es ist nicht nur für die kurzzeitige Speicherung von Information bedeutsam, sondern spielt auch eine entscheidende Rolle bei der Verarbeitung von Information. Insofern ist das Arbeitsgedächtnis unmittelbar für alle Arten schulischer Kognition wie z. B. beim Lesen, beim Rechnen und beim Textverständnis bedeutsam. Das Wissen um die Funktionsweise des Arbeitsgedächtnisses hilft beim Verständnis von Lernprozessen („Wie laufen Kopfrechenprozesse über das Arbeitsgedächtnis ab?“). Das Arbeitsgedächtnis hat eine begrenzte Kapazität. Die Kenntnis derselben liefert wertvolle Hinweise bei der adäquaten Gestaltung von Lernmaterialien und Unterricht, um eine Überlastung der Lernenden zu vermeiden. Im Langzeitgedächtnis wird Wissen auf unterschiedliche Arten repräsentiert und organisiert. Es wurde eine Unterscheidung in ein deklaratives und ein nichtdeklaratives (prozedurales) Langzeitgedächtnis vorgenommen. Während im deklarativen Langzeitgedächtnis alle Arten von verbalisierbaren Fakten gespeichert werden, stellt das nicht-deklarative Langzeitgedächtnis den Speicher für (nicht-verbalisierbare) Abläufe und Verhaltensweisen dar. Verschiedene Modellannahmen zum Repräsentationsformat von Information im deklarativen und nicht-deklarativen Langzeitgedächtnis wurden vorgestellt. Das Wissen über diese Formate hilft zu verstehen, wie Lernende Information speichern, organisieren und abrufen. Nicht selten tritt nach Lernvorgängen das Phänomen des Vergessens auf. Es wurden verschiedene theoretische Ansätze zur Erklärung des Vergessens vorgestellt. Diese können helfen, das Phänomen bei der Konzeption des Unterrichts zu berücksichtigen. Die Sichtweise von Vergessen als Interferenz unterschiedlicher Gedächtnis-

inhalte kann helfen, Unterrichtsinhalte so abzustimmen, dass die Gefahr der Interferenz möglichst minimiert wird. Modellannahmen zum Vergessen als fehlende Abspeicherung oder nicht ausreichendes „Setzen“ von Lernstoff implizieren, dass es zwischen Lernphasen ausreichende Pausen geben sollte, die ein dauerhaftes Abspeichern des Stoffs begünstigen. Ansätze, die Vergessen als gestörten Abruf aus dem Langzeitgedächtnis sehen, helfen beim Geben von Hinweisreizen während der Präsentation von Lernstoffs, um einen späteren Abruf anhand dieser Hinweisreize zu erleichtern. Der Prozess des Wissenserwerbs wurde anhand verschiedener Lernbereiche dargestellt. So wurde exemplarisch auf Besonderheiten beim Lernen durch Texte, durch Zuhören, durch Aufgabenlösen, beim Schreiben und anhand von Beispielen eingegangen. Diese Darstellungen bieten Möglichkeiten zur Reflexion des eigenen pädagogischen Handelns von Lehrenden sowie zur Optimierung der Unterrichtsgestaltung.

Verständnisfragen ?1. Zeigen Sie auf, was man unter der „Computermetapher“ des Gedächtnisses versteht! 2. Nennen Sie die drei zentralen Bestandteile des Gedächtnismodells von Atkinson und Shiffrin! 3. Vergleichen Sie die drei Speicher des Gedächtnismodells von Atkinson und Shiffrin hinsichtlich ihrer Speicherkapazität und -dauer! 4. Zeigen Sie auf, welche Funktionen der zentralen Exekutive im Arbeitsgedächtnismodell von Baddeley und Hitch zugeschrieben werden! 5. Grenzen Sie die Begriffe „deklaratives Gedächtnis“ und „nicht-deklaratives Gedächtnis“ gegeneinander ab! 6. Stellen Sie dar, was man in der Psychologie unter einem „Schema“ versteht! 7. Skizzieren Sie das Prinzip der Enkodierspezifität von Tulving und Thomson! 8. Ein Schüler sagt im Englischunterricht, dass er die vorzubereitenden Vokabeln zwar zu Hause gelernt habe, aber mittlerweile alles vergessen habe. Erläutern Sie dieses Fallbeispiel vor dem Hintergrund theoretischer Ansätze zum Vergessen! 9. Stellen Sie dar, welche Vor- und Nachteile sich unter Berücksichtigung der Cognitive-Load-Theorie von Sweller und Kollegen aus dem Einsatz von Medien im Unterricht ergeben können! 10. Beschreiben Sie die drei Ebenen des Textverständnisses nach van Dijk und Kintsch! 11. Skizzieren Sie vier wesentliche Prinzipien für effizientes Üben!

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Kapitel 2  Gedächtnis und Wissenserwerb

Literatur

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Kapitel 2  Gedächtnis und Wissenserwerb

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53

Problemlösen und Expertiseerwerb Hans Gruber, Michael Scheumann und Stefan Krauss

3.1

Expertiseerwerb in der Schule – Ist das denn überhaupt möglich? – 54

3.2

Problemlösen – 54

3.2.1 3.2.2

Problemlösen als Informationsverarbeitungsprozess – 54 Das Zusammenspiel von Intelligenz und Wissen – 55

3.3

Expertise: Wissensbasiertes Problemlösen – 56

3.3.1 3.3.2 3.3.3

Begabung und Expertise – 56 Das Zusammenspiel von Problemlösen und Wissen – 56 Expertiseerwerb: Erfahrung als Grundlage von Routinen und von Innovation – 58

3.4

Expertiseerwerb im Kontext Schule – 60

3.4.1 3.4.2

Der Expertisebegriff für Lehrkräfte in der Bildungsforschung – 60 Der Kompetenzbegriff für Schülerinnen und Schüler in der Bildungsforschung – 61

Verständnisfragen – 63 Literatur – 64

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Urhahne, M. Dresel, F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9_3

3

54

3.1

3

Kapitel 3  Problemlösen und Expertiseerwerb

Expertiseerwerb in der Schule – Ist das denn überhaupt möglich?

Bei Definition, Förderung und Erwerb von Expertise spielt Problemlösen eine zentrale Rolle. Expertise kann als eine Art wissensbasierten Problemlösens angesehen werden. In Bezug auf Schülerinnen und Schüler misst PISA (Programme for International Student Assessment) Problemlösefähigkeit als eigenständige Kompetenz und betrachtet diese als fächerübergreifende Grundfähigkeit von Schülerinnen und Schülern. Können Schülerinnen und Schüler aber tatsächlich „Expertise“ in ihrer schulischen Laufbahn erwerben, können sie wirklich „Expertenstatus“ erreichen? Bei der Domänenspezifität von Expertise und den in der Literatur angesetzten zehn Jahren, die es in der Regel benötigt, um Expertise zu erreichen, scheint dies zunächst fraglich zu sein. Dennoch zeigen bekannte Jugendwettbewerbe (z. B. „Jugend forscht“ oder „Jugend trainiert für Olympia“), dass Schülerinnen und Schüler bereits in jungen Jahren zu herausragenden Leistungen fähig sein können. Kann dies als eine Form von Expertise betrachtet werden? In diesem Kapitel wird erläutert, wie Expertiseerwerb im Kontext Schule aussehen kann (7 Abschn. 3.4). Konkret werden wir dies am Schulfach Mathematik illustrieren. Um die Basis dafür zu schaffen, gehen wir jedoch zunächst auf grundlegende Überlegungen zum Problemlösen (7 Abschn. 3.2) und zur Expertiseforschung (7 Abschn. 3.3) ein. 1 Wichtige Definitionen Expertise – Dauerhafte Leistungsexzellenz innerhalb einer bestimmten Domäne Problemlösen – Die durch bewusste Denkprozesse und intelligentes Handeln geleitete – dabei Hindernisse überwindende – Überführung eines Ist-Zustands in einen Soll-Zustand Domäne – Themenbereich, der Gegenstand einer inhaltlichen Spezialisierung ist Deliberate Practice – Gezielte Übungen, um konkrete Verbesserungen in einem bestimmten Bereich zu erzielen

3.2 3.2.1

Problemlösen Problemlösen als Informationsverarbeitungsprozess

werden lassen. Die Bedeutung der Gestaltpsychologie nahm allerdings mit dem Aufkommen behavioristischer Lerntheorien und der damit verbundenen Euphorie ab, da die behavioristischen Theorien eine naturwissenschaftlich-objektive Beschreibung von Lernmechanismen versprachen: „Die Psychologie, wie sie ein Behaviorist sieht, ist ein rein objektiver, experimenteller Zweig der Naturwissenschaft. Ihr theoretisches Ziel ist die Vorhersage und Kontrolle von Verhalten. Die Introspektion bildet keinen wesentlichen Teil ihrer Methoden, und der wissenschaftliche Wert ihrer Daten hängt nicht von der Bereitschaft ab, mit der sie sich zur bewussten Interpretation eignen.“ (Watson 1913, S. 158). Diese Herangehensweise schien nahezu unbegrenzte pädagogische Möglichkeiten zu eröffnen (7 Kap. 1). Zwar erwiesen sich die behavioristischen Lerntheorien und die aus ihnen abgeleiteten Lernprogramme in einigen Bereichen in der Tat als effektiv und effizient, aber in Bezug auf das Verständnis komplexer Problemlöseprozesse blieben die erhofften Fortschritte aus. Im Fokus: Lernen durch Einsicht (Köhler 1921/1963)

Köhler formulierte in seiner kognitiven Lerntheorie sechs Phasen: 1. Auftauchen eines Problems: Ein bestimmtes Ziel soll erreicht werden, wird aber durch ein auftauchendes Problem zunächst unerreichbar. 2. Probierverhalten: Bekannte und bewährte Handlungsstrategien werden angewendet, führen aber nicht zum gewünschten Ergebnis. 3. Umstrukturierung: Versuch und Irrtum. Mögliche alternative Strategien werden durchdacht, nicht aber tatsächlich durchgeführt. 4. Einsicht und Lösung: „Aha-Erlebnis“. Ein im Geiste durchdachter Lösungsansatz scheint erfolgversprechend zu sein. 5. Anwendung: Handlungsprozess setzt umgehend ein und wird bei Erfolg beibehalten. 6. Übertragung: Ein Lerntransfer findet statt. Der gefundene Lösungsansatz wird zur Lösung ähnlicher Probleme herangezogen. Veranschaulichung am Zwei-Seile-Problem (Maier 1931): Die Phasen lassen sich mit Hilfe des Zwei-Seile-Problems verdeutlichen: Zwei von der Decke hängende Seile sollen miteinander verknotet werden, der Proband kann aber nicht beide Enden gleichzeitig erreichen. Als weitere mögliche Hilfsmittel sind im Raum folgende Gegenstände platziert: Zange, Stuhl, Papier, Nägel, Wasserglas. Das Problem kann gelöst werden, indem man die Zange an ein Seilende knotet und das Seil danach in Schwingung versetzt. Anschließend greift der Proband das zweite Seil, zieht es in die Mitte des Raumes und passt das pendelnde Seil im richtigen Moment ab.

Die Problemlösepsychologie erlebte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Blütezeit, als Forscher wie Max Wertheimer oder Wolfgang Köhler ihre Arbeiten zur Gestaltpsychologie publizierten, etwa die Studien zum produktiven Denken (Wertheimer 1920 1945) oder die Experimente mit dem Schimpansen Sultan zum Problemlösen beziehungsweise zum „Lernen durch Einsicht“ (Köhler 1921/1963). Diese Studien zeigten, dass beim Bearbeiten komplexer Aufgaben erstaunliche Leistungen möglich sind, wenn eine günstige Kombination aus allgemeinen Problemlösefähigkeiten und förderlichen Umweltbedingungen vorliegt, die das EntsteMit der Wende von der behavioristischen zur kognitiven hen von Einsicht unterstützen und „gute Gestalt“ wirksam Sichtweise in der Psychologie seit dem Ende der 1950er Jahre

55 3.2  Problemlösen

wurden manche Aspekte der Gestaltpsychologie wieder aufgegriffen, jedoch unter neuer Perspektive: Die Interpretation von psychischen Vorgängen als Informationsverarbeitungsprozesse basierte auf der engen Zusammenarbeit einiger Psychologen mit Forschern, die in der Kybernetik und der neu entstehenden Computerwissenschaft arbeiteten. Als Prototyp für diese Entwicklung kann das Buch „Plans and the structure of behavior“ (Miller, Galanter & Pribram 1960) gelten, dessen Titel die Richtung der Informationsverarbeitungspsychologie bereits vorgab. Das grundlegende Konzept war, dass Verhalten als Konsequenz von Ordnungs- und Regelungsprinzipien verstanden wurde. Dabei war die Annahme, dass Verhalten geplant verläuft, bestimmten Strategien folgt und ständig auf seine Funktionalität überprüft werden kann und sollte. Die Analogie zur Computerprogrammierung ist dabei unverkennbar. Probleme lösen zu können galt als allgemeine Problemlösefähigkeit, die durch generelle, das heißt nicht auf jeweilige Probleme abgestimmte Strategien gekennzeichnet ist. Besonders bedeutsam war die Problemlöseforschung, die an der Carnegie Mellon University in Pittsburgh (USA) entstand und die auf dem Modell menschlichen Entscheidens und Problemlösens basierte, das Simon (1955) als „Behavioral model of rational choice“ formulierte. Für diese und die folgenden Arbeiten erhielt Simon später sogar den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Die populärste Darstellung der Problemlösetheorie wurde mit dem voluminösen Werk „Human problem solving“ (Newell & Simon 1972) veröffentlicht. Schon bald zeigte sich aber, dass die Aussagekraft von Problemlösetheorien trotz der außerordentlich umfangreichen und intensiven Aufgabenanalysen, für die „Human problem solving“ stand, begrenzt war. Durch den Einbezug von Wissen konnte das Verständnis der Prozesse bei der Bearbeitung komplexer Aufgaben erheblich ausgeweitet werden. Betrachtet man Experten, erkennt man einen selbstverständlichen und engen Zusammenhang von Wissen und Problemlösen. Dabei stellt sich stets die Frage, ob Experten auf ihr Wissen und ihre Erfahrung zurückgreifen können, wenn sie ein Problem bearbeiten. In vielen Fällen ist es so, dass sie z. B. aufgrund verfügbarer Routinen gar nicht „problemlösen“ müssen. Andererseits müssen sie einfallsreich denken, um auch bei ungewöhnlichen Problemsituationen angemessen und womöglich sogar innovativ handeln zu können. Zur Veranschaulichung kann das Beispiel einer Ärztin in der chirurgischen Abteilung eines Universitätsklinikums dienen, die bei der Diagnose und Behandlung einer Blinddarmentzündung, wie sie ihr schon hundertfach begegnet ist, oft routiniert, schnell und mühelos handeln kann. Allerdings sind Universitätsklinika auch Anlaufstellen für kompliziertere oder nicht alltägliche Fälle. Hier kann die genannte Chirurgin an die Grenzen ihres bisherigen Wissens stoßen und muss dann aktiv und innovativ an Problemlösungen arbeiten. Und selbstverständlich gibt es eine große Anzahl an Grenzfällen, bei denen es für gegebene Aufgabenstellungen gar nicht die eine, beste Lösung gibt, auch da es eine Vielzahl weiterer Einflussfaktoren auf das Ergebnis einer Operation oder auf den Gesundheitszustand eines Patienten gibt (z. B. Alter oder körperliche Verfassung). Das komplexe Wechselspiel dieser

Faktoren ist nicht immer in letzter Konsequenz kontrollierbar. Experten sind also ständig mit dem Lösen komplexer Probleme beschäftigt, bei dem es zu einem Zusammenspiel von routinierten und innovativen Vorgehensweisen kommt, die in unterschiedlichem Ausmaß durch die Notwendigkeit intelligenten Problemlösens oder des Rückgriffs auf Wissen gekennzeichnet sind. Die beobachtbare hohe Flexibilität von Experten beim Problemlösen schlägt sich in erster Linie in drei Fähigkeiten nieder (Gruber & Stamouli 2015): Erstens die Fähigkeit zur Veränderung mentaler Repräsentationen von Problemen, um dadurch zu verschiedenen Hypothesen zu gelangen. Zweitens die Fähigkeit, die Ebene ihrer Analyse situativ zu verändern. Drittens schließlich die Fähigkeit, Verarbeitungsstrategien zu wechseln.

3.2.2

Das Zusammenspiel von Intelligenz und Wissen

Wissen alleine ist nutzlos, sofern eine Person nicht intelligent genug ist, es auch sinnvoll einzusetzen. Umgekehrt nützt hohe Intelligenz wenig, wenn eine Person nicht weiß, welchen Nutzen sie aus ihr ziehen kann. Das Drei-PhasenModell des Fertigkeitserwerbs (theory of ability determinants of skilled performance; 7 Im Fokus) zeigt, wie Vorwissen und Intelligenz einer Person mit typischen Anforderungen im Verlauf der Fertigkeitsentwicklung verbunden sind. Gerade zu Beginn des Expertiseerwerbs ist Intelligenz von großer Bedeutung. Diese Bedeutung nimmt jedoch im Laufe der Entwicklung ab und insbesondere prozedurales Wissen (Wissen, wie eine Handlung ausgeführt werden muss) wird dann sehr wichtig. Ein Gelingen des Zusammenspiels von Intelligenz und Wissen zeigt sich laut Ackerman (1992) erst in komplexen, praktischen und anwendungsorientierten Situationen. Im Fokus: Drei-Phasen-Modell des Fertigkeitserwerbs

Diese Theorie (Ackerman 1992) beschreibt, wie sich die Bedeutung von Intelligenz und Vorwissen im Laufe des Expertiseerwerbs wandelt. Sie umfasst ein dreiphasiges Modell (kognitive, assoziative und autonome Phase) des Expertiseerwerbs, das Gruber und Stamouli (2015) wie folgt zusammenfassen: 1. In der kognitiven Phase ist das Individuum hoher kognitiver Belastung ausgesetzt, weshalb Intelligenz eine bedeutende Rolle spielt. Aufgabeninstruktionen müssen verstanden und Lösungsstrategien formuliert werden. 2. In der assoziativen Phase werden diese Lösungsstrategien eingeübt, wodurch die Leistung fehlerfreier und schneller als zuvor erbracht werden kann. Ebenso wird die Wahrnehmungsgeschwindigkeit trainiert und verbessert. Hier geht es also in erster Linie um Wissenskompilation und die Schnelligkeit der Wissensanwendung.

3

Kapitel 3  Problemlösen und Expertiseerwerb

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Abschnitt erläuterten Drei-Phasen-Modell des Fertigkeitserwerbs. Im Verlauf des Expertiseerwerbs zeigt sich dieser Zusammenhang dynamisch mit zunehmend stärkerer Ausrichtung auf die domänenspezifischen Komponenten. Als pädagogisch aussichtsreicher als die Dispositionsoder Begabungsidee wird das Konzept der Expertise angesehen, weshalb Gruber und Mandl (1992) dafür plädierten, vornehmlich den Begriff Expertise zur Beschreibung von Phänomenen zu verwenden, bei denen zuvor von Begabung die Rede war. Eine zunehmende Anzahl an einschlägigen Publikationen in einer Vielzahl von Feldern des Problemlösens wies seither in dieselbe Richtung (Bromme 1992; Ericsson 1996; Ericsson et al. 2018). Der Begriff Begabung beschreibt demnach nicht länger das Gesamtphänomen der Expertise, spielt aber dennoch in Bezug auf Expertise eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Gerade für das Verständnis der Bedingungen, die zur Entstehung von Expertise führen, ist es wichtig, das Zusammenspiel zwischen Begabung, Wissen und Lernen näher zu betrachten. Bereits Weinert (1984) machte deutlich, dass dies mit einer Veränderung der zentralen Konzepte einhergeht, beispielsweise in der Verwendung des Begabungsbegriffs, wenn es vor allem um die Beschreibung und Förderung von Lernprozessen geht.

3. In der autonomen Phase werden diese Fertigkeiten schließlich automatisiert. Somit werden Tätigkeiten extrem schnell und präzise und benötigen nur noch wenig oder sogar überhaupt keine Aufmerksamkeit.

3 3.3

Expertise: Wissensbasiertes Problemlösen

Der vorhergehende Abschnitt macht deutlich, dass die Expertiseforschung (Ericsson, Hoffmann, Kozbelt & Williams 2018) den Fokus auf kognitive Eigenschaften von Personen legt (Mulder, Messmann & Gruber 2009). Hierzu zählen beispielsweise Wissen oder Gedächtnisstruktur und Gedächtnisleistung (Berliner 2001; Sternberg & Horvath 1995) ebenso wie die Wahrnehmung domänenspezifischer Muster. Zudem wissen Experten auch, wer in ihrer eigenen Domäne über welches Wissen verfügt oder eine zentrale Rolle unter den Experten einnimmt. All diese Aspekte werden in der Regel als erlernbar angesehen, wenn genügend viel und genügend „gut“ geübt wird. Dies ist in der Tat eine Grundannahme der Expertiseforschung, die immer wieder Anlass für Diskussionen bietet, da im alltäglichen – vorwissenschaftlichen – Verständnis Experten als besonders begabte, wenn nicht gar 3.3.2 Das Zusammenspiel von Problemlösen „begnadete“ Personen angesehen werden (7 Kap. 9).

und Wissen

3.3.1

Begabung und Expertise

1 Domänenspezifität

Begabungsforschung und Expertiseforschung verbindet das gemeinsame Interesse an der Beschreibung, Erklärung und Förderung hervorragender menschlicher Leistungen in komplexen, anspruchsvollen Bereichen. Die Forschungsinteressen beider Bereiche können dabei als durchaus komplementär bezeichnet werden. Während sich die Begabungsforschung vor allem mit angeborenen Merkmalen wie allgemeinen kognitiven Grundfähigkeiten (insbesondere der Intelligenz) beschäftigt, richtet die Expertiseforschung ihr Augenmerk eher auf herausragende Leistungen, die als prinzipiell erlernbar gelten. Lern- und Übungsprozesse stehen dabei ebenso wie der Aufbau einer umfangreichen und gut organisierten Wissensbasis im Fokus der Expertiseforschung (Gruber 2007). Besonders im professionellen Bereich spiegelt die Entwicklung des Könnens die Komplementarität beider Forschungsansätze wieder. Gerade am Anfang der professionellen Entwicklung spielt Veranlagung eine große Rolle, denn je größer das domänenspezifisch erworbene Wissen ist, umso geringer ist der Einfluss solcher bereichsübergreifender, veranlagungsbedingter Merkmale, wie etwa der Geschwindigkeit von Informationsverarbeitungsprozessen. Diesen Zusammenhang zwischen dispositionalen, inhaltsunabhängigen Variablen und erfahrungsbedingten, bereichsspezifischen Variablen beschreibt Ackerman (1992) im im vorigen

Einer der Kernbefunde der Expertiseforschung ist, dass Expertenleistung domänenspezifisch ist (Ericsson & Smith 1991). Dies hängt mit der notwendigerweise langen und intensiven Lern- und Erfahrungsphase zusammen, die für den Erwerb eines hohen Expertisegrads in komplexen beruflichen Feldern vonnöten ist. Expertenhandeln beschränkt sich auf eine Domäne beziehungsweise einen eingegrenzten Bereich, und vorhandenes Wissen kann hierbei sogar Unterschiede in der Intelligenz oder altersbedingte Entwicklungsunterschiede kompensieren (Schneider, Gruber, Gold & Opwis 1993). Experten besitzen die Fähigkeit, in ihrer Domäne in komplexen Situationen erfolgreich zu handeln (Hacker 1992). Expertenhandeln zeichnet sich somit durch großen Problemlöseerfolg, Effizienz der Tätigkeit sowie eine geringe Fehlerquote aus, also durch hohe Performanz. Experten verfügen über eine umfangreiche, gut verfügbare Wissensbasis (Grundlage für Performanz) sowie über reichhaltige Erfahrung mit domänenspezifischen Aufgabenstellungen (Grundlage für Entstehung der Wissensbasis). Die Fähigkeit, in einer bestimmten Domäne dauerhaft – also weder zufällig noch einmalig – herausragende Leistung erbringen zu können, unterscheidet Experten von anderen Personen, die innerhalb derselben Domäne tätig sind. Diese anderen Personen werden in der Expertiseforschung als „Novizen“ bezeichnet, also als Neulinge – denen keineswegs das Potenzial abgeschrieben wird, künftig zu einem hohen Expertisegrad gelangen zu können (Gruber 2004). Oft wird zwischen Novizen und Experten

57 3.3  Expertise: Wissensbasiertes Problemlösen

eine dritte kontrastive Gruppe angeführt, die intermediates beziehungsweise Fortgeschrittenen. In vielen Berufen (z. B. in der Medizin) sind dies Personen, die ihre berufliche beziehungsweise akademische Qualifikation (im obigen Beispiel das Medizinstudium) abgeschlossen haben, aber erst wenig Erfahrung in der beruflichen Tätigkeit aufweisen. Novizen wie intermediates wird prinzipiell die Möglichkeit zugestanden, einen hohen Expertisegrad zu erwerben, wenn sie genügend lang genügend gute Lern- und Übungsprozesse durchlaufen. 1 Methoden der Problemlöse- und Expertiseforschung

bauen. Als Material diente eine Mittelspielstellung aus einer Turnierpartie guter Spieler, die 28 Figuren enthielt. Analyse Es wurde pro Studienteilnehmer die Anzahl der am Ende des Erinnerns richtig auf dem Brett aufgebauten Figuren gezählt. Die mittlere Gedächtnisleistung beider Gruppen wurde inferenzstatistisch verglichen (7 Kap. 27). Ergebnis Experten erinnerten im Mittel 20.75 (SD D 5.14), Novizen 8.17 (SD D 4.15) Figuren richtig. Der Mittelwertsunterschied ist statistisch signifikant: t.46/ D 9:34, p < :01. Deskriptiv war festzuhalten, dass manche Experten 27 Figuren richtig aufbauten.

Die Expertiseforschung beruht zu wesentlichen Teilen auf dem kontrastiven Vergleich (7 Studie) von Experten und Novizen (bzw. auch intermediates). Meist fußt dieser Vergleich auf der Analyse von Informationsverarbeitungsprozessen. In der Forschung geschieht dieser Vergleich oft durch die Doku- Kommentar mentation kognitiver Prozesse – etwa durch lautes Denken In der Studie zeigte sich, dass Experten und Novizen, deren do(Ericsson & Simon 1993), aber auch durch intensive Auf- mänenunspezifische Gedächtnisleistung (Zahlenspanne) vergabenlösungsanalysen (Newell & Simon 1972) oder neuer- gleichbar war, unterschiedliche Ergebnisse beim freien Erindings durch die Analyse von Augenbewegungen beim Pro- nern kurz präsentierter Schachpositionen erzielten: Die Experblemlösen (Holmqvist et al. 2011). Durch die vergleichende ten rekonstruierten im Mittel deutlich mehr Figuren richtig als empirische Untersuchung von im Expertisegrad sehr unter- die Novizen. schiedlichen Personen sollen diese Unterschiede sichtbar und analysierbar gemacht werden und letztlich Aussagen über die Entwicklung von Expertise abgeleitet werden. Wir wer-1 Problemlöseförderliche Wissensorganisation den später zeigen, dass sich diese Erkenntnisse auch auf die Die Fähigkeit von Experten, domänenspezifische InformatiEntwicklung fachbezogener Kompetenzen von Schülerinnen on auf Anhieb wahrnehmen und nahezu fehlerfrei wiedergeund Schülern übertragen lassen. ben zu können, war einer der Ausgangspunkte einer klassischen Studie der Expertiseforschung, nämlich der Untersuchung von Schachmeistern (De Groot 1965). Diese Fähigkeit Studie: Veranschaulichung der Methode des kontrastiven zeigte sich besonders deutlich in einer Aufgabe, in der eine Vergleichs – Expertise und Gedächtnisleistung (Gruber Schachstellung nur für wenige Sekunden präsentiert wur1994) de und dann frei erinnert und wiedergegeben werden sollte. Zeigen Experten bessere Gedächtnisleistungen als Novizen Während diese Aufgabe Novizen vor große Schwierigkeiten beim Erinnern domänenspezifischer, für kurze Zeit präsentierstellt, zeigen Experten herausragend gute Leistungen. Dieter Information? ser Gedächtniseffekt konnte auch in nicht-experimentellen Settings, wie etwa der Wahrnehmung von Schulklassen im Studie mit Schachspielern Klassenzimmer (Bromme 1992), nachgewiesen werden. Die Ursache für die Probleme der Novizen ist in bekannten BeStichprobe schränkungen der Gedächtnisleistung, vor allem dem beEs wurden zwei Versuchsgruppen gebildet, die sich (nur) im grenzten Umfang des Kurzzeitspeichers, zu finden. Dass die Expertisegrad unterschieden. Gruppe 1 umfasste 24 SchachexExperten den Novizen so überlegen sind, hat jedoch nichts perten, die in einer der drei höchsten deutschen Spielklassen mit allgemeinen Gedächtnisfähigkeiten zu tun – sie erinspielten. Gruppe 2 umfasste 24 Schachnovizen, die Schach nur nern nicht-domänenspezifisches Material nämlich nicht bessporadisch, also als Hobby, aber nicht im Verein spielten. Die ser (so konnten die Schachgroßmeister beispielsweise willGruppen unterschieden sich nicht in Alter, Bildung, nonverbakürlich aufgebaute Stellungen, die keinen typischen Schachler und verbaler Intelligenz. stellungen entsprachen, nicht besser als Novizen erinnern). Die überlegene Gedächtnisleistung von Experten kann auf Durchführung und Material die unterschiedliche Art und Weise zurückgeführt werden, Zu bearbeiten war eine Gedächtnisaufgabe, nämlich das freie wie sie ihr umfangreiches Wissen in der Domäne organisiert Erinnern von Schachstellungen, die zuvor nur für wenige Sehaben. Experten weisen demnach nicht nur größere Wissenskunden präsentiert wurden. Die Studienteilnehmer saßen in bestände auf, sondern können ihr Wissen auch unmittelbar individuellen Versuchen an einem Schachbrett. Die zu erineinsetzen, um erfolgreich zu handeln und Probleme zu lönernde Position wurde auf einem zweiten Schachbrett zehn sen. Die wichtigsten Modelle der Wissensorganisation und Sekunden lang gezeigt und sollte dann sofort und ohne ZeitbeWissenskumulation sind die Chunking-Theorie, die Pattern schränkung rekonstruiert werden. Die Versuchspersonen wurRecognition-Theorie sowie die Skilled Memory-Theorie. den lediglich instruiert, möglichst viele Figuren richtig aufzu-

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Kapitel 3  Problemlösen und Expertiseerwerb

Unter Chunking (Miller 1956) versteht man das Zusam- tät zu bewahren sowie Offenheit für Innovation zu erwerben. menfassen von Information in größere Einheiten, die mit Drittens ist die Einordnung in angemessene und förderliche Labels („Bezeichnungen“) versehen werden. So wird nicht die soziale (und schulische) Netzwerke erforderlich. Dementgesamte Informationsfülle, sondern lediglich das Label im sprechend existieren unterschiedliche Vorstellungen darüber, Kurzzeitgedächtnis gespeichert. Beim Abruf der Informatio- wie Expertise erworben und gefördert werden kann. Dienen werden mit Hilfe des Labels die relevanten Informationen se lassen sich danach unterscheiden, ob sie auf spezifische im Langzeitgedächtnis gesucht und anschließend dekodiert. individuelle Lernprozesse abzielen (individuelle MikroproMiller stellte fest, dass 7˙2 Chunks vom menschlichen Kurz- zesse wie Wissensaneignung), ob sie von einer langfristizeitgedächtnis gespeichert werden können, so dass sich die gen Stufenabfolge von Expertiseerwerb sprechen (individuKapazitätsbeschränkung des Kurzzeitgedächtnisses auf die elle Makroprozesse wie die Entwicklung vom Novizen zum Anzahl speicherbarer Chunks beziehen lässt. Bei sinnvoller Experten) oder ob sie unter Expertise sogar organisationale Kodierung von Informationen zu Chunks ist die Kapazi- Veränderungsprozesse bezüglich der individuellen Position tät des Kurzzeitgedächtnisses jedoch prinzipiell unbegrenzt in Netzwerken oder professionellen Organisationen versteerweiterbar. So lassen sich beispielsweise die Buchstaben hen. Bezogen auf Expertiseerwerb im Kontext Schule können „I“, „W“, „D“ und „N“ auch als das Wort „Wind“ merken, Jahrgangsstufen durchaus als eine Form von Kompetenzstuwodurch anstelle von vier Chunks nur ein Chunk gespei- fen gesehen werden. Die Wahl der Sekundarschulform sowie chert werden muss. Der Speicherungsprozess des Chunkings der Besuch spezifischer Kurse spiegeln die Veränderung der wird durch die Pattern Recognition-Theorie (Chase & Simon Position von Schülerinnen und Schülern in der professionel1973) um die Komponente der Wiedererkennung ergänzt. len Organisation „Schule“ wider. Bei Kurzzeitgedächtnisaufgaben kann ein bestimmtes Muster wiedererkannt und verwendet werden, sofern es zuvor1 Individuelle Mikroprozesse mit einem Label gespeichert wurde. Laut Skilled Memory- Enkapsulierung von Wissen Theorie (Chase & Ericsson 1981) werden die für den Umgang In einer Reihe von Studien konnte nachgewiesen wermit großen Informationsmengen entscheidenden Prozesse den, dass im Verlauf der Expertiseentwicklung in der Medizin vom Kurzzeitspeicher in einen Langzeitspeicher verlegt. In ei- – und ähnlich in anderen fallbezogenen Berufen wie der ner Ergänzung der Skilled Memory-Theorie konnten Ericsson Psychotherapie oder der Beratung (Caspar 1997; Strasser & und Kintsch (1995) Belege dafür finden, dass die überle- Gruber 2003 2015) – dramatische Veränderungen in der Orgene Gedächtnisorganisation Experten sogar dazu befähigt, ganisation und Nutzen von Wissen erfolgen, die die intraindigerade wahrgenommene Information unmittelbar vom Kurz- viduelle Entwicklung kennzeichnen. Diese Prozesse der quazeitspeicher in den Langzeitspeicher zu übernehmen und litativen Veränderung der Wissensbasis bei steigendem Exsofort verfügbar zu haben. Im Gegensatz dazu ist der Kurz- pertisegrad gehen mit einer intensiven und gezielten Nutzung zeitspeicher eines Novizen erst einmal damit beschäftigt, der beruflichen Erfahrung einher, die zu verschiedenen Zeitgerade wahrgenommene Information zu verarbeiten. Somit punkten (im Medizinstudium, im Praktischen Jahr oder in sind weniger Gedächtniskapazitäten für nachfolgende Infor- späterer klinischer Tätigkeit) unterschiedliche Schwerpunkte mationen frei (vgl. 7 Kap. 2). aufweist. In einer frühen Studie hatte Lesgold (1984) zeigen können, dass die Expertiseentwicklung von Radiologen bei der Röntgendiagnostik nicht linear, sondern U-förmig verläuft. Das bedeutet, dass die berufliche Kompetenz zwi3.3.3 Expertiseerwerb: Erfahrung als schenzeitlich absinkt, bevor sie ein höheres Level erreicht. Grundlage von Routinen und von Lesgold (1984) begründete dies damit, dass RöntgenaufnahInnovation men viele irrelevante visuelle Informationen enthalten und Radiologen somit neben biomedizinisch deklarativem WisDer Expertiseerwerb ist ein langer und mühevoller Lernpro- sen auch klinisches Erfahrungswissen benötigen. Anfangs zess, der es erfordert, dass ein Novize über einen langen Zeit- beruht die diagnostische Entscheidung noch auf zuvor erraum hinweg bereit ist, für die Verbesserung der Leistungs- worbenem biomedizinischem Wissen (also auf dem in Vorlefähigkeit auch motivationale Durststrecken zu durchqueren. sungen theoretisch erworbenen medizinischen Wissen). Erst Damit ähnelt der Prozess stark dem Evolutionsprozess von in der weiteren beruflichen Entwicklung wird verstärkt kliSchülerinnen und Schülern vom Schuleintritt bis zum Erwerb nisches Wissen (also das Wissen, das im klinischen Alltag des Abschlusszeugnisses. Im Verlauf des Expertiseerwerbs durch Praxiserfahrung aufgebaut wird) genutzt, wobei es in kommt es darauf an, domänenspezifische Erfahrung gezielt der Übergangsphase so lange zu Störungen und dem damit aufzusuchen und für die Verbesserung der eigenen Leistun- verbundenen Leistungsabfall kommen kann, bis neue Routigen zu nutzen. Dies erfordert erstens eine immer wieder nen aufgebaut werden. Boshuizen und Schmidt (1992) zeigten, dass Ärzte mit durchzuführende Adaptation der eigenen, individuellen Informationsverarbeitungsprozesse, zweitens die Einordnung steigendem Expertisegrad weniger auf biomedizinisches Wisin verschiedene Entwicklungsstufen und die Bereitschaft, we- sen beim Erstellen von Diagnosen zurückgriffen als Novizen. nig kompatible Lernerfahrungen zu kombinieren, etwa um Im Gegensatz zu Novizen konnten sie allerdings stärker von zugleich wiederkehrende Routinen aufzubauen und Flexibili- Kontextinformationen über die Patienten profitieren. Bos-

59 3.3  Expertise: Wissensbasiertes Problemlösen

einen durch dritte Personen, wie z. B. Lehrkräfte, zum anderen durch Selbstreflexion des Lernenden. Zusammengefasst bleibt festzuhalten, dass einerseits individuelle Mikroprozesse Expertiseerwerb vorantreiben können und hierfür auch notwendig sind, dass andererseits Expertiseerwerb immer auch mit dem Erreichen unterscheidbarer qualitativer Stufen einhergeht, wie sie etwa in der Dreiteilung Novize-intermediate-Experte beschrieben werden. Es gibt einige Ansätze, die solche individuellen Makroprozesse Deliberate Practice Das Modell der deliberate practice („Gezieltes Üben“; in theoretischen Stufenabfolgen skizzieren. Diese werden im Ericsson, Krampe & Tesch-Römer 1993) wurde anhand von Folgenden vorgestellt. Studien mit Berufsmusikern entwickelt, konnte aber mittlerweile in vielen anderen Domänen bestätigt werden (z. B.1 Individuelle Makroprozesse Medizin: van de Wiel & van den Bossche 2013). Die bisher in In ihrem Fünfphasenmodell unterschieden Dreyfus und diesem Kapitel beschriebenen Prozesse des Expertiseerwerbs Dreyfus (1987) fünf Expertisegrade (Neuling, fortgeschrittesind mit großem Zeitaufwand und Anstrengung verbunden – ner Anfänger, Kompetenz, Gewandtheit und Expertentum). beides garantiert aber nicht den Expertiseerwerb, denn es gibt Dabei erwähnten sie Komponenten, die bei der Analyse der zahllose Beispiele von Novizen, die trotz großen Zeit- und Ar- eben beschriebenen Mikroprozesse kaum thematisiert wurbeitsaufwands nicht zu einem hohen Expertisegrad gelangen. den, etwa die Zielauswahl, die Nutzung von Erfahrung in unDies gilt analog auch für eine Vielzahl von Schülerinnen und terschiedlichen Situationen sowie die Leichtigkeit des ExperSchülern, die trotz hohen Lernaufwands keine große Stei- tenhandelns. Ein anderes Modell (Groen & Patel 1988) wurde gerung ihrer schulfachlichen Kompetenz erzielen können. in der Medizin entwickelt und zeigt Anklänge an das EnkapDie Expertiseforschung führt dieses Phänomen jedoch nicht sulierungsmodell. Es unterscheidet zwischen generischer Exprimär auf mangelnde Begabung zurück, sondern fokussiert pertise (Aufbau einer großen deklarativen Wissensbasis) und stattdessen die Qualität von Übungs- und Lernprozessen. Das spezifischer Expertise (Aufbau herausragender HandlungsModell der deliberate practice postuliert, dass nicht jede belie- kompetenz). Letztere unterteilten Patel und Groen (1991) bige Übungsform bei ausreichender Quantität auch Experti- in vier Stufen, nämlich Anfänger, intermediate, generischer seerwerb zur Folge hat. Demnach müssen im Zuge der Exper- Experte und Experte. Hatano und Inagaki (1986) trennten tiseentwicklung gezielte (deliberate) Übungen (practice) um Routineexpertise (Automatisierung von Handlungsvorgänder Verbesserung Willen zum Einsatz kommen. Einfach aus- gen) und adaptive Expertise (Flexibilität von Handlungsvorgedrückt muss man sich also häufig genau mit den Aspekten gängen). auseinandersetzen, die man am schlechtesten kann. Das hat Die Differenzierung von individuellen Makroprozessen dann zur Folge, dass deliberate practice meist nicht motivie- hat Auswirkungen auf die Lehr- und Lernprozesse und somit rend erscheint. Gerade in dieser Phase nehmen Lehrende eine auch auf die Rahmenbedingungen von Expertiseentwicklung tragende Rolle ein. Sie können den Lernenden verdeutlichen, in Aus- und Weiterbildungskonstellationen. Um angemessewohin deliberate practice führen kann. Zudem sind Lehrkräf- nen Lernerfolg zu begünstigen, sollten Instruktionsmodelle te oft in ein Netzwerk von Experten eingebunden (so ken- auf die unterschiedlichen Expertisekomponenten eingehen. nen Musiklehrerinnen und Musiklehrer oftmals eine Vielzahl Dies veranschaulichten Strasser und Gruber (2003) anhand verschiedener Musikerinnen und Musiker) und können dem- der Domäne der Erziehungsberatung. Beratungsexpertise ernach dafür sorgen, dass auch die Lernenden Zugang zu diesen langt man nicht allein durch das Erreichen einer formalen Netzwerken erhalten. Diese Einführung in Expertennetzwer- Qualifikation (z. B. Studienabschluss), sondern man benötigt ke führt in der Regel zu Motivationssteigerung und stellt zudem die (selbst-)reflektierte Auseinandersetzung mit dem zudem eine wichtige Komponente von Expertise dar. spezifischen Arbeitsfeld. Auch hier zeigt sich die NotwendigGruber, Degner und Lehmann (2004) analysierten die keit von Erfahrungswissen, das – ähnlich wie bei der oben Karrieren von Jazz-Gitarristen unterschiedlicher Expertise- angesprochenen Röntgendiagnostik – durchaus diskrepant grade. Dabei wurden sowohl Beginn, Dauer und Intensität zu deklarativem Beratungswissen sein kann. Durch Erfahdes Musikunterrichts als auch die Präsenz von Musiklehr- rungswissen kann zudem domänenspezifisches Fachwissen kräften, das künstlerische Anspruchsniveau, verschiedene dazu genutzt werden, die Bedeutsamkeit von Erfahrungen zu Unterrichtskonzepte, Feedback und Kritik nach Auftritten beurteilen. Anhand des Fachwissens können gemachte Erfahusw. thematisiert. Es zeigte sich, dass hoher quantitativer rungen also besser eingeordnet und kann ihre Relevanz für Übungsaufwand mit hoher qualitativer Ausarbeitung des die eigene Domäne besser beurteilt werden. Fach- und ErfahÜbens einhergeht. Dies wird als ein zentrales Charakteris- rungswissen ergänzen sich also und stehen nicht zueinander tikum von deliberate practice angesehen. Um einen hohen in Gegensatz. Experten zeichnen sich durch eine VerknüpExpertisegrad zu erlangen, ist es demzufolge wichtig, eigene fung von Theorie und Praxis aus, die mit einer zunehmenden Defizite sowie Lernfortschritte zu kontrollieren (in der Schu- Integration in professionelle (soziale) Netzwerke einhergeht le: Monitoring bzw. Selbstregulierung). Dies geschieht zum (Gruber 2007). huizen und Schmidt (1992) zeigten also, dass Experten ihr Wissen umgewandelt und generalisiert hatten, das biomedizinische Wissen wurde in das klinische Erfahrungswissen integriert und bei Bedarf lediglich in enkapsulierter Form genutzt. Nach diesem Modell der Enkapsulierung führt zunehmende Erfahrung zu einer Umwandlung von deklarativem Wissen in fallbezogenes Wissen.

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Kapitel 3  Problemlösen und Expertiseerwerb

1 Organisationale Veränderungsprozesse

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Rehrl und Gruber (2007) kennzeichneten das Hineinwachsen von Individuen in eine Expertengemeinschaft als eine zentrale Komponente des Expertiseerwerbs. Sowohl der Verlauf als auch die Zielrichtung individueller Mikro- und Makroprozesse hängen von der jeweiligen und über lange Zeiträume zu gewährleistenden Einbindung der Individuen in professionelle Netzwerke ab. Dabei gehen Veränderungen in der Qualität der individuellen Mikro- und Makroprozesse mit Veränderungen der individuellen Position in Netzwerken einher, da der individuelle Expertiseerwerb häufig in Zusammenhang mit Denken und Handeln anderer Experten steht. Gruber et al. (2004) zeigten in Bezug auf deliberate practice, dass in erster Linie Partner in Netzwerken (z. B. Lehrkräfte als Partner von Schülerinnen und Schülern) bestimmen, welche Übungsprozesse für den weiteren Expertiseerwerb notwendig sind. Lave und Wenger (1991) betonten, dass Expertiseerwerb neben der individuellen Entwicklung auch häufig die zunehmende Übernahme zentraler Rollen in professionellen Netzwerken beinhaltet. Damit einhergehend entsteht im Zuge des Expertiseerwerbs sowohl Verantwortung als auch die eigene Identifizierung mit kulturellen Werten und professionellen Praktiken des jeweiligen Netzwerks. Moreland, Argote und Krisman (1996) entwickelten das Konzept des transaktiven Gedächtnisses. Es bezeichnet das Wissen darüber, wie im jeweiligen Netzwerk Fach- und Handlungswissen verteilt sind, welche Experten an wichtigen Schaltstellen im Netzwerk sitzen und wie ein Zugriff auf das Wissen anderer Experten derselben Domäne möglich ist. Rehrl, Palonen, Lehtinen und Gruber (2014) stellten ähnliche Entwicklungsprozesse auch in verschiedenen Disziplinen in der Wissenschaft fest. Durch die zunehmende Teilhabe an und Gestaltung von Handlungen in professionellen Netzwerken erweitern Individuen wiederum ihre Erfahrungsmöglichkeiten und damit das Potenzial, Neuerungen in die eigene Wissensbasis aufzunehmen. So kann neben der Verfügbarkeit von Routinen auch das Potenzial zur Gestaltung von Innovationen im Beruf bewahrt werden (Palonen, Boshuizen & Lehtinen 2014).

3.4

Expertiseerwerb im Kontext Schule

Was könnte „Expertiseerwerb“ nun in Bezug auf Schülerinnen und Schüler bedeuten? Welche der genannten kognitionspsychologischen Konzepte und Erkenntnisse lassen sich auf das Lernen und auf die Leistung von Schülerinnen und Schülern übertragen, wo gibt es Grenzen? Zunächst einmal muss festgehalten werden, dass weder der Expertenbegriff noch das Konzept der Expertise gängige Begriffe bei der Untersuchung von Schülerleistungen sind. Gerade im Zuge der empirischen Bildungsforschung, die in Deutschland nicht zuletzt aufgrund des sogenannten „PISA-Schocks“ im Jahr 2000 einen enormen Schub erhielt, wird derzeit verstärkt eher von „Kompetenzen“ von Schülerinnen und Schülern gesprochen (7 Abschn. 3.4.2). Bislang wurde der Expertisebegriff in diesem Kapitel aus kognitionspsychologischer Sicht diskutiert.

Um die Bedeutung des üblicherweise in der empirischen Bildungsforschung und in der Unterrichtsforschung verwendeten Expertisebegriffes zu verstehen, ist ein Rückgriff auf die Lehrkräfte erforderlich, für die dieser Begriff im Forschungskontext (wenn auch nicht im Alltag; Bromme 1993) weit verbreitet ist.

3.4.1

Der Expertisebegriff für Lehrkräfte in der Bildungsforschung

Die bereits über 100 Jahre alte Geschichte der „Lehrerforschung“, in der sich der oben beschriebene Wechsel vom Behaviorismus zum Kognitivismus in einer Fokusverschiebung vom Lehrerverhalten zum Lehrerwissen widerspiegelt, mündete in den 1980er Jahren tatsächlich im sogenannten „Expertenparadigma“ auch in der Unterrichtsforschung (Krauss & Bruckmaier 2014). Diese derzeit vorherrschende Forschungssicht auf Lehrkräfte macht deutlich, dass professionelle Kompetenzen von Lehrkräften als prinzipiell erlernbar angesehen werden und dass viele der oben genannten Aspekte zu Struktur und Genese von Expertise direkt auf die Professionalisierung von Lehrkräften übertragbar sind (Kunter et al. 2011). Bereits beim Expertenparadigma zum Lehrerberuf wird aber auch deutlich, dass unter „Expertise“ in der empirischen Bildungsforschung üblicherweise nicht mehr Höchstleistungen und Perfektionsstreben im engeren Sinne verstanden werden, sondern als Performanzmaßstab für Lehrkräfte stattdessen eine – z. B. nach Oser (2009) – souveräne, also dauerhafte, zuverlässige und qualitätsvolle Bewältigung der beruflichen Anforderungen eingeführt werden musste. Darüber hinaus macht der Titel des wegweisenden Buches von Bromme (1992: „Der Lehrer als Experte“) deutlich, dass Lehrkräfte quasi „qua Amt“ als Experten für die komplexe Aufgabe des Unterrichtens gesehen werden und dass diese Aufgabe von Nicht-Professionellen nicht erfolgreich bewältigt werden kann. In diesem vor allem im deutschsprachigen Diskurs verbreiteten „Professionsansatz“ werden also nicht mehr Experten von Novizen (also Anfängern in dieser Disziplin) unterschieden, sondern „Experten für Unterrichten“ werden nach außen hin von Laien – also von „Nicht-Lehrern“ – abgegrenzt. Diese Betrachtung des „Lehrers als Experten“ ist oft mit einer Fokussierung auf das durch Ausbildung und Berufserfahrung erworbene professionelle Wissen verbunden (z. B. Fachwissen, fachdidaktisches Wissen, pädagogisches Wissen; 7 Kap. 20), das ein wesentliches Merkmal ist, das Lehrkräfte deutlich von Laien unterscheidet. Während die Fokussierung auf das Wissen durchaus kompatibel mit vielen der geschilderten Ideen der Expertisetheorie ist, weichen die Definition eines Experten sowie der zugrunde gelegte Performanzmaßstab hier also ab. Diese Herangehensweise, die oft mit der psychometrischen Konstruktion und empirischen Validierung von Professionswissenstests verbunden ist, ist vor allem in Deutschland zu beobachten (Krauss et al. 2017), in der angloamerikanischen Forschungs-

61 3.4  Expertiseerwerb im Kontext Schule

tradition gibt es durchaus auch Experten-Novizen-Studien mit Lehrkräften (Krauss & Bruckmaier 2014).

3.4.2

Der Kompetenzbegriff für Schülerinnen und Schüler in der Bildungsforschung

In Bezug auf Schülerinnen und Schüler ist der Begriff der Expertise in der empirischen Bildungsforschung und in der Unterrichtsforschung eher unüblich. Im Folgenden soll erläutert werden, dass aber der in vielen Bildungsstandards und aktuellen Lehrplänen in Hinblick auf Schülerinnen und Schüler oft bemühte Kompetenzbegriff in vielerlei – wenn auch nicht in jeder – Hinsicht kompatibel mit dem Begriff der Expertise ist. Die Idee der „flächendeckenden“ Einführung des Kompetenzbegriffs im Kontext von Schülerlernen und Schülerleistungen in Deutschland folgte einem Rationale, das viele Gemeinsamkeiten mit dem kognitionspsychologischen Expertisebegriff aufweist. Nach der Veröffentlichung der Ergebnisse der ersten PISA-Studie (Baumert et al. 2001), nach der die Fachleistungen von deutschen Schülerinnen und Schülern in den Disziplinen Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen im internationalen Vergleich wider Erwarten nur unterdurchschnittlich waren, setzte in Wissenschaft und Medien sofort eine heftige Diskussion über mögliche Ursachen ein („PISA-Schock“; heutzutage sind die Leistungen deutscher Schülerinnen und Schüler bei PISA leicht über dem Durchschnitt). Als einer der Gründe wurde dabei wiederholt die mangelnde Fähigkeit deutscher Schülerinnen und Schüler genannt, ihr in der Schule gelerntes Wissen in Anwendungssituationen umzusetzen. Viele Aufgaben der im dreijährigen Zyklus durchgeführten PISA-Studie hatten und haben immer noch starken Anwendungscharakter. Diese Erkenntnis führte beispielsweise für das Fach Mathematik dazu, dass bundesweite Bildungsstandards formuliert wurden, die als Unterrichtsziel – noch stärker, als dies bis dahin üblich war – u. a. die Fähigkeit zur kompetenten Anwendung mathematischen Wissens einforderten (7 Kap. 8). In den Bildungsstandards für den mittleren Schulabschluss (Blum, Drüke-Noe, Hartung & Köller 2010), auf die sich die Kultusministerkonferenz im Jahr 2003 einigte, ist das schematische Beherrschen von (Rechen-)Routinen folgerichtig nur noch eine von sechs gleichberechtigten Kompetenzen, die im Unterricht sowohl gefordert als auch gefördert werden sollten. Darüber hinaus sollen Lehrkräfte, aber auch Lehrpläne und Schulbücher für das Fach Mathematik, Lerngelegenheiten zur Förderung des mathematischen Argumentierens, des mathematischen Problemlösens, des mathematischen Modellierens, des Verwendens von mathematischen Darstellungen und des mathematischen Kommunizierens bereitstellen (KMK 2004). Schülerinnen und Schüler sollen also nicht nur Rechenaufgaben lösen können, sondern auch Sachverhalte und Schlussfolgerungen mathematisch begründen können (bis hin zum Beweisen),

sie sollen neuartige mathematische Probleme auch dann lösen können, wenn keine Standardprozeduren verfügbar sind, sie sollen reale Situationen in der Sprache der Mathematik beschreiben können, sie sollen mathematische Darstellungen verwenden und interpretieren können, und sie sollen mathematische Texte verstehen und sich über Mathematik auch verbal austauschen können (für Details siehe Blum et al. 2010). Insofern findet auch das Problemlösen – zumindest im Kontext der Mathematik – als mathematische Teilkompetenz seinen Platz im deutschen Schulcurriculum. Obschon das Problemlösen kein eigenständiges Unterrichtsfach darstellt, wird es bei PISA zusätzlich als eigenes Konstrukt, das über die Mathematik hinausgeht, regelmäßig erhoben (Prenzel, Sälzer, Klieme & Köller 2013). Diese „Kompetenzorientierung“ von Schule und Unterricht fand (und findet immer noch) nicht nur im Fach Mathematik und den beiden anderen „PISA-Disziplinen“ Lesen und Naturwissenschaften statt, sondern wird deutschlandweit derzeit in allen Unterrichtsfächern umgesetzt. Selbst aktuelle Curricula in Fächern wie Religionslehre oder Musik sind zunehmend kompetenzorientiert formuliert. Dies ist nicht selbstverständlich, da es durchaus strittig ist, ob es sich bei spirituellen oder ästhetischen Aspekten der Weltbegegnung (immer auch) um Kompetenzen handelt (für eine entsprechende Diskussion in verschiedenen Fächern siehe Krauss et al. 2017). Der entscheidende Aspekt der Kompetenzorientierung ist, dass verhindert werden soll, dass sich bei Schülerinnen und Schülern in der Schulzeit eine Fülle von „trägem“ Wissen ansammelt, das zwar deklarativ wiedergegeben werden kann, das aber in Anwende- oder Problemlösesituationen nicht flexibel eingesetzt werden kann. Auch wenn die Vorteile einer Kompetenzorientierung offensichtlich und plausibel sind, muss eingeräumt werden, dass gelegentlich auch ein Wegfallen des Eigenwerts von Fachinhalten, also von „Bildung“, beklagt wird. So konstatiert etwa Liessmann (2016), dass sich kaum jemand mit einer philosophischen Theorie beschäftigen würde, um daran seine Argumentationskompetenz zu verbessern, sondern dass Neugier und Interesse in der Regel immer von Inhalten ausgehe und dass der Wert und die Bedeutung von Inhalten verloren ginge, wenn diese nur noch als „zweckdienlich“ zum Erwerb von Kompetenzen betrachtet und somit beliebig und austauschbar werden. Befürworter der Kompetenzorientierung betonen jedoch, dass Kompetenzen selbstverständlich immer auf Wissen basieren (müssen). Im Fokuskasten werden einige Gründe für und gegen die Bezeichnung von Schülerkompetenzen als „Expertise“ aufgeführt. Doch selbst wenn der schulische Kompetenzbegriff nicht völlig deckungsgleich zum Expertisebegriff ist, ist es unbestritten, dass die Lehr-Lern-Forschung bzw. die Unterrichtsforschung von der Expertiseforschung profitieren kann, gerade auch, was Erkenntnisse zum frühen Stadium auf dem Weg vom Novizen zum Experten bzw. Erkenntnisse über das Wechselspiel von Wissen, Begabung und Problemlösen oder zur Informationsverarbeitung betrifft.

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Kapitel 3  Problemlösen und Expertiseerwerb

Im Fokus: Schülerkompetenz D Expertise?

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Pro Gemeinsam haben der Expertisebegriff und der (schulische) Kompetenzbegriff die Vorstellung, dass Kompetenzen prinzipiell erlernbar sind. Auch der Erwerb in den einzelnen Unterrichtsfächern läuft in vielen Teilen äquivalent zum Erwerb von Expertise ab: Für schulische Leistungen ist ebenfalls stetiges Üben, Arbeiten an eigenen Schwächen, Selbstregulation und Expertenfeedback (in diesem Fall durch die Lehrkraft) erforderlich (deliberate practice; 7 Abschn. 3.3.1), und der Unterricht im Klassenverband kann durchaus als Arbeiten in professionellen Netzwerken aufgefasst werden. So werden beispielsweise von Brown et al. (1993) verschiedene Aspekte des Arbeitens in Schülernetzwerken mit „verteilter Expertise“ beleuchtet und auch Bielaczyc und Collins (1999) heben die Rolle von Lerngemeinschaften in Klassenzimmern hervor. Nicht nur die individuellen Mikroprozesse, auch die Makroprozesse beim Erwerb von Expertise erinnern durchaus an schulische Kompetenzmodelle, die ebenfalls mit Hilfe von Stufen formuliert sind (siehe die sieben Stufen mathematischer Kompetenz bei PISA 2012; Prenzel et al. 2013). Die Kompetenzorientierung und das damit verbundene literacy-Konzept unterstreichen weiterhin die Bedeutung der Anschlussfähigkeit des in der Schule erworbenen Wissens. Ganz im Sinne des lebenslangen Lernens ist die zentrale Idee des Kompetenzkonzepts, dass von Schülerinnen und Schülern auch metakognitives Wissen über Lernstrategien erworben werden soll, das auch nützlich für den späteren Expertiseerwerb außerhalb der Schule sein kann. Während der Expertisebegriff für Schülerleistungen im deutschen Sprachraum nur ein Schattendasein fristet – und zwar sowohl in Hinblick auf die Alltagssprache als auch in der empirischen Bildungsforschung –, muss an dieser Stelle festgehalten werden, dass es im angloamerikanischen Sprachraum durchaus Ansätze gibt, das Expertisekonzept auch auf das Lernen und die (Fach-)Leistungen von Schülerinnen und Schülern anzuwenden. So macht beispielsweise ein renommiertes Lehrbuch zur Pädagogischen Psychologie (Sternberg & Williams 2009) deutlich, dass es gerade Aufgabe des expert teachers sei, Schülerinnen und Schüler selbst zu Experten für bestimmte Disziplinen zu machen (Kinchin 2016). Und die Studie von Chi und Koeske (1983) zeigt auf unterhaltsame Weise, dass es durchaus berechtigt ist, manchen Kindern beispielsweise in Bezug auf Dinosaurier Expertenstatus zuzuschreiben. Contra Ein Unterschied des Kompetenzkonzepts zum Expertisekonzept ist sicherlich – wie auch schon bei den Lehrkräften – prinzipiell der fehlende Fokus auf Höchstleistungen:

Auch wenn Schülerinnen und Schüler auf der höchsten Kompetenzstufe jeweils weit überdurchschnittliche Leistungen zeigen, kann nicht von „Höchstleistungen auf dem Gebiet der Mathematik“ gesprochen werden – solche Höchstleistungen sind eher Fach- oder Universitätsmathematikerinnen und -mathematikern vorbehalten, auch wenn auf schulischen Mathematik-Olympiaden immer wieder erstaunliche Leistungen gezeigt werden. Pioniere der Expertiseforschung wie Ericsson vertreten unter Umständen sogar extreme Meinungen, nämlich etwa, dass die Schule keinerlei Beitrag zur Expertiseentwicklung von Schülern leiste, weil sie keine deliberate practice ermögliche (Ericsson 2011). Ein weiterer Unterschied zwischen beiden Konzepten liegt sicherlich auch darin, dass in der kognitionspsychologischen Expertiseforschung typischerweise auf eine Domäne fokussiert wird. Schülerinnen und Schüler dagegen müssen „Experten“ für verschiedene Domänen (nämlich für die Unterrichtsfächer) werden, sie sollten also idealerweise „multiple Expertise“ erreichen. Dieses Phänomen lässt sich besser mit dem Kompetenzkonzept beschreiben.

Zusammenfassung In diesem Kapitel ging es uns darum zu illustrieren, welche Möglichkeiten es gibt, Menschen dabei zu unterstützen, anspruchsvolle Lernaufgaben zu bewältigen und langfristig ein hohes Leistungsniveau zu erreichen. Dabei wurde deutlich, dass es viele Ansätze in der Lehr-Lern-Forschung, der Unterrichtsforschung und der Pädagogischen Psychologie gibt, die zu diesem Themenbereich wichtige Beiträge leisten – leider sind diese Ansätze noch nicht immer gut aufeinander abgestimmt. Daher wurde besonderes Augenmerk darauf gelegt zu verdeutlichen, wie fruchtbar es sein kann, jeweils unterschiedliche Sichtweisen miteinander zu verknüpfen. Dies erfolgte in vier Schritten, in denen die folgenden Aspekte diskutiert wurden: 1. Wie hängen Problemlösen und Wissen miteinander zusammen? 2. Wie hängen angeborene Begabung und Lernen und Übung miteinander zusammen? 3. Wie hängt die individuelle Entwicklung im Kleinen (Mikroprozesse) mit der in größeren Zusammenhängen (Makroprozesse) zusammen, und wie fügen sich diese beiden Prozesse in größere Systeme oder Organisationen ein? 4. Wie hängen Expertiseerwerb und Kompetenzorientierung zusammen? Es zeigte sich, dass von Problemlösen vor allem dann gesprochen wird, wenn noch keine fertigen Routinen zur

63 3.4  Expertiseerwerb im Kontext Schule

Verfügung stehen oder wenn eine Person nicht vor vornherein das Wissen besitzt, wie eine Aufgabe zu bewältigen ist. Es ist aber nicht einfach, zu bestimmen, welches Wissen das „richtige“ Wissen ist, denn die meisten Probleme sind komplex und in bestimmte situationale Kontexte eingebunden. Es gibt also immer einen Übergangsbereich, in dem bestimmte Teile von Aufgaben mit bestehendem Wissen bewältigt werden können, andere hingegen mit Problemlöseprozessen angegangen werden müssen. Je weniger eine Person über den Gegenstandsbereich weiß, aus dem die Aufgabe stammt, umso wichtiger ist das Problemlösen. Das bedeutet, dass Experten bei Routineproblemen nicht etwa qualitativ andersartiges, sondern gar kein Problemlösen betreiben. Das Drei-Phasen-Modell des Fertigkeitserwerbs verdeutlicht, wie der Übergang vom Problemlösen zur wissensbasierten Aufgabenbewältigung abläuft. Dieser Übergang muss pädagogisch begleitet werden, wenn sich Lernende entsprechend entwickeln sollen. Analog zu dem eben genannten Übergang verändert sich auch die Bedeutung, die angeborene Fähigkeiten oder Begabungen für die Bewältigung von Lernund Arbeitsaufgaben haben. Zu Beginn der individuellen Entwicklung sind sie – z. B. die Geschwindigkeit, mit der kognitive Prozesse ablaufen können – erheblich dafür verantwortlich, dass sich Menschen in den Ergebnissen von Problemlöseaktivitäten unterscheiden. Später spielt die Verfügbarkeit von viel Wissen, das zudem gut organisiert ist, eine viel größere Rolle. Deshalb wird die Gestaltung von Lern- und Übungsprozessen immer wichtiger. Die wesentliche pädagogische Aufgabe (z. B. für Lehrkräfte) ist es, Lernende dabei zu unterstützen, die richtigen in einer richtigen Art und Weise zu üben sowie die Lernbemühungen lang aufrecht zu erhalten. Dabei spielen kognitive Veränderungen eine wichtige Rolle – also z. B. die Art und Weise, wie Lernende ihr Wissen organisieren, wie geschickt sie Wissen abrufen können, wie gut sie über die Anwendbarkeit von Wissen, aber auch über deren Grenzen Bescheid wissen, oder wie gut sie Lehren aus ihren eigenen Lernerfahrungen ziehen, egal, ob sie positiv oder negativ verliefen. Solche kognitiven Veränderungen oder individuellen Mikroprozesse verändern sich im Verlauf der Entwicklung von Menschen, denn die Aufgaben, denen sie begegnen, werden immer anspruchsvoller (sei es, dass Schülerinnen und Schüler von der Mittelstufe in die Oberstufe wechseln, sei es, dass Ärztinnen und Ärzte sich von Studierenden zu Medizinerinnen und Medizinern im Praktischen Jahr und irgendwann zu Fachärztinnen und Fachärzten entwickeln). Eine instruktionale Unterstützung dieser Entwicklung muss unterschiedliche Phasen oder Stufen berücksichtigen, die als individuelle Makroprozesse den Rahmen abgeben, innerhalb dessen die jeweils angemessenen Mikroprozesse ablaufen. Je mehr solcher Stufen von der Person schon

bewältigt wurden, desto wichtiger wird die Rolle, die sie in der Gesellschaft, in Organisationen oder in beruflichen Netzwerken einnehmen. Sie können und müssen mehr Verantwortung übernehmen und dann zur Entwicklung der Organisation selbst beitragen. Dabei kommen das Wissen und die Erfahrung der Personen zur Geltung, zugleich stehen sie aber in der Verantwortung, die Triebfedern für Innovation und Weiterentwicklung zu sein. Das Zusammenspiel von Problemlösen und Wissen spiegelt sich sozusagen auf einem höheren Niveau wider. Die Frage, inwieweit es gerechtfertigt ist, von Expertiseerwerb in der Schule zu sprechen, ist nicht einfach zu beantworten. Es gibt Unterschiede zwischen beiden Bereichen – beispielsweise zielt die Forschung zum Expertiseerwerb meist auf berufliche Tätigkeiten ab und ist besonders am Entstehen von Höchstleistungen interessiert, die nur zustande kommen können, wenn eine zunehmende Konzentration auf einen bestimmten Gegenstandsbereich erfolgt (Domänenspezifität). In der Schule geht es nur selten um Höchstleistungen, und Schülerinnen und Schüler können und dürfen sich nicht nur auf ein Fach konzentrieren, sondern müssen sich in vielen Fächern bewähren. Dennoch überwiegen die Gemeinsamkeiten, die für das Lehren und Lernen in beiden Bereichen bestehen. Die wichtigsten Theorien haben gemeinsam, dass sie die angestrebten Fähigkeiten und Leistungen für erlernbar halten, dass sie Wissenserwerb und deswegen intensives, gut angeleitetes und reflektiertes Üben für wichtig halten und dass eine besondere Herausforderung darin besteht, die Balance zwischen Problemlösen und Wissen immer wieder – und auf immer höherem Leistungsniveau – zu finden und pädagogisch sowie didaktisch zu bewältigen. In diesem Sinne verweist die Entwicklung im deutschen Schulsystem hin zu einer Ausrichtung an Bildungsstandards und einer Kompetenzorientierung auf viele Aspekte, die in der Expertiseforschungthematisiert wurden und werden. Wie die wechselseitige Beziehung zwischen der Expertiseforschung und der Unterrichtsforschung so ausgebaut werden kann, dass beide Bereiche voneinander profitieren, ist eine große, aber aussichtsreiche Herausforderung für die nächsten Jahre. Dies kann sowohl in der grundsätzlichen Lehr-Lern-Forschung als auch in der pädagogischen und didaktischen Praxis – in der Schule wie auch am Arbeitsplatz und im Beruf – zu neuen Impulsen und Innovationen verhelfen.

Verständnisfragen ?1. Was beschreibt das Drei-Phasen-Modell des Fertigkeitserwerbs? 2. Was ist Gegenstand der Expertiseforschung? 3. Was versteht man unter Domänenspezifität?

3

64

3

Kapitel 3  Problemlösen und Expertiseerwerb

4. Was versteht man unter der Methode des kontrastiven Vergleichs? 5. Wie kann der Begriff Chunking beschrieben werden? 6. Wie lauten die sechs Phasen des Lernens durch Einsicht nach Köhler? 7. Welche drei Fähigkeiten befähigen Experten zu hoher Flexibilität beim Problemlösen? 8. Was versteht man unter Deliberate Practice („Gezieltes Üben“)? 9. Welche Lerngelegenheiten sollen Lehrkräfte, Lehrpläne und Schulbücher laut KMK für das Fach Mathematik bereitstellen? 10. Wie steht die idealerweise „multiple Expertise“ von Schülerinnen und Schülern dem kognitionspsychologischen Expertisebegriff gegenüber?

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3

67

Selbstreguliertes Lernen Ulrike E. Nett und Thomas Götz

4.1

Definition selbstregulierten Lernens – 68

4.2

Modelle selbstregulierten Lernens – 70

4.2.1 4.2.2

Ein hierarchisches Modell des selbstregulierten Lernens – 71 Ein Prozessmodell des selbstregulierten Lernens – 72

4.3

Effekte selbstregulierten Lernens – 73

4.4

Diagnostik selbstregulierten Lernens – 75

4.4.1 4.4.2

Erfassung von Kompetenzen zum selbstregulierten Lernen – 77 Erfassung selbstregulierten Lernverhaltens – 78

4.5

Förderung selbstregulierten Lernens – 79

4.5.1 4.5.2

Fördermodell selbstregulierten Lernens – 80 Förderung selbstregulierten Lernens in der Schule – 81

Verständnisfragen – 82 Literatur – 83

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Urhahne, M. Dresel, F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9_4

4

68

4

Kapitel 4  Selbstreguliertes Lernen

Der Begriff „lebenslanges Lernen“ ist bereits seit geraumer Zeit ein fester Bestandteil bildungspolitischer Diskussionen (z. B. Ananiadoun & Claro 2009; OECD 2016). In der heutigen Gesellschaft ist es mittlerweile unvorstellbar geworden, mit dem Abschluss von Schule und Ausbildung auch das „Lernen“ abzuschließen. So fordert die schnelle Entwicklung in vielen Bereichen des täglichen Lebens, wie z. B. der Umgang mit Computern und Smartphones, beständiges Lernen von jedem einzelnen Mitglied unserer Gesellschaft. Um jedoch in der Lage zu sein, auch über den Besuch von „Bildungsstätten“ wie Schulen und Universitäten hinaus, sein Wissen und seine Kompetenzen beständig weiterzuentwickeln, bedarf es der Fähigkeit, eigenverantwortlich und selbständig zu lernen. Diese Fähigkeit zum „selbstregulierten Lernen“ ist daher seit geraumer Zeit zentral in den Bildungszielen von Schulen, Universitäten und Weiterbildungseinrichtungen verankert (Ertl 2006). Synonym zur Bezeichnung „selbstreguliertes Lernen“ wird auch von „selbstgesteuertem Lernen“ oder „selbstorganisiertem Lernen“ gesprochen. Lehrerinnen und Lehrer stehen vor der Herausforderung, die Schülerinnen und Schüler dazu zu befähigen, sich auch über die Schulzeit hinaus eigenständig stetig weiterzubilden. Dies bedeutet, dass sie ihre Schülerinnen und Schüler nicht nur in fachlichen Inhalten, sondern auch in ihrem Lernverhalten fördern sollen. Schülerinnen und Schüler haben jedoch bezüglich ihrer Fähigkeiten zum Lernen sehr unterschiedliche Voraussetzungen. Daher ist es wichtig, diese Heterogenität nicht außer Acht zu lassen. Die Problematik, vor der Lehrerinnen und Lehrer, die das eigenständige Lernverhalten ihrer Schülerinnen und Schüler unterstützen möchten, im Schulalltag täglich stehen, wird im folgenden Szenario verdeutlicht. Frieder Maier ist Lehrer einer Klasse der 5. Jahrgangsstufe und wird seine Schülerinnen und Schüler in der kommenden Woche eine Klassenarbeit in Mathematik schreiben lassen. Sein Ziel ist es, es allen Schülerinnen und Schülern zu ermöglichen, sich optimal auf diese Klassenarbeit vorzubereiten. Dabei möchte er sie einerseits optimal unterstützen, andererseits möchte er aber auch, dass seine Schülerinnen und Schüler möglichst eigenständig lernen und ihre Prüfungsvorbereitung an ihre eigenen Bedürfnisse und Fähigkeiten anpassen. Hierzu benötigen sie einen gewissen Freiraum. Doch wie viel Freiraum kann ein verantwortungsvoller Lehrer Kindern in dieser Jahrgangsstufe zugestehen? Wie kann der Lehrer seinen Schülerinnen und Schülern Strategien vermitteln, zielgerichtet mit diesen Freiheiten umzugehen? Wie weit sollen Ziele, Inhalte, Lernzeiten, Lernstrategien und Techniken zur Überprüfung des Lernerfolgs vorgegeben werden? Wie kann der Lehrer die unterschiedlichen Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler berücksichtigen? Im vorliegenden Kapitel soll zunächst geklärt werden, welche Aspekte selbstreguliertes Lernen ausmachen. Anhand ausgewählter Modelle wird der Prozess selbstregulierten Lernens genauer beleuchtet. Der aktuelle Wissensstand zur Wirkung selbstregulierten Lernens wird anhand empirischer Befunde dargestellt. Zuletzt wird diskutiert, wie Lehrkräfte die Fähigkeiten ihrer Schülerinnen und Schüler, selbstregu-

liert zu lernen, feststellen können und wie sie diese Kompetenzen fördern können.

4.1

Definition selbstregulierten Lernens

In den einzelnen Kapiteln der Sektion „Lernen, Gedächtnis und Wissenserwerb“ dieses Buches werden unterschiedliche Aspekte des Lernens genauer beleuchtet. In diesen Kapiteln zeigt sich, dass Lernen und Verhaltensänderungen durchaus von außen beeinflusst bzw. mitgesteuert werden können. So übernehmen Lehrerinnen und Lehrer täglich Verantwortung für den Lernerfolg ihrer Schülerinnen und Schüler. Auf der anderen Seite wird aber auch deutlich, dass Lernen nur dann erfolgen kann, wenn Lernende den Lernprozess eigeninitiativ mitlenken. Nun ergibt sich daraus natürlich die Frage: Ist Lernen nicht stets selbstreguliert? Die Antwort auf diese Frage lautet: Eigentlich „Ja“, doch Lernen kann wenig oder stark selbstreguliert sein (Schiefele & Pekrun 1996), je nachdem, wie weit ein Lernprozess von außen, z. B. durch eine Lehrkraft, mitgesteuert wird. Man wird in der Realität kaum eine Form des ausschließlich fremd- oder ausschließlich selbstregulierten Lernens finden. Götz und Nett (2017) orientieren sich in ihrer Definition selbstregulierten Lernens stark am Prozess des selbstregulierten Lernens selbst. „Selbstreguliertes Lernen ist eine Form des Erwerbs von Wissen und Kompetenzen, bei der Lerner sich selbständig und eigenmotiviert Ziele setzen sowie eigenständig Strategien auswählen, die zur Erreichung dieser Ziele führen und durch Bewertung von Erfolgen bezüglich der Reduzierung der Ist-Soll-Differenz Ziele und Aktivitäten im Hinblick auf eine Erreichung des Soll-Zustands prozessbegleitend modifizieren und optimieren“ (Götz & Nett 2017, S. 146).

Entsprechend dieser Definition findet selbstreguliertes Lernen dann statt, wenn von den beschriebenen Bedingungen und Prozessen ein Mindestmaß eigenständig initiiert wird. Nun ist es möglich, mit Hilfe dieser Definition abzugleichen, ob im oben beschriebenen Szenario tatsächlich selbstreguliertes Lernen stattfinden kann. Hierfür werden im Folgenden die einzelnen Aspekte selbstregulierten Lernens verdeutlicht, die in der Definition beschrieben werden: Der Mathematiklehrer Frieder Maier gibt zwar die Inhalte der Klassenarbeit vor, jedoch können sich die Schülerinnen und Schüler trotzdem selbständig und eigeninitiativ Ziele setzen: Sie können selbst festlegen, ob sie sich überhaupt auf die Klassenarbeit vorbereiten, welche Inhalte oder Kompetenzen sie erlernen möchten und ob sie sich mit einer „4“ zufriedengeben, oder eine möglichst gute Note anstreben. Die Lernenden haben also die Möglichkeit, „sich selbständig und eigenmotiviert Ziele zu setzen“ (Götz & Nett 2017, S. 146). Ob die Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit haben, „eigenständig Strategien auszuwählen“ (Götz & Nett 2017,

69 4.1  Definition selbstregulierten Lernens

S. 146), die zur Erreichung dieser Ziele führen, wie z. B. bestimmte Lernstrategien, hängt jedoch von einer Vielzahl von Bedingungen ab. Verfügen die Schülerinnen und Schüler bereits über ein bestimmtes Repertoire an Strategien, auf die sie zurückgreifen können? Falls ja, haben sie die Möglichkeit diese Strategien auch tatsächlich sinnvoll einzusetzen? An dieser Stelle könnte der Mathematiklehrer unterstützen, indem er nicht nur Inhalte, sondern auch effiziente Lernstrategien unterrichtet und diese unterstützt. Schließlich sollen „durch Bewertung von Erfolgen bezüglich der Reduzierung der Ist-Soll-Differenz, Ziele und Aktivitäten im Hinblick auf eine Erreichung des Soll-Zustands prozessbegleitend modifiziert und optimiert“ (Götz & Nett 2017, S. 146) werden. Dies bedeutet, dass Lernende nur dann in der Lage sind, tatsächlich selbstreguliert zu lernen, wenn sie erfolgreich einschätzen können, ob ihr aktuelles Lernverhalten auch tatsächlich zielführend ist oder reguliert werden muss. Gerade dieses Erkennen kann für Lernende eine große Herausforderung darstellen und erfordert die Fähigkeit, eigenes Handeln und eigene Fähigkeiten möglichst objektiv einzuschätzen. Auch für Lehrerinnen und Lehrer ist es eine große Herausforderung, dies bei ihren Schülerinnen und Schülern angemessen zu fördern. Für Frieder Maier bedeutet das, dass er nicht nur selbst die Fähigkeiten und Lernfortschritte seiner Schülerinnen und Schüler angemessen diagnostizieren können muss, sondern ihnen auch beibringen sollte, ihre Leistungsfähigkeit selbst korrekt einzuschätzen. Aus diesen Überlegungen wird deutlich, dass der Einsatz der angemessenen Lernstrategie zur richtigen Zeit ein essentieller Bestandteil selbstregulierten Lernens ist. Der Begriff der Lernstrategien umfasst dabei ein Bündel unterschiedlicher Strategien, die mit dem Lernprozess verbunden sind: Lernstrategien umfassen ein Bündel an Kognitionen und Verhaltensweisen, die vom Lernenden gezielt eingesetzt werden können, um den Lernprozess zu initiieren, aufrecht zu erhalten und zu verbessern (vgl. Götz & Nett 2017).

Beispiele für Lernstrategien sind Wiederholungsstrategien (Texte mehrfach lesen, Vokabeln wiederholt laut sagen), Mnemotechniken (z. B. das Nutzen von Eselsbrücken), Hervorheben von Informationen (Highlighting), Zusammenfassungen erstellen, sich selbst Sachverhalte erklären bzw. mit bereits bestehendem Wissen verknüpfen, aber auch das Erstellen von Lernplänen (z. B. Lerneinheiten über eine bestimmte Zeit systematisch verteilen, unterschiedliche Lerninhalte und Methoden mischen etc.) oder das systematische Kontrollieren des eigenen Lernstands, zum Beispiel durch Selbsttests (vgl. Dunlosky, Rawson, Marsh, Nathan & Willingham 2013). Wichtig beim Einsatz bestimmter Strategien ist, dass sie nicht nur entsprechend des Lerngegenstands und der Lernsituation eingesetzt werden, sondern auch die Voraussetzungen des Lernenden (z. B. dem inhaltlichen Vorwissen, aber auch motivationalen und emotionalen Zuständen) und die Lernziele berücksichtigt werden (Dunlosky et al. 2013). Dunlosky und Kollegen (2013) diskutieren in ihrem Artikel

empirische Befunde zu einzelnen Lernstrategien unter Berücksichtigung dieser Aspekte und belegen, dass der Nutzen einiger sehr beliebter Strategien, wie u. a. auch wiederholtes Lesen, das Erstellen von Zusammenfassungen oder das Hervorheben von Informationen nicht generalisierbar ist. Im Allgemeinen sehr hilfreich sind dagegen z. B. das Erstellen von Lernplänen, die Lerneinheiten über einen längeren Zeitraum verteilen und das Überprüfen des eigenen Wissens mit Hilfe von Selbsttests. Diese Befunde zeigen, dass es für Lernende eine große Herausforderung sein kann, eine passende, angemessene und effiziente Strategie auszuwählen, ebenso wie für Lehrerinnen und Lehrer, ihre Schülerinnen und Schüler darin zu unterstützen (Überblick hierzu bei Dunlosky et al. 2013).

Mythos: Lernstile Das Konzept der Lernstile ist in der pädagogischen Praxis, ebenso wie in der Wissenschaft, seit langem weit verbreitet. Der Begriff „Lernstile“ beruht auf der allgemeinen Annahme, dass Lernende sich darin unterscheiden, welche Form von Instruktion, z. B. auch in Form von Lernmaterialien, sie bevorzugen (Pashler, McDaniel, Rohrer & Bjork 2008). Weit verbreitete Kategorisierungen sind beispielsweise die Unterscheidung in Accomodator, Diverger, Converger und Assimilator (Kolb 1981) oder in visuell und auditiv Lernende (für einen Überblick über unterschiedliche Konzepte zu Lernstilen siehe Pashler et al. 2008; Landrum & MacDuffie 2010). Vertreter von Lernstilkonzepten gehen dabei davon aus, dass der Lernstil eines bzw. einer Lernenden identifiziert werden muss, damit sein bzw. ihr Lernverhalten und die gewählten Lernmaterialien optimal an die Bedürfnisse des bzw. der Lernenden angepasst werden können (siehe z. B. die Homepage des International Learning Style Network unter 7 http://www.learningstyles.net/). Messinstrumente zur Bestimmung der einzelnen Lernstile werden größtenteils kommerziell gehandelt. Die Grundannahme, dass individuellen Bedingungen und Voraussetzungen der Lernenden beim Lernen Rechnung getragen werden sollte, um den Lernerfolg zu optimieren, ist vermutlich unumstritten. Die Annahme jedoch, dass bestimmte Materialien nur für ausschließlich einen bestimmten Typ von Lernenden optimal sind, müsste für jedes Kategorisierungssystem von Lerntypen einzeln nachgewiesen werden. In einem nach Richtlinien von Pashler und Kollegen (2008) konzipierten Experiment konnten Rogowsky, Calhoun und Tallal (2014) keinen Effekt nachweisen, der belegen würde, dass „visuelle Lerner“ von visuellen Materialien und „auditive Lerner“ von auditiven Materialien besonders profitieren würden. In ihrem Überblicksartikel stellen Pashler und Kollegen (2008) fest, dass sie bisher keinen empirischen Beleg für den Erfolg eines spezifischen Lernstilkonzepts finden konnten. Dies bedeutet, dass es im Moment äußerst unklar ist, ob es eindeutige Lernstile überhaupt gibt, ob sie bisher

4

Kapitel 4  Selbstreguliertes Lernen

noch nicht identifiziert werden konnten oder aber nur auf unpassende Weise überprüft wurden. Leutner und Plass (1998) konnten beispielsweise belegen, dass die Erfassung von visueller versus verbaler Präferenz beim Lernen durch Beobachtungsverfahren deutlich valider erhoben werden kann. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob Lernstile über unterschiedliche Kontexte (z. B. Unterrichtsfächer) stabil bleiben, oder aber, ob eine Person je nach Kontext zu unterschiedlichen Lerntypen zählen kann. Zum aktuellen Zeitpunkt ist daher die Kategorisierung von Lernenden in bestimmte „Lerntypen“ nicht durch die empirische Befundlage gestützt. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass Lernende sich auf einen Lernstil konzentrieren und nicht vom Nutzen weiterer Lernstrategien, bzw. einer günstigen Mischung unterschiedlicher Lernstrategien, profitieren. Daher ist es für Lehrerinnen und Lehrer insbesondere wichtig, ein möglichst breites Spektrum an Lernstrategien und deren effektiver Anwendung zu vermitteln, um den unterschiedlichen individuellen Voraussetzungen gerecht zu werden.

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4.2

Modelle selbstregulierten Lernens

Sowohl für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als auch für Lehrende stellen sich in Bezug auf selbstreguliertes Lernen die Fragen „Was beinhaltet selbstreguliertes Lernen?“ und „Unter welchen Umständen und auf welche Weise findet selbstreguliertes Lernen statt?“. Im Fokus: Forschungsschwerpunkt selbstreguliertes Lernen

Einen ersten Eindruck, wie sehr ein bestimmtes Thema im Fokus aktueller Forschung steht, gewinnt man über die Anzahl an wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die zu einem bestimmten Thema in einem bestimmten Zeitraum zu finden sind. Wissenschaftliche Publikationen wie beispielsweise Zeitschriftenartikel werden in Datenbanken gesammelt und können über diese gefunden werden. Zwei im pädagogisch-psychologischen Kontext sehr etablierte, internationale Datenbanken sind PsychINFO (erstellt von der American Psychological Association) und ERIC (erstellt vom Education Resources Information Center, Washington DC). In Anlehnung an Götz und Nett (2017) wird in der folgenden Abbildung die Entwicklung der Veröffentlichungen zum Thema „selbstreguliertes Lernen“ seit 1980 in FünfJahres-Zeiträumen dargestellt. Da in beiden Datenbanken unterschiedlich viele Veröffentlichungen aufgenommen werden und die Anzahl wissenschaftlicher Publikationen generell steigt, wird in . Abb. 4.1 der Anteil der Veröffentlichungen zum Thema „selbstreguliertes Lernen“ relativiert an der Gesamtzahl der Veröffentlichungen je 100.000 Veröffentlichungen in der entsprechenden Datenbank dargestellt.

300 PsychINFO ERIC 250 Anzahl an Veröffentlichungen

70

200

150

100

50

0

1980–1984 1985–1989 1990–1994 1995–1999 2000–2004 2005–2009 2010–2014

. Abb. 4.1 Entwicklung der Anzahl der Veröffentlichungen zum Thema „selbstreguliertes Lernen“. Die Anzahl an Veröffentlichungen zum Thema „selbstreguliertes Lernen“ in der entsprechenden Datenbank wurde an der Gesamtzahl aller Publikationen im gleichen Zeitraum je 100.000 relativiert (adaptiert nach Götz & Nett 2017, S. 150)

Die Abbildung zeigt eindrücklich, dass das Thema „selbstreguliertes Lernen“ in den vergangenen Jahren beständig an Relevanz gewonnen hat. Dies bedeutet nicht, dass vor 1980 der Fähigkeit, sein eigenes Lernen zu regulieren, keine Bedeutung beigemessen wurde (7 Kap. 1), es zeigt jedoch, dass es auch heute noch eine Vielzahl ungeklärter Fragen zu diesem Thema gibt. Darüber hinaus legt das Ergebnis nahe, dass es sowohl für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als auch für Lehrkräfte von besonderer Bedeutung ist, sich systematisch mit diesem Thema auseinanderzusetzten. Hierzu zählt insbesondere, den aktuellen Wissensstand zu kennen und über bisher ungeklärte Fragen informiert zu sein.

Um diese Fragen zu beantworten, wurde eine Vielzahl von Modellen des selbstregulierten Lernens entwickelt. In diesen Modellen soll abgebildet werden, welche Komponenten selbstreguliertes Lernen ausmachen und welche Prozesse während des selbstregulierten Lernens ablaufen. Dabei werden bestimmte, komplexe Zusammenhänge zwar oft vereinfacht, jedoch wird insgesamt versucht, die Realität in ihren wichtigsten Komponenten strukturiert und übersichtlich darzustellen. In diesem Sinne helfen Modelle den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die angenommenen Zusammenhänge und Wirkungen zu überprüfen. Lehrerinnen und Lehrern dagegen helfen sie, sowohl bei der Diagnostik als auch bei der Planung von Fördermaßnahmen alle wichtigen Aspekte selbstregulierten Lernens zu beachten (vgl. z. B. Wirth & Leutner 2008). Lernenden selbst kann eine Kenntnis der unterschiedlichen Modelle helfen, den eigenen Lernprozess bewusst zu reflektieren und zu regulieren. Je nach Zielsetzung haben Modelle unterschiedliche Schwerpunkte und betonen verschiedene Aspekte selbstregulierten Lernens. Eine mögliche Einteilung von Modellen zum selbstreguliertem Lernen erfolgt in hierarchische Model-

71 4.2  Modelle selbstregulierten Lernens

Regulation des Selbst Regulation des Lernprozesses Regulation des Verarbeitungsmodus Selbstreguliertes Lernen Wahl kognitiver Strategien Gebrauch metakognitiven Wissens zur Steuerung des Lernprozesses Wahl von Zielen und Ressourcen

. Abb. 4.2 Das Dreischichtenmodell von Monique Boekaerts (nach Boekaerts 1999, S. 449)

le und Prozessmodelle. Während in hierarchischen Modellen (z. B. Boekaerts 1999; Pintrich 2005) die einzelnen Komponenten (z. B. konkrete Lerntechniken, übergeordnete Strategien zur Steuerung des Lernprozesses) und deren Struktur herausgearbeitet werden, fokussieren Prozessmodelle (z. B. Schmitz 2001; Zimmerman 1989) den zeitlichen Ablauf des selbstregulierten Lernens (z. B. vor dem Lernen, während des Lernens). Im Folgenden wird je ein etabliertes hierarchisches und ein Prozessmodell exemplarisch vorgestellt.

4.2.1

Ein hierarchisches Modell des selbstregulierten Lernens

Ein sehr bekanntes, hierarchisches Modell des selbstregulierten Lernens, auf das sich auch aktuelle Forschung häufig stützt, ist das Dreischichtenmodell von Monique Boekaerts (1999; . Abb. 4.2). Betrachten wir das Beispiel des Eingangsszenarios: Emma ist Schülerin der Klasse von Frieder Maier und möchte sich optimal auf die Klassenarbeit vorbereiten. Für ein erfolgreiches selbstreguliertes Lernen im Sinne des Modells nach Monique Boekaerts ist es notwendig, dass Emma ihr Lernen auf allen drei Ebenen reflektieren und regulieren kann. Die Ebene der Regulation des Verarbeitungsmodus umfasst den eigentlichen Lernprozess, also den Einsatz von konkreten Lernstrategien, mit denen Emma sich auf die Klassenarbeit vorbereitet. Diese Strategien werden auch als kognitive Strategien bezeichnet, da sie die Lernenden unterstützen, die Lerninhalte im Gedächtnis abzuspeichern und zu vernetzen. Der Begriff der kognitiven Lernstrategien umfasst eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Strategien, die je nach Lerninhalt und Lernzweck unterschiedlich sinnvoll sein können (z. B. Lernkarten, Formulieren von Übungsaufgaben etc.). Um effizient und sinnvoll selbstreguliert lernen zu können, ist es notwendig, dass Lernende zunächst unterschiedliche Strategien kennen, um diese gezielt und dem Lerninhalt sowie der Lernsituation angemessen einsetzen zu können. Lehrerinnen und Lehrer sollten daher in ihrem Unterricht darauf achten, unterschiedliche Lernstrategien zu vermitteln, um ihren

Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit zu geben, ein eigenes Repertoire an Lernstrategien aufzubauen. Die korrekte Wahl einer angemessenen kognitiven Lernstrategie wiederum ist essentieller Bestandteil der zweiten Ebene nach Boekaerts (1999), der Regulation des Lernprozesses. Diejenigen Strategien, die der Regulation des Lernprozesses und damit insbesondere der Organisation und der sinnvollen Anwendung kognitiver Lernstrategien dienen, werden als metakognitive Strategien bezeichnet. Auch für Emma ist es zunächst notwendig, den Lernprozess vorzubereiten und zu planen, wann und auf welche Weise sie lernen möchte. In einem zweiten Schritt, dem Monitoring, muss überprüft werden, ob der Lernfortschritt den Zielvorgaben und der Planung entspricht. Emma kann sich beispielsweise regelmäßig am Abend überlegen, ob sie alles, was sie sich für diesen Tag vorgenommen hatte, auch geschafft hat. Sollte dies nicht der Fall sein, muss der Lernprozess schließlich reguliert, also so angepasst werden, dass die Ziele doch noch erreicht werden können. Insbesondere Planung, Monitoring und Regulation sind also drei essentielle metakognitive Strategien, durch deren korrekten Einsatz sichergestellt wird, dass der Lernprozess auch sinnvoll stattfindet. Die Anwendung dieser Lernstrategien sind im schulischen Alltag häufig Schritte und Prozesse, welche die Lehrerinnen und Lehrer ihren Schülerinnen und Schülern abnehmen. Möglicherweise hat auch Frieder Maier seinen Schülerinnen und Schülern für die letzten Tage vor der Klassenarbeit einen Lernplan erstellt, um eine optimale Prüfungsvorbereitung zu unterstützen. Dies ist sinnvoll, wenn die Schülerinnen und Schüler dazu selbst noch nicht in der Lage sind. Allerdings sollten Lehrkräfte bedenken, dass es eigentlich individueller Lernpläne bedürfte, um allen die optimale Prüfungsvorbereitung zu ermöglichen. Daher sollten bereits jüngere Schülerinnen und Schüler lernen, ihren Lernprozess möglichst eigenständig zu regulieren. Man könnte sie beispielsweise darin unterstützen, einen eigenen Lernplan zu erstellen, statt ihnen eine standardisierte Version vorzugeben. Ein selbstregulierter Lernprozess kann jedoch nur stattfinden, wenn Lernende sich ihrer Ziele bewusst sind, ihre Ressourcen kennen und diese entsprechend der Ziele einteilen können und außerdem über ein Mindestmaß an Motivation und positiven Emotionen dem Lerngegenstand gegenüber verfügen. Emma beispielsweise war in den letzten Wochen oft krank und hat den Mathematikstoff der vergangenen Stunden noch nicht vollständig verstanden. Sie selbst findet Mathematik auch eher langweilig. Allerdings weiß sie, wie wichtig Mathematik für viele Berufe ist. Emma nimmt sich also vor, die Inhalte der vergangenen Stunden sorgfältig nachzuarbeiten; sie ist sogar bereit, auf ein Treffen mit ihrer besten Freundin zu verzichten. Diese Festlegung von Zielen und die Einteilung der eigenen Ressourcen finden laut Boekaerts (1999) auf der äußersten Ebene statt und dienen damit der Regulation des Selbst. Hierzu zählt auch die Nutzung unterschiedlicher Strategien zur Regulation der eigenen Motivation und der Emotionen. So kann Emma beispielsweise durchaus bewusst die Entscheidung treffen, sich intensiv mit der von ihr als langweilig erlebten Mathematik zu be-

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72

4

Kapitel 4  Selbstreguliertes Lernen

schäftigen, indem sie sich bewusst macht, wie groß deren Bedeutung ist (vgl. z. B. Nett, Götz & Daniels 2010; Götz & Nett 2017). Für Lehrerinnen und Lehrer kann es unter Umständen problematisch sein, die Zielsetzung und Einteilung der Ressourcen ihrer Schülerinnen und Schüler nachzuvollziehen. Für einen Mathematiklehrer ist es möglicherweise schwer zu verstehen, dass er einen Schüler einen Tag vor einer wichtigen Klausur auf dem Sportgelände trifft. Aus der Perspektive des Schülers kann es aber tatsächlich die richtige Entscheidung und Einteilung der Ressourcen bedeuten, wenn er am nächsten Tag auch einen wichtigen Wettkampf hat und er das Ziel verfolgt, Profisportler zu werden. Zusammengefasst zeigt die Anordnung der konzentrischen Kreise des Modells von Monique Boekaerts (1999) auch das Zusammenspiel der Ebenen. Weiter innen liegende Ebenen sind notwendige Voraussetzungen für die jeweils umfassenden Ebenen. Das Modell von Monique Boekaerts (1999) liefert somit eine detaillierte Grundlage zur Identifikation und Einordnung wichtiger Lernstrategien und Komponenten selbstregulierten Lernens. Es gibt jedoch keinen Einblick in den tatsächlichen (zeitlichen) Ablauf eines selbstregulierten Lernprozesses.

4.2.2

Ein Prozessmodell des selbstregulierten Lernens

Die Grundidee von Prozessmodellen der Selbstregulation ist, dass Selbstregulation als ein iterativer Prozess verstanden wird. Dies bedeutet, dass Ziele durch häufige Wiederholung der einzelnen Phasen des Regulationsprozesses adaptiv erreicht werden (vgl. Landmann, Perels, Otto, Schnick-Vollmer & Schmitz 2009; Schmitz & Schmidt 2007). Es bedeutet auch, dass die aktuelle Zielsetzung eines Lernvorgangs abhängig von der Bewertung des bisherigen Lernens ist. Auf der Basis von Modellen zur Selbstregulation von Zimmerman (2005) und Bandura (1991) entwickelte Bernhard Schmitz (2001; Schmitz & Wiese 2006) ein Prozessmodell des selbstregulierten Lernens, in welches er Grundideen weiterer bedeutender Modelle (Boekaerts & Corno 2005; Gollwitzer 1990; Heckhausen 1989; Pintrich 2005; Schmitz & Wiese 1999) integrierte. Dieses Modell wurde von Schmitz und Schmidt (2007) bzw. von Schmitz, Landmann und Perels (2007) modifiziert und weiterentwickelt (. Abb. 4.3). Entsprechend dieses Modells wird angenommen, dass der Lernprozess aus einzelnen Lerneinheiten besteht. Diese Lerneinheiten können wiederum in drei Phasen unterteilt werden: die präaktionale Phase (vor dem eigentlichen Lernen), die aktionale Phase (während des Lernens) und die postaktionale Phase (nach dem Lernen). Dabei wird davon ausgegangen, dass einzelne Lerneinheiten aneinander anschließen und die postaktionale Phase einen direkten Einfluss auf die präaktionale Phase der folgenden Lerneinheit hat. Eine Lerneinheit kann durch inhaltliche und zeitliche Kriterien abgegrenzt werden und ist nicht eindeutig definiert. So kann die Vorbereitung auf eine Klassenarbeit z. B. als eine Lerneinheit

verstanden werden, diese kann wiederum in einzelne, weitere Lerneinheiten untergliedert werden, z. B. tägliche Lerneinheiten, die jeweils ein bestimmtes Kapitel oder eine bestimme Zeiteinheit umfassen. Kehren wir zurück zum Beispiel aus der Praxis: Frieder Maier hat für seine Schülerinnen und Schüler eine Probeklassenarbeit zusammengestellt, die er am folgenden Tag besprechen möchte. Er teilt diese am Vortag aus – die Schülerinnen und Schüler haben so die Möglichkeit, sich schon vorab mit den Aufgaben zu beschäftigen. Die präaktionale Phase stellt die Phase innerhalb einer Lerneinheit dar, in der das eigentliche Lernen vorbereitet und geplant wird. Dabei muss insbesondere die Aufgabenstellung, aber auch die aktuelle Situation als Ausgangsbedingungen berücksichtigt werden. Für Emma ist es beispielsweise wichtig zu berücksichtigen, wie viele Aufgaben die Probeklassenarbeit umfasst, wie sie den Schwierigkeitsgrad dieser Aufgaben einschätzt, aber auch, wie die Rahmenbedingungen für die Bearbeitung sind: Hat sie ausreichend Zeit, oder kann sie die Probeklassenarbeit wegen des Nachmittagsunterrichts nur kurz am Abend bearbeiten? Hat sie einen ruhigen Arbeitsplatz, an dem sie die Situation einer Klassenarbeit nachspielen kann? Auf Basis der gegebenen Bedingungen werden die Ziele festgelegt und der eigentliche Lernprozess geplant, indem beispielsweise die entsprechenden Lernstrategien ausgewählt werden. Bei der Festlegung der Ziele spielen nun gewisse „Filter“ eine zentrale Rolle. Handelt es sich z. B. um Routineaufgaben (dies kann z. B. bei der Bearbeitung von Hausaufgaben öfter vorkommen), so wird der weitere Lernverlauf in der Regel nicht bewusst geplant und der Selbstregulationsprozess nicht vollständig durchlaufen (Filter Automatic). Wenn es sich jedoch wie im vorliegenden Beispiel nicht um Routineaufgaben handelt, beeinflussen unterschiedliche Ressourcen die weitere Zielsetzung und Planung der Lernhandlungen (Filter Ressourcen). Dabei spielt insbesondere die Motivation der Lernenden, ebenso wie ihre selbstbezogenen Kognitionen, die Emotionen der Lernenden sowie die Zielsetzung und Planung des Strategieeinsatzes eine besondere Rolle. Diese beeinflussen sich gegenseitig (7 Kap. 11). So zeigt sich beispielsweise, dass unter günstigen emotionalen Bedingungen eher tiefenverarbeitende Strategien verwendet werden (z. B. Isen 2000). Ist ein Schüler etwas nervös vor der Klassenarbeit, wird er sich möglicherweise eher mit den einfachen Aufgaben intensiv beschäftigen. Wichtig ist, dass Selbstreguliert-Lernende nicht nur kognitive Strategien, sondern auch metakognitive Strategien einsetzen. So wird Emma einerseits entscheiden, welche Aufgaben der Probeklassenarbeit sie detailliert bearbeiten, wie viel Zeit sie sich dafür nehmen und welche Bearbeitungsstrategien und Hilfsmittel sie nutzen wird. Gleichzeitig wird sie aber auch darüber nachdenken, wann und auf welche Art sie ihre Ergebnisse überprüfen und reflektieren kann, wie ihr aktueller Wissensstand ist. In der aktionalen Phase werden die Lernhandlungen umund die geplanten Lernstrategien eingesetzt. Emma möchte mit einigen Standardaufgaben beginnen, bei denen sie bestimmte Rechenroutinen wiederholt. Im Anschluss daran

73 4.3  Effekte selbstregulierten Lernens

Präaktionale Phase

Situation

Aufgabe

Aktionale Phase

Filter: Automatisch Filter: Ressourcen - Motivation - Selbstwirksamkeit - Energie, Emotion

Lernqualität - Lernstrategien - Metakognitive Strategien - Ressourcen-Management - Kognitive Strategien Self-Monitoring Volitionale Strategien

Ziele Planung

Lernqualität - Zeit

Lernergebnis - Qualität - Quantität - Zufriedenheit

Selbstreflexion

Emotion Reaktion Postaktionale Phase . Abb. 4.3 Das Prozessmodell des selbstregulierten Lernens von Bernhard Schmitz (mit freundlicher Genehmigung nach Schmitz & Schmidt 2007, S. 12)

wird sie versuchen, bei komplexeren Aufgaben Parallelen zu bereits bearbeiteten Aufgaben zu finden. Während der aktionalen Phase ist es besonders wichtig, dass der Lernvorgang möglichst dauerhaft und konzentriert aufrechterhalten wird. Emma achtet beispielsweise darauf, dass sie sich eine zusätzliche Stunde für das Bearbeiten der Aufgaben nehmen kann und während dieser Zeit nicht von Telefonanrufen der Klassenkameraden oder von ihrem kleinen Bruder gestört werden kann. Dabei spielen insbesondere volitionale Kompetenzen, also Kompetenzen des „Willens“, eine große Rolle. Beispiele für solche volitionale Kompetenzen sind die Fähigkeit sich zu konzentrieren und die Aufmerksamkeit auf den Lerninhalt gerichtet lassen zu können. Während der aktionalen Phase kommt dem Monitoring des Lernprozesses (Zimmerman 2000) eine besondere Bedeutung zu. Selbstreguliert Lernende betreiben bereits während des Lernprozesses Monitoring und gleichen ihr aktuelles Lernverhalten mit dem ursprünglich geplanten Verhalten bzw. den Zielen ab. Dieses Monitoring dient als Grundlage für zukünftige Regulationsprozesse. Es hat darüber hinaus aber auch positive Effekte auf die aktuelle Motivation und das emotionale Befinden. So stellt Emma beispielsweise fest, dass sie einen bestimmten Aufgabentyp bereits sehr gut beherrscht. Das macht sie stolz, ihre Lernfreude erhöht sich und sie widmet sich mit weit größerem Selbstbewusstsein den komplexen Aufgaben. Nett, Götz, Hall und Frenzel (2012) konnten feststellen, dass die Häufigkeit der Anwendung von Monitoring während einer Prüfungsvorbereitung bereits positive Effekte auf den Lernerfolg hat. In der postaktionalen Phase wird der Lernprozess einer Lerneinheit abgeschlossen und bewertet. Sie liefert damit aber auch die Grundlage für die Einschätzung kognitiver, motivationaler und emotionaler Ressourcen in den folgenden Lernprozessen. Bei dieser Bewertung werden subjektive,

quantitative und qualitative Maßstäbe herangezogen. Emma ist nach dem Bearbeiten der Probeklassenarbeit mit sich selbst zufrieden. Sie empfindet Stolz, da sie über einen längeren Zeitraum konzentriert und effektiv gearbeitet hat (subjektive Bewertung). Insgesamt hat sie die Probeklassenarbeit vollständig bearbeitet (quantitative Bewertung). Dabei hat sie nicht nur die Routineaufgaben gelöst, sondern auch die komplexen Aufgaben durchgearbeitet, richtig gelöst und verstanden (qualitative Bewertung). Insofern hat sie ihre Ziele in hohem Maß erreicht. Für den nächsten Tag nimmt sie sich nun ein größeres Lernpensum vor und beschließt, deutlich mehr komplexe Aufgaben zu üben, um in der Klassenarbeit vielleicht sogar die Note 1 zu erreichen. Insgesamt ist hervorzuheben, dass im Modell von Schmitz und Kollegen (2007) nicht nur der Lernerfolg selbst im Fokus steht, sondern sich erfolgreiches selbstreguliertes Lernen auch auf weitere Aspekte, wie positive selbstbezogenen Kognitionen, wie z. B. Selbstkonzept und Selbstwirksamkeit, sowie auf ein positives motivationales und emotionales Erleben auswirken kann (7 Kap. 10, 11). Die beiden beschriebenen Modelle, wie auch viele weitere wissenschaftliche Modelle zum selbstregulierten Lernen, heben die Bedeutung eines erfolgreichen Zusammenspiels von kognitiven, metakognitiven und motivationalen Komponenten bzw. Prozessen hervor.

4.3

Effekte selbstregulierten Lernens

Im vorangegangenen Abschnitt wurde der theoretische Nutzen selbstregulierten Lernens anhand der Modelle verdeutlicht. Wenn Lernende sich eigenständig Ziele setzen und

4

74

4

Kapitel 4  Selbstreguliertes Lernen

diese autonom verfolgen und erreichen können, so liegt die Schlussfolgerung nahe, dass diese Lernenden motivierter sind und möglicherweise auch größere Lernerfolge haben als Lernende, die „fremdreguliert“ werden. Um diese theoretischen Annahmen zu überprüfen, wurde bereits eine Vielzahl von Studien durchgeführt. Insbesondere im schulischen Bereich stellt sich die Frage, ob die Förderung von Kompetenzen zum selbstregulierten Lernen das Lernverhalten der Lernenden tatsächlich verbessern und die Motivation, positive Emotionen und den Lernerfolg in den einzelnen Unterrichtsfächern erhöhen kann. Metaanalysen fassen die Ergebnisse unterschiedlicher Studien zusammen. Mit Hilfe spezieller statistischer Verfahren wird analysiert, ob Effekte, die in einzelnen Studien gefunden werden, auch tatsächlich verallgemeinert werden können. In Bereichen der Pädagogischen Psychologie, wie z. B. auch in Studien zum selbstregulierten Lernen, sind diese statistischen Verfahren besonders hilfreich, da hier oft quasi-experimentelle Studien durchgeführt werden. Quasiexperimentelle Studien sind solche, die ein experimentelles Design (z. B. Experimentalgruppe versus Kontrollgruppe) aufweisen, aber in alltäglichen Situationen, wie z. B. im regulären Unterricht durchgeführt werden (7 Kap. 27). Dies ermöglicht es einerseits, die Ergebnisse in direkten Bezug zum Alltagsgeschehen zu setzen, erschwert aber andererseits die Replizierbarkeit. Einzelne Studien unterscheiden sich in den konkreten Aspekten selbstregulierten Lernens, die untersucht werden, und oft auch sehr stark in den gefundenen Effekten (vgl. Hattie, Biggs & Purdie 1996; Zimmerman 2001). Über Metaanalysen lassen sich dennoch bestimmte allgemeine Effekte und Tendenzen gut aufdecken. Üblicherweise werden Effekte, die in den einzelnen Studien gefunden wurden, in Metaanalysen in durchschnittlichen Effektstärken angegeben. Eine erste Metaanalyse, die sich mit der Wirkung von selbstreguliertem Lernen befasst, war die Metaanalyse von Hattie und Kollegen (1996). Studien wurden in diese Metaanalyse aufgenommen, wenn im Rahmen der Studie eine Intervention zur Förderung selbstregulierten Lernens durchgeführt wurde. Dabei wurde die Förderung von mindestens einer kognitive Lernstrategie oder einer Kombination aus kognitiven und metakognitiven Lernstrategien oder Strategien der Regulation des Selbst angestrebt. Darüber hinaus mussten Effektstärken berichtet werden. In jeder Studie wurde die Wirkung auf mindestens eines der drei Konstrukte Lernerfolg, Lernverhalten oder Affekt beim Lernen analysiert. Bereits Hattie und Kollegen (1996) konnten feststellen, dass die publizierten Interventionen im Schnitt einen mittelgroßen positiven Effekt aufwiesen. Bedeutsam war darüber hinaus das Ergebnis, dass Förderprogramme besonders dann wirksam zu sein scheinen, wenn sie im Rahmen eines inhaltlichen Lernkontexts stattfinden und die Lernenden dazu angeregt werden, die Lerninhalte aktiv einzuüben und auch ihre metakognitiven Fähigkeiten geschult werden (Hattie et al. 1996). Diese positiven Effekte, insbesondere auf den Lernerfolg, konnten in aktuelleren Metaanalysen (vgl. Dignath, Büttner

& Langfeldt 2008; Dignath & Büttner 2008) repliziert werden. Dignath und Büttner (2008) verwendeten bei der Literatursuche vergleichbare Auswahlkriterien wie Hattie und Kollegen (1996). Insgesamt zeigte sich nun ein etwas stärkerer Effekt über alle Studien hinweg als in der älteren Studie (Hattie et al. 1996). Allerdings belegen die Ergebnisse von Dignath und Büttner (2008) auch, dass Förderprogramme dann effektiver zu sein scheinen, wenn sie von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern oder externen Trainerinnen und Trainern durchgeführt werden, und nicht von Lehrerinnen und Lehrern im Rahmen des regulären Unterrichts. In Anbetracht der Tatsache, dass es besonders sinnvoll und wünschenswert ist, dass die Förderung selbstregulierten Lernens im regulären Unterricht stattfindet, erscheint dieses Ergebnis besorgniserregend. Es gibt jedoch Hinweise (7 Abschn. 4.5), dass es Lehrerinnen und Lehrern durchaus möglich ist, die Kompetenzen ihrer Schülerinnen und Schüler sinnvoll zu fördern. Studie: Selbstreguliertes Lernen im Unterricht an der Grundschule Stöger, Sontag und Ziegler (2014) führten eine quasi-experimentelle Studie im regulären Unterricht an der Grundschule durch, in welcher sie die gezielte Förderung von spezifischen kognitiven Strategien und die konkrete Vermittlung eines allgemeinen Verständnisses von Selbstregulation mit traditionellem Unterricht verglichen. Im Folgenden wird die Studie knapp beschrieben: Die Studie wurde als quasi-experimentelle Interventionsstudie während des regulären Unterrichts in Heimat- und Sachkunde und des Leseunterrichts in 33 Klassen der 4. Jahrgangsstufe durchgeführt. Insgesamt nahmen 763 Schülerinnen und Schüler (49 % Mädchen) an der Studie teil. Die einzelnen Klassen wurden in drei unterschiedliche Gruppen, zwei Experimentalgruppen und eine Kontrollgruppe aufgeteilt. In den beiden Experimentalgruppen wurde von den Lehrkräften über die Dauer von sieben Wochen ein Strategietraining im regulären Unterricht implementiert. Die erste Experimentalgruppe erhielt ein Training in spezifischen kognitiven Strategien zum Erleichtern des Verstehens und Herausfiltern wichtiger Ideen aus Texten (Unterstreichen, Erstellen einer Mind-Map, Zusammenfassen). Darüber hinaus erhielten die Schülerinnen und Schüler eine Einführung in ein Prozessmodell des selbstregulierten Lernens. Die Anwendung der spezifischen kognitiven Strategien wurde in den Kontext dieses Prozessmodells gesetzt. Das Training wurde über tägliche Übungen und Materialien sowohl in den regulären Unterricht als auch in die Hausaufgaben integriert. Die zweite Experimentalgruppe wurde in denselben kognitiven Strategien zum Textverständnis trainiert, diese wurden jedoch nicht in Bezug zu einem Modell selbstregulierten Lernens gesetzt. Die Trainingsdauer verkürzte sich dadurch um eine Woche. Die Kontrollgruppe wurde während dieser Zeit regulär unterrichtet. Beide Experimentalgruppen erhielten wöchentlich Texte, aus denen sie die wichtigsten Inhalte herausfiltern sollten. In einem Vor-, Nach- und Folgetest wurde mit Hilfe von standardisierten Testverfahren die Präferenz selbstreguliert zu lernen, ebenso wie das Leseverständnis der Schülerinnen und Schüler

75 4.4  Diagnostik selbstregulierten Lernens

die Bedeutung metakognitiven Wissens bzw. metakognitiver Strategien nachweisen. Sobald diese Bestandteil der Interventionen waren, konnten deutlich größere Effekte nachgewiesen werden. Die metakognitive Strategie Planung scheint dabei eine besondere Rolle zu spielen aber auch die Motivation der Lernenden ist besonders wichtig. Diese kann insbesondere dadurch erhöht werden, dass die Bedeutung der einzelnen Aufgaben und Inhalte im Rahmen der Förderung betont wird (. Tab. 4.1). In . Tab. 4.1 sind die zentralen Punkte der Metaanalysen zusammengefasst. Insgesamt verdeutlichen die Ergebnisse, dass die Förderung selbstregulierten Lernens bereits in der Grundschule positive Effekte auf die schulische Leistung und auch auf das Lernverhalten und die Motivation der Schülerinnen und Schüler hat. Die Vermittlung von Kompetenzen zum selbstregulierten Lernen ist somit nicht nur Ziel der schulischen Ausbildung im Hinblick auf das weitere Leben der Schülerinnen und Schüler, sondern hat auch einen direkten Einfluss auf ihr Verhalten und Wohlbefinden an der Schule. Lehrerinnen und Lehrer sollten bei der Vermittlung von Lernstrategien beachten, stets auch Strategien zu vermitteln, die dazu dienen, den Lernprozess zu steuern und die MotiDarüber hinaus konnten Dignath und Büttner (2008) zei- vation aufrecht zu erhalten. Wie sie das tun können, wird in gen, dass die Effekte nicht in allen Unterrichtsfächern gleich 7 Abschn. 4.5 genauer besprochen. Vorab ist es jedoch von Besind und Förderprogramme effektiver zu sein scheinen, wenn deutung, dass Lehrerinnen und Lehrer auch in der Lage sind, nicht ausschließlich kognitive Strategien, sondern auch meta- die Fähigkeiten zur Selbstregulation ihrer Schülerinnen und Schüler diagnostizieren zu können. kognitive und motivationale Strategien vermittelt werden. Auch in der Metaanalyse von Donker-Bergstra, De Boer, Kostons, Dignath-van Ewijk und van der Werf (2014) konnte bestätigt werden, dass die Förderprogramme im 4.4 Diagnostik selbstregulierten Lernens Durchschnitt einen positiven Effekt auf die akademische Leistung haben. Dieser positive Effekt schwankt jedoch je Aus der Perspektive der Wissenschaft ist es wichtig, erfassen nach Unterrichtsfach, in dem die Förderprogramme stattfin- zu können, über welche Kompetenzen zur Selbstregulatiden. Donker-Bergstra und Kollegen (2014) konnten ebenfalls on Lernende verfügen und in welchen Situationen sie diese in der Experimental- und der Kontrollgruppen überprüft. Präund Posttest fanden in der Woche direkt vor bzw. nach der Intervention statt. Der Folgetest wurde nach weiteren elf Wochen durchgeführt. Es zeigte sich, dass Schülerinnen und Schüler der ersten Experimentalgruppe, für die das Training der kognitiven Textverständnisstrategien in ein Modell des selbstregulierten Lernens eingebettet wurde, eine stärkere Präferenz zum selbstregulierten Lernen aufzeigten, als die Schülerinnen und Schüler der beiden anderen Gruppen. Ferner waren die Schülerinnen und Schüler der ersten Experimentalgruppe auch in der Lage, in den wöchentlichen Erhebungen signifikant mehr wichtige Inhalte aus den gelesenen Texten herauszufiltern als die Schülerinnen und Schüler der zweiten Experimentalgruppe. Die Ergebnisse dieser Studie verdeutlichen, dass die Förderung von Kompetenzen zum selbstregulierten Lernen auch im regulären Unterricht von Grundschülerinnen und Grundschülern durchaus möglich ist. Zudem kann unterstrichen werden, dass es sinnvoll ist, auch einzelne Strategien im Rahmen eines Gesamtverständnisses zum selbstreguliertenLernen zu vermitteln.

. Tabelle 4.1 Zentrale Ergebnisse der Metaanalysen zu Effekten selbstregulierten Lernens Autoren

Hattie, Biggs, und Purdie

Dignath und Büttner

Donker-Bergstra, De Boer, Kostons, Dignath-van Ewijk und van der Werf

Erscheinungsjahr

1996

2008

2014

Studien publiziert im Zeitraum

Bis 1992

Von 1992 bis 2006

Von 2000 bis 2012

Anzahl der analysierten Studien

51

74 (Primarschulen: 49; Sekundarschulen: 25)

58 Studien Primär- und Sekundärschulen

Anzahl berichteter 270 Effektstärken

357

180

Zentrale Ergebnisse

Interventionen haben im Schnitt einen mittelgroßen bis großen positiven Effekt Dabei wurde durchschnittlich ein mittelgroßer bis großer Effekt auf die Leistung, ein großer Effekt auf das Lernverhalten und ermutigende, jedoch stark schwankende Effekte auf die Motivation berichtet

Interventionen haben im Schnitt einen positiven Effekt auf die akademische Leistung Dieser positive Effekt schwankt jedoch stark nach Unterrichtsfach

Interventionen haben im Schnitt einen mittelgroßen positiven Effekt Dabei wurde durchschnittlich ein mittelgroßer bis großer positiver Effekt auf die Leistung, ein kleiner Effekt auf das Lernverhalten und ein mittelgroßer Effekt auf den Affekt berichtet

4

76

4

Kapitel 4  Selbstreguliertes Lernen

Kompetenzen auch in Verhaltensweisen umsetzen können. zwischen Fremdurteilen im Allgemeinen (z. B. auch durch Nur dann ist es möglich zu verstehen, welche AuswirkunEltern) und Schülerurteilen in Bezug auf Konstrukte, die nicht gen selbstreguliertes Lernen auf die Leistung der Lernenden, leistungsbezogen sind, meist eher schwach ausgeprägt sind aber auch auf weitere kognitive, motivationale und emotio(vgl. die Metaanalyse von Achenbach, McConaughy & nale Faktoren hat. Auf der Basis einer sicheren Diagnostik Howell 1987). können auch Modelle und Förderprogramme weiterentwiNun stellt sich natürlich die Frage, wie diese geringen Zuckelt werden. sammenhänge zustande kommen und welche der beiden Für Lehrkräfte ist von Bedeutung, die Fähigkeiten der Perspektiven (Schülerinnen und Schüler vs. Lehrkräfte) Schülerinnen und Schüler einschätzen zu können, um ihnen mehr Gültigkeit hat, also valider ist. Möglich ist aber auch, das richtige Maß an Freiraum und Hilfestellung zu gewähdass beide Perspektiven unterschiedliche Aspekte der ren und die Kompetenzen zum selbstregulierten Lernen entKompetenzen der Schülerinnen und Schüler widerspiegeln sprechend zu fördern. Das „Self-Regulation Empowerment und durchaus ihre Berechtigung haben. In jedem Fall zeigt Program (SREP)“ von Cleary und Zimmerman (2004) ist ein sich, dass Lehrkräfte ihre intuitiven Einschätzungen über Beispiel für ein Förderprogramm, das ganz systematisch die das selbstregulierte Lernen ihrer Schülerinnen und Schüler Erfassung der Überzeugungen und des Wissens von Schülekritisch hinterfragen sollten und es sich möglicherweise rinnen und Schülern zum selbstregulierten Lernen durch die auch für Lehrkräfte lohnt, unterschiedliche, auch struktuLehrkraft beinhaltet. Hier wird es als wichtiger erster Schritt rierte Erhebungsmethoden im Rahmen ihres Unterrichts angesehen, die grundlegenden Kompetenzen zum selbstreguanzuwenden. Gewinnbringend kann hier für alle Seiten eine lierten Lernen zu fördern (Cleary & Zimmerman 2004). Zusammenarbeit von Lehrkräften, Beratungslehrerinnen Während Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die und Beratungslehrern, Schulpsychologinnen und SchulpsyFähigkeiten zum selbstregulierten Lernen in der Regel sehr chologen sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern strukturiert über verschiedene Methoden erfassen, diagnostisein. zieren Lehrerinnen und Lehrer die Kompetenzen ihrer Schülerinnen und Schüler zum Lernverhalten bisher meist eher intuitiv. In Anbetracht der Methodenvielfalt, die im Folgenden vorgestellt wird, erscheint es jedoch durchaus möglich, Um selbstreguliertes Lernen gezielt erfassen zu können, dass auch Lehrkräfte strukturiertere Methoden des Diagnos- ist es wichtig vorab zu klären: Was wird bei wem und in weltizierens anwenden können. cher Situation, wann und auf welche Art und Weise erfasst (vgl. Götz & Nett 2017)? Im Fokus: Perspektiven des selbstregulierten Lernens Die Definition und die Beschreibung der Modelle selbstregulierten Lernens verdeutlichen, dass selbstreguliertes LerSelbstreguliertes Lernen ist ein Prozess, der in großen Teilen nen erst durch ein gelungenes Zusammenspiel einer Vielzahl nicht direkt beobachtbar ist. Daher leuchtet es ein, dass einzelner Kompetenzen und Prozesse entstehen kann. Selbstselbstreguliertes Lernen in der Wissenschaft primär über reguliertes Lernen per se zu erfassen, erscheint damit unmögSelbstberichtsverfahrenerhoben wird (vgl. z. B. Cleary 2009). lich. Plausibel ist jedoch, einzelne Teilaspekte und TeilproLehrkräfte hingegen schätzen oft intuitiv die Fähigkeiten zesse selbstregulierten Lernens zu erfassen. Um dies sinnvoll ihrer Schülerinnen und Schüler in bestimmten Gebieten tun zu können, dienen Modelle zum selbstregulierten Lernen aus einer beobachtenden Perspektive ein und fördern ihre (vgl. z. B. Boekaerts 1999; Schmitz et al. 2007) der OrientieSchülerinnen und Schüler auf der Basis dieser Einschätzunrung und Einordung der einzelnen Aspekte. Mit Hilfe dieser gen. Nun stellt sich die Frage, inwieweit die Einschätzungen Modelle kann explizit bestimmt werden, was gemessen werder Schülerinnen und Schüler und die Einschätzungen den soll. von Lehrkräften in Bezug auf das selbstregulierte Lernen Bei der Planung einer angemessenen Diagnostik ist es der Schülerinnen und Schüler übereinstimmen. Friedrich, zusätzlich wichtig zu bedenken, bei wem und in welcher Jonkmann, Nagengast, Schmitz und Trautwein (2013) Situation das Lernverhalten gemessen werden soll. Die Erführten hierzu eine Studie mit 73 Lehrerinnen und Lehrern fassung des Lernverhaltens von Oberstufenschülerinnen und und ihren insgesamt 1289 Schülerinnen und Schülern -schülern oder Studierenden beinhaltet andere Anforderunder 5. Jahrgangsstufe im Mathematikunterricht durch. Sie gen an die Diagnoseinstrumente als die Erfassung des Lernkonnten zeigen, dass die Zusammenhänge zwischen den verhaltens von Grundschülerinnen und Grundschülern. DaEinschätzungen der Lehrkräfte und denen der Schülerinnen rüber hinaus macht es wahrscheinlich einen Unterschied, ob und Schüler in Bezug auf die mathematischen Fähigkeiten selbstreguliertes Lernverhalten von Schülerinnen und Schümittelmäßig stark, in Bezug auf Aspekte des selbstregulern bei der Vorbereitung einer Klassenarbeit gemessen werlierten Lernens lediglich schwach ausgeprägt waren. Diese den soll oder aber in einer alltäglichen HausaufgabensituaErgebnisse stimmen mit bisherigen Befunden überein, die tion. Wichtig ist es hier auch zu berücksichtigen, welche darauf hinweisen, dass die Übereinstimmung zwischen Teilaspekte selbstregulierten Lernens von den Lernenden in Lehrer- und Schülerurteilen, wie auch die Übereinstimmung diesen spezifischen Situationen überhaupt durchgeführt werden können bzw. sollten (Boekaearts & Niemvirta 2005).

77 4.4  Diagnostik selbstregulierten Lernens

Eng mit der Frage verbunden, in welcher Situation selbst- durchaus beide Aspekte berücksichtigen. Die Unterteilung reguliertes Lernen erfasst wird, ist auch die Frage, wann geschieht daher nach dem vorrangigen Ziel. selbstreguliertes Lernen erfasst wird. Häufig wird es retrospektiv erfasst, das bedeutet nach dem eigentlichen Lernprozess (z. B. durch Befragung des Lernenden). Ein Vorteil 4.4.1 Erfassung von Kompetenzen zum hierbei ist, dass das Lernen als Ganzes betrachtet werden selbstregulierten Lernen kann. Auf der anderen Seite kann es insbesondere bei einer retrospektiven Erfassung, z. B. über den Selbstbericht (das bedeutet, der Lernende gibt selbst Auskunft über sein Lern- In Fragebogenverfahren und Interviews wird meist erfasst, verhalten), zu einer Vielzahl an Verzerrungen kommen, wie wie sich die Lernenden „in der Regel“ oder „meist“ verhalz. B. der Beeinflussung des Berichts durch subjektive Über- ten. Dabei wird der Fokus je nach Fragebogen auf unterzeugungen (vgl. Robinson & Clore 2002). Das bedeutet, dass schiedliche Aspekte selbstregulierten Lernens gelegt. SelbstSchülerinnen und Schüler im Selbstbericht möglicherweise verständlich kann auch in Fragebögen und Interviews Bezug eher angeben, was sie glauben, in der Regel zu tun oder was auf konkretere Situationen selbstregulierten Lernens genomsie tun sollten, und nicht, wie sie sich tatsächlich verhalten men werden. Da die Erfassung des selbstregulierten Lernens haben. Prospektive Erhebungen können Planungsaktivitä- jedoch mit Hilfe dieser Verfahren nicht in der Lernsituatiten zwar gut abbilden, geben aber keine Auskunft darüber, on selbst durchgeführt werden kann, sind sie kaum frei von wie der Lernprozess eigentlich stattgefunden hat. Insgesamt Verzerrungen, die z. B. durch den zeitlichen Abstand von der kann man annehmen, dass prospektive ebenso wie retrospek- Lernsituation bedingt werden. Aus diesem Grund ist anzutive Erhebungsmethoden das Wissen der Lernenden über nehmen, dass mit Hilfe von diesen Diagnostikverfahren zwar den Einsatz spezifischer Strategien selbstregulierten Lernens sehr ausführlich und strukturiert erfasst werden kann, über erfassen und damit durchaus einen Einblick in die Kompeten- welche Strategien Lernende verfügen bzw. welches Wissen zen der Lernenden zum selbstregulierten Lernen geben. Das sie über den angemessen Einsatz bestimmter Strategien hatatsächliche Lernverhalten wird mit Hilfe dieser Erhebungs- ben; ob sie diese Kompetenzen zum selbstregulierten Lernen jedoch auch in konkreten Lernsituationen anwenden, kann methoden jedoch nicht erfasst. Aus diesem Grund haben in den letzten Jahren Methoden, über diese Verfahren nur sehr eingeschränkt erfasst werden. über die der aktuelle Lernprozess direkt begleitet und erfasst werden kann (z. B. durch Beobachtung oder die Aufforde-1 Fragebogen rung zum „Lauten Denken“, 7 Abschn. 4.4.2), zunehmend an Fragebogenverfahren gehören zu den meist genutzten DiaBedeutung gewonnen (vgl. Cleary 2011). Der Vorteil dieser gnostikinstrumenten. Sie bieten den Vorteil, dass durch sie Methoden ist sicherlich, dass sie den Lernprozess ohne die- auf sehr strukturierte und ökonomische Art und Weise unjenigen Verzerrungen abbilden, die durch einen zeitlichen terschiedliche Aspekte selbstregulierten Lernens abgefragt Abstand zwischen Lernprozess und Erhebungszeitpunkt ent- werden können. Inzwischen gibt es eine Reihe national und stehen können. Ein möglicher Nachteil ist jedoch, dass durch international sehr etablierter Fragebögen, die unterschiedlieine Erfassung während des Lernens der Lernprozess selbst che Bereiche selbstregulierten Lernens, meist vor allem kogmit beeinflusst und dadurch verzerrt werden kann. So kann nitive und metakognitive Strategien, sehr reliabel erfassen. beispielsweise ein Beobachter den Lernprozess stören oder Darüber hinaus scheinen sie valide abzubilden, inwiefern die aber das „Laute Denken“ selbst als Lernstrategie funktionie- Kompetenzen zum selbstregulierten Lernen vorhanden sind; ren. sie haben jedoch relativ wenig Aussagekraft, ob sich dieses Bereits anhand dieser Vorüberlegungen zeigt sich, dass Wissen auch im Lernverhalten niederschlägt. Hier scheinen die Wahl der Erhebungsmethode von besonderer Bedeutung handlungsnähere Erhebungsmethoden günstiger zu sein (Arist. Auch der Anlass und Kontext der Diagnostik und die telt 1999). Beispiele sind der Fragebogen zu „Lernstrategien Ökonomie und Durchführbarkeit der unterschiedlichen Me- im Studium“ (LIST; Wild & Schiefele 1994) und das „Kiethoden muss berücksichtigt werden. Im Folgenden wird eine ler Lernstrategien-Inventar“ (KSI; Baumert 1993) oder das Auswahl unterschiedlicher Methoden vorgestellt, die in den „Motivated Strategies for Learning Questionnaire“ (MSLQ; vergangenen Jahren verstärkt genutzt wurden (vgl. z. B. Boe- Pintrich, Smith, Garcia & McKeachie 1991), das „Learning kaerts, Pintrich & Zeidner 2005; Cleary & Callan 2014; Spörer and Study Strategies Inventory“ (LASSI; Weinstein, Zimmer& Brunstein 2006; Veenman, Van Hout-Wolters & Afflerbach man & Palmer 1988) oder das „Leuven Executive Regulation 2006; Zimmerman 2008). Die unterschiedlichen Erhebungs- Questionnaire“ (LERO; Minnaert & Janssen 1997). Hinweise methoden lassen sich nach einer Vielzahl von Gesichtspunk- zur Interpretation von Fragebogenwerten, insbesondere beten kategorisieren. Im Folgenden wird eine Unterteilung in züglich des „LIST“, finden sich bei Götz und Bieg (2015). zwei Kategorien vorgeschlagen: Methoden, die vorrangig der Die Methode des „Situational Judgement“, in der die LernenErfassung allgemeiner Kompetenzen zum selbstregulierten den gebeten werden, die Antworten des Fragebogens auf eine Lernen dienen, und Methoden, über die konkretes Lernver- ganz konkrete Situation zu beziehen, liefert möglicherweise halten erfasst werden kann. Selbstverständlich ist diese Un- einen vielversprechenden Ansatz, die Validität von Frageböterteilung nicht eindeutig und die meisten Methoden können gen zu verbessern (vgl. Weekley & Ployhart 2006).

4

78

Kapitel 4  Selbstreguliertes Lernen

1 Interviews

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1 Experience Sampling Wie Fragebögen sind auch Interviews Selbstberichtsverfah- Mit Hilfe von Experience Sampling-Verfahren wird versucht, ren. Ihre Durchführung ist im Vergleich zu Fragebögen deut- kurze Selbstberichte in konkreten Lernsituationen zu erhelich aufwändiger, allerdings kann im Rahmen von struktu- ben. Meist wird dem Lernenden auf einem Smartphone oder rierten Interviews, die meist eine Mischung aus geschlos- einem ähnlichen elektronischen Gerät über eine App ein kursenen und offenen Frageformaten aufweisen, teilweise ein zes Signal zu einem zufälligen Zeitpunkt gegeben, durch das detaillierteres Bild des Lernverhaltens gezeichnet werden. der Lernende gebeten wird, während des Lernens einen kurRichtlinien für strukturierte Interviews findet man beispiels- zen Fragebogen zur aktuellen Situation auszufüllen. Auch weise bei Spörer (2004) oder im „Self-regulated Learning über kurze Papierfragebögen und einen elektronischen TiInterview Schedule“ (SRILIS, Zimmerman & Martinez-Pons mer ist diese Erhebungsmethode realisierbar. Wie auch die 1986). Fragebögen bietet diese Methode die Möglichkeit, Lernen auf standardisierte Weise zu erfassen, jedoch nun in ganz konkreten Lernsituationen. Allerdings ist bei dieser Methode die Problematik offensichtlich, dass das Lernen selbst unterbro4.4.2 Erfassung selbstregulierten chen und gestört wird. Darüber hinaus gibt es Hinweise, dass Lernverhaltens auch hier, ähnlich wie bei Tagebüchern, die Erfassungsmethode bereits eine Intervention darstellt (zur Nutzung von Inzwischen gibt es auch eine steigende Anzahl an Verfah- Experience Sampling bei der Erfassung selbstregulierten Lerren, mit deren Hilfe das tatsächliche Lernverhalten und damit nens vgl. Nett et al. 2012). Diese Methode wird zwar meist auch der Grad an Selbstregulation während des Lernprozes- ausschließlich in größeren wissenschaftlichen Studien durchses selbst erfasst werden kann. Dies kann zunächst als Vorteil geführt, jedoch können auch Lehrkräfte die Methode in einer betrachtet werden. Schließlich ist es sowohl für Wissenschaft- vereinfachten Form nutzen. So könnte Frieder Maier beilerinnen und Wissenschaftler als auch für Lehrkräfte von spielsweise, eventuell mit Unterstützung von Wissenschaftlegroßer Bedeutung, zu sehen, wie Lernende sich in Lernsitua- rinnen und Wissenschaftlern einer Partneruniversität, kurze tionen konkret verhalten. Auf der anderen Seite gehen diese Fragebögen zum aktuellen Lernverhalten ausarbeiten und Verfahren meist mit der Problematik einher, dass durch des- damit während seines Unterrichts Kurzerhebungen durchsen Erfassung das Lernverhalten selbst beeinflusst werden führen. Auf diese Art und Weise erhält er einen Einblick in kann. Darüber hinaus kann es schwierig sein, zu differenzie- das aktuelle Lernverhalten seiner Schülerinnen und Schüler. ren, ob die Lernenden bestimmte Strategien nicht oder nur nicht effizient einsetzen, weil sie die Strategien beispielsweise nicht beherrschen, oder ob andere Gründe wie kontextuelle1 Lautes Denken Bedingungen den Einsatz verhindern. Im Folgenden werden Bei der Erfassung von Lernen und Lernverhalten über „LauVerfahren vorgestellt, die in der aktuellen Forschung beson- tes Denken“ werden die Lernenden aufgefordert, all ihre dere Beachtung erfahren. Gedanken während eines Lernprozesses laut auszusprechen (vgl. z. B. Winne & Perry 2000). Während über Lerntagebücher und die Experience Sampling-Methode langfristige 1 Lerntagebücher Mit Hilfe von Lerntagebüchern kann der gesamte Lernpro- Lernprozesse, wie z. B. die Vorbereitung auf eine Klausur, zess, auch über einen längeren Zeitraum hinweg, begleitet begleitet werden, können über Lautes Denken insbesondeund erfasst werden. Die Lernenden werden gebeten, meist zu re kurze Lernphasen detailliert betrachtet werden. Veenman, jeder einzelnen Lerneinheit in ihrem Lerntagebuch sowohl Prins und Verheij (2003) fanden in einer Studie, dass die offene als auch geschlossene Fragen zum Lernprozess zu be- Erfassung von Lernverhalten mit Hilfe von lautem Denken antworten. So kann Frieder Maier aus unserem Beispiel oben stärker mit Lernleistung zusammenhängt als die Abbildung seine Schülerinnen und Schüler beispielsweise bitten, wäh- von Lernverhalten mit Hilfe von Fragebögen. Hier stellt sich rend der Vorbereitung auf die Klassenarbeit täglich direkt vor jedoch die Frage, inwieweit die Methode den Lernprozess und nach dem Lernen ein Lerntagebuch auszufüllen. Auf die- selbst beeinflusst, möglicherweise auch stört, und inwiefern se Weise kann er erfassen, wie sie den Lernprozess planen, die Lernenden über die Fähigkeiten verfügen, all ihre Geaber auch, wie sie ihren Lernfortschritt überprüfen und ge- danken während des Lernens angemessen zu formulieren. gebenenfalls ihre Strategien anpassen. Wichtig ist dabei zu Diese Methode im Unterricht selbst anzuwenden, erscheint berücksichtigen, dass Lerntagebücher kein reines Diagnose- nicht möglich, da sie den Unterricht zu sehr stört. Allerdings instrument, sondern auch eine Intervention darstellen, da sie können einzelne Elemente dieser Methode durchaus im uneine Förderung des selbstregulierten Lernens selbst bewirken terrichtlichen Kontext genutzt werden. So könnten die Schükönnen. Über das Reflektieren des Lernprozesses im Lern- lerinnen und Schüler beispielsweise aufgefordert werden, in tagebuch kann bereits eine Veränderung (Verbesserung) des Partnerarbeit kurze Lernphasen durchzuführen und sich daLernverhaltens erreicht werden, da die Nutzung spezifischer bei gegenseitig beim lauten Denken zu protokollieren, um im Lernstrategien thematisiert wird (vgl. hierzu z. B. Hübner, Anschluss ihr Lernverhalten auch mit der Lehrkraft zu besprechen. Diese Durchführung der Methode entspricht zwar Nückles & Renkl 2009; Nückles, Hübner & Renkl 2009).

79 4.5  Förderung selbstregulierten Lernens

nicht unbedingt wissenschaftlichen Standards, kann jedoch in der Schule auch erfolgreicher, darüber hinaus meist auch der Lehrkraft einen besonderen Einblick in das Lernverhal- motivierter und zufriedener (7 Abschn. 4.3). Es ist aber auch ten der Schülerinnen und Schüler gewähren. ein eigenes Ziel von Schulen, Schülerinnen und Schüler als kompetente, fähige Lernende zu entlassen. Die Fähigkeit zum selbstregulierten Lernen selbst kann 1 Beobachtungsverfahren, Dokumentenanalyse und erlernt werden, sie ist jedoch eng mit unterschiedlichen EntAnalyse von Logfiles Während die bisher beschriebenen Verfahren ausschließlich wicklungsgebieten verknüpft, welche die Voraussetzung für auf Selbstberichten der Lernenden basieren, gibt es noch eine ein erfolgreiches, selbstreguliertes Lernen darstellen. UnReihe von Möglichkeiten, über beobachtende und dokumen- ter Entwicklungsgebieten versteht man einzelne Bereiche, tierende Verfahren das Lernverhalten zu analysieren. Dies wie beispielsweise die Sprachentwicklung, in denen Kinsind ebenfalls Methoden, die Lehrkräfte längst meist intui- der und Jugendliche eine natürliche Entwicklung durchlautiv anwenden. So haben viele Lehrkräfte bereits ein implizites fen (7 Kap. 14). Wigfield, Klauda und Cambria (2011) stellVerständnis, auf welche Weise einzelne Schülerinnen und ten die einzelnen Entwicklungsgebiete dar, die das erfolgSchüler lernen. Einen Eindruck über das Lernverhalten ihrer reiche Erlernen der Fähigkeit zum selbstregulierten Lernen Schülerinnen und Schüler haben sie jedoch meist auf wenig beeinflussen und trugen die wichtigsten Ergebnisse der akzielgerichtete Art und Weise erhalten. Über Checklisten kön- tuellen Forschung zusammen. Dabei ordneten sie die einnen Beobachtungen standardisiert werden und gewinnen da- zelnen Entwicklungsgebiete den drei Phasen des selbstredurch auch an Objektivität. In der Forschung werden Beob- gulierten Lernprozesses (präaktional, aktional, postaktional) achtungsverfahren oft über Videoanalysen durchgeführt. Auf nach Zimmerman (2000) zu. Hieran angelehnt sind auch diese Weise können bestimmte Situationen öfter, bezüglich die Phasen des Prozessmodells von Bernhard Schmitz (2001; unterschiedlicher Fragestellungen und durch unterschiedli- 7 Abschn. 4.2.2). In . Tab. 4.2 werden die wichtigsten Befunde che Beobachter analysiert werden. Dies dient der Erhöhung von Wigfield und Kollegen (2011) zusammenfassend dargeder Objektivität. Auch über die Analyse und Durchsicht von stellt. Um die Fähigkeit zum selbstregulierten Lernen zu förLernmaterialien (Dokumentenanalyse) können Hinweise auf das Lernverhalten erhalten werden. In digitalen Lernumge- dern, gibt es mittlerweile eine Reihe etablierter und wirkungsbungen können häufig auch die Logfiles aufgezeichnet und voller Förderprogramme. Allerdings stellt sich insbesondere analysiert werden. Über diese Methode erhofft man sich für Lehrerinnen und Lehrer die Frage, wie sie diese Fördereinen Einblick in Details des Lernprozesses (z. B. wie lange programme in ihren schulischen Unterricht integrieren. bestimmte Seiten aufgerufen werden, in welcher Reihenfolge Aufgaben bearbeitet werden, wie oft bestimmte Seiten wie- Studie: Lernstrategien vermitteln und Handlungsspielderholt aufgerufen werden etc.). Allerdings besteht bei all räume schaffen – Überzeugungen von Lehrerinnen und diesen Verfahren die Gefahr, dass Verhaltensweisen falsch Lehrern zum selbstregulierten Lernen gedeutet werden, bzw. die eigentliche Motivation zu dieser Damit Schülerinnen und Schüler selbstreguliertes LernverhalVerhaltensweise falsch interpretiert wird, da nur indirekt auf ten erlernen und auch tatsächlich anwenden, ist es wichtig, bestimmte Aspekte der Selbstregulation geschlossen werden dass Lehrkräfte in ihrem Unterricht entsprechende Lernstratekann. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass Lehrkräfte ihr gien vermitteln und Lernumgebungen gestalten, in denen die eigenes Diagnoseverhalten immer wieder selbst überprüfen Schülerinnen und Schüler die Freiräume haben, diese auch anund hinterfragen. So können Unterrichtsvideos von Lehr- zuwenden (Dignath-van Ewijk & van der Werf 2012). In einer kräften auch genutzt werden, um ihr eigenes Diagnoseverhal- Studie befragten die genannten Autorinnen 74 Grundschullehrerinnen und Grundschullehrer zur Förderung von selbstten mit Kolleginnen und Kollegen diskutieren. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass jedes reguliertem Lernen im Unterricht und zur Gestaltung offener, Diagnoseinstrument sowohl eigene Vorteile als auch Ein- konstruktivistischer Lernumgebungen (7 Kap. 17). Es zeigte schränkungen aufweist. Eine Kombination unterschiedlicher sich, dass Lehrerinnen und Lehrer sowohl die Förderung von selbstreguliertem Lernen als auch die Gestaltung Autonomie Verfahren erscheint daher sinnvoll.

4.5

Förderung selbstregulierten Lernens

Das Erlernen der Fähigkeit zum selbstregulierten Lernen ist im schulischen Kontext aus zwei Gründen von besonderer Bedeutung. Zum einen stellt sie eine grundlegende Voraussetzung für den schulischen Erfolg selbst dar. Schülerinnen und Schüler, die in der Lage sind eigenständig zu lernen, sind

gewährender Lernumgebungen wichtig finden. Dabei messen sie der Gestaltung offener und konstruktivistischer Lernumgebungen im Unterricht mehr Bedeutung bei als der Vermittlung spezifischer Lernstrategien. Dies spiegelt sich auch in ihrer Unterrichtsgestaltung wider: Die Mehrzahl der Lehrerinnen und Lehrer, die angeben, selbstreguliertes Lernen in ihrem Unterricht gezielt zu fördern, beschreiben ihren Unterricht als offen und Autonomie gewährend. Allerdings gibt nur ein geringer Anteil an, auch konkret die Anwendung von bestimmten Lernstrategien zu fördern.

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Kapitel 4  Selbstreguliertes Lernen

80

. Tabelle 4.2 Entwicklungsgebiete, die die Fähigkeit zum selbstregulierten Lernen beeinflussen Phase

Entwicklungsgebiet

Bezug zum selbstregulierten Lernen und aktueller Wissensstand

Präaktionale Phase

Sprachentwicklung

Die Entwicklung von Selbstgesprächen, die das aktuelle Tun beschreiben, findet vor allem im Vorschulalter statt. Dies ist eine wichtige Voraussetzung für Planungshandlungen

Zielsetzung

Die Formulierung von angemessenen kurzfristigen Zielen fällt Grundschülerinnen und Grundschülern noch schwer. Je älter Schülerinnen und Schüler werden, desto eher können sie sich auch langfristige Ziele setzen

Selbstwirksamkeit

Jüngere Kinder überschätzen ihre eigenen Fähigkeiten meist. Die Einschätzung der eigenen Fähigkeiten in Bezug auf akademische Kompetenzen und auch in Bezug auf die Fähigkeit, das Lernverhalten zu regulieren, sinkt im Laufe der Schulzeit. Dies bedeutet, dass ältere Schülerinnen und Schüler weniger Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten haben und sich vermutlich daher auch niedrigere Ziele setzen und ihr Potential nicht voll ausschöpfen

Werte

Werte sind entscheidend für die Aufrechterhaltung von Lernhandlungen. Studien zeigen, dass die Bedeutung, die unterschiedlichen akademischen Inhalten beigemessen wird, mit dem Alter der Schülerinnen und Schüler sinkt

Einsatz kognitiver Strategien

Der Einsatz kognitiver Strategien hängt bei Schülerinnen und Schülern stark von ihren Erfahrungen mit dem Einsatz dieser Strategien ab. Der tatsächliche Entwicklungsstand spielt dagegen eine eher geringe Rolle

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Aktionale Phase

Belohnungsaufschub Die Fähigkeit, einen Belohnungssaufschub zu akzeptieren ist eng verknüpft mit der Fähigkeit, auch langfristige Ziele zu setzen. Diese Entwicklung geht darüber hinaus einher mit einer verstärkten Zukunftsorientierung und einer Abschwächung der Impulsivität Anstrengung

Postaktionale Kausalattributionen Phase

Bisherige empirische Befunde zeigen wenig Unterschiede zwischen verschiedenen Altersgruppen in der Fähigkeit, sich anzustrengen; interindividuelle Unterschiede scheinen von deutlich größerer Bedeutung zu sein Im Laufe der Zeit verändern sich die Kausalattributionen von Kindern und Jugendlichen. Jüngere Kinder können beispielsweise noch nicht klar zwischen Fähigkeit und Anstrengung unterscheiden, erst im Alter von ungefähr 11 bis 12 Jahren erkennen sie diesen Unterschied

Emotions- und Motivationsregulation

Über die Entwicklung der Fähigkeit zu einer effektiven Emotions- und Motivationsregulation ist bisher wenig bekannt

Handlungsentscheidungen

Der Zusammenhang zwischen Handlungsentscheidungen und dem Wert, der dem Lerninhalt beigemessen wird, scheint mit dem Alter stärker zu werden. Es gibt Hinweise, dass sich die Zusammenhänge zwischen Alter, Werten und Zielen im Laufe der Jahre verändern. Hier besteht jedoch weiterhin Forschungsbedarf

Zusammenfassung des Buchkapitels von Wigfield, Klauda und Cambria (2011, S. 33–48).

4.5.1

Fördermodell selbstregulierten Lernens spielsweise das Dreischichtenmodell 7 Abschn. 4.2.1, oder das

Das Modell zur Förderung selbstregulierten Lernens soll als Hilfestellung dienen, bei der Entwicklung von Förderprogrammen alle relevanten Aspekte zu berücksichtigen (. Abb. 4.4). Im Zentrum des Fördermodells steht das selbstregulierte Lernen selbst. Dieses kann nur stattfinden, wenn Lernende über ein Mindestmaß an Wissen und Kompetenzen zu Aspekten selbstregulierten Lernens verfügen. Auf der anderen Seite werden das Wissen und die Kompetenzen zu Aspekten selbstregulierten Lernens durch das Lernen selbst aufgebaut und erweitert. Es besteht daher ein ständiges Zusammenspiel zwischen selbstreguliertem Lernen und dem entsprechenden Wissen bzw. den zugehörigen Kompetenzen (. Abb. 4.4). Zu Beginn der Entwicklung eines Förderprogramms sollte ein Modell selbstregulierten Lernens (bei-

Prozessmodell des selbstregulierten Lernens 7 Abschn. 4.2.2) gewählt werden, auf dem das Förderprogramm aufbaut. Dieses gewählte Modell der Selbstregulation bietet idealerweise die Grundlage der einzelnen Aspekte selbstregulierten Lernens, die im Rahmen des Förderprogramms vermittelt werden sollen. In evaluierten Trainingsprogrammen konnte gezeigt werden, dass es durchaus sinnvoll ist, das entsprechende Modell selbst, altersgerecht aufbereitet, vorzustellen (z. B. Stöger et al. 2014). Basis für die Förderung selbstregulierten Lernens ist dabei, dass es ein Mindestmaß an Freiheitsgraden zum selbstregulierten Lernen gibt (Sierens, Vansteenkiste, Goossens, Soenens & Dochy 2009). So wird die Förderung selbstregulierten Lernens kaum sinnvoll sein, wenn Schülerinnen und Schüler keine Möglichkeit sehen, ihr eigenes Lernen auch eigenständig zu beeinflussen.

81 4.5  Förderung selbstregulierten Lernens

Freiheit zum selbstregulierten Lernen Emotion

Motivation Wissen und Kompetenzen

Selbstreguliertes Lernen

Metakognition

Metakognitionen bezüglich selbstregulierten Lernens, also beispielsweise das Wissen über die Bedeutung und die Einsetzbarkeit bestimmter Lernstrategien, sind zum einen wichtige Voraussetzungen für die Förderung selbstregulierten Lernens, zum anderen aber auch Ziel des Förderprogramms selbst. Detailliertes metakognitives Wissen über Aspekte selbstregulierten Lernens können den Transfer von Kompetenzen zum selbstregulierten Lernen, z. B. über unterschiedliche Unterrichtsfächer hinweg sehr erleichtern (vgl. Stöger et al. 2014).

4.5.2

zu Aspekten selbstregulierten Lernens

Förderung selbstregulierten Lernens in der Schule

Ressourcen

. Abb. 4.4 Fördermodell selbstregulierten Lernens. Adaptiert nach Götz und Nett (2017, S. 172)

Um selbstreguliertes Lernen in der Schule ganz konkret zu fördern, können Lehrerinnen und Lehrer auf etablierte und wissenschaftlich evaluierte Förderprogramme zurückgreifen. Allerdings ist es im schulischen Alltag von noch größerer Relevanz, dass Lehrkräfte die notwendigen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen kennen und schaffen können, um die Kompetenzen ihrer Schülerinnen und Schüler zum selbstregulierten Lernen eigenständig und kontinuierlich zu fördern. So stellt sich auch für Frieder Maier aus unserem Eingangsbeispiel ganz konkret die Frage, wie er die Fähigkeiten seiner Schülerinnen und Schüler zum selbstregulierten Lernen fördern kann. Hier kann es hilfreich sein, sich vorab eine Reihe von Fragen zu stellen:

Für eine erfolgreiche Förderung selbstregulierten Lernens ist aber auch von großer Bedeutung, dass individuelle Voraussetzungen berücksichtigt werden. Dazu zählen insbesondere die Emotionen, die Motivation, die Ressourcen und die Metakognitionen bezüglich selbstregulierten Lernens (. Abb. 4.4). So kann erfolgreiches selbstreguliertes Lernen insbesondere dann stattfinden, wenn Lernende beim selbstregulierten Lernen positive Emotionen erleben, motiviert sind, sich die1 Welche Voraussetzungen und Fähigkeiten zum selbstregulierten Lernen haben die Schülerinnen und Lerninhalte eigenständig anzueignen, über die notwendigen Schüler bereits? Ressourcen wie z. B. Zeit und Arbeitsmaterialien verfügen und zudem wissen, wie effiziente Selbststeuerung funktio- Die Bedeutung, die einer ausführlichen Diagnostik von beniert. Zwischen diesen vier Bereichen (Emotionen, Moti- reits vorhandenen Fähigkeiten zum selbstregulierten Lernen vation, Ressourcen und Metakognition) bestehen zusätzlich der Schülerinnen und Schüler noch vor der eigentlichen FörWechselbeziehungen. Dies bedeutet, dass sie sich sowohl ge- derung zukommt, wurde bereits in 7 Abschn. 4.4 thematisiert (siehe auch Cleary & Zimmerman 2004). Dabei ist es wichgenseitig verstärken aber auch behindern können. Lehrerinnen und Lehrer können Einfluss auf ein positi- tig, dass Lehrkräfte zum einen den Entwicklungsstand der ves emotionales Erleben ihrer Schülerinnen und Schüler in entsprechenden Altersstufe im Blick haben, zum anderen Bezug auf selbstreguliertes Lernen nehmen, indem sie die- aber auch in der Lage sind, individuelle Fähigkeiten ihrer se Inhalte enthusiastisch vermitteln und die Bedeutung von Schülerinnen und Schüler angemessen einzuschätzen, wie Kompetenzen zum selbstregulierten Lernen betonen (vgl. z. B. ihre sprachlichen Fähigkeiten (. Tab. 4.2). Frieder Maier wird bei der Planung seiner Förderung beispielsweise sowohl Frenzel, Götz, Lüdtke, Pekrun & Sutton 2009). Über Letzteres kann auch die Motivation von Schülerin- den durchschnittlichen Entwicklungsstand von Schülerinnen nen und Schülern zum selbstregulierten Lernen erhöht wer- und Schülern der 5. Jahrgangsstufe berücksichtigen, als auch den. Darüber hinaus unterstützt auch eine Vermittlung von die individuellen Voraussetzungen der einzelnen Schülerinangemessenen Selbstwirksamkeitsüberzeugungen die Moti- nen und Schüler. vation von Schülerinnen und Schülern in Bezug auf selbstreguliertes Lernen (. Tab. 4.2; Zimmerman & Bandura 1994). 1 In welchem fachlichen Kontext soll selbstreguliertes Um ein effizientes Förderprogramm für selbstreguliertes Lernen gefördert werden? Lernen zu entwickeln, müssen zudem die Ressourcen (Zeit, Aktuelle Befunde weisen darauf hin, dass die Förderung von Unterstützung durch weitere Personen, Zugang zu Lernma- Kompetenzen zum selbstregulierten Lernen in fachspezifiterialien etc.) berücksichtigt werden, die den Schülerinnen schen Kontexten wirksamer ist als in fachübergreifenden und Schülern zur Verfügung stehen. Dabei ist besonders her- Kontexten (vgl. Seidel & Shavelson 2007). So kann Frieder vorzuheben, dass die Förderung selbstregulierten Lernens Maier den Kontext der Vorbereitung auf die Klassenarbeit zunächst zusätzliche Ressourcen in Anspruch nehmen kann. im Fach Mathematik ganz gezielt nutzen, um seinen Schüle-

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82

Kapitel 4  Selbstreguliertes Lernen

rinnen und Schülern spezifische Lernstrategien zu vermitteln und deren Einsatz mit ihnen einzuüben. Wichtig ist dabei zu beachten, dass ein Transfer auf weitere Kontexte in der Regel nicht automatisch erfolgt, sondern ebenfalls trainiert bzw. gefördert werden muss (z. B. Fuchs et al. 2003).

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1 Mit welcher Methode soll selbstreguliertes Lernen gefördert werden?

ten Lernen. Im Dreischichtenmodell ist die Struktur und gegenseitige Beeinflussung dieser Strategien herausgearbeitet. Im Prozessmodell des selbstregulierten Lernens wird die zeitliche Abfolge des Einsatzes der unterschiedlichen Strategien verdeutlicht. Die empirische Befundlage, ob sich selbstreguliertes Lernen tatsächlich positiv auf den Lernerfolg auswirkt, ist relativ heterogen, mit Hilfe von Metaanalysen wurde jedoch belegt, dass eine Förderung selbstregulierten Lernens insgesamt positive Effekte auf die Lernleistung sowie auf das Lernverhalten von Schülerinnen und Schülern, ebenso wie auf motivationale und emotionale Aspekte des Lernens hat. Förderprogramme scheinen dann besonders wirkungsvoll, wenn sie neben kognitiven Lernstrategien auch weitere Strategien zur Selbststeuerung vermitteln. Zur optimalen Förderung selbstregulierten Lernens ist es wichtig, die Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler gut diagnostizieren zu können. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ebenso wie Lehrerinnen und Lehrern stehen dazu unterschiedliche Instrumente zur Verfügung. Während mit einigen Instrumenten wie z. B. Fragebogen und Interview vor allem Kompetenzen zum Selbstregulierten Lernen erfasst werden können, kann mit Hilfe von Instrumenten wie Lerntagebüchern, Experience Sampling, Lautes Denken oder Beobachtungsverfahren auch der Lernprozess selbst abgebildet werden. Allerdings beeinflussen diese Methoden den Lernprozess teilweise auch stark, so dass die Wahl der Diagnosemethode stets sorgfältig abgewogen werden sollte. Auf der Basis ausgesuchter Modelle und einer sorgfältigen Diagnostik können effiziente Förderprogramme entwickelt werden. Bei der Entwicklung solcher Programme zur Förderung selbstregulierten Lernens sollten jedoch neben dem Wissen und den Kompetenzen zum selbstregulierten Lernen auch individuelle Voraussetzungen wie z. B. die Emotionen, die Motivation, die Ressourcen und die Metakognitionen bezüglich selbstregulierten Lernens berücksichtigt werden.

In Bezug auf Methoden zur Förderung selbstregulierten Lernens wird oft zwischen direkten und indirekten Methoden unterschieden. Im Rahmen einer direkten Förderung wird selbstreguliertes Lernen als Ziel an sich thematisiert und die entsprechenden Aspekte und Inhalte werden konkret vermittelt (Paris & Winograd 2003). Im Rahmen einer indirekten Förderung werden Lernumgebungen geschaffen, die ein selbstreguliertes Lernen der Schülerinnen und Schüler ermöglichen und gleichzeitig ermutigen sollen, ohne dass selbstreguliertes Lernen notwendigerweise als Ziel benannt wird. Solche Lernumgebungen können durch bestimmte Unterrichtsmethoden wie z. B. Stationenarbeit, Wochenplanarbeit oder Projektunterricht (vgl. Wiechmann 2008) geschaffen werden. Während Lehrkräfte aktuell vor allem eine indirekte Form der Förderung zu bevorzugen scheinen (vgl. Dignath-van Ewijk & van der Werf 2012), gibt es mittlerweile deutliche Hinweise, dass eine direkte Förderung oft effektiver ist (vgl. Otto 2007). Insbesondere im schulischen Alltag erscheint eine Kombination optimal. So wäre es für Frieder Maier beispielsweise günstig, einerseits seinen Schülerinnen und Schülern konkrete Strategien zur Klausurvorbereitung zu vermitteln, ihnen auf der anderen Seite aber auch in bestimmten Lernsettings die Möglichkeit zu geben, diese Strategien dann frei und variabel umzusetzen. Zusammenfassend ist für eine effektive Förderung selbstregulierten Lernens eine ausgewogene Mischung an fachübergreifenden und fachspezifischen sowie an direkten und indirekten Maßnahmen wichtig, die an die Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler angepasst ist. Diese optimale Mischung kann selbstverständlich nicht in jeder schulischen Situation sofort erreicht werden. Lehrkräfte können jedoch mit Sicherheit oft eine sehr gute Fördermaßnahme entwickeln, wenn sie sich sowohl auf ihr theoretisches Wissen als auch auf ihre praktische Expertise beziehen (vgl. z. B. Landmann & Schmitz 2007). Verständnisfragen

Zusammenfassung Im vorliegenden Kapitel wurden wichtige Aspekte selbstregulierten Lernens und deren Förderung diskutiert. Es wurden beispielhaft das hierarchische Dreischichtenmodell selbstregulierten Lernens von Monique Boekearts (1999) und das Prozessmodell des selbstregulierten Lernens von Bernhard Schmitz (2001) vorgestellt. Beide Modelle betonen die Bedeutung von kognitiven und metakognitiven Strategien ebenso wie von Strategien zur Regulation der eigenen Ressourcen beim selbstregulier-

?1. Wann ist Lernen selbstreguliert, wann ist Lernen fremdreguliert? 2. Welche Strategien nutzen Sie regelmäßig? Ordnen Sie diese Strategien den Schichten des Modells von Monique Boekaerts (1999) zu. 3. Was unterscheidet hierarchische Modelle von Prozessmodellen des selbstregulierten Lernens? Welchem praktischen Ziel können diese unterschiedlichen Arten von Modellen vor allem dienen? 4. Franziska ist Schülerin der 10. Jahrgangsstufe. Erstmals muss sie im Deutschunterricht eine Hausarbeit zu einem Thema ihrer Wahl schreiben. Sie hat hierfür

83 Literatur

5.

6.

7.

8.

9.

10.

zwei Wochen Zeit. Beschreiben Sie Franziskas selbstreguliertes Vorgehen mit Hilfe des Prozessmodells des selbstregulierten Lernens von Bernhard Schmitz. Aus welchen Gründen ist bereits eine frühe Förderung von Kompetenzen zum selbstregulierten Lernen sinnvoll? Erörtern Sie das folgende Ergebnis der Studie „Selbstreguliertes Lernen im Unterricht an der Grundschule“ (Stöger et al., 2014): Eine Förderung selbstregulierten Lernens erscheint dann besonders effektiv zu sein, wenn einzelne Strategien im Rahmen eines Gesamtverständnisses zum selbstregulierten Lernen vermittelt werden. Welchen Nutzen kann es haben, die Fähigkeit zum selbstregulierten Lernen sowohl durch Selbstberichtsals auch durch Beobachtungsmethoden zu erfassen? Was können Lehrkräfte beachten, wenn sie das Lernverhalten ihrer Schülerinnen und Schüler gut diagnostizieren möchten? Inwiefern ist eine gute Diagnostik wichtig für die Konzeption eines Förderprogramms zum selbstregulierten Lernen in der Schule? Entwerfen Sie ein Konzept, wie der Lehrer Frieder Maier im Rahmen von 4 Unterrichtsstunden des Mathematikunterrichts seinen Schülerinnen und Schüler effektive Methoden zur eigenständigen Vorbereitung auf die Klassenarbeit vermitteln kann.

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4

84

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Kapitel 4  Selbstreguliertes Lernen

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85

Gehirn und Lernen Jörg Meinhardt

5.1

Einleitung – 87

5.2

Grundbausteine des Gehirns – 87

5.2.1 5.2.2 5.2.3

Neuron – 87 Gliazellen – 87 Graue und weiße Substanz – 88

5.3

Gehirnstrukturen und ihre Funktionen – 88

5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4 5.3.5 5.3.6

Hirnstamm – 88 Thalamus – 88 Kleinhirn – 88 Limbisches System – 89 Großhirn und zerebraler Kortex – 90 Funktionen des zerebralen Kortex – 90

5.4

Lokalisation von Gehirnfunktionen am Beispiel der Sprache – 92

5.5

Gehirnentwicklung – 93

5.5.1 5.5.2 5.5.3 5.5.4

Neurogenese – 93 Synaptogenese – 94 Eliminierung von Synapsen – 94 Myelinisierung – 94

5.6

Imaging-Studien zur Gehirnentwicklung – 94

5.7

Neurokognitive Forschungsmethoden – 95

5.7.1 5.7.2 5.7.3 5.7.4 5.7.5 5.7.6

Elektroenzephalogramm – 95 Ereigniskorrelierte Potentiale – 96 Magnetenzephalografie – 96 Strukturelle und funktionelle Magnetresonanztomographie – 96 Nahinfrarotspektroskopie – 97 Positronen-Emissions-Tomographie – 97

5.8

Erfahrung, Lernen und neuronale Plastizität des Gehirns – 98

5.8.1 5.8.2

Neurowissenschaftliche Befunde zur Expertise – 98 Neurowissenschaftliche Befunde zum Wissenserwerb – 99

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Urhahne, M. Dresel, F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9_5

5

5.9

Neuromythen – 100

5.9.1 5.9.2 5.9.3 5.9.4

Der 10 %-Mythos! – 100 Zwei Gehirnhälften, zwei Arten zu denken? – 101 Die ersten drei Jahre: angereicherte Umwelten, Synaptogenese und sensible Phasen – 102 Lerntypen – eine visuelle, auditive und eine haptische Art des Lernens? – 103

Verständnisfragen – 105 Literatur – 105

87 5.2  Grundbausteine des Gehirns

5.1

Einleitung

In diesem Kapitel wird eine kleine Reise durch das Gehirn unternommen. Dazu werden zunächst Grundbausteine des Gehirns wie das Neuron vorgestellt. Es folgt ein Überblick zum Gehirnaufbau, angefangen vom Hirnstamm als evolutionär ältester Region, bis hin zum zerebralen Kortex als evolutionär jüngster Region, die mit den höheren psychischen Funktionen assoziiert ist (Kolb & Whishaw 2015). Anschließend werden unterschiedliche neurowissenschaftliche Methoden vorgestellt, mit denen Daten über die Struktur und die Funktionsweise des Gehirns gewonnen werden (Jäncke 2013). Im nächsten Abschnitt werden wichtige Befunde zur Gehirnentwicklung dargestellt, die unter anderem zeigen können, dass diese bis weit in das Erwachsenenalter hin andauert (Kolb & Whishaw 2015; Siegler, De Loache, Eisenberg & Saffran 2016). Im Folgenden wird erörtert, wie sich Lernen und Wissenserwerb im Gehirn abbildet. Dazu werden beeindruckende Befunde zu funktionellen und strukturellen Veränderungen der Gehirnplastizität dargestellt. Neurowissenschaftliche Forschung kann helfen, ein grundlegenderes Verständnis für Lernprozesse zu schaffen. Doch verführt die Bildhaftigkeit neurowissenschaftlicher Befunde auch zur Herausbildung von Neuromythen, von denen abschießend einige erläutert werden.

5.2 5.2.1

Grundbausteine des Gehirns Neuron

Die Verarbeitung von Informationen stellt die Hauptaufgabe unseres Gehirns dar, wobei die Neurone, also Nervenzellen, hier die grundlegenden Bausteine darstellen (. Abb. 5.1). Ein erwachsenes menschliches Gehirn enthält etwa, je nach Schätzung, 75 bis 125 Milliarden solcher Zellen (Lent, Azevedo, Andrade-Moraes & Pinto 2012). Als Mengenvergleich: Die Milchstraße, die als sehr große Galaxie gilt, umfasst etwa 100 bis 300 Milliarden Sterne. Neurone sind spezialisierte Zellen, die für das Empfangen, Verarbeiten und Senden von Informationen zuständig sind. Dabei übertragen sie elektrische Signale innerhalb des Gehirns von Neuron zu Neuron sowie darüber hinaus, auch zu allen anderen Teilen des Körpers. Hauptsächlich lassen sich drei Arten von Neuronen unterscheiden. Sensorische Neurone übermitteln Informationen, die über die Sinnesrezeptoren aus der Umwelt einlaufen sowie aus dem Inneren des Organismus herrühren. Motorische Neurone sind für die Übertragung von Informationen vom Gehirn zu den Muskeln und den Drüsen zuständig. Die Mehrzahl der Neurone im Gehirn stellen jedoch die Interneurone dar, die als Informationsvermittler zwischen den sensorischen und den motorischen Neuronen dienen. Auch wenn verschiedene Typen von Neuronen existieren, so besitzen sie doch immer dieselbe Grundstruktur. Neurone bestehen aus dem Zellkörper, den Dendriten sowie dem Axon. Der Zellkörper eines Neurons enthält neben dem

Zellkern alle notwendigen Zellorganellen, die eine Zelle am Leben erhalten. Eine weitere wichtige Funktion des Zellkörpers ist die Bereitstellung der Neurotransmitter, chemischer Substanzen, welche die Kommunikation der Neurone untereinander modulieren. Als Signalempfänger eines Neurons dienen die Dendriten. Diese sind weitverzweigte Ausläufer von Fasern, die vom Zellkörper des Neurons ausgehen. Über die Dendriten werden die von anderen Zellen einlaufenden elektrischen Signale an den Zellkörper des Neurons weitergeleitet. Jedes Neuron besitzt zudem ein Axon, welches die elektrischen Signale vom Zellkörper weg zu anderen Neuronen weiterleitet. Dabei variieren die Axone in ihrer Länge und können zwischen wenigen Mikrometern bis hin zu mehr als einem Meter betragen. Die Kommunikation zwischen den Neuronen erfolgt über die Synapsen. Eine Synapse ist ein mikroskopisch schmaler Spalt zwischen dem Axonende des sendenden Neurons (präsynaptische Endigung) und den Dendriten oder dem Zellkörper des empfangenden Neurons (postsynaptische Endigung). Ein Axon muss nicht zwangsläufig nur eine Synapse mit einem empfangenden Neuron bilden. An seinem Ende besitzt das Axon eine Verzweigung von sogenannten Endknöpfchen über das ein Neuron Synapsen mit abertausenden von anderen Neuronen bilden kann. Die Kodierung der Informationsübertragung auf Niveau der Synapsen erfolgt dabei über elektrische Impulse (Aktionspotentiale) sowie über die Freisetzung chemischer Botenstoffe, sogenannter Neurotransmitter, in den synaptischen Spalt. Die Signalübertragung kann dann, je nach Art der Synapse und nach Art der ausgeschütteten Transmitter, exzitatorischer oder inhibitorischer Natur sein. Das empfangende Neuron beginnt dann entweder vermehrt zu feuern und das Signal weiterzuleiten oder die Rate des Feuerns zu reduzieren, um das Signal an seiner Weiterleitung zu hindern.

5.2.2

Gliazellen

Neben Neuronen existieren im Gehirn auch andere Zelltypen. Von besonderem Interesse sind hier die Gliazellen. Zu ihren zahlreichen Aufgaben zählt die mechanische Stabilisierung der Neurone durch die Bildung von Bindegewebe; zudem sie sind am Zellstoffwechsel beteiligt und sie beeinflussen die Bildung von Synapsen. Neuere Befunde deuten darauf hin, dass sie auch eine wichtige Rolle bei der Informationsweiterleitung spielen (Travis 1994; Fields 2004). Besonders wesentlich ist, dass Gliazellen an der Bildung der Myelinscheiden der Axone beteiligt sind. Myelinscheiden stellen eine fetthaltige Ummantelung bestimmter Axone dar. Damit werden die Axone elektrisch gegenüber dem sie umgebenden Raum isoliert, was in Folge die Geschwindigkeit und Effizienz der Signalübertragung zwischen Nervenzellen entscheidend vergrößert. Anders ausgedrückt: Durch Myelinisierung wird die Kapazität der Informationsverarbeitung drastisch erhöht. Obwohl Axone auch ohne die Myelinscheide funktionieren,

5

88

Kapitel 5  Gehirn und Lernen

Dendriten (erhalten Botschaften von anderen Zellen)

Myelinschicht (bedeckt die Axone mancher Neurone und beschleunigt dadurch die lmpulsweiterleitung)

Soma oder Zellkörper (Versorgungszentrale des Neurons)

Axonale Endigung (Verbindungsstelle zu anderen Neuronen)

Ranvierscher Schnürring (beschleunigt Erregungsweiterleitung) Axonhügel

5 Kern

Axon (leitet die Botschaften vom Zellkörper weiter zu anderen Neuronen, Muskeln oder Drüsen)

Neuronaler Impuls (elektrischer Impuls, der am Axon entlang wandert)

. Abb. 5.1 Hauptstrukturen eines Neurons (adaptiert nach Myers 2014)

erreicht das Gehirn seine reguläre erwachsene Funktion erst, wenn die Myelinisierung in großen Bereichen des Gehirns vorrangeschritten ist. Damit stellt das Ausmaß der Myelinisierung einen Index der zerebralen Reifung dar. Ein Aspekt, auf den im Zusammenhang mit der Gehirnentwicklung noch zurückgekommen wird. Ebenso besitzt die Myelinisierung große Bedeutung bei der Plastizität, also bei strukturellen Gehirnveränderungen, die durch Erfahrung und Lernen vermittelt werden. Auch auf diesen Aspekt wird später noch Bezug genommen.

5.3.1

Hirnstamm

Der Hirnstamm ist evolutionär betrachtet der älteste Teil des Gehirns. Er besteht aus verschiedenen Strukturen, die die internen Prozesse des Körpers steuern. Der Hirnstamm beginnt am oberen Ende des Rückenmarks mit der Medulla oblongata. Von hier aus werden grundlegende Funktionen wie Herzschlag, Blutdruck und Atmung kontrolliert. Oberhalb der Medulla liegt die Brücke (Pons), die einlaufende Informationen zu anderen Strukturen des Hirnstamms und zum Kleinhirn weiterleitet. Der Hirnstamm ist durchzogen von der Formatio reticularis, die eine netzartige Struktur aus Nervenzellen und ihren Fortsätzen darstellt. Sie besitzt eine 5.2.3 Graue und weiße Substanz zentrale Funktion bei der Steuerung der Aufmerksamkeit und ist an der Aufrechterhaltung und Regulation des WachheitsSchaut man sich Gehirnpräparate Verstorbener oder MRTzustandes beteiligt. Eine massive Schädigung dieser Struktur Bilder an, lassen sich helle und dunkle Bereiche unterscheiführt zum Koma. den. Die dunkler erscheinenden Gebiete werden als graue Substanz bezeichnet, die helleren als weiße Substanz. Die graue Substanz umfasst im Wesentlichen die Zellkörper der Neurone und Dendriten. Demgegenüber besteht die weiße 5.3.2 Thalamus Substanz aus myelinisierten Axonen und Gliazellen. Über dem Hirnstamm liegt der Thalamus, die Umschaltstation für sensorische Signale im Gehirn. Er empfängt Informationen von den Sinnessystemen (ausgenommen vom Ge5.3 Gehirnstrukturen und ihre Funktionen ruchssinn) und übermittelt diese zu den sensorischen Arealen im Kortex, die für Sehen, Hören, Geschmack, Berührung Das Gehirn ist die wichtigste Kommandozentrale unseres und Schmerz zuständig sind. Ebenso empfängt er auch InNervensystems (Kolb & Whishaw 2015). Im untersten Teil, formationen von höheren Zentren und leitet diese zurück an dort wo das Rückenmark in den Schädel eintritt, liegt der Medulla und Kleinhirn. Hirnstamm. Er ist für die Aufrechterhaltung der Lebensfunktionen zuständig. In einer ringförmigen Anordnung darüber befindet sich das limbische System, welches zwischen Motivation, Emotion und Gedächtnis vermittelt. Das Großhirn 5.3.3 Kleinhirn umschließt den Hirnstamm und das limbische System. Seine Rinde, der zerebrale Kortex, integriert Informationen aus Das Kleinhirn oder Zerebellum befindet sich unterhalb des den Sinnessystemen, koordiniert Bewegungen und ist mit hö- Okzipitallappens an der Hinterseite des Hirnstamms. Es ist heren psychischen Funktionen assoziiert, die uns Denken, beim Menschen der nach dem Großhirn vom Volumen her Bewusstsein und Sprache ermöglichen (. Abb. 5.2). zweitgrößte Teil des Gehirns. Ähnlich dem zerebralen Kortex,

89 5.3  Gehirnstrukturen und ihre Funktionen

. Abb. 5.2 Gehirnstrukturen und Funktionen (adaptiert nach Myers 2014)

der Großhirnrinde, weist es Windungen zur Oberflächenvergrößerung auf. Es erfüllt wichtige Aufgaben bei der Steuerung der Motorik, wie der Koordination und Feinabstimmung von Körperbewegungen, der Kontrolle von Haltung und Gleichgewicht. Das Kleinhirn ist zentral für das Erlernen von Bewegungsabläufen und deren Automatisierung (Hazeltine & Ivry 2002; Seidler et al. 2002), z. B. beim Radfahren oder Klavierspielen. Zudem spielt das Kleinhirn eine zentrale Rolle bei der Bildung und Speicherung impliziter Gedächtnisinhalte in Folge von klassischer Konditionierung (Daum & Schugens 1996), was folgender Fallbericht eindrucksvoll veranschaulicht: Le Doux (1996) berichtet von einer Patientin mit einer schwerwiegenden Gedächtnisstörung. Sie erkannte ihren Arzt nicht wieder, obwohl dieser täglich mit ihr sprach und ihr die Hand schüttelte. Eines Tages verbarg der Arzt eine Reißzwecke in seiner Hand. In Folge wurde die Patientin beim Händeschütteln gepiekt. Als er ihr beim nächsten Besuch die Hand zum Gruß reichte, weigerte sich die Patientin seine Hand zu ergreifen. Erklären, warum sie zurückschreckte, konnte sie nicht. Die schmerzliche Erfahrung beim Händeschütteln stellte eine klassische Konditionierung dar (7 Kap. 1), wodurch das Händeschütteln mit dem Arzt aversiv besetzt wurde. Ihr explizites Gedächtnis war gestört und ließ keine bewusste Erinnerung

zu, jedoch speicherte das intakte Kleinhirn das Erlebnis auf impliziter Ebene ab und steuerte so ihr Verhalten. Neben motorischen Funktionen, deren Automatisierung und der Speicherung impliziter Gedächtnisinhalte auf Basis klassischer Konditionierung, ist das Kleinhirn auch bei der Abschätzung von Zeit, der Unterscheidung von Tönen und Mustern sowie der Regulation von Emotionen beteiligt (Bower & Parsons 2003).

5.3.4

Limbisches System

Das limbische System ist eine ringförmige Struktur, die oberhalb des Hirnstamms und unterhalb der zerebralen Hemisphären verläuft. Es besteht aus verschiedenen Gehirngebieten, denen gemeinsam ist, dass sie evolutionär betrachtet zu den älteren Strukturen gehören und überwiegend zwischen motiviertem Verhalten, Emotionen und Gedächtnisprozessen vermitteln. Drei zentrale Strukturen seien hier erwähnt, der Hypothalamus, der Hippocampus und die Amygdala. Der Hypothalamus befindet sich direkt unterhalb des Thalamus und steuert zahlreiche physiologische Prozesse motivierten Verhaltens wie Nahrungshaushalt, Temperatur-

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Kapitel 5  Gehirn und Lernen

regulation und sexuelle Erregung. In Verbindung mit der Hypophyse reguliert er auch das endokrine System. Eng mit dem Hypothalamus verbunden beinhaltet das limbische System Kerngebiete, die nach ihrer Entdeckung in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts als Belohnungszentrum bezeichnet wurden (Olds & Milner 1954; Olds 1956). Neben der Motivierung von Verhalten durch Belohnung besitzt das limbische System noch weitere wichtige Funktionen. So spielt der Hippocampus (Seepferdchen), der im Temporallappen liegt, beim Erwerb deklarativer Gedächtnisinhalte eine wichtige Rolle. Er ist mit dafür verantwortlich, wie Fakten über die Welt und autobiografische Ereignisse längerfristig im Gedächtnis gespeichert werden. Die Funktion einer Struktur kann man gut veranschaulichen, wenn sie ausfällt. Dazu ein Fallbericht zum Patienten H.M., einem der prominentesten Probanden der Psychologie (Gerrig 2015): Aufgrund seiner Epilepsie unterzog sich H.M. einer Operation, bei der versucht wurde, durch Entfernung von großen Teilen seines Hippocampus die Schwere seines Anfallsleidens zu mindern. Nach dem Eingriff konnte sich der Patient nur noch an Dinge erinnern, die lange zurücklagen. Er verlor seine Fähigkeit neue Informationen im Langzeitgedächtnis zu speichern. Die Dramatik einer solchen Störung, die auch als anterograde Amnesie bezeichnet wird, liegt auf der Hand. Sollten Personen mit einer solchen Störung eine neue Wohnung beziehen, so könnten sie sich weder darin zurechtfinden, noch den Weg dahin erinnern. Neue Informationen werden schon nach kurzer Zeit vergessen. Am vorderen Ende des Hippocampus befindet sich die Amygdala (Mandelkern). Verschiedene Studien haben gezeigt, dass die Amygdala wesentlich für die Wahrnehmung von Emotionen ist, die insbesondere Bedrohungen wie Angst oder Wut signalisieren. Zudem spielt sie eine zentrale Rolle bei der Speicherung von emotionalen Inhalten im Gedächtnis (Adolphs, Tranel, Damasio & Damasio 1995; Anderson & Phelbs 2000; Poremba & Gabriel 2001). Die Amygdala ist also damit beschäftigt, Informationen emotional zu bewerten und hilft damit Entscheidungen zu treffen, welche Informationen überhaupt langfristig gespeichert werden sollen.

5.3.5

Großhirn und zerebraler Kortex

Das Großhirn ist die größte Struktur des menschlichen Gehirns und besteht aus der linken und rechten Gehirnhälfte, den Hemisphären. Die beiden Gehirnhälften arbeiten nicht getrennt voneinander, sondern interagieren bei ihren vielfältigen Aufgaben. Der Informationsaustausch zwischen beiden Hemisphären erfolgt über einen gewaltigen Strang aus Nervenfasern, dem Corpus callosum, auch Balken genannt. Die äußerste Schicht, welche die linke und rechte Gehirnhälfte umgibt, wird als zerebraler Kortex bezeichnet. Der Begriff Kortex ist vom lateinischen Wort für Rinde abgeleitet. Der zerebrale Kortex dient höheren psychischen Funktionen und spielt eine wesentliche Rolle bei der Verarbeitung von Sinneswahrnehmungen, bei Willkürbewegungen, bei komplexem

Denken und Planen, bei der Sprache, dem Gefühlserleben, bei Bewusstsein und Persönlichkeit, kurz gesagt bei allem, was menschliches Erleben und Verhalten so einzigartig macht (Kolb & Whishaw 2015). Die Oberfläche des Kortex ist beim Menschen stark gefaltet und von Furchen und Spalten durchzogen. Die Furchen verbergen gut zwei Drittel der Oberfläche und vergrößern seine Gesamtfläche immens, die abgewickelt einer Fläche von etwa 50  50 cm entspricht. Die Faltungen bewirken, dass eine größere Menge an Kortex im Gehirn untergebracht werden kann, ohne das Gehirnvolumen insgesamt zu vergrößern. Mit der Entwicklung des zerebralen Kortex hat es die Evolution erreicht, den starken Einfluss der Gene abzuschwächen und so die Anpassungsfähigkeit des Organismus an sehr unterschiedliche Umwelten und Lernbedingungen zu erhöhen. Obwohl der zerebrale Kortex durchschnittlich nur 3 mm dick ist, enthält er nach neueren Befunden rund 15–20 Milliarden Neurone und etwa die vierfache Menge an Gliazellen (Azevedo et al. 2009). Der zerebrale Kortex besteht vorwiegend aus den Zellkörpern und deren Faserverbindungen ohne Myelinscheide. Da Zellkörper in seinem Aufbau vorherrschen, erscheint er im anatomischen Gehirnschnitt graubraun und wird daher auch als graue Substanz bezeichnet. Unterhalb des zerebralen Kortex verlaufen mehrere Millionen Axone, welche die Neurone des zerebralen Kortex mit denjenigen in anderen Gehirnregionen verbinden. Die große Konzentration an Myelin gibt diesem Gewebe eine weiße Färbung, weshalb sie auch als weiße Substanz bezeichnet wird (. Abb. 5.3).

5.3.6

Funktionen des zerebralen Kortex

Bevor Funktionen des zerebralen Kortex genauer betrachtet werden können, ist zunächst etwas Kartografie notwendig. Jede Hemisphäre wird durch anatomische Landmarken in vier Lappen unterteilt. Die Zentralfurche (Sulcus centralis) teilt jede Hemisphäre vertikal und die Lateralfurche (Fissura lateralis oder Sylvische Furche) teilt jede Hemisphäre horizontal. Wenn man auf der Vorderseite des Gehirns beginnt, trifft man zuerst auf die Frontallappen (Stirnlappen), die bis zur Zentralfurche verlaufen. Dahinter, etwa im Bereich der Schädelmitte, beginnen die Parietallappen (Scheitellappen). An der Rückseite des Schädels liegen die Okzipitallappen (Hinterhauptslappen), wobei die Grenzen zu den Parietallappen von außen nicht sichtbar sind. Die Temporallappen (Schläfenlappen) liegen an den Schädelseiten über den Ohren und werden durch die Lateralfurche nach oben begrenzt. Was die Lokalisation von Gehirnfunktionen betrifft, wäre es allerdings irreführend zu meinen, dass irgendein Gehirnlappen eine spezifische Funktion allein kontrolliert (Kolb & Whishaw 2015). Die Gehirnstrukturen vollziehen ihre Aufgaben gemeinsam, sie arbeiten als integrale Einheit zusammen. Ob wir etwas lesen, eine Rechenaufgabe bearbeiten oder ein Gespräch führen, unser Gehirn arbeitet als einheitliches Ganzes. Dennoch lassen sich Areale der vier Gehirnlappen ausmachen, die für spezielle Funktionen wie das Sehen und

91 5.3  Gehirnstrukturen und ihre Funktionen

Die Hirnlappen sind die groben Unterteilungen des zerebralen Kortex

Oben

Stirnlappen (Frontallappen)

Vorne

Das Gehirn hat eine rechte und eine linke Hemisphäre

Scheitellappen (Parietallappen)

Der zerebrale Kortex ist die äußere „Rinden“-Schicht des Gehirns

Hinten

Hinterhauptslappen (Okzipitallappen) Schläfenlappen (Temporallappen)

Unten

. Abb. 5.3 Gehirnlappen und zerebraler Kortex (adaptiert nach Myers 2014)

Hüfte Rumpf Nack en Sch Kopf O Elle be ulter nb rar Ha Unt oge m nd era n ge rm le Ha nk nd

Rumpf Hüfte nk Knie le ge

Fu ß

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Fuß

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r ge fin ger n i n e Kl ingfi nger R telfi er t i M igefing Ze Daumen Auge Nase Gesicht

Lippen

Kiefer e Zung en luck Sch

Sensorischer Homunculus

Bei

3 2 D Na aum Bra cke en u n Au en ge Ges ich t

5

nd

Ha

4

Schulter Ellenbogen nk Handgele

Motorischer Homunculus

Oberlippe Unterlippe

Zähne , Gaum

en u. K

Ba

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Zun uc ge he Ra in ch ge en we id e

Ges

chm

Primärer Primärer motorischer somatosensorischer Kortex Kortex

ack

. Abb. 5.4 Motorischer und somatosensorischer Kortex. Der Körper ist hier so dargestellt, dass die Größe einer Körperregion der ihr zugeordneten Menge an kortikalen Volumen entspricht. Für Körperteile, die sehr sensitiv sind oder für die eine sehr genaue motorische Kontrolle benötigt wird, steht mehr Gehirngewebe zur Verfügung. Beispielsweise sind die Finger auf einer viel größeren Fläche repräsentiert als der Arm (adaptiert nach Myers 2014)

5

92

5

Kapitel 5  Gehirn und Lernen

Hören, die Sprache, das Gedächtnis oder die Motorik notwendig sind. Sind sie geschädigt, sind ihre Funktionen gestört oder gänzlich verloren. So lassen sich die primären sensorischen und motorischen Funktionen enger umschriebenen Gehirnarealen zuordnen. Dies betrifft Areale, wo die sensorischen Faserverbindungen enden, oder motorische Kommandos ausgesendet werden. Der primäre motorische Kortex steuert die Willkürbewegungen des Körpers. Er liegt im hinteren Bereich des Frontallappens vor der Zentralfurche. Gleich hinter der Zentralfurche, im vorderen Teil des Parietallappens, befindet sich der primäre somatosensorische Kortex. Hier werden Empfindungen wie Berührungen, Temperatur, Lage im Raum und Schmerz repräsentiert (. Abb. 5.4). Visuelle Informationen werden im primären visuellen Kortex verarbeitet, der im Okzipitallappen an der Rückseite des Gehirns liegt. Für auditive Informationen ist der primäre auditive Kortex zuständig, der an der Oberseite des Temporallappens lokalisiert ist. Kortikale Gebiete, die weder sensorische Signale empfangen noch Kommandos an die Muskeln aussenden, bilden beim Menschen etwa drei Viertel der Oberfläche des Kortex. Diese Gebiete sind weit über den Kortex verteilt und bilden die Assoziationsfelder des zerebralen Kortex. Sie dienen der Integration und Interpretation von Informationen. Hier werden sensorische Signale mit gespeichertem Wissen in Zusammenhang gebracht und geeignete Reaktionen geplant. Assoziationsfelder sind entscheidend für Denkprozesse. Im Frontallappen befinden sich die Assoziationsareale vor den motorischen Regionen. Diese Region wird auch als präfrontaler Kortex bezeichnet. Hier geht es um die exekutiven Funktionen wie Arbeitsgedächtnis, Handlungsplanung, Entscheidungsfindung und inhibitorische Kontrolle. Es geht also auch um Funktionen, die für Persönlichkeit und Sozialverhalten entscheidend sind. Welche Folgen eine Schädigung des Frontallappens haben kann, lässt sich am Fall des Bahnarbeiters Phineas Gage veranschaulichen (Damásio 1994): Wir schreiben das Jahr 1848, als Gage, damals 25-jährig, mit Sprengungen beim amerikanischen Eisenbahnbau beschäftigt war. Durch eine Unachtsamkeit kam es zu einer vorzeitigen Explosion. Sein Werkzeug, eine gut einen Meter lange Eisenstange, schlug durch die linke Wange in seinen Schädel ein, trat oben an der Schädeldecke wieder aus und führte zu massiven Verletzungen seines Frontallappens. Zur allgemeinen Verwunderung blieb Gage während des Unfalls bei Bewusstsein, konnte sprechen und sich später an den Vorfall erinnern. Nachdem die Wunde verheilt war, nahm er seine Arbeit wieder auf. Obwohl seine intellektuellen Fähigkeiten wie Wahrnehmung, Gedächtnis, Sprache und Intelligenz intakt waren, zeigten sich doch Veränderungen in seiner Persönlichkeit. Aus dem freundlichen, reflektierten und verantwortungsbewussten Mann wurde eine respektlose, impulsive und unaufrichtige Person. In Folge dieser Persönlichkeitsveränderungen verlor er seinen Arbeitsplatz und erlitt einen erheblichen sozialen Abstieg. Auch andere Assoziationsfelder sind Grundlage psychischer Funktionen. Neben den primären auditorischen Funktionen beinhaltet der Temporallappen auch Assoziationsfel-

der, die mit visuellen Funktionen wie Objekt- und Gesichtserkennung beschäftigt sind. Etwas allgemeiner kann man sagen, dass es hier um das „Was“ einer Wahrnehmung geht. Assoziationsfelder im Parietallappen sind an der Verarbeitung räumlicher Informationen beteiligt, wie der Lokalisierung von Objekten im Raum und deren Bewegungen. Hier geht es also um das „Wo“ einer Wahrnehmung. Zudem übernimmt er beim Rechnen und Lesen wichtige Funktionen.

5.4

Lokalisation von Gehirnfunktionen am Beispiel der Sprache

Wie die oben dargestellte Übersicht zu Funktionen von unterschiedlichen Gehirnarealen zeigt, kann eine bestimmte Region für eine spezielle psychische Funktion entscheidend sein. Das darf aber nicht zu der Fehlannahme verleiten, dass immer nur eine Region allein eine bestimmte Funktion kontrolliert. Vielmehr gilt, je komplexer eine Funktion ist, umso mehr Regionen sind involviert und jeweils mit der Kontrolle von Unterfunktionen befasst, die in Folge in der Gesamtfunktion resultieren. Die Lokalisation von komplexen Gehirnfunktionen beruht auf einer netzwerkorientierten Sicht, wobei komplexe psychische Funktionen immer von mehreren Regionen des Gehirns abhängen, die untereinander vernetzt sind und interagieren. Fallen einzelne Stationen in diesem Netzwerk aus oder werden die Verbindungen zwischen diesen Stationen gestört, kann eine Funktion beeinträchtigt werden oder gänzlich verloren gehen. Diese netzwerkorientierte Sicht soll im Folgenden anhand der Sprache veranschaulicht werden. Dazu jedoch zunächst ein Schritt zurück in die Geschichte der Neurowissenschaften. In den 1860er Jahren beschrieb der französische Mediziner Paul Broca, dass nach Schädigung eines bestimmten Areals des linken Frontallappens, dem später nach ihm benannten Broca-Areal, spezifische Störungen der Sprachproduktion auftreten. Dabei müssen die von der sogenannten Broca-Aphasie Betroffenen um jedes Wort „mühevoll ringen“, sinnvolle Sätze gelingen kaum, wobei ihr Sprachverstehen weitgehend erhalten bleibt. Ebenfalls vor dem Hintergrund von Gehirnläsionen beschrieb der deutsche Mediziner Carl Wernicke 1874 ein Areal im linken Temporallappen, das insbesondere mit dem Verständnis von gesprochener Sprache assoziiert ist. Aufgrund ihrer Beeinträchtigung im Sprachverständnis können die von Wernicke-Aphasie Betroffenen aber auch keine sinnvollen Sätze mehr generieren, obwohl sie durchaus sprechen können. Im Jahr 1892 beschreib Joseph Jules Dejerine auf der Basis von Post-Mortem-Analysen ein Modul für Schriftsprache im linken Gyrus angularis (ein Areal im linken Temporal- und Parietal-Kortex), dessen Schädigung mit der Unfähigkeit zu lesen und zu schreiben einhergeht, obwohl die Fähigkeit zu sprechen und Sprache zu verstehen erhalten bleibt. Der Gyrus angularis erhält visuelle Informationen vom primären visuellen Kortex und transformiert sie in einen auditorischen Code,

93 5.5  Gehirnentwicklung

den das Wernicke-Areal benötigt, um die sprachliche Bedeutung analysieren zu können. Viele Jahre später, um 1960, integrierte Norman Geschwind all diese Befunde zum Wernicke-GeschwindModell, das beschreibt, wie wir Sprache verwenden (Kolb & Whishaw 2015). Gesprochene Wörter werden vom primären auditorischen Kortex wahrgenommen und geschriebene Wörter vom primären visuellen Kortex. Die gelesenen Wörter werden im Gyrus angularis in einen auditorischen Code umgewandelt. Der auditorische Code wird zum WernickeAreal weitergeleitet und dort entschlüsselt und dann zum Broca-Areal übertragen, das wiederum den prämotorischen Kortex erregt, falls Sprache generiert werden soll. Der Output dieses Systems steuert dann letztlich die Muskulatur für die Artikulation. Aus dem Modell lassen sich verschiedene Voraussagen über Sprachstörungen ableiten. Je nachdem, welche Region in dieser Kette ausfällt, entsteht eine jeweils andere Form von Störung. Beispielsweise führt eine Läsion des WernickeAreals zu einer Störung des Sprachverstehens, während eine Läsion des Gyrus angularis lediglich die Fähigkeit zu lesen, jedoch nicht die Fähigkeit zu sprechen und das Sprachverstehen beeinträchtigt. Auch wenn dieses Modell nicht frei von Kritik bleibt, so stellt es immer noch einen wichtigen Ansatz zur Erklärung von Sprache und Aphasien dar und hat viele weitere Forschungsarbeiten angeregt. Insgesamt ist das Modell noch zu unvollständig, um zu erklären, wie wir Sprache verwenden. Die Funktionen der Broca- und Wernicke-Areale sind nicht so eindeutig bestimmbar, wie zunächst angenommen wurde. Patienten mit Aphasien zeigen fast immer expressive und rezeptive Störungen ihrer Sprache, die Begriffe Broca-Aphasie und Wernicke-Aphasie beschreiben nur die überwiegende Störung. Zwar besitzt die Einteilung in Broca- und WernickeAreale heutzutage noch Relevanz bei der Diagnostik neuropsychologischer Sprachstörungen, jedoch hat die Entwicklung von aktuellen Neuroimaging-Verfahren für das Verständnis von Sprachfunktionen und deren zerebraler Lokalisation eine entscheidende Wende eingeleitet (Jäncke 2013). Das Wernicke-Geschwind-Modell beruht auf der Beobachtung von Patienten mit Läsionen. Aber wie funktioniert Sprache bei gesunden Gehirnfunktionen? Ein entscheidender Vorteil von Neuroimaging-Verfahren ist, dass psychische Funktionen unabhängig von Läsionen im normalen Gehirn und sozusagen online beobachtet werden können. Daher ist es nicht verwunderlich, dass neuere Modelle zur neuronalen Basis der Sprache wesentlich differenzierter ausfallen. Für die Wahrnehmung sprachlicher Informationen, die Analyse der Bedeutung einzelner Wörter, die Verarbeitung des Satzbaus, das Satzverständnis und die Artikulation, um nur einige Bausteine zu nennen, können mittlerweile noch weitaus differenziertere Netzwerke identifiziert werden (Friederici 2011; Poeppel, Emmorey, Hickok, Pylkkänen 2012). Die wichtigsten Sprachregionen befinden sich in unterschiedlichen temporalen und frontalen Arealen des Kortex der linken Hemisphäre. Die neueren Befunde zeigen darüber hinaus auch, dass

Sprache nicht nur eine Funktion der linken Hemisphäre ist. So erfolgt beispielsweise die Verarbeitung der Prosodie und der Sprachmelodie in der rechten Hemisphäre. Wie dieser kurze Exkurs zur Lokalisation von Sprachfunktionen zeigt, sind komplexe psychische Funktionen nicht an nur einen Ort gebunden, sie sind immer das Ergebnis von zahlreichen Strukturen, die in Netzwerken interagieren und über beide Hemisphären verteilt sind.

5.5

Gehirnentwicklung

Die Gehirnentwicklung ist ein lang andauernder Prozess, der pränatal beginnt und sich bis ins hohe Erwachsenenalter vollzieht. Im Folgenden werden die vier wichtigsten Prozesse der Gehirnentwicklung beschreiben (Kolb & Whishaw 2015). Zuerst wird die Bildung von Neuronen beschrieben, die als die Grundbausteine des Gehirns dienen. Es folgt der Prozess ihrer Vernetzung, auch Synaptogenese genannt. Jedoch produziert das Gehirn auch einen Überschuss von synaptische Verbindungen, die in Folge teilweise wieder abgebaut werden. Dieser Prozess der Synapsenreduktion ermöglicht es dem Organismus, sich flexibel an seine Umwelt anzupassen und Verbindungen zu erzeugen, die adaptiv sind. Als letzter Entwicklungsschritt wird die Myelinisierung beschrieben, durch die eine Effektivitätssteigerung bei der Signalübertragung erreicht wird. Gehirnentwicklung ist nicht einfach als Abspulen genetischer Programme, sondern als Interaktion zwischen Anlagen und Umweltbedingungen zu verstehen. Abschließend werden Befunde aus Neuroimaging-Studien vorgestellt, die Implikationen für das Verständnis von typischen Verhaltensweisen in der Adoleszenz haben.

5.5.1

Neurogenese

Schon im ersten Monat nach der Befruchtung werden die ersten Neurone gebildet. Die Bildung von Neuronen vollzieht sich durch Zellteilung und wird als Neurogenese bezeichnet. Die Neurogenese vollzieht sich mit einer ungeheuren Geschwindigkeit, wobei bis zu 250.000 Zellen pro Minute gebildet werden. Abgeschlossen ist die Neurogenese etwa im fünften Schwangerschaftsmonat, danach werden nur noch wenige Neurone neu gebildet. Das bedeutet auch, dass unser Gehirn bei der Geburt fast genauso viele Neurone beinhaltet wie im Erwachsenenalter. Ganz zum Stillstand kommt die Neurogenese aber nicht, denn in bestimmten Gebieten des Gehirns werden auch über das gesamte Leben hinweg neue Neurone gebildet. Beispielsweise konnte das für den Hippocampus beobachtet werden, eine Region, die für die Gedächtnisbildung von größter Relevanz ist (Eriksson et al. 1998). Nachdem die Neurone neu gebildet wurden, wandern sie zu ihren Bestimmungsorten. Dieser Prozess, die Migration, setzt direkt nach der Neurogenese ein. Haben die Neurone ihre Zielposition erreicht, beginnen sie sich zu differenzieren und übernehmen ihre speziellen Funktionen in den unter-

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Kapitel 5  Gehirn und Lernen

mantelung bestimmter Axone dar. Diese Ummantelung führt zu einer elektrischen Isolierung des Axons gegenüber dem umgebenden Raum, was in Folge die Geschwindigkeit und Effizienz der Signalübertragung entscheidend erhöht. Beispielsweise ist die nach der Geburt noch nicht ausreichende Myelinisierung dafür verantwortlich, dass Kinder in dieser Zeit noch Schwierigkeiten haben, koordinierte Bewegungen durchzuführen. Der Prozess der Myelinisierung beginnt schon vor der Geburt und erstreckt sich bis in das hohe Erwachsenenalter. Die Myelinisierung beginnt zuerst im Hirn5.5.2 Synaptogenese stamm und verläuft hinauf zum Kortex (Lenroot & Giedd 2006). Dort vollzieht sich die Myelinisierung dann mit deutWährend der Synaptogenese bildet jedes Neuron Synapsen lich unterschiedlichem Tempo, wobei die präfrontalen Bereimit Tausenden von anderen Neuronen. Die Synaptogene- che des Kortex zuletzt ausreifen. se beginnt schon vor der Geburt, etwa ab der zwanzigsten Schwangerschaftswoche, und hält im Grunde lebenslang an. Sie verläuft in verschiedenen Gehirnregionen unterschiedlich schnell und beginnt zu unterschiedlichen Zeitpunkten. 5.6 Imaging-Studien zur Gehirnentwicklung Im visuellen Kortex erreicht die Synaptogenese ihr Maximum etwa im Alter von einem Jahr, im präfrontalen Kortex liegt Frühere Studien zur Gehirnentwicklung wie die oben gedas Maximum bei vier Jahren (Huttenlocher & Dabholkar nannten von Huttenlocher und Dabholkar (1997) liefern 1997). Damit spiegeln die unterschiedlichen Zeitverläufe in wichtige Beiträge zur Volumenveränderung der grauen Subder Synapsenbildung in den unterschiedlichen kortikalen Re- stanz. Jedoch basieren diese Studien auf der klinischen Ungionen vermutlich die Zeitpunkte wider, an denen bestimmte tersuchung der Gehirnschnitte von verstorbenen Personen Verhaltensmöglichkeiten und Fertigkeiten ausgebildet wer- verschiedenen Alters. Da die Studien querschnittlich angelegt den (Siegler et al. 2016). waren, werden Veränderungen im intraindividuellen Verlauf schiedlichen Strukturen des Gehirns. Während dieser Phase wächst das Axon, es bildet sich der Dendritenbaum und die Neurone beginnen sich mit anderen Neuronen zu vernetzen oder bilden Verbindungen zu Muskeln und Drüsen aus. Der Prozess der Vernetzung von Neuronen erfolgt über die Bildung von Synapsen. Dieser Prozess wird als Synaptogenese bezeichnet.

5

5.5.3

Eliminierung von Synapsen

Ein bedeutsamer Aspekt der Synaptogenese ist, dass weitaus mehr Synapsen produziert werden als später bestehen bleiben. Auf die Phase der Überproduktion von Synapsen folgt eine Phase der Elimination von Synapsen. Diese Eliminierung von überschüssigen Synapsen geht mit dem Absterben von überflüssigen synaptischen Verbindungen einher und setzt sich auch noch viele Jahre nach der Geburt fort. Ähnlich wie schon bei der Synaptogenese tritt auch die Synapsenreduktion zu unterschiedlichen Zeitpunkten in unterschiedlichen Regionen des Gehirns auf. Hier sei nochmal auf die Arbeit von Huttenlocher und Dabholkar (1997) verwiesen, die nicht nur zeigt, wann ein Maximum in der Produktion von Synapsen vorliegt, sondern auch den Verlauf der Reduktion von Verbindungen beschreibt. Im visuellen Kortex beginnt die Synapsenreduktion gegen Ende des ersten Lebensjahres und dauert bis zum Alter von etwa zehn Jahren an. Demgegenüber verläuft die Eliminierung von Synapsen im Präfrontalkortex wesentlich langsamer und erstreckt sich bis weit in das Erwachsenenalter hinein.

5.5.4

Myelinisierung

Ein weiterer Prozess der Gehirnentwicklung stellt die Myelinisierung bestimmter Axone dar. Wie schon oben beschrieben stellt die Myelinisierung der Axone eine fetthaltige Um-

hier nicht gut sichtbar. Zudem muss bei klinischen Studien berücksichtiget werden, dass es sich dabei häufig um Gehirne von erkrankten Personen handelt, wobei unbekannt bleibt, ob diese Gehirne dann auch die typischen Wachstumsprozesse aufweisen, die bei gesunden Probanden vorliegen. Mittels Imaging-Methoden wie der strukturellen MRT lassen sich mittlerweile auch genaue Analysen für das Volumen der grauen und weißen Substanz getrennt durchführen. Solche bildgebenden Studien können an gesunden und lebenden Probanden und auch längsschnittlich durchgeführt werden. Die Befunde zu Volumenveränderungen der grauen und weißen Substanz die mittels MRT und lebenden Probanden gewonnen wurden, weisen auf eine wesentlich größere Dynamik in der Gehirnentwicklung hin, als zuvor bekannt war. Die Arbeitgruppe von Gogtay hat Gruppen von gesunden Probanden alle zwei Jahre über einen Zeitraum von acht Jahren gescannt, wobei die Altersspanne 4 bis 21 Jahre betrug (Gogtay et al. 2004). Die Befunde zeigen, dass mit dem Alter das Volumen an grauer Substanz abnimmt. Damit einhergehend nimmt das relative Volumen der weißen Substanz zu. Die Abnahme der grauen Substanz ist wahrscheinlich auf den Abbau von Neuronen und synaptischen Verbindungen zurückzuführen. Die ersten kortikalen Regionen, die ausreifen, sind diejenigen, die an basalen sensorischen und motorischen Funktionen beteiligt sind. Im Alter von 11 bis 13 Jahren erreicht die Reifungswelle dann die parietalen Areale, die an der Kontrolle räumlicher und sprachlicher Funktionen beteiligt sind. Das zuletzt reifende Areal ist der Präfrontalkortex, der für die exekutiven Funktionen von größter Bedeutung ist. Seine Entwicklung vollzieht sich bis in das Erwachsenenalter,

95 5.7  Neurokognitive Forschungsmethoden

wobei in der Pubertät hier nochmals markante Veränderungen auftreten, wie die folgende Studie von Giedd et al. (1999) gezeigt hat: Auch die Autoren dieser Arbeitsgruppe verwendeten für ihre strukturellen MRT-Studien kombinierte Längsund Querschnittdesigns und untersuchten dabei eine Altersspanne von 4 bis 22 Jahren. Wie schon in der Studie von Gogtay et al. (2004) können auch Giedd et al. (1999) einen kontinuierlichen Anstieg der weißen Substanz zwischen Kindheit und Erwachsenenalter feststellen. Demgegenüber findet sich für die graue Substanz ein wechselnder Verlauf mit einer weiteren kurzfristigen Phase von Überproduktion und Abbau im Zeitraum der Pubertät. Besonders bemerkenswert ist dieser Reifungsverlauf im Frontalkortex, wo das Volumen der grauen Substanz bei Jungen bis zum Alter von 12 Jahren und bei Mädchen bis zum Alter von 11 Jahren deutlich zunimmt, um dann rapide wieder abzunehmen (Giedd et al. 1999). Die Veränderungen im adoleszenten Gehirn gehören sicherlich mit zu den dramatischsten und wichtigsten in der Gehirnentwicklung im Verlauf der Lebensspanne des Menschen. Insbesondere das Reifungsmuster des Präfrontalkortex kann für das Verständnis von adoleszenztypischen Verhaltensweisen ein Modell bieten, da diese Region an einer Vielzahl von Funktionen beteiligt ist, die als adoleszenztypisch gelten. Hierzu zählen beispielsweise das unreflektierte Eingehen von großen Risiken, die Bevorzugung von Neuheit und sofortiger Belohnung bei geringer inhibitorischer Kontrolle. Die große Plastizität des Gehirns im Zeitraum der Adoleszenz ermöglicht es aber auch, dass sich Umwelteinflüsse in besonderer Weise formend auf die sich noch entwickelnden kortikalen Netzwerke auswirken können. Einerseits ergeben sich hierdurch Chancen für Lernen, Wissenserwerb und Erziehung, anderseits auch eine verstärkte Vulnerabilität für schädliche Umwelteinflüsse (Blakemore 2008). Zusammenfassend lässt sich nun folgendes Bild für die Entwicklung kognitiver Funktionen und Verhaltensaspekten zeichnen. Kortikale Areale, die mit basalen sensorischen und motorischen Funktionen assoziiert sind, entwickeln sich schon recht früh, wohingegen sich die Entwicklung der präfrontalen Areale, die mit exekutiven Funktionen assoziiert sind, bis weit ins Erwachsenenalter hin fortsetzt.

5.7

Neurokognitive Forschungsmethoden

Die kognitiven Neurowissenschaften bedienen sich heutzutage einer großen Vielfalt von Forschungsmethoden, um dem Gehirn beim Denken zuzuschauen, oder seine Strukturen zu analysieren. In diesem Kapitel wird eine Auswahl von Methoden vorgestellt, die heutzutage in den kognitiven Neurowissenschaften stark verbreitet sind (Jäncke 2013). Die Auswahl beschränkt sich auf Methoden, die auch außerhalb medizinischer Untersuchungen anwendbar sind. Die ausgewählten Methoden unterscheiden sich dabei in ihrer zeitlichen und räumlichen Auflösung, ihrer Fähigkeit, strukturelle oder funktionelle Daten des Gehirns zu liefern, sowie in ihrem Aufwand und dem Altersbereich, in dem sie angewendet werden können.

5.7.1

Elektroenzephalogramm

Wird die elektrische Spannungsdifferenz zwischen zwei Punkten an der Schädeloberfläche gemessen und entsprechend sichtbar gemacht, lassen sich Potentialveränderungen über die Zeit erkennen. Diese „Kurven“ werden vom intakten Gehirn andauernd und lebenslang generiert und gelten sozusagen als Zeichen seiner permanenten Arbeit. Die Methode wurde in den zwanziger Jahren vom deutschen Psychiater Hans Berger (1873–1941) in Jena entwickelt und ist heute unter der Bezeichnung Elektroenzephalografie (EEG) bekannt. Jedoch sollte es noch bis in die zweite Hälfte des vorherigen Jahrhunderts dauern, bis die technischen Voraussetzungen geschaffen waren, die eine Erfassung der elektrischen Gehirnaktivität auch zur Erforschung von Prozessen der Informationsverarbeitung wie z. B. Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Sprache, Plastizität und Lernen sowie der Gehirnentwicklung ermöglichten, um nur einige heutige Anwendungsfelder zu nennen. Heutzutage gehört das EEG zu den meist verwendeten Forschungsmethoden der kognitiven Neurowissenschaften. Das an der Schädeloberfläche registrierte EEG basiert physiologisch auf der Messung der elektrischen Aktivität der Dendriten und Synapsen kortikaler Neurone, die senkrecht zur Kortexoberfläche angeordnet sind. Wenn große Gruppen dieser Neurone zur selben Zeit feuern, generieren sie die elektrische Aktivität, die mit dem EEG registriert wird. Um die EEG-Aktivität zu messen, werden kleine Metallsensoren (Elektroden) an verschiedenen Stellen über der Schädeloberfläche verteilt angebracht. Zumeist werden dabei EEG-Kappen verwendet, die je nach Ausführung eine definierte Anzahl von Ableitpunkten beinhalten. In der neurowissenschaftlichen Forschung werden dabei von 19 bis hin zu 256 EEG-Kanäle gemessen. Bei den von der Kopfhaut abgeleiteten EEG-Signalen handelt es sich um sehr kleine elektrische Spannungsschwankungen mit einer Amplitude zwischen 5 und 200 Mikrovolt (1 Mikrovolt D 1 Millionstel Volt). Die Frequenz dieser Signale liegt etwa zwischen 1 bis 100 Hz. Die Analyse des EEGs kann unterschiedlich erfolgen. Hauptsächlich kann zwischen frequenzbezogenen Analysen und ereigniskorrelierten Potentialen unterschieden werden. Im Frequenzbereich lassen sich verschiedene Rhythmen im EEG unterscheiden, die mit unterschiedlichen Bewusstseinszuständen assoziiert sind. Hauptsächlich wird zwischen den folgenden fünf Frequenzbändern unterschieden. Der Delta-Rhythmus mit einer Frequenz unter 4 Hz tritt vor allem in tiefen Schlafstadien auf. Sind Delta-Wellen auch im wachen Zustand zu beobachten, kennzeichnen sie oft pathologische Prozesse. Der Theta-Rhythmus mit Frequenzen zwischen 4 bis 8 Hz tritt vermehrt in leichten Schlafphasen auf. Im Wachzustand werden diese Wellen mit Aufmerksamkeitsund Gedächtnisprozessen in Verbindung gebracht. Demgegenüber tritt der Alpha-Rhythmus, der den Frequenzbereich zwischen 8 und 13 Hz beschreibt, insbesondere im entspannten Wachzustand sowie bei geschlossenen Augen auf. Nimmt die kognitive Beanspruchung zu, beispielsweise durch Öffnen der Augen oder beim Lösen von Rechenaufgaben, wird der Alpha-Rhythmus blockiert (Alpha-Blockade) und geht in

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96

Kapitel 5  Gehirn und Lernen

den Beta-Rhythmus (13 bis 30 Hz) über. Wellen über 30 Hz werden als Gamma-Rhythmus bezeichnet. Sie wurden erst im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert entdeckt und sollen mit bestimmten Wahrnehmungs- und Integrationsprozessen im Zusammenhang stehen.

5.7.2

5

Ereigniskorrelierte Potentiale

Eine weitere Methode zur Analyse des EEGs stellen ereigniskorrelierte Potenziale (EKP) dar. Darunter werden alle elektrokortikalen Potenziale verstanden, die vor, während oder nach einem definierbaren Ereignis im EEG messbar sind. Mit Ereignis sind dabei sensorische, motorische und auch psychische Ereignisse gemeint. Psychische Ereignisse können sich beispielsweise auch auf Erwartungen oder Entscheidungen beziehen. Demnach spielt es für die Auslösung von EKPs keine Rolle, ob ein Reiz wirklich dargeboten wurde oder ob nur die Erwartung, dass ein Reiz auftritt, durch das Ausbleiben der Reizdarbietung verletzt wurde. Wichtig für die Auslösung von EKP ist lediglich, dass Ereignisse sich eindeutig definieren lassen. Mit der EKP-Methodik können eine Vielzahl von informationsverarbeitenden Prozessen untersucht werden. Jedoch ist zunächst ein methodisches Problem zu lösen. Die EKPs sind in ihrer Amplitude viel kleiner als das EEG. Sie sind sozusagen darin verborgen. Um die EKPs dennoch erforschen zu können, müssen die relevanten Ereignisse vielmals wiederholt werden. Durch Mittelungstechnik kann dann das SignalRausch-Verhältnis der Daten entsprechend erhöht werden und die EKPs werden beobachtbar. Nach der Mittelung tritt das EKP durch eine Abfolge von Potentialschwankungen in negativer und positiver Richtung in Erscheinung. Jede dieser Komponenten hat eine bestimmte Latenz in Bezug auf das sie auslösende Ereignis. EKP-Komponenten werden anhand ihrer Polarität (N für negativ; P für positiv) und dem Zeitpunkt ihres Auftretens klassifiziert. Der Zeitpunkt des Auftretens kann entweder als Latenzmaß in Millisekunden oder als ordinale Ordnungszahl angegeben werden. Ein Beispiel für eine positive Komponente, die z. B. durch Erwartungsverletzungen auftritt, ist die P300. Dieses Potential zeigt ein Amplitudenmaximum bei 300 ms nach dem auslösenden Ereignis und besitzt eine positive Polarität, deshalb auch P300. Andererseits kann diese Komponente als P3 bezeichnet werden, da sie als dritte Positivierung in der Reihe auftritt. Ein weiteres Klassifikationsmerkmal ist der Ableitort auf der Kopfoberfläche. Beispielsweise wird das Amplitudenmaximum der P3Komponente oft über parietalen Regionen beobachtet. Wie lassen sich nun Erkenntnisse aus den EKPs für informationsverarbeitende Prozesse ziehen? Die Latenz und die Amplitude einer EKP-Komponente können Informationen über den zeitlichen Verlauf und die Höhe der Beanspruchung geben. Basierend auf dieser Betrachtung beschreibt die Latenz den Zeitverlauf eines kognitiven Prozesses. Längere Latenzen stehen demnach für länger andauernde Verarbeitungsprozesse. Als Faustregel gilt dabei, dass sensorische Pro-

zesse mit Amplitudenmaxima innerhalb der ersten 200 ms nach Reizbeginn assoziiert sind. Höhere kognitive Prozesse sind demgegenüber mit längeren Latenzen verbunden. So lassen sich beispielsweise automatische von kontrollierten Informationsverarbeitungsprozessen unterscheiden oder der Prozess von Übung abbilden. Die Höhe der EKP-Amplitude kann Informationen über die relative Menge an neuronaler Aktivität liefern, die mit unterschiedlichen experimentellen Bedingungen verbunden ist. Typische Beispiele für EKPKomponenten sind die N1 als Korrelat selektiver Aufmerksamkeit, die P3 als Index kognitiver Verarbeitungsressourcen oder die Komponenten N400 und P600, die auf semantische und syntaktische Verletzungen reagieren und so hilfreich für die Untersuchung von Sprachprozessen sind. Der größte Vorteil der EKP-Methodik liegt in ihrer hohen zeitlichen Auflösung im Millisekunden-Bereich. Sie ist damit so schnell wie das Denken selbst. Angewandt werden kann sie schon ab dem Säuglingsalter. Limitierend wirken sich die geringe räumliche Auflösung und ihre hohe Störanfälligkeit gegenüber Bewegungen aus. Jedoch werden zurzeit Systeme entwickelt, die auch bei mobiler Datenerfassung, d. h. bei erhöhter Bewegungsaktivität, eine hohe Datenqualität ermöglichen sollen.

5.7.3

Magnetenzephalografie

Das Gehirn generiert schwache magnetische Felder, die über der Kopfoberfläche berührungsfrei mittels supraleitender Sensoren gemessen werden können. Die magnetischen Felder werden durch die elektrische Aktivität der Neurone erzeugt. Diese Felder sind sehr klein, ihre Stärke beläuft sich auf weniger als den hundertmillionsten Teil der Stärke des Magnetfelds der Erde. Die Magnetenzephalografie (MEG) stellt ähnlich dem EEG einen direkten Zugang zu den neuronalen Prozessen dar, da beide Verfahren die elektrische Aktivität der Neurone abbilden. Neben einer hervorragenden zeitlichen Auflösung, lässt sich mit dem MEG auch sehr genau bestimmen, wo ein an der Schädeloberfläche gemessenes Signal seinen Ursprung hat. Der größte Vorteil dieser Methode besteht darin, dass umfangreiche Vorbereitungen, wie die zeitintensive Anbringung von Elektroden, die bei EEGAbleitungen notwendig sind, wegfallen. Das Verfahren lässt sich auch bei Kindern ab einem Alter von ca. 5 Jahren anwenden, sobald die Kinder für einige Zeit still sitzen können. Leider stehen diesem Vorteil große Kosten gegenüber, sodass dieses Verfahren nur relativ selten zur Anwendung kommt.

5.7.4

Strukturelle und funktionelle Magnetresonanztomographie

Die Magnetresonanztomographie (MRT) ist eine Technik zur Darstellung hirnanatomischer Strukturen. Eng verwandt mit ihr ist das funktionelle MRT (fMRT), das zur Abbildung von

97 5.7  Neurokognitive Forschungsmethoden

Aktivierungsprozessen während der Bearbeitung von Aufgaben dient. Entwickelt wurde die Methodik ab den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts. Das Grundprinzip lässt sich stark vereinfacht folgendermaßen veranschaulichen: Das MRT arbeitet mit Hilfe von starken Magnetfeldern und Radiofrequenzimpulsen. Deshalb ist der Proband bei einer MRT-Studie auch keiner Strahlenbelastung ausgesetzt, wie das bei der Computertomografie (CT) oder der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) der Fall ist. Die Basis des MRT-Verfahrens ist der Kernspin des Wasserstoffatoms. Normalerweise drehen sich die Atomkerne im Körper um ihre eigene Achse. Durch diese Drehung – Kernspin genannt – generieren sie ein kleines, mittels einer Empfangsspule messbares Magnetfeld. Unter natürlichen Umständen ist die magnetische Ausrichtung der Kerne rein zufällig. Wird jedoch von außen ein starkes Magnetfeld (1.5 bis 7 Tesla) angelegt, richten sich die Wasserstoffkerne in Längsrichtung des Körpers aus. Werden jetzt zusätzlich Hochfrequenzimpulse ausgesendet, kann damit die Ausrichtung der Kerne im Magnetfeld in definierter Weise verändert werden. Wird der Hochfrequenzimpuls ausgeschaltet, kehren die Wasserstoffkerne wieder in die Längsrichtung zurück (Relaxation), die durch den Magneten vorgegeben ist. Hierbei induzieren die Wasserstoffkerne, genauer die Protonen, in der Empfangsspule des MRT eine kleine elektrische Spannung, die letztlich als MR-Signal dient. Wichtig dabei ist, dass jeder Gewebetyp mit typischen Zeiten für die Relaxation verbunden ist. Der jeweils angeregte Gewebetyp (z. B. weiße und graue Substanz) lässt sich dann als Graustufe in digitalen Bildern darstellen. Mit dem strukturellen MRT lassen sich somit Größe und Lage bestimmter Hirnstrukturen abbilden. Eine andere Methode, ist das so genannte Diffusion Tensor Imaging (DTI). Dabei wird der Verlauf der Faserbahnen sichtbar gemacht, aus denen sich insbesondere die weiße Substanz zusammensetzt. Diese Faserbahnen durchziehen das gesamte Gehirn und ermöglichen eine Kommunikation zwischen den Nervenzellen in den unterschiedlichen Hirnstrukturen. Auf der MRT Methodik beruht noch eine andere Variante, die nicht die Gehirnanatomie abbildet, sondern die Aktivität in verschiedenen Gehirnarealen registrieren kann. Eine in der Forschung häufig angewandte Variante der MRT bildet die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT). Ihre Grundlage beruht auf bestimmten Eigenschaften des Gehirnstoffwechsels. Nimmt die Aktivität einer Gehirnstruktur zu, beispielsweise durch Gedächtnis- oder Lernprozesse, verbrauchen die Nervenzellen in dieser Hirnstruktur kurzzeitig mehr Sauerstoff. Das führt dazu, dass die betreffende Region kurzfristig vermehrt mit sauerstoffhaltigem Blut versorgt wird. Durch spezifische Messverfahren kann die Anreicherung von sauerstoffhaltigem Blut sichtbar gemacht werden, weil sauerstoffhaltiges und sauerstoffarmes Blut unterschiedlich starke Signale zurücksendet (blood oxygenation level dependent contrast, BOLD). Mit dieser Technik lässt sich die Aktivität in Arealen von 1 bis 2 mm Größe identifizieren und Ereignisse im Sekundenbereich messen. Damit ist

die fMRT-Methodik zwar langsamer als das EEG, bietet aber große Vorteile bei der Lokalisation kognitiver Prozesse.

5.7.5

Nahinfrarotspektroskopie

Imaging-Verfahren, die Einblicke in die Aktivität des Gehirns erlauben, wie fMRT, sind aufgrund ihrer Größe auf den Einsatz im Labor begrenzt. Für mache Fragestellungen könnte die Nahinfrarotspektroskopie (NIRS) eine Alternative bieten, da diese Methodik auch für Feldforschung anwendbar ist. Ähnlich wie das fMRT liefert das NIRS Aufschlüsse über den Metabolismus des Gehirns. Da der Schädelknochen und das darunter liegende Gewebe lichtdurchlässig sind, wird bei der Methode mit Nahinfrarotlicht in das Gehirn „geleuchtet“. Dazu werden über den Kopf verteilt Sensoren angebracht, die jeweils eine Lichtquelle und kurz daneben einen Empfänger beinhalten. Die Empfänger messen, wie viel Licht das Gewebe passiert hat. Da die Lichtdurchlässigkeit des Gewebes von der Menge und dem Sauerstoffgehalt des Blutes abhängt und die Durchblutung mit sauerstoffreichem Blut bei Aktivierung des Gehirns zunimmt, lässt sich von der gemessenen Lichtmenge auf die Hirnaktivität schließen. Ein Nachteil des Verfahrens ist die zeitliche Auflösung, die im Vergleich zum EEG recht begrenzt ist. Sein großer Vorteil ist jedoch seine vergleichsweise geringe Anfälligkeit für Artefakte, wie z. B. Bewegungen der Probanden, und die relativ geringe Größe der Apparatur. Damit scheint NIRS auch ein idealer Kandidat für Studien mit jungen Kindern und den mobilen Einsatz zu sein.

5.7.6

Positronen-Emissions-Tomographie

Ähnlich wie mit der fMRT kann man auch mit der Positronen-Emissions-Tomographie herausfinden, welche Gehirnareale bei bestimmten Aufgaben besonders aktiv sind. Jedoch basiert die PET auf einer völlig anderen Methodik als das fMRT und stellt ein invasives Verfahren dar. Bei der PET werden dem Probanden schwach radioaktive Marker in die Blutbahn injiziert. Ist ein bestimmtes Gehirngebiet neuronal aktiviert, nimmt die Durchblutung in genau diesem Areal zu. Das hat zur Folge, dass auch die radioaktiven Marker in diesen Gebieten in höherer Konzentration auftreten. Mittels entsprechender Sensoren, die um den Kopf verteilt liegen, kann so auf Aktivierungsunterschiede in den einzelnen Gehirnregionen geschlossen werden. Die PET wurde schon einige Zeit vor der fMRT-Methodik entwickelt und spielt heutzutage für klassische kognitive Fragestellungen nur noch eine untergeordnete Rolle. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Einerseits ist die PET ein invasives Verfahren, welches zu einer radioaktiven Belastung der Probanden führt. Auch ist die zeitliche Auflösung gegenüber dem

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Kapitel 5  Gehirn und Lernen

fMRT viel geringer. Sein größter Vorteil ist, auch Neurotrans- und weißen Substanz. Schließlich gehört auch die Bildung neuer Nervenzellen, die Neurogenese, zur strukturellen Plasmitter und deren Rezeptoren lokalisieren zu können. tizität. Wichtig für Lernen und Gedächtnisbildung ist der Hippocampus, wofür bei Menschen Neurogenese nachgewiesen werden konnte (Eriksson et al. 1998). 5.8 Erfahrung, Lernen und neuronale

Plastizität des Gehirns

5

Neuronale Plastizität bezeichnet die Eigenschaft des Gehirns, sich durch Erfahrungen zu verändern (Jäncke 2013). Andere Begriffe hierfür sind Neuroplastizität oder Gehirnplastizität. Die Plastizität des Gehirns ist die Voraussetzung für jede Form von Lernen. Plastizität kann auf verschiedenen Systemebenen stattfinden. Auf der Ebene der Synapsen durch Veränderung in der Effizienz der Übertragung von Aktionspotentialen, auf der Ebene der Neuronen durch Wachstum und Neurogenese im Hippocampus, auf Ebene des Kortex durch Veränderung kortikaler Karten. Unterschieden wird die funktionelle von der strukturellen Neuroplastizität. Unter funktioneller Neuroplastizität wird die Veränderung in der Effizienz der synaptischen Übertragung von Aktionspotentialen aufgrund von Erfahrungen verstanden. Wie werden nun die Erfahrung und somit das Lernen auf neuronaler Ebene kodiert? Wird ein und dieselbe Kontaktstelle zwischen zwei Nervenzellen wiederholt aktiviert, also ein Aktionspotential von einer auf die andere Zelle übertragen, dann kommt es zu einem Prozess, der Langzeitpotenzierung genannt wird. Wenn eine Synapse wiederholt einen Impuls auf die nachfolgen Zelle überträgt, reagiert diese nach einiger Zeit immer heftiger, sie ist stärker und länger aktiviert. In manchen Hirnregionen kann eine solche anhaltende Aktivierung Stunden, Tage oder Wochen andauern. Dabei kann die Effizienz der Signalübertragung auf zwei Arten verändert werden. Einerseits kann es an der präsynaptischen Endigung einer Nervenzelle zu einer vermehrten Transmitterausschüttung kommen, andererseits können an der postsynaptischen Membran vermehrt Transmitterrezeptoren angelegt werden. Durch diese beiden Prozesse ist es möglich, die Verschaltung eines Netzwerks zu ändern, ohne dass dazu beispielsweise eine Modifikation der anatomischen Verbindungen, also der Verdrahtung von Dendriten und Axone nötig wäre. Als Entdecker der Plastizität auf Ebene der Synapsen gilt Donald O. Hebb, der 1949 in seinem Buch „The Organization of Behavior“ die so genannte Hebb’sche Lernregel formulierte, die besagt, dass je häufiger ein Neuron A gleichzeitig mit Neuron B aktiv ist, umso bevorzugter werden die beiden Neuronen aufeinander reagieren, kurz „what fires together, wires together“ – was zusammen feuert, verbindet sich. Eng verbunden mit der funktionellen Plastizität ist die strukturelle Neuroplastizität. Damit sind strukturelle Veränderungen des Gehirns aufgrund von Erfahrungen gemeint. Solche anatomisch fassbaren Veränderungen des Gehirns können den Auf- oder Abbau ganzer Synapsen betreffen oder auch darüber hinausgehen, wenn einzelne Axone oder ganze Bäume von Dendriten neu ausgestreckt oder zurückgezogen werden. Ebenso zählen hierzu Veränderungen der grauen

5.8.1

Neurowissenschaftliche Befunde zur Expertise

Die ersten Studien zur neuronalen Plastizität des Gehirns beim Menschen erschienen zu Beginn der 1990er Jahre. Die im Bereich der Erforschung zur Neuroplastizität verwendeten Studiendesigns unterschieden sich dabei im wesentlichen Vorgehen nicht von den Ansätzen, die auch in der Psychologie und Pädagogik für die Untersuchung von Lernfortschritten, Wissenserwerb oder dem Erwerb von Expertise eingesetzt werden, jedoch ergänzt um Maße auf neuronalem Niveau. Zur Untersuchung können Querschnitts- und Längsschnittuntersuchungen eingesetzt werden. Die Logik hinter beiden Ansätzen sei kurz geschildert. Bei Querschnittsuntersuchungen werden Personen untersucht, die in einem bestimmten Gebiet Experten sind. In der Expertiseforschung zur neuronalen Plastizität wurden z. B. oft professionelle Musiker rekrutiert, da hier die Expertise nur durch überaus großen Übungseinsatz über Tausende von Stunden erreicht wird. Als Kontrollgruppe werden dann Personen ohne eine vergleichbare Expertise herangezogen, da hier ja eine entsprechende Übung nicht besteht. Für beide Gruppen werden nun neuronale Korrelate gemessen, die für die Ausbildung der Expertise von Relevanz sind, z. B. die Fähigkeit zur Tonhöhenunterscheidung oder spezielle motorische Fertigkeiten, die mit der Instrumentenbeherrschung im Zusammenhang stehen. Die dabei beobachteten neuronalen Unterschiede werden dann auf Unterschiede in der Expertise bezogen. Jedoch ist dieser Ansatz nicht ganz frei von Interpretationsproblemen. Denn Unterschiede in den neuronalen Korrelaten können Ursache oder Folge von Verhaltensunterschieden sein. Demgegenüber lassen sich bei Längsschnittuntersuchungen solche Probleme umgehen, wobei der Aufwand in der Durchführung hier erheblich steigt. Bei Längsschnittuntersuchungen werden Fertigkeiten trainiert (z. B. Erlernen eines Musikinstruments oder Erwerb von Fachwissen) und mit den Fertigkeiten von Personen verglichen, die kein oder ein anderes Training absolvieren. Vor dem Training sollten auf Verhaltensebene sowie auch in den neuronalen Korrelaten keine Unterschiede zwischen den Gruppen bestehen. Nach Abschluss des Trainings können dann die Unterschiede in den neuronalen Plastizitäts- und Verhaltensmaßen auf die Effekte des Trainings bezogen werden. Im Jahr 1995 führten Elbert und Kollegen eine wegweisende Studie zur funktionellen Plastizität durch. Dabei bedienten sich die Autoren der Methode der somatosensorisch evozierten Potentiale (SEP), die in dieser Querschnittsstudie mittels Magnetenzephalographie (MEG) gemessen wurden. Somatosensorisch evozierte Potentiale sind neuronale Ant-

99 5.8  Erfahrung, Lernen und neuronale Plastizität des Gehirns

worten, die durch Berührung der Körperoberfläche ausgelöst werden können und sich über Gehirnarealen messen lassen, die mit der Verarbeitung dieser Information befasst sind, also dem primären somatosensorischen Kortex. Wichtig dabei ist, dass die Fläche, die einer bestimmten Körperregion auf dem somatosensorischen Kortex zur Verfügung steht, mit dem Auflösungsvermögen der Rezeptoren in dieser Region proportional ist. In der Neurophysiologie wird dieses Phänomen auch als somatosensorischer Homunculus bezeichnet (. Abb. 5.4). Beispielsweise nehmen die Finger oder die Lippen sehr große Flächen des somatosensorischen Kortex ein, demgegenüber fallen die mit dem Rücken oder den Beinen assoziierten Felder recht klein aus. Das korrespondiert auch gut mit unseren Empfindungen für die verschiedenen Körperregionen, wie ein kleiner Selbstversuch zeigen kann. Drücken wir beispielsweise mit zwei Bleistiften nebeneinander (Abstand ca. 1 cm) auf eine Fingerkuppe, so sind die zwei Punkte deutlich zu spüren. Auf dem Rücken können wir diese zwei Punkte nicht mehr deutlich unterscheiden. Zurück zur Studie von Elbert und Kollegen: Probanden dieser Studie waren langjährig geübte Musiker, genauer Streicher; als Vergleichsgruppe wurden Nichtmusiker rekrutiert. Ziel der Studie war es, Veränderungen der funktionellen Plastizität durch Erfahrung, hier Expertise als Musiker, neuronal abzubilden. Die Befunde der somatosensorisch evozierten Potentiale zeigten, dass die kortikale Repräsentation der Finger der linken Hand (greift bei Streichern die Saiten) bei den Musikern signifikant größer war als bei Nichtmusikern. Demgegenüber fanden sich keine Unterschiede in der kortikalen Repräsentation der Finger der rechten Hand zwischen den Gruppen. Die Finger der rechten Hand, die den Bogen halten, führen bei Streichern ja auch keine unabhängigen Bewegungen aus und somit sollte sich auch keine unterschiedliche Repräsentation zwischen Streichern und Nichtmusikern auf somatosensorischer Ebene ergeben. Interessanterweise fiel der neuronale Umbau des somatosensorischen Kortex ausgeprägter aus, je früher die Musiker mit dem Training begonnen hatten.

5.8.2

Neurowissenschaftliche Befunde zum Wissenserwerb

Studien zu den neuronalen Grundlagen des Wissenserwerbs sind noch ziemlich selten. Draganski et al. (2006) untersuchten Studierende der Medizin, die sich auf das Physikum vorbereiteten. Das Physikum, eine Zwischenprüfung im Medizinstudium am Ende des zweiten Studienjahres besteht aus mündlichen und schriftlichen Prüfungen in Biologie, Chemie, Biochemie, Physik, Anatomie und Physiologie. Die Aneignung einer solch gewaltigen Menge an neuen Informationen verlangt eine tägliche und intensive Beschäftigung mit den Inhalten über einen Zeitraum von drei Monaten. Damit stellen Studierende, die sich auf das Physikum vorbereiten, eine ideale Gruppe für die Untersuchung von möglichen lerninduzierten, strukturellen Plastizitätsveränderun-

gen des Gehirns dar. Mittels MRT untersuchten die Autoren die Dichte der grauen Substanz im Längsschnittdesign zu drei verschiedenen Zeitpunkten: am Beginn der Lernphase, nach der Prüfung (d. h. drei Monate nach Lernbeginn) und nochmals drei Monate später in den Ferien. Über die Lernperiode hinweg nahm die graue Substanz in Bereichen des Parietallappens (posteriorer und inferiorer Parietalkortex) sowie im posterioren Hippocampus zu. Interessanterweise ließ sich auch drei Monate nach Ende der Lernzeit im Hippocampus noch ein weiterer Anstieg der grauen Substanz beobachten, jedoch nicht für die parietalen Gehirnareale. Demnach scheinen zwei Subsysteme des Gedächtnisses an der Speicherung des Wissens beteiligt. Während die Enkodierungsprozesse im Parietalkortex nach der Lernphase abgeschlossen waren, dauerte die Konsolidierung im Hippocampus über die Lernphase hin an. Insbesondere der Hippocampus wird als Tor zum Langzeitgedächtnis betrachtet. Er ist enorm wichtig für die Gedächtniskonsolidierung, also die Überführung von Gedächtnisinhalten aus dem Kurzzeit- in das Langzeitgedächtnis (7 Kap. 2). Auch ist er einer der wenigen Orte im Gehirn, an dem zeitlebens neue Nervenzellen geboren werden. Diese Neurogenese ist möglicherweise auch der Grund dafür, dass der Anstieg der grauen Substanz in diesem Gebiet auch noch drei Monate nach Beendigung des Lernens anhielt. Neurogenese braucht einige Wochen und Monate um sich zu entwickeln. Die Studie von Draganski et al. (2006) zeigt in faszinierender Weise, dass Wissenserwerb mit strukturellen Veränderungen in der grauen Substanz verbunden sein kann. Bewirkt denn auch die Unterweisung in schulrelevanten Fertigkeiten, wie beispielsweise Unterricht im Lesen, strukturelle Veränderungen der Gehirnanatomie? Lassen sich damit vielleicht sogar Korrelate für den Erfolg von Unterrichtsmaßnahmen ableiten? Direkte Studien zum Erwerb der Lesefertigkeit liegen zurzeit noch nicht vor. Jedoch kann die Studie von Keller und Just (2009) hier beeindruckende Einblicke liefern. In dieser MRTStudie erhielten 8- bis 10-jährige Kinder mit Leseschwierigkeiten ein intensives Lesetraining von 100 Stunden über ein halbes Jahr. Als Kontrollgruppen dienten Kinder gleichen Alters mit gestörter sowie normaler Lesefähigkeit, die kein Lesetraining absolvierten. Auf Ebene des Gehirns betrachtet hängt die intakte Lesefähigkeit nicht nur von der Aktivierung relevanter kortikaler Regionen ab, die mit dem Lesen assoziiert sind, sondern auch mit der Konnektivität, also der Verbindung dieser Regionen untereinander. Diese Verbindungen werden durch die weiße Substanz, der Myelinschicht der Axone, befördert. Die Myelinisierung trägt dabei zu einer effektiveren Konnektivität durch Erhöhung der elektrischen Reizleitungsgeschwindigkeit zwischen Neuronen und somit auch zu einer effektiveren Kommunikation zwischen entfernteren Regionen im kortikalen Netzwerk des Lesens bei. Leseschwierigkeiten werden dabei auch mit einer geringeren Konnektivität in diesem Netzwerk in Verbindung gebracht und konnten in der Studie von Keller und Just (2009) so auch beobachtet werden. Als zentraler Befund dieser Studie gilt, dass die Kinder mit Leseschwierigkeiten nach erfolgrei-

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100

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Kapitel 5  Gehirn und Lernen

chem Lesetraining eine erhöhte anatomische Konnektivität im linken Frontallappen aufwiesen. Die Förderung der Lesefähigkeit scheint also die Myelinisierung in einer mit dieser Funktion assoziierten Region gefördert zu haben. Abschließend sei noch eine Studie zur strukturellen Plastizität im schulrelevanten Kontext erwähnt, die Bellander und Kollegen (2016) zum Lernen von Vokabeln durchgeführt haben. Dabei nahmen schwedischen Probanden an einem Italienischkurs für Anfänger teil, der über einen Zeitraum von 10 Wochen mit jeweils zweieinhalb Stunden absolviert wurde. Einer Kontrollgruppe, die kein Sprachunterricht erhielt, wurden während dieser Zeit italienische Filme mit schwedischen Untertiteln präsentiert. Auch in dieser Studie zeigte sich für die trainierte Gruppe eine Zunahme in der grauen Substanz im Hippocampus, also in genau derjenigen Region, die mit der Gedächtniskonsolidierung funktionell verbunden ist. Zusammenfassend belegen die oben dargestellten Studien, dass intensives Training sich auf funktioneller bzw. struktureller Ebene manifestieren kann. Veränderungen zeigen sich insbesondere in jenen Gehirngebieten, die mit der trainierten Aufgabe assoziiert werden können. Die folgenden Ursachen werden für die gemessenen Veränderungen diskutiert (Zatorre, Fields & Johansen-Berg 2012): Vergrößerungen der Oberfläche der Neurone, Zunahme der Dendritisierung und Gliafortsätze, Synaptogenese, Bildung von Blutgefäßen in den benötigten Gehirngebieten, Veränderungen im Transmitterhaushalt und Myelinisierung. Neurowissenschaftliche Studien können einen wichtigen Beitrag zum besseren Verständnis von Lernen und Plastizität liefern. Gleichzeitig bergen die unter kontrollierten Laborbedingungen gewonnenen Daten aber auch Raum für Fehlinterpretationen, wie die im Folgenden dargestellten Neuromythen zeigen können.

5.9

Neuromythen

Befunde der neurowissenschaftlichen Forschung können zu einem besseren Verständnis von Lernprozessen führen und so auch Lehrprozesse positiv beeinflussen. Sie bergen jedoch auch die Gefahr, sogenannte Neuromythen hervorzubringen. Diese sind unrichtige Annahmen darüber, wie Gehirnfunktionen und Lernen zusammenhängen. Oft beruhen sie in ihrem Kern auf zumindest teilweise gültigen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Es sind die inkorrekte Übertragung von zunächst noch gültigen neurowissenschaftlichen Befunden, ihre Übergeneralisierung oder ihre selektive Auswahl und unreflektierte Anwendung auf Problemstellungen im Bereich von Schule und Erziehung, die Neuromythen befördern (Howard-Jones 2014; Varma, Im, Schmied, Michel & Varma 2018). Zudem neigen populäre Medien dazu, neurowissenschaftlich abgeleitete Empfehlungen für das Lernen, die mit bunten Bildern des Gehirns untermauert werden (Keehner, Mayberry & Fischer 2011), in stark vereinfachter Weise zu verbreiten. Gerade diese beeindruckenden Bilder, die einen Einblick in das arbeitende Gehirn liefern, bergen

die Gefahr, dass reduktionistische Erklärungen für komplexe Sachverhalte glaubwürdiger werden und so zur Mythenbildung beitragen (Rhodes, Rodriguez & Shah 2014). Ebenso wird die Verbreitung von Neuromythen durch einen ganzen Industriezweig unterstützt, der in den letzten Jahren viel Geld mit kommerziellen Programmen zur Verbesserung von Lern- und Gedächtnisleistungen verdient hat, die angeblich auf neurowissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen. Im Schulsektor führt die unreflektierte Übernahme von angeblich neurowissenschaftlich begründeten Lehrmethoden zu Fehlinvestitionen und damit zu suboptimalen Unterricht. In den folgenden Abschnitten werden die im Bildungsbereich momentan hartnäckigsten Neuromythen vorgestellt und entzaubert.

5.9.1

Der 10 %-Mythos!

Einer der bekanntesten und hartnäckigsten Neuromythen besagt, dass wir nur 10 % unseres Gehirnpotentials verwenden. Alltagstypische Erklärungen dazu lauten etwa: „Ist doch klar, dass wir nicht unser gesamtes Gehirn verwenden, denn dann könnten wir ja keine neuen Dinge lernen. Den Rest brauchen wir als Reserve“. Gerne wird der 10 %-Mythos auch in Werbekampagnen zu bestimmten Gehirn-Jogging-Produkten verwendet oder manche Meditationstechniken werben mit der Nutzbarmachung der verbleibenden Hirnprozente zur Erweiterung des Bewusstseins. Die wissenschaftliche Sicht auf den 10 %-Mythos ist jedoch weniger fantastisch. Es gibt absolut keine wissenschaftlichen Beweise, die diesen Mythos bestätigen, nicht einmal zu einem gewissen Grad. Im Gegenteil, alle vorhandenen Daten zeigen, dass wir unser gesamtes Gehirn verwenden. Doch woher dieser Mythos rührt und wie er sich so erfolgreich verbreiten konnte, ist heute schwer zu bestimmen. Eine Möglichkeit für den Ursprung dieses Mythos ist das Verhältnis von Gliazellen zu Neuronen im Gehirn, wobei früher angenommen wurde, dass es 10 W 1 beträgt. Auch galt, dass ausschließlich Neurone die Basis für unser Denken, Handeln und Fühlen darstellen und die Gliazellen die Neurone in ihrer Funktion „nur“ unterstützen. Heutzutage wird jedoch von einem recht ausgeglichenen Verhältnis zwischen Neuronen und Gliazellen ausgegangen (Azevedo et al. 2009). Zudem hat die neuere Forschung auch gezeigt, dass Gliazellen sehr wohl an informationsverarbeitenden Prozessen beteiligt sind (Travis 1994; Fields 2004). Möglicherweise kann der Erfolg dieses Mythos auch unserer Hoffnung zugeschrieben werden, menschliche Begrenzungen zu überwinden. Im Folgenden seien hier weitere Gegenargumente der Neurowissenschaften zum 10 %-Mythos angeführt. Die Evolution erlaubt keine Verschwendung. Verschwendung verursacht einen Ausschluss aus dem Gen-Pool. Wie alle anderen Organe wurde auch unser Gehirn durch natürliche Selektion geprägt. Während das Gehirn nur 2 % des gesamten Körpergewichts ausmacht, verwendet es 20 % der gesamten Energie. So ist Hirngewebe metabolisch „teuer“

101 5.9  Neuromythen

zu betreiben. In Bezug auf diese hohen Kosten ist es unwahrscheinlich, dass die Evolution die Verschwendung von Ressourcen erlaubt hätte, um ein solch ineffizientes und nur teilweise benutztes Organ zu bauen. Beispiele aus der klinischen Neurologie zeigen, dass schon die Schädigung von geringen Anteilen des Hirngewebes schwerwiegende Folgen haben kann. Würden nur 10 % vom Gehirn benötigt, könnten uns nicht einmal größere Läsionen beeinträchtigen. Aber kein Schlaganfall oder anderes Trauma ist ohne Konsequenzen. Kein Hirnbereich kann beschädigt werden, ohne dass eine Person mentale oder körperliche Defizite davonträgt. Brain-Scans mittels neurowissenschaftlicher Forschungsmethoden haben gezeigt, dass egal was man tut, alle Gehirnbereiche immer aktiv sind. Zwar sind einige Bereiche zu manchen Zeitpunkten oder bei bestimmten Aufgaben stärker aktiviert als andere, aber es gibt keine funktionslosen Bereiche im Gehirn. Auch in Ruhe oder während des Schlafes ist kein Gehirnbereich völlig inaktiv! Im Gegenteil, die komplette Inaktivität in einer bestimmten Gehirnregion wäre ein Hinweis auf eine schwerwiegende Gehirnläsion.

5.9.2

Zwei Gehirnhälften, zwei Arten zu denken?

Sind Sie eine emotionale Person, sind Sie kreativ, vielleicht sogar ein Musiker oder künstlerisch begabt? Dann dominiert wahrscheinlich Ihre rechte Gehirnhälfte. Nein? Vielleicht denken Sie ja eher rational und analytisch und sind mathematisch oder naturwissenschaftlich interessiert? Dann scheint eher Ihre linke Gehirnhälfte die Führung beim Denken zu übernehmen. Solche Annahmen über die Dominanz der Gehirnhemisphären basieren auf der Überzeugung, dass Kreativität und Emotionen in der rechten Gehirnhälfte verankert sind, während Rationalität und Logik eher der linken Hemisphäre zugeordnet werden. Um es gleich vorwegzuschicken: Solche Annahmen sind, obwohl weithin akzeptiert, lediglich Fehlvorstellungen, die auf missverstandenen Konzepten zur Hemisphärendominanz oder -spezialisierung beruhen. Diese Konzepte gehen davon aus, dass die beiden Hemisphären Informationen in unterschiedlicher Weise verarbeiten. Demnach gilt das Denken, das durch die linke Gehirnhälfte vermittelt wird, als rational, analytisch, logisch, sequentiell und verbal. Im Gegensatz dazu gilt rechtshemisphärisches Denken als intuitiv, emotional, holistisch, kreativ, nonverbal und visuell-räumlich. Auch wird angenommen, dass die Aktivität einer Gehirnhälfte dominant ausgeprägt ist und so die Denkweise und Persönlichkeit eines Menschen bestimmt. Personen, die überwiegend die linke Gehirnhälfte verwenden, sollen demnach gut in Mathematik, Naturwissenschaften und Technik sein. Im Gegensatz dazu sollen Personen, die überwiegend ihr rechtes Gehirn benutzen, künstlerisch, intuitiv, emotional, phantasievoll und visuell orientiert veranlagt sein und oft kreativen und künstlerischen Berufen angehören. Auf der Grundlage dieser Vorstellungen wuchs

die Idee, dass sich Lern- und Denkprozesse verbessern ließen, würden nur beide Seiten des Gehirns ausgewogen angesprochen. Infolgedessen wurden Lehrkonzepte entwickelt, um die weniger dominante Gehirnhälfte zu stärken und die beiden Hemisphären zu synchronisieren. Da davon ausgegangen wird, dass in Schulen häufig das sogenannte linkshemisphärische Denken wie Analyse und Logik bevorzugt wird, versuchen solche Unterrichtstechniken, mehr Aktivität im rechten Gehirn zu erzeugen. Anstatt einen Text nur zu lesen, werden auch Bilder und Grafiken angeboten, um auch die rechte Hemisphäre zu aktivieren. Andere Methoden beinhalten die Verwendung von Musik, Metaphern, Rollenspielen, Meditation, Zeichnung usw., um die Synchronisation der beiden Hemisphären zu verbessern. Hier geht es nicht darum, diesen Lehrkonzepten ihre Nützlichkeit abzusprechen, denn die Implementierung solcher Techniken mag die Methodenvielfalt im Unterricht durchaus vermehrt haben. Die Begründung dieser Konzepte basiert jedoch auf einer Fehlinterpretation wissenschaftlicher Befunde. Gibt es wirklich ein rechtshemisphärisches und ein linkshemisphärisches Denken? Zunächst sei vorausgeschickt, dass die beiden Hemisphären keine getrennten funktionellen und anatomischen Einheiten darstellen. Mächtige Nervenfaserbahnen (Corpus Callosum) verbinden die linke und rechte Gehirnhälfte miteinander und ermöglichen so einen Informationsaustausch zwischen beiden. Informationen, die in der rechten Gehirnhälfte ankommen, werden auch an die linke Gehirnhälfte weitergeleitet und vice versa. Auch können höhere kognitive Funktionen nicht einfach einem eng umschriebenen Gehirnareal zugeordnet werden, sondern sind mit weiträumig verzweigten Netzwerken assoziiert, die sich oft über beide Gehirnhemisphären ausbreiten. Dies gilt umso mehr, je komplexer eine Funktion ist. Daraus lässt sich schon erkennen, dass ein Training einer einzelnen Gehirnhälfte im Schulkontext unmöglich ist. Aber welche Unterschiede bestehen zwischen den Gehirnhälften? Von außen betrachtet erscheinen die beiden Gehirnhälften nahezu identisch. Nichtsdestotrotz stimmen sie anatomisch nicht vollständig überein. Auf funktioneller Ebene ist das bekannteste Beispiel für Asymmetrie die Sprache. Neurologische Befunde, die auf Gehirnläsionen basieren (z. B. nach Schlaganfall oder Unfall), zeigen, dass sich Sprachproduktion und Sprachverständnis der linken Gehirnhälfte zuordnen lassen. Die Befunde zu funktionellen Asymmetrien der rechten Hemisphäre sind insgesamt weniger eindeutig, wobei dieser am ehesten die Verarbeitung von raumbezogenen Informationen zugeordnet werden kann (Jäncke 2013). Weitere Befunde zu funktionellen Asymmetrien stammen von Studien mit sogenannten Split-Brain-Patienten. Bei diesen Patienten wurde das Corpus callosum neurochirurgisch vollständig durchtrennt, um die Ausbreitung epileptischer Anfälle von der einen auf die andere Hemisphäre zu unterbinden. So konnte die Schwere der Erkrankung erfolgreich vermindert werden. In ihrem Verhalten erschienen solche Split-Brain-Patienten auch überraschend normal, ihre Persönlichkeit und ihr Intellekt waren kaum verändert. Die Tren-

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Kapitel 5  Gehirn und Lernen

nung des Balkens ließ es nun zu, die Leistungen der beiden Gehirnhälften unabhängig voneinander zu untersuchen. Die ersten Studien an Split-Brain-Patienten wurden in den 1960er und 1970er Jahren von Robert Sperry und seinem Team vom California Institute of Technology unternommen, wofür er später den Nobelpreis für Physiologie erhielt. Zusammengefasst zeigen die Befunde der Split-Brain Forschung (Jäncke 2013), dass die selektive Stimulation der linken Hemisphäre, sei es visuell, akustisch oder taktil, dazu führt, dass die so präsentierten Stimuli verbal benannt werden können. Sofern allerdings die Stimuli selektiv der rechten Hemisphäre zugeführt werden, ist die verbale Verarbeitung defizitär oder nicht mehr möglich. Für die rechte Hemisphäre zeigt sich vielmehr eine selektive Bevorzugung für die Verarbeitung räumlicher und emotionaler Prozesse. Die Befunde der Läsionsstudien und der Split-Brain-Forschung basieren auf dem „nicht-intakten“ Gehirn, wobei die Generalisierung dieser Befunde auf das normale Erleben und Verhalten nicht unkritisch ist. Aber wie sehen Asymmetrien im intakten Gehirn aus? Ist die linke Hemisphäre wirklich spezifisch für Sprache und auch für die analytisch-mathematische Verarbeitung? Experimentelle Studien mittels neurowissenschaftlicher Methoden zeichnen hier ein etwas differenzierteres Bild. Einerseits ist Sprache eng mit der linken Hemisphäre verknüpft, jedoch nicht ausschließlich. Die Verarbeitung der Prosodie und Sprachmelodie beispielsweise ist eine Funktion der rechten Hemisphäre. Befunde der Arbeitsgruppe um Stanislas Dehaene zu den neurokognitiven Grundlagen von Zahlenverständnis und Rechnen zeigen zwar, dass die linke Hemisphäre für die Verarbeitung von geschriebenen und gesprochenen Zahlwörtern (eins, zwei usw.) verantwortlich ist; aber die Befunde zeigen auch, dass beide Gehirnhälften aktiv sind, wenn es um die Verarbeitung von arabischen Ziffern (1, 2 usw.) geht und ebenso wenn es um die Menge einer Zahl bzw. ihre Größenrepräsentation geht (Dehaene 2011; Dehaene, Spelke, Pinel, Stanescu & Tsivkin 1999). Wie sieht es nun mit der rechten Hemisphäre aus? Ist diese tatsächlich auf die räumliche Verarbeitung, kreative Problemlösungen und Emotionen fokussiert? Auch für die Annahme eines rechts-hemisphärischen kreativen und emotionalen Denkstils, gibt es keine stützenden Befunde. Eine Metaanalyse von 45 fMRT-Studien zur Kreativität zeigt, dass visuellräumliche, verbale und musikalische Kreativität auf neuronalen Netzwerken mit unterschiedlichen Komponenten beruht und Aktivierungen in beiden Gehirnhälften umfasst (Boccia, Piccardi, Palermo, Nori & Palmiero 2015). Zu ähnlichen Befunden gelangen Wagner, Phan, Liberzon und Taylor (2003) mittels einer Metaanalyse von 65 Neuroimaging-Studien hinsichtlich der Lateralisierung emotionaler Funktionen. Entgegen der allgemeinen Annahme finden die Autoren keine Unterstützung für die Annahme einer ausschließlich rechtshemisphärischen Lateralisierung emotionaler Funktionen. Basierend auf diesen und weiteren wissenschaftlichen Erkenntnissen denken Wissenschaftler heute, dass die Hemisphären des Gehirns nicht getrennt, sondern für jede kognitive Aufgabe zusammenarbeiten, auch wenn funktionale

Asymmetrien bestehen. Das Gehirn ist ein hochgradig integriertes System, bei dem selten ein Teil isoliert arbeitet. In Anbetracht der vorliegenden Befunde ist die Ableitung von pädagogischen Konzepten aus den isolierten Leistungen der einzelnen Hemisphären ein unlauteres und unwissenschaftliches Unterfangen und dient lediglich der Mythenbildung.

5.9.3

Die ersten drei Jahre: angereicherte Umwelten, Synaptogenese und sensible Phasen

Der Mythos der ersten drei Jahre bedient eigentlich drei Mythen, die oft auch unabhängig voneinander ihr Unwesen treiben (Organisation for Economic Co-operation and Development 2002). Gibt man Begriffe wie „die ersten drei Jahre im Leben“ in eine Internet-Suchmaschine ein, so bekommt man eine beeindruckende Vielzahl von Websites und Literaturempfehlungen, die erklären, dass die ersten drei Jahre im Leben eines Kindes entscheidend für seine ganze zukünftige Entwicklung sind. Auch wird auf zahlreiche kommerzielle Produkte verwiesen, um damit die kindliche Umwelt anzureichern und so die Intelligenz zu fördern, bevor ein wichtiges Schwellenalter überschritten sei. Dieser Mythos bedient die Vorstellung, dass Kinder in ihrer frühen Entwicklung in einer besonders intensiv angereicherten Umwelt aufwachsen müssen. Dadurch sollen dann bestimmte Entwicklungsprozesse im Gehirn angeregt werden, wie z. B. die Synaptogenese, also die Neubildung von Synapsen, was sich positiv auf die spätere Lernfähigkeit der Kinder auswirken soll. Zwischen der Geburt und dem dritten Lebensjahr wird eine kritische Periode verortet, in welcher der größte Teil der Gehirnentwicklung verlaufen soll. Nach dieser Zeit sei der weitere Kurs der Entwicklung dann überwiegend festgelegt. Lernerfahrungen, die bis hierhin nicht gemacht worden seien, könnten später nicht oder nur unter großer Mühe nachgeholt werden. Befeuert wurde dieser Mythos aus Studien zu den Auswirkungen von angereicherten Umwelten auf die Entwicklung von Synapsen bei Nagetieren (Diamond et al. 1987; Greenough, Black & Wallace 1987). Dabei wurden Ratten, die in Laborkäfigen aufwuchsen, mit solchen in angereicherten Umwelten verglichen. Angereichert bedeutet dabei, dass die ansonsten recht tristen Laborkäfige durch zahlreiche Gegenstände „möbliert“ wurden, um den Ratten vielfältige Gelegenheiten zur Exploration zu bieten. Die Ergebnisse dieser Studien zeigten, dass Versuchstiere, die in einer anregenden Umwelt aufgezogen wurden, besser komplexe Labyrinthprobleme lösen konnten und in ihrem Kortex mehr Neurone und synaptische Verbindungen besaßen als solche aus tristen Laborkäfigen. Folgende Argumente können zur Entzauberung des Mythos angeführt werden (s. a. Bruer 1999). Zunächst sollte erwähnt werden, dass die in den Studien realisierten „angereicherten“ Umwelten nicht mehr Stimulation boten, als der natürliche Lebensraum von freilebenden Nagern in der Wildnis. Nur im Vergleich zu den eintönigen Lebensbedingungen

103 5.9  Neuromythen

der typischen Labortiere bot sich hier ein Vorteil (Greenough et al. 1987). Dieses Ergebnis ist demnach eher geeignet, die Auswirkungen von Deprivation aufzuzeigen als den Einfluss angereicherter Umwelten. Zudem handelt es sich um tierexperimentelle Studien. Die Übertragbarkeit auf den Menschen ist daher fraglich. Die Idee, dass es kritische Zeitfenster für das Erlernen bestimmter Fähigkeiten gebe, wurde aus Studien zum visuellen System abgeleitet (Wiesel & Hubel 1965). Diese zeigen, dass in Zeiten der Synaptogenese bestimmte Gehirnareale besonders sensitiv auf die An- oder Abwesenheit spezifischer visueller Reize reagieren. Die einfache Übertragung von Befunden der Wahrnehmungsentwicklung auf komplexe kognitive Leistungen, wie beispielsweise dem Erlernen einer Sprache, wird jedoch der menschlichen Fähigkeit zum Lernen sowie der Entwicklung höherer kognitiver Funktionen nicht gerecht. Auch sollte nicht vergessen werden, dass das menschliche Gehirn während des ganzen Lebens Plastizität zeigt, und sich diese nicht auf die ersten drei Lebensjahre beschränkt. Wie schon in vorangegangen Abschnitten in diesem Kapitel gezeigt, können auch strukturelle Veränderungen des Gehirns, wozu die Synaptogenese ja gehört, durch Erfahrungen und Lernen angeregt werden. An dieser Stelle seien dazu nochmals Studien zur Gehirnplastizität bei Erwachsenen erwähnt, die zeigen konnten, dass das Erlernen eines Instruments oder die Aneignung komplexer Wissensinhalte zu funktionalen und strukturellen Veränderungen im Gehirn führt (Draganski et al. 2006; Elbert, Pantev, Wienbruch, Rockstroh & Taub 1995), die nicht an bestimmte kritische Zeitfenster gebunden sind. Das Misskonzept hinsichtlich der Zeitfenster, was diesem Mythos innewohnt, mag folgendermaßen begründet sein. Was die kritischen Zeitfenster betrifft, müssen zwei Formen der Plastizität unterschieden werden: zum einen die erfahrungserwartende Plastizität und zum anderen die erwartungsabhängige Plastizität. Zur erfahrungserwartenden Plastizität zählen Erfahrungen, die jeder Mensch macht, wenn er sich in einer halbwegs normalen Umwelt befindet, beispielsweise visuelle Stimulation, Geräusche, Stimmen und Bewegung. Das sich entwickelnde Gehirn „erwartet“ diese Erfahrungen für das Feintuning seiner Verschaltungen im Wahrnehmungssystem. Bleiben diese Erfahrungen in umschriebenen Zeitfenstern aus, sei es durch Reizarmut oder durch Funktionsstörungen der Sinnesrezeptoren, kann die Gehirnentwicklung massiv beeinträchtigt werden. Die erfahrungserwartende Plastizität ist demnach an festgelegte Zeitfenster gebunden, in denen die erwartete Stimulation stattfinden muss. Unter der erfahrungsabhängigen Plastizität werden funktionelle und strukturelle Veränderungen des Gehirns verstanden, die durch individuelle Erfahrungen hervorgerufen werden. Solche Erfahrungen sind nicht an bestimmte Zeitfenster gebunden. Es sind solche Erfahrungen, die in den oben erwähnten Studien zur angereicherten Umwelt zu tragen kommen und die Gehirnentwicklung der Versuchstiere befördert haben. Dabei beschränkt sich die Synaptogenese als Reaktion auf eine anregende Umwelt nicht auf die frühe Entwicklung. Die erfahrungsabhängige Plastizität ist im Gegen-

satz zur erfahrungserwartenden Plastizität ein lebenslanger offener Prozess und eine wesentliche Grundlage für Lernen. Es besteht kein Zweifel, Lernen beeinflusst das Gehirn, aber diese Beziehung bietet bislang noch keine Anleitung, wie Ansätze zur pädagogischen Unterweisung auszusehen haben, die aus neurowissenschaftlichen Befunden abgeleitet werden.

5.9.4

Lerntypen – eine visuelle, auditive und eine haptische Art des Lernens?

Der Begriff Lerntypen, gelegentlich auch als Lernstile bezeichnet, bezieht sich auf ein Konzept, das annimmt, dass Personen sich hinsichtlich ihres bevorzugten Sinneskanals, mit dem sie am wirksamsten lernen, unterscheiden. Die Theorie geht im Wesentlichen auf Frederic Vester zurück und wurde 1975 erstmals in seinem Buch „Denken, Lernen, Vergessen“ veröffentlicht (vgl. Looß 2001). Mittlerweile existieren zahlreiche Neuauflagen und etwa 70 Varianten des ursprünglichen Modells (Coffield, Moseley, Hall & Ecclestone 2004). Auch in der 25. Auflage des Buchs von Vester werden vier Lerntypen unterschieden. Davon werden drei Lerntypen über Wahrnehmungskanäle charakterisiert: der auditive, der visuelle und der haptische Lerntyp (Vester 1998). Dabei soll der auditive Typ am besten lernen, wenn er akustische Informationen dargeboten bekommt, der visuelle Typ profitiert vom Gesehenen und der haptische Typ von Informationen, die er über die Hautsinne aufnimmt. Der vierte Typ, der keinen Wahrnehmungskanal nutzt, sondern auf abstrakte Weise durch das Verstehen selbst lernt, wird als intellektueller Lerntyp bezeichnet. Das Lerntypenkonzept wurde durch zahlreiche Publikationen und Veranstaltungen verschiedenster Art sehr weit verbreitet und genießt schon seit vielen Jahren eine beachtliche Popularität, auch unter ausgebildeten Pädagogen und im Bildungsbereich. So zeigen Befragungen in Großbritannien, den Niederlanden und in Griechenland, dass über 80 % der Lehrerkräfte dieses Konzept für gültig halten (Dekker, Lee, Howard-Jones & Jolles 2012; PapadatouPastou, Haliou & Vlachos 2017). Im Folgenden seien einige Argumente angeführt, die das Lerntypenkonzept als Mythos entlarven (7 Kap. 4). Wie so oft bei der Bildung von Mythen über Lernen und Gehirn basieren die Ursprünge dieser falschen Behauptungen auch bei den Lerntypen auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. Dabei beruht das Lerntypenkonzept auf der Tatsache, dass visuelle, auditive und haptische Informationen in verschiedenen Teilen des Gehirns verarbeitet werden. So werden visuelle Informationen in der Sehrinde im Okzipitallappen verarbeitet. Für auditive Informationen ist die Hörrinde im Temporallappen zuständig und die Verarbeitung von haptischen Informationen erfolgt im somatosensorischen Kortex, der im vorderen Teil des Parietallappens liegt. Der Lerntypenmythos beginnt nun genau hier. Im Lerntypenkonzept wird Wahrnehmung mit dem Lernen von Wissensinhalten gleichgesetzt. Eine Information von den Sin-

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Kapitel 5  Gehirn und Lernen

nesorganen soll demnach direkt in das Langzeitgedächtnis überführt werden. Im Lichte experimentalpsychologischer und neurowissenschaftlicher Evidenz ist dieser Zusammenhang für den Erwerb deklarativen Wissens jedoch unhaltbar. Bevor höhere Denk- und Lernprozesse überhaupt stattfinden können, müssen die Wahrnehmungsinhalte analysiert werden und eine Bedeutung erhalten. Erst dann kann eine Verknüpfung mit anderen Gedächtnisinhalten oder Vorwissen stattfinden. Schritte, die eine wesentliche Voraussetzung für Lernen und damit für den Erwerb von Wissen sind. Diese höheren kognitiven Leistungen jenseits der Wahrnehmung sind mit den Assoziationsarealen des Gehirns verbunden. Hier werden Informationen aus den verschiedenen sensorischen Kortizes zusammengeführt, interpretiert und mit vorhandenen Erinnerungen verknüpft. Der Erwerb deklarativen Wissens kann demnach nicht als rein sensorische Funktion aufgefasst werden, wie Lerntypenkonzepte behaupten. Unabhängig davon, ob jemand eine Information liest oder hört, laufen bei der Gedächtnisbildung immer die gleichen Prozesse ab. Ein weiterer Einwand gegen das Lerntypenkonzept ist wissenschaftstheoretischer Natur (Looß 2001). Das Konzept charakterisiert drei Arten von Lernenden durch Wahrnehmungskanäle (auditiv, visuell, haptisch), während der vierte Lerntyp keinen Wahrnehmungskanal nutzt, sondern durch das Verstehen selbst lernt. Logisch passt dieser vierte Lerntyp nicht in diese Kategorisierung. Woher nimmt der intellektuelle Lerntyp seine Informationen, wenn er nicht seine Sinne gebraucht? Unabhängig von Schwächen im Bereich der neurowissenschaftlichen Begründung und entgegen seiner theoretischen Stringenz wurde das Lerntypenkonzept auch empirisch getestet (Pashler, McDaniel, Rohrer & Bjork 2008). Ein valider Test des Lerntypenkonzepts setzt unter anderem voraus, dass Schülerinnen und Schüler auf der Grundlage ihrer Lernstile in Gruppen eingeteilt werden. Dann müssen die Schülerinnen und Schüler aus jeder Gruppe nach dem Zufallsprinzip verschiedenen Unterrichtsmethoden zugewiesen werden und am Ende muss für alle Schülerinnen und Schüler ein gleicher Wissenstest erfolgen. Untersucht wird dann die Interaktion zwischen Lerntyp und Unterrichtsmethode: Die Lehrmethode (z. B. visuelle Lehrmethode), die für Schülerinnen und Schüler mit einem bestimmten Lerntyp optimal ist (z. B. visueller Lerntyp), ist für Schülerinnen und Schüler mit einem unterschiedlichen Lerntyp (z. B. auditiver Lerntyp) nicht optimal. Werden Studien herangezogen, welche diese Kriterien berücksichtigen, findet sich keine Unterstützung für das Lerntypenkonzept (Rohrer & Pashler 2012). Es hat keinen Vorteil für den Lernerfolg, wenn Material über den bevorzugten Wahrnehmungskanal vermittelt wird.

Zusammenfassung Wie unsere Reise durch das Gehirn gezeigt hat, kommt insbesondere dem zerebralen Kortex für Lernen und Wissenserwerb eine besondere Bedeutung zu. Hier werden die höheren kognitiven Funktionen repräsentiert. Aber auch subkortikale Strukturen erfüllen wichtige Funktionen. Der Hippocampus ist beispielsweise für die Gedächtnisbildung des deklarativen Wissens notwendig. Demgegenüber spielt das Kleinhirn bei klassischer Konditionierung und implizitem Gedächtnis eine wesentliche Rolle. Um Daten über das Gehirn zu gewinnen, stehen unterschiedliche Methoden zur Verfügung, die sich hinsichtlich ihrer zeitlichen Auflösung und Fähigkeit zur räumlichen Lokalisation unterscheiden. Beispielsweise können mittels EEG und MEG Gedankenblitze im MillisekundenBereich verfolgt werden, wohingegen die Stärke des fMRT in der räumlichen Lokalisation kognitiver Prozesse liegt. Auch können mittels MRT Gehirnstrukturen sichtbar gemacht werden. Wichtige Erkenntnisse im Bereich der Gehirnentwicklung zeigen, dass diese weit über die Kindheit hinausgeht und in verschiedenen Regionen unterschiedlich verläuft. Sensorische und motorische Funktionen reifen vor höheren kognitiven Funktionen. Das hat insbesondere mit der späten Reifung des präfrontalen Kortex zu tun, der mit exekutiven Funktionen, wie Arbeitsgedächtnis,inhibitorischer Kontrolle und Handlungsplanung assoziiert ist. Auch helfen die Befunde zum Präfrontalkortex adoleszenztypische Verhaltensweisen besser einzuordnen. Dass Lernen im Gehirn Spuren hinterlässt, haben neurowissenschaftliche Studien in faszinierender Weise zeigen können. In Folge der Ausbildung von Expertise und Wissenserwerb kommt es in den für die Aufgaben besonders relevanten Gehirnaralen zu funktionellen und strukturellen Veränderungen. Besonders beeindruckend sind die Befunde zu strukturellen Änderungen im Hippocampus als Tor zum deklarativen Gedächtnis. Befunde an Kindern mit Leseschwierigkeiten zeigen zudem, dass ein erfolgreiches Lesetraining auch zu strukturellen Veränderungen in relevanten Gehirnregionen führt. Neurowissenschaftliche Forschung kann helfen unser Verständnis für Lernprozesse und den zugrundeliegenden kognitiven Funktionen besser zu verstehen. Sie kann dazu beitragen, die vorhandenen kognitiven Theorien und Modelle zu verbessern, indem die neuronale Ebene einbezogen wird. Leider verleitet die Bildhaftigkeit neurowissenschaftlicher Befunde – insbesondere in populären Medien – gelegentlich zu einer stark vereinfachten Darstellung und fördert so die Herausbildung von Neuromythen. Die Herausforderung für die Zukunft neurowissenschaftlich orientierter Forschung im Bereich Lehren und Lernen besteht im Transfer vom Labor- in den Schulkontext.

105 Literatur

Verständnisfragen ?1. Was sind Neurone? 2. Beschreiben Sie den Aufbau eins Neurons! 3. Wozu dienen Synapsen? 4. Nennen Sie wichtige Funktionen des limbischen Systems! 5. Definieren Sie, was der zerebrale Kortex ist, und beschreiben Sie seine Funktion! 6. Welche vier Gehirnlappen des zerebralen Kortex werden unterschieden? 7. Beschreiben Sie die vier zentralen Prozesse der Gehirnentwicklung! 8. Der Kortex zeigt in verschiedenen Regionen unterschiedliche Entwicklungsverläufe. Geben Sie hierzu Beispiele! 9. Neurokognitive Forschungsmethoden: Vergleichen Sie die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) mit dem EEG! 10. Was besagt die Hebb’sche Lernregel? 11. Unterscheiden Sie die funktionelle Gehirnplastizität von der strukturellen Gehirnplastizität. 12. Was bewirken Neuromythen?

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Interkulturelles Lernen Carlos Kölbl, Andrea Kreuzer und Astrid Utler

6.1

Einleitung – 108

6.2

Begriffsbestimmungen: Kultur, interkulturelle Kompetenz und interkulturelles Lernen – 108

6.3

Interkulturelle Psychologie im Wechselspiel mit anderen (psychologischen) Disziplinen – 109

6.3.1

Interkulturelles Lernen und psychologische Lern-/Lehr- und Entwicklungstheorien – 109 Interkulturelle Kompetenz und Fragen zur Diagnostik – 111 Interkulturelle Psychologie und Sozialpsychologie – 112 Interkulturelle Psychologie und Erziehungswissenschaft – 113

6.3.2 6.3.3 6.3.4

6.4

Interkulturelles Lernen und interkulturelle Öffnung in der Schule: Herausforderungen und Perspektiven – 114

6.4.1 6.4.2 6.4.3

Lernziele, Lerninhalte und didaktische Methoden – 114 Lernkontexte und Lernformate – 118 Interkulturelle Öffnung – 121

Verständnisfragen – 121 Literatur – 122

Dr. Wolfgang Schoppek möchten wir herzlich für seine wertvollen Kommentare im Hinblick auf die Ausführungen zur Diagnostik interkultureller Kompetenz danken. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Urhahne, M. Dresel, F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9_6

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Einleitung

mit den Begriffen der Kultur und der interkulturellen Kompetenz auf sich hat. Der Begriff der Kultur ist keiner, der Menschen erst in Warum ist interkulturelles Lernen ein wichtiges Thema für einer Universität begegnet. Vielmehr ist der Begriff auch im Lehrkräfte? Die Kurzform einer Antwort auf diese Frage lau- Alltag üblich. Allerdings unterscheidet sich die wissenschafttet: Interkulturelles Lernen ist deshalb ein wichtiges Thema liche Umgangsweise mit dem Begriff in markanter Weise von für Lehrkräfte, weil wir in einer globalisierten Welt leben alltagsweltlichen Verwendungsweisen, wie die folgende Defiund diese globalisierte Welt auch vor dem Klassenzimmer nition zeigt: nicht Halt macht. Die etwas längere Form macht üblicherweise darauf aufmerksam, dass Erfahrungen echter oder vermeintlicher kultureller Differenz gängig geworden sind. DaAls Kultur wird eine historisch gewordene Ganzheit bei handelt es sich um Erfahrungen, die durch vielfältige aus aufeinander verweisenden, kollektiv bedeutsamen Migrations- und Fluchtbewegungen, durch Tourismus, durch Regeln, Normen, Werten, Zielen und Deutungsmustern, inter-, trans- und supranationale wirtschaftliche und politiSymbolen und Geschichten bezeichnet. Dabei richtet sche Zusammenschlüsse sowie durch neue TelekommunikaKultur explizit und implizit das Handeln, Wollen, Fühlen tionstechnologien verstärkt worden sind. All diese Phänomeund Denken derjenigen Menschen aus, die dieser Kultur ne haben dazu beigetragen, die pädagogische Vorstellung von angehören. Kultur stellt somit einen Rahmen oder ein Homogenität als schulischem Normalfall endgültig zu Fall zu Orientierungssystem für das Handeln und Erleben von bringen. Vor diesem Hintergrund werden seit einigen Jahren Menschen dar, zugleich wird Kultur durch das Handeln pädagogische und bildungspolitische Forderungen erhoben, und Erleben von Menschen verändert, ist also nicht allein die darauf dringen, dass interkulturelles Lernen eine wichStruktur, sondern ebenso Prozess (nach Boesch 1991; tige schulische Querschnittsaufgabe sein sollte (KMK 2013) Straub 2007; Thomas 2003a; s. a. Georg, Kölbl & Thomas und zwar im Sinne einer interkulturellen Bildung für alle und 2015, S. 13f.). nicht als eine quasi sonderpädagogische Veranstaltung allein für Kinder und Jugendliche mit „Migrationshintergrund“ (Billmann-Mahecha & Tiedemann 2018) oder für SchülerinIm Alltag wird zumeist in einem deutlich eingeschränknen und Schüler an internationalen oder bilingualen Schulen teren Sinne von Kultur gesprochen, etwa wenn es um „Hoch(Möller & Zaunbauer 2008). Dabei ist etwa an Phänomene ge- kulturelles“ wie Theater, Musik oder Literatur geht oder wenn dacht wie eine interkulturelle Öffnung von Schulfächern oder die nationale oder religiöse Zugehörigkeit einer Person vereine interkulturell sensible bzw. kompetente Gesprächsfüh- einfachend als ihre „Kultur“ betrachtet wird. rung von Lehrkräften. Die interkulturelle Öffnung der Schule Insbesondere ein dezidiert moderner Kulturbegriff unterist nicht nur auf Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler streicht auch noch die folgenden Aspekte (Straub 2007): beschränkt, sondern betrifft auch die Elternebene, insofern 4 Kulturen sind keine homogenen, sondern in sich differenbeim interkulturellen Lernen als schulischer Querschnittszierte Gebilde. Redeweisen wie die von einer „türkischen“ aufgabe auch an ein wertschätzendes soziales Miteinander oder „deutschen Kultur“ sind daher drastische und häufig aller am schulischen Geschehen beteiligten Akteure gedacht irreführende Vereinfachungen. ist. 4 Der Begriff der Kultur verweist auf Kollektive einer vaIm Folgenden werden Theorien, Konzepte und Befunde riablen Größe und variablen Dauer, weshalb beispielsweizum interkulturellen Lernen vorgestellt. Zu ihnen zählen unse Schulkulturen ebenso als Kulturen bezeichnet werden terschiedliche Bezugnahmen auf psychologische Lern-/Lehrkönnen wie die Punkszene im Westberlin der 1980er Jahund Entwicklungstheorien sowie Fragen der Diagnostik inre. terkultureller Kompetenz. Diese Bezugnahmen und Fragen 4 Kulturen oder kulturelle Elemente müssen nicht territoriwerden ebenso erläutert wie Aspekte des interkulturellen Leral verankert sein. Neben National- oder Regionalkulturen nens speziell in der Schule. Darunter fallen etwa Ausführungibt es zahlreiche andere Kulturen wie etwa Geschlechtergen dazu, welche Ziele interkulturelles Lernen in der Schule kulturen, Jugendkulturen oder milieubezogene Kulturen. verfolgt und wo und wie im schulischen Kontext interkultu- 4 Der Begriff der Kultur bezieht sich auf „hochkulturelle“ rell gelernt werden kann. genauso wie auf Phänomene der Alltagskultur. 4 Es gibt multiple kulturelle Zugehörigkeiten, d. h. Personen gehören mehreren Kulturen an bzw. können sich mehreren Kulturen zugehörig fühlen. 6.2 Begriffsbestimmungen: Kultur, 6.1

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Kapitel 6  Interkulturelles Lernen

interkulturelle Kompetenz und interkulturelles Lernen

Nach dieser ersten begrifflichen Klärung können wir nun auch etwas besser darlegen, was es mit dem Konstrukt der interkulturellen Kompetenz auf sich hat (für Näheres hierWas aber heißt eigentlich interkulturelles Lernen aus psycho- zu s. Kölbl & Kreuzer 2014). Auf diese Kompetenz sollen logischer Perspektive? Bevor wir hierauf eingehen können, die Bemühungen interkulturellen Lernens hinauslaufen, sie müssen wir zunächst zumindest ansatzweise klären, was es ist deren angestrebtes Resultat. Insofern stellen interkulturelle

109 6.3  Interkulturelle Psychologie im Wechselspiel mit anderen (psychologischen) Disziplinen

Lernprozesse die Voraussetzung für die Erreichung interkultureller Kompetenz bzw. bestimmter Aspekte dieser Kompetenz dar. Auch wenn es bislang keine allgemein anerkannte Definition von interkultureller Kompetenz gibt, dürfte die Begriffsbestimmung von Alexander Thomas doch vergleichsweise breite Anerkennung erfahren haben:

2. Interkulturelles Lernen bezeichnet psychische Veränderungen, die sich auf eine veränderte Wahrnehmung von und einen veränderten Umgang mit kultureller Differenz beziehen“ (Weidemann 2007, S. 495).

6.3 „Interkulturelle Kompetenz zeigt sich in der Fähigkeit, kulturelle Bedingungen und Einflussfaktoren im Wahrnehmen, Urteilen, Empfinden und Handeln bei sich selbst und bei anderen Personen zu erfassen, zu respektieren, zu würdigen und produktiv zu nutzen im Sinne einer wechselseitigen Anpassung, von Toleranz gegenüber Inkompatibilitäten und einer Entwicklung hin zu synergieträchtigen Formen der Zusammenarbeit, des Zusammenlebens und handlungswirksamer Orientierungsmuster in Bezug auf Weltinterpretation und Weltgestaltung“ (Thomas 2003a, S. 143).

Interkulturelle Psychologie im Wechselspiel mit anderen (psychologischen) Disziplinen

Die Interkulturelle Psychologie ist das für das interkulturelle Lernen zuständige psychologische Fachgebiet. Dabei greift sie auf Theorien, Konzepte und Befunde aus unterschiedlichen Teildisziplinen der Psychologie zurück und steht auch mit einschlägigen erziehungswissenschaftlichen Diskursen im Austausch. Als Spezifikum kommt hinzu, dass die Interkulturelle Psychologie besonders enge Beziehungen zu unterschiedlichen Spielarten einer Kultur inkludierenden Psychologie (Straub & Layes 2002) unterhält, also zu allen (durchaus heterogenen) Bemühungen innerhalb der PsychoDas fragliche Konstrukt wird oft in Form von Auflistunlogie, das Verhältnis zwischen Kultur und Psyche zu erhellen. gen gewünschter Teilkompetenzen weiter ausdifferenziert. Anhand ausgewählter Bereiche soll gezeigt werden, wie In solchen Modellen werden Merkmale oder Dimensionen sich das Wechselspiel der Interkulturellen Psychologie mit aufgeführt, die näher charakterisieren sollen, was interkulunterschiedlichen psychologischen Disziplinen, aber auch turelle Kompetenz sein soll. Bolten (2006) etwa unterscheimit der Erziehungswissenschaft gestaltet. det zwischen einer affektiven, einer kognitiven und einer verhaltensbezogenen Dimension. Zur affektiven Dimension gehören beispielsweise Ambiguitäts- und Frustrationstoleranz, Selbstvertrauen, Flexibilität, Empathie oder Offenheit 6.3.1 Interkulturelles Lernen und und Toleranz, zur kognitiven Dimension etwa das Verständpsychologische Lern-/Lehr- und nis der Kulturunterschiede der Interaktionspartner und das Entwicklungstheorien Verständnis interkultureller Handlungszusammenhänge, zur verhaltensbezogenen Dimension unter anderem Kommunikationsbereitschaft und -fähigkeit sowie soziale Kompetenz. Im Prinzip vermag jede psychologische Theorie des Lernens Es liegt auf der Hand, dass interkulturelles Lernen kaum zu einem besseren Verständnis auch interkultureller Lernproalle möglichen Aspekte interkultureller Kompetenz mehr zesse beizutragen. Analoges gilt für pädagogisch-psychologioder weniger zeitgleich anvisieren kann, sondern stets nur sche Lehrtheorien (Kammhuber 2000). Eine umfassendere, bestimmte Ausschnitte davon (Straub 2010). Interkulturelles nicht-eklektizistische, also kohärente und nicht aus unterLernen kann Aspekte beinhalten, die unter anderem in dem schiedlichen Versatzteilen „zusammengestückelte“ Theorie oben angedeuteten Modell von Bolten zur Sprache kommen, interkulturellen Lernens steht allerdings nach wie vor aus kann sich aber auch noch auf weitere Bereiche erstrecken. Ge- (Straub 2010). Im Folgenden sollen zwei Ansätze vorgestellt werden, die nannt werden etwa der Erwerb konzeptuellen Wissens über in der Interkulturellen Psychologie eine besondere Promiinterkulturelle Inhalte, das Erlernen einer Fremdsprache, der nenz erlangt haben. Es handelt sich dabei um das Lernen an Erwerb bestimmter social skills, die Reduzierung von Angst Kritischen Interaktionen und um Milton Bennetts Stufenmosowie das Entwickeln von Bewusstheit für die kulturelle Didell interkulturellen Lernens. mension sozialer Interaktionen (Weidemann 2007). Da solche Auflistungen in der Gefahr stehen, beliebig zu werden, ist eine verdichtete allgemeinere begriffliche Bestimmung des-1 Interkulturelles Lernen an Kritischen Interaktionen sen hilfreich, was interkulturelles Lernen sein soll. Eine solche Das Konzept der Kritischen Interaktionen (Criticial Incident Begriffsbestimmung schlägt Weidemann unter Rückgriff auf Technique) wurde ursprünglich in der Arbeits- und Organisaeinen allgemeinen psychologischen Lernbegriff vor und hält tionspsychologie von Flanagan (1954) entwickelt. Im Kontext interkulturellen Lernens wird dieses Verfahren so eingesetzt, dabei zweierlei fest: dass den Lernenden eine kritische Interaktion vorgelegt wird, über die sie reflektieren sollen. Diese kritische Interaktion „1. Interkulturelles Lernen bezeichnet psychische Veränsieht so aus, dass es zu Irritationen bei den an der Situation derung aufgrund von Erfahrungen kultureller Differenz. beteiligten Akteuren kommt, die kulturell bedingt sind.

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Kapitel 6  Interkulturelles Lernen

Im Fokus: Eine exemplarische kritische Interaktionssituation

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Marika, eine georgische Schülerin aus Tiflis, nimmt an einem Schüleraustausch mit Weiden teil. In Weiden angekommen, fühlt sie sich sehr herzlich von ihrer deutschen Austauschpartnerin (Sabine) und deren Eltern empfangen. Sabines Mutter zeigt Marika ihr Zimmer, das Bad, die Küche und sagt, sie solle sich wie zu Hause fühlen. Beim Abendessen sitzt die ganze Familie beisammen. Marika hat großen Hunger und die Spaghetti, die Sabines Vater gekocht hat, schmecken ihr sehr gut. Als Marika ihren Teller leer gegessen hat, fragt Sabines Mutter: „Möchtest du noch etwas?“ Marika antwortet: „Nein danke. Es hat sehr gut geschmeckt.“ Daraufhin räumt Sabines Mutter die Sachen vom Tisch, stellt die Reste in den Kühlschrank und sagt zu Marika, sie könne sich auch später noch etwas nehmen, wenn sie möchte. Marika ist etwas überrascht, dass ihr nichts mehr angeboten wurde und geht hungrig zu Bett. (Die angeführte Situation basiert auf wiederkehrenden Berichten von Teilnehmenden an Seminaren zum interkulturellen Lernen, die Astrid Utler durchgeführt hat.)

Die Interviews werden verschriftet und qualitativen Inhaltsanalysen unterzogen, wobei die Befragung von ca. 30 Interviewpartnern erfahrungsgemäß zu einer Schilderung von 150 bis 200 kritischer Interaktionssituationen führt, die – wegen wiederholter Schilderungen gleicher kritischer Interaktionen – auf 50 bis 70 gekürzt werden können. Diese Situationsschilderungen werden von Expertinnen und Experten der Zielkultur geprüft und werden dann von den Entwicklern des Intercultural Sensitizers zentralen kulturellen Themen der Zielkultur (aus Sicht der deutschen Kultur) zugeordnet. In einem nächsten Schritt werden aus den kritischen Interaktionssituationen prototypische Situationen konstruiert, die den Trainees als Lernmaterial dienen. Dabei werden den Situationen vier Erklärungen nachgestellt, von denen allerdings nur eine zutreffend ist. Die Erklärungen, die unzutreffend sind, werden aus Befragungen von Deutschen gewonnen, die bislang keine Erfahrungen mit der entsprechenden Zielkultur gemacht haben. Im deutschsprachigen Raum werden die zentralen kulturellen Themen darüber hinaus zu sogenannten Kulturstandards verdichtet, unter denen Thomas (2011) die zentralen Merkmale einer Kultur versteht, die das Verhalten ihrer Mitglieder steuern, regulieren und einen Rahmen für dessen Beurteilung vorgeben.

Die Lernenden sollen nun überlegen, weshalb es zu den Irritationen gekommen ist und sollen nach und nach ein Verständnis für die kulturellen Hintergründe entwickeln, die zu der kritischen Interaktion beigetragen haben könnten. Sie sollen zunehmend in die Lage versetzt werden, „isomorphe1 Bennetts Stufenmodell interkulturellen Lernens Attributionen“ liefern zu können, womit Erklärungen für Milton Bennett schlägt in offenkundiger Nähe zu einschlägidie Situation gemeint sind, die auch von den fremdkulturel- gen strukturgenetischen Entwicklungstheorien (Piaget, Kohllen Interaktionspartnern gegeben würden (Utler & Thomas berg u. a.) eine Stufenfolge interkulturellen Lernens vor, die 2010). Im obigen Beispiel könnte die isomorphe Attributi- sich durch ein Kontinuum zunehmender Komplexität im on so aussehen, dass Marikas verneinende Antwort auf die Umgang mit kultureller Differenz auszeichnen soll. Er unFrage danach, ob sie noch etwas essen möchte und ihre Über- terscheidet dabei drei ethnozentrische sowie drei ethnoreraschung darüber, dass ihr nichts mehr angeboten wurde, lative Stadien, wobei die Stadien aufeinander aufbauen, das als ein bestimmter kulturell geprägter Kommunikations- und Erreichen des einen Stadiums also Voraussetzung für das Interaktionsstil gedeutet wird. Dieser hat es in dem vorlie- Erreichen des nächsten Stadiums ist (Bennett 1993; s. a. Weigenden Fall mit Vorstellungen von Höflichkeit zu tun, die es demann 2007, S. 494f.): vorsehen, zu zeigen, dass man den Gastgebern nicht zur Last Ethnozentrische Stadien fallen möchte, zurückhaltend und nicht fordernd ist. Das Lernen an kritischen Interaktionen wird gerade auch 1. Kulturelle Differenz wird geleugnet und kulturell Fremde werden aus den aktiven Lebensbezügen ausgeschlossen in interkulturellen Trainings häufig eingesetzt, speziell in („Denial of Difference“). vormals Culture Assimilator heute Intercultural Sensitizer ge2. Kulturelle Differenz wird abgewehrt, etwa durch die Abnannten Verfahren. wertung der anderen und einer damit einhergehenden Aufwertung der eigenen Gruppe („Defense against DiffeIm Fokus: Das methodische Vorgehen rence“). Intercultural Sensitizer werden folgendermaßen konstruiert 3. Kulturelle Differenz wird auf der Grundlage eigenkultu(s. Thomas 2011, S. 104–110): Es werden mit etwa 30 reller Kategorien minimiert und prinzipielle Gleichheit Deutschen (oder Angehörigen einer anderen Kultur), die in postuliert („Minimization of Difference“). einer anderen als der eigenen Kultur, einer „Zielkultur“, tätig sind, teilstrukturierte Interviews durchgeführt. In diesen Interviews werden die Interviewpartner darum gebeten, möglichst detailliert kritische Interaktionssituationen zu schildern, die sie in der Zielkultur erlebt haben.

Ethnorelative Stadien

1. Das Stadium der Akzeptanz kultureller Verschiedenheit („Acceptance of Difference“). 2. Anpassung an fremde Verhaltensweisen: Hier wird das eigene Verhaltensrepertoire um neue kulturelle alternative Verhaltensweisen erweitert („Adaptation to Difference“).

111 6.3  Interkulturelle Psychologie im Wechselspiel mit anderen (psychologischen) Disziplinen

3. Integration – Identitätskonstruktion und Handeln erfolgen jenseits vorgegebener kultureller Bezüge im Bewusstsein vorhandener Wahlmöglichkeiten („Integration of Difference“). Von herausragender Bedeutung ist der schwierige Übergang von den ethnozentrischen zu den ethnorelativen Stadien. Wird dieser vollzogen, stellt er in Bennetts Modell so etwas wie einen grundlegenden Perspektivenwechsel dar.

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Ethnorelativismus ist durch die Annahme gekennzeichnet, dass Kulturen nur in Relation zueinander verstanden werden können und dass sich bestimmtes Verhalten nur unter Berücksichtigung des kulturellen Kontextes erschließt. Die Maßstäbe der eigenen Kultur gelten nicht länger als zentrale Instanz, sondern als eine Möglichkeit unter anderen (Weidemann 2007, S. 495).

Das Modell erfreut sich großer Beliebtheit, wird jedoch aufgrund der defizitären empirischen Fundierung auch kritisiert. Ebenso wird kritisch diskutiert, dass weitgehend unklar bleibe, welche Lern- und Entwicklungsprozesse genau erfolgen müssen, um die jeweils nächste Stufe zu erreichen (ebd.).

6.3.2

Interkulturelle Kompetenz und Fragen zur Diagnostik

1 Relevanz interkultureller Diagnostik für den schulischen Bereich

Die zunehmende Bedeutung interkulturellen Lernens und interkultureller Kompetenz im Schulalltag geht auch mit der Frage einher, wie festgestellt werden kann, ob jemand interkulturell kompetent ist oder nicht. Im wirtschaftlichen Bereich interessiert die Diagnose interkultureller Kompetenz vor allem mit Blick auf die Eignungsdiagnostik bzw. die Personalauswahl für Auslandsentsendungen (z. B. Deller & Albrecht 2007; Schnabel et al. 2014). Im schulischen Bereich hingegen scheint die Diagnose interkultureller Kompetenz vor allem unter dem Förderaspekt (vgl. hierzu Over 2015) von Interesse: Für eine Lehrkraft beispielsweise, die in kulturell sehr heterogenen Klassen unterrichtet, kann es hilfreich sein zu wissen, ob und wenn ja inwiefern sie in Bezug auf die eigene interkulturelle Kompetenz noch Weiterentwicklungsbedarf hat. Ähnliches gilt für die Schülerinnen und Schüler, für die das Wissen um die eigenen interkulturellen Fähigkeiten wichtig sein kann, und zwar sowohl für das Zusammenleben und -lernen in heterogenen Klassen als auch für Schüleraustauschprogramme. 1 Methoden interkultureller Diagnostik

Die interkulturelle Eignungsdiagnostik bedient sich der in der Diagnostik allgemein gängigen Verfahren wie Tests, Fragebögen, Interviews oder auch Beobachtungen. Aufgrund ihrer einfachen Handhabbarkeit sowie der meist guten Erfüllung der formalen Gütekriterien Objektivität und Reliabilität wurden in den letzten Jahren und Jahrzehnten zahlreiche, meist fragebogenbasierte Testverfahren interkulturel-

ler Kompetenz entwickelt: Hierzu zählen unter anderem das Cross-Cultural Adaptability Inventory (Kelley & Meyers 1995), das Intercultural Development Inventory (Hammer, Bennett & Wiseman 2003) oder das Intercultural Sensitivity Inventory (Bhawuk & Brislin 1992). Der Intercultural Development Inventory (IDI) ist dabei an das Modell von Bennett (7 Abschn. 6.3.1) angelehnt: Anhand von 50 Items werden Messwerte zu den Skalen Denial/Defence, Reversal, Minimization, Acceptance/Adaptation und Encapsulated Marginality erhoben. Ein Item beispielsweise, das Denial/Defence misst, lautet „Menschen aus anderen Kulturen sind im Allgemeinen fauler als Menschen meiner Kultur“ (Übersetzung d. Autoren). Die Beantwortung der Fragen erfolgt auf fünfstufigen Antwortskalen, die von „agree“ bis „disagree“ reichen (Paige 2004, S. 99). Der IDI sowie die anderen genannten englischsprachigen Verfahren sind international bekannt und werden auch im deutschsprachigen Raum angewandt, allerdings meist auf Englisch – eine wissenschaftlich fundierte Anpassung an den deutschsprachigen Raum gibt es weder für diese noch für die meisten anderen Verfahren aus dem angloamerikanischen Raum. Die oben genannten Messverfahren sind indirekte Messverfahren, d. h. interkulturelle Kompetenz wird nicht direkt an Indikatoren des Verhaltens, Denkens oder Fühlens einer Person gemessen, sondern über deren Selbsteinschätzung (Sinicrope, Norris & Watanabe 2007). Neben dem Problem sozialer Erwünschtheit wird an derartigen Verfahren kritisiert, dass sie lediglich punktuellen Charakter haben, also dem prozesshaften Zusammenspiel verschiedener interkultureller Teilkompetenzen nicht gerecht werden (vgl. z. B. Bolten 2007). Hinzu kommen Zweifel an deren Validität (Schnabel et al. 2014). Aus diesen Gründen favorisieren einige Autoren direkte Verfahren, wie das multimodale Interview (z. B. Stahl 1995) oder Assessment-Center (z. B. Bolten 2007). Kernstück dieser Verfahren sind geschilderte oder nachgespielte interkulturelle Situationen (vornehmlich kritische Interaktionssituationen), die verschiedene Teilbereiche interkultureller Kompetenz betreffen und die von den Befragten entweder unmittelbare Verhaltensreaktionen oder Aussagen über intendiertes Verhalten bzw. Analysen zu den Hintergründen der Situation erfordern. Derart systemisch-prozessuale Testverfahren (Bolten 2007) weisen meist einen höheren Anwendungsbezug und (damit) auch höhere ökologische Validität auf. Allerdings erfüllen diese direkten Erhebungsinstrumente meist die formalen Gütekriterien schlechter als die eingangs genannten Tests (ebd.). Zudem erfordern diese Verfahren zum Teil einen hohen ökonomischen wie praktischen Aufwand. Um die jeweiligen Nachteile indirekter und direkter Verfahren zu kompensieren, werden – mittlerweile auch für den Hochschulbereich – vermehrt kombinierte Testverfahren entwickelt und erprobt (z. B. Prechtl & Davidson Lund 2007; Schnabel et al. 2014). Diese kombinierten Erhebungsverfahren beinhalten häufig qualitative Elemente, zum Teil sogar mit Rollenspielen. Für den schulischen Kontext scheinen sich derartige Verfahren nicht zuletzt deshalb zu eignen, weil bereits die Erfassung

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Kapitel 6  Interkulturelles Lernen

interkultureller Kompetenz auch interkulturelle Lernprozesse anstoßen kann: Denn die Methoden (z. B. Rollenspiele, kritische Interaktionssituationen), die zur Messung interkultureller Kompetenz eingesetzt werden, finden auch in der Vermittlung und Lehre interkultureller Kompetenzen Verwendung. Eine Anpassung derartiger Verfahren für den schulischen Bereich steht allerdings noch aus. In diesem Zusammenhang ist es zudem wichtig, die für die Schule relevanten Dimensionen interkultureller Kompetenz genauer zu fassen; denn erst dann lassen sich angemessene Diagnose-Instrumente entwickeln. Was die Ermittlung derartiger Dimensionen angeht, gibt es bereits erste Ansätze. So hat Over (2015) anhand von Interviews mit 44 Lehrkräften erhoben, wie Lehrkräfte selbst eine interkulturell kompetente Lehrkraft konstruieren und dabei folgende zentrale Dimensionen herausgearbeitet: Schülerorientierung, individualzentrierte pädagogische Kompetenz, kulturelle Sensibilität, Führungskompetenz, Teamarbeit und Konfliktfähigkeit. Diese Dimensionen könnten nun im Rahmen intensivierter Forschung quantitativ (um die Dimensionen zu bestätigen oder ggf. zu erweitern und/oder zu modifizieren) wie qualitativ (zur weiteren inhaltlichen Ausdifferenzierung) untersucht werden. Die Entwicklung eines entsprechenden Diagnose-Instrumentes kann ebenfalls auf diesen Vorarbeiten aufbauen: Auf der Grundlage der genannten Dimensionen ist bereits ein Förder-Assessment-Center für interkulturelle Kompetenz bei Lehrerinnen und Lehrern (kurz FACIL) entstanden, das zur Förderung interkultureller Kompetenz bei Lehrkräften eingesetzt wird (Over 2015; Over 2017).

6.3.3

Interkulturelle Psychologie und Sozialpsychologie

Auch der Rückgriff auf sozialpsychologische Einsichten kann zu einem besseren Verständnis interkulturellen Lernens, seiner Voraussetzungen, Mechanismen, Herausforderungen und Folgen beitragen. Im Folgenden seien ausgewählte Aspekte dargestellt (hierzu Aronson, Wilson & Akert 2008, S. 420–461). Wir alle strukturieren und kategorisieren Informationen und bilden Schemata, auch Menschen teilen wir aufgrund unterschiedlicher Kriterien in Gruppen ein. Dazu kann im Prinzip jede beliebige wahrgenommene oder unterstellte Differenz herangezogen werden, von Augenfarbe, Lieblingsverein über Geschlecht bis hin zu Nationalität, Religion oder Kultur. Die Lehrerin Jane Elliott (1977) teilte beispielsweise eine Klasse in braun- und blauäugige Kinder ein und bevorzugte eine Gruppe, um Stereotype und Diskriminierung erfahrbar zu machen, was sich negativ auf die Leistungen und den Umgang der Schülerinnen und Schüler miteinander auswirkte. Nach diesem Prinzip werden auch in Deutschland Antirassismus-Trainings angeboten (kritisch hierzu z. B. Leiprecht & Lang 2001). Die Gruppen, denen Personen selbst angehören, bewerten sie tendenziell besser und bevorzugen sie gegenüber den „anderen“. Dafür reicht schon eine zufällige

. Abb. 6.1 Attributionsdreieck (nach Schroll-Machl 2007) Person

Situation

Kultur

Gruppenzuteilung per Münzwurf (vgl. Theorie der Sozialen Identität, Minimalgruppenexperimente, z. B. Tajfel & Turner 1986). Wenn die Gruppen Konkurrenten im Kampf um knappe Ressourcen sind, verschärft das die Situation (Sherif 1966). Frustration sorgt erst Recht dafür, dass eine unbeliebte Gruppe zum Sündenbock wird: „Wir“ gegen „die Anderen“. Eine Fremdgruppe wirkt grundsätzlich homogener als die eigene Gruppe (Quattrone 1986; 7 Kap. 23), ihre Mitglieder scheinen irgendwie alle gleich. Menschen haben verallgemeinernde Annahmen im Kopf, sog. Stereotype, und schreiben den Mitgliedern einer Gruppe eine bestimmte Eigenschaft zu. Handelt es sich um feindselige, emotionale Einstellungen gegenüber den Gruppenmitgliedern, spricht man von Vorurteilen. Diese werden zu Diskriminierung, wenn sie sich im Verhalten widerspiegeln, wenn also eine Person schlecht behandelt wird, nur weil sie einer bestimmten Gruppe angehört. Die Bilder im Hinblick auf Persönlichkeitseigenschaften von Gruppenmitgliedern sind hartnäckig, was nicht zuletzt an den Mechanismen der Attribution liegt: Wenn wir versuchen, uns das Verhalten eines Menschen zu erklären, also eine sogenannte Attribution vornehmen, können wir uns das Verhalten durch die Persönlichkeit erklären (dispositionale Attribution) oder durch die Situation, in der sich die Person befindet (Heider 1958). In interkulturellen Kontexten kann Verhalten mitunter auch mit kulturellen Aspekten erklärt werden. Zur Veranschaulichung dieser Erweiterung entwirft Schroll-Machl (2007) ein „Attributionsdreieck“ (. Abb. 6.1), bestehend aus den Attributionsmöglichkeiten Person, Situation und Kultur. Zur Situation kann man im weiteren Sinne auch soziale, altersbedingte, sozio-ökonomische und weitere Einflussfaktoren zählen. Bei der Ursachenzuschreibung neigen Menschen zu Fehlern, so werden situative Faktoren meist zu wenig berücksichtigt: Vielleicht ist ein Schüler, der sich nicht am Unterricht beteiligt, nicht desinteressiert (das wäre eine dispositionale Attribution), sondern müde, weil er in der Nacht vom kleinen Bruder geweckt wurde. Stereotype werden zunächst unbewusst und automatisch aktiviert, eine kontrollierte Verarbeitung muss erst in Gang gesetzt werden und braucht kognitive Ressourcen (Devine 1989). Damit können Stereotype zwar dabei helfen, Situationen schnell einzuschätzen, man kann im Einzelfall aber auch sehr falsch liegen und der Person, die einem gegenübersteht, nicht gerecht werden. Effekte wie die Sich-selbst-erfüllende Prophezeiung tun ihr Übriges, dass wir uns in unserer Einschätzung auch noch bestätigt fühlen (vgl. auch PygmalionEffekt, Rosenthal & Jacobson 1968; 7 Kap. 23). Hinzu kommt, dass ein Stereotyp auch die davon betroffenen Personen beeinflussen kann (Clark & Clark 1947): Gerade wenn Angehö-

113 6.3  Interkulturelle Psychologie im Wechselspiel mit anderen (psychologischen) Disziplinen

rige einer Gruppe ein Stereotyp nicht bedienen möchten, z. B. dass Frauen in Mathematik schlechtere Leistungen zeigen als Männer, verschlechtern sich die Leistungen von Frauen in Tests und das Stereotyp scheint bestätigt. Bei Kenntnis der bisher geschilderten Mechanismen wird auch nachvollziehbar, wie es zu „Kulturalisierungen“ kommen kann. Kulturalisierungen sind vorschnelle und unbegründete Erklärungen bestimmter Phänomene mithilfe insbesondere kultureller Faktoren – statt situationaler, personaler oder einer Kombination aus ihnen. So hat beispielsweise eine „Türkenecke“ auf dem Schulhof (vgl. Utler 2014), aus der in der Pause die jüngeren („deutschen“) Schüler „verscheucht“ werden, oft weniger mit kulturellen Eigenheiten zu tun als mit der Aufrechterhaltung einer (positiven) sozialen Identität einer Clique – auch wenn manche Lehrkräfte das Phänomen möglicherweise als „typisch türkisch“ wahrnehmen und damit das Stereotyp der aggressiven türkischen Jugendlichen bestätigt sehen. Doch wie geht man mit derartigen Gruppenphänomenen um und baut Vorurteile z. B. zwischen Gruppen wieder ab? Begegnung alleine reicht mitunter nicht aus, der Kontakthypothese (Allport 1954) zufolge sind beim Kontakt vielmehr spezifische Bedingungen nötig, wie beispielsweise die Abhängigkeit der Gruppen voneinander oder die Verfolgung eines gemeinsamen Ziels. In der Schule lassen sich diese Bedingungen mit besonderen Formen des kooperativen Lernens, z. B. dem Gruppenpuzzle (Aronson, Wilson & Akert 2008) schaffen. Schülerinnen und Schüler, die sonst wenig Kontakt und eine stereotype Vorstellung voneinander haben, können hier zusammen an einem gemeinsamen Ziel arbeiten und lernen sich im Idealfall „neu“ kennen. Im Fokus: Rassismus und der Begriff „Rasse“

Die Empfehlungen der Kultusministerkonferenz zu interkultureller Bildung und Erziehung in der Schule fordern auch dazu auf, „bewusst gegen Diskriminierung und Rassismus“ (KMK 2013, S. 4) einzutreten. Rassismus kann als ein Prozess definiert werden, „in dem Menschen aufgrund tatsächlicher oder vermeintlicher körperlicher oder kultureller Merkmale (z. B. Hautfarbe, Herkunft, Sprache, Religion) als homogene Gruppen konstruiert, negativ bewertet und ausgegrenzt werden. . . . Rassismus ist die Summe aller Verhaltensweisen, Gesetze, Bestimmungen und Anschauungen, die den Prozess der Hierarchisierung und Ausgrenzung unterstützen und beruht auf ungleichen Machtverhältnissen“ (IDA o. J.). Während sich klassischer Rassismus auf angebliche biologische Unterschiede bezieht, wird kultureller Rassismus als eine weitere Form von Rassismus definiert, die Ungleichwertigkeiten mit kulturellen Aspekten begründet. Auch Sozialpsychologielehrbücher wenden sich dem Thema Rassismus zu und verwenden den Begriff „Rasse“ (s. z. B. Aronson, Wilson & Akert 2008), auf eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Begriff wird aber häufig verzichtet. Dabei handelt es sich um einen umstrittenen Begriff, der z. B. im Hinblick auf Forschungen zu Intelligenz, Gesundheit oder Genetik kontrovers diskutiert wird (Anderson & Nickerson

2005; Wandert & Ochsmann 2009). Um ein essentialistisches Verständnis und die rassifizierende Interpretation von Gruppenunterschieden auszuschließen, sollte das eigene Begriffsverständnis expliziert werden: „Rasse“ ist nicht biologisch bestimmt, sondern sozial konstruiert (American Psychological Association 2002; Heinz, Müller & Kluge 2011). Das sieht man u. a. daran, dass die Kriterien zur Einteilung von „Rassen“ einem überaus starken zeitlichen Wandel unterliegen (Brehm, Kassin & Fein 2005) und daran, dass die heute lebenden Menschen zu 99,9 % in ihren DNA-Sequenzen übereinstimmen, also alle denkbaren genetischen Unterschiede nur 1 Promille der genetischen Substanz betreffen (Kattmann 1999). Einige Autoren weisen auf die Besonderheit der Begriffsverwendung in den USA hin: Dort ist „race“ als Bezeichnung ethnischer Gruppen beispielsweise in der Politik durchaus üblich, z. B. um Zugangsbarrieren zu Bildungseinrichtungen zu erfassen. In Deutschland ist „Rasse“ allerdings historisch anders konnotiert. Begrifflich auf ethnicity bzw. „Ethnie“ auszuweichen ohne diesen Begriff zu definieren, ist nicht weniger problematisch, denn „Ethnie“ kann ebenfalls essentialistisch verstanden werden (American Psychological Association 2002). Um den Begriff „Schwarze“ zu umgehen, wird z. T. auf „dunkelhäutige Menschen“ zurückgegriffen (z. B. Fischer, Asal & Krueger 2013). Da es sich dabei nicht um eine Selbstbezeichnung handelt, wird auch dieser Begriff kritisch gesehen (Sow 2011). Organisationen wie der Verein „der braune mob“, eine Schwarze Media-Watch-Organisation, bevorzugen die Bezeichnung „Schwarze Menschen“ (Schwarz wird dabei großgeschrieben, um die konstruierte Zuordnung zu verdeutlichen), People of Color oder „Afrodeutsche“ gelten ebenfalls als angemessene Bezeichnungen (Der braune Mob n. d.). Trotz aller Problematik bleibt der Begriff „Rasse“ für die Forschung als soziale Konstruktion relevant, die Konsequenzen hat und das Erleben und Verhalten von Menschen beeinflusst, wie jede andere zugeschriebene Gruppenzugehörigkeit. Oder wie der Titel eines Artikels im American Psychologist es ausdrückt: „Race as biology is fiction, racism as a social problem is real“ (Smedley & Smedley 2005, S. 16).

6.3.4

Interkulturelle Psychologie und Erziehungswissenschaft

Innerhalb der Erziehungswissenschaft gibt es innerdisziplinäre Zugänge, die mit der Interkulturellen Psychologie z. T. ähnliche Erkenntnisinteressen sowie partiell verwandte praktische Ziele verfolgen. Es handelt sich dabei insbesondere um die Interkulturelle und die Migrationspädagogik (Gogolin & Krüger-Potratz 2016; Mecheril et al. 2010). Die Interkulturelle Psychologie nahm ihren praktischen Ausgang insbesondere bei Qualifizierungsmaßnahmen für Manager, Fachund Führungskräfte, die berufsbedingt ins Ausland entsendet

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Kapitel 6  Interkulturelles Lernen

wurden. Die Interkulturelle und Migrationspädagogik dage- Kognition, Emotion und Verhalten verorten lassen. Angegen waren von Beginn an stark auf Schulen bezogen und lehnt an die interkulturelle Kompetenzdefinition von Thomas bearbeiten intensiv den Umgang mit sprachlicher, ethnisch- (7 Abschn. 6.2) können die Wahrnehmung kultureller Einkultureller und religiöser Heterogenität in diesem Kontext. flussfaktoren bei sich und anderen, Respekt und Würdigung Anders als in der Psychologie liegen in der Erziehungswissen- der kulturellen Einflussfaktoren sowie produktives Nutzen schaft auch detaillierte historische Analysen vor. Seit einiger bzw. produktiver Umgang mit Unterschieden als grundlegenZeit richtet die Interkulturelle Psychologie ihren Fokus aber de Lernziele in interkulturellen Kontexten bezeichnet werden ebenfalls (zusätzlich) auf Bildungs- und Erziehungskontexte, (s. a. Cushner & Brislin 1997; Kinast 2005). Diese Lernziele sodass sich die unterschiedlichen Disziplinen zumindest et- werden im Folgenden mit Bezug zum schulischen Kontext erwas aneinander angenähert haben, wobei sie z. T. in einem örtert. Verhältnis wechselseitiger Kritik zueinander stehen. Die Kritik an der Interkulturellen Psychologie lässt sich etwa mit der1 Grundlegendes Lernziel 1: Wahrnehmung kultureller Auseinandersetzung um den Ansatz von Alexander Thomas Einflussfaktoren bei sich und anderen veranschaulichen, in dem mit der Reflexion kritischer Inter- Verständnis, was unter Kultur verstanden werden kann aktionssituationen gearbeitet wird und dem (nicht nur, aber Um kulturelle Einflussfaktoren wahrnehmen zu können, begerade auch) von erziehungswissenschaftlicher Seite unter darf es zunächst eines Wissens darüber, was unter Kultur anderem folgende Punkte vorgeworfen werden (vgl. den Ar- verstanden werden kann. Daher empfiehlt sich eine Be- und tikel von Thomas 2003a, in der Zeitschrift „Erwägen Wissen Erarbeitung verschiedener Kulturdefinitionen mit den SchüEthik“ und die sich hiermit kritisch auseinandersetzenden lerinnen und Schülern (z. B. Almurtada & Kehinde 2015). Beiträge am selben Ort): 4 die Verwendung eines homogenisierenden Kulturbegriffs, Selbstreflexion der Differenzen innerhalb von Kulturen vernachlässigen Darüber hinaus wird empfohlen, sich selbst zu reflektieren, würde, d. h. sich bewusst zu machen, was einem selbst wichtig ist 4 eine Vernachlässigung von Macht- und Herrschaftsstruk- und welche individuellen sowie kulturellen Wertvorstellunturen, gen damit verbunden sind (z. B. Fischer 2009). In diesem 4 eine technizistische Sichtweise auf interkulturelle Pro- Kontext und vor dem Hintergrund eines offenen und dynazesse, mischen Kulturbegriffs erscheint es sinnvoll, sich nicht nur 4 Eurozentrismus, über national- oder ethnisch-kulturelle Einflussfaktoren auf 4 Kognitivismus und das Denken, Wahrnehmen, Fühlen und Handeln bewusst zu 4 eine Reduktion interkultureller Begegnungen auf ge- werden, sondern auch andere kulturelle (etwa berufsbezoschäftliche Interaktionen. gene, familiäre oder geschlechterbezogene) Einflussfaktoren und deren Zusammenspiel – auch mit persönlichen und siAn der Interkulturellen oder Migrationspädagogik wird dem- tuativen Faktoren – zu reflektieren. Grundgedanke ist hier, gegenüber mitunter eine übermäßige normative Aufladung dass erst durch die Kenntnis „des Eigenen“ ein Verständnis ihrer Aussagen bei einem gleichzeitigen Empirie-Defizit kri- „des Fremden“ möglich wird. tisiert (s. z. B. Deuble, Konrad & Kölbl 2014). Jenseits solcher Kritik ergänzen sich beide Herangehensweisen mitunter ein- Sensibilisierung für Diversität fach, gerade durch die wechselseitige Kritik können sie aber Was für einen selbst und die eigene Umgebung „normal“ auch voneinander profitieren, indem sie ihre Herangehens- ist, ist nicht zwangsläufig auch für jeden anderen und in jeweisen profilieren und bisweilen korrigieren. dem anderen Kontext „normal“. Das fällt erst auf, wenn sich jemand für eine andere Person ungewohnt oder irritierend verhält: Eine Lehrerin, die in Deutschland mit dem Fahrrad 6.4 Interkulturelles Lernen und zur Schule fährt, mag – vor dem Hintergrund eines anderen interkulturelle Öffnung in der Schule: Hierarchieverständnisses – bei einem syrischen Geflüchteten etwa zunächst für Verwunderung oder Amüsement sorgen. Herausforderungen und Perspektiven Eine Anfahrt mit dem Auto würde in anderen kulturellen Kontexten möglicherweise eher dem Status einer Lehrperson Die Interkulturelle Psychologie verfügt auch in Bezug auf den entsprechen. Derartige Ereignisse werden – wenngleich in eischulischen Bereich mittlerweile über ein breites Repertoire nem eher weiten Sinne – als kritische Interaktionssituationen an anwendungsbezogenen Erkenntnissen. Diese stehen nun bezeichnet (Thomas 2003b, S. 474f.; 7 Abschn. 6.3.1). Dieim Vordergrund. se sorgen für Irritation und können leicht missinterpretiert werden, sind aber mit entsprechendem (kulturellen) Hintergrundwissen leicht zu erklären und zu verstehen. Es gilt 6.4.1 Lernziele, Lerninhalte und didaktische hier, nicht vorschnell personale Attributionen vorzunehmen, Methoden also das Verhalten auf die Persönlichkeit der Beteiligten zurückzuführen, sondern den Blick für situative oder kulturelle In praktischen interkulturellen Kontexten werden Lernzie- Faktoren offenzuhalten (z. B. Schroll-Machl 2007, S. 31) und le angestrebt, die sich auf den psychologischen Ebenen die Interaktionssituationen als Lernmöglichkeit zu nutzen.

115 6.4  Interkulturelles Lernen und interkulturelle Öffnung in der Schule: Herausforderungen und Perspektiven

Theoretische Konzepte zu kulturellen Unterschieden

Um die oben genannten unterschiedlichen Deutungsalternativen abwägen zu können, ist entsprechendes Hintergrundwissen sinnvoll. Im interkulturellen bzw. kulturvergleichenden Kontext haben sich zur Beschreibung und Erklärung kultureller Unterschiede insbesondere die Konzepte der Kulturstandards (Thomas 2011) sowie der Kulturdimensionen (z. B. Hofstede 2001) etabliert, wobei ersteren vor allem im deutschsprachigen Raum Aufmerksamkeit zukommt. Während Kulturdimensionen (z. B. Individualismus vs. Kollektivismus) kulturelle Unterschiede quantitativ zu messen versuchen und einen universalistischen Anspruch erheben, nehmen Kulturstandards eine kulturrelationale Perspektive ein (Straub & Layes 2002): Zentrale Aspekte einer bestimmten Kultur werden vor dem Hintergrund eines anderen kulturellen Deutungshorizontes beschrieben. So hat Alexander Thomas mit anderen in den vergangenen Jahren für über vierzig Länder Kulturstandards (oder zentrale kulturelle Themen) ermittelt, die jeweils aus kritischen Interaktionssituationen zwischen „Deutschen“ (meist Fach- und Führungskräften) und Menschen aus dem jeweiligen Zielland abgeleitet wurden (veröffentlicht in der Reihe „Beruflich in. . . “, siehe z. B. Beruflich in China: Thomas, Schenk & Heisel 2008; 7 Abschn. 6.3.1; zur Kritik 7 Abschn. 6.3.4). Die Übertragbarkeit dieses Konzepts auf schulische Kontexte in einer Migrationsgesellschaft scheint nicht ohne Weiteres möglich: Inwiefern Kulturstandards, die auf den Erfahrungen zeitweilig im Ausland tätiger deutscher Fach- und Führungskräfte basieren, auch auf Menschen mit türkischem, amerikanischem oder sonst einem Migrationshintergrund zutreffen, die bereits in der zweiten oder dritten Generation in Deutschland leben, ist fraglich. Hier bedarf es also noch weiterer, schulbezogener Forschungen. Didaktische Methoden

Um die in diesem Abschnitt dargestellten Lernziele zu fördern, gibt es zahlreiche Methoden, die im Folgenden lediglich beispielhaft dargestellt werden können. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass nicht alle Methoden gleichermaßen gut evaluiert sind: Während kognitiv orientierte Methoden wie Vorträge oder Intercultural Sensitizer relativ gut untersucht sind, werden stärker erfahrungsorientierte Methoden wie Simulationen oder Gruppenübungen weitaus seltener evaluiert (Ehnert 2004). Die Erarbeitung des Kulturbegriffs sowie die Reflexion der eigenen kulturellen (Wert-)Haltungen können in Einzelsowie Gruppenarbeiten erfolgen. Als Grundlage für die Erarbeitung des Kulturbegriffs könnten ausgewählte Kulturdefinitionen (z. B. von Hofstede oder Thomas und Straub) dienen (vgl. z. B. Almurtada & Kehinde 2015). Eine Sensibilisierung für das Erleben kultureller Differenzen und der damit einhergehenden Emotionen kann durch erfahrungsorientierte Simulationen erreicht werden, z. B. beim Kartenspiel „Farbe bekennen“ (Losche & Püttker 2009, S. 142f.). Bei diesem Kartenspiel spielen mehrere Teams an verschiedenen Tischen und zwar mit unterschiedlichen Regeln. Nach einer kurzen Einspielphase dürfen die jewei-

ligen Gewinner die Tische wechseln und kommen so mit unterschiedlichen Regelwerken („Kulturen“) in Kontakt. Zur Wissensaneignung werden häufig Intercultural Sensitizer eingesetzt (7 Abschn. 6.3.1): Dadurch sollen zum einen isomorphe Attributionen (7 Im Fokus: Eine exemplarische kritische Interaktionssituation) eingeübt und zum anderen Wissen über die jeweiligen Kulturstandards erworben werden. Werden Kulturstandards allerdings als allgemein gültige Konzepte verstanden und angewandt, so fördert dies – so die gängige Kritik – nicht unbedingt das gegenseitige Verständnis, sondern steht in der Gefahr, lediglich Stereotype zu schaffen bzw. zu festigen (7 Abschn. 6.3.4). Daher mag es sinnvoller sein, das Pferd „von hinten aufzuzäumen“: Statt Wissen „über ein anderes Land“ zu vermitteln, kann es fruchtbarer sein, an selbst erlebten Situationen anzusetzen und bei „Bedarf “ zu deren Erklärung entsprechend Kulturstandards heranzuziehen – jedoch stets unter Einbezug auch anderer Einflussfaktoren, wie z. B. Person und Situation (7 Abschn. 6.3.3). Um auch andere Faktoren, beispielsweise weitere gesellschaftlich relevante Differenzlinien (z. B. Staatsangehörigkeit, sexuelle Orientierung, sozialer Status) auf einer allgemeineren Ebene zu reflektieren, können Trainings mit „Anti-Bias“Schwerpunkt Ansatzpunkte bieten. Der Begriff „Anti-Bias“ drückt aus, dass es nicht nur darum geht, nicht voreingenommen zu sein, sondern sich aktiv und auf allen Ebenen gegen Diskriminierungen einzusetzen (Herdel 2007).

Mythos: Kultur und Konflikt „Ich hab’ zwar viel mit Leuten aus anderen Kulturen zu tun, aber so richtige Konflikte hab ich persönlich eigentlich noch nie erlebt!“ Antworten wie diese sind nicht selten, wenn Menschen – beispielsweise in interkulturellen Trainings – nach eigenen Erlebnissen gefragt werden, in denen (möglicherweise) kulturelle Unterschiede eine Rolle spielten. Da sich derartige Reaktionen und Äußerungen auch im Rahmen von Untersuchungen zur interkulturellen oder Migrationsthematik nachzeichnen lassen (z. B. Riegel 2012), steht zu vermuten, dass interkulturelle Begegnungen gemeinhin mit Konflikten oder massiven Problemen assoziiert werden. Dazu trägt neben der medialen Berichterstattung sicherlich der öffentliche Diskurs mit bei, der den Fokus auf (vermeintlich) interkulturelle Begegnungen mit Konfliktcharakter legt. Und auch psychologische Studien, die sich beispielsweise im schulischen Kontext mit Interkulturalität beschäftigen, nehmen oft kulturbedingte Konflikte in den Blick (z. B. Buchwald & Ringeisen 2007; Hesse 2001; Wagner et al. 2001). So untersucht Hesse (2001), wie in Schulklassen kulturbezogene Konflikte entstehen. Nun erscheint es zunächst wenig verwunderlich, ja vielleicht sogar sinnvoll, dass der Blick auf die problematischen Aspekte (interkultureller) Begegnungen und die daraus resultierenden Herausforderungen gerichtet wird. Schließlich sollen ja für derartige Situationen adäquate

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Kapitel 6  Interkulturelles Lernen

und nachhaltige Lösungen gefunden werden. Vor dem Thomas 2015). Als konflikthaft werden diese Situationen Hintergrund sozialpsychologischer Erkenntnisse wie nicht unbedingt erlebt. Dies gilt in der oben geschilderten Stereotypisierungen, selektiver Wahrnehmungen oder Situation auch für die deutsche Praktikantin und wohl Sich-selbst-erfüllender Prophezeiungen (7 Abschn. 6.3.3) auch für die ugandische Schülerin. Und auch wenn sich sollten die thematischen Engführungen jedoch auch kridiese Situation im weiteren Verlauf des Aufenthalts noch tisch hinterfragt werden, bestehen doch Gefahren wie die wiederholen sollte, sind daraus weder eine Auseinanderfälschliche Interpretation zwischenmenschlicher Konflikte setzung noch eine belastende Situation entstanden. Eine als interkulturelle Konflikte oder das Herbeiführen (interausführlichere Analyse dieser und ähnlicher Situationen kultureller) Konflikte durch entsprechendes bewusstes mit Hilfe elaborierter psychologischer Konflikttheorien oder unbewusstes Verhalten – um nur zwei Varianten zu belegen ebenfalls, dass es sich bei der Gleichsetzung von nennen. Wenn Lehrkräfte beispielsweise davon ausgehen, Kultur und Konflikt um einen unbegründeten Mythos dass „türkische“ Jugendliche aggressiver sind als „deuthandelt (vgl. hierzu die entsprechenden Materialien im sche“, dann reagieren sie möglicherweise bereits auf die Online-Bereich dieses Lehrbuchs). Daher gilt es in der Praxis geringsten Anzeichen aggressiven Verhaltens strenger, als wie auch in der Forschung den konfliktbehafteten Blick zu sie das im Vergleich bei „deutschen“ Schülern täten und erweitern, einerseits um der Vielschichtigkeit interkultuprovozieren oder fördern damit wiederum aggressives reller Begegnungen gerecht zu werden und andererseits Verhalten auf Seiten der „türkischen“ Jugendlichen, weil um die gängige Meinung aufzubrechen, Kultur bedeute sich diese ungerecht behandelt fühlen. Konflikt. Dies kann möglicherweise auch dazu beitragen, Hinzu kommt, dass die Ergebnisse interkultureller dass gesellschaftliche Ängste und Vorbehalte vor „dem Untersuchungen ein anderes Bild zeichnen: Interkulturelle Fremden“ relativiert werden. Beziehungen sind weitaus vielschichtiger als das allgemein vorherrschende Konfliktmodell vermuten lässt. Selbst wenn kulturelle Unterschiede erlebt werden (was beileibe nicht immer so ist), erfolgt dies in den seltensten Fällen in 1 Grundlegendes Lernziel 2: Respekt und Wertschätzung der kulturellen Einflussfaktoren Form von konflikthaften Auseinandersetzungen. Vielmehr Neben den vielfach formulierten, kognitiven oder handlungssind die Beteiligten (positiv) überrascht, verwundert, basierten Zielen interkulturellen Lernens werden Lerneffekte, amüsiert, vielleicht auch irritiert oder verunsichert, was die auf die emotionale Ebene abzielen, vergleichsweise „stiefaber nicht zwangsläufig zu Konflikten führt. Anschaulich mütterlich“ behandelt (vgl. Ehnert 2004, S. 70). Das zeigt und schulbezogen lässt sich diese Thematik an folgender sich beispielsweise daran, dass Wirkungen auf emotionaler Situation zeigen: Eine junge deutsche Frau unterrichtet Ebene oft gar nicht erst als Ziel interkultureller Trainings forim Rahmen ihres Freiwilligendienstes in einer Schule in muliert werden (z. B. Fowler & Blohm 2004). Dennoch sind Uganda. Als sie in einer ihrer ersten Unterrichtsstunden emotionale Aspekte im interkulturellen Kontext nicht mineiner Schülerin eine Frage stellt, antwortete diese zwar, der bedeutsam, nicht zuletzt deshalb, weil der „fundamentale senkt aber den Blick auf den Boden. Der erste intuitive Attributionsfehler“ (z. B. Thomas 2005b, S. 112f.) dadurch Gedanke der deutschen Praktikantin ist: „Schau mich an, verstärkt wird, dass jemand emotional aufgewühlt, verärwenn du mit mir redest.“, da für sie direkter Blickkontakt gert, verängstigt o. Ä. ist (z. B. Utler 2014). Zudem weisen in dieser Situation als Zeichen der Höflichkeit und (kulturelle) Stereotype und Vorurteile eine stärkere PersisWertschätzung gilt. Für die ugandische Schülerin wiederum tenz auf, wenn sie von entsprechenden Emotionen begleitet ist es ein Zeichen der Wertschätzung, der deutschen werden (z. B. Nazarkiewicz 2010). Daher zielen viele interkulPraktikantin eben nicht direkt in die Augen zu schauen, turelle Trainings darauf ab, „die emotionale Selbstkontrolle weil es möglicherweise konfrontativ und herausfordernd . . . zu fördern“ (Kinast 2005, S. 183), wobei die auftretenwirken könnte. In dieser Situation wollen sich also den Emotionen – je nach Kontext – von Verwunderung und beide Beteiligten höflich und wertschätzend verhalten, Überraschung, über Belustigung bis hin zu Abwertung, Frusauch wenn ihre (kulturellen) Vorstellungen darüber tration und Ärger reichen können. Interventionsmaßnahmen unterschiedlich sind, was wertschätzendes und höfliches im schulischen Kontext haben daher oft das Ziel, Lehrkräften Verhalten ausmacht. Die Situation endet – nach Bekunden Techniken zu vermitteln, mit denen sie ihre Emotionen reder deutschen Praktikantin – damit, dass sie es dabei gulieren können, wobei hier häufig Emotionen wie Stress im bewenden lässt und ihre Verwunderung und leichte Vordergrund stehen, die aus interkulturellen Konflikten reIrritation nicht anspricht. sultieren (z. B. Buchwald et al. 2008). Situationen wie diese, in denen beide Seiten bemüht Doch nicht nur die Kontrolle oder der effektive Umsind, höflich und wertschätzend miteinander umzugehen, gang mit den Emotionen, die in konkreten Interaktionen sind fast prototypisch für einen großen Teil der wissenauftreten können, scheinen bedeutsam, sondern vielmehr die schaftlich erhobenen kritischen Interaktionssituationen Herausbildung einer grundlegenden wertschätzenden Hal(vgl. die Bände der Reihe „Beruflich in“, z. B. Georg, Kölbl &

tung gegenüber kultureller Diversität (z. B. Thomas 2006). Das bedeutet zwar nicht, dass alle Unterschiede für gut be-

117 6.4  Interkulturelles Lernen und interkulturelle Öffnung in der Schule: Herausforderungen und Perspektiven

funden werden müssen (vgl. hierzu Straub et al. 2007), aber1 Grundlegendes Lernziel 3: Produktiver Umgang mit eine positive Grundhaltung, in der Diversität oder Differenz Unterschieden und Diversität im Allgemeinen nicht per se als bedrohlich, sondern als potentiell bereichernd Das erklärte Ziel „produktiv mit Unterschieden umzugewahrgenommen wird, scheint eine wichtige Basis für ein „ge- hen“ klingt zunächst einleuchtend und vielversprechend, alllingendes Miteinander“ zu sein. Es gilt also, andere Wissens- gemein gültige Handlungsleitlinien lassen sich jedoch auch und Orientierungssysteme in ihrer Logik wertzuschätzen. hier nicht festlegen, selbst wenn in den vergangenen Jahren zahlreiche Konzepte (z. B. Demorgon & Molz 1996; Thomas 2005a) entwickelt wurden, die den Umgang mit erlebten Un1 Didaktische Methoden Methoden, die ausschließlich auf den Umgang oder die Regu- terschieden im Denken oder auch im Handeln beschreiben. lation von Emotionen in interkulturellen Kontexten abzielen, Die Grundannahme dieser Konzepte ist, dass der Umgang sind eher selten. Im Zuge der Auswertung interkultureller mit Differenzen stets zwischen Anpassung an den oder die Übungen (z. B. der Übung „Farbe bekennen“) wird meist andere einerseits und Durchsetzung der eigenen Handlungsdie Reflexion von Emotionen mit empfohlen (z. B. Losche und Deutungsmuster andererseits changiert, woraus sich & Püttker 2009); die Übungen selbst behandeln Emotionen Strategien ableiten lassen, z. B. Dominanz, Assimilation, Diaber nicht vordergründig oder ausschließlich. Es scheint die vergenz und Synthese. Ein kulturell dominantes Verhalten implizite Vermutung vorzuherrschen, dass sich das Errei- würde bedeuten, dass eine Person auf ihrer eigenen Herchen kognitiver Lernziele (beispielsweise einer isomorphen angehensweise beharrt und von ihrem Gegenüber erwartet, Attribution beim Intercultural Sensitizer) auch positiv auf die dass sich dieses anpasst bzw. assimiliert. Bei einer Synthese Emotionsregulation auswirkt. Lediglich vereinzelt befassen wiederum werden die kulturellen Systeme für alle Beteiligsich wissenschaftliche Beiträge explizit mit der Frage nach ten gewinnbringend verknüpft. Vergleichbare Typisierungen der Emotionsregulation, wobei die Empfehlungen inhaltlich existieren auch speziell für Migrationskontexte (vgl. Berry wie in ihrer theoretischen Fundierung stark variieren. Buch- 2001). Gemeinsam ist diesen Konzepten die teils empirisch wald und Ringeisen (2007) entwickeln etwa ein theoretisch bestätigte Annahme (Ward, Bochner & Furnham 2001), dass ausgefeiltes Modell multiaxialen Copings, das aus drei Ach- eine Synthese bzw. Integration der beteiligten kulturellen Orisen besteht: aktiv-passives Coping, soziale Bewältigung (mit entierungssysteme am besten ist, da diese Orientierung zu den Polen prosozial und antisozial) und der Achse direk- Wohlbefinden und Gesundheit beiträgt. Wie jedoch diese Strategien oder Orientierungen konkret tes und indirektes Coping, die kulturelle Unterschiede in der Konfliktlösung beschreiben soll. Daraus werden insgesamt aussehen können, also wie beispielsweise eine „Integrationsneun Bewältigungsstrategien abgeleitet, wie selbstbehaupten- orientierung“ etwa im Fall der oben erwähnten hungrigen des Verhalten, vorsichtiges Handeln oder Suche nach Unter- Austauschschülerin Marika aussehen könnte, darüber lassen stützung. Diese theoretisch postulierten Strategien ließen sich sich aus den Konzepten keine Aussagen ableiten. Fragt die in einer Interviewstudie auch empirisch bestätigen (ebd.). In Mutter zweimal statt nur einmal nach und nimmt Marika der Untersuchung wurden die Lehrkräfte zudem gebeten, die das Angebot bereits nach zweimal Nachfragen an, obwohl sie Wirksamkeit dieser Strategien einzuschätzen, mit dem Ziel, normalerweise noch länger abwarten würde? Aus Perspektive der Migrationspädagogik steht die Fradas Modell auch zur Schulung von Lehrkräften einsetzen zu können. Nach Kenntnis der Autoren steht eine derartige Ver- ge im Mittelpunkt, wann Differenzen im Bildungssystem überhaupt thematisiert werden sollten. Werden Differenzen wendung allerdings noch aus. Ähnlich gestaltet es sich mit der grundlegenderen Frage, betont, können Unterschiede möglicherweise festgeschriewie jemand eine generelle wertschätzende Haltung ausbilden ben werden. Andererseits muss man im Hinblick auf Bebzw. wie diese gefördert werden kann. Auch hierzu gibt es nachteiligungen Unterschiede thematisieren, um gegen sie bislang kaum Forschungsergebnisse. Allerdings ist anzuneh- anzugehen (Mecheril & Klinger 2010). Anders formuliert: men, dass bestimmte Handlungen zumindest Wertschätzung „Sowohl Formen der schulinternen Ungleichbehandlung als transportieren können, wobei es auch hier kein „Patentre- auch Formen der Gleichbehandlung können sich im Effekt als zept“ dafür gibt, wer wann welche Handlung als wertschät- Benachteiligung von Migrationsanderen auswirken“ (Dirim zend erlebt. So fühlte sich in einer Studie, die Differenzerfah- & Mecheril 2010, S. 132f.). Geht Schule ausschließlich von rungen bei Jugendlichen untersuchte, ein (türkischstämmi- der „Normalbiographie eines Mittelschichtsschülers aus einer ger) Jugendlicher dadurch wertgeschätzt, dass der bayerische einsprachig deutschen Familie“ (Karakaşoğlu 2012, S. 97) aus, Staat Einheiten zum Islam mit in den Lehrplan aufgenom- haben beispielsweise Schülerinnen und Schüler mit geringemen hat und er im Zuge dessen Moscheeführungen für seine ren Deutschkenntnissen schlechtere Chancen. Abschließend Mitschülerinnen und Mitschüler machen durfte, für die er kann festgehalten werden, dass für den Umgang mit Differenz eigens eine Zusatzqualifikation erwarb (Utler 2014). Im ge- eine besondere Sensibilität bzw. Reflexivität gefordert wird. nannten Beispiel transportierte sich also die Wertschätzung über die Wertschätzung des Glaubens – aber eben nur für1 Didaktische Methoden einen gläubigen Jugendlichen. Allgemeiner gesagt entspringt Die Grundlage für einen produktiven Umgang mit kultureller das Gefühl der Wertschätzung offenbar aus einer Wertschät- Diversität (oder Differenz) bildet eine eingehende Reflexion zung dessen, was den Jugendlichen wichtig ist. konkreter (potentiell) kulturell bedingter Interaktionssitua-

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Kapitel 6  Interkulturelles Lernen

Kritische Interaktionssituation (KI) Metakontextualisierung

Reflexion der Handlungsfolgen

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Generierung multipler Handlungsperspektiven

Eigene Interpretation des Handlungsgeschehens

Generierung multipler Interpretationsperspektiven

Reflexion der Interpretationsperspektiven

. Abb. 6.2 Intercultural Anchored Inquiry (Kammhuber 2000, S. 111)

tionen. Eine derartige Auseinandersetzung kann angeleitet 6.4.2 Lernkontexte und Lernformate durch interkulturelle Lernzirkel oder auch die Intercultural Anchored Inquiry erfolgen (. Abb. 6.2): In den vorangehenden Abschnitten ist von konkreten didakDen Ausgangspunkt der Intercultural Anchored Inquiry tischen Möglichkeiten der Förderung die Rede gewesen. Im bildet eine kritische Interaktionssituation, die nach Möglich- Folgenden werden mit der Darstellung übergreifender Lernkeit aus dem jeweiligen Kontext, also hier aus dem schuli- kontexte und Lernformate solche Möglichkeiten noch auf schen, stammen sollte. Darauf folgen Überlegungen dazu, wie einer allgemeineren Ebene erörtert. der oder die Einzelne die Situation interpretiert. Im nächsten Schritt werden diese Interpretationen erweitert, beispielswei-1 Lernkontexte se indem Mitschülerinnen und Mitschüler oder Kolleginnen Im Lernfeld Schule gibt es viele Kontexte, in denen interund Kollegen nach ihren Interpretationen gefragt werden. kulturelles Lernen erfolgen und gefördert werden kann. Drei Wichtig ist in diesen ersten beiden Schritten, dass möglichst bedeutsame und mit Blick auf interkulturelles Lernen zum viele verschiedene Perspektiven gesammelt werden, die je- Teil gut erforschte Kontexte sind Schüleraustausch, Projektdoch noch nicht bewertet werden. Erst im Rahmen der Refle- tage, aber auch der „alltägliche Schulbetrieb“. xion der Interpretationsperspektiven erfolgt eine Abwägung: Schüleraustauschprogramme werden im deutschsprachiWas spricht für die jeweiligen Interpretationen, was dagegen? gen Raum schon seit den 1950/60er-Jahren erforscht (vgl. In dieser Phase empfiehlt es sich auch, passende theoretische Dadder 1988; Thomas 1989). Dabei beziehen die durchgeKonzepte hinzuzuziehen. Nachdem ein tieferes Verständnis führten Studien zum Schüleraustausch schon seit ihren Ander Situation erreicht wurde, können Überlegungen dazu an- fängen häufig Jugendaustauschprogramme mit ein, die in gestellt werden, wie mit der Situation umgegangen werden non-formalen Kontexten stattfinden. Aus den zahlreichen sollte: Auch hier werden zunächst zahlreiche Perspektiven Studien lässt sich folgern, dass interkulturelles Lernen im generiert, die dann abgewogen werden. Um kein rein kon- Schüleraustausch vor allem dann erfolgreich ist, wenn eine textgebundenes Wissen aufzubauen, empfiehlt es sich zudem angemessene Vor- und Nachbereitung erfolgt und wenn es weitere (ähnlich strukturierte) kritische Interaktionssituatio- während des Austauschs Raum für das Erleben und Refleknen zu erarbeiten. Im Berufsalltag können dazu Supervision tieren von Diskrepanzen gibt (Thomas, Chang & Abt 2007). und kollegialer Fallaustausch mit Kolleginnen und Kollegen Im Fokus: Erlebnisse, die verändern (Debo & Stengel 2006) hilfreich sein. Abgesehen von dieser konkreten Methode, die sich auf Internationale Jugendaustauschprogramme (z. B. Schüdie Erarbeitung von Handlungsstrategien für Interaktionssileraustausch mit Unterkunft in Gastfamilien) werden von tuationen bezieht, wird auch die allgemeinere Frage aufgeden Teilnehmenden und den Organisationen, die sie worfen, wie Lehrkräfte in ihrer Schulklasse mit Heterogenität veranstalten, zumeist als horizonterweiternd und persönso umgehen können, dass es für alle Beteiligten ein positives lichkeitsbereichernd beschrieben. Die Studie „Erlebnisse, Erlebnis wird. Diversität oder wahrgenommene Andersheit die verändern“ (Thomas et al., 2007; s. a. Thomas, 2007, werden häufig sanktioniert. Dafür gibt es viele Gründe, z. B. S. 662–666) verfolgte vor diesem Hintergrund das Anliegen, Befürchtungen, dass die Gruppe sonst gefährdet wird. Daein empirisch fundiertes differenzierteres Bild von der her gilt es, gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern Langzeitwirkung solcher Austauschprogramme zu gewinWege zu entwickeln, um produktiv damit umzugehen und nen. Als theoretischer Rahmen diente insbesondere die Diskriminierungen zu verhindern. Im Unterricht selbst sind Cognitive-Experiential Self-Theory von Epstein (2002). verschiedene Herangehensweisen denkbar, hier gibt ein Blick in entsprechende Handreichungen Anregungen (KMK 2013; 7 Abschn. 6.4.2).

119 6.4  Interkulturelles Lernen und interkulturelle Öffnung in der Schule: Herausforderungen und Perspektiven

ein Einwanderungsland ist, durchgesetzt, was zum Teil auch Methodisch umfasste die Studie Expertenbefragungen zu entsprechenden psychologischen Untersuchungen geführt (N D 17), Leitfadeninterviews mit ausländischen (N D 40) hat (z. B. Bender-Szymanski & Hesse 1993). Allerdings wurund deutschen (N D 93) Teilnehmern von Jugendausden die beiden Lernkontexte Schüleraustausch und intertauschprogrammen sowie Fragebogenerhebungen bei kulturelles Lernen im Klassenzimmer anfänglich nur wenig ehemaligen deutschen Teilnehmern (N D 532), die auf den verknüpft. Erst in den vergangenen Jahren nahm die ErkenntErgebnissen der Interviews basierten. Die Befragten waren nis zu, dass beide Kontexte voneinander profitieren können; zum Zeitpunkt des Jugendaustauschs im Durchschnitt 17 beispielsweise indem interkulturelle Fähigkeiten, die im RahJahre alt und zum Zeitpunkt der Befragung 27 Jahre alt, es men heterogener Klassen entwickelt wurden, für den Schühandelte sich also um eine retrospektive Untersuchung. leraustausch reflektiert und eingesetzt werden. Nicht zuletzt Zu den Ergebnissen gehört die Herausarbeitung von vier deshalb gibt es in der psychologischen Forschung sowie in Verläufen im Hinblick auf die biografische Integration der den Nachbardisziplinen Bemühungen, die beiden Bereiche während der Auslandsaufenthalte gemachten Erlebnisse: und die darin entstandenen Erkenntnisse stärker miteinan4 Mosaik-Effekt (51 % der Befragten): Die Austauschder zu verschränken und aufeinander zu beziehen (z. B. IJAB erfahrungen fügen sich wie Mosaiksteine in die 2012). Gesamtbiografie ein. Dabei steht der Austausch Neben Schüleraustauschprogrammen, die außerhalb des in einem biografischen Kontinuum, verstärkt und regulären Schulbetriebs stattfinden, und interkulturellem bereichert schon vor diesem Ereignis vorliegende Lernen im „Schulalltag“ kann noch ein weiterer Bereich, Interessen, wie etwa das Interesse an bestimmten nämlich Projekttage, ausgemacht werden. Durch ihren EventLändern oder an gemeinnütziger Arbeit. charakter eignen sich Projekttage gut als Impulsgeber oder 4 Domino-Effekt (31 % der Befragten): Der Austausch Auftakt für interkulturelles Lernen und damit als Ergänzung stellt einen wichtigen Anstoß für neue Erkenntnisse und zu den anderen bisher genannten Lernkontexten. Darüber Einsichten dar und verschiebt die Bezugsysteme der hinaus können sie zur interkulturellen Öffnung der Schule Befragten zur Bewertung von Personen, Sachverhalten beitragen. und Verhaltensweisen insbesondere im sozialen Bereich. 4 Nice-to-have-Effekt (12 % der Befragten): Die Befragten 1 Lernformate möchten die Austauscherfahrungen zwar nicht missen Angesichts dieser verschiedenen Lernkontexte ist auch der und bewerten sie auch als positiv, schreiben ihnen aber Einsatz verschiedener Lehr-/Lernformate empfehlenswert, keine große Prägekraft für den weiteren Lebensweg zu. wobei in der interkulturellen psychologischen Forschung und 4 Wendepunkteffekt (7 % der Befragten): Dieser Effekt Praxis ein Format am häufigsten eingesetzt und am besten ist derjenige Effekt, der den weiteren biografischen untersucht wird und wurde: das interkulturelle Training (z. B. Verlauf der Befragten am stärksten verändert. Der Landis, Bennett & Bennett 2004). Interkulturelle Trainings Austausch bedeutet hier nämlich für die Befragten den und deren Bausteine können danach aufgeteilt werden, ob sie Beginn einer biografischen Richtungsänderung, die eher informationsorientiert sind, also hauptsächlich Wissen markante Veränderung von Selbst- und Weltbild und vermitteln, oder ob sie eher erfahrungsorientiert sind und am das Ausbrechen aus eingefahrenen Strukturen. persönlichen Erleben ansetzen (vgl. z. B. Gudykunst & HamFerner wurden mit Hilfe von Faktorenanalysen Zusammer 1983). Manche Bausteine sind kulturspezifisch gestaltet, menhänge zwischen den Langzeitwirkungsbereichen (als beschäftigen sich also auch mit einem ganz bestimmten „Kulsolche wurden z. B. interkulturelles Lernen, Flexibilität, turraum“, manche sind kulturallgemein und thematisieren Fremdsprachenkenntnisse und berufliche Entwicklung grundlegende Aspekte. Anhand von kritischen Interaktionsunterschieden) einerseits und Teilnehmervariablen (z. B. situationen kann man sich z. B. Wissen über die KulturstanAlter und Geschlecht) sowie Programmformaten (z. B. Schüdards einer bestimmten Kultur erarbeiten, in Übungen mit leraustausch und multinationales Workcamp) andererseits Fantasiekulturen mit ungewöhnlichen Kommunikationsreuntersucht. Dabei ergab sich u. a., dass das Geschlecht eine geln können Irritationen erlebbar gemacht werden. Je nachweniger große Rolle spielte als angenommen und dass dem wie das Training gestaltet ist, besteht auch hier die Gealle Austauschformen die Persönlichkeitsentwicklung im fahr, dass der Fokus sehr einseitig auf kulturelle Erklärungen Hinblick auf die Förderung selbstbezogener Eigenschaften für schwierige Situationen gelegt wird und Stereotype verund Kompetenzen unterstützt hatten. festigt statt abgebaut werden (vgl. z. B. Mecheril et al. 2010). Es wäre von Interesse zu prüfen, inwiefern auch prospektiv Wenn daher kritische Interaktionssituationen behandelt werangelegte Längsschnittanalysen die referierten Befunde den, empfiehlt es sich darauf zu achten, dass die Auswertung bestätigen könnten. stets das Zusammenspiel der vielfältigen kulturellen, persön-

Neben Schüleraustauschprogrammen kann interkulturelles Lernen auch innerhalb des „regulären Schulbetriebs“ erfolgen bzw. gefördert werden – diese Erkenntnis hat sich im Zuge des zunehmenden Bewusstseins, dass Deutschland

lichen wie situativen Wirkfaktoren berücksichtigt (z. B. Utler 2015). Dabei ist es ratsam, die Übungen und die Auswertung von erfahrenen Trainern durchführen zu lassen, die über fundiertes fachliches Wissen verfügen. Zudem erscheint auch eine Einbindung von Trainingsbausteinen aus Diversity-, AntiBias Trainings oder Anti-Rassismus-Trainings sinnvoll, da

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Kapitel 6  Interkulturelles Lernen

diese Ansätze Benachteiligungen und Diskriminierungen in den Blick nehmen (Leenen 2007). Das – angesichts seiner Verbreitung etwas ausführlicher dargestellte – Lernformat „interkulturelles Training“ stellt eine punktuelle, zeitlich auf ein bis mehrere Tage begrenzte Maßnahme dar. Zwar wurde die Wirksamkeit interkultureller Trainings vielfach erforscht und in zentralen Aspekten bestätigt (vgl. dazu Mendenhall et al. 2004; Ehnert 2004), allerdings werden nur selten Aussagen über die längerfristige Wirksamkeit dieses Formats getroffen. Daher sei hier auch auf Lernformate hingewiesen, die (zumindest) in ihrem zeitlichen Umfang weiter angelegt sind, weil sie aufgrund ihrer Stundenzahl (fast) schon Ausbildungscharakter haben (Black & Mendenhall 1991). Derartige, interkulturell ausgerichtete Formate werden auch zunehmend für Lehramtsstudierende angeboten, meist im Rahmen einer (interdisziplinären) Zusatzausbildung oder auch als Aufbaustudium. Während Trainingsformate primär darauf ausgelegt sind, den Teilnehmenden Werkzeuge zum Umgang mit selbst erlebten interkulturellen Situationen an die Hand zu geben, gehen Ausbildungen einen Schritt weiter: Hier werden Multiplikatorinnen und Multiplikatoren ausgebildet, die das erworbene Wissen in die Schule tragen und dort auch institutionell verankern können. Die theoretischen Fundierungen und inhaltlichen Ausrichtungen variieren jedoch zum Teil erheblich. Mit Blick auf eine nachhaltige Etablierung interkulturellen Lernens bei Schülerinnen und Schülern stellt der Unterricht eines der wichtigsten Lernformate dar. Für den Unterrichtsalltag sollen hier einige Anregungen referiert werden, in welchen Bereichen Lehrkräfte aktiv werden können: Auf das Gruppenpuzzle als Arbeitsmethode im Unterricht, um Vorurteile abzubauen, wurde bereits hingewiesen (7 Abschn. 6.3.3). Weitere Konkretisierungen finden sich in Handreichungen (z. B. KMK 2013), auf die sich die nachfolgenden exemplarischen Ausführungen beziehen: „Schule nimmt Vielfalt zugleich als Normalität und als Potenzial für alle wahr“ (KMK 2013, S. 3) ist der Grundtenor dieser Publikationen. Im Fachunterricht kann beispielsweise darauf geachtet werden, Fachwörter zu erklären und schriftliche Aufgaben einfach und verständlich zu formulieren, um Nicht-Muttersprachlern oder Kindern aus „bildungsfernen Milieus“ möglichst gleiche Chancen bei der Bearbeitung zu geben. Die individuellen Hintergründe können als Ressource genutzt, die Herkunftssprachen der Schülerinnen und Schüler wertschätzend eingebunden werden, beispielsweise durch mehrsprachig gestaltete Plakate. Ganz allgemein wird eine multiperspektivische, differenzierte Herangehensweise an Unterrichtsthemen nahegelegt, unabhängig von der Zusammensetzung der Klasse. Damit sollen eurozentrische Perspektiven aufgebrochen und reflektiert werden; Menschen sollen in ihrer Unterschiedlichkeit und mit ihrer eigenen Stimme zu Wort kommen. Nahegelegt wird eine differenziertere Betrachtungsweise, in der z. B. Länder auf dem afrikanischen Kontinent nicht ausschließlich in den Kontexten Hunger oder Krieg verortet werden oder Migration nicht nur als Problem und Herausforderung dargestellt wird (Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge

und Integration 2015). Konkrete Anregungen und alternative Materialien finden sich u. a. im Internet (7 www.bpb.de; 7 www.zwischentoene.info). Ob entsprechende Lernarrangements von den Schülerinnen und Schülern als positiv erlebt werden und zielführend sind, bleibt jedoch empirisch noch zu klären. Im Fokus: Das Prinzip Interkulturelles Frühstück

Einen naheliegenden Versuch, interkulturelles Lernen bei Schülerinnen und Schülern zu fördern, stellt die zumeist in bester pädagogischer Absicht verfolgte Idee dar, diejenigen Schülerinnen und Schüler, die einen „Migrationshintergrund“ haben, darum zu bitten, etwas „aus ihrer Heimat“ in die Schule mitzubringen. Das sind im Zusammenhang mit schulischen Festen oder Projekttagen häufig „landestypische“ Speisen, etwa im Rahmen eines „interkulturellen Frühstücks“. Bei dem, was man das Prinzip Interkulturelles Frühstück nennen könnte (Deuble, Konrad & Kölbl 2014), kann es sich aber auch um spezifische Wissensbestände handeln, etwa in Gestalt von Referaten zu Themen aus den jeweiligen „Herkunftskulturen“. Wesentlich ist, dass Schülerinnen und Schüler „mit Migrationshintergrund“ als „Vertreter ihrer (Herkunfts-)Kultur“, als Experten für diese Kultur angesprochen werden und zwar unabhängig davon, ob sie tatsächlich etwas über diese Kultur wissen und auch unabhängig davon, ob das tatsächlich „ihre“ Kultur ist. Die Attribution, es handle sich bei einem bestimmten Schüler um einen Vertreter einer bestimmten Herkunftskultur kann sich vergleichsweise unreflektiert vollziehen, ein „ungewöhnlicher“ Name mag dafür schon ausreichend sein. Dieses Prinzip, das keine didaktische Methode im engeren Sinne, sondern eine Praxis darstellt, die sich in pädagogischen Kontexten einer gewissen Beliebtheit erfreut, ist in der Erziehungswissenschaft massiv kritisiert worden, da es mehr Schaden anrichten als Nutzen erbringen würde (Kalpaka & Mecheril 2010). Dabei sind vor dem Hintergrund von Unterrichtsbeobachtungen und normativen Überlegungen unterschiedliche Gefahren postuliert worden: 4 Die Gefahr kulturalistischer Reduktionen 4 Die Gefahr der Reproduktion von Stereotypen 4 Die Gefahr der Homogenisierung kultureller Vielfalt 4 Die Gefahr der Exklusion und Exotisierung der Schüler 4 Die Gefahr der Unterwerfung unter kulturalistische Fremdzuschreibungen Unter bestimmten Bedingungen kann das Prinzip aber wohl auch sinnvoll eingesetzt werden, etwa dann, wenn ein „Expertenstatus“ aufgrund eines „Migrationshintergrunds“ ermöglicht, aber nicht erzwungen wird. So berichtet eine Geschichtslehrkraft davon, eine Unterrichtseinheit „Motive zur Migration“ unter anderem so gestaltet zu haben, dass die Schülerinnen und Schüler Interviews führen sollten, um eben solche Motive zur Migration herauszuarbeiten. Dabei verzichtete die Lehrkraft bewusst darauf, die Schülerinnen und Schüler „mit Migrationshintergrund“ gezielt darauf zu verpflichten, ihre „Familiengeschichte“ zum Gegenstand

121 6.4  Interkulturelles Lernen und interkulturelle Öffnung in der Schule: Herausforderungen und Perspektiven

des Unterrichts zu machen. Dies geschah zwar dann häufig und mit ansprechenden Resultaten, aber eben nicht erzwungenermaßen. Darüber hinaus vermied die Lehrkraft eine „Besonderung“ der Jugendlichen mit Migrationshintergrund auch noch insofern, als alle Schülerinnen und Schüler der Klasse aufgefordert waren, etwas zum Thema beizutragen (Deuble, Konrad & Kölbl 2014, S. 29f.). Freilich ist die empirische Basis im Hinblick auf unterschiedliche pädagogisch-psychologische Ausgestaltungen und Konsequenzen des Prinzips Interkulturelles Frühstück insgesamt noch sehr schmal (für empirische Analysen im Kontext des Geschichtsunterrichts vgl. ebd.).

6.4.3

Interkulturelle Öffnung

Zusammenfassung Dieses Kapitel befasste sich mit den theoretischen Grundlagen interkulturellen Lernens sowie mit den Bezügen, die die Interkulturelle Psychologie zu unterschiedlichen psychologischen Teildisziplinen und einschlägigen erziehungswissenschaftlichen Diskursen aufweist. Davon ausgehend wurde aufgezeigt, wie interkulturelles Lernen im schulischen Kontext umgesetzt werden kann. Basierend auf der Annahme, dass Kulturen Orientierungssysteme darstellen, die nicht auf Nationen beschränkt und zudem dynamisch (also veränderbar) und offen sind, ist das erklärte Ziel interkulturellen Lernens die Herausbildung interkultureller Kompetenz. Um jedoch Kulturalisierungen zu vermeiden, sind auch Bezüge zur sozialpsychologischen Forschung notwendig. In heterogenen Gruppen lassen sich nämlich nicht alle Ereignisse auf kulturelle Einflussfaktoren zurückführen, vielmehr können auch Vorurteile oder Stereotype eine Rolle spielen. Die Umsetzung interkulturellen Lernens in der Schule kann auf vielerlei Arten erfolgen und auf den Ebenen Kognition, Emotion und Handlung ansetzen. Dafür können verschiedene Formate wie punktuelle (z. B. interkulturelle Trainings), aber auch zeitlich längerfristig angelegte Formen (z. B. Unterricht) integriert und die in der Schule verfügbaren Kontexte wie Lernen innerhalb sowie außerhalb (z. B. Schüleraustausch) des schulischen Alltagsrahmens genutzt werden. Ansätze interkulturellen Lernens in der Schule zielen darauf ab, dass „Vielfalt zugleich als Normalität und als Potenzial für alle“ wahrgenommen wird. Um dies zu gewährleisten, wird an der Etablierung interkulturellen Lernens im Rahmen einer übergeordneten „interkulturellen Öffnung“ der Schule gearbeitet, die nicht allein auf individueller Ebene ansetzt, sondern eine globalere Herangehensweise wählt und damit auch dazu beizutragen versucht, verschiedene Anstrengungen auf dem Weg zu einer Diversitätssensibilität zu bündeln und zu koordinieren.

Interkulturelle Öffnung kann definiert werden „als ein bewusst gestalteter Prozess, der (selbst-)reflexive Lern- und Veränderungsprozesse von und zwischen unterschiedlichen Menschen, Lebensweisen und Organisationsformen ermöglicht, wodurch Zugangsbarrieren und Abgrenzungsmechanismen in den zu öffnenden Organisationen abgebaut werden und Anerkennung möglich wird“ (Schröer 2007, S. 83). Interkulturelle Öffnung wird also als Organisationsentwicklung verstanden. Konzepte hierzu wurden seit Mitte der 1990erJahre entwickelt und beispielsweise in Verwaltungen und sozialen Diensten seit mehreren Jahren etabliert. Im schulischen Bereich steht die Umsetzung in die Praxis noch am Anfang (Griese & Marburger 2012). Konkrete Maßnahmen zur Interkulturellen Öffnung siedelt Karakaşoğlu (2012) auf vier zentralen Handlungsebenen an, auf einer personalen, inhaltlichen, strukturellen sowie sozialen Ebene. Neben der Ausbildung der Lehrkräfte und der inhaltlichen Gestaltung von Unterricht werden hier ergänzend auch die Zusammensetzung des Fachpersonals und eine Öffnung auch auf dieser Ebene angesprochen. Ein weiteres Element auf der sozialen Ebene bilden z. B. interkulturelle Elternarbeit, mehrsprachiges Informationsmaterial, die Berücksichtigung unterschiedlicher Vorerfahrungen mit dem Schulsystem und die Schaf- Verständnisfragen fung von Mitbestimmungsmöglichkeiten. Im Hinblick auf strukturelle, schulorganisatorische Faktoren wird die Rolle ?1. Warum ist interkulturelles Lernen ein wichtiges Thema der Schulleitung hervorgehoben, interkulturelle Öffnung als für Lehrkräfte? Leitungsaufgabe mit zentraler Bedeutung für die Schul- und 2. Worauf macht ein moderner Kulturbegriff aufmerksam? Personalentwicklung betont. Hier schließt sich der Kreis zu 3. Was ist das Spezifikum interkulturellen Lernens? bereits in der Einleitung genannten Aspekten interkultureller 4. Stellen Sie Milton Bennetts Modell interkulturellen Bildung, die von der Kultusministerkonferenz hervorgehoLernens dar und problematisieren Sie es! ben wurden: Es handelt sich um eine „Querschnittsaufgabe 5. Welche Instrumente zur Diagnose interkultureller von Schule“ (KMK 2013, S. 2) mit dem Grundsatz, „VielKompetenz eignen sich für den schulischen Kontext? falt zugleich als Normalität und als Potenzial für alle“ (KMK 6. Greifen Sie eine Möglichkeit der Förderung inter2013, S. 3) wahrzunehmen. kulturellen Lernens bei Schülerinnen und Schülern

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Kapitel 6  Interkulturelles Lernen

heraus und diskutieren Sie ihre potentiellen Vor- und Nachteile! 7. Inwiefern können Trainings die interkulturelle Kompetenz von Lehrkräften fördern? Wo sind ihre Grenzen? 8. Was ist unter einem „interkulturellen Frühstück“ zu verstehen? Mit welchen Gefahren können derartige Veranstaltungen einhergehen und wie kann diesen begegnet werden? 9. Im Schulalltag ist es problematisch, überall „Kultur“ als Ursache anzunehmen, aber auch „Kultur“ überall auszuklammern. Warum?

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Kapitel 6  Interkulturelles Lernen

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125

Informelles Lernen Doris Lewalter und Katrin Neubauer

7.1

Relevanz des informellen Lernens – 126

7.2

Begriffsentwicklung, definitorische Zugänge und Abgrenzung des informellen Lernens – 126

7.2.1 7.2.2

Begriffsentwicklung des informellen Lernens – 126 Definition und Abgrenzung des informellen Lernens – 126

7.3

Kontexte informellen Lernens im Kindes- und Jugendalter – 129

7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.3.4

Informelles Lernen in der Familie – 129 Informelles Lernen in der Gleichaltrigengruppe (Peers) – 131 Informelles Lernen mit digitalen Medien und Fernsehen – 133 Institutionelle informelle Lernumgebungen am Beispiel Museum – 134

7.4

Beziehung formales und informelles Lernen in der Schule – 136

7.5

Forschungsmethodische Zugänge zum informellen Lernen – 138 Verständnisfragen – 139 Literatur – 139

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Urhahne, M. Dresel, F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9_7

7

126

Relevanz des informellen Lernens

diesen und damit verbunden eine intensive Beachtung des informellen Lernens feststellen. Bevor auf zentrale Bereiche des informellen Lernens im Der Prozess des Lernens spielt eine zentrale Rolle in un- Kindes- und Jugendalter genauer eingegangen wird, soll ein serem Leben. Er findet in vielfältigen Kontexten und sehr kurzer Abriss der Begriffsentwicklung und der definitoriunterschiedlichen Situationen statt – sowohl gezielt als auch schen Vielfalt wesentliche Diskussionsstränge aufzeigen. beiläufig und zufällig, bewusst aber auch unbewusst. Dohmen (2001, S. 7) zeigt mit der pointierten Formulierung „Alle Menschen lernen – bewusst oder unbewusst – ihr Leben 7.2 Begriffsentwicklung, definitorische lang“ auf, dass es u. a. angesichts der in unserer WissensgeZugänge und Abgrenzung des sellschaft immer wieder formulierten Notwendigkeit des „leinformellen Lernens benslangen Lernens aller“ ausschlaggebend ist, alle Formen des Lernens in Betracht zu ziehen und deren wechselseitige Verzahnung anzustreben. Denn die sich rasant entwickelnde 7.2.1 Begriffsentwicklung des informellen Wissens- und Informationsgesellschaft fordert eine ständiLernens ge Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung des eigenen Wissens, welches heute als eine der wichtigsten gesellschaftlichen Ressourcen angesehen wird (Düx & Sass 2005). Die Obwohl die Verwendung des Begriffs des informellen LerAufgabe der Vermittlung des hierfür notwendigen, sich stän- nens in der deutschen Bildungsdiskussion relativ neu ist – erst dig weiterentwickelnden Wissens kann nicht (mehr) alleine Ende der 1990er Jahre wurden Forschungsergebnisse aus dem von den dafür vorgesehenen formalen Bildungsinstitutio- englischsprachigen Kontext für Belange der deutschen Ernen (Schule, Universität, Institutionen der beruflichen Aus- wachsenenbildung herangezogen (Dohmen 1996; Overwien und Weiterbildung) getragen werden, zumal diese überwie- 2016) – hat die internationale Diskussion zum informellen gend auf bestimmte Lebensphasen (Kindheit, Jugend, frühes Lernen bzw. zur informellen Bildung bereits eine relativ lange Erwachsenenalter) fokussiert sind und so eine kontinuier- Entwicklungsgeschichte durchlaufen. Diese Entwicklungsgeliche, lebenslange Wissens- bzw. Kompetenzaneignung nur schichte wird in . Tab. 7.1 kurz vorgestellt. In Deutschland kam die internationale Diskussion zum begrenzt unterstützen können. Es ist zunehmend notweninformellen Lernen zwar bereits in den 1980er Jahren an, hatdig, sich auch mit Lernprozessen außerhalb geplant didakte aber zunächst keine tiefergehenden Auswirkungen (Overtisch aufbereiteter Situationen auseinanderzusetzen (Hunwien 2016). Eine systematische Aufnahme und Weiterentgerland & Overwien 2004). Damit ist das informelle Lernen wicklung der international gebräuchlich gewordenen Begriffangesprochen, welches selbstgesteuerte, bewusst oder auch lichkeit, die Rezeption entsprechender Theoriedebatten und unbewusst ablaufende, beiläufige oder gezielte Lernprozesdie Diskussion von Forschungsergebnissen beginnt hier erst se außerhalb formaler Bildungskontexte beschreibt. Hierbei Ende der 90er Jahre (vgl. Overwien 2006a 2006b). Seitdem stellen das informelle und formale Lernen jedoch keine Gehaben der Begriff und die Thematik eine steile Karriere gegensätze dar, sondern sollten als gegenseitige Ergänzungen, macht (Rohs 2016). Aufgrund der in der „WissensgesellErweiterungen und Anregungen genutzt werden (vgl. Euroschaft“ notwendig gewordenen neuen und flexiblen Lernweipäische Kommission 2001). Aber nicht nur im Erwachsenenalter, sondern auch im sen stellen die Definition und Erfassung bzw. Anerkennung Kindes- und Jugendalter findet ein hoher Anteil der Lernpro- des informellen Lernens auch in der deutschen Bildungspozesse außerhalb formaler Bildungseinrichtungen statt. Den- litik zentrale Diskussionspunkte dar (vgl. Overwien 2005). noch wurde dem informellen und non-formalen Lernen auch Ebenso hat der Begriff Einzug in die Bildungsdebatte im Konim Kontext der schulischen Bildung lange Zeit wenig Be- text von Kindheit und Jugend gehalten, wie 7 Abschn. 7.3 achtung geschenkt (Rauschenbach, Düx & Sass 2006). Rau- zeigen wird. schenbach (2007) nennt als möglichen Grund dafür die Kontextgebundenheit von Bildungsdebatten in Deutschland. So kennen wir zum Beispiel die Bildungsdiskussionen über die Gestaltung der frühen Förderung im Kontext von Krippen 7.2.2 Definition und Abgrenzung des informellen Lernens und Kindergärten. Die Auseinandersetzung mit Bildung im Jugendalter erfolgte als Folge der PISA-Studie eng gebunden an den schulischen Kontext und das schulische Lernen (ebd.). Obwohl informelles Lernen kein neuer Begriff ist, liegt bis Dabei wird die Debatte nach Rauschenbach jedoch jeweils heute keine einheitliche, allgemein akzeptierte Definition vor. isoliert aus der Binnenperspektive der jeweiligen Institution Betrachtet man die Vielfalt an Definitionen für informelles geführt und damit das Gesamtgefüge von Bildung und ihren Lernen (z. B. Dohmen 2001; Düx & Rauschenbach 2010; Eureferenziellen Bezügen außer Acht gelassen. Erst in jüngerer ropäische Kommission 2001; Livingstone 1999; Watkins & Zeit lässt sich in Deutschland im Kontext der Beschäftigung Marsick 1990), dann fällt auf, dass diese überwiegend auf der mit Bildungsprozessen des informellen Lernens ein wachsen- Basis von Abgrenzungsversuchen und Gegenüberstellungen des bildungspolitisches und wissenschaftliches Interesse an beruhen, die helfen sollen, das je Spezifische der herangezo7.1

7

Kapitel 7  Informelles Lernen

127 7.2  Begriffsentwicklung, definitorische Zugänge und Abgrenzung des informellen Lernens

. Tabelle 7.1 Internationale Entwicklungsgeschichte des Begriffs „Informelles Lernen“ Zeitraum

Internationale Begriffsentwicklung

Beginn 20. Jahrhundert

John Dewey (1859–1952), ein amerikanischer Philosoph und Pädagoge, führt die Begriffe informelles Lernen (informal learning) und informelle Bildung (informal education) im Kontext schulischer Bildung ein. Er grenzt das häufig beiläufig ablaufende, informelle Lernen vom intentionalen, formalen schulischen Lernen ab und zeigt ihre Gemeinsamkeiten als auch wechselseitigen Beziehungen auf (Dewey 1916). Dabei betont er die Erfahrungsbasiertheit des informellen Lernens und zeigt die zentrale Bedeutung außerschulischer Erfahrungen in Gesellschaft und Alltag für die Erziehung und formelle Bildung auf (vgl. Overwien 2010)

1940er-Jahre

In den USA und Großbritannien wird informelles Lernen im Kontext der Erwachsenenbildung und Weiterbildung mit Blick auf die Bewältigung gesellschaftlicher Veränderungen und die persönliche Entwicklung des Einzelnen diskutiert (Knowles 1951). Die Beachtung, Unterstützung, Bewertung sowie Anerkennung, Anrechnung und Zertifizierung von informell oder non-formal erworbenen Kompetenzen steht dabei im Zentrum (vgl. Dohmen 2001; Rohs 2016). Hierbei wird ein stark erweitertes, holistisches Lernverständnis eingeführt, das sowohl eine bewusste, intentionale als auch eine unbewusste, beiläufige kognitive und gefühlsmäßige Verarbeitung von Informationen umfasst (Dohmen 2001)

1970er-Jahre

Die Faure-Kommission der UNESCO betont die besondere Bedeutung des informellen Lernens, welches sie als Erfahrungslernen in allen biografischen Phasen und in jeweils sehr verschiedenen Lebensbereichen definiert. Aufgrund dieser sehr breiten Definition sind laut der Kommission ca. 70 % allen menschlichen Lernens dem informellen Lernen zuzurechnen. Daher fordert sie, dieses Lernen in entsprechende Bildungsanstrengungen einzubeziehen und geeignete Rahmenbedingungen für seine Unterstützung zu schaffen (vgl. Faure et al. 1972)

1980er-Jahre

Der Begriff „informelles Lernen“ verbreitet sich im Rahmen der englischsprachigen Diskussion im Arbeitskontext zunehmend und gilt in der Folge als eingeführter Begriff (Overwien 2006b)

1990er-Jahre

Die Delors-Kommission (1996) nimmt die bildungspolitische Perspektive der Faure-Kommission wieder auf und fordert, formale und informelle Lernangebote, soweit möglich, durch ein integratives Gesamtsystem zu verbinden und eine Abkehr vom wissensdominierten Lernen hin zum kompetenzentwickelnden Lernen anzustreben

genen Lernformen aufzuzeigen und damit zum Verständnis der Spielarten des informellen Lernens beizutragen. Auf einer allgemeinen Ebene wird zwischen formalem, non-formalem und informellem Lernen unterschieden (vgl. Europäische Kommission 2001; Dohmen 2001 2002; 12. Kinder- und Jugendbericht BMFSFJ 2005). Dabei werden zur Abgrenzung neben Aspekten des Lernkontextes bzw. -ortes häufig auch Merkmale des Lernprozesses, v. a. die Bewusstheit und Zielgerichtetheit des Lernens aus der Perspektive des Individuums, miteinbezogen (. Tab. 7.2). Neben diesem Versuch einiger Autoren die drei Lernformen (formales, non-formales und informelles Lernen) gegeneinander abzugrenzen (z. B. BMFSFJ 2005; Dohmen 2002; Europäische Kommission 2001), sehen sie andere als Bestandteile eines Kontinuums, dessen idealtypische Endpunkte das informelle und formale Lernen darstellen (Overwien 2006b; Sommerlad & Stern 1999; Wahler, Tully & Preiß 2004). Gerade das nicht-formale und das informelle Lernen werden in vielen Definitionen auch synonym oder in ersetzender Weise verwendet, was weniger zur Klärung als zur weiteren Verwirrung des definitorischen Feldes beitragen kann (vgl. Overwien 2005). Betrachtet man nun die Definitionen zum informellen Lernen eingehender, dann fällt auf, dass sich zentrale Punkte der Uneinigkeit innerhalb des akademischen Verständnisses auf den Einbezug bzw. die Ausgrenzung nicht-zielgerichteter, beiläufiger, unbeabsichtigter, ungeplanter oder unbewusster Lernprozesse beziehen (Hansen 2008). Der kanadische Wissenschaftler Livingstone (1999) charakterisiert informelles Lernen als freiwillig und losgelöst von formalen, auf Bildung und Wissenserwerb ausgerichteten

Organisationen bzw. Institutionen (z. B. Schule, Universität, Instanzen der Aus- und Weiterbildung). Livingstone zufolge geschieht informelles Lernen selbstinitiiert, individuell oder kollektiv, ohne Steuerung durch von außen festgelegte (institutionelle) Lernziele oder durch Lehrpersonen. Stattdessen setzt sich das Individuum selbst Lernziele (subjektive Zielsetzung) und verfolgt diese, um neue Inhalte, Wissen oder Fähigkeiten zu erwerben (vgl. Hansen 2008; Livingstone 1999). Dabei ist sich das lernende Subjekt seiner Lernaktivität bewusst und setzt diese planvoll um. Damit schließt Livingstone explizit unbewusste Lernformen aus. Im Gegensatz dazu beziehen Watkins und Marsick (1990), die informelles Lernen nicht als routinemäßiges, sondern eher problemgeleitetes und selbstgesteuertes Lernen (7 Kap. 4) ansehen, auch einen unbewussten, beiläufigen bzw. zufälligen Anteil mit ein. Informelles Lernen kommt demnach u. a. auch unintendiert und unbewusst durch die Beschäftigung oder Bewältigung mit bzw. von alltäglichen Arbeits- oder Lebensanforderungen zustande. Es handelt sich also um ein Lernen durch Handeln in Ernstsituationen (Düx & Sass 2006), das als Erfahrungslernen (Dohmen 2001) bezeichnet wird. Unbewusste, nicht-zielgerichtete Formen des Erfahrungslernens, welche im Verlauf einer Handlung beiläufig, ohne gezielte Beeinflussung und ohne ein explizit verfolgtes Lernziel zu Stande kommen, nennen Marsick und Watkins (2001) ebenso wie z. B. Dohmen (2001) inzidentelles Lernen. Es ist das Nebenprodukt anderer (nicht unbedingt auf das Lernen bezogener) Handlungen. Die Ergebnisse des inzidentellen Lernens können dem Lernenden u. U. erst nachträglich (oftmals erst nach Jahren) durch Reflexion der Erfahrungen bewusstwerden (vgl. Hansen 2008). Das häufig

7

128

Kapitel 7  Informelles Lernen

. Tabelle 7.2 Zusammenfassung zentraler Charakteristika des formalen, non-formalen und informellen Lernens (basierend auf Definitionen u. a. von BMFSFJ 2005; Dohmen, 2001 2002; Europäische Kommission 2001; Livingstone 1999; Watkins & Marsick, 1990) Aspekte des Lernkontextes/-umgebung

Aspekte des Lernprozesses

Formal

– Lernen in Bildungs- oder Ausbildungsinstitutionen (Schule, Hochschule, Berufsbildungseinrichtungen) – Pädagogisch angeleitet – Strukturiert hinsichtlich Lerninhalt, -ziel, -zeit & Methode des Lernens – Orientiert an Curriculum – Anerkannte Zertifizierung – Auf bestimmte Lebensphasen und Lernorte begrenzt

Aus Sicht der Lernenden – Obligatorisch – Zielgerichtet – Bewusst

Non-formal bzw. nichtformal

– Nicht in formalen Bildungs- und Berufsbildungseinrichtungen, aber an klar definierten Orten (z. B. VHS, Führungen in Museen) – Nur in Teilen formulierter Bildungsauftrag – Strukturiert hinsichtlich Lerninhalt, -ziel, -zeit & Methode des Lernens i. d. R. keine Zertifizierung

Aus Sicht der Lernenden – Freiwillig – Zielgerichtet – Bewusst – Teilweise individuell

Informell

– Lernen im Alltag in nicht-inszenierten Settings, z. B. am Arbeitsplatz, Freundeskreis oder Freizeit – Ohne Anleitung – Kein von außen festgesetztes Lernziel/Bildungsauftrag – Nicht strukturiert hinsichtlich Lerninhalt, -ziel, -zeit & Methode des Lernens – Keine Zertifizierung – Lebenslang und überall

Aus Sicht der Lernenden – Kann, muss aber nicht zielgerichtet sein – Teilweise beiläufig – Prinzipiell der Reflexion zugänglich ! 2 Unterformen des informellen Lernens: 1. Selbstgesteuert – Selbstinitiiert – Planvoll/geplant – Zielgerichtet – Bewusst 2. Inzidentell – Selbstinitiiert – Nicht zielgerichtet – Beiläufig, zufällig – Unbewusst bzgl. Lernprozess aber bewusst bzgl. Lernergebnis

7

zeitlich stark verzögerte Bewusstwerden der Lernergebnisse stellt laut Overwien (2001) ein zentrales Kennzeichen insbesondere dieser Spielart des informellen Lernens dar, das deren empirische Beschreibbarkeit und Messbarkeit erschwert (s. 7 Abschn. 7.5). Ebenso wie Watkins und Marsick sieht Dohmen (2001, S. 25–26) informelles Lernen als alles (bewusst oder unbewusst) praktizierte Selbstlernen, das sich in unmittelbaren Lebens- und Erfahrungszusammenhängen außerhalb des formalen Bildungswesens entwickelt und nicht in spezifischen Lehrveranstaltungen und Bildungsinstitutionen angeleitet, organisiert, betreut und kontrolliert wird. Es wird vielmehr von den Lernenden in direktem Bezug auf unmittelbare Problem- und Anforderungssituationen bzw. auf eigene Interessen und Präferenzen für bestimmte Themen und Inhalte praktiziert, aus denen heraus auch die notwendige Motivation für das informelle Lernen entsteht. Dohmen (2001) schließt hierbei auch ausdrücklich inzidentelles (unbewusstes, nichtzielgerichtetes, beiläufiges) Lernen mit ein. Vom inzidentellen Lernen als Teil des informellen Lernens abzugrenzen ist das implizite Lernen, das ebenfalls ein unbewusstes, unintendiertes Lernen darstellt, sich allerdings dahingehend vom inzidentellen Lernen unterscheidet, dass sowohl der Lernprozess als auch das Lernergebnis bzw. das erlernte Wissen (sog. „tacit knowledge“; Polanyi 1967) dem

Bewusstsein bzw. der Reflexion nicht zugänglich sind. Die grundsätzliche Bewusstseinsfähigkeit und Reflexivität stellt allerdings ein zentrales Merkmal informellen Lernens dar (Overwien 2001), womit das implizite Lernen als Unterform des informellen Lernens auszuschließen ist. Informelles Lernen reicht also in den meisten Definitionen von bewusst gestalteten Lernprozessen bis hin zum inzidentellen Lernen im Rahmen von Handlungen in realen Kontexten (Düx & Rauschenbach 2010). Weitere Abgrenzungsmerkmale, die in verschiedenen Definitionen herangezogen werden, beziehen sich auf die Lernzeit und den Kontext des Lernens (Hansen 2008). Während das formale Lernen auf bestimmte Lebensphasen (Kindheit, Jugend und frühes Erwachsenenalter) konzentriert und auf bestimmte Lernorte (Schule, Universität, Berufsausbildungseinrichtungen) begrenzt ist, kann das informelle Lernen ein Leben lang und überall stattfinden (ebd.). Diesbezüglich betont Schugurensky (2000), dass informelles Lernen zwar außerhalb der Curricula von Bildungsinstitutionen stattfindet, aber nicht außerhalb dieser Institutionen selbst stattfinden muss und damit nicht der Bildungsort alleine als Abgrenzungsmerkmal informellen Lernens herangezogen werden kann. Mit dieser Unterscheidung verweist er ebenso wie andere darauf, dass auch in der Schule informell gelernt werden kann (vgl. auch Düx & Rauschenbach 2010).

129 7.3  Kontexte informellen Lernens im Kindes- und Jugendalter

Deshalb schlagen Düx und Rauschenbach (2010) für eine differenzierte Betrachtung des informellen Lernens in unterschiedlichen Kontexten vor, sowohl den Bildungsort bzw. Merkmalen der Lernumgebung (wo) als auch die Bildungsinhalte (was) und die Bildungsmodalität bzw. Aspekte des Lernprozesses (wie) zu berücksichtigen. Nachfolgend werden diese drei Dimensionen genauer erörtert. 4 Bildungsort Bildungsort bzw. Merkmale der Lernumgebung (wo wird gelernt?) umfasst all jene vielfältigen Lern- und Bildungsorte, in denen zwar unzweifelhaft gelernt wird, die jedoch in der Beschreibung der Gesamtheit des Bildungssystems häufig nicht explizit berücksichtigt werden (wie z. B. die Kinder- und Jugendarbeit). Zur Unterscheidung nonformaler und informeller Bildungsorte können hierbei der Grad der Standardisierung und das Vorhandensein eines expliziten Bildungsauftrags herangezogen werden. 4 Bildungsinhalte Bildungsinhalte informellen Lernens (was wird gelernt?) sind sehr weit gefächert und beziehen sich häufig auf Themen, die nicht oder nur am Rande in Lehrplänen enthalten, aber für das Kompetenzprofil Erwachsener von grundlegender Bedeutung sind. Neben dem kognitiven Kompetenzerwerb handelt es sich dabei häufig auch um personale oder soziale Kompetenzen, wie z. B. Verantwortungsbewusstsein, Selbständigkeit oder auch Kooperationsfähigkeit. 4 Bildungsmodalität Bildungsmodalität bzw. Aspekte des Lernprozesses (wie wird gelernt?) sind sehr weit gefächert, denn es liegen vielfältige Wege der Kompetenzaneignung vor, die nicht im Rahmen herkömmlicher extern strukturierter LehrLernprozesse stattfinden. Informelles Lernen erfolgt explizit oder implizit, intendiert oder nicht intendiert, geplant oder zufällig, direkt oder indirekt, von außen angeregt oder intrinsisch motiviert, bewusst gestaltet oder in den Handlungsvollzug unter Realbedingungen alltäglicher Anforderungs- oder Problemsituationen (learning by doing) integriert (vgl. Düx & Rauschenbach 2010). Wie dieser definitorische Überblick aufgezeigt hat, kann informelles Lernen als lebenslanger Prozess betrachtet werden, der durch tägliche Erfahrungen und Lernanregungen des je persönlichen Umfeldes dazu beiträgt, Wissen, Fähigkeiten und Haltungen und damit Kompetenzen zu erwerben bzw. zu akkumulieren (Coombs & Ahmed 1974, S. 8). Auch wenn Lern- und Bildungsprozesse über die gesamte Lebenszeit, verwoben in allen Lebenszusammenhängen, stattfinden, wird doch bis heute das Kindes- und Jugendalter als biografisch besonders wichtige Lern- und Bildungszeit verstanden. Denn Bildung stellt einen zentralen Entwicklungsaspekt im Prozess des Aufwachsens dar und ist somit wichtiger Bestandteil des Kindes- und Jugendalters (Düx & Rauschenbach 2016; Smolka & Rupp 2007). Um die Bildung von Kindern und Jugendlichen in ihrer Gesamtheit angemessen begreifen zu können, muss das Zusammenspiel unterschiedlicher Bildungsorte und Lernwelten in den Blick genommen werden

(BMFSFJ 2005). Dies geschieht im Folgenden exemplarisch anhand zentraler Kontexte informellen Lernens im Kindesund Jugendalter.

7.3

Kontexte informellen Lernens im Kindesund Jugendalter

Prozesse informeller Bildung finden an vielen Orten und im Rahmen verschiedener Lernwelten statt. Neben der Schule, in der auch informelles Lernen stattfinden kann, wie z. B. in den Pausen, auf Klassenfahrten oder innerhalb von Angeboten im Ganztagsbereich, werden im Folgenden wesentliche informelle Lernumgebungen und Lernorte von Kindern und Jugendlichen in den Blick genommen. Kontexte wie die (1) Familie, die (2) Gleichaltrigengruppe (Peers), (3) Medien- und (4) institutionelle Freizeitangebote verdienen dabei besondere Beachtung, da sie für alle Heranwachsenden Gelegenheitsstrukturen darstellen, die die Ausbildung unterschiedlicher Erfahrungen, Kenntnisse und Kompetenzen in je spezifischer Weise fördern können (Düx & Rauschenbach 2016). Im Folgenden konzentrieren wir uns daher auf die vier genannten Kontexte, die es ermöglichen die vielfältigen Erscheinungsformen von informellem Lernen aufzuzeigen. Für den institutionellen, informellen Freizeitbereich werden wir exemplarisch auf Museen eingehen. Die Kontexte werden aus einer analytischen Perspektive getrennt betrachtet, obwohl sie im realen Leben eng miteinander verwoben sind. Anhand dieser Kontexte können bisher vorliegende Befunde in diesem noch jungen Forschungsfeld zur Bedeutung des informellen Lernens und seiner unterschiedlichen Ausprägungen als Voraussetzung, Ergänzung und Fortsetzung formalen und non-formalen Lernens aufgezeigt werden. Generell ist jedoch anzumerken, dass sich die Forschung zum informellen Lernen noch in einem frühen Stadium befindet und differenziertere Analysen noch ausstehen. Bei der Darstellung greifen wir die Anregung von Düx und Rauschenbach (2010) auf und charakterisieren für jeden Bereich den Bildungsort, die -inhalte und die -modalität (7 Abschn. 7.2.2 mit Definitionen).

7.3.1

Informelles Lernen in der Familie

Die Familie ist bis weit in die Schulzeit einer der wichtigsten (informellen) Bildungsorte junger Menschen und nimmt damit im Kontext von Bildung und Lernen eine zentrale, jedoch häufig unterschätzte Stellung ein (Düx & Rauschenbach 2016). Aufgrund ihres Potentials hinsichtlich teilweise bereits empirisch belegter Einflüsse auf Entwicklungs-, Lernund Bildungsprozesse wird der Familie ein bedeutender Einfluss auf die Bildungsbiografie und den Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen zugeschrieben (ebd.). Dieser besondere Stellenwert ergibt sich aus ihrer alltäglichen Präsenz, ihrer lebenslangen Bedeutung sowie ihrer kanalisierenden

7

130

Kapitel 7  Informelles Lernen

Funktion im Hinblick auf die Eröffnung bzw. Verschließung von Zugängen zu anderen Erfahrungswelten und Bildungsräumen („Gatekeeper-Funktion“, vgl. Betz 2006; Grunert 2005 2006).

7

Die Familie ist durch verwandtschaftliche, soziale und/oder juristisch definierte Beziehungen innerhalb und zwischen Generationen gekennzeichnet, welche sich sowohl durch Zusammengehörigkeit, Zusammenleben und Kooperation auszeichnen als auch auf intimer, emotionaler sowie auf Nähe und Liebe gründender Basis aufbauen (Helsper & Hummerich 2008; Minsel 2007). Dabei besteht eine Familie aus mindestens zwei Personen, die aufeinander bezogen sind und unterschiedlichen Generationen angehören, z. B. einer Mutter und einem Kind (Alleinerziehenden-Familie) (vgl. Minsel 2007).

Ungeachtet der je spezifischen Familienstrukturen (z. B. Kernfamilien, Patchwork-Familien, Drei-GenerationenFamilien, Stieffamilien) können und müssen in der Familie informell eine Vielzahl an Kompetenzen erworben werden. Neben Alltags- und Daseinskompetenzen, wie lebenspraktischen Kenntnissen und Fähigkeiten (z. B. alltägliche Lebensführung, Haushaltsführung, Wissen über Gesundheit sowie Umgang mit Geld, Strategien zur Informationsbeschaffung und die Fähigkeit, diese Informationen differenziert zu bewerten (information literacy) sowie Mediennutzung, vgl. Smolka & Rupp 2007), werden auch grundlegende Fähigkeiten und Bereitschaften für (schulische) Lern- und lebenslange Bildungsprozesse der Kinder und Jugendlichen vermittelt und unterstützt (BMFSFJ 2002). In der Familie entwickeln Kinder im Zuge informeller Lern- und Aneignungsprozesse ihre Sprache und eignen sich Wissen bzw. grundlegende personale, soziale, emotionale und kognitive Fähigkeiten und Kompetenzen für den Umgang mit dem Selbst sowie der kulturellen, sozialen und materiellen Welt an (z. B. Selbstwahrnehmung, Identitätsentwicklung, intraund interkulturelle Kompetenz, Empathie). Weiterhin bilden sie ihren persönlichen Habitus (grundlegende Einstellungen, Haltungen, Handlungsweisen, Fähigkeiten, Interessen und Denkmuster) aus, der ihr Verhalten, ihre späteren Denkmuster, Kommunikations- und Verhaltensformen, Werte, Handlungs- und Deutungsmuster maßgeblich prägt (vgl. Bourdieu 1982; Düx & Rauschenbach 2016). Auch wenn sich Kinder und Jugendliche im biografischen Verlauf weitere Lern- und Bildungsorte erschließen (z. B. die Gleichaltrigengruppe oder die Medien), deuten erste Befunde darauf hin, dass der in der Familie erworbene Habitus den Rahmen für die Auseinandersetzung mit den andernorts angebotenen Orientierungsmustern bildet, indem dieser Habitus ihre Sichtweise und Wahrnehmung von Optionen und Handlungsperspektiven im Zusammenhang mit der Bewältigung von Lebensaufgaben beeinflusst (vgl. Düx & Rauschenbach 2016). Damit können in der Familie die Grundvoraussetzungen für den Zugang zur sozialen und kulturellen Umwelt sowie die grundlegenden Strukturen und Motivationen für

(spätere) Lern- und Bildungsprozesse im Rahmen schulischer, akademischer und beruflicher Bildung geschaffen werden, was wiederum einen entscheidenden Einfluss auf den Bildungserfolg haben kann (vgl. Minsel 2007). Nach Büchner und Krah (2006) wäre ohne den grundlegenden Beitrag und ohne die vorbereitende und begleitende Unterstützung durch die Familie der formale Bildungserfolg kaum möglich. Charakteristisch für informelle Bildungsprozesse in der Familie sind deren geringe Strukturierung, Planung als auch Vorbereitung, d. h. Lernen in der Familie ist erfahrungsbasiert, lebensweltnah und situativ (Düx & Rauschenbach 2016). Es findet überwiegend in der Auseinandersetzung mit dem familiären Alltag und dessen Bewältigung statt, durch Gespräche und Interaktion der Familienmitglieder, aber auch anhand des Modelllernens durch Beobachtung. Die Mitglieder einer Familie können gegenseitig voneinander lernen. D. h. Kinder lernen nicht nur von Geschwistern und Eltern bzw. den älteren Generationen, sondern auch umgekehrt: So sind Eltern z. B. durch ihre Kinder immer wieder herausgefordert lernend auf deren Entwicklung einzugehen (vgl. Overwien 2010). Darüber hinaus hat das familiäre System einen zentralen Einfluss auf die Bildungs- und Entwicklungschancen sowie den Bildungszugang im Kindes- und Erwachsenenalter (Minsel 2007). Die Qualität und das Ausmaß der informell erworbenen sozialen, kulturellen und kognitiven Kompetenzen und Fähigkeiten stellen dabei entscheidende Voraussetzungen für die erfolgreiche soziale und kulturelle Teilhabe der Kinder am Gesellschaftsleben als auch für deren (schulischen) Bildungserfolg dar (vgl. Büchner & Brake 2007; Deutsches PISA-Konsortium 2001). Dabei hängen die Chancen der Heranwachsenden für entwicklungsförderliche und bildungsrelevante Aneignungsprozesse stark von der sozio-emotionalen Qualität ihrer familiären Beziehungen sowie den ökonomischen, sozialen und kulturellen Ressourcen sowie den Interessen der Familie ab (Düx & Rauschenbach 2016). So ist es nicht überraschend, dass sich die wenigen Studien zu informellen Lernprozessen innerhalb der Familie vorzugsweise mit der Frage nach der Reproduktion sozialer Ungleichheit befassen (z. B. Betz 2006; Büchner & Wahl 2005; Stecher 2005). Die bisher vorliegenden Befunde legen nahe, dass die erfolgreiche Gestaltung der Bildungsbiografie von Heranwachsenden sowohl von der Lernausgangslage zu Beginn des Lebenslaufs und der schulischen Karriere als auch von der Übereinstimmung zwischen dem familiär vermittelten Habitus und den expliziten und impliziten schulischen Normen und Gegebenheiten abhängt (vgl. Büchner & Krah 2006). Ausschlaggebend ist hierbei v. a. inwieweit der erworbene Habitus die Heranwachsenden dazu befähigt, den in der Schule stattfindenden Bildungs- und Unterrichtsprozessen entsprechen zu können (Helsper & Hummrich 2008). In dieser Gedankenkette wird auch häufig auf die zunehmend empirisch erforschte allgemeine und differentielle Gatekeeper-Funktion der Familie hingewiesen (vgl. Betz 2006). Mit der allgemeinen Gatekeeper-Funktion (Grunert 2005) ist gemeint, dass die Familie als Bildungsort für alle Familienmitglieder, aber insbesondere für die Kinder, Zugänge

131 7.3  Kontexte informellen Lernens im Kindes- und Jugendalter

zu anderen schulischen oder außerschulischen Bildungs- und Erfahrungswelten eröffnen oder begrenzen kann. Die differentielle Gatekeeper-Funktion bedeutet, dass in Abhängigkeit der Herkunftsfamilie und deren ökonomischer, sozialer und kultureller Ressourcen sowie deren schulbezogener Einstellungen und Praktiken Kindern ungleiche Zugänge zur Schule wie auch zu außerschulischen Erfahrungswelten ermöglicht werden (vgl. Betz 2006).

stattung den Heranwachsenden eher schulferne Lernwelten (wie z. B. Spielen auf dem Spielplatz, Fernsehen oder einfach nur „abhängen“) zugänglich gemacht, welche weniger Anknüpfungspunkte in Bezug auf schulische Anforderungen bieten, wodurch es häufig zur Ausbildung von schuldistanzierten und schulfernen Haltungen bei den Kindern und Jugendlichen kommt, die sich ihrerseits negativ auf den schulischen Erfolg auswirken (vgl. Betz 2006; Helsper & Hummrich 2008).

Studie: Allgemeine und differentielle Gatekeeper-Funktion der Familie

Aus diesem Grund sehen auch Helsper und Hummrich (2008) die Schule vor der Herausforderung die Bildungsleistungen unterschiedlichster Bildungsorte zu bündeln, miteinander zu verknüpfen und aufeinander zu beziehen, sodass eine umfassende Kompetenzentwicklung der Heranwachsenden ermöglicht wird und etwaige Benachteiligungen wegen ihrer sozialen Herkunft ausgeglichen werden können. Ein erster wichtiger Schritt, um der im vorliegenden Abschnitt dargelegten zentralen, allgemeinen und differentiellen Bildungsbedeutsamkeit der Familie Rechnung zu tragen, zeigt sich in der zunehmenden bildungspolitischen und wissenschaftlichen Anerkennung der Familie als grundlegende und begleitende Bildungsinstitution von Kindern und Jugendlichen; sie trägt zur Bildung zentraler sozialer, kultureller und kognitiver (Basis-)Kompetenzen und Fähigkeiten bei und kann einen Einfluss auf die schulische und außerschulische Bildungsbiografie, schulische Lern- und lebenslange Bildungsprozesse und den Bildungserfolg haben.

Betz (2006) beschäftigt sich mit der „Gatekeeper-Funktion“ der Familie und deren Bedeutung für Bildungsprozesse in unterschiedlichen Kontexten. Die Analyse basiert auf empirischen Daten der ersten und zweiten Welle des Kinderpanels des Deutschen Jugendinstituts (DJI), einer repräsentativen Längsschnittstudie zu den Lebensverhältnissen und Sozialisationsbedingungen von Kindern in Deutschland. Es wird der Frage nachgegangen, inwieweit Familien eine allgemeine (Welche außerschulischen Aktivitäten und schulbezogenen Einstellungen charakterisieren die Bedingungen des Aufwachsens der Kinder?) als auch eine differentielle (Gibt es milieuspezifische, herkunftstypische Differenzen in den Aktivitäten der Kinder oder in den Einschätzungen von Schule und Lernen?) Gatekeeper-Funktion erfüllen. Insgesamt wurden hierzu 714 Kinder im Grundschulalter und ihre Eltern zu zwei Messzeitpunkten im Abstand von ca. 1,5 Jahren (Herbst 2002; Frühjahr 2004) mithilfe eines Fragebogens zu familiären, freizeitbezogenen und schulischen Aspekten des Aufwachsens schriftlich befragt. Die Auswertung der quantitativen Daten zeigen eine differentielle Verschränkung von familiären und schulischen Bildungsorten. Das heißt, es lassen sich herkunfts- bzw. milieuspezifische Unterschiede im außerschulischen Alltag und in den Haltungen zu Schule und Lernen feststellen. Diese Unterschiede können sich wiederum auf die Ausgestaltung der Teilhabe an außerschulischen Bildungs- und Lerngelegenheiten sowie die schulischen Bildungschancen und den Bildungserfolg auswirken. Damit ergeben sich eingeschränkte oder erweiterte und im Zeitverlauf zu- oder abnehmende Teilhabe- und Erfolgschancen unterschiedlicher Kindergruppen (Betz 2006). So versuchen Eltern mit größeren ökonomischen, sozialen und kulturellen Ressourcen ihren Kindern gezielt außerschulisch als auch schulisch verwertbare Bildungsangebote, d. h. Angebote, die den schulischen Anforderungen besser entsprechen und v. a. auf den erfolgreichen schulischen Werdegang der Heranwachsenden ausgerichtet sind, zugänglich zu machen, wie z. B. Chor- oder Musikschulbesuch, Besuch außerschulischer Unterrichtsstunden, Ausflüge und Theaterbesuche. Die dadurch ermöglichten schulbildungsnäheren Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen sowie die häufig damit verbundenen schulnahen Einstellungen und Praktiken der Eltern (z. B. Interesse am Schulalltag und den Noten, Ermöglichung von Nachhilfeunterricht) ermöglichen ein besseres Passungsverhältnis zwischen den Bildungsorten Schule und Familie und führen somit häufiger zu erhöhten schulischen Erfolgschancen. Im Gegensatz dazu werden in Familien mit geringerer Ressourcenaus-

7.3.2

Informelles Lernen in der Gleichaltrigengruppe (Peers)

Die Gleichaltrigengruppe bzw. Peergroup ist heute neben der Familie die wichtigste Bezugsgruppe für Kinder und Jugendliche. Ersten Befunden zufolge nimmt mit zunehmendem Alter der Heranwachsenden, v. a. aber mit dem Übergang in das Jugendalter, ihre Bedeutung für Bildungsverläufe und -prozesse und dem damit verbundenen Kompetenzerwerb gegenüber der Schule und Familie zu (Düx & Rauschenbach 2016; Harring, Böhm-Kasper, Rohlfs & Palentien 2010). Jugend gilt dabei als Zeit der Persönlichkeitsentwicklung, der Identitätsfindung, des Austestens der eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten, der Orientierung sowie der Ablösung von der Herkunftsfamilie, der Hinwendung zu Peers und der zunehmenden Verselbstständigung (BMFSFJ 2013). Der Begriff Peers oder Peergroup wird oftmals mit Gleichaltrigengruppe übersetzt und ist durch eine über einen längeren Zeitraum stattfindende (alltägliche) direkte Interaktion und das Bilden eines sozialen Beziehungsgefüges gekennzeichnet. Unter dem Begriff Peers werden unterschiedliche soziale Konstellationen, wie Beziehungen, Freundschaften und Cliquen gefasst, die sich in ihrer Nähe und Verbindlichkeit deutlich unterscheiden können (enge Freundschaften, Mitschüler, Bekannte aus dem

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Kapitel 7  Informelles Lernen

Sportverein). Peerbeziehungen sind durch Gleichaltrigkeit und ausgewogene Machtverhältnisse, d. h. durch Gleichrangigkeit, gekennzeichnet (vgl. Brake & Büchner 2013).

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Die Austauschprozesse unter Peers sind in der Regel Interaktionen auf Augenhöhe, da sich Peers nicht prinzipiell und dauerhaft hinsichtlich ihres Wissens oder Könnens sowie ihres sozialen Status und ihrer gelebten Normen und Werte unterscheiden. Das bedeutet allerdings nicht, dass in konkreten Gleichaltrigengruppen keine Unterschiede hinsichtlich der Beliebtheit oder Akzeptanz von Kindern und Jugendlichen bestehen können (vgl. Brake & Büchner 2013). Die peerbezogenen Beziehungsstrukturen und Interaktionsmöglichkeiten während der gemeinsamen Freizeitaktivitäten bieten den Heranwachsenden einerseits ein wichtiges Erfahrungsfeld im Übergang von der Herkunftsfamilie in ein eigenständiges Netz sozialer Beziehungen (Schröder 2006); andererseits ermöglichen sie wichtige Bildungsgelegenheiten und -prozesse, die sowohl für formales und non-formales als auch informelles Lernen von zentraler Bedeutung sind (vgl. Harring 2007). Die Peergroup bietet vielfältige informelle Lernmöglichkeiten, wodurch sie eine wichtige Rolle im Rahmen intellektueller und sozialer Bildungs- und Orientierungsprozesse einnimmt (Düx & Rauschenbach 2016). In der Gruppe ergeben sich Möglichkeiten, freiwillig, nebenher, implizit und ungeplant Informationen, Erfahrungen und Wissen zu erwerben, auszutauschen und zu vertiefen. Dabei wird sowohl mit als auch von den Gleichaltrigen gelernt („soziales Lernen“ bzw. „Modell-Lernen“, z. B. Bandura 1976). Diese Lernprozesse können zur Entwicklung persönlicher Interessen und Sichtweisen, personaler, sozialer und kognitiver Kompetenzen, Orientierungen, Normen, Werte und Verhaltensweisen sowie Zielsetzungen beitragen (Düx & Rauschenbach 2016; Harring 2007). Insbesondere bezüglich des Erwerbs von Kompetenzen und Wissen zu den sich schnell entwickelnden Informations- und Kommunikationstechnologien (Medienkompetenz, s. 7 Abschn. 7.3.3) können die Peers einen zentralen Lern- und Erfahrungskontext darstellen. Ferner können in der Auseinandersetzung und Konfrontation mit anderen Kindern und Jugendlichen Kompetenzen der Konfliktbewältigung, Aushandlung und Kooperation sowie Fähigkeiten der sozialen Teilhabe und Selbstbehauptungsstrategien entwickelt werden, welche als zentrale Voraussetzung für das spätere Leben als auch Arbeiten in der Gesellschaft gesehen werden (Düx & Rauschenbach 2016). Weiterhin bietet die Peergroup den Jugendlichen einen geschützten Raum, in dem sie sich mit altersgemäßen Entwicklungsaufgaben, wie z. B. dem Umgang mit dem eigenen Körper, der Entwicklung einer eigenständigen Identität, der Identifikation mit einer bestimmten Geschlechtsrolle, Aufbau gleich- und gegengeschlechtlicher Beziehungen, Ablösung vom Elternhaus, Verselbständigungsbestrebungen und beruflichen Orientierungen auseinandersetzen können (Rauschenbach et al. 2004). Gerade für die Identitätsfindung und das Austesten

von Verhaltensweisen und Lebensstilen bietet der Freundeskreis ein ideales Experimentierfeld, da er sowohl Erfahrungen der Gemeinsamkeit als auch der Differenz ermöglicht (vgl. Baier, Rabold & Pfeiffer 2010) und meist von den Regeln und Vorschriften der Erwachsenengesellschaft weitgehend abgetrennt agiert (Harring 2007). Es ist anzunehmen, dass Freunde in diesem Zusammenhang sowohl gleichgesinnte und vertrauensvolle Gesprächspartner als auch Förderer, Unterstützer und Ratgeber sind, die Heranwachsenden unterschiedliche Optionen und Problemlösungen aufzeigen, sie in der teils verwirrenden Phase der Selbstfindung immer wieder in ihrer Einzigartigkeit bestärken und Verständnis entgegenbringen. Insbesondere in „Notlagen“ (z. B. Hilfe bei Hausaufgaben oder Leihen von Geld) treten die Peers für einander ein und unterstützen sich gegenseitig. Hierdurch können die zentralen Bedürfnisse Heranwachsender nach Akzeptanz und Integration befriedigt werden (Harring 2007), was wiederum aus entwicklungspsychologischer Sicht positive Auswirkungen auf die intellektuelle, personale und soziale Entwicklung der Kinder und Jugendlichen haben dürfte. In extremen Fällen dürfte die Gleichaltrigengruppe sogar eine kompensatorische Funktion übernehmen, indem Heranwachsende mit defizitären familiären Beziehungs- und Unterstützungsstrukturen durch die Peers emotional und intellektuell aufgefangen werden und ihnen der nötige Rückhalt und Bestätigung gegeben wird.

Mythos: Abdankung der Eltern – Ende des elterlichen Einflusses in der Jugendphase Ist man bisher vielfach davon ausgegangen, dass mit zunehmenden Alter der Heranwachsenden der Einfluss der Familie sinkt bzw. ganz endet und der der Peergroup steigt, was oftmals vor allem im Zusammenhang mit problematischen bzw. delinquenten Verhalten von Kindern und Jugendlichen (vgl. Baier, Rabold & Pfeiffer 2010) betont wurde, ist man sich heute bewusst, dass diese vereinfachte Sicht zu kurz greift. So konnte in verschiedenen Studien (z. B. Gardner 1998; Reinders 2006) gezeigt werden, dass der Einfluss der Eltern bzw. der Peers je nach untersuchtem Bereich bzw. Thema variiert. Den Eltern kommt v. a. im Zusammenhang mit den Themen Bildung und Ausbildung, Disziplin und Verantwortung sowie Umgang mit Autoritätspersonen eine zentrale Orientierungsfunktion zu. Während Peers gerade im Zusammenhang mit Identitätsfindungsfragen, peerbezogenen Problemen und Interaktionen als auch Gewinnen sozialer Anerkennung eine wichtigere Rolle als die Eltern spielen. Noack (2002) fasst die Funktion von Peers als gegenwartsbezogen und die von Eltern als zukunftsbezogen zusammen. Weiterhin gestalten Kinder und Jugendliche auch ihre Peerbeziehungen nicht völlig unabhängig von den Einflüssen ihrer Herkunftsfamilie (Brake & Büchner 2013). So orientieren sich Heranwachsende bei der Wahl ihrer Peers sehr stark an den Erwartungen und Lebensstilen der Eltern (Reinders

133 7.3  Kontexte informellen Lernens im Kindes- und Jugendalter

2006) und auch die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung hat einen Einfluss darauf, z. B. hat sich gezeigt, dass eine gute Eltern-Kind-Bindung den Anschluss an delinquente und sich abweichend verhaltende Peers verhindern kann (Knoester, Haynie & Stephens 2006). Aus entwicklungspsychologischer Perspektive lässt sich das Verhältnis von Elternhaus und Peers als komplementär beschreiben. Beide Personengruppen haben wichtige sozialisatorische Funktionen für die personale und soziale Entwicklung der Heranwachsenden und können sich wechselseitig ergänzen und stützen. Die Familie bietet wichtige Orientierungen in Form familiär tradierter Normen und Werte sowie emotionaler Beziehungsqualitäten, die für die Handlungs- und Beziehungsmuster in der Peergroup von zentraler Bedeutung sind. Dahingegen bietet die Peergroup einen Lern- und Erfahrungsraum, der eine Vertiefung, Erweiterung oder auch Kompensation der im Kontext familiärer Interaktions- und Austauschprozesse erworbenen oder nicht erworbenen Kompetenzen und Erfahrungen ermöglicht (vgl. Deppe 2013). Peers als Einflussgröße (positiv als auch negativ) gewinnen v. a. dann an Bedeutung, wenn die Heranwachsenden die Beziehung zu ihren Eltern als wenig unterstützend wahrnehmen (Wehner 2009).

Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Peergroup als informelle Bildungsinstanz eine zentrale Rolle bei der sozialen und kognitiven Entwicklung sowie insbesondere bei der Identitätsfindung von Kindern und Jugendlichen spielen kann, die für die aktuelle und zukünftige Lebensführung von Bedeutung ist. Diese potenziell positive Wirkung muss allerdings auch immer im Kontext anderer Bildungsorte Heranwachsender gesehen werden; v. a. die Familie, aber auch die Schule sind hierbei zentral. So gehen die in der Phase des Aufwachsens erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten letztendlich aus der Schnittmenge der im Kontext der Lebensund Bildungsorte Peers, Familie und Schule erfolgten Bildungsprozesse hervor (vgl. Harring 2007). Sie können in der Bildungsbiografie der Heranwachsenden zum Erwerb unterschiedlicher Kompetenzen sowie zur Vertiefung und Ausdifferenzierung der in anderen Bildungsorten erworbenen Kompetenzen beitragen.

7.3.3

Informelles Lernen mit digitalen Medien und Fernsehen

Kinder und Jugendliche leben heute in einer zunehmend mediatisierten Welt (vgl. Tillmann & Hugger 2014). Die von ihnen genutzten Medien umfassen neben dem Fernseher vor allem digitale Medien wie Handy und Computer bzw. Laptop, die ihnen völlig neue Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten eröffnen, wie Internet, Wikis, soziale Netzwerke oder Blogs. Die JIM-Studie 2014, eine Basisun-

tersuchung des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger in Deutschland (MPFS 2014), hat u. a. ergeben, dass die untersuchten Jugendlichen nach eigenen Angaben an einem durchschnittlichen Wochentag ca. 100 Minuten fernsehen (12–13-Jährige: 95 Minuten; 18–19-Jährige: 109 Minuten). Zum weit überwiegenden Anteil werden in dieser Zeit Unterhaltungssendungen (u. a. Sitcoms, Scripted Reality, Zeichentrick) und nur zu einem gering Maß Wissensmagazine, Nachrichten oder Sportsendungen konsumiert. Die tägliche Internet-Nutzung steigt von 64 % bei 12- bis 13-Jährigen auf 90 % der 18- bis 19-Jährigen. Nach eigener Einschätzung sind die 12- bis 13Jährigen täglich durchschnittlich 128 Minuten online, die 18- bis 19-Jährigen 208 Minuten. Dabei beziehen sich die Onlineaktivitäten aus Nutzersicht zu 44 % auf Kommunikation, 25 % auf Unterhaltung, 18 % auf Spiele und 13 % auf Informationssuche. Inwieweit mit dieser Mediennutzung informelle Lernprozesse einhergehen und welche dies ggf. sind, ist noch weitgehend unbeforscht. Deutlich wird jedoch, dass die Mediennutzung in der Freizeit und damit eng verbunden mit anderen informellen Kontexten wie der Familie und den Peers stattfindet. Betrachtet man also die angesprochenen Medien aus der Perspektive des Bildungsortes, wird wie bei keinem anderen der hier behandelten Bereiche des informellen Lernens deutlich, dass die Charakterisierung des informellen Lernens über den Lernort nicht aussagekräftig ist. Informelles Lernen mit neuen (meist digitalen) Medien findet in zahlreichen Kontexten und Lernwelten wie Familie und Peers, aber auch in der Schule statt (7 Kap. 19). Die Forschung zur Nutzung digitaler Medien drehte sich in den vergangenen Jahrzehnten unter anderem unter den Schlagworten „Wissenskluft“ und „digital divide“ („digitale Spaltung“) um unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten zu Informations- und Kommunikationstechnologien, insbesondere zum Internet. Diese international geführte Diskussion ist bedeutsam, weil die Zugangsmöglichkeiten mit sozialen und ökonomischen Faktoren und der Förderung von Bildungsungleichheiten in Verbindung gebracht werden (vgl. Zillien & Haufs-Brusberg 2014). Zunehmend geht es jedoch nicht mehr nur um die Ungleichheit beim Zugang – denn dieser ist, wie die Nutzungsstudien (u. a. JIM, BITKOM etc.) nahelegen, zumindest für Kinder und Jugendliche in Deutschland weitgehend nicht mehr gegeben – sondern vielmehr um „digital inequality“, also digitale Ungleichheit innerhalb der Nutzergruppe. Damit geht es um spezifische Ungleichheiten, die sich u. a. auf die Ausstattung, die Nutzungsautonomie und -kompetenzen, die soziale Unterstützung, die Wahrnehmung von Medien (u. a. als Lernmedium) und die Zielsetzung der Mediennutzung, die ihrerseits von Bildungszwecken bis Unterhaltung reicht, beziehen (vgl. ebd.). So konnte z. B. Stecher (2005) in einer Fragebogenstudie u. a. die Relevanz der besuchten Schulart (Gymnasium: ja/nein) sowie des Alters der Heranwachsenden und eingeschränkt auch des sozioökonomischen Berufsstatus der Eltern für die Schülereinschätzung von Qualitäts- und Boulevardmedien als Lernquelle aufzeigen. Diese Diskussion ist auch für das informelle Lernen mit digitalen Medien von Bedeutung, da sie explizit die ausge-

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Kapitel 7  Informelles Lernen

wählten Inhalte und die Modalität des informellen Lernens mit Medien anspricht. Betrachtet man die Dimension des Inhalts informellen Lernens durch Fernsehen oder im Netz, so geht es bei der informellen Beschäftigung mit Medien aus Nutzersicht natürlich in erster Linie um die bewusst gesuchten und rezipierten Inhalte, mit denen sich Kinder und Jugendliche selbstgesteuert und gezielt auseinandersetzen. Dieser inhaltliche Wissenserwerb ist so breit gefächert wie das mediale Informationsangebot selbst. Klar ist allerdings, dass die erworbenen Kenntnisse von grundlegenden Inhalten der formalen Bildung über Alltagswissen bis hin zu spezifischem Detailwissen in einem Themenbereich reichen können. Hier steht die Forschung noch am Anfang. Kinder und Jugendliche sind, zumindest was das Internet angeht, jedoch nicht nur als Rezipienten, sondern auch als aktiv Beitragende aktiv. Sie gestalten das dort vorhandene Informationsangebot mit, indem sie Informationen präsentieren und sich selbst mitteilen, u. a. auf Blogs oder beim Chatten in sozialen Netzwerken. Damit ist der Prozess der Mediensozialisation angesprochen (Aufenanger 2008, S. 88) und eng verbunden damit auch Prozesse des Identitätsaufbaus oder der Lebensbewältigung (s. zsfd. Pietraß 2016). Mit den beiden Tätigkeitsbereichen Rezeption und Präsentation untrennbar verbunden laufen beiläufig neben kognitiven, auch persönlichkeitsbildende oder soziale Lernprozesse ab (ebd.). Erstgenannte beziehen sich u. a. auf die kompetente Handhabung der technischen Geräte und insbesondere auf die gezielte Auswahl und Nutzung der vielfältigen Handlungsoptionen, die das Fernsehangebot, aber vor allem der Computer, das Handy und damit verbunden das Internet bieten. Damit sind wesentliche Bestandteile von Medienkompetenz bzw. Medienbildung, wie sie von Groeben (2004) charakterisiert wurden, angesprochen. Groeben unterscheidet hier folgende sieben Teilkompetenzen: Medienwissen und -bewusstsein, medienspezifische Rezeptionsmuster, medienbezogene Genussfähigkeit und Kritikfähigkeit, Selektion/ Kombination sowie Partizipationsmuster der Mediennutzung und schließlich Anschlusskommunikation. Hinsichtlich der Modalität (7 Abschn. 7.2.2 mit Definitionen) des informellen Lernens mit den (digitalen) Medien zeigt sich somit deutlich, dass die informellen Lernprozesse häufig ungeplant, beiläufig und sozial eingebettet erfolgen. Sie stehen vielfach nicht im Vordergrund der Beschäftigung mit diesen Medien. Im Rahmen der selbstgesteuerten Auseinandersetzung mit einem Thema werden u. a. auch Kenntnisse zur Mediennutzug erworben. Dies geschieht meist aus einem konkreten Anlass heraus, z. B. ein Bedienungsproblem zu lösen, und erfolgt häufig im Austausch mit anderen. Beim informellen Lernen mit digitalen Medien geht es somit vor allem um eine individualisierte Wissensaneignung, die als kontextualisiert bezeichnet werden kann. Mit dem Begriff der „Kontextualisierung“ (nach Tully 2007, S. 413) wird der aufgrund der Vielzahl an Medienangeboten und Nutzungsmöglichkeiten notwendige Prozess der individuellen Auswahl von Medien und Handlungsoptionen für spezifische Aufgabenstellungen in konkreten Situationen umschrieben. Dieser Prozess beruht auf individuellen Interessen und der Wahr-

nehmung eines Mediums als (potentielles) Lernangebot. Ein Medienangebot wird hinsichtlich seines Lerngehalts also immer individuell unterschiedlich bewertet (kontextualisiert), abhängig davon, ob der Nutzer der Überzeugung ist, dass das Angebot für ihn interessant und relevant ist und er damit etwas lernen kann (vgl. Stecher 2005). Damit können Kinder und Jugendliche lernen situative, mitunter auch soziale Gegebenheiten zu interpretieren, entsprechende Handlungsstrategien zu entwickeln sowie ihr Handeln zu organisieren. In der Folge können sie Problemlösekompetenzen, aber auch soziale und kulturelle Kompetenzen und Fähigkeiten erwerben, die sie flexibel einsetzen können. Diese Kompetenzen und Fähigkeiten bilden wichtige Voraussetzungen für eine erfolgreiche gesellschaftliche, aber auch schulische Teilhabe (Tully 2007). Von welchen Bedingungen die Wahrnehmung und Nutzung des Medienangebots als informelle Lerngelegenheit abhängt und wie der Lernprozess in unterschiedlichen informellen Kontexten konkret abläuft, sind noch weitgehend ungeklärte Fragestellungen.

7.3.4

Institutionelle informelle Lernumgebungen am Beispiel Museum

Betrachtet man institutionelle informelle Lernumgebungen, die im Kindes- und Jugendalter eine besondere Rolle spielen, so können mindestens zwei große Bereiche ausgemacht werden: zum einen Institutionen, die ein spezifisches Kursoder Gruppenangebot für Kinder und Jugendliche bereitstellen und an der Grenze zum non-formalen Lernen anzusiedeln sind, wie (Sport-)Vereine und Jugendorganisationen (z. B. Hansen 2010 2016; Neuber 2016; Riekmann & Bracker 2008; Seckinger, Pluto & van Santen 2016) und zum anderen Orte oder Lernumgebungen, die Informationen bereitstellen, die sich ihre Besucher im Rahmen informeller Lernprozesse freiwillig und selbstbestimmt aneignen können, wie Museen, Zoos, Aquarien oder botanische Gärten. Im Folgenden wird nun auf den zweiten Bereich unter Berücksichtigung der Adressatengruppe der Kinder und Jugendlichen anhand von Museen näher eingegangen. Entsprechend ihres eigenen Selbstverständnisses (ICOM 2004) stellen Museen einen weiteren wichtigen Lernort zur Vermittlung unterschiedlichster Erkenntnisse für Kinder, Jugendliche und ebenso für Erwachsene außerhalb formaler Bildungseinrichtungen wie Schule und Hochschule dar (Bell, Lewenstein, Shouse & Feder 2009; Falk, Storksdieck & Dierking 2007). Im deutschsprachigen Raum gibt es ein vielfältiges museales Angebot, das von Kunstmuseen über (kultur-) historische und archäologische bis hin zu naturkundlichen und naturwissenschaftlich-technischen Museen und Science Centern reicht. Letztere bieten den Besuchern die Möglichkeit durch eigenständiges und spielerisches Experimentieren technische und naturwissenschaftliche Zusammenhänge und Phänomene kennen und verstehen zu lernen. Die Präsentation der Inhalte in den jeweiligen Museen weist im Vergleich zu formalen Lehr-Lern-Settings einige Besonder-

135 7.3  Kontexte informellen Lernens im Kindes- und Jugendalter

heiten auf, die für informelle Lernprozesse von Bedeutung sind (Schwan, Grajal & Lewalter 2014). Ein wesentliches Kennzeichen ist die gleichzeitige Präsentation zahlreicher Exponate und Informationen auf einer räumlich ausgedehnten Ausstellungsfläche. Damit sind vielfältige Wahlmöglichkeiten und somit stark individualisierte Lernverläufe verbunden, wie sie für selbstregulierte informelle Lernprozesse typisch sind. Die Informationsvermittlung erfolgt anhand materieller Originalobjekte und Modelle, die aufgrund ihrer Authentizität die Relevanz der präsentierten Inhalte direkt erfahrbar machen. Diese Originale oder Modelle werden meist um eine breite Palette weiterer Informationsmedien wie Texttafeln, Abbildungen, Videobildschirme, Hörinseln oder interaktiven Hands-on-Elementen ergänzt. Damit werden Informationen aus ganz unterschiedlichen Perspektiven über verschiedene Sinneskanäle und mit unterschiedlicher Komplexität angeboten, die je nach individuellem Interesse ausgewählt werden können. Hinzu kommen weitere Informationsangebote in Form von a-personaler (z. B. mobile guides) als auch personaler Informationsvermittlung wie Führungen oder open science labs. Bei Letzteren handelt es sich um offene Forschungslabore, in welchen die Besuchenden Forschende bei ihrer Arbeit beobachten und direkt mit ihnen kommunizieren können. Damit stellen Museen eine informelle Lernumgebung dar, die für Kinder und Jugendliche ein breites Spektrum an Lernformen anregen und unterstützen kann. Dieses reicht von informellen Lernprozessen im Rahmen von Freizeitbesuchen, auf die im Folgenden genauer eingegangen wird, über non-formales Lernen im Kontext von Führungen und Workshops bis hin zu formalen Lernprozessen während den Besuchen mit der Kindergartengruppe oder Schulklasse. Die Inhalte, die in Museen präsentiert werden, decken ein breites Spektrum ab, wobei sich der jeweils gewählte Ausschnitt in den letzten Jahrzehnten stark verändert hat: von einem gesicherten kanonischen Wissen hin zu aktuellen gesellschaftlich relevanten und kontrovers diskutierten Themen. In naturwissenschaftlich-technischen Museen werden u. a. Vor- und Nachteile des Einsatzes bestimmter Techniken wie Gentechnik oder Bionik diskutiert (Meyer 2010). Aufgrund des Bildungsauftrags dieser Institutionen wird häufig darauf geachtet, dass sich die dargebotenen Inhalte mit jenen von Bildungsplänen zur frühen Bildung in Kindertageseinrichtungen bis hin zu schulischen Curricula in Teilen überschneiden oder zumindest explizite Anknüpfungspunkte angeboten werden. Bezogen auf die Inhalte bieten Museen insbesondere für Kinder und Jugendliche damit explizit eine Brücke zwischen formalem und informellem Lernen an. Mit diesem vielfältigen und komplexen Angebot an Informationen geht ein weites Spektrum an möglichen Nutzungsformen einher, die von Falk und Dierking (2000) als „free-choice-learning“ beschrieben wurden, das als hochgradig individualisierte und selektive Auseinandersetzung mit den Ausstellungsinhalten charakterisiert werden kann. Die Besuchswege entsprechen dabei nur selten den Planungen der Kuratoren, sondern sind das Ergebnis einer individuell optimierten Neugier geleiteten (curiosity-driven) Besuchsgestaltung und entsprechen damit den wesentlichen Charakteristi-

ka informellen Lernens (z. B. Rounds 2004). Je nach individueller Besuchsgestaltung finden unterschiedliche Lernprozesse statt und wird der Erwerb unterschiedlicher Kompetenzen und Wissens unterstützt. Dabei spielen die individuellen Besuchsmotive eine wichtige Rolle. Diese reichen bei Erwachsenen von individuellem Lernen und Verfolgen von Interessen über das gemeinsame Lernen (in der Familie oder mit Freunden), die Durchführung gemeinsamer (Freizeit-)Aktivität, das Knüpfen sozialer Kontakte, Entspannung bzw. Erholung bis hin zur Popularität des Ortes und seiner Exponate (Phelan, Bauer & Lewalter 2018). Insbesondere für Kinder und Jugendliche, die fast ausschließlich in Begleitung ins Museum oder Science Center kommen, gestaltet sich der Besuch als ein soziales Ereignis. Ein Museumsbesuch ist häufig Teil der familiären Freizeitgestaltung oder wird gemeinsam mit Freunden unternommen. Dementsprechend ist informelles Lernen nicht nur durch die individuelle Rezeption der dargebotenen Inhalte, also z. B. durch Betrachten von Objekten, Lesen von Texten, Ausprobieren von Hands-on-Exponaten oder gemeinsame Beschäftigung mit Inhalten im Rahmen eines Spiels geprägt, sondern insbesondere auch durch den kommunikativen Austausch über die Exponate (Falk & Dierking 2012). Diese Gespräche können Lernprozesse fördern, die als solche teilweise gar nicht intendiert oder bewusst wahrgenommen werden (Clayton, Fraser & Saunders 2009). Sie sind aber auch Bestandteil von bewusst gestalteten Lernaktivitäten, die dem Besuchsmotiv der Eltern entspringen, mit der Familie (den Kindern) oder Freunden gemeinsam etwas zu lernen. Allen (2002) hat u. a. die Gespräche zwischen Kindern und Eltern untersucht, die sie als „learning talk“ bezeichnet. Sie konnte die folgenden Gesprächskategorien ermitteln: wahrnehmungsbezogen, affektiv, konzeptuell, verbindend und strategisch. Dem Besuchsmotiv des gemeinsamen Lernens tragen Museen Rechnung, indem sie etwa Spielangebote (für Familien) bereitstellen. So haben Allen und Gutwill (2009) die positive Wirkung von sogenannten „juicy questions“ ermittelt, die nur durch das gemeinsame Erforschen eines Sachverhalts beantwortet werden können. Außerdem können die sozialen Interaktionen zu einem gemeinsamen Verständnis eines Sachverhalts (David & Bar-Tal 2009) und zu gemeinsamen emotionalen Erfahrungen (Thomas, McGarty & Mavor 2009) führen, die wiederum zur Entwicklung einer kollektiven Identität sowie geteilten sozialen Normen und Werten beitragen (Steg & DeGroot 2012). Diese sozialen Erfahrungen sind Teil des Erfahrungsspektrums während eines Museumsbesuchs, das von Pekarik, Doering und Karns (1999, S. 152ff.) auf der Basis von Interviewstudien anhand der vier Bereiche objektbezogene, kognitive, introspektive und soziale Erfahrungen beschrieben wird. Objektbezogene Erfahrungen beziehen sich auf Erfahrungen, die man beim Betrachten von z. B. schönen, seltenen, ungewöhnlichen oder wertvollen Objekten macht. Kognitive Erfahrungen beschreiben Prozesse der Erweiterung des eigenen Verständnisses, den Erwerb neuen Wissens oder die Ausdifferenzierung bestehenden Wissens. Dieser Bereich thematisiert somit die Lernwirkung im engeren Sinne. Unter dem Begriff der introspektiven Erfahrungen werden die Reflexion

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Kapitel 7  Informelles Lernen

über die Bedeutung des Gesehenen, individuell entwickelte Vorstellungen über andere Zeiten und Orte sowie die Erinnerung an eigene Vorerfahrungen zusammengefasst; sie beschreiben also den wahrgenommenen persönlichen Bezug zu einem dargestellten Sachverhalt. Die sozialen Erfahrungen schließlich betonen den Besuch als soziales Ereignis, dessen Lernwirkung von emotionalen und sozialen Interaktionserfahrungen bis hin zum Wissenserwerb reicht. So individuell die Besuchsgestaltung und die Erfahrungen während des Museumsbesuchs sind, so individuell sind auch dessen Ergebnisse. Hooper-Greenhill (2007) hat versucht, dieser Komplexität der informellen (Lern-)Erfahrungen der Museumsbesucher in ihrer Konzeption des „Generic Learning Outcome“ (GLO) Rechnung zu tragen, das die vielfältigen, subjektiv von den Besuchern wahrgenommenen Wirkungen des Besuchs zusammenfasst. Diese reichen von der Aktivierung und Erweiterung des eigenen Wissens und Verständnisses über den Zuwachs an intellektuellen oder technischen Fertigkeiten und deren Übertragung auf andere Themen und Situationen bis hin zum Erwerb sozialer und kommunikativer Fähigkeiten, der Reflexion eigener Einstellungen und Werte und dem Erleben von Freude, Inspiration, Überraschung und Kreativität. Museen bilden somit einen weiteren vielfältigen Bestandteil der informellen Lernwelten von Kindern und Jugendlichen.

7.4

Beziehung formales und informelles Lernen in der Schule

Wie die Darstellung des informellen Lernens in unterschiedlichen Kontexten des Kindes- und Jugendalters gezeigt hat, besteht ein unterschiedlich stark ausgeprägtes Zusammenspiel von informellem und formalem Lernen, das im Folgenden für den Kontext Schule eingehender betrachtet werden soll. Generell wird angenommen, dass sich schulisches und informelles Lernen wechselseitig beeinflussen; denn informelles Lernen findet vorgelagert und zeitgleich zu schulischem Lernen statt (Rauschenbach 2016). Die Vorbereitung auf schulisches Lernen im Rahmen informeller Bildungsprozesse, die u. a. in der Familie stattfinden, kann die Effektivität von schulischem Unterricht beeinflussen, der nach Helmke (2014) als Angebot verstanden werden kann, welches von den Lernenden je individuell wahrgenommen und genutzt wird. Damit reduziert sich die Verantwortung der Schule für den Bildungserfolg bzw. Misserfolg (BMFSFJ 2005) und es geht darum, informelles, non-formales und formales Lernen sinnvoll und in ergänzender Weise miteinander zu verknüpfen (Eshach 2007). Des Weiteren ist zu beachten, dass in formalen Kontexten wie der Schule neben formalem Lernen auch immer non-formales (z. B. im Rahmen von Hausaufgaben, Exkursionen und Projektarbeiten) und informelles Lernen (z. B. in den Pausen, auf Klassenfahrten oder innerhalb von Angeboten im Ganztagsbereich) stattfinden kann. Kenntnisse, die non-formal oder informell innerhalb oder außerhalb

der Schule erworben wurden, sollten somit stärker als bisher im Rahmen des formalen schulischen Lernens berücksichtigt werden. Die zunehmende Beachtung des informellen Lernens liegt u. a. auch in der Wahrnehmung von Defiziten und Entwicklungsbedarf beim schulischen Lernen begründet. Denn die Lernanforderungen, die sich aus der Charakterisierung unserer Gesellschaft als Wissensgesellschaft und der Forderung nach lebenslangem Lernen ergeben, erschweren es die Inhalte und Formen des Lernens ausschließlich mit formal-institutionellem Lernen abzudecken. Lernende müssen auch auf Anforderungen des Alltags reagieren und damit ihr Lernen selbst organisieren (vgl. Tully 2004). Entsprechend fordern verschiedene Experten-Kommissionen alle Möglichkeiten auszuschöpfen um formale (institutionalisierte) und informelle Lernmöglichkeiten durch ein integratives Gesamtsystem bestmöglich zu verbinden. Damit geht eine Neubewertung des schulischen als auch des informellen Kompetenzerwerbs, eine Neuformulierung der Rolle der Lehrenden und Lernenden als auch eine Abkehr vom wissensdominierten hin zum kompetenzentwickelnden Lernen einher (vgl. Delors 1996; OECD 1996; Overwien 2009). Nach Hungerland und Overwien (2004) geht es dabei um die Etablierung einer schulischen Lernkultur, die informell erworbene Kompetenzen miteinbezieht und an diese anknüpft. Damit verbunden ist eine Veränderung der Rolle von Lehrkräften und Lernenden. Schülerinnen und Schüler werden nicht mehr in erster Linie als Empfänger von Informationen und Wissen angesehen, sondern als wissend und kompetent erachtet. Sie werden aufgefordert, ihre außerschulisch erworbenen Kompetenzen in den Unterricht aktiv einzubringen. Lehrende werden zunehmend zu professionellen Lernbegleitern, die eigenständige Lernprozesse der Lernenden anregen und begleiten. Damit werden partizipative Lernformen etabliert, die ein Lernklima erfordern und anregen, welches insbesondere durch Gleichberechtigung und Respekt gekennzeichnet ist. Welche Rolle nun das informelle Lernen und die in den oben vorgestellten Kontexten erworbenen Kompetenzen, in der Schule spielen, soll im Folgenden näher betrachtet werden. In der Familie werden die Grundvoraussetzungen für den Zugang zur sozialen und kulturellen Umwelt sowie die grundlegenden Strukturen und Motivationen für (spätere) Lern- und Bildungsprozesse im Rahmen formaler Kontexte (Schule, Universität oder Aus- und Weiterbildungsstätten) geschaffen, was wiederum einen entscheidenden Einfluss auf den Bildungserfolg und die gesamte Bildungslaufbahn der Kinder und Jugendlichen haben kann (vgl. Minsel 2007). Aber auch grundlegende Fertigkeiten und Kenntnisse wie die Sprache oder der überlegte und differenzierende Umgang mit Informationen, welche das erfolgreiche Lernen in formalen Kontexten erheblich unterstützen können, werden in der Familie erworben. Nach Büchner und Krah (2006) wäre ohne den grundlegenden Beitrag und ohne die vorbereitende und begleitende Unterstützung durch die Familie der formale Bildungserfolg kaum möglich. Dies zeigt sich v. a. auch darin, dass Schulen oft ganz selbstverständlich ein „schulkompatibles Kind“ (Helsper & Hummrich 2008) vor-

137 7.4  Beziehung formales und informelles Lernen in der Schule

aussetzen, das den schulischen Normen und Gegebenheiten ohne große Schwierigkeiten entsprechen kann. Dass dies aber nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann, sondern in Abhängigkeit der ökonomischen, sozialen und kulturellen Ressourcen sowie der schulnahen Einstellungen und Praktiken der Familien variiert, führt in der Folge häufig zu Problemen. Es erscheint vor diesem Hintergrund wichtig, dass die Schule nicht nur die für das Gelingen der formalen Ausbildung von Kindern und Jugendlichen unabdingbaren informellen Kompetenzen und Fertigkeiten, wie z. B. Sprache, Disziplin, Eingehen sozialer und emotionaler Beziehungen und Bindungen, Vertrauen und Wertschätzung, in sinnvoller Weise zu nutzen versteht, sondern es auch im umgekehrten Fall – dem Fehlen dieser Kompetenzen – vermag, kompensierend einzugreifen und entsprechende Bildungsund Lernprozesse zu fördern und zu unterstützen. Die positiven Wirkungen von Peers als Bildungsinstanzen auf die soziale, personale, kognitive und emotionale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen können im Rahmen formaler Bildungskontexte gezielt zur Förderung des Wissens und der Kompetenzen von Heranwachsenden genutzt werden. Grunert (2006) verweist darauf, „dass Kinder bei manchen kognitiven Aufgaben zu besseren Lösungen kommen und ihre Leistungsfähigkeit nachhaltig steigern können, wenn ihnen ein anderes Kind und nicht ein Erwachsener widerspricht. Das gemeinsame Aushandeln von Lösungswegen und Verfahrensweisen wirkt sich dann positiv auf das Verstehen von Zusammenhängen und die Wissensaneignung aus, da diese auf begründeten Einsichten beruhen“ (ebd. 2006, S. 28). Es gibt im Rahmen formaler Kontexte bereits einige Programme bzw. Methoden, in deren Fokus ein peerbasierter Kompetenzerwerb liegt. Diese so genannte „peer education“ (z. B. Damon 1984; Heyer 2010) geht dabei davon aus, dass Peers einen besonders großen Einfluss auf Gleichaltrige ausüben, da sie für diese als Bezugs- und Orientierungspunkte fungieren (Heyer 2010) und in der Konsequenz Lern- und Bildungsprozesse erleichtert und optimal unterstützt werden können. Bekannte Beispiele hierfür sind z. B. Streitschlichtungsprogramme wie Peer-Scouts oder im Hinblick auf Lernen und Wissenserwerb das Konzept des „Lernens durch Lehren“ (vgl. Renkl 2006). Hinsichtlich digitaler Medien und dem damit verbundenen Informationsangebot betonen Rauschenbach und Kollegen (Rauschenbach et al. 2004, S. 33): „Insbesondere das Internet nimmt der Schule ihre monopolartige Stellung, jungen Menschen Zugänge zum Weltwissen zu verschaffen, in radikaler Weise. Es bietet schnellere Zugänge als Bibliotheken und ermöglicht auch Laien, sich in kurzer Zeit mit fremden Themen und Fragen kompetent auseinanderzusetzen“. Zudem zeigt Tully (2004) ebenso wie Düx und Rauschenbach (2010) auf, dass Kinder und Jugendliche bei der Beschäftigung mit Computer und Handy wesentliche Fertigkeiten im Umgang mit neuen Technologien erwerben (z. B. Informationsrecherche, -beschaffung und -austausch), die für den Wissenserwerb in stärker formalen Kontexten hilfreich sind. Die Befunde einer Re-Analyse von PISA-Daten von Wittwer und Senkbeil (2008) weisen jedoch darauf hin, dass die In-

tensität der Computernutzung in der Freizeit keinen Einfluss auf die Mathematikleistung der Schülerinnen und Schüler hat. Lediglich bei jenen Lernenden, die sich selbstbestimmt und problemlösungsorientiert mit dem Computer beschäftigten, zeigte sich ein entsprechender positiver Zusammenhang. Diese Befunde legen nahe, dass es nicht die informelle Computernutzung in der Freizeit per se ist, die für den Kompetenzerwerb förderlich ist, sondern die Art und Weise der Beschäftigung. Aßmann (2016) regt an, die von Kindern und Jugendlichen außerhalb der Schule erworbenen Erfahrungen in Netzwerken im schulischen Kontext nicht zu ignorieren. Informelle Lernumgebungen wie Museen richten ihre Inhalte und deren Präsentation u. a. auch an schulischen Curricula aus und streben dementsprechend eine explizite Verschränkung mit formalen Bildungseinrichtungen wie der Schule an. Dies drückt sich auch in ihren umfangreichen Bildungsangeboten aus, die sich speziell an Schulen richten. Damit bieten sie die Möglichkeit, formales Lernen in der Schule um informelle Lernangebote, die alternative Informationszugänge und Lernprozesse ermöglichen, zu ergänzen und damit potentielle Defizite und Grenzen schulischen Lernens wie z. B. Visualisierung und Vermittlung komplexer und schwierig fassbarer naturwissenschaftlicher Themen und Phänomene sowie naturwissenschaftlicher Forschung und derer Forschungsprozesse zu kompensieren. Die motivationalen und kognitiven Wirkungen dieser schulergänzenden, musealen Angebote werden zunehmend erforscht (u. a. Neubauer, Geyer & Lewalter 2014). Bisher wurde in erster Linie der Nutzen des informellen Lernens für das formale Lernen betrachtet. Auch wenn informelles Lernen nicht direkt gesteuert werden kann, so gibt es dennoch Möglichkeiten, es bis zu einem gewissen Grad zu unterstützen, wodurch es jedoch zwangsläufig formaler wird (Overwien 2009). Sowohl durch den Aufbau und die Förderung der Selbststeuerungskompetenz der Lernenden (7 Kap. 4) als auch durch die Schaffung von Rahmenbedingungen bzw. Lernumgebungen, die die Anregung und Förderung bestimmter Lerntätigkeiten und -erfahrungen ermöglichen (informelle Bildung), kann das informelle Lernen bis zu einem gewissen Grad gezielt beeinflusst und unterstützt werden (vgl. Overwien 2009). Beispielsweise zielen Angebote in den Medien (z. B. Wikipedia, Blogs oder Foren zu spezifischen Thematiken) oder im Museum (z. B. Ausstellungen und deren pädagogisches Begleitmaterial) darauf ab informelles Lernen anzuregen. Aber auch die tägliche Interaktion und Kommunikation zwischen Eltern und Kindern kann zum Teil im Hinblick auf bestimmte Inhalte und Thematiken zielgerichtet und bewusst strukturiert erfolgen, um informelle Lernprozesse anzuregen. Insgesamt stellt in der aktuellen und künftigen Bildungsforschung das Zusammenspiel formaler (schulischer) und informeller Bildung ein wesentliches Thema dar. Erst auf dieser Basis kann ein umfassendes Verständnis von Bildungsprozessen und ihren Bedingungen entwickelt werden. Dabei muss beachtet werden, dass auch in formalen Lernkontexten wie der Schule informelles Lernen stattfindet. Dieses Zusammenspiel wird umso bedeutsamer, je enger die Verbindung zwi-

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Kapitel 7  Informelles Lernen

schen beiden Lernkontexten wird. Das wird etwa im Rahmen von Angeboten informeller Lernumgebungen für Ganztagsschulen deutlich. Hierbei bestehen zahlreiche offene Fragen u. a. hinsichtlich förderlicher Bedingungen für deren effektives Zusammenspiel, wie zum Beispiel eine geeignete Vorund Nachbereitung des Besuchs informeller Lernumgebungen wie Museen im Schulunterricht (vgl. Lewalter & Geyer 2005). Vor welchen Herausforderungen die empirische Forschung zum informellen Lernen in ihrer Gesamtheit steht, wird im nächsten Abschnitt thematisiert.

7.5

Forschungsmethodische Zugänge zum informellen Lernen

7 Bei der Erforschung informeller Lernprozesse geht es zum einen um die Entstehung von Lernanlässen und zum anderen um informelle Lernprozesse und deren Ergebnisse selbst, deren Untersuchung sowohl aus der Perspektive des Lernenden als auch aus der Perspektive der Lernumgebung erfolgen kann. Es geht darum herauszufinden, wann und unter welchen Umständen eine Person aus eigener Initiative damit beginnt sich informell Wissen anzueignen. Wie ist die Umgebung gestaltet, die dazu beiträgt, dass Fragen entstehen, auf die eine Person eine Antwort haben möchte, und wie ergeben sich aufgrund von Umweltmerkmalen Lerngelegenheiten durch die neues Wissen erworben werden kann? Informelles Lernen zu erforschen stellt dabei aus mehreren Gründen eine große Herausforderung dar (Rauschenbach 2016). Zum einen entzieht es sich der unmittelbaren Beobachtung aufgrund der häufig unbewusst und beiläufig ablaufenden Lernprozesse; zum anderen ist es je nach Lerninhalt (z. B. personale, soziale oder Handlungskompetenz) in unterschiedlichem Ausmaß möglich, einen kausalen Zusammenhang zwischen erworbenen Kompetenzen und vorangegangen Lernprozessen herzustellen. So kann die erfolgreiche Bedienung einer App sehr wohl auf die vorherige Beschäftigung mit dem Smartphone zurückgeführt werden, wohingegen die erfolgreiche Bewältigung einer Konfliktsituation im Freundeskreis weit weniger eindeutig durch frühere Erfahrungen während konstruktiver Streitgespräche in der Familie begründet werden kann. Schließlich liegt eine weitere Herausforderung darin begründet, die informell erworbenen Kompetenzen zu erfassen. Mit den genannten Aspekten informellen Lernens sind insbesondere forschungsmethodische Herausforderungen verbunden. Ganz generell bedarf es, nicht zuletzt auch auf Grund des noch frühen Stands der Forschung, möglichst offener Erhebungsverfahren, wie z. B. Beobachtung, Interviews oder Fragebögen mit weitgehendem, offenem Antwortformat (vgl. 7 Kap. 26), die die Lernenden selbst zu Wort kommen lassen, um damit möglichst viele Erscheinungsformen und Varianten dieser Lernform sichtbar und beschreibbar zu machen (Molzberger & Overwien 2004). So können zwar die Bedingungen, Ergebnisse und Effekte der informell erworbenen Kompetenzen ermittelt werden, die sich z. B. in

kompetentem Handeln oder der Persönlichkeitsentwicklung, veränderten Einstellungen und Verhaltensweisen einer Person ausdrücken können (Düx & Rauschenbach 2016; Düx & Sass 2005). Die informellen Lernprozesse sind dagegen einer empirischen Erforschung nur eingeschränkt zugänglich. Dies liegt u. a. auch an der geringen Zugänglichkeit lebensweltlicher, informeller Lernkontexte, wie beispielsweise der Familie oder der Gleichaltrigengruppe, die sich einer empirischen Erforschung und Erfassung zu einem gewissen Teil entziehen (Düx & Rauschenbach 2016). Bell, Lewenstein, Shouse und Feder (2009) betonen, dass für die Erforschung des informellen Lernens wesentlich ist, nicht nur die kognitiven Effekte zu erforschen, sondern auch die Unterstützung intellektueller, verhaltensbezogener, sozialer und partizipatorischer Fähigkeiten durch informelle Lerngelegenheit. Dabei ist es wichtig die situativen informellen (Lern-)Bedingungen aus Sicht der Lernenden zu erfassen. Dazu verfolgen Bell und Kollegen (Bell et al. 2009) unter einem lerner-zentrierten Fokus einen tiefenorientierten kognitiven ethnografischen Forschungsansatz, indem sie das Verhalten, die sozialen Interaktionen und kommunikativen Prozesse von Kindern und Jugendlichen in unterschiedlichen informellen Settings (u. a. zuhause und in interaktiven Science Center) beobachten, Notizen im Feld machen, ethnografische und klinische Interviews aufzeichnen, Videoaufnahmen von Lernhandlungen machen und von den Lernenden erstellte Produkte im Rahmen des Lernprozesses als Datenbasis für ihre Analysen berücksichtigen. Dieser multimethodische Ansatz verdeutlicht die zentrale Rolle der ökologischen Validität (s. 7 Kap. 26) bei der Erforschung des informellen Lernens. Eine weitere wesentliche Herausforderung liegt im unterschiedlichen Grad der Bewusstheit des informellen Lernens und der damit erworbenen Kompetenzen. Dies zeigt sich etwa darin, dass Lernende selbst ihre Aktivitäten häufig nicht oder erst sehr viel später als signifikanten Wissenserwerb wahrnehmen (vgl. Livingstone 1999). Problematisch ist, dass über verbalisierende Erhebungsmethoden grundsätzlich nur diejenigen Lernprozesse, die zumindest im Nachhinein bewusstgemacht werden können, erfasst werden können und dass die Fähigkeit zur Reflexion und Versprachlichung individuell unterschiedlich ausgeprägt ist (Molzberger & Overwien 2004). Hinsichtlich des Lernzuwachses, der aufgrund des unterschiedlichen Vorwissens und des individuellen Lernprozesses sehr unterschiedlich ausfällt (Rauschenbach 2016), waren bisher Selbstauskunft und Selbsteinschätzung die Methoden der Wahl. Der Einsatz von retrospektiven Interviews oder Lerntagebüchern erfährt zunehmend Beachtung. Diese methodischen Zugänge können zum Verständnis von wechselseitigen Bezügen verschiedener Bildungsprozesse und -kontexte beitragen. Düx und Sass (2005) weisen darauf hin, dass Längsschnittstudien zu Lernzuwächsen und Kompetenzentwicklungen mithilfe von Fragebögen und Interviews ein wertvoller Zugang sein können, um empirisch gesichertes Wissen über die Möglichkeiten und Grenzen des Lernens in außerschulischen Bildungsorten und -modalitäten (vgl. 7 Abschn. 7.2.2) zu generieren. Durch kontrollierte Längs-

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schnittstudien könnten der Kompetenzzuwachs und verbesserte Handlungsfähigkeiten valide abgebildet werden. Die prozesse sowie der geringen Zugänglichkeit lebensweltliSelbsteinschätzung informeller Lernprozesse und -ergebnisse cher informeller Lernkontexte wie Familie oder Gleichaltim Rahmen von Interviews oder Fragebogenstudien kann rigengruppe sind die forschungsmethodischen Zugänge erste Einblicke geben, inwieweit in bestimmten Bereichen ein begrenzt. Bisher wurde das informelle Lernen überwieKompetenzgewinn aufgetreten ist und welche Rolle verschiegend mithilfe von Fragebögen und Interviews untersucht. dene Lernorte hierbei aus subjektiver Sicht gespielt haben. Damit können in zunehmendem Maße Einblicke in die Relevanz non-formaler und informeller Bildungsorte im Vergleich zur Schule gewonnen werden (vgl. Düx & RauschenVerständnisfragen bach 2016). Zusammenfassend muss festgestellt werden, dass für die Erforschung von Lernprozessen und Lernzuwächsen von ? 1. Auf welche Überlegungen geht die Entstehung des Kindern und Jugendlichen in informellen Lernumgebungen Begriffs des informellen Lernens zurück? bisher im Unterschied zur schulischen Lernforschung kaum 2. Welche wesentlichen Merkmale zeichnen informelles auf bewährte, eigens für diesen Forschungskontext entwiLernen aus? ckelte und empirisch überprüfte, Instrumente oder Verfahren 3. Grenzen Sie die Lernformen formales, nicht-formales zurückgegriffen werden kann. Die weitere Entwicklung und und informelles Lernen gegeneinander ab. Erprobung von Forschungsinstrumenten, -methoden und 4. Wieso wird der Familie eine Gatekeeper-Funktion -verfahren zur Beschreibung und Messung von Kompetenzzugesprochen und was bedeutet diese für die zuwächsen und Bildungswirkungen in informellen LernkonBildungsbiographie von Kindern und Jugendlichen? texten stellt damit ein wichtiges Forschungsdesiderat dar Was ist dabei mit der allgemeinen und differentiellen (ebd.).

Zusammenfassung Der Begriff „informelles Lernen“ geht auf den Philosophen und Pädagogen John Dewey zurück und beschreibt jene Lernprozesse, die in alltäglichen Lebens- und Problemsituationen sowohl zielgerichtet, strukturiert, selbstgesteuert und bewusst, als auch nicht intentional, beiläufig und unbewusst ablaufen können. Informelles Lernen erfolgt häufig bezogen auf konkrete Lern- bzw. Problemanlässe des Alltags und ist dementsprechend stark erfahrungsbasiert. Für Kinder und Jugendliche bilden insbesondere die Familie, die Gleichaltrigengruppe, (digitale) Medien und institutionelle informelle Lernumgebungen wie Museen, Zoos, Aquarien, botanische Gärten oder auch Vereine und Jugendorganisationen wichtige informelle Lernorte. Im Rahmen des informellen Lernens werden erfahrungsbasiert kognitive, motivationale, emotionale und soziale Grundkompetenzen, wie z. B. die Medienkompetenz oder „information literacy“ erworben, die wesentliche Ergänzungen zur institutionellen Ausbildung darstellen. Informelles Lernen ist neben dem formalen Lernen in Institutionen (Schule, Hochschule oder Aus- und Weiterbildungsstätten) ein wesentlicher Bestandteil der Gesamtheit der lebenslang stattfindenden Bildungsprozesse. Für schulisches Lernen ist es wichtig, diese informellen Lernprozesse stärker als bisher zu berücksichtigen, aufzugreifen und mit den Lernprozessen im Schulkontext zu verknüpfen. Die Erforschung des informellen Lernens stellt die empirische Bildungsforschung vor große Herausforderungen: u. a. aufgrund des frühen Forschungsstandes, der teilweise unbewusst und beiläufig ablaufenden Lern-

Gatekeeperfunktion der Familie gemeint? 5. Hinsichtlich welcher Kompetenzen stellt die Peergroup eine wesentliche informelle Lernumgebung dar? 6. Welche Kompetenzen werden im Rahmen des informellen Lernens mit digitalen Medien erworben? 7. Welche Bedeutung hat die Kontextualisierung der Wissensaneignung mit Medien? 8. Was ist mit der Aussage „Museumsbesuche von Kindern und Jugendlichen sind ein soziales Ereignis“ gemeint und welche Bedeutung hat diese Aussage für das informelle Lernen? 9. Welche Bedeutung hat das informelle Lernen für schulische Bildungsprozesse? 10. Nennen Sie wesentliche Herausforderungen bei der Erforschung des informellen Lernens!

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142

Kapitel 7  Informelles Lernen

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143

Fachliches Lernen Birgit Jana Neuhaus, Detlef Urhahne und Stefan Ufer

8.1

Schülervorstellungen – 145

8.1.1 8.1.2

Schülervorstellungen in der Biologie – 145 Schülervorstellungen in der Mathematik – 146

8.2

Wissenserwerb – 148

8.2.1 8.2.2

Wissenserwerb in den Naturwissenschaften – 148 Wissenserwerb in der Mathematik – 149

8.3

Kompetenzerwerb – 150

8.3.1 8.3.2

Kompetenzerwerb in den Naturwissenschaften – 150 Kompetenzerwerb in der Mathematik – 152

8.4

Fachsprache – 153

8.4.1 8.4.2

Fachsprache in den Naturwissenschaften – 153 Fachsprache in der Mathematik – 154

8.5

Aufgabeneinsatz – 155

8.5.1 8.5.2

Aufgabeneinsatz in den Naturwissenschaften – 155 Aufgabeneinsatz in der Mathematik – 156

Verständnisfragen – 158 Literatur – 158

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Urhahne, M. Dresel, F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9_8

8

144

8

Kapitel 8  Fachliches Lernen

Fachliches Lernen hat sich über allen historischen Wandel als ein festes Prinzip in der Schule etabliert (Huber 2001). Ein bestimmter Fächerkanon aus sprachlich-literarischen, historisch-sozialen, mathematisch-naturwissenschaftlichen und ästhetisch-künstlerischen Fächern gilt als zeitlich besonders stabil (Tenorth 1994). Die Sinnhaftigkeit des fachlichen Lernens wird jedoch häufig in Frage gestellt. Schließlich unterliegen auch die aktuellen und späteren Alltagsfragen und -probleme der Schülerinnen und Schüler keiner fachlichen Ordnung, sondern gehen über Fächergrenzen hinaus (Reinhold & Bünder 2001). Von psychologischer Seite sprechen allerdings gute Argumente für eine Aufrechterhaltung des Fachprinzips in der Schule. Zum Ersten zeigt es sich, dass fachspezifisches Wissen oft wichtiger ist als allgemeines Wissen oder Begabung. Wenn Kinder ein starkes fachliches Interesse für einen Lebensbereich aufweisen, können sie darin geistige Leistungen erbringen, die sonst erst im Jugend- oder Erwachsenenalter zu erwarten wären. Fehlendes Allgemeinwissen oder verzögerte kognitive Entwicklung kann durch besseres fachliches Wissen kompensiert werden. Selbst jüngere, weniger begabte Kinder können die gleichen Gedächtnisleistungen wie ältere, begabte Kinder erzielen, wenn epistemische Neugier für ein Thema vorhanden ist (Schneider, Körkel & Weinert 1989). Diese Erkenntnis ist so erstaunlich, dass in Spielshows regelmäßig fachlich gut vorbereitete Kinder gegen erwachsene Experten antreten dürfen, um zu zeigen, dass sie einen scheinbar übermächtigen Konkurrenten in einem ausgewählten Bereich fachlichen Wissens schlagen können. Gut ausdifferenziertes fachliches Wissen ist daher eine wichtige Voraussetzung, um auf einem Gebiet besondere Leistungen zu erzielen (Tricot & Sweller 2014; 7 Kap. 3). Passend dazu kamen Seidel und Shavelson (2007) in einer Metaanalyse zu dem Ergebnis, dass fachspezifische Aspekte des Unterrichtens großen Einfluss auf den Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler haben.

Mythos: „Am Ende ist es doch nicht entscheidend, was gelernt wird.“ Auf den Berliner Gymnasialdirektor Friedrich Gedike (1789) geht die Unterscheidung zwischen formaler und materialer Bildung zurück. Die formale Bildung sollte die geistigen Anlagen des Individuums schulen und eine Denkerziehung sein. Die materiale Bildung dagegen sollte diejenigen Inhalte vermitteln, die in der Berufsausbildung und im späteren Leben von Bedeutung sein konnten. Im Laufe der Zeit kam es zu einer Höherschätzung der formalen Bildung mit dem hehren Ziel, allgemeine Methoden des Lernens und Arbeitens zu vermitteln (Lind 1996). Die heutige Lehr-Lern- und fachdidaktische Forschung ist sich jedoch darüber einig, dass der Wert der materialen Bildung nicht von der Hand zu weisen und am Ende sehr wohl von Bedeutung ist, was gelernt worden ist. Das belegt auch eine aktuelle Studie von

Winter-Hölzl, Watermann, Wittwer und Nückles (2016). Im Rahmen einer quasi-experimentellen Forschungsarbeit ließen sie 25 Promovierende und 29 Studierende der Bildungswissenschaften je zwei Zusammenfassungen von Forschungsartikeln schreiben. In der Qualität des wissenschaftlichen Schreibstils, dem Grad der Fokussierung und der Verdichtung relevanter Informationen erwiesen sich die Promovierenden den Studierenden als deutlich überlegen. Die Unterschiede waren jedoch nicht auf formale Aspekte bildungswissenschaftlicher Forschungskompetenz oder die berichtete Deutschnote zurückzuführen. Vielmehr konnte die Fähigkeit zum Verfassen von Zusammenfassungen wissenschaftlicher Forschungsarbeiten am besten durch spezifisches Wissen über das Genre Forschungsartikel erklärt werden, das bei den Promovierenden klar höher ausgeprägt war. Fachspezifisches Wissen ist daher nicht ersetzbar, wenn es um die Lösung fachspezifischer Probleme geht. Die formale Bildung kann die materiale Bildung nicht ablösen.

Zum Zweiten lassen sich auf allgemeiner Ebene erworbene Kenntnisse und Fähigkeiten nicht so einfach auf andere Fächer übertragen. Beispielsweise wird vom Fach Latein immer wieder behauptet, dass es eine ausgezeichnete Denkschule sei und den Zugang zu anderen Sprachen erleichtere (vgl. Haag & Stern 2000). Bereits Thorndike (1923) hatte jedoch festgestellt, dass der Besuch des Lateinunterrichts für Lernleistungen in Mathematik und Naturwissenschaften keinen Vorteil erbrachte. Die Denkschulung durch das Erlernen der Sprache schlug sich nicht auf Fächer nieder, die in hohem Maße durch analytisches Denken geprägt sind. In jüngerer Zeit konnte zudem gezeigt werden, dass Latein das Erlernen einer modernen Fremdsprache nicht mehr unterstützte als anderer Sprachunterricht (Haag & Stern 2003). Wenn eine bestimmte Disziplin beherrscht werden soll, muss vor allem fachspezifisches Wissen erworben werden. Die Übertragung allgemeinen Wissens auf andere Fächer funktioniert nur unzureichend (Klauer 2011). Deshalb ist aus psychologischer Sicht das fachliche Lernen in der Schule durchaus zu befürworten. Fachliches Lernen umfasst den Erwerb spezifischer Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse, um Aufgaben und Probleme in einem Wissensgebiet schnell, sicher, flexibel und adaptiv lösen zu können.

In diesem Kapitel soll in fünf Abschnitten die Bedeutung des fachlichen Lernens in der Schule dargelegt werden. Der Fokus der Darstellung liegt auf dem mathematischnaturwissenschaftlichen Bereich, doch ließen sich ebenso gut für andere Bereiche vergleichbare Besonderheiten des fachlichen Lernens aufzeigen. Der erste Abschnitt beschäftigt sich mit Schülervorstellungen über fachliche Inhalte der Biologie und Mathematik. Der zweite Abschnitt thematisiert den

145 8.1  Schülervorstellungen

Erwerb fachlichen Wissens und der dritte Abschnitt den Erwerb von Kompetenzen. Der vierte Abschnitt setzt sich mit Fachsprache und der fünfte Abschnitt mit dem fachlichen Einsatz von Aufgaben auseinander. Die hier dargestellten Inhalte wurden so gewählt, dass in jedem Abschnitt fachdidaktische und lernpsychologische Aspekte anhand konkreter Beispiele veranschaulicht und die zugehörigen Vermittlungsansätze vorgestellt werden können.

8.1

Schülervorstellungen

Die Auseinandersetzung mit fachlichen Schülervorstellungen ist ein besonders bedeutsamer Aspekt fachdidaktischer Forschung. Es geht dabei um die Frage, welche fachlichen Inhalte und Konzepte Schülerinnen und Schülern Lernschwierigkeiten bereiten, um welche Schwierigkeiten es sich handelt und wie mit diesen Schwierigkeiten im Unterricht umgegangen werden sollte. Bei der Untersuchung von Schülervorstellungen wird davon ausgegangen, dass Schülerinnen und Schüler durch ihre Alltagserfahrungen bestimmte Vorstellungen entwickeln, die oft teilweise, aber nicht vollkommen mit dem fachlich richtigen Konzept übereinstimmen. Weil häufig Alltagseinflüsse prägend sind, wird auch von Alltagsvorstellungen gesprochen (vgl. Kattmann 2015). Ziel des fachlichen Unterrichts ist es, ebenjene Alltagsvorstellungen konkret anzusprechen und in fachlich tragfähige Vorstellungen zu überführen. Das ist nicht so leicht, wie es sich anhört, denn Schülervorstellungen können sich als sehr resistent gegenüber gezielten Instruktionsbemühungen erweisen (Witzig, Freyermuth, Siegel, Izci & Pires 2013). Werden die Alltagsvorstellungen jedoch nicht überwunden, erschweren sie das Weiterlernen und verhindern den Aufbau eines fachlich angemessenen Verständnisses.

8.1.1

Schülervorstellungen in der Biologie

Im Bereich der Biologie gibt es, ebenso wie in den anderen naturwissenschaftlichen Bereichen, zusammenfassende Darstellungen, die Schülervorstellungen beschreiben, kategorisieren und Ursachen für fachlich abweichende Vorstellungen identifizieren, um daraus Implikationen für den Unterricht abzuleiten (Hammann & Asshoff 2014; Kattmann 2015). Im Folgenden sollen einige dieser Schülervorstellungen exemplarisch dargestellt werden. Die wohl bekannteste Schülervorstellung aus dem Bereich der Biologie stammt aus der Evolutionsbiologie: Viele Schulpflichtige, aber auch Erwachsene, denken, dass Organismen erworbene körperliche Merkmale an ihre Nachkommen weitergeben können. Eine Giraffe beispielsweise, die ihren Hals immer wieder reckt, um an das Blattwerk hoher Bäume zu gelangen, wird einen längeren Hals bekommen und kann diesen an ihre Nachkommen vererben. Diese Vorstellung stimmt mit der derzeit dominierenden wissenschaftlichen Sicht nicht überein. Vielmehr werden von Generation

zu Generation Gene vererbt, die Eigenschaften wie einen langen Hals kodieren. Langfristig setzen sich nach dem Prinzip der Selektion die am besten an ihre Umwelt angepassten Lebewesen mit ihren Eigenschaften durch. Dadurch werden merkmalskodierende Gene, nicht aber erworbene körperliche Merkmale an Nachkommen vererbt. Eine weitere weit verbreitete Vorstellung aus dem Bereich der Biologie ist die direkte Abstammung des Menschen vom Affen. Nach aktueller wissenschaftlicher Sichtweise geht man aber davon aus, dass Mensch und Affe lediglich gemeinsame Vorfahren haben und sich die evolutionären Wege anschließend trennten. Ebenfalls häufig anzutreffen ist die Vorstellung, dass Zellen, wenn sie sich vermehren, beim Teilen kleiner werden, oder das menschliche Herz die Form eines roten Herzens wie in der Werbung besitzt. Woher kommen diese Vorstellungen? Häufig sind Alltagserfahrungen der Lernenden Ursachen für ihre Vorstellungen. Beispielsweise gehen viele Schülerinnen und Schüler davon aus, dass das Wachstum der Pflanzen auf die festen Stoffe in der Erde zurückzuführen ist. Manche Lernenden haben die Erfahrung gemacht, dass Pflanzen durch Düngen wachsen und schließen daraus, dass es die Inhaltsstoffe des Düngers sind, die direkt zur Biomasseproduktion beitragen. Auf die eigentlichen biomasseproduzierenden Bestandteile, Kohlendioxid und Wasser, kommen sie nicht. Fehlerhafte oder zu stark vereinfachende Abbildungen in den Medien, die bisweilen auch in Schulbüchern anzutreffen sind, können ebenfalls zu fachlich falschen Vorstellungen beitragen, wie das Beispiel zur anatomischen Form des Herzens verdeutlicht. Vermischungen von Alltags- und Fachsprache dürfen als weitere Ursache von fachlich unangemessenen Vorstellungen gelten. Beispielsweise wird der Teil des Auges, der ihm die kugelige Form verleiht, als Glaskörper bezeichnet. Es handelt sich um eine gallertige Masse, die von einer Membran umgeben ist. Die Lernenden assoziieren mit dem Begriff Glaskörper jedoch eine feste Struktur gleich einer Murmel. Schmetterlingsblütengewächse werden auch nicht von Schmetterlingen bestäubt, sondern erinnern lediglich in ihrer Anatomie an das Aussehen eines Falters. Schließlich kann auch der Unterricht selbst zu fachlich falschen Vorstellungen der Lernenden führen. Wird im Unterricht beispielsweise ein Strukturmodell einer Lunge eingesetzt, sollte unbedingt eine Modellkritik erfolgen, damit Lernende nicht schließen, die Beschaffenheit der Lunge sei plastikartig und die Farbgebung entspräche der des Modells. Wie sollte mit Schülervorstellungen im Unterricht umgegangen werden? Bestehende und der Lehrkraft bekannte Schülervorstellungen sollten nicht als Defizit, sondern als Lerngelegenheiten betrachtet werden. Allerdings können bestehende Vorstellungen nicht einfach ersetzt, sondern müssen durch unterrichtliches Handeln in fachlich angemessene Vorstellungen überführt werden. Hierzu kann sich die Lehrkraft verschiedener Lehrstrategien bedienen, die Kattmann (2015) als (1) Anknüpfen, (2) Perspektive wechseln, (3) Kontrastieren und (4) Brückenbauen bezeichnet. Bei allen vier Vorgehensweisen sollte in einem ersten Schritt die Vorstellung der Schülerin oder des Schülers fest-

8

146

Kapitel 8  Fachliches Lernen

. Abb. 8.1 Schülervorstellungen zum Thema Blutkreislauf (nach Hammann 2003, S. 31)

8

gestellt werden. Dann können verschiedene Lehrstrategien zum Einsatz gelangen. Beim Anknüpfen wird die Schülervorstellung als Ansatzpunkt für die Einführung der fachlich richtigen Vorstellung genutzt. Beim Perspektivwechsel wird die Sichtweise des Lernenden durch die fachlich korrekte Vorstellung ergänzt, indem beide Perspektiven einander gegenübergestellt werden. Beim Kontrastieren wird die wissenschaftliche Vorstellung der Schülervorstellung derart entgegengesetzt, dass sie beim Lernenden einen kognitiven Konflikt hervorruft. Beim Brückenbauen wird ähnlich wie beim Anknüpfen der Lernende stufenweise von seiner Vorstellung zur fachlich richtigen Vorstellung geführt. Die Strategie des Kontrastierens ist von allen vieren sicherlich die bekannteste. Sie kommt der aus der Psychologie stammenden Strategie zur Förderung des Konzeptwechsels (Conceptual Change) am nächsten (Krüger 2007). Bei dieser Strategie geht es darum, Unzufriedenheit mit der aktuellen Vorstellung hervorzurufen und die neue Vorstellung verständlich (intelligible), plausibel (plausible) und gedanklich fruchtbar (fruitful) in den Unterricht einzuführen. Der Lernzyklus (Learning Cycle) stellt eine konkrete Möglichkeit dar, wie man eine wissenschaftlich korrekte Vorstellung durch einen Konzeptwechsel in den Unterricht einbringen kann (Weitzel 2004). Dazu soll in einem ersten Schritt das zu erklärende Phänomen exploriert werden. In einem zweiten Schritt soll die neue Vorstellung gefunden und mithilfe der Lehrkraft das Verständnis davon verfeinert werden. In einem dritten Schritt soll die fachlich richtige Vorstellung in einer anderen Situation angewendet beziehungsweise auf diese übertragen werden. Stellen Sie sich vor, Sie wollten mit Schülerinnen und Schülern der sechsten Jahrgangsstufe erarbeiten, wie die Sauerstoffversorgung im menschlichen Körper funktioniert und welche Rolle dabei der Blutkreislauf spielt. Viele Schülerinnen und Schüler haben den Begriff Blutkreislauf schon einmal gehört. Werden die Lernenden in der ersten Phase, der Explorationsphase, jedoch gebeten, den Blutkreislauf in den Umriss eines menschlichen Körpers einzuzeichnen, geschieht dies nur selten richtig. Weil die Aufgabenstellung eine konkrete

Rückmeldung ermöglicht, kann das bestehende Defizit bewusst gemacht und die Lernenden motiviert werden, dieses zu überwinden. In der zweiten Phase, der Konzeptfindungsphase, werden Materialien zur Verfügung gestellt, mit denen die Lernenden sich selbst erklären können, warum bestimmte Vorstellungen nicht richtig sein können. Hat ein Lernender beispielsweise zahllose Venen und Arterien an das Herz gezeichnet, kann er an einem anatomischen Modell die Anzahl der Anschlüsse nachzählen. Werden die Adern nicht als Kreislauf gezeichnet, kann die Frage weiterhelfen, wie das Blut aus den Gliedmaßen denn wieder zum Herzen zurückkommen soll, um Blutstauungen und ein Anschwellen der Extremitäten zu verhindern (Hammann 2003; . Abb. 8.1). Am Ende der zweiten Unterrichtsphase sollten die Schülerinnen und Schüler ihre Zeichnungen korrigieren. In der dritten Phase, der Konzeptanwendung, wird neben dem Konzept des Sauerstoffs noch ein weiteres Konzept, beispielsweise das der Nährstoffe, eingeführt. Mit Hilfe der neu gelernten Vorstellung sollen die Lernenden erklären, wie die Nährstoffe im menschlichen Körper verteilt werden. Um auf die Überwindung von Schülervorstellungen zugeschnittenen Unterricht zu planen, wurde das Modell der didaktischen Rekonstruktion vorgeschlagen (Kattmann, Duit, Gropengießer & Komorek 1997). Es beruht auf einer konstruktivistischen Lerntheorie (7 Kap. 1) und empfiehlt der Lehrkraft, sich bei der Unterrichtsplanung und didaktischen Strukturierung des Unterrichts nicht nur mit den fachlichen Inhalten der Unterrichtsstunden, sondern auch mit den zugehörigen Schülervorstellungen zu beschäftigen.

8.1.2

Schülervorstellungen in der Mathematik

Mathematik wird oft als Domäne betrachtet, die räumlichvisuelle Vorstellungskraft und logisches Denkvermögen erfordert. Es sind also weniger Erfahrungen des Lebensalltags, die Lernende zu Fehlschlüssen verleiten, als eingeschränk-

147 8.1  Schülervorstellungen

te Vorstellungen zu einem mathematischen Konzept, die oft durch Übergeneralisierungen oder falsche Analogien kompensiert werden. Für mehrere mathematische Fähigkeitsbereiche wurden in der Vergangenheit typische Fehler der Lernenden beschrieben (Eichelmann, Narciss, Schnaubert & Melis 2012; Leinhardt, Putnam & Hattrup 1992). Ein Beispiel ist das Funktionskonzept, das Zusammenhänge zwischen Größen beschreibt. Soll ein Bild in dreifacher Größe auf Papier gedruckt und in seinen Proportionen erhalten bleiben, muss es nicht nur drei Mal so hoch, sondern auch drei Mal so breit gedruckt werden. Dazu benötigt man aber nicht drei, sondern neun Mal so viel Farbe. Viele Schülerinnen und Schüler gehen jedoch intuitiv davon aus, dass funktionale Zusammenhänge im Allgemeinen lineare Eigenschaften aufweisen (de Bock, van Dooren, Janssens & Verschaffel 2007). Weiterhin wird bei Funktionen und Funktionsgraphen häufig angenommen, dass es sich bei der Variable auf der xAchse um die ablaufende Zeit handelt. Oft wird der Graph auch mit einer bildlichen Darstellung der Situation verwechselt (Leinhardt et al. 1992), z. B. indem der Aufstieg auf einen Berg mit einem ansteigenden Graphen identifiziert wird, auch wenn z. B. abnehmender Luftdruck dargestellt werden soll. Derartige konzeptuelle Einschränkungen werden häufig darauf zurückgeführt, dass abstrakte mathematische Konzepte anhand konkreter Beispiele und Darstellungen erworben werden. Decken verwendete Beispiele nicht die ganze Breite des Konzepts ab, werden also beispielsweise im Unterricht überwiegend proportionale Funktionen behandelt oder werden Beziehungen zwischen verschiedenen Darstellungen nicht thematisiert, so können entsprechende Einschränkungen entstehen, die schwer zu beseitigen sind (de Bock et al. 2007). Studie: Was bedeutet das Gleichheitszeichen für Kinder? In der Mathematik wird das Gleichheitszeichen so häufig verwendet, dass es eigentlich keine abweichende Vorstellung über dessen Bedeutung geben sollte. Falkner, Levi und Carpenter (1999) fanden jedoch erstaunliche Ergebnisse, als sie 750 Grundschulkinder mit folgendem Problem konfrontierten: 8C4 DC5 Typischerweise antworteten die Kinder mit 12 oder 17 als ihrer Meinung nach richtiger Lösung. Weniger als zehn Prozent der Grundschulkinder gaben mit 7 die richtige Antwort, und dieses Problem verschwand auch nicht mit zunehmendem Alter. Offenbar haben Grundschulkinder ein begrenztes Verständnis von Gleichheit. Anfänglich denken sie beim Gleichheitszeichen, dass sie eine Berechnung des davorstehenden Ausdrucks vornehmen und das Ergebnis dahinter schreiben müssen. So kommen die meisten Kinder auf 12. Einige berücksichtigen noch die weitere Addition und erhalten 17 als Resultat. Diese Denkweise ist so robust, dass selbst eine Intervention die Kinder nicht zum Umdenken veranlasste. Zeigte man

ihnen Stapel mit acht und vier Klötzchen und hielt Stapel mit zwölf und fünf Klötzchen dagegen, wussten sie, dass diese nicht gleich waren. Dennoch schrieben sie bei der Rechenaufgabe wieder 12 in das leere Feld. Um Grundschulkindern die Bedeutung des Gleichheitszeichens zu vermitteln, ist es günstig, mit ihnen verschiedene wahre und falsche Gleichungen zu diskutieren (Davis 1964). Das Gleichheitszeichen sollte darin an unterschiedlichen Positionen auftauchen. Dadurch gewinnen Kinder die Einsicht, dass Gleichheit eine Beziehung ausdrückt und nicht das Signal dafür ist, etwas zu berechnen.

Wenn Schülervorstellungen aus einer eingeschränkten Behandlung im Unterricht resultieren, liegt eine frühe Präventionsstrategie nahe. Der bis vor wenigen Jahren weit verbreitete Aufbau des Funktionskonzepts ging von proportionalen Funktionen als „einfachstem“ Fall aus, und erst nach deren ausführlicher Behandlung im Unterricht wurde er auf weitere Funktionstypen erweitert. Es liegt auf der Hand, darin einen Grund für eingeschränkte konzeptuelle Vorstellungen zu sehen. Entsprechend wird nun bereits bei der Einführung des Funktionskonzepts ein stärkerer Fokus auf nichtproportionale, insbesondere nicht-lineare Zusammenhänge in der Realität gelegt. Da jedoch Strategien zum Umgang mit proportionalen Größen bereits vor der Einführung des Funktionskonzepts erlernt werden (z. B. im Rahmen der Prozentrechnung), ist nicht zwingend zu erwarten, dass das Problem dadurch vollständig gelöst werden kann. Neben der bereits für die Biologie beschriebenen Konzeptwechselstrategie, die einen bewussten Übergang zu neuen Vorstellungen vorbereitet, wurde im Fach Mathematik das Arbeiten mit typischen Fehlern als eine aussichtsreiche Konfrontationsstrategie untersucht, um ggf. fehlerhaft aufgebaute Vorstellungen zu korrigieren (Oser 1999; Santagata 2005). Dabei lassen sich – je nach Schülervorstellung und Unterrichtssituation – von der Lehrkraft vorbereitete fehlerhafte Lösungen einbringen oder die Fehler der Lernenden analysieren. Eine Herausforderung besteht darin, die Lernenden über eine Korrektur ihrer Lösung hinaus anzuregen, die nicht tragfähigen Vorstellungen hinter ihren Fehlern zu ergründen und anzupassen. Hier hat sich eine Strategie als effektiv erwiesen, die eine Fehlerbeschreibung (wie wurde bei der falschen Lösung vorgegangen), Fehlererklärung (warum führt dieses Vorgehen zur falschen Lösung), Fehlerkorrektur (wie wäre es richtig gewesen) und vertiefende Auseinandersetzung mit dem Fehler vorsieht. Für den letzten Schritt kann beispielsweise überlegt werden, bei welchen Aufgaben ein ähnlicher Fehler auftreten würde (Heemsoth & Heinze 2016). Neben solchen Strategien zum Umgang mit Fehlern, die sowohl an Lernende vermittelt als auch in den Unterricht eingebunden werden können, wird allgemein ein „evolutionärer Umgang mit Schülervorstellungen“ als aussichtsreich erachtet, der die Vorstellungen von Lernenden mit ihren Stärken und Schwächen explizit aufgreift und sie zu fachlich tragfähigen Vorstellungen weiterentwickelt.

8

148

8.2

8

Kapitel 8  Fachliches Lernen

Wissenserwerb

Wenn Schülerinnen und Schüler im Unterricht Wissen erwerben, wird eine kognitive Repräsentation von Lerngegenständen im Langzeitgedächtnis aufgebaut (7 Kap. 2). In Anlehnung an Anderson und Krathwohl (2001) gilt es verschiedene Arten des Wissens voneinander zu unterscheiden: 4 Deklaratives Wissen ist das Wissen über Sachverhalte (Wissen, was). Es umfasst das gesamte Faktenwissen, z. B. über Buchstaben, Wörter, Zahlen, Mengen, geometrische Formen, Tiere oder Pflanzen, als Grundlage effizienten Problemlösens in einem Unterrichtsfach. 4 Konzeptuelles Wissen ist eine komplexere Form des deklarativen Wissens. Es beinhaltet durch Relationen verbundenes Faktenwissen und zeigt sich in Form von Klassifikationen, Prinzipien, Kategorien, Modellen oder Schemata. Der Satz des Pythagoras oder die Evolutionstheorie sind Beispiele für das vernetzte, konzeptuelle Wissen. 4 Prozedurales Wissen bezeichnet das Wissen über Fertigkeiten und deren Ausübung (Wissen, wie). Es manifestiert sich in der Anwendung von Methoden, Algorithmen, Prozeduren, Routinen, Techniken oder Skripten. Schülerinnen und Schüler benötigen ihr prozedurales Wissen beim Experimentieren oder Berechnen einer Gleichung. 4 Metakognitives Wissen ist das Bewusstsein und Wissen über die eigenen Kognitionen. Es enthält strategisches Wissen zur Informationsverarbeitung und Problemlösung sowie zur Überwachung und Steuerung des Lernprozesses. Metakognitives Wissen hilft Informationen zu organisieren oder anzureichern, Wissenslücken oder Bearbeitungsfehler festzustellen und zu beheben.

8.2.1

Wissenserwerb in den Naturwissenschaften

Kennzeichnend für den Wissenserwerb in der Biologie ist, dass, stärker als in anderen naturwissenschaftlichen Fächern, umfangreiches deklaratives Wissen „angehäuft“, konzeptuelles Wissen aber nur unzureichend aufgebaut wird (vgl. Sandmann, Schmiemann, Neuhaus & Tiemann 2013). Allgemein wurden die unbefriedigenden Leistungen deutscher Schülerinnen und Schüler in TIMSS u. a. darauf zurückgeführt, dass im naturwissenschaftlichen Unterricht zu wenig kumulativ gelernt, d. h. zu wenig übergeordnetes Konzeptwissen erworben wurde (Baumert et al. 2001). Einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vertreten die Meinung, dass die alleinige Speicherung von Konzepten nicht ausreicht, sondern zusätzlich gelernt werden muss, wie die Konzepte zueinander in Beziehung stehen und in welchen Situationen sie Anwendung finden. Dem Biologieunterricht wirft man vor, dass er eben keine vernetzten Wissensstrukturen hervorbringt, sondern auf der Ebene einzelner deklarativer Fakten stehenbleibt. Zusammenhänge und übergeordnete Konzepte werden – so die Kritik – häufig zu wenig vermittelt (Wadouh, Liu, Sandmann & Neuhaus

2014). In verschiedenen Studien konnte gezeigt werden, dass ein auf grundlegenden Konzepten basierender Unterricht bei Schülerinnen und Schülern tatsächlich ein stärker vernetztes Wissen zur Folge hat (Förtsch, Heidenfelder, Spangler & Neuhaus 2017; Wadouh et al. 2014). Um in Zukunft bei den Schülerinnen und Schülern eine stärker vernetzte Wissensbasis aufzubauen, definieren die aktuellen Bildungsstandards Biologie (KMK 2005a) drei Basiskonzepte: Struktur-Funktion, System und Entwicklung. Sie sollen helfen, eine Vielzahl fachlicher Phänomene zu erklären und einzelne Wissenselemente sinnvoll miteinander zu verknüpfen. Die Auswahl dieser drei grundlegenden Konzepte ist jedoch rein normativ. Andere Arbeitsgruppen kommen zu anderen grundlegenden Konzepten. Die Einheitlichen Prüfungsanforderungen für die Abiturprüfung Biologie in Deutschland geben beispielsweise acht Prinzipien vor (KMK 2004). Seit den 1970er Jahren gibt es immer wieder Ansätze, die versuchen, den Biologieunterricht nach grundlegenden Prinzipien zu gestalten (Kattmann & Issensee 1977). Bekannt geworden sind vor allem die universellen Lebensprinzipien von Schaefer (1990) und die von Baalmann et al. (2002) vorgeschlagenen Erschließungsfelder. Alle diese Ansätze verfolgen dasselbe Ziel, nämlich eine Vernetzung der Unterrichtsinhalte im Sinne des kumulativen Lernens zu fördern (Schmiemann, Linsner, Wenning & Sandmann 2012). Diese grundlegenden Konzepte lassen sich als „Rückgrat“ des Faches verstehen. Es verleiht dem Unterrichtsgeschehen Struktur und soll dabei helfen, das Wissen besser zu verankern. Ähnliche Ansätze gibt es auch in Australien mit einem nationalen Curriculum aus sechs grundlegenden Konzepten (ACARA 2014) oder in den USA mit vier übergeordneten Konzepten für die Biologie und sieben übergeordneten Konzepten für alle Naturwissenschaften (NRC 2012). Es stellt sich die Frage, wie Unterricht aufgebaut und strukturiert werden kann, der sich an grundlegenden Konzepten orientiert. Im Rahmen der Konzeptwechselforschung existieren dazu zwei prominente Denkansätze (Özdemir & Clark 2007), die vermutlich je nach Vorwissen der Schülerinnen und Schüler im Unterricht Anwendung finden: der Rahmentheorieansatz und der Fragmentierungsansatz (Schneider & Hardy 2013). Nach dem Rahmentheorieansatz sind einzelne Konzepte von Schülerinnen und Schülern in größere mentale Netzwerke eingebettet. Man spricht hier auch von Theorien. Kinder bilden bereits in frühen Lebensjahren erste Theorien über Phänomene ihrer Umwelt, die im Laufe des Lebens basierend auf Erfahrungen und Lernprozessen fortlaufend zu neuen Theorien umgebaut werden (Vosniadou 1994). Ein Umbau kann nur dann erfolgen, so die Annahme, wenn es zu kognitiven Konflikten zwischen neuen Erfahrungen und bisherigen Theorien kommt. Nach dem Fragmentierungsansatz wiederum besteht Wissen aus einzelnen Elementen, die erst nach und nach zu Theorien verknüpft werden. Die einzelnen Elemente werden in spezifischen Situationen gemeinsam aktiviert. Je nach Erfahrungen werden unterschiedliche Muster von Elemen-

149 8.2  Wissenserwerb

ten aktiviert und bilden so spezifische Konzepte aus. Neue Wissenselemente werden beständig in bestehende Elementmuster eingebaut (diSessa, Gillespie & Esterly 2004). Je nachdem welcher Ansatz sich in der Forschung in Zukunft als richtungsgebend erweist, müssen in unterrichtlichen Situationen entweder kognitive Konflikte ermöglicht oder aber Konzepte schrittweise aufgebaut und Wissenselemente sinnvoll miteinander vernetzt werden. Unabhängig davon bleibt festzuhalten, dass Unterricht nach beiden Ansätzen nicht auf der Ebene der Fakten stehen bleibt, sondern immer auch Zusammenhänge und übergeordnete Konzepte vermittelt (vgl. Nachreiner, Spangler & Neuhaus 2015). Förtsch, Dorfner, Baumgartner, Werner, von Kotzebue und Neuhaus (2017) konnten folgende Charakteristika eines erfolgreichen basiskonzeptorientierten Unterrichts herausarbeiten: 1. Arbeit mit kognitiven Konflikten/Fokusfragen, 2. Bewusstmachen des Lernstandes, 3. Arbeit mit den Schülerbeiträgen, 4. Achten auf fachliche Korrektheit, 5. Einfordern von Begründungen, 6. Schaffen einer klaren Sachstruktur des Unterrichts, 7. Nutzung anspruchsvoller Aufgaben und 8. Schaffung eines positiven Klassenklimas inkl. einer positiven Fehlerkultur.

selbst in Partnerarbeit den Kniesehnenreflex ausprobieren. Sie sammeln die Namen verschiedener Reflexe an der Tafel und berichten, dass es eine Krankheit gibt, bei der Menschen keine Reflexe haben. Daraufhin lassen Sie Hypothesen bilden, welche anatomischen Strukturen bei diesen Menschen evtl. gestört sind, so dass die Funktion nicht mehr erfüllt wird. In der Unterrichtsstunde zum Basiskonzept Entwicklung legen Sie hingegen eine Folie auf, die die Nervensysteme verschiedener Tierstämme zeigt. Dazu stellen sie die Frage, welche dieser Tierstämme Reflexe zeigen und welche nicht. Die Lernenden sollen ihre Antworten begründen.

8.2.2

Wissenserwerb in der Mathematik

Auch in der Mathematik wird Wissen entlang zentraler Konzepte organisiert, die im Unterricht kumulativ aufgebaut werden. Die Bildungsstandards der KMK unterscheiden beispielsweise die konzeptuellen Leitideen „Zahl“, „Messen“, „Muster und Strukturen bzw. Funktionaler Zusammenhang“, „Raum und Form“ und „Wahrscheinlichkeit, Daten und ZuDiese Aspekte finden sich in allgemeiner Form auch in Mo- fall“. Die oft strenge hierarchische Struktur mathematischer dellen guten Unterrichts oder Planungsmodellen von Unter- Konzepte stellt viele Lernende dabei vor Herausforderungen. richt wieder. Neuhaus und Kollegen (2014) beschreiben ba- Typisch ist die Überzeugung, dass ein Quadrat kein Rechteck sierend auf diesen Charakteristika, wie Unterricht so geplant sei, weil Rechtecke nur je zwei, aber nicht vier gleichlange Seiwerden kann, dass konzeptuelles Wissen auf der Grundla- ten haben dürften (Heinze 2002). Korrekt ist aber, dass jedes ge eines spezifischen Basiskonzepts erworben werden kann Quadrat auch ein Rechteck ist, weil das Rechteck den hierar(7 Im Fokus). chisch übergeordneten Begriff bildet. Auch Vernetzungen zwischen verschiedenen Teilgebieten der Mathematik werden als wichtig erachtet. Spezifisch Im Fokus: Nutzung von Basiskonsepten (Neuhaus et al. 2014) für die Mathematik ist zum Beispiel, dass mathematische Stellen Sie sich vor, Sie möchten eine Unterrichtsstunde zum Konzepte häufig in unterschiedlichen Darstellungen auftreThema Reflexbogen planen. Einmal sollen Sie sich dabei auf ten können, die jeweils nicht alle Aspekte des Konzepts gleich das Basiskonzept Struktur-Funktion, das andere Mal auf das gut sichtbar machen (Duval 2006; Nistal, van Dooren & Basiskonzept Entwicklung beziehen. Wie unterscheiden sich Verschaffel 2014). So sind beispielsweise Polstellen von Funkdie beiden Stunden? tionen anhand eines Funktionsterms recht gut identifizierbar, Minima und Maxima – bis zu einer gewissen Genauigkeit Lernziel – dagegen besser im Graphen abzulesen. Die Steigung eiBereits die Lernziele beider Stunden unterscheiden sich. In ner linearen Funktion ist in unterschiedlichen Darstellungen auf verschiedene Weise zu erkennen: im Funktionsgraphen der Unterrichtsstunde zum Basiskonzept Struktur-Funktion als Neigung der Geraden, im Funktionsterm als Faktor vor verfolgen Sie das Ziel, dass die Lernenden verstehen, der veränderlichen Variablen und in der Wertetabelle als der welche biologischen bzw. anatomischen Strukturen nötig konstante Abstand von bestimmten Funktionswerten. Eine sind, damit eine möglichst schnelle Reaktion auf einen Steigung kann darüber hinaus sehr unterschiedliche PhänoReiz hin möglich wird. Beim Basiskonzept Entwicklung mene beschreiben: eine Geschwindigkeit, einen Stückpreis, versuchen Sie beispielsweise zu erklären, dass eine Differendie Dichte eines Materials etc. Ein wesentlicher Teil von zierung zwischen Reflex und willentlichem Verhalten nur bei Begriffsverständnis ist es, zwischen den Darstellungsformen Tierstämmen einen Sinn macht, bei denen man zwischen peripherem und zentralem Nervensystem unterscheiden kann. flexibel wechseln zu können, um das Phänomen je nach Problemstellung zugänglich zu machen (Kaput 1989; Gagatsis Frage an die Lernenden in der Hinführungsphase & Shiakalli 2004). Es zeigt sich jedoch, dass viele Lernende In der Unterrichtsstunde zum Basiskonzept StrukturAufgaben nicht mit der am besten geeigneten Darstellung löFunktion lassen Sie die Schülerinnen und Schüler sen, sondern individuell und unabhängig von der Aufgabe eine bestimmte Darstellungsweise bevorzugen. Nistal et al.

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150

Kapitel 8  Fachliches Lernen

Beispiel Rechteckdarstellungen Wie gross ist 1/4 + 1/5 genau? Hier siehst du ein weiteres Modell. Wir nennen es Rechteckmodell . Damit kannst du zwei verschiedene Brüche gleichzeitig darstellen und dann ihre Summe ablesen.

1. Schritt Zeichne ein Rechteck und teile es senkrecht in vier Viertel.

2. Schritt Teile dasselbe Rechteck waagrecht in fünf Fünftel.

3. Schritt Färbe im Rechteck einen Viertel rot und einen Fünftel blau. 1/20 des Rechtecks ist doppelt gefärbt .

4. Schritt Zeichne ein neues Rechteck mit gleicher Unterteilung. Ordne die Bruchteile so an, dass du an keiner Stelle doppelt färben musst.

8 . Abb. 8.2 Rechteckdarstellungen zur Veranschaulichung der Addition von Brüchen (nach Affolter, Amstad, Doebeli & Wieland 2010, S. 37)

(2014) fanden, dass es Lernenden deutlich leichter fällt mit Funktionen umzugehen, wenn sie gelernt haben, passende Darstellungsformen für jeden Aufgabentyp zu wählen. Besonders das Ziel der Vernetzung unterschiedlicher Darstellungen von Konzepten hat für den Unterricht Konsequenzen. Gerade zur Erarbeitung von mathematischen Konzepten und Ideen werden gezielt Darstellungen genutzt, die Schülerinnen und Schüler selbst verwenden können, um Aufgaben zu lösen, bevor sie entsprechende Regeln oder Zahlsymbole gelernt haben (. Abb. 8.2). Anhand dieser sogenannten Arbeitsmittel werden Regelmäßigkeiten erarbeitet und daraus Strategien oder Regeln für die Arbeit mit Zahlsymbolen abgeleitet (z. B. Radatz et al. 1996). Während diese Arbeitsmittel vornehmlich für den Aufbau von Strategien und konzeptuellem Wissen genutzt werden, ist in anderen Bereichen, beispielsweise bei funktionalen Zusammenhängen, die gezielte Wahl von Darstellungen für die Lösung von Aufgaben zentral. Neben der Fähigkeit zum flexiblen Wechsel zwischen Darstellungen ist Wissen dazu erforderlich, welche Darstellungsform zur Lösung welcher Probleme hilfreich sein kann. Eine Möglichkeit, dieses Wissen im Unterricht zu erlangen, ist, die Wahl von Darstellungen gezielt zu thematisieren oder Aufgabenmerkmale zu diskutieren, die für die eine oder die andere Darstellungsweise sprechen (Nistal et al. 2014).

8.3

Kompetenzerwerb

Kompetenzen sind „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nut-

zen zu können“ (Weinert 2001, S. 27f). Der Kompetenzbegriff geht insoweit über den Wissensbegriff (7 Abschn. 8.2) hinaus, als er stärker den Handlungsbezug in realen Kontexten berücksichtigt. Im Folgenden werden zwei Kompetenzbereiche vorgestellt und exemplarisch ausgewählte Kompetenzmodelle erläutert. In Kompetenzstrukturmodellen wird versucht, verschiedene Dimensionen einer Kompetenz zu beschreiben und diese voneinander abzugrenzen. In Kompetenzentwicklungsmodellen wird dagegen die Ausbildung von Kompetenzen beschrieben.

8.3.1

Kompetenzerwerb in den Naturwissenschaften

In den Naturwissenschaften wird zwischen vier Kompetenzbereichen unterschieden (KMK 2005a 2005b 2005c): Der Kompetenzbereich „Fachwissen anwenden“ bezieht sich auf die Verfügbarkeit und effektive Nutzung von Wissen über die jeweiligen Inhalte. Die prozessbezogenen Kompetenzen „Erkenntnisgewinnung“, „Kommunikation“ und „Bewertung“ werden dagegen als inhaltsübergreifend aufgefasst. Der Kompetenzbereich „Erkenntnisgewinnung“ umfasst die fachgemäßen Arbeitsweisen und Arbeitstechniken des naturwissenschaftlichen Fachs sowie ein grundlegendes Verständnis der Struktur des Erkenntnisprozesses. Schülerinnen und Schüler sollen verschiedene epistemische Aktivitäten lernen, z. B. Fragen zu stellen, die mit naturwissenschaftlichen Erkenntnismethoden zu beantworten sind und sie sollen lernen, diese Methoden selbständig anzuwenden (Hammann 2007; Mayer 2007). Der Kompetenzbereich „Kommunikation“ (Lachmayer et al. 2007) beinhaltet die Fähigkeit, adressatenspezifisch zu kommunizieren, Fachsprache sachgerecht

151 8.3  Kompetenzerwerb

. Abb. 8.3 Dreidimensionales Kompetenzstrukturmodell der naturwissenschaftlichen Kompetenz im Projekt ESNaS – Evaluation der Standards für die Naturwissenschaften (nach Kauertz et al. 2010, S. 145)

Kognitive Prozesse Integrieren Organisieren Selegieren Reproduzieren

Komplexität Konzept Mehrere Zusammenhänge Ein Zusammenhang Mehrere Fakten Ein Fakt

zu nutzen und Fachinhalte in verschiedene Repräsentationsformen zu überführen. Der Kompetenzbereich „Bewertung“ beschreibt die Fähigkeit, naturwissenschaftliche Sachverhalte zu evaluieren. Dazu zählt die ethische wie die fachlichinhaltliche Bewertung (Bögeholz 2007; Hößle 2007). In den letzten Jahren wurde zu den Kompetenzbereichen eine Vielzahl von Modellen entwickelt. Sie zielen auf die Erfassung und Beschreibung verschiedener Kompetenzdimensionen und sollen Kompetenzentwicklungen deutlich machen. Als grundlegendes Kompetenzmodell für die Naturwissenschaften soll das Modell zur Evaluation der Standards in den Fächern Biologie, Chemie und Physik für die Sekundarstufe I (kurz: ESNaS-Modell) beschrieben werden (Kauertz, Fischer, Mayer, Sumfleth & Walpulski 2010) (. Abb. 8.3). Das ESNaS-Modell wurde entwickelt, um Aufgaben zu den Kompetenzbereichen der Bildungsstandards zu konzipieren. Die Aufgaben können sich je nach Kompetenzbereich in vier kognitiven Prozessen und fünf Komplexitätsstufen voneinander unterscheiden. Als niedrigste Stufe eines kognitiven Prozesses wird das Reproduzieren definiert. Es ist gefordert, wenn Inhalte eines Textes identifiziert und wiedergegeben werden sollen. Auf der höchsten kognitiven Stufe, dem Integrieren, müssen neue Informationen in vorhandenes Wissen eingepasst werden. Die Komplexitätsstufen beinhalten aufsteigende Komplexitäten, die mit der Schwierigkeit einer Aufgabe korrelieren. Aufgaben, die nach nur einem Fakt fragen, sind leichter zu beantworten als Aufgaben, die ein vollständiges Konzept ansprechen. Während das ESNaSModell zur Konstruktion von Aufgaben zu allen Kompetenzbereichen genutzt wird, gibt es auch Modelle, die sich nur auf einzelne Kompetenzbereiche konzentrieren. Das Strukturmodell von Mayer (2007) ist ein Beispiel aus dem Bereich der Erkenntnisgewinnung. Es beschreibt für den Biologieunterricht vier epistemische Aktivitäten, die notwendig sind, um zu naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu gelangen: Fragestellungen formulieren, Hypothesen generieren, Untersuchungen planen und durchführen sowie Daten auswerten und Schlussfolgerungen ziehen. Für jede Dimension können Niveaustufen definiert werden, die beschreiben,

Kompetenzbereiche Umgehen mit Fachwissen Erkenntnis gewinnen Kommunizieren Bewerten

wie gut Aspekte einzelner Tätigkeiten bereits beherrscht werden. Die Dimensionen gelten für verschiedene fachgemäße Arbeitsweisen wie das Betrachten ruhender Objekte, das Beobachten sich bewegender Objekte, das Untersuchen durch den Eingriff ins System und das Experimentieren mit der gezielten Manipulation von Variablen (vgl. Grönke & Windelband 1962). Allgemein werden prozessbezogene Kompetenzen durch einen spezifischen Aufgabeneinsatz gefördert (7 Abschn. 8.5). Am Beispiel der Erkenntnisgewinnung soll veranschaulicht werden, wie Kompetenzmodelle genutzt werden können, um Lernaufgaben zu einem speziellen Kompetenzbereich zu entwickeln. Angenommen, Schülerinnen und Schüler der fünften und sechsten Jahrgangsstufe sollen schrittweise an wissenschaftliche Erkenntnismethoden herangeführt werden. Das Kompetenzmodell von Mayer (2007) besagt, dass die Lernenden jede der einzelnen Dimensionen vermittelt bekommen sollen. Die Lehrkraft kann beispielsweise eine Situation schildern, zu der Schülerinnen und Schüler selbständig eine wissenschaftliche Fragestellung oder Hypothese entwickeln sollen. Oder sie kann ein Experiment beschreiben und fragen, welche Frage oder Hypothese die Wissenschaftlerin oder der Wissenschaftler bei diesem Experiment wohl hatte. Die Lehrkraft kann ferner eine Hypothese formulieren und die Schülerinnen und Schüler die zugehörige Fragestellung benennen oder ein passendes Experiment dazu entwickeln lassen. Schließlich kann sie einen vorgefertigten Datensatz zur Auswertung geben. Auf der Basis bisheriger Erfahrungen scheint wichtig, dass die Lehrperson die einzelnen Schritte wie Fragen formulieren, Hypothesen generieren, Untersuchungen planen, Daten analysieren und Schlussfolgerungen ziehen schrittweise üben lassen sollte und dieses nicht allein im Kontext vollständiger Experimente geschehen sollte. Die Lehrkraft sollte keinesfalls darauf verzichten, den Schülerinnen und Schülern Hilfestellung zu geben. Metaanalysen belegen eindrücklich, dass gezielte Anleitung durch die Lehrkraft forschendes Lernen sehr viel besser unterstützt als die Verantwortung für den Lernprozess von Anfang an vollständig den Schülerinnen und Schülern zu übertragen (Furtak, Seidel, Iverson & Briggs 2012; Lazonder & Harmsen 2016).

8

152

8.3.2

Kapitel 8  Fachliches Lernen

Kompetenzerwerb in der Mathematik

Grundvorstellungen

Situation

verarbeiten

Mathematik Welt

va l i d i e r e n

Ergebnisse

interpretieren

8

In verschiedenen Dokumenten staatlicher Einrichtungen und Initiativen (z. B. KMK 2003; CCSSI 2011) werden in der Mathematik neben konzeptuellen Leitideen unterschiedliche prozessbezogene Kompetenzen unterschieden. Die Bildungsstandards der KMK differenzieren beispielsweise sechs allgemeine Kompetenzen: mathematisch argumentieren, Probleme mathematisch lösen, mathematisch modellieren, mathematische Darstellungen verwenden, mit formalen, technischen und symbolischen Aspekten der Mathematik umgehen und mathematisch kommunizieren. Eine empirische Trennung der sechs prozessbezogenen Kompetenzen in verschiedene Dimensionen eines Strukturmodells ist für die Mathematik bisher nicht gelungen. Ob Lernende fachliche Anforderungen bewältigen können, hängt anscheinend stärker davon ab, welche mathematischen Konzepte (sog. Leitideen) erforderlich sind und weniger, wie mit diesen Inhalten gearbeitet werden muss. Die beschriebenen allgemeinen Kompetenzen dienen jedoch als Orientierung für den Aufbau breit nutzbaren mathematischen Wissens. Für jeden Kompetenzbereich werden die Anforderungsbereiche „Reproduktion“, „Verknüpfen“ sowie „Reflektieren und Verallgemeinern“ unterschieden, die auf entsprechenden Kompetenzstufenmodellen aufbauen (z. B. Reiss, Hellmich & Thomas 2002 für das Beweisen; Curcio 1987 für den Umgang mit Darstellungen). Insbesondere bei höheren Anforderungen sind neben konzeptuellem Wissen auch Problemlösestrategien erforderlich. Für einige Kompetenzbereiche wurden in der Vergangenheit auf der Basis von Expertenbeobachtungen Prozessmodelle entwickelt, die ein typisches Vorgehen bei den jeweiligen Anforderungen beschreiben. Ein Beispiel ist der Modellierungskreislauf, in dem reale Problemstellungen mit Hilfe der Mathematik gelöst werden (. Abb. 8.4). Ausgehend von einer realen oder als Text beschriebenen Situation wird von der Schülerin oder dem Schüler zunächst ein – oft mehr oder weniger passendes – mentales Situationsmodell konstruiert. Dieses Situationsmodell wird in die Sprache der Mathematik in ein mathematisches Modell überführt. Das im Modell enthaltene Problem kann nun mittels mathematischer Methoden gelöst werden. Das resultierende Ergebnis wird im Kontext der Situation interpretiert und es werden Konsequenzen für das Ausgangsproblem gezogen. Schließlich muss in realen Situationen überprüft werden, ob die Konsequenzen vor dem Hintergrund der Situation sinnvoll und tragfähig erscheinen. Auch wenn reale Lösungsprozesse häufig von den idealtypischen Modellen abweichen, geben diese doch einen Einblick, was getan werden muss, um Anforderungen erfolgreich zu bewältigen. Weiterhin lassen sich die Modelle verwenden, um typische Fehler, beispielsweise beim mathematischen Modellieren, zu beschreiben. Weil Lernenden die Auseinandersetzung mit authentischen Anforderungen häufig schwerfällt, wurden verschiedene Ansätze entwickelt, um ihnen vereinfachte Prozessmodelle als Orientierung für den Lösungsprozess zu vermitteln. Bei-

ematisieren math

Modell

Grundvorstellungen

Konsequenzen

. Abb. 8.4 Der Modellierungskreislauf in der Mathematik

spielsweise haben Zöttl, Ufer und Reiss (2010) sogenannte heuristische Lösungsbeispiele konzipiert und erprobt, um Lernenden anhand von beispielhaft dargestellten Lösungsprozessen eine dreischrittige Variante des Modellierungskreislaufs zu vermitteln. Schukajlow, Kolter und Blum (2015) nutzten einen sogenannten Lösungsplan, der den Lernenden Orientierung anhand von Leitfragen bietet. Eine analoge Strategie hat sich auch zur Förderung von Kompetenzen zum Beweisen als wirksam erwiesen (Chinnappan & Lawson 1996; Kollar et al. 2014). Dennoch ist umstritten, ob solche vollständigen, authentischen Anforderungen nicht gerade zu Beginn des Kompetenzerwerbs besonders Lernende mit niedrigen Vorkenntnissen überfordern könnten. Entsprechend wird auch dafür argumentiert, Teile der recht komplexen Prozesse gezielt zu vermitteln und einzuüben. Dabei können zwei verschiedene Vorgehensweisen verfolgt werden. Erstens ist es möglich, konzeptuelles mathematisches Wissen, das für die Schritte des Lösungsprozesses von Bedeutung ist, gezielt aufzubauen. Im Modellierungskreislauf ist beispielsweise spezifisches Wissen darüber notwendig, welche realen Phänomene und Strukturen mit welchen mathematischen Konzepten beschrieben werden können (sog. Grundvorstellungen; vom Hofe 1995). Derartiges Wissen lässt sich gezielt im Unterricht aufbauen, indem ein breites Spektrum unterschiedlich strukturierter Situationen zu einem Konzept diskutiert und verglichen wird. Zweitens können weiterhin gezielt Strategien für einzelne Phasen des Problemlöseprozesses vermittelt werden. Beispielsweise kann eine Skizze für das Lösen von Modellierungsaufgaben genutzt (Reuter, Schnotz & Rasch 2015) oder es können bekannte und unbekannte Größen in der Figur zu einer geometrischen Berechnungs- oder Beweisaufgabe systematisch eingefärbt werden (Heinze, Cheng, Ufer, Lin & Reiss 2008). Bruder (2003b) hat ein Modell entwickelt, das sich für die Vermittlung fachlicher Problemlösestrategien als wirksam erwiesen hat. Sie unterscheidet dabei vier Phasen, in denen die Schülerinnen und Schüler (1) an die Nutzung von heuristischen Strategien gewöhnt werden. Dadurch lernen sie Vorgehensweisen, die nicht sicher zur Lösung führen, aber

153 8.4  Fachsprache

häufig hilfreich für den Lösungsweg sind. (2) Einzelne Strategien werden bewusst vermittelt. (3) Diese Praktiken werden anhand unterschiedlicher Aufgaben eingeübt und es werden Merkmale von Situationen besprochen, in denen die Strategie besonders hilfreich ist. Schlussendlich wird (4) die neu erlernte Strategie im Kontext von Aufgaben eingesetzt, die teilweise auch andere Vorgehensweisen bzw. eine Kombination mit anderen Strategien erfordern. Zusammenfassend kann (mathematischer) Kompetenzerwerb verstanden werden als Erwerb von konzeptuellem Wissen (7 Abschn. 8.2), der durch Strategien und Metawissen zu mathematischen Arbeitsweisen im Sinne prozessbezogener Kompetenzen (7 Abschn. 8.4) ergänzt wird. Es wird – wie in der Biologie auch – angenommen, dass beide Aspekte durch die Beschäftigung mit kognitiv herausfordernden Aufgaben erworben werden können.

8.4

Fachsprache

Fachliches Lernen ist u. a. dadurch charakterisiert, dass die Schülerinnen und Schüler mit fachspezifischen Sprach- und Kommunikationsmustern vertraut gemacht werden und so einen tieferen Einblick in das Fach erhalten. Wie bedeutsam die korrekte und angemessene Nutzung von Fachsprache erachtet wird, zeigt sich mit einem Blick auf die politischen Vorgaben für den mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht. Der Kompetenzbereich Kommunikation ist in den deutschen Bildungsstandards für Mathematik, Biologie, Chemie und Physik fest verankert und mit ihm auch die korrekte Nutzung von Fachsprache (KMK 2005a, 2005b, 2005c). Auch in den USA findet die Bedeutung der Fachsprache in den nationalen Bildungsstandards Anerkennung (NRC 2012; CCSSI 2011). In welcher Form Sprache für das fachliche Lernen Bedeutung hat, kann sehr unterschiedlich sein. Aus fachzentrierter Sicht steht oftmals im Vordergrund, dass Fachbegriffe erlernt und korrekt angewendet werden sollen (Graf 1989; Maier & Schweiger 1999). Fachliches Kommunizieren als prozessbezogene Kompetenz – wie in aktuellen Zielformulierungen für den Fachunterricht beschrieben – kann sowohl das Verstehen bzw. Erschließen fachbezogener Informationen beinhalten (Bochnik 2017) als auch die fachlich korrekte und nach fachlichen Standards formulierte Weitergabe von Informationen (Kulgemeyer & Schecker 2013). In der Vergangenheit wurde besonders für Lernende mit Migrationshintergrund wiederholt gezeigt, dass Sprachkompetenzen den Erwerb fachlicher Kompetenzen beeinflussen (Bochnik 2017). Offenkundig sind (fach-)sprachliche Kenntnisse notwendig, um der Kommunikation zwischen der Lehrkraft und anderen Lernenden im Unterricht folgen bzw. aktiv daran teilhaben zu können. Darüber hinaus gibt es Theorien, die „Denken“ und „Lernen“ zumindest teilweise als „verinnerlichtes Kommunizieren“ auffassen und damit innere Lernprozesse an sprachliche Fähigkeiten gebunden sehen (Wygotski 1974). Man spricht

hier von der epistemischen Funktion von Sprache, also ihrer Rolle für die Konstruktion von Wissen.

8.4.1

Fachsprache in den Naturwissenschaften

Sprache lässt sich nach Hallidays Registertheorie (Halliday 1978) auf Basis ihrer Funktion unterteilen. Demnach sind Register „für einen bestimmten Kommunikationsbereich charakteristische und angemessene Sprech- und Schreibweisen . . . , die durch bestimmten Wortschatz und Strukturen gekennzeichnet sind“ (ISB 2017). Dementsprechend kann zwischen Alltagssprache, Bildungssprache und Fachsprache unterschieden werden. Alltagssprache ist eine für alle Mitglieder einer Gesellschaft verfügbare Sprache, die die Basis für alle anderen Sprachregister darstellt (Riebling 2013). Bildungssprache kann als fächerübergreifende Sprache des Wissenserwerbs und der Wissensproduktion betrachtet werden, unabhängig von Einzelsprachen und mit klarem Rückbezug zur Alltagssprache (Riebling 2013). Sie ist prinzipiell allen Mitgliedern einer Gesellschaft zugänglich (Habermas 1981). Unter Fachsprache versteht man die gemeinsame Sprache der Mitglieder einer Disziplin, die dem effizienten Austausch zwischen Fachvertreterinnen und Fachvertretern dient und so die Kommunikation in der so genannten Scientific Community vereinfacht und präzisiert (vgl. Schmiemann 2011). Damit kann Fachsprache nicht unabhängig vom Fach existieren und ist auch nicht für jeden Menschen gleich zugänglich. Sprache im Unterricht kann als eine Form von Bildungssprache verstanden werden, die auch als Bindeglied zwischen Alltags- und Fachsprache dient. Der Grad der Komplexität nimmt dabei über die Schulzeit hinweg zu. Sowohl die Bildungs- als auch die Fachsprache unterscheiden sich von der Alltagssprache insbesondere in lexikalischen und grammatikalischen Merkmalen. Charakteristisch für die Bildungsund die Fachsprache sind beispielsweise die Nutzung vieler Fach- und Fremdwörter, die Nutzung von Nominalisierungen, Komposita, Operatoren und Passivkonstruktionen (Riebling 2013). Bisher fand eine Vermittlung sprachlicher Kompetenz im naturwissenschaftlichen Unterricht eher beiläufig statt. Sowohl in den Bildungsstandards für die Naturwissenschaften (KMK 2005a, 2005b, 2005c) als auch im gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Naturwissenschaften (Eisner et al. 2017) wird deutlich, dass Sprachförderung im Fach ebenfalls eine Aufgabe des naturwissenschaftlichen Unterrichts darstellt. Sprachhandlungen der Schülerinnen und Schüler im naturwissenschaftlichen Unterricht sind zum Beispiel das Beschreiben, Erklären, Erläutern oder aber auch die Informationsentnahme aus Texten und Abbildungen (Tajmel 2011). Probleme können dabei auf verschiedenen Ebenen auftreten. So können bereits einzelne Worte oder aber ganze Satzkonstruktionen oder Redewendungen falsch verstanden werden. Hier wird von der Lehrkraft eine gewisse

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Kapitel 8  Fachliches Lernen

Sensibilität im Umgang mit Sprache gefordert, weshalb auch häufig von einem sprachsensiblen Fachunterricht gesprochen wird (Leisen 2013). Beim Umgang mit Sprache kommt dem domänenspezifischen Vorgehen eine besondere Bedeutung zu. Das Erstellen eines naturwissenschaftlichen Protokolls unterscheidet sich zum Teil erheblich von der Erstellung eines Protokolls im Deutschunterricht. Auch hierfür sollte ein Bewusstsein aufgebaut werden. Für erste Anläufe eignen sich neben allgemeinen Schemata zum Beispiel allgemeine Formulierungshilfen wie „Man konnte sehen, dass. . . “, „Die Temperatur betrug. . . “. Im Bereich der empirisch-naturwissenschaftlichen Forschung zur Fachsprache lag der Schwerpunkt lange auf der Schulbuchanalyse zu Fachbegriffen und der Analyse der Bedeutung des Erlernens von Begriffen für die Konstruktion von Konzepten. Zum Einsatz von Fachbegriffen zeigt eine Vielzahl älterer Studien, dass Lernende im Unterricht und in den Schulbüchern mit einer unüberschaubaren Anzahl von Fachbegriffen konfrontiert werden, die aber häufig nicht zum Verständnis des fachlichen Inhalts beitragen (z. B. Merzyn 1996; Wellington & Osborne 2001). Im Schnitt können Schülerinnen und Schüler beispielsweise im Fremdsprachenunterricht durchschnittlich nur ein bis zwei neue Begriffe pro Schulstunde lernen und behalten (Graf 1989). Es ist daher für eine naturwissenschaftliche Lehrkraft sinnvoll, sich im Vorfeld Gedanken darüber zu machen, welche Fachbegriffe im Rahmen einer Unterrichtseinheit eingesetzt werden sollen und diese dann explizit einzuführen, zu nutzen und auf Synonyme zu verzichten. Auch die Arbeit mit einem Begriffsglossar ist, insbesondere mit Blick auf die folgenden Schuljahre, sinnvoll. So scheint es beispielsweise wenig sinnvoll, in Jahrgangstufe 5 von „Blattgrünkörnern“ zu sprechen, wenn die „Chloroplasten“ diese ohnehin bald ablösen und bis zum Abitur geläufig sein werden. Fachbegriffe, die grundlegende Konzepte eines Faches beschreiben, sollten im Vordergrund stehen, während auf eine Anhäufung singulärer Fakten verzichtet werden sollte. Basierend auf den Theorien zum Wissenserwerb (7 Abschn. 8.2) scheint es zudem von Bedeutung, den Fachspracherwerb mit dem Fachwissenserwerb zu verbinden und beides in bestehendes Vorwissen der Schülerinnen und Schüler zu integrieren, um kumulatives Lernen zu ermöglichen (Baalmann et al. 2002). Neben der Forschung zum Einsatz von Fachbegriffen im Unterricht formiert sich zurzeit – aufgrund der in den Bildungsstandards formulierten politischen Forderung, den Aufbau der Fachsprache expliziter als bisher im naturwissenschaftlichen Unterricht zu betonen – ein neues Forschungsfeld in der naturwissenschaftlichen Fachdidaktik. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beschäftigen sich, basierend auf Befunden aus Sprachdidaktik, Linguistik und Kognitionspsychologie, mit dem Erwerb von Fachsprache im naturwissenschaftlichen Unterricht (Becker-Mrotzek, Schramm, Thürmann & Vollmer 2013). Ein einheitlicher theoretischer Rahmen liegt aber noch nicht vor (vgl. Härtig, Bertholt, Prechtl & Retelsdorf 2015). Es wird unter anderem versucht, die Frage zu beantworten, in welchem Verhältnis Fachwissen, Fachsprache und allgemeines Sprachverständnis zueinander-

stehen (z. B. Sumfleth, Kobow, Tunali & Walpuski 2013). Ferner werden Kompetenzmodelle zur Kommunikationskompetenz aufgestellt und evaluiert (z. B. Kulgemeyer & Schecker 2013) sowie Instrumente zur Diagnose von fachsprachlichen Fähigkeiten entwickelt (z. B. Busch & Ralle 2013). Darüber hinaus werden Methoden und didaktische Modelle entwickelt und evaluiert, welche den Fachspracherwerb der Schülerinnen und Schüler im naturwissenschaftlichen Unterricht besser fördern sollen (z. B. Parchmann & Bernholt 2013). Trotz der bisher wenigen empirisch begründeten Ansätze zur Vermittlung von Fachsprache im naturwissenschaftlichen Unterricht werden bereits erste, für die Schulpraxis brauchbare Hinweise und Methodenkoffer zur Sprachförderung im Fach entwickelt (Leisen 2013). Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der Frage, welche Übersetzungsleistung Lernende im Fachunterricht zeigen müssen, um fachliche Inhalte von der Alltagssprache in verschiedene Formen der Fachsprache zu übertragen (z. B. KMK 2005a). Problematisch ist hier eine zurzeit deutlich sichtbare Defizitorientierung. Häufig wird formuliert, dass die Schülerinnen und Schüler diejenigen sind, die „sprachliche Probleme“ haben (Mecheril & Quel 2015). Laut Bildungsstandards ist es jedoch Aufgabe der Schule und damit der Lehrkräfte, fachsprachliche Kompetenzen erst aufzubauen (KMK 2005a, 2005b, 2005c).

8.4.2

Fachsprache in der Mathematik

Obwohl die Mathematik häufig als „eigene Sprache“ beschrieben wird, bedient sie sich doch stark alltagssprachlicher Begriffe und Konstruktionen. Aus Spezifika der Fachsprache werden potentielle Herausforderungen für Lernende abgeleitet. Beispielsweise haben Begriffe wie „Funktion“, „Teilen“ und „Lot“ in der Sprache der Mathematik eine andere Bedeutung als in der Alltagssprache. Auch werden einzelne Sprachstrukturen in der Mathematik enger interpretiert als im Alltag (Maier & Schweiger 1999). So wird aus der Aussage „Einige Menschen sind böse“ im Alltag oft abgeleitet, dass auch einige Menschen nicht böse sind. Ein logisch gültiger Schluss ist das jedoch nicht. Neben der Fähigkeit, mit den Besonderheiten fachlicher Sprachstrukturen umzugehen, können auch andere sprachbezogene Fähigkeiten Einfluss auf das Mathematiklernen nehmen. Eine Herausforderung ist das richtige Erkennen mathematischer Strukturen, wenn sie in sprachlichen Situationsbeschreibungen vorliegen (Bochnik 2017). Beispielsweise geben viele Lernende bei der einfachen Textaufgabe „Ernie hat vier Kekse, er hat zwei Kekse mehr als Bert“ als Lösung an, dass Bert sechs Kekse hätte. Aufgrund des Signalworts „mehr“ schließen sie darauf, dass die Aufgabe mit einer Addition gelöst werden muss (Stern & Lehrndorfer 1992). Anscheinend fällt es diesen Lernenden schwer, aus der sprachlichen Darstellung eine Vorstellung von der Situation – von Ernie mit seinen vier Keksen und Bert mit einer unbekannten, aber um zwei kleineren Anzahl von Keksen – zu konstruieren und sie dann mathematisch zu beschreiben.

155 8.5  Aufgabeneinsatz

Eine Orientierung an einzelnen Signalwörtern ist hier eine Ausweichstrategie, die allerdings nicht im Allgemeinen tragfähig ist. Ergebnisse zu Spanisch sprechenden Lernenden in den USA weisen darauf hin, dass sich der Einfluss von Sprachkompetenzen auf die Mathematikleistung nicht primär aufgrund von Problemen beim Verständnis von Testaufgaben zeigt (Abedi, Hofstetter & Lord 2004), sondern dass sprachliche Probleme besonders die Nutzung von Lerngelegenheiten im Unterricht beeinflussen (Abedi et al. 2006; Bochnik 2017). Dass fachsprachliche Kompetenzen dabei über allgemeine sprachliche Kompetenzen hinaus relevant sind, wurde erst kürzlich empirisch nachgewiesen (Bochnik 2017). Fachsprachliche Kompetenzen sind also nicht nur ein Ziel, sondern auch eine Voraussetzung fachbezogener Lernprozesse. Die Erarbeitung mathematischer Konzepte erfolgt im Unterricht meist anhand von realen Phänomenen oder Arbeitsmitteln, deren Bedeutung sprachlich kommuniziert wird (Heinze, Herwartz-Emden & Reiss 2007). Entsprechend sollte die Verwendung fachlicher Sprachstrukturen nicht am Ende, sozusagen als „Krönung“ des Lernprozesses verortet werden, sondern bereits bei der ersten Begegnung mit mathematischen Konzepten und den ihnen zu Grunde liegenden realen Phänomenen. Besonders bei der Nutzung von Arbeitsmitteln oder beim Lesen von ausgearbeiteten Lösungsbeispielen wird als förderlich herausgestellt, dass Lernende ihre Handlungen und Lösungsschritte für sich selbst oder einen Mitschüler verbalisieren. Dies soll sie zur aktiven Verarbeitung der Handlungen am Arbeitsmittel anregen und dabei unterstützen, konzeptuelles Wissen zu erwerben. Diese Nutzung von Sprache zur Wissenskonstruktion setzt ebenfalls spezifische Sprachkenntnisse voraus. Gerade hierfür ist es bedeutsam, fachsprachliche Fähigkeiten zu mathematischen Konzepten bereits während des Lernprozesses aufzubauen. Fachsprachliche Anforderungen bereits früh im Lernprozess zu adressieren kann alle unterstützen, insbesondere jedoch Lernende mit geringeren Sprachkenntnissen (Prediger & Wessel 2013). Zur Vermittlung von Fachbegriffen liegen für die Mathematik ähnlich wie für die Biologie bisher viele theoretische Ideen, jedoch wenige empirische Befunde vor. Wenn es darum geht, Lernende in eine fachlich korrekte Nutzung von Sprache einzuführen, wird authentischen Anlässen zur fachlichen Diskussion im Unterricht eine zentrale Rolle zugewiesen. Hier kann die Lehrkraft mit ihrer fachsprachlichen Expertise korrigierend eingreifen, Unterschiede thematisieren und sprachlich korrekte Wendungen in den Unterricht einbringen. Darüber hinaus wird in der praxisorientierten Literatur eine Bandbreite an Maßnahmen diskutiert, um Lernende direkt in der Verwendung von Fachsprache zu fördern. So werden Lernplakate erstellt und aufgehängt und typische Satzanfänge oder Sprachstrukturen für fachliche Begründungen, Fragen und Erklärungen eingeübt (Leisen 2013). Als besonders wichtig wird in diesem Zusammenhang ein aktives Einbinden der Schülerinnen und Schüler in das gemeinsame Unterrichtsgespräch gesehen. Redezeitanteile von Lehrkräften im deutschen Mathematikunterricht von mehr als sieb-

zig Prozent weisen hier auf Entwicklungsmöglichkeiten hin (Ackermann 2011).

8.5

Aufgabeneinsatz

Beim Erwerb von fachbezogenen Konzepten und Kompetenzen spielt der Einsatz von Aufgaben in vielen Fächern eine entscheidende Rolle (BLK 1997; Hiebert et al. 2003). Aufgaben im Unterricht umfassen, von gehaltvollen Fragen über Arbeitsaufträge für Einzel- und Gruppenarbeiten bis hin zu komplexen Problemstellungen, die beispielsweise in Projekten bearbeitet werden können, ein weites Spektrum von Aufforderungen zur Auseinandersetzung mit einem fachlichen Inhalt (Neubrand 2002). Aufgaben können verschiedene Funktionen im Unterricht einnehmen (vgl. Reiss 2004). Je nachdem in welcher Unterrichtsphase, zu welchem Zweck, für welches Lernziel sie genutzt werden, erweisen sich unterschiedliche Aufgabenstellungen als effektiv. Grundsätzlich wird zwischen Lernund Prüfungsaufgaben unterschieden (Stein & Lane 1996). Während Lernaufgaben primär dem Erwerb von inhaltsund prozessbezogenen Kompetenzen dienen, werden Prüfungsaufgaben dazu genutzt, den aktuellen Lernstand der Schülerinnen und Schüler zu diagnostizieren und Kompetenzunterschiede zu markieren. In Deutschland wurde nach dem schlechten Abschneiden deutscher Schülerinnen und Schüler in TIMSS (Baumert, Bos & Lehmann 2000) und PISA (z. B. Baumert et al. 2001) die Aufgabenkultur mitverantwortlich gemacht. Bemängelt wurde, dass die Aufgaben in Deutschland zu wenig vielfältig seien, häufig primär das isolierte Reproduzieren erworbenen deklarativen Wissens erforderten und keinen kumulativen Wissenserwerb ermöglichten. In der Tat zeigt sich, dass besonders Aufgaben, die kognitive Prozesse wie das Verknüpfen von Inhalten, die Reflexion von Lösungen und das Begründen von Zusammenhängen einfordern, zu wirksameren Lernprozessen führen als Aufgaben, die vornehmlich die Reproduktion von Bekanntem verlangen (Baumert et al. 2010). Nach Bruder (2003a) sind Aufgaben Aufforderungen zum Lernhandeln. Wie zentral Aufgaben eine Unterrichtsstunde prägen, lässt sich feststellen, wenn alle in einer Unterrichtsstunde schriftlich oder mündlich gestellten Aufgaben aufgeschrieben werden. Man kann anhand dieser Aufgaben sehr gut den Verlauf einer Unterrichtsstunde und Schwachpunkte dieser Stunde erkennen. Interviewstudien von Bromme (1981) zeigten, dass Aufgaben das Rückgrat der Unterrichtsplanung bilden.

8.5.1

Aufgabeneinsatz in den Naturwissenschaften

Jatzwauk (2007) konnte für den Biologieunterricht der neunten Jahrgangsstufe zum Thema Blut und Blutkreislauf zei-

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156

8

Kapitel 8  Fachliches Lernen

gen, dass sich rund zwei Drittel der Unterrichtsstunde auf aufgabenbezogene Aktivitäten beziehen, wobei die meisten Aufgaben einfachere kognitive Aktivitäten wie Rezipieren oder Reproduzieren erfordern. Er konnte ferner zeigen, dass sich über 75 % der Aufgaben an alle Lernenden gleichzeitig richten und über zwei Drittel der Aufgaben in Form eines Unterrichtsgesprächs ausgewertet werden. Förtsch et al. (2017) fanden zudem, dass ein hoher Komplexitätsgrad der von der Lehrkraft genutzten Aufgaben die Schülerinnen und Schüler zu einem höheren Konzeptverständnis bringt. Nawani, Rixius und Neuhaus (2016) konnten zeigen, dass sich vor allem Aufgaben, die eine hohe Verarbeitungstiefe vom Lernenden verlangen, positiv auf das konzeptuelle Wissen der Lernenden auswirken. Wenn Aufgaben derart wichtig für den Verlauf einer Unterrichtsstunde sind, stellt sich die Frage, wie man gute Aufgaben formuliert. Verschiedene Autoren haben Kategoriensysteme zur Auswahl und Analyse von Aufgaben entwickelt (z. B. Kauertz et al. 2010; Kleinknecht et al. 2013). Allgemein scheint wichtig, dass Lehrkräfte Aufgaben im Vorfeld reflektieren, auf Aufgabenvielfalt achten und den Schwierigkeitsgrad der Aufgaben an die Lernenden anpassen. Sowohl Lern- als auch Prüfungsaufgaben haben sich in den Naturwissenschaften in den letzten Jahren stark verändert. Sie beinhalten häufiger als früher die Arbeit mit Materialien wie Diagrammen, Ergebnissen aus Versuchen oder Tabellen, die ausgewertet und interpretiert werden müssen. Sie beziehen sich häufiger als früher auf prozessbezogene Kompetenzen, erfragen also nicht nur inhaltsbezogenes Wissen. Und sie beziehen sich häufiger als früher auf grundlegende Konzepte des Faches (wie z. B. Steuerungs- und Regelmechanismen am Auge), anstatt nur einzelne Fakten oder Begriffe zu erarbeiten (z. B. die einfache Beschriftung von anatomischen Strukturen des Auges). Wenn Aufgaben schriftlich gestellt werden, beinhalten sie heutzutage vielfach ausführliche Arbeitsaufträge, die sehr konkrete Vorgaben machen. Kleinknecht et al. (2013) unterschieden bezüglich des kognitiven Potenzials von Aufgaben sieben Dimensionen: Wissensart, kognitiver Prozess, Wissenseinheit, Offenheit, Lebensweltbezug, sprachliche Komplexität und Repräsentationsformen. Andere Autoren setzen bei der Aufgabenklassifikation andere Schwerpunkte. Das in 7 Abschn. 8.3.1 vorgestellte ESNaS-Modell (Kauertz et al. 2010) unterscheidet beispielsweise zwischen Komplexität, kognitivem Prozess und Kompetenzbereich. Unterschiedliche Autorinnen und Autoren betonen damit unterschiedliche Dimensionen mit unterschiedlichen Bezeichnungen. Die Forschung kann bislang wenig dazu sagen, welche der Kategorisierungen zuverlässig die Effektivität von Lernprozessen vorhersagen (z. B. Baumert et al. 2010) und welche der Kategorisierungen Lehrkräfte am effizientesten dabei unterstützen, solche Lernprozesse anzuregen. Wichtig erscheint für angehende Lehrkräfte, Aufgaben systematisch zu entwickeln, zu variieren und reflektiert einzusetzen. So aktivieren offene Aufgaben das Vorwissen der Schülerinnen und Schüler und eignen sich daher besonders gut zur Initiierung von Lernprozessen. Geschlossene Aufgaben eignen sich hingegen besonders zur Sicherung von

Wissen und als Prüfungsaufgaben, da sie eindeutig bewertet werden können. Zu beachten ist, dass Aufgaben durch den Einsatz von Fachbegriffen automatisch schwieriger werden (Schmiemann 2011) und Fachbegriffe daher in Aufgaben sehr reflektiert eingesetzt werden sollten.

8.5.2

Aufgabeneinsatz in der Mathematik

Auch für den Mathematikunterricht wurden in der Vergangenheit wesentliche Merkmale identifiziert, die hochwertige Lernaufgaben kennzeichnen. Beispielsweise sollen Aufgaben gezielt die zu erwerbenden mathematischen Kompetenzen ansprechen, d. h. anhand zentraler mathematischer Konzepte mathematische Arbeitsweisen einführen. Wie bereits angesprochen ist dafür eine reine Reproduktion nicht ausreichend, sondern es müssen höherwertige kognitive Prozesse wie Erklären, Begründen, Vernetzen oder Reflektieren angeregt werden. Dazu kann beispielsweise gehören, dass eine Aufgabe unterschiedliche Lösungswege ermöglicht, und auch verschiedene Lösungen eingefordert und verglichen werden. Baumert et al. (2010) konnten zeigen, dass die Anforderungen der eingesetzten Aufgaben in Bezug auf mathematische Kompetenzen den Kompetenzzuwachs von Lernenden in einem Jahr positiv vorhersagten. Leider zeigen sich im realen Mathematikunterricht meist Aufgaben mit relativ geringen Anforderungen (Jordan et al. 2008). Weiterhin sollen die Aufgabenstellungen authentisches mathematisches Arbeiten einfordern und ermöglichen. Damit ist nicht gemeint, dass der Aufgabenrahmen möglichst realistisch sein soll, sondern dass mathematische Konzepte und Methoden auf eine Art und Weise angewendet werden, wie es auch außerhalb der Schule geschieht. Dies soll auch vermeiden, dass Lernende falsche Vorstellungen über die Domäne Mathematik aufbauen wie z. B., dass mathematische Aufgaben immer genau eine richtige Lösung haben, dass Mathematik völlig losgelöst von realen Problemen existiert oder dass Mathematikaufgaben immer mit den Inhalten zu lösen sind, die im Unterricht gerade behandelt werden (z. B. Baruk 1989; Verschaffel, de Corte & Lasure 1994). Aufgaben sollen in dem Sinne differenzierend sein, dass sie Lernenden unabhängig von ihren unterschiedlichen Lernvoraussetzungen Lerngelegenheiten auf ihrem jeweiligen Niveau ermöglichen. Neben innerer Differenzierung, beispielsweise durch Aufgabensätze unterschiedlicher Anforderungsniveaus, wird das Konzept der natürlichen Differenzierung propagiert (Freudenthal 1974). Natürlich differenzierende Aufgaben sollen es ermöglichen, dass Lernende mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen an einer gemeinsamen Aufgabe arbeiten, die einen relativ leichten Einstieg, aber auch Möglichkeiten für Lernprozesse auf unterschiedlichen Niveaus bietet. Es macht in diesem Sinne einen Unterschied, ob eine Reihe von Aufgabenstellungen des Typs „Berechne den Termwert: 27  3  5 C 7!“ unterschiedlicher Schwierigkeit bearbeitet werden oder solche, die auch problemlösendes

157 8.5  Aufgabeneinsatz

Arbeiten ermöglichen wie z. B. „Setze Rechenzeichen C, , , : so in die Lücken ein, dass das Ergebnis möglichst groß wird: 27 3 5 7!“. Aufgabenmerkmale, die nachhaltige Lernprozesse ermöglichen, fasst man unter dem Begriff „Aufgabenpotenzial“ zusammen. Genügt es für guten Unterricht, Aufgaben mit einem hohen Potenzial aus einem Schulbuch auszuwählen? Das ist zweifelhaft, denn es ist sowohl möglich, mit „guten“ Aufgaben „schlechten“ Unterricht zu gestalten als auch (allerdings ist das etwas schwieriger) mit „schlechten“ Aufgaben relativ „guten“ Unterricht. Wesentlich ist letztlich, ob das Potenzial der Aufgaben im Unterricht auch genutzt wird – und das ist bei Weitem nicht selbstverständlich. Beispielsweise besteht die Gefahr, dass Lehrkräfte offene Aufgaben und Fragen, die Schülerinnen und Schüler zu eigenständigem Nachdenken anregen sollen, bereits nach kurzer Wartezeit durch Nachfragen einengen. Im Extremfall führt das dazu, dass die Lernenden im Unterricht auch bei eigentlich komplexen Aufgaben lediglich als Stichwortgeber auf Suggestivfragen der Lehrkraft fungieren und die eigentlich als lernförderlich erachtete Arbeit an der Aufgabe weitgehend von der Lehrkraft geleistet wird (Stein & Lane 1996). Um dies zu vermeiden, schlagen Stein, Engle, Smith und Hughes (2008) Strategien für die Unterrichtsvorbereitung und den Unterricht vor. Für die Unterrichtsplanung legen sie nahe, das Ziel des Aufgabeneinsatzes zu klären und sich gute Fragen und Impulse zurechtzulegen, die die Aufgabe eben nicht auf kleine Routineschritte reduzieren. Sie regen an, sich mögliche Lösungswege und Probleme der Schülerinnen und Schüler zu überlegen und Bearbeitungshilfen vorzubereiten, die ggf. differenzierend bei Problemen angeboten werden können. Für den Unterricht halten sie es für entscheidend, sich Zeit zu verschaffen, um die unterschiedlichen Lösungen der Schülerinnen und Schüler zu beobachten. Interessante (korrekte und fehlerhafte, einfache und komplizierte) Lösungen können für die Diskussion in der Klasse ausgewählt und in eine sinnvolle Reihenfolge gebracht werden. In der Diskussion der verschiedenen Lösungen können diese verglichen und ihre Tragfähigkeit kontrastiert werden. Ein wesentlicher Teil dieser Arbeit findet sicher im Unterricht statt. Dennoch ist es von Bedeutung, dass Lehrkräfte bereits in der Unterrichtsplanung das Potenzial der von ihnen gewählten Aufgaben erkennen und analysieren, um für den Unterricht adäquat vorbereitet zu sein (Hammer 2016).

Zusammenfassung Unter fachlichem Lernen wird der Erwerb spezifischer Fähigkeiten und Kenntnisse verstanden, um Anforderungen mit Wissen aus einem bestimmten Gebiet effizient und sicher bewältigen zu können. Die fachspezifische LehrLernforschung beschäftigt sich entsprechend mit der Frage, was das Lernen in einem spezifischen Wissensgebiet auszeichnet und wie Lernprozesse in einem Fachgebiet verbessert werden können. Mit dem Fokus auf Mathema-

tik und Naturwissenschaften, im Speziellen die Biologie, werden fünf wesentliche Ansätze der fachspezifischen Lehr-Lernforschung dargestellt und mittels Beispielen erläutert. 5 Es wird gezeigt, mit welchen fachrelevanten Vorstellungen Schülerinnen und Schüler in den Unterricht kommen, welche fachlichen Konzepte ihnen Lernschwierigkeiten bereiten und wie diese Lernschwierigkeiten produktiv für den Unterricht genutzt werden können. 5 Es werden Modelle untersucht, die die Struktur des Wissens in einer spezifischen Domäne beschreiben, sowie domänenspezifische Mechanismen, die besonders effektiv sind, um sich Wissen in diesem speziellen Gebiet anzueignen. 5 Es wird verdeutlicht, wie fachspezifische Kompetenzen strukturell aufgebaut sind und wie sie im Unterricht systematisch entwickelt werden können. 5 Struktur und Rolle einer Fachsprache als Lernprozess und Lernergebnis werden analysiert und die Folgerungen für die Rolle der Fachsprache beim Erlernen der Fachinhalte aufgezeigt. 5 Es wird erörtert, welchen Beitrag Aufgaben im Unterricht leisten können. Zusammenfassend zeigt die Aufstellung zunächst, dass eine fachspezifische Perspektive die domänenübergreifende Darstellung von Lehr-Lernprozessen deutlich ausdifferenziert und ergänzt. Allgemeine Modelle, die die zugrundeliegenden Mechanismen von Wissensaneignung beschreiben, sind nicht notwendigerweise relevant für spezifische Konzepte bzw. den Erwerb einer spezifischen Kompetenz. Auch wenn Kirschner et al. (2017) argumentieren, Lehr-Lernprozesse würden innerhalb von Domänen mindestens genauso stark variieren wie zwischen Domänen, bietet doch – im Gegensatz zu allgemeinen, fächerübergreifendenAnsätzen – fachbezogene Forschung eine gezielte Auswahl an Instruktionsmethoden für spezifische Inhalte in der Praxis (7 Kap. 17). Für die Konzeption und Untersuchung solcher Modelle wird eine Kooperation von allgemeiner Lehr-Lern-Forschung und den Fachdidaktiken als besonders vielversprechend angesehen (Klieme & Rakoczy 2008). Darüber hinaus wird erkennbar, dass es Themenfelder gibt, die in verschiedenen Fächern systematisch bearbeitet werden, allerdings in der domänenübergreifenden Lehr-Lern-Forschung wenig Interesse geweckt haben. So werden beispielsweise Kriterien der Aufgabenauswahl und des Aufgabeneinsatzes primär aus fachspezifischer Sicht untersucht. Inwiefern sich für diese fachübergreifende Modelle und Ansätze konstruieren lassen, ist eine der Fragen, die sowohl in Kooperationen zwischen verschiedenen Fachdidaktiken als auch gemeinsam mit Vertretern der allgemeinen Lehr-Lern-Forschung zu klären sein werden.

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Kapitel 8  Fachliches Lernen

Verständnisfragen ?

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1. Welche Argumente sprechen aus Ihrer Sicht für eine Aufrechterhaltung oder aber Auflösung des Fachprinzips in der Schule? 2. Beschreiben Sie vier Lehrstrategien, wie Schülervorstellungen in der Unterrichtsgestaltung genutzt werden können. 3. Überlegen Sie sich eine Thematik in dem von Ihnen studierten Unterrichtsfach, zu der Schülerinnen und Schüler unterschiedliche Vorstellungen besitzen. Beschreiben Sie, wie Sie mit der Methode des Learning Cycles diese Vorstellungen im Rahmen einer Unterrichtsstunde aufgreifen und mit ihnen arbeiten können. 4. Beschreiben Sie den Rahmentheorieansatz von Vosniadou und den Fragmentierungsansatz von DiSessa. 5. Überlegen Sie sich für ein zentrales Konzept in einem von Ihnen studierten Unterrichtsfach, wie dieses in verschiedenen Repräsentationen dargestellt werden kann. Inwiefern ist das für den Konzepterwerb von Bedeutung? 6. Beschreiben Sie den Begriff „Kompetenz“ nach Weinert (2001) in eigenen Worten. 7. Was zeichnet fachlichen, auf den Erwerb von Kompetenzen ausgerichteten Unterricht gegenüber Unterricht aus, der lediglich den Erwerb fachlicher Konzepte im Blick hat? 8. Definieren Sie die Begriffe Alltagssprache, Bildungssprache und Fachsprache. 9. Warum ist es im fachlichen Unterricht wesentlich, fachsprachliche Kompetenzen der Lernenden im Blick zu haben? 10. Warum werden Aufgaben als wesentliches Element fachbezogenen Lernens gesehen? 11. Nutzen Sie das ESNaS-Modell zur Entwicklung von Aufgaben und entwickeln Sie eine Aufgabe aus dem von Ihnen studierten Fach, die (a) einen Fakt, (b) mehrere Fakten, (c) einen Zusammenhang, (d) mehrere Zusammenhänge und (e) ein Konzept abfragt.

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Kapitel 8  Fachliches Lernen

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8

163

Kognitive, motivationale und emotionale Bedingungen des Lernens Inhaltsverzeichnis Kapitel 9

Intelligenz, Kreativität und Begabung – 165

Kapitel 10

Emotionen – 185

Kapitel 11

Motivation – 207

II

165

Intelligenz, Kreativität und Begabung Eva Stumpf und Christoph Perleth

9.1

Begriffsklärungen – 166

9.2

Intelligenz – 168

9.2.1 9.2.2 9.2.3 9.2.4 9.2.5

Theorien der Intelligenz – 168 Messung von Intelligenz – 170 Intelligenzunterschiede: Entstehung und Auswirkungen – 173 Hochbegabung – 174 Intelligenz, Begabung, schulisches Lernen und Leistungsentwicklung – 178

9.3

Kreativität und Problemlösen – 179 Verständnisfragen – 182 Literatur – 183

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Urhahne, M. Dresel, F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9_9

9

166

9

Kapitel 9  Intelligenz, Kreativität und Begabung

Intelligenz, Begabung und Kreativität dürften wohl die Begriffe aus der Pädagogischen Psychologie sein, die vielleicht weniger in der Wissenschaft, dafür umso mehr in der Öffentlichkeit mit am häufigsten, intensivsten und oft äußerst kontrovers diskutiert werden. Gerade angesichts dieser Verbreitung erstaunt erstens, wie uneinheitlich diese Begriffe in der Wissenschaft verwendet werden, und zweitens, in welch geringem Ausmaß Erkenntnisse der Intelligenz- und Begabungsforschung Eingang in das Bewusstsein der Öffentlichkeit finden. In diesem Kapitel möchten wir auf Definitionen und Begriffe eingehen sowie Befunde und Erkenntnisse der Intelligenz- und Begabungsforschung zusammentragen, wie es uns für die praktische Arbeit von Lehrkräften relevant erscheint. Dazu gehören gerade für den schulischen Bereich Theorien und Befunde, die die Beziehung zwischen der Intelligenz als stabilem Persönlichkeitsmerkmal und der Leistungsentwicklung thematisieren und die Bedeutung der Intelligenz für die Leistungsentwicklung im Vergleich zu anderen Merkmalen der Person und Lernumwelt verdeutlichen. Zur Veranschaulichung des Zusammenspiels ganz unterschiedlicher Faktoren im Rahmen der Leistungsentwicklung wird das Münchner dynamische Begabungs-Leistungsmodell von Perleth (2001a) herangezogen. Im Hinblick auf Kreativität gehen wir in diesem Kapitel an verschiedenen Stellen auf einige Aspekte kreativen Problemlösens ein. Dabei kann allerdings im vorliegenden Rahmen auf Aspekte künstlerischer Kreativität etwa in der Musik, der Schriftstellerei oder der bildenden Kunst nur am Rande eingegangen werden. Dagegen werden weitere wichtige Konzepte und Befunde der Kreativitätsforschung wie das divergente Denken, der kreative Prozess, exemplarische Möglichkeiten der Kreativitätsdiagnostik sowie Kreativitätsförderung in der Schule behandelt. 9.1

Begriffsklärungen

Vor etwas mehr als 100 Jahren hat der deutsche Psychologe William Stern formuliert: „Intelligenz ist die allgemeine Fähigkeit eines Individuums, sein Denken bewusst auf neue Forderungen einzustellen; sie ist allgemeine geistige Anpassungsfähigkeit an neue Aufgaben und Bedingungen des Lebens“ (1912, S. 3). Auch wenn im Laufe der letzten 100 Jahre unübersehbar viele Definitionen zum Begriff Intelligenz vorgeschlagen wurden (Rost 2009a), so hat diese Arbeitsdefinition ihre Aktualität dennoch nicht verloren. Die bekannte Definition Wechslers (vgl. Heller 2000), des „Vaters“ der Wechsler Intelligence Scale for Children (WISC)1 beinhaltet darüber hinaus, dass intelligentes (Problemlöse-) Verhalten auch zweckvoll und vernünftig, also ökonomisch sein soll. 1

Der WISC, einer der weltweit am häufigsten eingesetzten Intelligenztests für Kinder und Jugendliche, wurde im deutschen Sprachraum unter dem Kürzel HAWIK D Hamburg-Wechsler Intelligenztests für Kinder bekannt.

Andere Definitionen von Intelligenz betonen zusätzlich, dass intelligentes Verhalten aufgaben- oder bereichsspezifisch betrachtet werden muss. So unterschied bereits Thurstone in den 1930er Jahren sieben (später neun) Primärfaktoren der Intelligenz (Heller 2000). In dieser Tradition formulierte etwa Groffmann (1983, S. 53): „Intelligenz ist die Fähigkeit des Individuums, anschaulich oder abstrakt in sprachlichen, numerischen und raum-zeitlichen Beziehungen zu denken; sie ermöglicht erfolgreiche Bewältigung vieler komplexer und mit Hilfe jeweils besonderer Fähigkeitsgruppen auch ganz spezifischer Situationen und Aufgaben.“ In der Psychologie wird Intelligenz unter verschiedenen Perspektiven betrachtet und erforscht. Psychometrische Intelligenzmodelle resultieren aus der Forschung mit Intelligenztests, in denen die Versuchspersonen Aufgaben bearbeiten, die als repräsentativ für einen bestimmten Bereich geistiger Leistungsfähigkeit angesehen werden. Untersucht wird dann, in welcher Beziehung die Testleistungen zueinanderstehen oder ob sich Aufgaben und Aufgabenklassen bündeln lassen, sodass Fähigkeiten bzw. Fähigkeitsbündel sichtbar werden. Demgegenüber geht es der kognitionspsychologischen Intelligenzforschung weniger um die Denkprodukte (Intelligenzleistungen), sondern eher um die Denkprozesse. Sie untersucht, wie Versuchspersonen bei der Aufgabenbearbeitung vorgehen, welche Strategien sie einsetzen oder welche Rolle bestimmte Gedächtnisfunktionen dabei spielen. So interessiert sich dieser Zweig der Forschung beispielsweise für die genaue Funktionsweise des Arbeitsgedächtnisses oder die Rolle der Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit, also der Geschwindigkeit, mit der, etwas vereinfacht gesagt, das Gehirn arbeitet. Damit gelingt eine feinere Analyse von intelligenten Leistungen. Daneben haben in jüngerer Zeit insbesondere die Neurowissenschaften viele Befunde vorgelegt, die zu einem besseren Verständnis von Intelligenz beitragen. Dass diese teilweise komplexen und schwer zu erfassenden Merkmale wie Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit oder Maße des Arbeitsgedächtnisses deutlich mit Maßen der (allgemeinen) Intelligenz korrelieren, zeigt aber, dass die psychometrische Intelligenzauffassung nichts von ihrem Wert für die Praxis der schulpsychologischen Beratung, insbesondere der Schullaufbahnberatung und Schulerfolgsprognose eingebüßt hat. „Klassische“ Intelligenztests, die auf der psychometrischen Auffassung beruhen, sind für die Mitarbeiter der Schulberatung für die Analyse und Prognose von Schulleistungen nach wie vor unentbehrlich. In diesem Kapitel werden wir daher vor allem auf psychometrisch orientierte Intelligenz- und Begabungsforschung eingehen. Befunde zu Intelligenz und Denken aus kognitionspsychologischer Perspektive sowie aus dem Bereich der Neurowissenschaften finden sich in den 7 Kap. 2, 3 und 5. Als Arbeitsdefinition können wir also insgesamt festhalten bzw. formulieren:

Intelligenz bezeichnet in der Regel eine allgemeine Fähigkeit oder auch bereichsspezifische Fähigkeiten, die es einer Person ermöglichen, unterschiedliche, vor allem

167 9.1  Begriffsklärungen

auch komplexe Aufgabenstellungen zu durchdenken und Probleme zu lösen in Situationen, die für das Individuum neuartig, d. h. nicht durch Lernerfahrungen vertraut sind, sodass keine automatisierten Handlungsroutinen zur Problemlösung eingesetzt werden können.

Im Fokus: Ist Intelligenz, was der Intelligenztest misst?

Bisweilen wird gegen den psychologischen Intelligenzbegriff und/oder die Intelligenztests unter Bezug auf Boring (1923) polemisiert, Intelligenz sei, was der Intelligenztest messe („Intelligence is what the test tests“, S. 35). Boring wollte allerdings mit diesem Zitat deutlich machen, dass eine enge Beziehung zwischen Intelligenztheorien (7 Abschn. 9.2.1) und Intelligenztests (7 Abschn. 9.2.2) besteht. Vor Konstruktion eines Intelligenztests muss der Testautor genau definieren, welches Verständnis er von Intelligenz hat. Je nachdem, ob er das Konzept einer allgemeinen Intelligenz verfolgt oder Intelligenz in unterschiedlichen Bereichen unterscheidet, wird er andere Aufgaben für den Test auswählen. Das Zitat weist also keinesfalls auf eine wissenschaftliche Fragwürdigkeit des Intelligenzbegriffs oder von Intelligenztests hin.

In der Darstellung wurde bisher keine explizite Unterscheidung zwischen Intelligenz und Begabung vorgenommen. Tatsächlich werden die Begriffe Intelligenz und Begabung sowohl in der deutschsprachigen Literatur, als auch im angelsächsischen Raum (intelligence und giftedness) vielfach mehr oder weniger synonym verwendet, wobei allerdings in der englischsprachigen Literatur „giftedness“ stets im Sinne von gut oder hochbegabt verwendet wird, für schwach begabte Individuen wird auf den Begriff „retarded“ zurückgegriffen (vgl. hierzu ausführlicher etwa Bundschuh 2010). Die angesprochene Gleichsetzung von Intelligenz und Begabung findet sich etwa auch bei Rost (1993 2009b), der für die Marburger Hochbegabtenstudie pragmatisch Hochbegabung mit weit überdurchschnittlicher Intelligenz gleichsetzte. Heller (2000) versteht dagegen Begabung als übergeordneten Begriff, unter dem er nicht nur Intelligenz (im psychometrischen Sinne, also das Denkprodukt), sondern auch „den Prozeßaspekt kognitiver Kompetenzen“ (S. 20) subsumiert. Heller führt weiter aus, dass andere Psychologen wiederum unter der allgemeinen Intelligenz die Kompetenz zur Bearbeitung neuartiger Problemstellungen auf beliebigen Gebieten verstehen und Begabungen häufig bestimmten Bereichen zuordnen. Eine wieder andere Tradition, so Heller (2000) weiter, verstünde unter Intelligenz Kern- oder Grundfunktionen des Denkapparats, etwa im Sinne der unten beschriebenen Grundintelligenz, während mit Begabung(en) Aspekte der gesamten geistigen Leistungsfähigkeit einer Person angesprochen werden, inkl. der Intelligenz und ihrer Stützfunktionen wie Aufmerksamkeit, Konzentration, aber auch motivationale Aspekte usw.

Das „international Panel of Experts in Gifted Education“ (iPEGE; 7 www.ipege.eu) ist ein Zusammenschluss von Fachleuten aus Psychologie, Schulpädagogik, Allgemeiner Pädagogik und Neurowissenschaften, die sich besonders für die Weiterbildung von pädagogischem Personal für die Belange der Begabtenförderung einsetzen. Auch iPEGE ist im Sinne des letztgenannten Verständnisses der Auffassung, dass (Hoch-)Begabung zwar hohe intellektuelle Fähigkeiten als notwendige Faktoren beinhaltet, aber nicht mit diesen gleichgesetzt werden kann. Gleichzeitig sieht die iPEGE-Gruppe Begabung als Disposition und nicht als herausragende Leistung. Nach intensiver Diskussion einigten sich die Fachleute auf folgende Formulierung, die von allen Mitgliedern der interdisziplinären Gruppe mitgetragen werden konnte: „Als Begabung wird somit allgemein das Leistungsvermögen insgesamt bezeichnet, spezieller ist mit Begabung der jeweils individuelle Entwicklungsstand der leistungsbezogenen Möglichkeiten gemeint, also jener Voraussetzungen, die bei entsprechender Disposition und langfristiger systematischer Anregung und Förderung das Individuum in die Lage versetzen, sinnorientiert zu handeln und auf Gebieten, die in der jeweiligen Kultur als wertvoll betrachtet werden, anspruchsvolle Tätigkeiten durchzuführen“ (iPEGE-Gruppe 2010, S. 17).

Auch iPEGE bezeichnet solche Personen als (Hoch-) Begabte, „die sich von der Vergleichsgruppe durch höheres Leistungsvermögen und größeres Förderpotenzial (z. B. größere Lernfähigkeit, stärkeren Wissensdurst, höheres Lerntempo) unterscheiden, sodass in psychologischer, pädagogischer und didaktischer Hinsicht ein besonderer Umgang mit ihnen gefordert ist“ (iPEGE-Gruppe 2010, S. 18). iPEGE formuliert dann weiter: „Das individuelle Muster an Begabungsfaktoren bezeichnet man als persönliches Begabungsprofil. Dieses Profil kann sich laufend verändern“ (ebd.). Nach iPEGE steuern Individuen ihre Entwicklung selbst und setzen sich nicht passiv Umwelteinflüssen aus, sondern verarbeiten, beeinflussen und gestalten diese. Damit ist eine lebenslange Entwicklungsdynamik gegeben, die in relativ kurzer Zeit zu beachtlichen Veränderungen von Begabungsausprägungen oder auch zu längerfristig stabilen Begabungsausprägungen führen kann. Um begriffliche Klarheit zwischen der uneinheitlichen Verwendung des Intelligenz- und des Begabungsbegriffs zu schaffen, wurde von verschiedenen Autoren auf den Talentbegriff zurückgegriffen, besonders um in Abgrenzung vom schulischen und akademischen Bereich Leistungsvoraussetzungen etwa auf musikalischem, künstlerischem, psychomotorischem oder sozialem Gebiet zu bezeichnen. Dafür spricht, dass Talent umgangssprachlich eine bereichsspezifische Befähigung ausdrückt (z. B. musikalisch oder sportlich „talentierte“ Kinder und Jugendliche). Außerdem sprach bereits Stern (1916) in diesem Sinn von Talenten. Auch Gagné (z. B. 1995) versteht unter Begabung wie üblich ein (natürliches bzw. angeborenes) Potential, reserviert

9

168

9

Kapitel 9  Intelligenz, Kreativität und Begabung

den Talentbegriff aber für herausragende Leistungen, die ein Individuum in einer bestimmten Domäne erbracht hat. Damit meint er Kompetenzen für verschiedene Anwendungsfelder, die das Produkt von Begabungen und Erfahrungen darstellen. Recht explizit spricht er einer Person somit erst dann Talent zu, wenn sie auf ihrem Fachgebiet Expertise erworben hat. Damit vergleichbar schlug Hany (1987) vor, den Begriff „hochbegabt“ für Personen mit hohem Potential zu verwenden, die hervorragende Leistungen in ganz unterschiedlichen Bereichen erbringen könnten. Talentierte Personen hingegen wiesen eine hohe Affinität zu konkreten Leistungsbereichen auf. Allerdings haben sich beide Vorschläge nicht durchgesetzt. Kreatives Problemlösen schließlich könnte man dadurch charakterisieren, dass es sich um Problemlösen handelt, bei dem das Ziel des Problemlöseprozesses nicht genau vorgegeben ist bzw. mehrere Lösungen möglich sind. Der im folgenden Abschnitt erwähnte Guilford ordnete Intelligenzleistungen auch danach, ob sie eher konvergentem oder divergentem Denken zugeordnet werden können. Bei Aufgaben des konvergenten Denkens, also klassischen Intelligenztestaufgaben, muss die eine richtige Aufgabenlösung gefunden werden, während Aufgaben zum divergenten Denken erfordern, viele verschiedene und originelle Problemlösungen zu finden. Kreative Problemlöser benötigen daher unter Umständen ein sehr umfangreiches und gut strukturiertes Vorwissen als Grundlage für neuartige Ideen und überraschende Problemlösungen (Simonton 1988). Aufgrund der ergebnisoffenen Kombination von Wissenselementen geht kreatives Problemlösen über intelligentes Verhalten hinaus. Kreativität in einem umfassenderen, allgemeinen Sinne hebt auf die Entwicklung neuer und neuartiger, für die Mitmenschen überraschender Gedanken, Produkte und Problemlösungen ab (Cropley & Reuter 2010; Tan & Perleth 2015).

9.2

Intelligenz

Da Intelligenz ein hypothetisches Konstrukt ist, existieren nicht nur unterschiedliche Definitionen, sondern auch unterschiedliche Modellvorstellungen zu dessen Struktur. Wie ist das Konstrukt am besten zu beschreiben? Welche Fähigkeiten sind darunter subsumiert? Handelt es sich um eine weitgehend einheitliche Größe, sodass intelligentere Personen alle kognitiven Anforderungen verschiedener Art besser bewältigen können als weniger intelligente Personen? Oder sollten wir eher von einer sehr differenzierten Struktur verschiedener Faktoren ausgehen und folglich die intellektuellen Fähigkeiten einer Person mittels eines differenzierten Profils relativer Stärken und Schwächen in verschiedenen Intelligenzdomänen beschreiben? In den letzten Jahrzehnten wurde diese „IntelligenzStruktur-Debatte“ sehr hitzig geführt. Im Folgenden werden fünf Intelligenztheorien skizziert, die sowohl die historische Entwicklung als auch die inhaltlich bedeutenden Wegmarken dieses Forschungszweiges veranschaulichen. Alle hier vor-

gestellten Modelle sind empirisch überprüft, die jüngeren Modelle bauen in der Regel auf den vorhergehenden Modellen auf.

9.2.1

Theorien der Intelligenz

Wie die Untersuchungen des Engländers Charles Spearman (1863–1945) zur Struktur der Intelligenz zeigten, korrelieren die Leistungen auch in deutlich unterschiedlichen Intelligenztestaufgaben positiv miteinander (zur Korrelation 7 Kap. 27). Er schloss daraus auf die Existenz eines sogenannten Generalfaktors g der Intelligenz. In Spearmans Sinne ist g die Ursache für die positiven Zusammenhänge zwischen verschiedenen intellektuellen Fähigkeiten und wird meist als allgemeine Intelligenz bezeichnet (vgl. Rost 2013). Da allerdings die Interkorrelationen, also die Korrelationen zwischen den einzelnen Intelligenzmaßen, nur mittelhoch ausfallen, schloss Spearman darüber hinaus auf die Existenz weiterer, sogenannter spezifischer Intelligenzfaktoren, von denen prinzipiell so viele existieren, wie es verschiedene Leistungsanforderungen gibt. Jede einzelne Leistung setzt sich demnach aus g und einem spezifischen Faktor si zusammen, der zu keiner anderen Leistung gehört. Der Bearbeitung von drei verschiedenen Typen von Intelligenzaufgaben liegen nach dieser Auffassung vier Faktoren zugrunde: der Generalfaktor g und drei spezifische Faktoren s1, s2 und s3 (vgl. Rost 2013, S. 44). Spearmans Ansatz wurde und wird teilweise „Zwei-FaktorenTheorie“ der Intelligenz genannt, was insofern irreführend ist, als tatsächlich von der Existenz einer Vielzahl spezifischer Faktoren ausgegangen wird; auch verdeutlicht diese Bezeichnung nicht hinreichend gut die maßgebliche Bedeutung des Generalfaktors g. Wir empfehlen daher, Spearmans Theorie wie meist üblich als Generalfaktorentheorie der Intelligenz (vgl. auch Rost 2013 sowie Stumpf 2019) zu bezeichnen. Eine gänzlich andere Vorstellung der Intelligenzstruktur schlug der US-Amerikaner Louis L. Thurstone (1887–1957) vor, indem er die Existenz von sieben weitgehend voneinander unabhängigen Primärfaktoren der Intelligenz postulierte (vgl. Thurstone 1924). Dazu zählen beispielsweise die Merkfähigkeit, die Rechengewandtheit und die Wortflüssigkeit (Funke & Vaterrodt-Plünnecke 2004; Rost 2013). Die Annahme der Unabhängigkeit dieser Faktoren hat zur Folge, dass genau genommen auch kein Gesamtwert der Intelligenz gebildet werden darf (7 Abschn. 9.2.2); die einzelnen intellektuellen Fähigkeiten bzw. die sieben Primärfaktoren müssten daher in einem Intelligenzprofil dargestellt werden. Diese Vorstellung entspricht relativ gut dem subjektiven Eindruck der meisten Menschen, wonach die eigenen intellektuellen Fähigkeiten nicht in allen inhaltlichen Domänen gleich hoch ausgeprägt sind. Vielmehr nehmen wir bei uns selbst eher deutliche Stärken und Schwächen in verschiedenen Fähigkeitsdomänen wahr, wie etwa eine hohe sprachliche Begabung. Tatsächlich sind die Zusammenhänge zwischen den unterschiedlichen Intelligenzfaktoren jedoch höher ausgeprägt, als diese subjektiven Wahrnehmungen es vermuten ließen.

169 9.2  Intelligenz

Als viertes Modell soll ein in Deutschland entwickelter Ansatz zur Beschreibung der Intelligenzstruktur vorgestellt werden. Adolf Otto Jäger (1920–2002) definierte im Berliner Intelligenzstrukturmodell (7 Abschn. 9.2.1) drei inhaltliche Intelligenzfaktoren (figural-bildhafte F, verbale V und numerische Fähigkeiten N), die mit vier Intelligenzoperatoren (Bearbeitungsgeschwindigkeit B, Merkfähigkeit bzw. Gedächtnis G, Einfallsreichtum E und Verarbeitungskapazität K) kombiniert werden (Jäger 1973). Diese Fähigkeitsbündel bilden eine 3  4-Matrix mit 12 Zellen, und jede Intelligenztestaufgabe kann einer dieser Zellen und damit zwei Intelligenzmodalitäten zugeordnet werden (. Abb. 9.1). Die Aufgabe, sich möglichst viele Ziffern einer Zahlenreihe einzuprägen und später korrekt wiederzugeben, erfordert beispielsweise numerische (Inhalt) Merkfähigkeiten (Operation), gehört also in die Zelle GN. Figurale Analogien (beispielsweise ı W  D  W ‹) sind dementsprechend der Zelle KF, verbaler Einfallsreichtum, etwa möglichst viele Wörter mit bestimmtem An-

Op

er at io

ne

n

F

G

V

lte

Eng an die Intelligenzkonzeption von Cattell schließt sich das Zweikomponentenmodell der Intelligenz, das im Rahmen der Alternsforschung von der Arbeitsgruppe um Paul Baltes am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Berlin vorgelegt wurde: Nach dieser Konzeption wird die Mechanik der Intelligenz (Aspekte des Denkvermögens, der Wahrnehmung oder des Gedächtnisses; flüssige Intelligenz im Sinne Cattells) der Pragmatik der Intelligenz (Wissen, Wortschatz, Erfahrungen, gut geübte Fertigkeiten; kristallisierte Intelligenz im Sinne Cattells) gegenübergestellt (Baltes, Lindenberger & Staudinger 1995; Schmiedek & Lindenberger 2012). Während die Leistungen in der Mechanik der Intelligenz (beispielsweise aufgrund der Verschlechterung von Wahrnehmungsprozessen) bei manchen Personen etwa ab dem 50. Lebensjahr leicht und ab dem 80. Lebensjahr stärker zurückgehen, können Kompetenzen, die der Pragmatik der Intelligenz zugerechnet werden, auch im Alter noch ausgebaut werden.

B

ha

Im Fokus: Zweikomponentenmodell von Baltes

„g“ Allgemeine Intelligenz

In

Raymond B. Cattell (1905–1998), ein Schüler Spearmans, schlug mit seiner Zweifaktorentheorie der Intelligenz ein Modell vor, das als Integration der in den Kernannahmen sehr unterschiedlichen Ansätze von Spearman und Thurstone interpretiert werden kann. Cattell (1987) nahm die Existenz zweier Generalfaktoren der Intelligenz an, die er fluide und kristalline Intelligenz nannte. Die fluide Intelligenz wird als weitgehend angeborene, generelle Fähigkeit zum logischen Denken verstanden. Die kristalline Intelligenz hingegen beinhaltet erworbene Fähigkeiten (z. B. schulisches Wissen) und entwickelt sich aus der fluiden Intelligenz und Sozialisationseinflüssen, zu denen auch Lerngelegenheiten zählen. Beide Generalfaktoren dieses Modells werden von mehreren Primärfaktoren gespeist, die eine gewisse Analogie zu Thurstones Modell darstellen.

N

E

K

Figuralbildhaft

B F

Verbal

G V

Nummerisch

E N

K

Bearbeitungsgeschwindigkeit

Gedächtnis

Einfallsreichtum

Verarbeitungskapazität

. Abb. 9.1 Das Berliner Intelligenz-Struktur-Modell (Quelle: Perleth 2000)

fangsbuchstaben aufschreiben, der Zelle EV zuzuordnen. Die hierarchische Struktur des Modells wird insofern deutlich, als diese Fähigkeitsbündel zu einem Gesamtwert aggregiert werden können, der dem Generalfaktor g nach Spearman nahekommt. Den jüngsten und auch empirisch am besten fundierten Ansatz zur Beschreibung der Intelligenzstruktur nahm John B. Carroll (1916–2003) vor. Er analysierte die Daten aus mehr als 400 Studien und schlug das sogenannte DreiSchichten-Modell der Intelligenz vor. Etwa 70 eng gefasste, relativ spezialisierte Faktoren (z. B. Leseverstehen) der ersten Schicht bilden auf der nächsthöheren Ebene acht Faktoren der zweiten Schicht von höherer Generalität, wie etwa die fluide Intelligenz (Carroll 1993). Diese acht Faktoren können wiederum auf übergeordneter Ebene zu einem Faktor der dritten Schicht gebündelt werden, der als Generalfaktor g angesehen werden kann und schlussfolgernd-abstraktes Denken repräsentiert. Im Drei-Schichten-Modell der Intelligenz wird der hierarchische Charakter besonders deutlich herausgearbeitet, doch auch die Theorien von Cattell und Jäger zählen zu den hierarchischen Intelligenzmodellen (Rost 2013). Im Fokus: Gardners „Abschied vom IQ“

Howard Gardner (1994) postuliert in seinem Buch „Abschied vom IQ“ sieben unterschiedliche Bereiche von Intelligenz, die völlig unabhängig voneinander seien: 4 Sprachliche Intelligenz: Neben Umfang und Vernetzung des Wortschatzes meint Gardner damit auch sprachliche Fähigkeiten, wie sie beispielsweise guten Aufsatzschreibern oder Dichtern zugeschrieben werden. 4 Logisch-mathematische Intelligenz: Hierzu zählen Fertigkeiten im Umgang mit Zahlen, aber auch Aufgabenstellungen des schlussfolgernden Denkens (entspricht zum Teil dem „g“-Faktor der Intelligenz).

9

170

9

Kapitel 9  Intelligenz, Kreativität und Begabung

4 Räumliche Intelligenz: Darüber verfügt, wer sich räumliche Objekte gut vorstellen kann. Architekten, aber auch Ingenieure benötigen solche Fähigkeiten im besonderen Maße. 4 Körperlich-kinästhetische Intelligenz: Hier spricht Gardner psychomotorische Fähigkeiten an, wie sie Tänzer oder Sportlerinnen aufweisen, die Bewegungsabläufe sofort erfassen, nachvollziehen, geeignet modifizieren und fein sowie zielgerichtet ausführen können. 4 Musikalische Intelligenz: Dazu gehört das Gefühl für Rhythmus und Tonhöhen, aber auch Fähigkeiten, Emotionen mit musikalischen Mitteln auszudrücken (z. B. Musikerinnen) bzw. den emotionalen Ausdruck von Musik zu erfassen (z. B. Musikkritiker). 4 Intrapersonale Intelligenz stellt die Sensibilität gegenüber der eigenen inneren Welt dar. Auch Selbsterkenntnis und meditative Besinnung auf die eigene Gefühlswelt, wie es etwa Zen-Meistern in besonderem Maße gelingt, gehören dazu. 4 Interpersonale Intelligenz schließlich meint die Fähigkeit, die Befindlichkeit anderer differenziert wahrnehmen, einschätzen und das eigene Verhalten darauf abzustimmen zu können. Solche Kompetenzen werden etwa benötigt, um Verhandlungen erfolgreich bestreiten zu können. Die Sichtweise Gardners ist besonders in den USA, aber auch im deutschsprachigen Raum äußerst populär, obwohl sie wissenschaftlich nur sehr schwach abgesichert ist und in den letzten Jahren durch eine beliebig anmutende Ausweitung bis hin zur naturkundlichen oder spirituellen Intelligenz wissenschaftlich nicht mehr ganz ernst genommen werden kann (siehe auch die fundamentale Kritik von Rost 2009b).

Alle in diesem Abschnitt vorgestellten Modelle wurden auf Basis empirischer Daten mittels Faktorenanalysen entwickelt. Darüber hinaus existieren rein theoretische Ansätze zur Beschreibung der Intelligenzstruktur, wie das Strukturmodell von Guilford. Hier werden 5 Operationen mit 5 Inhalten und 6 Produkten kombiniert; es resultieren insgesamt 150 Zellen, die alle potenziellen menschlichen intellektuellen Fähigkeiten abdecken und voneinander unabhängig sein sollen (Rost 2013). Die Annahme der Unabhängigkeit der Intelligenzfaktoren scheint allerdings nicht plausibel. Vielmehr sprechen vorliegende Befunde eindeutig für die Interkorrelation verschiedener Intelligenzfaktoren. Daher wird heutzutage die Intelligenzstruktur von den meisten Experten als ein hierarchisches Konstrukt angesehen. Zu allen der bis heute bewährten Intelligenztheorien, die in diesem Abschnitt beschrieben wurden, existieren psychologische Tests, mit denen die modellierten Fähigkeiten oder Fähigkeitsbündel erfasst werden können. Dabei ist es kaum möglich, der einen oder anderen Theorie generell den Vorzug zu erteilen. Auch werden praktisch tätige Schulpsychologen oder Schulberater je nach Alter des Kindes oder Jugendli-

chen und spezieller Fragestellung denjenigen Fähigkeitstest auswählen, der für den jeweiligen Zweck am geeignetsten erscheint. So werden beispielsweise für Gerichtsgutachten Testverfahren verwendet, die vor allem Maße der allgemeinen Intelligenz liefern. Wenn es hingegen darum geht, ob ein Schüler oder eine Schülerin in der Sekundarstufe eher einen mathematisch- naturwissenschaftlichen oder einen literarisch-sprachlichen Schwerpunkt wählt, wird man einen Test wählen, der die Unterscheidung intellektueller Fähigkeiten im quantitativen und sprachlichen Bereich bzw. die Erstellung eines Intelligenzprofils ermöglicht. Bei der Diagnostik von Kindern und Jugendlichen mit nichtdeutscher Muttersprache empfiehlt sich in der Regel die Verwendung eines Tests, der möglichst wenige sprachliche und quantitative Anteile (kristallisierte Intelligenz im Sinne Cattells) enthält. Stattdessen wird man einen Test wählen, der die Erfassung der flüssigen Intelligenz ermöglicht, also der Intelligenzanteile, die weniger stark vom kulturellen, familiären und schulischen Umfeld abhängen.

9.2.2

Messung von Intelligenz

Die Messung von Intelligenz ist eng mit der Entwicklung der psychologischen Diagnostik verbunden. Ein kleiner historischer Rückblick führt daher zu den zentralen Begriffen. Der Engländer Francis Galton (vermutlich ein Neffe von Charles Darwin) gilt als Begründer der Testdiagnostik (Heller 2000). Galton beschäftigte sich Mitte des 19. Jahrhunderts mit psychologischen Fähigkeiten und Eigenschaften und den damit verbundenen Unterschieden zwischen Personen, also mit interindividuellen Differenzen. Dazu wandelte Galton damals typische psychologische Experimente zur Erfassung der Hörschwelle oder von Reaktionszeiten ab, um individuelle Fähigkeiten, Fertigkeiten oder Leistungsgrenzen zu erfassen. Galton ging es wesentlich darum, sinnvolle quantitative Kennwerte zu erhalten, d. h. alle Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse mit Maßzahlen auszudrücken (Heller 2000; Perleth & Sierwald 2000). Wesentlich und grundlegend für die weitere Entwicklung der psychologischen Diagnostik war, dass Galton die Merkmale oder Fähigkeiten einzelner Personen mit den durchschnittlichen Fähigkeiten verglich. Auch heute drückt ein Testwert eines Intelligenz- oder Leistungstests die Abweichung der getesteten Person vom Mittelwert der Bezugsgruppe aus: Anders als bei einem Diktat, das perfekt, also ohne Fehler sein kann, gibt es keine optimale Intelligenzleistung. Eine Leistung in einem Intelligenztest kann immer nur mit einer anderen Leistung verglichen werden. Man kann also etwa sagen, dass Person A im Intelligenztest eine höhere Leistung als Person B gezeigt hat oder dass Person C im Vergleich mit seiner Altersgruppe eine über-, unter- oder eben eine durchschnittliche Intelligenzleistung erzielt hat. Man kann aber nicht sagen, dass jemand nicht intelligent und streng genommen auch nicht, dass jemand sehr intelligent sei. Wenn

171 9.2  Intelligenz

wir davon sprechen, dass jemand hochbegabt ist, meinen wir, dass seine Intelligenz sehr weit, genauer gesagt mindestens zwei Standardabweichungen über dem Durchschnitt seiner Altersgruppe liegt. Eine solche Bewertung ist also nie absolut, sondern immer nur in Bezug auf Personen gleichen Alters möglich. Damit solche Abweichungswerte überhaupt sinnvoll interpretiert werden können, müssen alle Test- oder Versuchspersonen die gleichen Bedingungen vorfinden. Deshalb standardisierte Galton die Leistungssituationen und Aufgaben, um eine möglichst hohe Objektivität der Messung zu erreichen. Bei psychologischen Tests, insbesondere auch bei Intelligenztests wird deshalb vom Testautor genau festgelegt, wie der Test durchzuführen ist. In der Handanweisung des KFT 4  12 C R (Heller & Perleth 2000), einem Test zur Messung von kognitiven bzw. intellektuellen Fähigkeiten im verbalen, quantitativen und figural-nonverbalen Bereich, wird den Testanwendern daher sehr genau vorgeschrieben, unter welchen Bedingungen der Test durchzuführen ist. Vor allem aber wird die Testinstruktion oder Testanweisung festgelegt, an die sich die Fachleute bei der Diagnostik halten müssen. Durch diese Standardisierung, also die genaue Festlegung der Testbedingungen, soll größtmögliche Objektivität erreicht werden, d. h. man möchte so weit wie möglich ausschließen, dass die Unterschiede in den Testergebnissen aufgrund von unterschiedlichen Bedingungen oder Hinweisen bei der Testdurchführung zustande gekommen sein könnten. Die Unterschiede in den Testergebnissen sollen also möglichst vollständig als Unterschiede in den Fähigkeiten der verglichenen Personen interpretiert werden können. Ein weitere Annahme Galtons bezieht sich darauf, dass menschliche Fähigkeiten der Gauß- oder Normalverteilung folgen. Bis heute geht man in der Testdiagnostik davon aus, dass die meisten psychologischen Merkmale wie Fähigkeiten oder Persönlichkeitsmerkmale und damit eben auch die Intelligenzwerte normalverteilt sind, was sich in großen empirischen Untersuchungen auch praktisch zeigt. Ein großer Teil des statistischen Apparats, der zur Testentwicklung bzw. Testkonstruktion benötigt wird, setzt Normalverteilung der untersuchten Variablen bzw. Merkmale voraus. Beim Merkmal Intelligenz bzw. geistige Leistungsfähigkeit stellen die Extrembereiche dieser Verteilung Hochbegabte auf der einen und intellektuell Minderbegabte auf der anderen Seite dar. Damit weichen Hochbegabte genauso weit vom Durchschnitt bzw. der „Normalität“ ab wie mental Retardierte. Die von Galton geforderte Objektivität einer psychologischen Messung stellt das erste der zentralen Qualitäts- bzw. Gütemerkmale psychologischer Diagnostik dar. Darüber hinaus muss ein psychologischer Test oder auch jede andere im Rahmen psychologischer Diagnostik erhobene Information dem Gütekriterium der Messgenauigkeit oder Zuverlässigkeit (Reliabilität) genügen. Speziell bei Tests drückt die Reliabilität aus, wie genau und zuverlässig der Test das misst, was er misst. Informationen über die Zuverlässigkeit eines Tests sind deswegen so wichtig, weil die ermittelten Testwerte mehr oder weniger stark von dem sogenannten „wahren Wert“ abweichen können, den ein Individuum in dem erfassten Personenmerkmal aufweist. Diese Abweichung des Messwerts einer

Person von ihrem wahren, also tatsächlich die Person kennzeichnenden Wert wird als Messfehler bezeichnet. Dabei wird angenommen, dass über viele Messungen hinweg die Fehlerwerte normalverteilt sind und im Mittel einen Wert von null aufweisen. Mit anderen Worten: Der Messwert kann einmal ein bisschen höher oder auch sehr viel niedriger als der wahre Wert ausfallen, über viele Messungen hinweg heben sich die Messfehler aber gegenseitig auf. Für den Testanwender spielt die Reliabilität eine wichtige Rolle vor allem für die Berechnung der Grenzen, innerhalb dessen der wahre Wert einer Person mit einer hohen Wahrscheinlichkeit liegt. Bei manchen Tests, beispielsweise bei vielen Schulleistungstests wie Rechtschreib- oder Rechentests, wird das Testergebnis von vornherein als Intervall mit Unter- und Obergrenzen angegeben. Damit soll verdeutlicht werden, dass die tatsächliche Kompetenz immer etwas vom Testwert abweichen kann. Das dritte Qualitätsmerkmal von Tests stellt die Gültigkeit (Validität) dar. Ein Test ist gültig, wenn er das Persönlichkeitsmerkmal, das er messen soll, auch tatsächlich misst. Nur ein Test mit hoher Gültigkeit kann daher auch sinnvoll interpretiert werden. Ein Test kann genau (reliabel) sein, aber trotzdem nicht das messen, was er messen soll. Bei einem Intelligenztest wäre zunächst zu prüfen, ob die Aufgaben auch das widerspiegeln, was das jeweilige Intelligenzkonstrukt beinhaltet. Bei Tests, die in der Schulberatung Verwendung finden, wird weiterhin insbesondere geprüft, inwieweit mit dem Test (Schul-)Leistungen vorhergesagt werden können, wobei auch mit guten Tests Leistungen nur mit mehr oder weniger großer Genauigkeit vorhergesagt werden können. Nehmen wir beispielsweise an, dass mit einem Test die Mathematiknote über zwei Jahre recht gut vorhergesagt werden kann, weil in einer empirischen Studie eine mittlere bis hohe Korrelation (etwa r D :60) zwischen den Testergebnissen und den Mathenoten einer Schülerstichprobe gefunden wurde. Hat nun ein Schüler in diesem Test einen IQ an der Grenze zum unterdurchschnittlichen Bereich (IQ von 85) erzielt, dann könnte er mit hoher Wahrscheinlichkeit (90 %) zwei Jahre später eine Mathematiknote zwischen befriedigend (2,9) und mangelhaft (4,9) erhalten. Damit ein Test, wie schon von Galton gefordert, Messwerte liefert, die auf den Durchschnittswert einer Bezugsgruppe bezogen werden können, muss man sehr genau den Mittelwert sowie weitere statistische Kennwerte dieser Bezugsgruppe kennen. Die Normierung eines Tests soll genau solche Vergleichswerte ermitteln. Dazu wird der Test an einer möglichst umfassenden Normstichprobe durchgeführt, von deren Qualität (z. B. Repräsentativität) die Qualität der Normen entscheidend abhängen. Normen können immer auch in Prozenträngen ausgedrückt oder umgerechnet werden. So sagt bei einem Intelligenztest ein Prozentrang von 50 (entspricht dem durchschnittlichen IQ D 100) aus, dass 50 % der Vergleichspopulation niedrigere Werte erzielen. Ein Prozentrang von 16 (entspricht IQ D 85) bedeutet, dass 16 % der Normstichprobe in der Regel einen schlechteren Wert in diesem Test aufweisen. IQ D 130 entspricht hingegen Prozentrang 98. Weil sich aufgrund von gesellschaftlich und historisch bedingten Änderungen im familiären und schulischen Lernumfeld die Leistungen von Kindern, Jugendli-

9

172

Kapitel 9  Intelligenz, Kreativität und Begabung

chen und Erwachsenen ändern können (Flynn 1987; Skender 2014), sollten die Testnormen wie auch alle anderen zu dem jeweiligen Test ermittelten statistischen Kennwerte regelmäßig überprüft werden. Im Fokus: Der Flynn-Effekt

9

In den 1980er-Jahren erregte Flynn (1987) mit einer Studie großes Aufsehen, nach der in vielen Ländern weltweit pro Jahrzehnt eine Steigerung des durchschnittlichen Intelligenzquotienten von etwa 3 Punkten zu verzeichnen sei. Dieser Anstieg wird als Flynn-Effekt bezeichnet. Dabei zeigte sich, dass der Effekt vor allem beim induktiven Denken bzw. figural-räumlichen Intelligenzaufgaben und weniger bei verbalen oder quantitativen Aufgaben zu finden ist. Der Effekt wird vielfach dahingehend interpretiert, dass er einerseits durch eine gewachsene Vertrautheit mit den Aufgaben von Intelligenztests und andererseits durch eine Verbreitung von (Lern-)Spielzeug und Übungsmaterial in Familie, Kindertagesstätte und Schule gefördert wird, durch die sich Kompetenzen im Bereich der Intelligenz verbessern. In jüngerer Zeit war der Flynn-Effekt in entwickelten Ländern wie Deutschland allerdings kaum mehr nachweisbar.

Daneben müssen Testautoren bei der Testentwicklung auch weitere Qualitätsmerkmale berücksichtigen. Im Rahmen der Testfairness ist beispielsweise zu prüfen, ob einzelne Gruppen (Migrantenkinder, Kinder mit nichtdeutscher Muttersprache, leistungsschwache Kinder) durch die Testaufgaben systematisch benachteiligt werden. Weiter sollte ein Test dem Kriterium der Nützlichkeit genügen, d. h. er soll sinnvolle Informationen im Hinblick auf pädagogische Entscheidungen liefern. Daneben muss der Testautor durch Angaben zur Vergleichbarkeit sicherstellen, dass die Testwerte mit denen anderer Tests vergleichbar sind. Und schließlich wird den Testanwender auch die Ökonomie des Testverfahrens interessieren, also welcher Aufwand an Zeit, finanziellen und anderen Ressourcen für eine Testdurchführung und -auswertung investiert werden muss. In der diagnostischen Praxis der Schulberatung wird nach wie vor insbesondere auf „klassische“ Intelligenztests in der Tradition der psychometrischen Forschung zurückgegriffen, weil bisher kaum praxistaugliche diagnostische Methoden zur Intelligenzmessung im Sinne kognitionspsychologischer oder neurowissenschaftlicher Forschung verfügbar sind. Nach wie vor gilt auch, dass diese Intelligenztests den besten Prädiktor für späteren schulischen und auch beruflichen Erfolg darstellen (7 Abschn. 9.2.5). Der IQ (Intelligenzquotient) als Messergebnis eines Intelligenztests gibt an, wie stark die intellektuelle Leistungsfähigkeit einer Person vom Durchschnitt der Vergleichsgruppe bzw. Altersstufe abweicht. Dabei wird im Rahmen der Testnormierung die durchschnittliche Leistung einer bestimmten Altersstufe als IQ D 100 festgelegt. Erzielt beispielsweise die 12-jährige Schülerin Ines einen IQ von 100, so bedeutet dies, dass die Hälfte aller 12-Jährigen bessere Leistungen, die an-

dere Hälfte schlechtere Leistungen als Ines zeigt. Die meisten 12-Jährigen, ziemlich genau 68 % (Faustregel: zwei Drittel), liegen im Bereich von IQ D 85 bis 115. Da die Standardabweichung der IQ-Werte meist 15 Punkte beträgt, ist das genau der Bereich, in dem die Personen liegen, deren Testwert maximal um den „durchschnittlichen“ Betrag vom Mittelwert abweicht. Der Bereich einer Standardabweichung um den Mittelwert wird daher als Durchschnittsbereich bezeichnet (zur Standardabweichung vgl. 7 Kap. 26). Das gilt für alle Altersgruppen: Wer einen IQ höher als 115 erzielt, gehört zu den besten 16 % seiner Altersgruppe (überdurchschnittliche Leistung). Umgekehrt bedeutet ein IQ niedriger als 85, dass der Schüler zu den schwächsten 16 % zu rechnen ist (unterdurchschnittliche Leistung). Personen mit IQ-Werten über 130 bezeichnet man gewöhnlich als hochbegabt (ca. 2– 3 % der Altersstufe bzw. Vergleichsgruppe). Der Vorschlag, Hochbegabung über einen IQ von 130 zu definieren, hat also durchaus eine solide wissenschaftliche Grundlage und ist nicht ganz so willkürlich gewählt, wie er auf den ersten Blick erscheinen mag. Gerade im Hinblick auf die Erkennung von hochbegabten Schülerinnen und Schülern gibt es zahlreiche Vorschläge in der populären und wissenschaftlichen Literatur, wie diese von Eltern oder Lehrkräften identifiziert werden können. Die Forschung zeigt aber, dass solche Checklisten nur einen begrenzten diagnostischen Nutzen haben. Manchmal stehen die Punkte dieser Checklisten geradezu im Gegensatz zur empirischen Forschung. Sie können zwar wichtige Hinweise auf das Vorliegen einer Hochbegabung liefern, eine psychologische Diagnose aber nicht ersetzen (siehe dazu ausführlicher Perleth 2010).

Mythos: Die Intelligenz eines Menschen ist angeboren und unveränderbar In so manchem älteren Lehrbuch kann man lesen, dass man sich bei der Intelligenzmessungauf eine einzelne Messung, etwa im Alter von sechs Jahren, beschränken könne, weil die Intelligenz angeboren und nicht veränderlich sei (7 Abschn. 9.2.3). Diese Auffassung teilen auch noch viele Lehrkräfte und Eltern. Allerdings gibt es inzwischen viele Belege für die Trainierbarkeit von Intelligenzleistungen gerade bei leistungsschwachen Kindern (vgl. Klauer 2003). Dessen ungeachtet scheinen sich Intelligenzunterschiede bereits im Verlauf der Grundschuljahre zu stabilisieren. Ab der Sekundarstufe und ohne spezielle Trainings ändert sich die Rangfolge der Schülerinnen und Schüler bzgl. ihrer Intelligenzunterschiede nur noch wenig. Im Hinblick auf Eignungsdiagnostik erscheinen Intelligenztrainings dennoch nützlich, da man sich mit ihrer Hilfe seinen individuellen Leistungsgrenzen annähern kann, wie die Arbeitsgruppe um Günter Trost in den 80er- und 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts anhand der Daten von Eignungstests für das Studienfach Medizin zeigen konnte (Perleth 2008).

173 9.2  Intelligenz

Im Fokus: Der Intelligenzquotient IQ

Vor ziemlich genau 100 Jahren wurde der IQ von William Stern (1912) tatsächlich als Quotient aus dem Vergleich von Intelligenzalter zu Lebensalter berechnet: IQ D Intelligenzalter  Lebensalter  100. Zur Ermittlung des IQ einer Person musste man daher ihr Intelligenzalter kennen. Wenn die 13-Jährigen in einem IQ-Test in der Regel 67 Aufgaben richtig lösten, hätte ein Testautor damals dieser Leistung ein Intelligenzalter von 13 Jahren zugeordnet. Angenommen, die 10-jährige Anna und der 17-jährige Tobias hätten beide 67 Aufgaben richtig gelöst, so bekämen sie dasselbe Intelligenzalter von 13 Jahren zugewiesen. Für Anna ergäbe sich aber ein Intelligenzquotient von 13  10  100 D 130, für Tobias hingegen ein Intelligenzquotient von 13  17  100 Š 76. Diese Art der IQ-Bestimmung besitzt eine Reihe gravierender Nachteile wie eine langsamere Zunahme des Intelligenzalters bei steigendem Lebensalter, sodass sie heute völlig ungebräuchlich geworden ist.

Abschließend sei nochmals darauf hingewiesen, dass der IQ kein absolutes Maß für die Höhe der Intelligenz einer Person ist, sondern ein Maß für den Leistungsvergleich mit einer genau festgelegten Bezugsgruppe. Bei den meisten Intelligenztests sind die erzielten Leistungen nicht nur vom Alter, sondern auch vom Geschlecht oder anderen Merkmalen abhängig, sodass neben Normwerten für die Gesamtgruppe oft auch spezielle Normwerte für verschiedene Untergruppen angegeben werden.

9.2.3

Intelligenzunterschiede: Entstehung und Auswirkungen

Sind Intelligenzunterschiede ein Resultat unterschiedlicher genetischer Anlagen oder eher ungleicher Umweltbedingungen, die unsere Entwicklung beeinflussen? Die Entwicklung von Intelligenzunterschieden wird mittels populationsgenetischer Studien erforscht, indem beispielsweise die Intelligenzwerte von Zwillingspärchen korreliert und die Korrelationen von eineiigen und zweieiigen Zwillingen verglichen werden. Entscheidend für die Ergebnisinterpretation ist die Tatsache, dass eineiige Zwillinge 100 %, zweieiige Zwillinge nur 50 % ihrer genetischen Ausstattung teilen. Falls die Gene eine Rolle spielen, sollten eineiige Zwillinge höhere Korrelationen in den Intelligenzwerten aufweisen als zweieiige Zwillinge, weil sie einander genetisch ähnlicher sind. Weitere Schlüsse zu Einflüssen der Lernumwelten lässt der Vergleich der Korrelationen von getrennt und gemeinsam aufgewachsenen Zwillingen zu. Aus der sehr umfangreichen Befundlage soll hier nur ein Ergebnis exemplarisch herausgegriffen werden: Während die Intelligenzwerte getrennt aufgewachsener, eineiiger Zwillinge zu :75 korrelieren, fällt die Korrelation für getrennt aufge-

wachsene, zweieiige Zwillinge mit :35 deutlich geringer aus (Plomin & DeFries 1980). Dies spricht für einen vergleichsweise hohen Einfluss genetischer Faktoren. Gleichwohl finden wir in beiden Populationen etwas höhere Korrelationen, wenn die Zwillinge gemeinsam aufgewachsen sind, was auch für einen Einfluss der Umweltbedingungen auf die Intelligenz spricht. Zahlreiche weitere Befunde (z. B. aus Adoptionsstudien) zeigen in dieselbe Richtung, weshalb die sogenannte Anlage-Umwelt-Kontroverse bezüglich der Entwicklung von Intelligenzunterschieden gegenwärtig dahingehend resümiert werden kann, dass sowohl Unterschiede in der genetischen Veranlagung als auch Unterschiede in den Umwelten Intelligenzunterschiede bedingen, wobei die genetisch bedingten Unterschiede stärker zu gewichten sind. Dieses Forschungsfeld ist aber von ausgesprochen hoher Komplexität und die Interpretationen werden insofern noch erschwert, als die Umwelt- und Anlagefaktoren auch miteinander interagieren. Zur vertieften Auseinandersetzung seien interessierte Leserinnen und Leser auf weiterführende Literatur verwiesen (Rost 2013; Spinath 2010; 7 Kap. 12). Mit Blick auf die pädagogische Praxis soll hier zumindest Erwähnung finden, dass der Einfluss von Umweltfaktoren im Kleinkind-, Vorschul- und frühen Grundschulalter stärker ausgeprägt ist als bei älteren Kindern. Ebenso sprechen die Befunde für einen größeren Einfluss der Umweltfaktoren in ökonomisch schlechter gestellten Familien. Im Fokus: Befunde der Anlage-Umwelt-Kontroverse

Die Befunde populationsgenetischer Studien zur AnlageUmwelt-Kontroverse sprechen zwar im Großen und Ganzen für einen höheren Einfluss genetischer Faktoren für die Entwicklung von Intelligenzunterschieden. Gleichwohl beeinflussen auch Umweltbedingungen diese Entwicklung entscheidend. Die Investition in die Gestaltung förderlicher Lernumwelten lohnt sich also, wobei besonders große Wirkungen im frühen Kindesalter und bei Kindern der niedrigen sozioökonomischen Schicht zu erwarten sind. Darüber hinaus ist zu beachten, dass umso höhere genetische und umso geringere Umwelteinflüsse gefunden werden, je homogener die Lebensverhältnisse für Kinder in einer Gesellschaft sind.

Nachdem wir nun skizziert haben, wodurch Intelligenzunterschiede entstehen, stellt sich noch die Frage, wozu diese führen: Unterscheiden sich unterschiedlich intelligente Personen auch hinsichtlich weiterer Persönlichkeitsfaktoren? Sind hochintelligente Menschen automatisch sehr erfolgreich? Und welche Schlussfolgerungen können wir für das schulische Lernen ableiten? Bevor wir auf einige dieser Fragen eingehen, überlegen Sie selbst: Welche weiteren Unterschiede vermuten Sie zwischen mehr und weniger intelligenten Personen? Sind intelligentere Menschen auch gewissenhafter und erfolgreicher? Oder haben hoch intelligente Menschen ihrer Überzeugung nach ein erhöhtes Risiko, im Leben zu scheitern?

9

174

9

Kapitel 9  Intelligenz, Kreativität und Begabung

Tatsächlich gibt es Zusammenhänge zwischen Intelligenzwerten und weiteren Persönlichkeitsmerkmalen, allerdings fallen diese Trends möglicherweise anders aus als man es erwarten würde. In der Metaanalyse von Ackerman und Heggestad (1997) gingen hohe Intelligenzwerte mit hoher Offenheit für neue Erfahrungen und mit geringer emotionaler Labilität und Testängstlichkeit einher. Ein nur sehr geringer, positiver Zusammenhang zeigte sich darüber hinaus zwischen Intelligenz und Extraversion (s. a. Wolf & Ackerman 2005). Die Persönlichkeitsfaktoren Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit korrelierten hingegen nicht statistisch bedeutsam mit Intelligenz. Entgegen weitverbreiteter Vorurteile treten psychiatrische Störungen und Suizidalität bei Personen mit hoher Intelligenz eher etwas seltener auf. Die ebenfalls gefundene etwas bessere allgemeine Gesundheit Hochintelligenter wird durch Verhaltensmerkmale von Menschen mit niedriger Intelligenz wie eine geringe Tendenz, vorbeugende Maßnahmen in Anspruch zu nehmen, erklärt (im Überblick siehe Rost 2013). Ungeachtet dieser empirischen Belege für eine physisch und psychisch eher positive Entwicklung von Personen mit höherer Intelligenz fallen implizite Persönlichkeitstheorien zu hoch intelligenten Menschen ganz anders aus. Dieses Phänomen wird in 7 Abschn. 9.2.4 mit Blick auf Hochbegabte nochmals beleuchtet. Die in diesem Kapitel vorgestellten Ansätze zur Beschreibung des Intelligenzkonstrukts sind Gegenstand der Differentiellen Psychologie, die sich mit Unterschieden zwischen Personen (z. B. Hoch- und durchschnittlich Begabten) befasst und zu erklären versucht, wie es zu diesen Unterschieden kommt und wie sie sich weiter auswirken können. Die Allgemeine Psychologie hingegen befasst sich mit Gesetzmäßigkeiten und Prozessen, die alle Menschen teilen, wie etwa dem Konstrukt des Arbeitsgedächtnisses (7 Kap. 2). Aus dem Blickwinkel der Allgemeinen Psychologie wird erforscht, wie Gedächtnisinhalte etabliert und abgerufen werden, aber nicht, welche Unterschiede sich zwischen den lernenden Personen zeigen. Noch zu selten wurde die Kluft zwischen diesen Teildisziplinen überbrückt, um das Gemeinsame, aber auch das Spezifische der Konzepte Intelligenz und Arbeitsgedächtnis besser erklären zu können. In der Metaanalyse von Ackerman, Beier und Boyle (2005) korrelierte die allgemeine Intelligenz im Mittel zu r D :48 mit dem Arbeitsgedächtnis, in Einzelstudien sogar noch deutlich höher (im Überblick siehe Rost 2013 sowie Stumpf 2019). Diese Befunde führten zu einer kontroversen Diskussion darüber, ob Arbeitsgedächtnis und Intelligenz letztlich als identisch oder als zwei Seiten einer Medaille angesehen werden könnten. Um weiteren Aufschluss in dieser Frage zu erhalten, sind deutlich mehr Studien notwendig. Plausibel wird der hohe Zusammenhang beider Konstrukte, wenn man bedenkt, dass Merkmale der Intelligenz wie die Verarbeitungskapazität oder die Bearbeitungsgeschwindigkeit gleichzeitig Merkmale des Arbeitsgedächtnisses darstellen.

9.2.4

Hochbegabung

Hochbegabte Personen sind in unserer Gesellschaft mythenumwoben und lösen ähnlich wie Prominente nicht selten eine besondere Neugier aus. Aus impliziten Theorien schließen wir von der Hochbegabung einer Person auf weitere, nichtkognitive Persönlichkeitsmerkmale. Was ist dran an diesen Vorannahmen und Vorurteilen? Bevor wir uns mit dieser Frage befassen, gilt es, das Konstrukt Hochbegabung genauer zu beschreiben. Im Fokus: Ihren eigenen Vorannahmen auf der Spur

Stellen Sie sich vor, Sie erfahren am ersten Schultag, ein Kind Ihrer neuen Klasse sei hochbegabt. Welche Eigenschaften schreiben Sie diesem noch zu? Welche Erwartungen löst diese Information bei Ihnen hinsichtlich der Leistungen, aber auch des Verhaltens und familiären Umfeldes aus? Gehen Sie möglicherweise unbewusst davon aus, es handele sich um einen Jungen aus einer bildungsnahen Familie mit guten Schulleistungen, der jedoch eher introvertiert ist und nur über geringe soziale Kompetenzen verfügt? Die Befundlage zu impliziten Persönlichkeitstheorien von Lehrkräften zu hochbegabten Schülerinnen und Schülern ist noch etwas uneinheitlich. Einer neueren experimentellen Studie (Baudson & Preckel 2013) mit fiktiven Fallvignetten zufolge werden hochbegabte Kinder von Lehrkräften für aufgeschlossener für neue Erfahrungen, aber auch für introvertierter, emotional labiler und weniger verträglich gehalten. In dieser Studie wurde das hochbegabte Kind nur etwas häufiger für einen Jungen gehalten. Anderen Autoren zufolge gehen bis zu 70 % der Lehrkräfte davon aus, dass es sich um einen Jungen handle (Boedecker & Fritz 2002; Heller, Reimann & Senfter 2005). Überraschenderweise fallen die Befunde verschiedener Studien hinsichtlich der sozioökonomischen Herkunft eher uneinheitlich aus. In Bezug auf die soziokulturelle Herkunft variieren die Erwartungen von Lehrkräften einer US-amerikanischen Metaanalyse zufolge hingegen deutlich, wobei die höchsten Erwartungen an Kinder asiatischer Herkunft und die geringsten Erwartungen an Kinder latein- und afroamerikanischer Herkunft gestellt wurden (Tenenbaum & Ruck 2007). Was können wir aus diesen Befunden schließen? Implizite Persönlichkeitstheorien decken sich eher mit der Disharmoniehypothese, die durch Befunde zu tatsächlichen Entwicklungsbesonderheiten Hochbegabter als widerlegt gelten kann (7 Abschn. 9.2.4). Implizite Persönlichkeitstheorien und Vorurteile lenken dennoch unsere Wahrnehmung und beeinflussen damit die Lehrkraft-Schüler-Interaktion von der ersten Begegnung an. Sozialpsychologisch orientierte Studien verdeutlichen sehr eindrücklich die

175 9.2  Intelligenz

Stressbewältigung

Leistungsmotivation

Arbeits-/Lernstrategien

(Prüfungs-) Angst

Kontrollüberzeugungen Sport

(Nichtkognitive) Persönlichkeitsmerkmale

Intellektuelle Fähigkeiten

Sprachen Naturwissenschaften

Kreativität Soziale Kompetenz

Kunst (Musik, Malen)

Begabungsfaktoren

Leistung Technik

Musikalität Abstraktes Denken

Psychomotorik

Umwelt merkmale

Mathematik Soziale Beziehungen

Familienklima

Klassenklima

Krit. Lebensereignisse

. Abb. 9.2 Das Münchner Hochbegabungsmodell (ursprüngliche Version; Quelle: Perleth 2000)

Auswirkungen von Lehrkrafterwartungen auf das Verhalten der Kinder im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung (7 Kap. 21). Es ist wichtig, sich über diese Einflüsse bewusst zu werden und sie kritisch zu hinterfragen, um ihre Wirkungen eindämmen zu können.

Bis heute gibt es keine Einigkeit darüber, was unter Hochbegabung zu verstehen ist (7 Abschn. 9.1), vielmehr existieren verschiedene Modelle zur Beschreibung des Konstrukts nebeneinander. Das sogenannte Drei-Ringe-Modell von Joseph Renzulli ist in den USA und auch im deutschsprachigen Raum sehr bekannt. Darin wird Hochbegabung in der Schnittmenge aus hoher Fähigkeit, hoher Aufgabenverpflichtung und hoher Kreativität verortet (Heller 2000). Hier kann eingewendet werden, dass die so umschriebene Personengruppe auch schlichtweg als Hochleistende bezeichnet werden kann; insofern wird Renzullis Modell kein eigenständiger Erklärungswert in Bezug auf eine Hochbegabung attestiert. Dies gilt gleichermaßen auch für die Erweiterung des Modells durch den Niederländer Franz Mönks, der die Bedeutung der sozialen Lernumwelten (Familie, Schule, Peers) für die Hochbegabung bzw. außergewöhnlichen Leistungen von Kindern und Jugendlichen heraushob (Heller 2000). Die Differenzierung von Begabungs- und Leistungsdomänen wird im Münchner Hochbegabungsmodell der Arbeitsgruppe von Kurt Heller (2001) besonders deutlich. Demnach wird die Entfaltung von Begabung in Leistung durch verschiedene Faktoren des Lerners (z. B. Leistungsmo-

tivation, Kontrollüberzeugungen) wie auch der Lernumwelt (z. B. Instruktionsqualität) moderiert. Anhand dieses Modells kann anschaulich erläutert werden, dass bei intellektueller Hochbegabung außerordentlich hohe Leistungen nur dann zu erwarten sind, wenn auch die anderen lern- und leistungsrelevanten Faktoren entsprechend ausgeprägt sind. Des Weiteren werden im Münchner Hochbegabungsmodell verschiedene Leistungs- und Begabungsbereiche, wie etwa Intelligenz, Kreativität und Musikalität, differenziert betrachtet (. Abb. 9.2). Wegen dieser Breite kommt das Münchner Hochbegabungsmodell einem allgemeinen Modell zur Erklärung von Leistungen sehr nahe. Hinsichtlich einer genauen Spezifizierung der Hochbegabung ist allerdings noch ein Schwellenwert als quantitatives Kriterium zu definieren. Genau diese Festlegung trifft die Hochbegabungsdefinition von Detlef Rost besonders präzise, in der Hochbegabung im Wesentlichen als weit überdurchschnittliche Intelligenzausprägung angesehen wird. Demnach werden Menschen, deren IQ mindestens zwei Standardabweichungen (2  15 IQ-Punkte) über dem Mittelwert von 100 liegt, als hochbegabt betrachtet (Rost 2013). Welche Entwicklungsbesonderheiten weist die so definierte Gruppe der Hochbegabten nun auf? Kognitive Unterschiede sind in der Definition begründet und gehen mit einer hohen Verarbeitungsgeschwindigkeit und besseren Gedächtnisleistungen einher. Als wichtig ist festzuhalten, dass diese Unterschiede quantitativer und nicht qualitativer Natur sind (Rost 2013). Hinsichtlich der nicht-kognitiven Entwicklung zeigen sich im Großen und Ganzen relativ wenige Unterschiede zwischen hoch- und durchschnittlich begabten Menschen. Diese Unterschiede sind überwiegend in leistungsas-

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176

Kapitel 9  Intelligenz, Kreativität und Begabung

soziierten Entwicklungsbereichen zu finden und fallen in der Regel zugunsten der Hochbegabten aus. So geht intellektuelle Hochbegabung beispielsweise mit einer geringeren Ängstlichkeit und höherem schulischen Ehrgeiz einher (Stumpf 2012). Darüber hinaus erzielen Hochbegabte eher bessere Leistungen, was im nachfolgenden Abschnitt hinsichtlich schulischer Leistungen noch genauer dargestellt wird. Die empirische Befundlage widerlegt also in weiten Teilen die noch immer weit verbreiteten Vorurteile, welche in der Disharmoniehypothese zum Ausdruck kommen (7 Im Fokus). Im Fokus: Kontroverse: Harmonie- vs. Disharmoniehypothese

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Gemäß der Harmoniehypothese entwickeln sich Hochbegabte in allen Bereichen eher positiv, erreichen nahezu mühelos außerordentlich hohe Leistungen und „strotzen“ geradezu vor physischer und seelischer Gesundheit. Vertreter der Disharmonie- bzw. Divergenzhypothese gehen hingegen eher von einem hohen Risiko Hochbegabter für die Entwicklung von Lern- und Leistungsstörungen, psychiatrischer Auffälligkeiten oder Verhaltensauffälligkeiten aus.

gen, höheres schulisches Selbstkonzept); insgesamt erwiesen sich die Hochbegabten als psychisch stabil und sozial integriert. Ein weiteres hohes Potenzial der Studie liegt darin begründet, dass diese gegenwärtig noch fortgeführt wird und damit die Entwicklung der Gruppen über einen außerordentlich langen Zeitraum (seit 1987) begleitet. In den 1990er Jahren wurde die Marburger Hochbegabtenstudie zudem um eine weitere Stichprobe hochleistender Schülerinnen und Schüler erweitert. Die Ergebnisse der Studie haben dazu beigetragen, dass verkrustete Vorurteile über Hochbegabte durchlässiger geworden sind. Die ausgesprochen große Fülle an Ergebnissen wurde in zahlreichen Publikationen dokumentiert (für einen Überblick s. Rost 1993, 2009b).

Vermutlich kennen Sie Berichte aus den Medien oder der Praxis, in denen ein hoch intelligenter Schüler den Übertritt aufs Gymnasium nicht schafft oder auf dem Weg zum Abitur bzw. in den Abiturprüfungen scheitert. Hier handelt es sich vermutlich um einen hochbegabten Underachiever. Diese Fälle existieren, sind aber relativ selten (7 Im Fokus). Das Scheitern an den Anforderungen des Bildungssystems ist eindeutig nicht typisch für Hochbegabte. Im Fokus: Underachievement

Studie: Die Marburger Hochbegabtenstudie Die Marburger Hochbegabtenstudie ist bislang die einzige Untersuchung im deutschsprachigen Raum, in der die Entwicklung hoch- und durchschnittlich begabter Schülerinnen und Schüler anhand einer unausgelesenen Stichprobe langjährig untersucht worden ist (Rost, Sparfeldt & Buch 2017). Zuvor vermittelten etliche andere Studien zum Thema Hochbegabung ein verzerrtes Bild, da die Stichproben häufig aus Beratungsklientel rekrutiert worden waren. Es liegt auf der Hand, dass sich vornehmlich solche Familien an Beratungsstellen wenden, deren Kinder Auffälligkeiten entwickeln – unabhängig von einer Hochbegabung. Im Marburger Hochbegabtenprojekt hingegen wurde eine repräsentative Stichprobe untersucht, indem etwa 7000 Grundschulkinder der 3. Jahrgangsstufe direkt in ihren Schulklassen rekrutiert wurden. Die Einteilung in die Begabungsgruppen erfolgte anhand zweier standardisierter Intelligenztestverfahren. Auf diese Weise wurden 151 Kinder als hochbegabt klassifiziert (MIQ D 136), deren Entwicklung mit 136 durchschnittlich intelligenten Kindern (MIQ D 102) verglichen wurde. Diese Gruppen waren hinsichtlich Klasse, Geschlecht und sozioökonomischer Schicht parallelisiert, also sehr gut vergleichbar. Weiterhin zeichnet sich die Marburger Hochbegabtenstudie durch eine Fülle an untersuchten Entwicklungsbereichen und Fragestellungen aus: Die Stabilität der Hochbegabung wurde hier genauso in den Blick genommen wie Unterschiede zwischen den Gruppen in leistungsrelevanten Variablen (z. B. Ehrgeiz, Interessen, Leistungsmotivation, Selbstkonzept), die Schulleistungen und die soziale Integration unter Gleichaltrigen. Wie die Ergebnisse zeigen, sind die Unterschiede zwischen hoch- und durchschnittlich begabten Schülerinnen und Schülern im Großen und Ganzen auf leistungsassoziierte Entwicklungsbereiche beschränkt und fallen zugunsten der Hochbegabten aus (z. B. bessere Schulleistun-

Von Underachievement (Minderleistung) spricht man, wenn die Leistungen einer Person dauerhaft und deutlich unter dem Niveau liegen, das aufgrund ihrer intellektuellen Fähigkeiten zu erwarten wäre. Meist wird Underachievement im Kontext von Hochbegabung thematisiert. Wenngleich das Konstrukt Underachievement bis heute in der Praxis und der Wissenschaft recht uneinheitlich verwendet wird (vgl. Stumpf 2012), ist das Phänomen in der Begabtenförderung von hoher praktischer Plausibilität und Bedeutung. Hochbegabte Underachiever weisen in etlichen leistungsrelevanten Persönlichkeitsbereichen ungünstigere Entwicklungen auf als altersgleiche, ebenfalls hochbegabte Schülerinnen und Schüler mit erwartungskonformen Schulleistungen. Neben deutlichen Einbußen im Selbstwert und im Selbstkonzept werden für Underachiever auch Defizite in Motivation, Leistungsängstlichkeit, Durchhaltevermögen und in sozialen Kompetenzen beschrieben (im Überblick: Sparfeldt & Buch 2010). Ob und wie genau diese einzelnen Variablen bei Entstehung und Aufrechterhaltung von Underachievement zusammen wirken, ist allerdings bislang noch unklar. Unstreitig wirken bei Underachievement aber mehrere Faktoren zusammen. Hochbegabte Underachiever stellen also eine Subpopulation der Hochbegabten dar, für die ein gewisser Leidensdruck erkennbar ist. Auch wenn diese Gruppe nach den Befunden der Marburger Hochbegabtenstudie eher klein ist (12 % der Hochbegabten, wobei Jungen deutlich überrepräsentiert sind; Sparfeldt & Buch 2010), sollte dem Phänomen in Forschung und Praxis doch mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden, damit Underachiever in ihrer Entwicklung besser unterstützt werden. In der Praxis stellt sich das erste Problem

177 9.2  Intelligenz

bereits dadurch, dass Underachiever in der Schule meist nicht als hochbegabt erkannt werden, da Lehrkräfte die Begabung ihrer Schülerinnen und Schüler an den erzielten Leistungen festmachen. Bei der Beratung und Intervention müssen die Maßnahmen, meist lern- und verhaltenstheoretisch orientierte Interventionen, nach den jeweiligen Ursachenfaktoren sorgfältig individuell angepasst werden. Die Wirksamkeit bestimmter Interventionen bei Underachievement wurde bislang unseres Wissens nach nur wenig erforscht.

Für die Frage, wie Hochbegabte gefördert werden sollten, ist die dargestellte Befundlage zu deren Entwicklungsbesonderheiten richtungsweisend. Hochbegabte Schülerinnen und Schüler können Informationen schneller verarbeiten, zeigen bessere Gedächtnisleistungen und verfügen im Laufe der Entwicklung auch über mehr Wissen; außerdem trauen sie sich die Bewältigung hoher Anforderungen eher zu. Begabtenförderung ist daher vornehmlich stärkenorientiert auszurichten. In der Begabtenförderung spielen die Konzepte Akzeleration (Beschleunigung), Enrichment (Anreicherung) und Differenzierung (Unterscheidung) die wohl wichtigste Rolle, die an inner- oder außerschulischen Lernorten realisiert werden können. Die vorzeitige Einschulung oder das Überspringen von Klassenstufen sind typische Maßnahmen der Akzeleration, die durch das schnellere Durchlaufen der Bildungsphase gekennzeichnet ist. Im Enrichment hingegen werden die Lerninhalte entweder vertieft behandelt oder um weitere Inhalte ergänzt. Paradebeispiel für außerschulisches Enrichment sind Akademien (z. B. Deutsche Schülerakademie) und Wettbewerbe bzw. Olympiaden, die auf unterschiedlichen regionalen Ebenen vorwiegend in naturwissenschaftlichen Fachdisziplinen angeboten werden. Selbstverständlich können und sollten schulische und außerschulische, akzelerierende und anreichernde Elemente miteinander kombiniert werden, um eine möglichst gute Passung der Förderung auf individuelle Voraussetzungen zu erreichen. Weiterführend können die Fördermaßnahmen hinsichtlich des Homogenitätsgrads der Klasse (von inklusiv bis separierend) differenziert werden. Vermutlich als eine Folge der schrittweisen Realisierung der UN-Behindertenrechtskonvention, die unser Bildungssystem und dahinterstehende Wertmaßstäbe zu beeinflussen scheint, wurde die InklusionsSeparations-Debatte auch hinsichtlich der Begabtenförderung neu entfacht. Inklusive Förderung im heterogenen Klassenverband ist in der Grundschule die Norm und kann durch vorübergehende Separierung (z. B. Einteilung der Klasse in homogene Lerngruppen während des Unterrichts) ergänzt werden. Ab der Sekundarstufe bieten viele Bundesländer separierende Beschulung in gymnasialen Begabtenklassen an regulären Gymnasien und einige Bundesländer spezielle Be-

gabtengymnasien mit dem wohl höchsten Separierungsgrad an (Stumpf, Preckel & Schneider 2017). Für beide Modelle werden überdurchschnittlich intelligente Schülerinnen und Schüler mittels eines mehrdimensionalen Aufnahmeverfahrens ausgewählt. Dadurch soll eine Homogenisierung der Lernvoraussetzungen in der Klasse erreicht und eine begabungsgerechte Förderung besser möglich werden. Die Curricula werden akzeleriert behandelt und die frei werdende Zeit wird für anreichernde Fördermaßnahmen, wie etwa eine weitere Fremdsprache oder Projektarbeiten, genutzt. Unserem Eindruck nach sind (angehende) Lehrkräfte und auch Eltern anreichernden Begabtenfördermaßnahmen im regulären Klassenverband gegenüber eher positiv eingestellt, wohingegen Akzeleration und Separation für weniger wertvoll angesehen werden. Unausgesprochen schwingt der Eindruck mit, hier fehle der Aspekt der „Ganzheitlichkeit“. Dieser Eindruck deckt sich recht gut mit den Ergebnissen zweier Studien, in der Spezialklassen (Sparfeldt, Schilling & Rost 2004), Spezialschulen und das Überspringen (Schneider, Stumpf & Preckel 2016; Sparfeldt et al. 2004) tatsächlich eher ungünstig beurteilt wurden. Solchen subjektiven Einschätzungen müssen allerdings empirische Befunde zur Wirksamkeit der verschiedenen Begabtenfördermaßnahmen gegenübergestellt werden. Ohne zu sehr ins Detail zu gehen, lässt sich sagen, dass Akzelerationsmaßnahmen recht gut evaluiert sind und dem internationalen Forschungsstand zufolge die größten Effekte auf schulische Leistungen erzielen. In Metaanalysen konnten hohe Effekte von d D :88 für Akzelerationsmaßnahmen ermittelt werden, wohingegen die Effekte von Enrichmentmaßnahmen (d D :39) und Spezialklassen (d D :49) moderat ausfielen (z. B. Lipsey & Wilson 1993; vgl. auch Hattie 2009). Eltern und Pädagogen teilen häufig die Sorge, Kinder würden durch das Überspringen überfordert. Im deutschsprachigen Raum hat Heinbokel (2009) hier einige Arbeiten vorgelegt, die diese Sorge eher entkräften. Beachtung sollte allerdings auch eine neuere Studie von Vock, Penk und Köller (2014) mit Daten von Schülerinnen und Schülern aller Schularten der Jahrgangsstufen 8 bis 10 finden: Ein nicht unerheblicher Anteil von 34 % der ehemaligen Springer (überwiegend Jungen) hat später eine Jahrgangsstufe wiederholt. Momentan ist noch nicht geklärt, inwiefern das durch die meist nur leicht überdurchschnittliche Intelligenz der Schülerinnen und Schüler erklärt werden kann und ob daher eine standardisierte Intelligenztestung für die Entscheidung genutzt werden sollte. Auch bleibt zu bedenken, dass die Angaben zur Schullaufbahn hier mittels Selbstbericht durch Fragebögen erfasst worden sind. Das Ergebnis ist allerdings ein Beispiel dafür, dass noch zu wenige Befunde zu differenziellen und langfristigen Effekten und damit für die Eignung verschiedener Begabtenfördermaßnahmen für unterschiedliche Kinder vorliegen. Gegenwärtig kann resümiert werden, dass Akzelerationsmaßnahmen besser sind als ihr Ruf, allerdings mittels fachgerechter Diagnostik sorgfältig vorbereitet werden sollten.

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Kapitel 9  Intelligenz, Kreativität und Begabung

Im Fokus: Brauchen Hochbegabte eine spezielle Förderung?

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Die Frage, ob Hochbegabte eine spezielle Förderung benötigen und ob das ggf. nur für Schülerinnen und Schüler gilt, die das gängige Klassifikationskriterium (IQ  130) erreichen, ist heftig umstritten. Wie bereits erläutert, entwickelten sich die hochbegabten Kinder der Marburger Studie auch im regulären Schulsystem im Großen und Ganzen etwas positiver als durchschnittlich Intelligente. Begabtenförderung kann daher genau genommen nicht im großen Stil als Prävention von Entwicklungsauffälligkeiten gefordert werden. Das im Grundgesetz verankerte Recht auf individuelle Entfaltung zieht allerdings den Anspruch auf individuelle Förderung im Bildungswesen nach sich, worin die Notwendigkeit der Begabtenförderung begründet ist. Gesellschaftlich ist die Begabungsförderung mit Blick auf die Ausbildung kreativer und innovativer Zukunftsperspektiven von Bedeutung. Inwiefern zusätzliche Förderung für Kinder und Jugendliche notwendig oder wünschenswert ist, hängt neben den intellektuellen Fähigkeiten von zahlreichen anderen Faktoren wie dem Grad der Differenzierung im Unterricht, den Bildungsaspirationen der Familie oder der Anpassungsfähigkeit des Kindes ab. Auch Kinder, deren Intelligenz zwar überdurchschnittlich, aber doch unterhalb der Schwelle für eine Hochbegabung liegt, können Bedarf an einer besonderen Förderung aufweisen. Begabtenförderung wird dem gerecht, da für die meisten Fördermaßnahmen die Intelligenzschwellen niedriger (z. B. IQ > 120) angesetzt werden (vgl. Stumpf 2011).

9.2.5

Intelligenz, Begabung, schulisches Lernen und Leistungsentwicklung

Nach wie vor gilt Intelligenz im schulischen und akademischen Bereich als erklärungsstärkster, keinesfalls jedoch als einzig wichtiger Erklärungsfaktor (Prädiktor) von (Schul-) Leistungen, wobei der Zusammenhang zwischen Intelligenz und Leistung in der Primarstufe noch höher ausfällt als in den sekundären und tertiären Bildungsabschnitten. Auch bei besonders leistungsstarken und leistungsschwachen Schülerinnen und Schülern sind Prognosen der Schulleistungen unsicherer. Bei der langfristigen Leistungsprognose müssen grundsätzlich weitere Faktoren wie Motivation, Interessen, Arbeitsverhalten, Ängstlichkeit sowie Faktoren der häuslichen und schulischen Lernumwelt etc. berücksichtigt werden (Perleth 2000). Die Höhe des Zusammenhangs zwischen Intelligenz und Leistung zählt zu den am besten untersuchten Fragestellungen der Pädagogischen Psychologie. Durchschnittlich variieren diese Korrelationen zwischen r D :40 und r D :70 (Helmke, Rindermann & Schrader 2008; Rost 2013). Der Zusammenhang fällt für die Hauptfächer, insbesondere Mathematik, höher aus als für die Nebenfächer.

Im außerschulischen bzw. außerakademischen Bereich kommt der Intelligenz ein deutlich geringerer Wert für die Leistungsprognose zu. Manche Vertreter der Expertiseforschung (7 Kap. 3) leugnen zumindest teilweise die Bedeutung der Intelligenz für berufliche und Lebensleistungen und betonen stattdessen die Bedeutung der Erfahrung bzw. der langen, zielgerichteten und intensiven Übung. Bestenfalls spiele Intelligenz in der Einarbeitungsphase in ein neues Tätigkeitsfeld eine Rolle (z. B. Perleth 1997). Wenngleich manch extreme Positionen wie etwa die von Anders Ericsson nur von wenigen Forscherinnen und Forschern geteilt werden, erinnert sie doch daran, dass Intelligenz Übung nicht ersetzen kann und Intelligenz alleine noch lange keinen Erfolg in Schule und Beruf garantiert (Perleth 2000; 7 Kap. 3). Das Münchner dynamische Begabungs-Leistungsmodell von Perleth (2001a) bildet die Begabungs- und Leistungsentwicklung in Abhängigkeit von Persönlichkeits- und Umweltmerkmalen in einem einheitlichen Rahmen ab (. Abb. 9.3). Ausgangspunkt der Begabungs- und Leistungsentwicklung sind angeborene Charakteristika wie die Gedächtniseffizienz, das Aktivationsniveau, Merkmale der Aufmerksamkeit oder der visuellen Wahrnehmung. Gleichzeitig geben diese angeborenen Grundlagen gewissermaßen den Rahmen oder die Grenzen vor, in dem die Begabungsentwicklung erfolgen kann. Bereits in der Kleinkind- und Vorschulzeit werden entscheidende Weichen für die Begabungsentwicklung gestellt. Dies ist der Lebensabschnitt, in dem der Einfluss der Eltern auf die Begabungsentwicklung in verschiedenen Bereichen besonders bedeutsam ist. Auf der Grundlage der angeborenen Merkmale und der Aktivitäten der Kinder bilden sich in diesem Lebensabschnitt die Begabungen bzw. Begabungsschwerpunkte inklusive der intellektuellen Fähigkeiten heraus, wobei die Anregungen in Familie und/oder Kindergarten richtungsweisend sind. Diese Begabungen sind zwar auf bestimmte Bereiche wie Intellekt, Musik, Kunst etc. bezogen, können jedoch später in den unterschiedlichsten Gebieten fruchtbar werden: Kreativität kann auch im Mathematikoder Sachkundeunterricht nützlich sein, gute Analysefähigkeiten in der Musik. Gleichzeitig werden im vorschulischen Lebensabschnitt wichtige Grundlagen der Persönlichkeitsentwicklung gelegt, etwa Interessen, motivationale Merkmale, Arbeitsverhalten, Durchhaltevermögen, die auch für die Begabungsentwicklung von zentraler Bedeutung sind. Schließlich bewirken vielfältige Auseinandersetzungen mit der Welt bei Kindern den Aufbau von Fertigkeiten und Wissen. Für diesen Lebensabschnitt ist auch charakteristisch, dass Anlagen und Umwelt oft recht gut zusammenpassen: Wenn Kinder Anlagen mit ihren Eltern teilen, dann wachsen sie in einer familiären Umwelt auf, die von ähnlichen Anlagen geprägt und damit für die Entwicklung der Begabung des Kindes besonders förderlich ist. Beispielsweise werden musikalische Familien Instrumente zur Verfügung stellen und den Kindern besondere musikalische Anregungen geben. Im Vorschul- und zu Beginn des Grundschulalters stabilisieren sich Intelligenz und Begabungen der Kinder. Zwar

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179 9.3  Kreativität und Problemlösen

Persönlichkeitsmerkmale Interessen Motivationale Merkmale Arbeitsverhalten Ängstlichkeit

Persönlichkeitsmerkmale

Lesen/ Scheiben

Aufmerksamkeit

Sprachen Mathematik/ Naturwissen.

Rechnen Habituation Gedächtniseffizienz Aktivationsniveau Visuelle Wahrnehmung

Aufbau von Wissen

Naturkenntnis Intellektuelle Kompetenz

Kunst (Malen, Musik) Aktiver zielgerichteter Lernprozess

Kreative Kompetenz Aufbau bereichsbezogener, allgemeiner Kompetenzen

Soziale Kompetenz

Aufbau von Wissen

Gesellschaftswissenschaft Musik

Musikalität

Sport

Motorik

Psychomotorik

Soziale Kompetenz

usw.

usw.

usw.

Lernumwelt Eltern, Familienklima Förderung Peers Kindergarten ... Vorschulzeit

Lernumwelt Eltern, Familienklima Fördermöglichkeiten Lehrer, Schulklima, Peers Kritische Lebensereignisse ... Schulzeit

Aktiver zielgerichteter Lernprozess

Spezialgebiet

Beruf

Zunehmender Expertisegrad

Lernumwelt Partner, Peers Förderung an Uni, im Beruf Dozenten/Ausbilder Kritische Lebensereignisse ... Hochschule/Berufsausbildung

. Abb. 9.3 Das Münchner dynamische Begabungs-Leistungsmodell (Quelle: Perleth 2000)

schreitet die Begabungsentwicklung bis ins höhere Alter voran (kristallisierte Intelligenz), die Position in der Altersgruppe ändert sich bei den meisten Kindern ab der dritten oder vierten Klasse jedoch nur noch wenig (Perleth & Sierwald 2001). Ab dem Grundschulalter werden Lehrkräfte zunehmend wichtiger für die Begabungs- und Leistungsentwicklung der Kinder. Günstig ist es, wenn Lehrkräfte Begabungen der Kinder entdecken, individuell auf die Kinder eingehen und somit helfen, Begabungsschwerpunkte zu fördern. Allerdings geht es in diesem Lebensabschnitt zunehmend weniger um Begabungsentwicklung als vielmehr um den zielgerichteten Aufbau von Wissen und Fertigkeiten in den unterschiedlichsten Bereichen wie Sport, Sprachen, Mathematik, Literatur oder Musik. Dieses Wissen stellt die entscheidende Grundlage für die weitere (Leistungs-)Entwicklung in verschiedenen Domänen dar. Der Aufbau entsprechenden Wissens ist das zentrale Thema der Begabungs- und Leistungsentwicklung im Schulalter. Begabung ist zum einen notwendig, um dieses Wissen aufzubauen: Begabtere lernen auf ihrem Gebiet schneller und nachhaltiger. Andererseits stellen erst ein breites, gut organisiertes Wissen sowie gut entwickelte Fertigkeiten die Basis dar, auf der Begabungen fruchtbar werden können. Gute Leistungen als Erwachsene setzen eben zum einen Begabungen, zum anderen Wissen voraus. Im Jugendalter schließlich gewinnt das soziale Umfeld der Heranwachsenden wie Freunde und Gleichaltrige steigenden

Einfluss auf die Begabungs- und Leistungsentwicklung: Die Jugendlichen suchen von sich aus nach Freunden, die zu ihren Begabungen passen und mit denen sie gemeinsam ihre Begabungsschwerpunkte weiterentwickeln sowie ihre Leistungsgrenzen erweitern können. Musikalische Jugendliche könnten sich beispielsweise einer Band oder Kammermusikgruppe anschließen. Zentrale Aufgabe im Erwachsenenalter ist die berufliche Spezialisierung. Diese gelingt umso besser und schneller, je größer die Passung zwischen der Begabungskonstellation und dem jeweiligen Fachgebiet ist und je solider die in der Schulzeit erworbenen Fertigkeiten, Kenntnisse und Wissensbestände gegründet sind. Bei manchen Personen setzt diese Spezialisierung allerdings schon in der Schul- oder gar Vorschulzeit ein. Hierunter fallen etwa Schachgroßmeister, professionelle Musiker oder Sportler, die schon früh mit Training und Üben beginnen müssen, um bereits im Alter von 15 bis 25 Jahren Spitzenleistungen erzielen zu können. 9.3

Kreativität und Problemlösen

Kreativität ist ein Konstrukt, das im Bereich von Bildung und Schule mit unzähligen Bedeutungen und Schattierungen verwendet wird. Kinder oder Jugendliche werden im Alltagsverständnis als kreativ bezeichnet, wenn sie beispielsweise beim künstlerischen Gestalten von Bildern oder anderen Kunst-

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Kapitel 9  Intelligenz, Kreativität und Begabung

objekten ungewöhnliche Farben oder Formen verwenden. Oder sie gelten als kreativ, wenn sie beim Spielen Alltagsobjekten eine neue Bedeutung oder Funktion zuschreiben, indem sie etwa einen Umzugskarton zum Auto oder ein Stück Baumwurzel zu einer menschlichen Figur umfunktionieren. Kreativität ist aber auch, wenn für ein mathematisches Problem oder eine physikalische Aufgabe Lösungen entwickelt werden, die der Lehrkraft bisher nicht in den Sinn gekommen sind. Ai-Girl Tan und Christoph Perleth (2015) gehen noch darüber hinaus. Sie beschreiben Kreativität zunächst als Personenmerkmal, das Menschen in die Lage versetzt, viele neue und neuartige oder vielleicht sogar revolutionäre Ideen und Problemlösungen zu produzieren, die für ihre Mitmenschen (Eltern, Lehrkräfte usw.) mit einem Überraschungseffekt verbunden sind. Damit ist, ähnlich wie in den Alltagsbeispielen oben, das zentrale Merkmal kreativen Denkens angesprochen (vgl. auch Cropley & Reuter 2010). Darüber hinaus betonen Tan und Perleth (2015), dass kreative Personen von ihrer Lernumwelt und Gesellschaft geprägt werden, diese aber auch in ihrer Entwicklung zu beeinflussen vermögen (vgl. den „kreativen Genius“ im Sinne von Kaufman & Beghetto 2009). Im Rahmen der vorgehenden Abschnitte zur Intelligenz wurde Kreativität mehrfach im Sinne von kreativem Problemlösen (nicht im Sinne von künstlerischer Kreativität) angesprochen und kreatives Problemlösen als ein Teilbereich der Intelligenz angesehen. Bereits die Intelligenzdefinitionen enthielten als wesentliche Komponente die Neuartigkeit von Problemen, für deren Lösung vielfach neue Denkmuster erforderlich sind. Darüber hinaus gibt es in der Denkpsychologie eine Tradition, die sich speziell mit kreativem Problemlösen beschäftigt (s. Perleth 2008). Es wäre allerdings verfehlt, Kreativität lediglich als Teilkomponente der Intelligenz anzusehen, auch wenn Kreativität in der Vergangenheit von einer Reihe von Forscherinnen und Forschern so konzipiert wurde. Cropley und Reuter (2010) fassen die theoretischen Überlegungen zur Abgrenzung von Intelligenz und Kreativität dahingehend zusammen, dass nach dem Summationsmodell Kreativität und Intelligenz bei Problemlösungen oder anderen Leistungen additiv zusammenwirken, während nach dem Schwellenmodell eine bestimmte Intelligenzhöhe Voraussetzung für kreative Leistungen sei und nach dem Kapazitätsmodell das Intelligenzniveau eine obere Grenze für Kreativität darstelle. Im Rahmen des Kanalmodells wiederum ist Intelligenz für die Sammlung und Speicherung von Informationen zuständig, während die Kreativität dazu dient, das gespeicherte Wissen auf neuartige Weise zu verarbeiten und damit Neues zu produzieren. Dass Kreativität und Intelligenz als verschiedene Fähigkeiten angesehen werden sollten, auch wenn sie wechselweise miteinander interagieren, hat schon Guilford (1967) betont. Guilford hat in den 1960er- und 1970er- Jahren des 20. Jahrhunderts ein Intelligenzmodell (7 Abschn. 9.2.1) vorgelegt, das bereits zentrale Merkmale des Berliner Intelligenzstrukturmodells vorwegnahm und 120 Intelligenzfaktoren in drei Dimensionen ordnete (s. Heller 2000). Aufgrund der Viel-

zahl der postulierten Faktoren ist dieses Modell für praktische Zwecke zwar schlecht nutzbar, allerdings war es durch die Integration von Faktoren kreativen Denkens richtungsweisend. Bei den Denkoperationen unterschied Guilford u. a. die divergenten und konvergenten Produktionen, womit er einen nachhaltigen Einfluss auf die Intelligenz- und Kreativitätsforschung nahm. Während mit Faktoren konvergenter Produktion, dem konvergenten Denken, Fähigkeiten angesprochen sind, wie sie bei der Bearbeitung klassischer Intelligenzaufgaben zum Finden der (meist einzig) richtigen Problemlösung erforderlich sind, geht es beim divergenten Denken darum, möglichst viele und originelle Ideen zu einem gegebenen Problem zu entwickeln, zu elaborieren und gegebenenfalls gegeneinander abzuwägen. Kreativen Menschen werden daneben Merkmale wie Ideenreichtum, Improvisationstalent, Gedankenflüssigkeit und -flexibilität, kreativen Problemlösern daneben auch eine besondere Sensitivität für Probleme zugeschrieben. Die von Guilford in seiner Konzeption divergenten Denkens postulierten Kreativitätsfaktoren Produktion bzw. Produktivität, Flexibilität, Qualität bzw. Elaboration sowie Originalität seien an drei Beispielen für Testaufgaben zur Kreativität näher erläutert, die im Rahmen der Münchner Hochbegabungsstudie (Heller 2001) eingesetzt wurden. Zur Erfassung konvergenten Denkens im technisch-praktischen Bereich wurde der Verwendungstest eingesetzt, der ursprünglich von Guilford entwickelt worden war (s. Perleth 2001b). Dabei sollen sich Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe für Alltagsgegenstände wie eine Zeitung oder eine Büroklammer möglichst viele unterschiedliche (technische) Verwendungen ausdenken. Die Anzahl der unterschiedlichen Ideen wird dabei als Indikator für die Produktivität bzw. Ideenflüssigkeit verwendet. Einen hohen Wert im Faktor Flexibilität bekommen Schülerinnen und Schüler, wenn die ausgedachten Verwendungen möglichst vielen Kategorien zugeordnet werden können. Beispielsweise werden Verwendungen wie „einen Fisch einwickeln“ oder „als Geschenkpapier verwenden“ der Kategorie „Verpacken“ zugeordnet, während die Idee, eine angefeuchtete Zeitung als Stromleiter zu verwenden einer völlig anderen Kategorie zugeordnet wird. Wenn sich nun herausstellt, dass diese Kategorie (die angefeuchtete Zeitung als Stromleiter zu verwenden) in einer größeren Stichprobe nur sehr selten vorkommt, würde die betreffende Testperson hierfür auch viele Originalitätspunkte bekommen. Bei Grundschulkindern wurde im Rahmen der Münchner Hochbegabungsstudie ein zeichnerisches Verfahren eingesetzt, dass auf den Kreativitätsforscher Torrance zurückgeht und bei dem die Kinder einfache geometrische Elemente wie beispielsweise einen Winkel oder einen Halbkreis vorgelegt bekamen und diese zu Zeichnungen ergänzen sollten (s. Perleth 2001b). Da bei diesem Test alle Kinder dieselbe Anzahl von Vorlagen bekommen, macht die Bestimmung der Produktivität oder Flüssigkeit (Anzahl der produzierten kreativen Ideen) nur wenig Sinn, weil in der Regel alle Kinder über alle Vorlagen arbeiten. Dagegen kann die Flexibilität bestimmt werden (zeichnet das Kind nur Köpfe oder auch viele verschiedene andere Dinge) und auch die Einschätzung

181 9.3  Kreativität und Problemlösen

der Elaboration ist möglich (Sorgfalt und Detailreichtum, mit der die Zeichnung gestaltet ist). Die Originalität wird wie beim Verwendungstest darüber bestimmt, ob die zeichnerische Idee häufig oder selten vorkommt. Im sprachlichen Bereich wird divergentes Denken häufig über die Wortflüssigkeit erfasst, wobei die Kinder, Jugendlichen oder Erwachsenen sich beispielsweise viele verschiedene Wörter zu vorgegebenen Anfangsbuchstaben einfallen lassen sollen. Beim Test „Vierwortsätze“, ein Untertest des Verbalen Kreativitätstests (s. Perleth 2001b), werden gleich vier Buchstaben (z. B. „a“, „b“, „c“, „d“) vorgegeben und die Aufgabe besteht darin, sich korrekte Sätze aus jeweils vier Wörtern auszudenken, wobei jeder der vorgegebenen Buchstaben genau einmal, aber in beliebiger Reihenfolge als Anfangsbuchstabe eines Wortes vorkommen soll (z. B. „Der cholerische Angestellte betet“). Bei solchen oder ähnlichen Verfahren kann die Produktivität bzw. hier die Wortflüssigkeit gut erfasst werden, wohingegen es aber schwierig ist, Indikatoren für Flexibilität, Elaboration und auch Originalität abzuleiten. Im Rahmen der Münchner Hochbegabungsstudie zeigte sich allerdings auch beim Verwendungstest sowie dem zeichnerischen Kreativitätstest, dass die Indikatoren für die einzelnen Kreativitätsfaktoren untereinander hoch zusammenhängen, d. h. die Kinder und Jugendlichen schnitten tendenziell in allen Faktoren eher gut oder eher schlecht ab. Aus diesem Grunde wird häufig in der Praxis auf die in der Regel einfacher zu bestimmenden Maße der Produktivität oder der Flüssigkeit zurückgegriffen. Eine späte Bestätigung für seine Ideen hätte Guilford, wie oben angedeutet, in den Befunden der Forschungsarbeiten von Jäger und seiner Arbeitsgruppe zum Berliner Intelligenzstrukturmodell sehen können. Diese konnten im Rahmen ihrer Untersuchungen mit Oberstufenschülerinnen und -schülern zeigen, dass sich Leistungen, die typischerweise als kreative Leistungen angesehen werden (z. B. Wortflüssigkeit), nahtlos und sinnvoll in das Intelligenzmodell integrieren ließen (Jäger 1984). Kreatives Denken wird auch dadurch charakterisiert, dass es sich um Problemlösen oder Denkprozesse handelt, bei dem das Ziel des Problemlöseprozesses nicht genau vorgegeben ist bzw. mehrere Lösungen möglich sind. Kreative Problemlöser benötigen daher auch eine umfangreiche Wissensbasis, die den Stoff für die Problemlösungen liefert. Im Problemlöseprozess selbst geht es darum, das Problem aus unterschiedlicher Perspektive zu betrachten, aus dem vorhandenen Wissen zu schöpfen und Elemente davon so zu kombinieren, dass eine neuartige oder überraschende Lösung entsteht. Aufgrund dieser ergebnisoffenen Kombination von Wissenselementen geht kreatives Problemlösen über intelligentes Verhalten hinaus. Graham Wallas (vgl. Preiser 2006) hat unter Rückgriff auf Berichte kreativer Wissenschaftler wie dem Physiker Herman von Helmholtz oder dem Mathematiker Henri Poincaré bereits vor fast einem Jahrhundert vier Phasen des Prozesses innovativen und kreativen Denkens beschrieben. In der Phase der Vorbereitung („Präparationsphase“) wird das Problem genau unter die Lupe genommen, exploriert und ana-

lysiert und auf diese Art und Weise werden möglichst viele Informationen über das Problem und seine Randbedingungen gesammelt. In der folgenden Phase der Inkubation sollte die Problemstellung nicht weiter aktiv beachtet und bearbeitet werden, sondern man sollte geradezu Abstand zum Problem gewinnen und unbewussten „Reifeprozessen“ vertrauen. Der Begriff wurde in Anlehnung an den medizinischen Begriff der „Inkubationszeit“ gewählt, der die Zeit zwischen Infektion und Ausbruch einer Krankheit beschreibt. Ein plötzlicher „Geistesblitz“ bzw. ein „Heureka-Erlebnis“ ist kennzeichnend für die Phase der Illumination, in dem schlagartig ein kreativer Einfall aufscheint. Dies wäre etwa der Fall, wenn eine Studentin oder ein Student der Mathematik nachts plötzlich aus dem Schlaf hochfährt und ihr oder ihm plötzlich eine kreative Lösungsidee für eine Problemstellung vor Augen steht. Schließlich muss der kreative Prozess aber damit abgeschlossen werden, dass die gefundene Lösungsidee auch umgesetzt, d. h. elaboriert oder ausgearbeitet wird. Dazu ist es möglicherweise auch notwendig, die kreativen Einfälle daraufhin zu reflektieren, ob sie überhaupt machbar sind, d. h. die Ideen müssen auch überprüft und die praktische Umsetzung muss evaluiert werden. Off (2008) hat das Prozessmodell von Wallas aufgegriffen und unter dem griffigen Akronym „B-I-L-D“ zusammengefasst. Dabei steht „B“ für die „Beschreibung des Problems“ (Präparation bei Wallas), „I“ für „Informationsanordnung (Inkubation bei Wallas), „L“ für „Lösung“ (Illumination bei Wallas) und „D“ für „Darstellung bzw. Durchsetzung“ (Verifikation bzw. Elaboration bei Wallas). Es sei angemerkt, dass Wallas’ Modell trotz seiner Verbreitung und Popularität nicht unumstritten ist. Beispielsweise wird für den „Inkubationsprozess“ diskutiert, ob nicht einfach Erholung und die damit verbundene Stressreduktion den Denkapparat wieder leistungsfähiger machen (ausführlicher Preiser 2006). Im Hinblick auf eine Förderung kreativen Denkens in der Schule sollten Lehrkräfte zunächst darauf achten, dass in ihrer Schulklasse ein Arbeitsklima herrscht, das kreative Prozesse unterstützt und anregt. Neben der Schaffung einer offenen vertrauensvollen Atmosphäre gehört dazu vor allem auch, dass Lehrkräfte Neugier und eigenständige Denkansätze von Schülerinnen und Schüler fördern und nicht etwa blockieren. Eine solche Blockade könnte beispielsweise dann stattfinden, wenn die Lehrkraft stark am eigenen Unterrichtsentwurf „klebt“ und alternative Ideen von Schülerinnen und Schülern, die vom eigenen Konzept weg führen und von der Lehrkraft Flexibilität im Unterricht erfordern würden, ignorieren und nur solche Schülerideen aufgreift, die die Umsetzung des eigenen Plans voranbringen. Weiter können kreative Prozesse bei Schülern wirkungsvoll gefördert werden, indem die Lehrkraft die Interessen und Motivationslagen ihrer Schülerinnen und Schüler kennt und bei der Planung und im Unterricht berücksichtigt. Wenn die Schülerinnen und Schüler sich für die Inhalte des Unterrichts interessieren oder vielleicht sogar begeistern können, werden sie mehr kreative Ideen entwickeln. Weiter wäre darauf zu achten, dass die Schülerinnen

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Kapitel 9  Intelligenz, Kreativität und Begabung

und Schüler realisierte Klassenprojekte auch als ihre eigenen Produkte wahrnehmen können, sodass Selbstvertrauen Intelligenztests konstruiert sind und welche Aussagen und Selbstwirksamkeitserwartungen erhöht werden. Kreatidie jeweils ermittelten Kennwerte ermöglichen. Weiter vität wird nicht selten gebremst, wenn Lehrkräfte oder Eltern wurde auf die Frage eingegangen, wo Unterschiede in zu viel gut gemeinte Hilfestellung gewähren und ein zu enges der Intelligenz oder dem Intelligenzprofil von Kindern, JuKorsett vorgegeben oder gar selbst stark eingreifen. gendlichen und Erwachsenen herrühren und mit welchen Schülerinnen und Schüler sollten auch Freiräume erhalanderen Personenmerkmalen sie zusammenhängen. ten, ihre eigenen Projekte zu verfolgen bzw. unabhängig zu Im Abschnitt über Hochbegabung wurde insbesondenken und zu handeln (vgl. Preiser 2006). Solche Freiräume dere diskutiert, ob und in welcher Hinsicht sich hochkönnen etwa darin bestehen, dass Schülerinnen und Schüler, begabte Schülerinnen und Schüler von durchschnittdie bestimmte Übungen oder Wiederholungsstunden nicht lich begabten unterscheiden und welche Fördermaßbenötigen, in dieser Zeit an eigenen Projekten arbeiten, oder nahmen sich bei Ihnen günstig auswirken (Akzeleraauch darin, dass interessierte und initiative Schülerinnen und tion, Enrichment). Anhand eines umfassenden Modells Schülern außerhalb des regulären Unterrichts Schulräume der Begabungs- und Leistungsentwicklung wurde aufge(Musikraum, Labors usw.) für ihre Eigenaktivitäten zur Verzeigt, wie man sich die Entwicklung von Intelligenz und fügung gestellt bekommen. Begabung vorstellen könnte und welche weiteren BedinEine solche pädagogische Haltung und die Schaffung eigungen auf Seiten der Persönlichkeit und des Lernumnes solchen Klassenklimas sowie die Öffnung von Freiräufelds erforderlich sind, damit Intelligenz und Begabung men an der Schule erscheinen für die Förderung von Kreatiin Leistungen in verschiedenen Domänen umgesetzt wervität bzw. kreativem Denken bei Schülerinnen und Schülern den können. Schließlich wurde dargestellt, welche Besonwichtiger als die Kenntnis und Anwendung verschiedener derheiten kreatives Problemlösen aufweist und wie man Techniken, die bisweilen zur Steigerung der Kreativität empversuchen kann, Aspekte von Kreativität und Problemlöfohlen werden („Mind mapping“, „Brainstorming“, „Sechs sen zu erfassen und Kreativität im Unterricht zu fördern. Hüte“-Methode usw.). Und schließlich wäre es im Sinne des eingangs dieses Unterkapitels angeführten Verständnisses von Kreativität (Tan & Perleth 2015) auch wünschenswert, wenn die kreativen Ideen der Schülerinnen und Schüler den Verständnisfragen Unterricht genauso mitprägen, wie sie später die Gesellschaft mitgestalten sollen. ?1. In einer Show im Fernsehen wird die „Intelligenz“ von Zusammenfassung In diesem Kapitel haben wir gezeigt, dass die Begriffe Intelligenz, Begabung, Talent und kreatives Problemlösen in der Literatur bis heute nicht einheitlich definiert werden. Dies liegt vor allem daran, dass es sich auch bei diesen Begriffen, auch wenn oder gerade weil sie in der öffentlichen Diskussion eine so große Rolle spielen, um psychologische Konstrukte handelt, mit denen unter Umständen ganz unterschiedliche Aspekte des Lern- oder Problemlöseverhaltens von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen umrissen werden sollen. Es konnte aber auch festgestellt werden, dass Intelligenz und kreatives Problemlösen sich zum einen auf die Lösung neuartiger, also noch nicht gut eingeübter Probleme beziehen und dass andererseits Begabung und Talent meist auf bestimmte Domänen bezogen sind. Die im zweiten Abschnitt dargestellten Intelligenztheorien haben im Hinblick auf verschiedene Ausschnitte der Realität einen unterschiedlich guten Erklärungswert. Manche thematisieren eine allgemeine intellektuelle Leistungsfähigkeit, andere unterscheiden einzelne Intelligenzfaktoren, die unterschiedlichen Leistungsbereichen zugeordnet werden können. Im Abschnitt über Intelligenzmessung wurde aufgezeigt, nach welchen Kriterien

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Kandidaten mit Fragen wie den folgenden ermittelt: „Wann war der Erste Weltkrieg zu Ende?“ – „Wie heißt die weibliche Hauptfigur in Goethes ‚Faust‘?“ – „Wie nennt man die Zahl, die man zur Berechnung des Umfangs eines Kreises benötigt?“ Können damit Aspekte der Intelligenz im Sinne der Definition im ersten Abschnitt erfasst werden? Ist Intelligenz ein Teil von Begabung oder umgekehrt oder sind beide Begriffe gleichzusetzen? Eine Lehrkraft meint am Sprechtag zu den Eltern des 14-jährigen Alex: „Ihr Sohn ist sprachlich sehr begabt, naturwissenschaftlich weniger. Lassen Sie ihn doch eine dritte Fremdsprache lernen!“ Mit welchen der vorgestellten Intelligenzmodelle wäre diese Aussage in Einklang zu bringen? Warum könnte bei Verkehrs- oder Strafgerichtsprozessen der Intelligenzquotient eine Rolle spielen? Warum ist es so wichtig, bei der Durchführung, Auswertung und Interpretation von Intelligenz- oder anderen Leistungstests die Objektivität des Tests so genau zu beachten? Das Prüfsystem für Schul- und Bildungsberatung (PSB), ein verbreiteter Intelligenztest, verwendet als Normskala sogenannte SW-Werte, die ein Mittelwert von 100 und eine Standardabweichung von 10 aufweisen. Welche der folgenden Werte wäre als unterdurchschnittlich, durchschnittlich, überdurchschnittlich

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sowie im Bereich der Hochbegabung liegend einzuordnen? SW D 75, SW D 85, SW D 95, SW D 105, SW D 115, SW D 125, SW D 135. Überlegen Sie, warum man früher angenommen hat, dass hochbegabte Kinder und Jugendliche stark unter ihrer Andersartigkeit leiden! Welche Vor- und Nachteile könnten Akzelerationsmaßnahmen (frühzeitige Einschulung, Überspringen von Schulklassen) für die betroffenen hochbegabten Kinder und Jugendlichen haben? Lesen Sie in der Bibel oder im Internet das „Gleichnis von den anvertrauten Talenten“ (Matthäus 25, 14–30) nach. Wie könnte man den in der Begabungsforschung sogenannten „Matthäuseffekt“, nach dem die Leistungsunterschiede zwischen intelligenteren und weniger intelligenten Kindern und Jugendlichen im Laufe der Entwicklung immer weiter zunimmt, erklären? Inwiefern könnte kreatives Problemlösen ein Teil von Intelligenz sein?

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Kapitel 9  Intelligenz, Kreativität und Begabung

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185

Emotionen Christof Kuhbandner und Anne C. Frenzel

10.1

Einleitung – 186

10.2

Was sind „Emotionen“? – 186

10.2.1 10.2.2

Emotion und Verhaltenssteuerung – 186 Definition von Emotionen – 188

10.3

Welche Emotionen gibt es und wie werden sie verursacht? – 189

10.3.1 10.3.2 10.3.3 10.3.4 10.3.5

Grundgefühl – 189 Basisemotionen – 189 Bewertungsemotionen – 191 Selbstwertbezogene Emotionen – 192 Die Grundthemen verschiedener Emotionen – ein Überblick – 193

10.4

Interindividuelle Unterschiede im emotionalen Erleben – 193

10.4.1 10.4.2

Persönlichkeitseinflüsse – 193 Individuelle Lerngeschichte – 195

10.5

Emotionen in der Schule – sechs Themenfelder – 196

10.5.1 10.5.2 10.5.3 10.5.4 10.5.5 10.5.6

Themenfeld 1: Leistungsemotionen – 196 Themenfeld 2: Themenbezogene Emotionen – 197 Themenfeld 3: Epistemische Emotionen – 197 Themenfeld 4: Soziale Emotionen – 197 Themenfeld 5: Schulunabhängige Emotionen – 198 Themenfeld 6: Emotionen von Lehrkräften – 198

10.6

Emotionale Einflüsse auf Lernen und Wissenserwerb – 199

10.6.1 10.6.2 10.6.3

Emotionseinflüsse auf den verschiedenen Stufen des Wissenserwerbs – 200 Das Zusammenspiel der Emotionseinflüsse – 201 Die Anwesenheit emotionsauslösender Reize – 203

Verständnisfragen – 204 Literatur – 204

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Urhahne, M. Dresel, F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55754-9_10

10

186

Kapitel 10  Emotionen

Einleitung

raussetzung für ein wirkliches Verständnis von Emotionen ist damit ein Verständnis dieser drei Mechanismen. Deswegen sollen diese im Folgenden zunächst kurz herausgearbeitet Zum Einstieg in das Thema „Emotionen“ sollen zwei Beispiele aus dem Schulalltag geschildert werden. Beim ersten Beispiel werden. handelt es sich um den (fiktiven) Bericht eines Schülers zu seinem Erleben bei einer Prüfung: 10.2.1 Emotion und Verhaltenssteuerung Ich hatte mich gut vorbereitet und wartete darauf, dass 10.1

»

die Prüfungsfragen ausgeteilt werden. Auf einmal schlug mein Herz viel schneller und meine Hände fingen an zu schwitzen. Innerlich fühlte ich mich total angespannt und unangenehm, und am liebsten wäre ich weggerannt. Auf einmal musste ich nur noch daran denken, was alles Furchtbares passieren wird, wenn ich die Prüfung verhaue. Als das Blatt mit den Prüfungsfragen vor mir lag, merkte ich plötzlich, dass ich selbst auf einfachere Fragen keine guten Antworten mehr zu wissen schien – obwohl ich den Stoff vorher eigentlich wirklich gut parat hatte.

10

Beim zweiten Beispiel handelt es sich um einen Auszug aus einem Beitrag eines Lehrers zur Spiegel Online-Rubrik „Lehrergeständnisse – Wie Schule wirklich ist“ (Quelle: 7 www.spiegel.de/unispiegel/jobundberuf/lehrer-rastet-inklasse-aus-deshalb-bruelle-ich-meine-schueler-an-a-1017211. html):

»

Ich habe mal gelesen, dass sich Unterricht in einer lauten Klasse anfühle, als säße man an einer Autobahn. Genau dieses Gefühl hatte ich. Irgendwann platzte ich. Erst brüllte ich die ganze Klasse an. Dann pickte ich mir eine besonders nervtötende Schülerin aus dem lärmenden Klassenkollektiv heraus und – im Rückblick muss ich gestehen – machte sie fertig. Obwohl die Klasse anschließend ruhig wurde, war ich für den Rest des Tages derart schlecht gelaunt, dass ich auch meinen damals fünfjährigen Sohn nachmittags anpöbelte, als er keine Lust hatte, sich in sein Zimmer zu verkriechen. Ich habe noch immer kein Patentrezept, wie ich mit Störenfrieden umgehen soll. Was tun? Ich nehme mir immer wieder aufs Neue vor, Ruhe zu bewahren und Konflikte ohne Geschrei zu lösen. Im vergangenen Jahr bin ich allerdings gleich am ersten Schultag mit diesem Vorsatz gescheitert, weil eine Schülerin mit Essen geworfen hat.

Um sich den drei Steuerungsmechanismen anzunähern, versetzen Sie sich bitte in folgende Situation: Sie nehmen an einer Kollegiumssitzung teil, und in der Tischmitte steht ein Teller mit Keksen. Wie steuert jetzt eigentlich Ihr Organismus sein Verhalten? Möglicherweise erleben Sie eine gewisse Widersprüchlichkeit. Einerseits verspüren Sie den innerlichen Drang, sich den Keksen anzunähern und sie zu essen, andererseits versuchen Sie die Kekse bewusst zu vermeiden, weil Sie sich eigentlich vorgenommen haben, weniger Süßes zu essen. Dieses Beispiel zeigt, dass es offenbar in uns verschiedene Mechanismen der Verhaltenssteuerung gibt, die manchmal auch gegeneinander laufen. Um diese verschiedenen Mechanismen besser zu verstehen, ist ein Blick in die evolutionäre Vergangenheit des menschlichen Gehirns hilfreich (7 Kap. 5). Wenn man die . Abb. 10.1 (linke Seite) betrachtet, fällt zunächst auf, dass die Größe des Gehirns im Lauf der Evolution stark zugenommen hat. Laut einer älteren Theorie von Paul MacLean (1973) handelt es sich hier nicht nur um eine rein quantitative Zunahme. Vielmehr haben sich drei aufeinander aufbauende Gehirnstrukturen herausgebildet – das Stammhirn, das limbische System und der Neocortex. Jede Weiterentwicklung ging mit der Entwicklung einer neuartigen Verhaltenssteuerung einher, die nach eigenständigen Prinzipien funktioniert. Der große Anpassungsvorteil war dabei, dass dadurch eine zunehmend flexiblere Verhaltenssteuerung möglich wurde. Interessanterweise gingen die älteren Gehirnstrukturen aber nicht verloren. Demnach tragen wir Menschen drei „Gehirne“ in uns, von denen jedes das Verhalten relativ unabhängig von den anderen beeinflusst, und die insgesamt – je nach individueller Entwicklung – mehr oder weniger gut zusammenarbeiten. Obwohl das Modell von MacLean eine Vereinfachung der Gehirnanatomie darstellt, wollen wir es hier als eine hilfreiche Metapher zum Verständnis menschlichen Verhaltens nutzen.

Beide Beispiele machen deutlich, welchen großen Einfluss Emotionen – im ersten Beispiel die Emotion Angst und im zweiten Beispiel die Emotion Ärger – auf das Erleben und1 Das Stammhirn – Steuerung durch Grundbedürfnisse Verhalten haben können. In diesem Kapitel wird es darum Bei der ältesten Verhaltenssteuerung handelt es sich um einen gehen zu verstehen, warum und in welchen Situationen wir relativ unflexiblen und mechanischen SteuerungsmechanisEmotionen erleben und welche Wirkungen Emotionen ent- mus, der auf Reize in der Umgebung automatisch das Verfalten. halten aktiviert, das sich als erfolgreich für das Erfüllen von für das Überleben wichtigen Grundbedürfnissen erwiesen hat. Flexibel ist diese Steuerung nur insofern, dass es vom 10.2 Was sind „Emotionen“? aktuellen inneren Zustand des Organismus abhängt, ob das mit einem Reiz verknüpfte Verhaltensmuster aktiviert wird. Um Emotionen verstehen zu können, muss man sich zu- Ähnlich wie bei einem Thermostat erfolgt die Verhaltensaknächst darüber klar werden, welche Rolle Emotionen in unse- tivierung nur, wenn beim zugrundeliegenden Grundbedürfrem psychischen System spielen. Das Erleben von Emotionen nis eine Abweichung des Ist-Zustandes (z. B. aktueller Blutist einer von drei großen Mechanismen, mittels derer unser zuckerspiegel) vom evolutionär vorgegebenen Soll-Zustand Organismus sein Verhalten steuert. Eine grundlegende Vo- (optimaler Blutzuckerspiegel) vorliegt, was durch Messfüh-

10

187 10.2  Was sind „Emotionen“?

Neokortex Rationales Ziel?

Verhalten Zukünftige Geschichte?

Ausgelöstes Gefühl?

Verhalten Eigene Vorgeschichte?

Evolutionärer Sollwert?

Verhalten Evolutionäre Vorgeschichte?

Limbisches System Homo erectus Australopithecus –7

–6

–5

–4

Reiz

Stammhirn

früher Homo –3

–2

–1

Flexibilisierung

Gehirnvolumen

Homo sapiens

0

Millionen Jahre . Abb. 10.1 Die dreistufige Evolution unseres Gehirns und die drei Arten der Verhaltenssteuerung

rung abzuspeichern. Trifft man erneut auf denselben Reiz, wird nun nicht nur das bisher damit verknüpfte Verhalten aktiviert. Zusätzlich wird das damit verknüpfte Gefühl ausgelöst, wodurch eine völlig neue Fähigkeit entsteht: Das Gefühl teilt einem mit, ob mit guten oder schlechten Verhaltensergebnissen zu rechnen ist. Der große Vorteil ist, dass eine solche Verhaltenssteuerung deutlich flexibler ist. Dem kommt man auf die Spur, wenn man sich klar macht, dass eine potentiell unendliche Anzahl von Reizen und Verhaltensergebnissen mit einer kleinen Anzahl von Gefühlen verknüpft wird. Für die Steuerung des Verhaltens durch ein ausgelöstes Gefühl heißt das, dass ein bestimmtes Gefühl kein spezifisches Verhalten aktivieren kann. Stattdessen ist ein Gefühl mit dem inneren Systemzustand verknüpft, der sich ergibt, wenn man praktisch alle mit einem bestimmten Gefühl verknüpften Verhaltensweisen übereinanderlegt, und das allen gemeinsame Muster herausdestilliert. Ein Gefühl aktiviert also kein spezifisches 1 Das Limbische System – Steuerung durch Emotionen Verhalten, sondern ruft ein ganz bestimmtes ZustandsmusDer Nachteil der Steuerung durch Grundbedürfnisse ist die ter über alle Subsysteme eines Organismus hinweg hervor – geringe Flexibilität. Auf einen Reiz wird mechanisch das Verdas Zustandsmuster, das im Durchschnitt optimal ist für das halten aktiviert, das sich in der Vergangenheit als erfolgreich Ausführen aller spezifischen Verhaltensweisen bezüglich eierwiesen hat. Eine Steuerung des Verhaltens anhand einer ner bestimmten Klasse von gefühlsauslösenden Reizen (z. B. aktuellen Abschätzung zukünftiger Konsequenzen ist nicht alle furchtauslösenden Reize). Anders als im Stammhirn sind möglich, was eine Anpassung an sich schnell verändernde damit Reize und Verhalten nicht mehr fest aneinandergekopUmwelten erschwert. pelt, was ein Handeln in Abhängigkeit von weiteren Faktoren Um eine flexiblere Anpassung zu ermöglichen, hat sich eierlaubt. ne völlig neue Art der Verhaltenssteuerung ausgebildet – eine Steuerung durch Emotionen. Das Grundprinzip beruht daIm Fokus: Verhaltenstendenz versus Verhalten bei auf einem bahnbrechenden Fortschritt, den das limbische Systems ermöglicht hat: Dem Entstehen von „Gefühlen“. VerEine wichtige Unterscheidung bei der Erklärung menschhaltensergebnisse steuern unser Verhalten nun nicht mehr lichen Verhaltens ist die Unterscheidung zwischen einer nur mechanisch über das entsprechende Ausbilden von ReizVerhaltenstendenz und einem wirklich gezeigten Verhalten. Verhaltensverknüpfungen, sondern diese fühlen sich von nun Eine Verhaltenstendenz entspricht dem innerlichen Drang, an zusätzlich auf eine bestimmte Weise an – es wird also ein bestimmtes Verhalten zeigen zu wollen, wobei das innerlich bewusst erlebbar, ob es sich um gute oder schlechVerhalten anschließend nicht notwendigerweise ausgete Ergebnisse handelt. Auf den ersten Blick erscheint die führt werden muss. Ein wichtiges Ziel bei der emotionalen Neuerung nicht besonders groß. Das wirklich BahnbrechenEntwicklung von Kindern ist es nun zu lernen, zwischen de liegt nun darin, dass das limbische System es zusätzlich Emotion und Verhalten zu unterscheiden. Während das ermöglicht, das ausgelöste Gefühl gemeinsam mit dem für das Verhaltensergebnis ausschlaggebenden Reiz als Erinneler signalisiert wird. Die Verhaltensaktivierung erfolgt dabei unabhängig von höheren Gehirnstrukturen und ist somit sub-emotional und subkognitiv. Ein Alltagsbeispiel ist, wenn man sich dabei ertappt, dass man sich nebenbei bei den am Tisch stehenden Keksen bedient, obwohl man keine wirklichen positiven Emotionen dabei verspürt (sub-emotional) und sich vorgenommen hatte, weniger Süßes zu essen (subkognitiv). Ausgelöst wird das Verhalten schlicht durch die Präsenz der Kekse. Der Grund ist die evolutionäre Prägung, jede Gelegenheit zum Verzehr kalorienreicher Nahrung zu nutzen, um möglichen Mangelzeiten vorzubeugen (Sclafani 2013). Menschliches Verhalten scheint nach wie vor oft durch grundlegende biologische (z. B. Hunger, Durst, Sexualität) und psychologische (z. B. Anschluss, Leistung, Macht) Bedürfnisse gesteuert zu werden (für einen Überblick siehe Scheffer & Heckhausen 2010).

188

Kapitel 10  Emotionen

zug auf welche ein Verhaltensergebnis emotional bewertet

Obwohl die Entwicklung der emotionalen Verhaltensteuerung eine gefühlsbezogene Abschätzung zukünftiger Verhaltensergebnisse erlaubt, handelt es sich eigentlich nach wie vor um eine vergangenheitsbezogene Steuerung, da vergangene Erfahrungen der Grund für die Ausbildung von ReizEmotions-Verknüpfungen sind. Um eine Flexibilität des Verhaltens über vergangene Dynamiken hinaus zu entwickeln, hat sich eine dritte und wiederum völlig neue Art der Verhaltenssteuerung entwickelt – eine Steuerung durch kognitiv repräsentierte Zielzustände. Das Grundprinzip beruht darauf, dass ein angestrebter Zielzustand aktiv ins Bewusstsein gerufen wird, unabhängig davon, welche Reize anwesend sind und welche Emotionen erlebt werden. Ermöglicht wird dies durch die Entwicklung des Neocortex. Dieser erlaubt es, mittels Sprache bewusste Vorstellungen über persönliche Ziele zu entwickeln und gleichzeitig potentielle zukünftige Ereignisse mental zu simulieren und zu bewerten. In Bezug auf das Thema Emotionen ist hier insbesondere ein Aspekt wichtig. Durch die Entwicklung der Steuerung durch Ziele hat sich auch die Welt der Emotionen erweitert. Zum einen können nun Emotionen nicht mehr nur durch äußere Reizereignisse, sondern auch durch mentale Vorstellungen ausgelöst werden. Zum anderen haben sich völlig neue Emotionen wie Stolz oder Scham entwickelt, die eine kognitive Repräsentation von persönlichen oder normativen Standards voraussetzen, in Be-

Neutral Positiv

Gering

Negativ

Hoch

Gering

Hoch

Unangenehmes Gefühl Annäherungstendenz Herzfrequenz Muskelanspannung Denkgeschwindigkeit

. Abb. 10.2 Emotionen als Episoden zeitlicher Synchronisation der Subsysteme eines Organismus

Spezifisches Muster

1 Der Neocortex – Steuerung durch kognitiv repräsentierte Ziele

der Begriff „Emotion“, sondern auch zunächst recht ähnlich klingende Begriffe wie „Gefühl“, „Affekt“ und „Stimmung“. Ausgehend von der obigen Definition, können die Unterschiede zwischen diesen verwandten Begriffen gut herausgearbeitet werden. Der Begriff „Gefühl“ ist eine Bezeichnung für die subjektive und innerlich bewusst erlebte Seite einer Emotion – „Gefühl“ bezeichnet also eines der Subsysteme, die beim Erleben einer Emotion verändert werden. Die Begriffe „Affekt“ und „Stimmung“ sind beide Varianten des allgemeineren Begriffs „Emotion“, die diesen insbesondere hinsichtlich der Intensität und zeitlichen Dauer ausdifferenzieren. „Affekt“ bezeichnet demnach einen Emotionszustand von kurzer und sehr intensiver Zeitdauer, der durch eine starke Verhaltenstendenz charakterisiert ist („Handeln im Affekt“).

Spezifisches Muster

10

Erleben einer Emotion eine wichtige Informationsquelle wird. über die Wertigkeit der aktuellen Situation darstellt, muss nicht jede von der Emotion aktivierte Verhaltenstendenz sinnvoll sein. Diesen Unterschied zu erkennen und im 10.2.2 Definition von Emotionen Erleben und Verhalten machen zu können, ist eines der Hauptziele, das in Programmen zur Förderung emotionaler Am Ende des kleinen Exkurses in die Entwicklung der VerKompetenzen verfolgt wird. So lautet beispielsweise haltenssteuerung des Menschen angelangt, können nun die einer der vier Leitsätze des Trainingsprogramms „PFADE einzelnen Bausteine zusammenfügt und „Emotionen“ folgen– Programm zur Förderung Alternativer Denkstrategien“ dermaßen definiert werden (eine Visualisierung findet sich in (Greenberg & Kusche 2006): „Alle Gefühle sind okay, . Abb. 10.2): aber nicht jedes Verhalten ist okay!“ Mit Hilfe einer Ampel-Metapher wird dabei versucht, Kindern eine Emotionen sind Reaktionen auf die Bewertung eines äufunktionale Verhaltenssequenz beim Erleben einer Emotion ßerlichen oder innerlichen Reizereignisses als bedeutsam beizubringen. Wenn eine Emotion erlebt wird, besteht für die zentralen Bedürfnisse und Ziele des Organismus, der erste Schritt („Rot“) darin, sich zunächst durch tiefes die sich in einer Episode zeitlicher Synchronisation aller Einatmen zu beruhigen und das Problem und Gefühl zu bedeutender Subsysteme des Organismus (Gefühl, Motibenennen. Anschließend („Gelb“) sollen Handlungsideen vation, physiologische Regulation, motorischer Ausdruck, gesammelt und anhand einer Reihe von mit den Kindern Kognition) manifestieren (nach Scherer 1993). erarbeiteten Kriterien bewerten werden wie beispielsweise „Machbarkeit?“ oder „Gefühle von anderen?“. Schließlich („Grün“) soll die beste Idee ausprobiert und abschließend 1 Begriffsentwirrung: Emotion – Gefühl – Affekt – bewertet werden. Zahlreiche Evaluationsstudien haben Stimmung? gezeigt, dass Kinder in der Tat nach dem Durchlaufen des Um Emotionen zu verstehen, ist es noch wichtig, begriffliche PFADE-Programms ein besseres Verständnis von Emotionen Klarheit zu schaffen im Hinblick auf die möglicherweise etund erhöhte Fähigkeiten zur Selbstkontrolle aufweisen (z. B. was verwirrende Alltagssprache. Dort finden sich nicht nur Curtis & Norgate 2007).

189 10.3  Welche Emotionen gibt es und wie werden sie verursacht?

„Stimmung“ bezeichnet stattdessen einen länger anhaltenden Emotionszustand von geringerer Intensität, der sich oft vom ursprünglich emotionsauslösenden Ereignis entkoppelt hat (siehe auch Sokolowski 2008).

Welche Emotionen gibt es und wie werden sie verursacht?

10.3

Eine Emotion ist also dadurch charakterisiert, dass sich ein ganz bestimmtes Zustandsmuster auf verschiedenen Subsystemen einstellt. Die Frage ist nun, wie viele solcher Zustandsmuster sich im Laufe der Zeit herausgebildet haben – oder anders ausgedrückt: wie viele verschiedene Emotionen es gibt. Allerdings ist diese Frage nicht leicht zu beantworten, da die Anzahl verschiedener Zustandsmuster – und damit die Anzahl von Emotionen – prinzipiell nach oben offen ist, je nachdem wie feinkörnig die angelegten Unterscheidungskriterien sind. Die potentielle Reichhaltigkeit zeigt sich beispielsweise in unserer Alltagssprache. So wurden von Studierenden in einer offenen Befragung von Fehr und Russell (1984) zu ihnen bekannten Emotionswörtern insgesamt 383 verschiedene Wörter genannt. Insofern ist es nicht überraschend, dass im Verlauf der Forschung verschiedene Vorschläge gemacht wurden, wie viele Emotionen denn „wirklich“ unterschieden werden können. Im Folgenden werden einige dieser Vorschläge vorgestellt und mittels einer Zuordnung zum Auftreten im Verlauf einer emotionalen Reaktion sinnvoll in einen Zusammenhang gebracht (für einen Überblick . Abb. 10.3).

10.3.1

Grundgefühl

Obwohl unsere Alltagssprache aufgrund ihrer Reichhaltigkeit und begrifflichen Unschärfe den Kriterien einer wissenschaftlichen Theorie nicht standhält, kann sie doch dazu dienen, ein erstes Licht ins Dunkel unserer Emotionen zu werfen. Die Grundidee ist, dass es gerade die Unschärfe der Emotionswörter erlaubt, nach dem gemeinsamen emotionalen Kern zu suchen, der einer Gruppe von sich überlappenden

„Grundgefühl“ Annäherungs- oder Vermeidungssystem aktiv? Aktiviertes Verhaltenssystem Subkognitiv

Kognitive Bewertung

Alarmdatenbank

Ergebnis

Selbstwert

Evolutionärer Prototyp?

Subjektiver Wert und Kontrolle?

Selbstwertbezogene Standards?

„Basisemotionen“

„Bewertungsemotionen“

„Selbstwertbezogene Emotionen“

. Abb. 10.3 Die vier Arten von Emotionen mit den jeweils zugrundeliegenden psychischen Mechanismen

Emotionswörtern zugrunde liegt. So kann man beispielsweise Personen bitten einzuschätzen, wie treffend verschiedene Emotionswörter ihren aktuellen Zustand beschreiben. Wenn eine Reihe von Emotionswörtern als ähnlich treffend eingeschätzt wird, ist das ein Hinweis darauf, dass hinter diesen Emotionswörtern ein gemeinsamer Kern existiert. Interessanterweise ist es so, dass in praktisch allen Sprachen Emotionswörtern zwei basale emotionale Kerne zugrunde liegen, die jeweils in ihrem Ausprägungsgrad zwischen zwei Polen variieren: Valenz mit den beiden Polen „unangenehm“ und „angenehm“, und Aktivierungsgrad mit den beiden Polen „deaktiviert“ und „aktiviert“ (Feldman Barrett & Russell 1999). In unserer Alltagssprache zeichnet sich damit ein interessantes Phänomen ab: Allen Emotionen scheint in der Tiefe etwas Gemeinsames zugrunde zu liegen. Dieser Gemeinsamkeit kommt man auf die Spur, wenn man sich klar macht, dass es in Bezug auf Verhalten zwei basale Systeme gibt, die zu jedem Zeitpunkt des Lebens einen bestimmten Aktivierungsgrad aufweisen: Ein Annäherungssystem und ein Vermeidungssystem. Treffen wir auf einen Reiz, werden beide Systeme adjustiert, bezogen auf die beiden Ausgangsfragen: „Ist das Ereignis relevant?“ (wenn ja, erhöhe den Aktivierungsgrad) und „Welches System muss ich aktivieren?“ (bei Zielbedrohung das Vermeidungssystem und bei Zielerreichung das Annäherungssystem). Die Aktivität beider Systeme übersetzt sich dabei in ein inneres „Grundgefühl“: Eine Aktivierung des Vermeidungssystems fühlt sich unangenehm an (Anwesenheit von unangenehmen Dingen), eine Aktivierung des Annäherungssystems angenehm (Anwesenheit von angenehmen Dingen). Umgekehrt ist es bei einer Deaktivierung. Diese fühlt sich beim Vermeidungssystem angenehm an (keine Anwesenheit von unangenehmen Dingen) und beim Annäherungssystem unangenehm (keine Anwesenheit von angenehmen Dingen). In beiden Fällen ist es wiederum so, dass die emotionale Erregung umso intensiver ausfällt, je stärker das jeweilige System aktiviert ist. Wir befinden uns also in jedem Moment immer an einem Punkt auf einer „Valenz-Erregungsgrad-Landkarte“. Wenn beispielsweise beide Systeme weder besonders aktiviert noch deaktiviert sind, befinden wir uns in der Mitte dieser Landkarte und empfinden keine ausgeprägten Emotionen. Wenn wir auf einen bedrohlichen Reiz stoßen wird das Vermeidungssystem aktiv, und wir bewegen uns in Richtung der Pole „unangenehm“ und „erregt“. Wenn sich herausstellt, dass wir dem bedrohlichen Reiz erfolgreich entkommen konnten, wird das Vermeidungssystem deaktiviert, und wir bewegen uns in Richtung der Pole „nicht erregt“ und „angenehm“.

10.3.2

Basisemotionen

Das Grundgefühl ist allgegenwärtig, selbst wenn aktuell kein emotionsrelevanter Reiz anwesend ist. Ist dies allerdings der Fall, geht dessen Verarbeitung mit dem Erleben spezifischerer Emotionen einher. Ausgangsbasis ist, dass die Umwelt

10

190

10

Kapitel 10  Emotionen

ständig auf Reize hin durchforstet wird, die hinsichtlich evolutionär alter Themen relevant sind. Wird ein relevanter Reiz entdeckt, werden rasch relativ starre subkognitive Emotionsprogramme – sogenannte „Basisemotionen“ – aktiviert, die sich im Laufe der Evolution entwickelt haben, um schnell und optimal auf lebenswichtige Reizereignisse zu reagieren. Wir verfügen also über eine emotionale „Alarmdatenbank“, die im Falle der Registrierung eines dort gespeicherten Reizes sofort eine emotionale Reaktion auslöst. Am eindrücklichsten ist dieser evolutionäre Mechanismus bei emotionalen Gesichtsausdrücken ersichtlich. Während Gesten zwischen verschiedenen Kulturen variieren, zeigt sich bei emotionalen Gesichtsausdrücken etwas Erstaunliches: Selbst in indigenen Völkern, die niemals mit westlichen Kulturen Kontakt hatten, wird beim Erleben einer Emotion derselbe Gesichtsausdruck gezeigt wie in westlichen Kulturen (Ekman, Friesen & Ellsworth 1972). Beispielsweise werden weltweit Augen und Mund bei Angst aufgerissen und bei Ekel geschlossen. Aber warum ist das eigentlich so? Um diesem Rätsel auf die Spur zu kommen, muss man sich zunächst klar machen, dass sich emotionale Gesichtsausdrücke ursprünglich nicht entwickelt haben, um anderen den inneren Emotionszustand mitzuteilen – diese Funktion ist ihnen erst später zugewachsen. Stattdessen stellen die Reaktionen der Gesichtsmuskulatur nichts anderes als Verhaltensweisen dar, die sich als optimale Reaktionen auf bestimmte prototypische Reizereignisse entwickelt haben. So ist Angst eine Reaktion auf eine Bedrohungssituation, und um dieser zu entkommen ist es wichtig, die Situation möglichst gut wahrzunehmen und viel Sauerstoff in die Muskeln zu transportieren, was durch ein Aufreißen von Augen und Mund optimiert wird. Ekel dagegen ist eine Reaktion auf die Anwesenheit eines gesundheitsbedrohenden Reizes, sodass alle Körperöffnungen möglichst gut geschlossen werden sollten, um einer Kontaminierung vorzubeugen, was durch ein Schließen von Augen und Mund optimiert wird (Susskind et al. 2008). Verschiedene Befunde legen nahe, dass es sich bei der Auslösung von Basisemotionen um einen angeborenen und subkognitiven Mechanismus handelt. Ersteres zeigt die Beobachtung, dass selbst von Geburt an blinde Personen dieselben emotionalen Gesichtsausdrücke zeigen (Matsumoto & Willingham 2009), letzteres die Beobachtung, dass echte emotionale Gesichtsausdrücke nur schwer willentlich hervorgerufen werden können. So erkennen wir relativ leicht ein unechtes Lächeln, weil die bei einem echten Lächeln zu beobachtenden Lachfalten um die Augen nur schwer willentlich erzeugt werden können (Ekman 1985). Bestätigt wird dies durch neurophysiologische Studien. So konnte nachgewiesen werden, dass angstauslösende Reize über einen subkognitiven Verarbeitungspfad bereits nach 80 Millisekunden das emotionsauslösende Zentrum im Gehirn erreichen, noch bevor die Reize überhaupt bewusst wahrgenommen werden (Bayle, Henaff & Krolak-Salmon 2009; LeDoux 1996). Dies kann man sogar subjektiv nachempfinden, beispielsweise in Situationen, in denen man auf einen schreckauslösenden Reiz wie einen Knall reagiert. Wenn man genau auf seine Empfindun-

gen achtet, wird man zuerst ein Zusammenzucken wahrnehmen und danach erst den Knall hören. Während die generelle Existenz subkognitiver Emotionsprogramme empirisch überzeugend nachgewiesen werden konnte, ist es allerdings nach wie vor eine offene Frage, wie viele solcher Emotionsprogramme existieren. Aufbauend auf der Beobachtung, dass sechs verschiedene emotionale Gesichtsausdrücke kulturunabhängig auftreten (Angst, Ärger, Ekel, Freude, Überraschung, Trauer), wurde vorgeschlagen, dass sechs Basisemotionen existieren (Ekman et al. 1972). Allerdings sind sowohl die Anzahl als auch die inhaltliche Beschreibung verschiedener Basisemotionen umstritten.

Mythos: Negative Emotionen dominieren das Gefühlsleben Vielleicht ist Ihnen bei der Beschreibung der sechs weltweit anzutreffenden emotionalen Gesichtsausdrücke aufgefallen, dass nur einer davon positiv ist (Freude). Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass es also mehr negative als positive Emotionen gibt. Ein genauerer Blick liefert allerdings ein differenzierteres Bild. Zunächst ist es wichtig zu klären, was mit dem Wort „mehr“ genau gemeint ist. Wenn es nur darum geht, welche Arten von Basisemotionen in Emotionsmodellen differenziert werden, kommen in der Tat auf jede positive Emotion ungefähr drei bis vier negative Emotionen. Wenn es aber darum geht, wie häufig diese Emotionen im Alltag erlebt werden, zeigt sich ein anderes Bild: Dann werden deutlich mehr positive als negative Emotionen erlebt. So wurden beispielsweise in einer Studie 60.865 Personen aus 123 verschiedenen Ländern gefragt, ob sie am Tag zuvor eine von sechs Emotionen intensiv erlebt haben. Während die Wahrscheinlichkeit eine der positiven Emotionen erlebt zu haben 75 % betrug, lag die Wahrscheinlichkeit für das Erleben einer der negativen Emotionen nur bei 21 % (Tay & Diener 2011). Tatsächlich dominieren also eher positive Emotionen das Gefühlsleben! Angesichts der Häufigkeit des Erlebens positiver Emotionen ist die Frage naheliegend, ob der Bereich der positiven Emotionen nicht deutlich differenzierter betrachtet werden muss, als es häufig getan wird. Ein Problem dabei ist, dass sich positive Emotionen weniger deutlich voneinander abheben als negative Emotionen, was einer der Gründe für die Vernachlässigung positiver Emotionen in der Forschung ist. So können ein ärgerliches, trauriges oder ängstliches Gesicht klar voneinander unterscheiden werden, während bei fast allen Arten von positiven Emotionen ein ähnlicher Gesichtsausdruck gezeigt wird. Allerdings gibt es seit einigen Jahren einen regelrechten Boom bei der Erforschung positiver Emotionen, sodass sich langsam ein differenzierteres Bild zeichnen lässt. Die folgende Liste führt zehn relativ gut empirisch abgesicherte positive Emotionen auf, absteigend angeordnet nach ihrer Auftretenshäufigkeit (Fredrickson

191 10.3  Welche Emotionen gibt es und wie werden sie verursacht?

negativ?“) und einer dimensionalen („wie stark positiv oder negativ?“) Komponente zusammen – erstere ist ausschlaggebend für die Art der erlebten Emotion, zweitere für deren Intensität.

2013): Liebe, Freude, Dankbarkeit, Zufriedenheit, Interesse, Hoffnung, Stolz, Belustigung, Inspiration und Ehrfurcht. Einige davon werden wir noch genauer kennenlernen.

1 Kontrollierbarkeit 10.3.3

Bewertungsemotionen

Wie beschrieben löst das Registrieren von in einer subkognitiven emotionalen „Alarmdatenbank“ gespeicherten Reizen sofort Emotionen aus, noch bevor diese auf kognitiver Ebene überhaupt analysiert werden. Allerdings kann die Weiterverarbeitung von Reizen auf kognitiver Ebene ebenfalls Emotionen hervorrufen, selbst wenn zuvor noch keine ausgelöst wurden. Der Grund ist die über den Neocortex vermittelte Fähigkeit, sich Ereignisse unabhängig von der aktuellen Situation mental ausmalen zu können. Ein erster Weg der Emotionsauslösung beruht darauf, dass man sich bestimmte Reizereignisse innerlich vorstellt. Das kann man selbst ausprobieren. Wenn man die Augen schließt und an den letzten schönen Urlaub denkt, wird man wahrscheinlich Freude empfinden; wenn man sich dagegen eine Situation ins Gedächtnis ruft, in der die eigenen Pläne durchkreuzt wurden, wird man wahrscheinlich Ärger empfinden. Ein zweiter Weg der Emotionsauslösung beruht darauf, dass man sich die möglichen Konsequenzen eines Reizes mental ausmalt und bewertet – in Anlehnung an den englischsprachigen Begriff werden solche Bewertungen häufig als „Appraisals“ bezeichnet (für Rahmentheorien siehe z. B. Pekrun 2006, oder Scherer 2001). Die dabei entstehenden Emotionen werden dementsprechend „Bewertungsemotionen“ genannt. Für das Auftreten von Bewertungsemotionen ausschlaggebend sind zwei Arten von Bewertungen. 1 Wert

Die erste Bewertung betrifft die Abschätzung dessen, wie wünschbar eine mögliche Konsequenz überhaupt wäre – ein Aspekt, der als „Wert“ bezeichnet wird. Ein Beispiel ist die Ankündigung einer Prüfung. Man könnte sich nun ausmalen, dass man ein gutes oder schlechtes Ergebnis erzielen wird – ersteres wäre wünschbar und würde einen positiven Wert darstellen, letzteres wäre nicht wünschbar und würde einen negativen Wert darstellen. Allgemein können Werturteile also zwischen den beiden Extrempolen „sehr positiv“ und „sehr negativ“ variieren. Allerdings muss man sich hier einen wichtigen Punkt klar machen. Der Wert einer Konsequenz variiert zwar je nach Stärke der Wünschbarkeit kontinuierlich zwischen „sehr negativ“ und „sehr positiv“; der Übergang von „positiv“ zu „negativ“ bringt aber einen qualitativen Unterschied mit sich: Bei Ereignissen mit positivem Wert dreht sich alles um die potentielle Herbeiführung eines Ereignisses und die damit verbundenen Emotionen, bei Ereignissen mit negativem Wert alles um die potentielle Vermeidung eines Ereignisses und die damit verbundenen Emotionen. Werturteile setzen sich damit also aus einer kategorialen („positiv oder

Allerdings übersetzen sich „positive“ und „negative“ Werte nicht einfach direkt in „angenehme“ und „unangenehme“ Emotionen. Die Valenz d