Nachhaltigkeit im Beschaffungsmanagement : ein Konzept zur Integration von Umwelt- und Sozialstandards 9783835090996, 3835090992 [PDF]

Preliminary; Einleitung; Konzeptionelle Grundlagen; Forschungsmethodik und deren Umsetzung in der Arbeit; Entwicklung ei

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Nachhaltigkeit im Beschaffungsmanagement : ein Konzept zur Integration von Umwelt- und Sozialstandards
 9783835090996, 3835090992 [PDF]

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Zitiervorschau

Julia Koplin Nachhaltigkeit im Beschaffungsmanagement

WIRTSCHAFTSWISSENSCHAFT

Julia Koplin

Nachhaltigkeit im Beschaffungsmanagement Ein Konzeptzur Integration von Umwelt- und Sozialstandards

Mit einem Geleitwort von PD Dr. Stefan Seuring

Deutscher Universitats-Verlag

Bibiiografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibiiografische Daten sind im Internet uber abrufbar.

Dissertation Universitat Oldenburg, 2005 Die Ergebnisse, Meinungen und Schliisse der Dissertation sind nicht notwendigerweise die der Volkswagen AG.

I.Aufiage Juni2006 Alle Rechte vorbehalten © Deutscher Universitats-Verlag i GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006 Lektorat: Ute Wrasmann / Ingrid Walther Der Deutsche Universitats-Verlag ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media, www.d uv.de Das Werk einschlieBlich aller seiner Telle ist urheberrechtlich geschutzt. Jede Verwertung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulassig und strafbar. Das gilt insbesondere fur Vervielfaltigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten waren und dahervon jedermann benutzt werden durften. Umschlaggestaltung: Regine Zimmer, DipL-Designerln, Frankfurt/Main Druck und Buchbinder: Rosch-Buch, ScheBlitz Gedruckt auf saurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN-10 3-8350-0270-8 ISBN-13 978-3-8350-0270-8

Geleitwort Das Beschafflings- und das Supply Chain Management haben in den letzten Jahren eine stiirmische Entwicklung genommen. Eine dabei immer wieder angefuhrte Ursache findet sich in der zunehmenden Globalisierung wirtschaftlicher Aktivitaten. Als reale Folge davon zeigt sich, dass weltweit sowohl neue Beschafflings- aber auch Absatzmarkte erschlossen werden (konnen). So ist dies nicht nur fur muhinationale Konzeme ein normaler Teil ihrer Geschaftstatigkeit, sondem selbst fur kleine und mittelstandische Untemehmen mehr und mehr iiblich. Untrennbar mit diesen Geschaflsprozessen verbunden ist der Aspekt daraus resultierender okologischer und sozialer Wirkungen. Hier konnen Untemehmen eine aktive RoUe spielen, um so auch ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht zu werden. Gleichzeitig besteht insbesondere fiir global aufgestellte Markenartikelanbieter ein wesentliches Risikopotenzial. Durch soziale und okologische Probleme in der Lieferantenkette, kann das Markenimage bzw. die Reputation eines Untemehmens erheblich beschadigt werden. Daraus ergibt sich die Herausforderung, das Management von Nachhaltigkeit in das Beschafflings- und Supply Chain Management zu integrieren, um okologische und soziale Bereiche im Rahmen der Geschaflstatigkeit berucksichtigen zu konnen. Dies ist bisher nur begrenzt Gegenstand betriebswirtschafllicher Forschungsarbeiten gewesen. Vor diesem Hintergrund bildet die vorliegende Doktorarbeit von Julia Koplin einen wichtigen Baustein sowohl theoretisch-konzeptioneller als auch empirischer Forschung. Auf der Basis eines Aktionsforschungsprojektes, das in Kooperation mit der Volkswagen AG, Wolfsburg, durchgefuhrt wurde, bietet die Arbeit eine konzeptionelle Fundierung flir die Integration von Umwelt- und Sozialstandards in die Beschafflingspolitik und die Beschafflingsprozesse flir Untemehmen. Solche Standards erweisen sind dabei als in besonderem MaBe geeignet, das Verhaltnis zwischen Abnehmer und Lieferant zu gestalten und Rahmenbedingungen festzulegen, da sie ein zusatzliches Auswahlkriterium und Kontrollinstmment jenseits der einzelnen Liefemng darstellen. Das aufgezeigte Thema entfaltet sich im Kontext der klar stmkturierten Theoriearbeit, so dass ein Beitrag zur normativen Erweitemng des Beschaffungsmanagements geleistet wird. Gleichzeitig werden auch die konkreten Herausfordemngen einer praktischen Umsetzung erortert. Zusatzlich bereichert die Arbeit das sich rasch entwickelnde Forschungsfeld „Nachhaltigkeit in Wertschopfungsketten" in hervorragender Weise. Sie flihrt unsere bisherigen Forschungen zum Thema weiter und erganzt diese um Inhalte, die flir viele kleine und groBe Untemehmen aktuell und in den nachsten Jahren von erheblicher Bedeutung sein werden.

VI

Geleitwort

Da ich die Arbeit als groBen Gewinn betrachte, wunsche ich der vorliegenden Doktorarbeit einen breiten Leserkreis aus Wissenschaft und Praxis.

PD Dr. Stefan Seuring

VII

Vorwort „Eine mdchtige Flamme entsteht aus einem winzigen Funken." Dante Alighieri (1265-1321) Die vorliegende Dissertation entstand in enger Anlehnung an das von der Volkswagen AG, Wolfsburg, in Kooperation mit der Carl von Ossietzky Universitat durchgefiihrte Praxisforschungsprojekt „Nachhaltigkeit in der Lieferantenkette". Die gewonnenen Erkenntnisse bilden die empirische Basis der vorliegenden Arbeit. Dabei war es mir vergonnt, das Projekt sowohl aus wissenschaftlicher Perspektive durch meine Arbeit am Lehrstuhl fiir Produktion und Umwelt von Prof. Dr. Uwe Schneidewind an der Carl von Ossietzky Universitat Oldenburg als auch operativ wahrend meiner Doktorandenzeit bei der Volkswagen AG zu begleiten und dadurch besonders intensiven Zugang zu dem Thema zu gewinnen. Das Buch soil den Leserinnen und Lesem Einblicke in die Forschungsergebnisse und entsprechend nachvollziehbare und wissenschaftlich begriindete Handlungsempfehlungen bieten. Gleichzeitig hoffe ich, dem einen oder anderen durch meine Arbeit DenkanstoBe fur den eigenen Erkenntnisprozess geben zu konnen. Es ist nicht einfach, die spannendste und wichtigste Zeit meines Lebens, in der ich sehr viel sowohl fachlich als auch menschlich und nicht zuletzt iiber mich selbst gelemt habe, hinter mir zu lassen. Ich habe neue Freunde und Mitstreiter gefunden und mein Weltbild und meine Gedanken in einer Weise erweitert, die ich mir am Anfang nie hatte vorstellen konnen. Ich bin mir bewusst, dass diese Arbeit ohne die UnterstUtzung einiger, mir sehr wichtiger Menschen nicht moglich gewesen ware, denen ich in diesem Zusammenhang meine tiefste Dankbarkeit aussprechen mochte, fur die Worte nicht ausreichen. An der Universitat Oldenburg sind dies vor allem mein Doktorvater PD Dr. Stefan Seuring, dem ich besonders fur die intensive Betreuung, die konstruktiven Diskussionen und Hinweise und meine wissenschaflliche Weiterentwicklung danken mochte. PD Dr. Martin Muller danke ich herzlich fur die Ubemahme des Zweitgutachtens und die UnterstUtzung durch zahlreiche Findungs- und Motivationsgesprache wahrend unserer gemeinsamen Zeit am Lehrstuhl. AuBerdem sind zu erwahnen meine Korrekturleser Juniorprofessor Dr. Bemd Siebenhiiner, Norgand Schwarzlose als auch meine Eltem Petra und Frank Koplin. Ein ganz besonderer Dank gilt weiterhin Dr. Michael Mesterharm, der mich auf Seiten der Volkswagen AG uberdurchschnittlich betreut und gefordert hat, meinem Lebensgefahrten sowie meiner Freundin Mandy Schiel, welche mich stets emotional aufgefangen und tiber die gesamte Zeit durch ihre treue Freundschafl stark gemacht haben. Ich danke zusatzlich alien, die mich auf meinem Promotionsweg begleiteten, hier jedoch leider keine Erwahnung fmden konnten.

Julia Koplin

Inhaltsverzeichnis Abbildungsverzeichnis Tabellenverzeichnis Abkiirzungsverzeichnis 1 Einleitung

XIII XV XVII 1

1.1 Problemstellung der Arbeit

1

1.2 Zielsetzung und Forschungsfragen

4

1.3 Gang der Untersuchung

6

1.4 Das Forschungsprojekt

9

1.5 Wissenschaftstheoretische/forschungsprogrammatische Grundlagen 1.5.1 Anwendungsorientierte Wissenschaft 1.5.2 Betriebswirtschaftslehre als anwendungsorientierte Sozialwissenschaft 1.5.3 Kategorien und Instrumente praxisbezogener Forschungsergebnisse 2 Konzeptionelle Grundlagen

12 12 15 17 19

2.1 Nachhaltige Entwicklung 2.1.1 Definition von Nachhaltigkeit 2.1.2 Dimensionen Nachhaltiger Entwicklung und ihre Ziele 2.1.3 Nachhaltigkeit als untemehmensstrategische Frage 2.1.4 Globalisiemng - Chancen und Risiken 2.1.5 Umweltstandards und Sozialstandards 2.1.6 Der Stakeholderansatz

19 19 22 33 44 47 63

2.2 Strategisches Beschaffungsmanagement und Lieferantenketten 2.2.1 Abgrenzung und Definition 2.2.2 Ebenen des Beschafftingsmanagements 2.2.3 Aufgaben und Strategien des Beschaffiingsmanagements 2.2.4 Ablauf eines Beschaffungsprozesses 2.2.5 Lieferantenstrategien: Management der Lieferantenbeziehungen 2.2.6 Nachhaltigkeit in der Beschaffung

68 68 70 72 76 77 86

2.3 Zwischenfazit

95

2.4 Herausforderungen fur ein Konzept zur Umsetzung von Nachhaltigkeit in Lieferantenbeziehungen 2.4.1 Entwicklung eines Kriterienrasters

96 97

2.4.2

Fordemde und hemmende Faktoren

3 Forschungsmethodik und deren Umsetzung in der Arbeit 3.1 Empirische Sozialforschung 3.1.1 Einordnung 3.1.2 Anforderungen - allgemeine Giitekriterien

104 109 109 109 Ill

X

Inhaltsverzeichnis 3.2 Qualitative Sozialforschung

112

3.2.1

Grundlagen qualitativen Denkens

112

3.2.2

Giitekriterien qualitativer Datenerhebung

116

3.2.3

Untersuchungsdesigns

122

3.2.4

Forschungsmethoden

124

3.3 Aktionsforschung - Reflexivitat zwischen Prozess und Ziel

127

3.3.1

Stellung im Kanon sozialwissenschaftlicher Forschung

127

3.3.2

Die Entwicklung der Aktionsforschung

128

3.3.3

Programmatik und besondere Merkmale

130

3.3.4

Forschungsprozess und zentrale Forschungsmethoden

134

3.3.5

Probleme und Risiken der Aktionsforschung

143

3.4 Uberpriifung der methodischen Giitekriterien qualitativer Sozialforschung

146

3.4.1

Grundsatze qualitativer Forschung

146

3.4.2

Giitekriterien qualitativer Forschung

150

3.5 Umsetzung der Aktionsforschung

155

3.5.1

Grundlagen und doppelte Zielsetzung

156

3.5.2

Informationssammlung, Dateninterpretation und Diskurs

158

3.5.3

Forschungsprozess, Giitekriterien und Forschungsmethoden des Projektes

161

3.5.4

Umgang mit Problemen und Risiken im Projekt

170

4 Entwicklung eines Nachhaitigkeitskonzeptes 4.1 Die Branche der Automobilindustrie

175 175

4.1.1

Allgemeine Grundlagen

176

4.1.2

Entwicklungen im Bereich der Abnehmer-Zulieferer-Beziehungen

176

4.1.3

Nachhaltigkeit in der Automobilindustrie

186

4.1.4

Die Volkswagen AG

203

4.2 Umsetzung des Forschungsprojektes

210

4.2.1

Vorbereitende Analysen

210

4.2.2

Workshops

211

4.2.3

Bestandsaufhahme VW (methodisch) (August-September 2003)

213

4.2.4

Einbeziehung Lieferanten

214

4.3 Bestandsaufnahme VW

222

4.3.1

Normative Bezugspunkte

223

4.3.2

Friiherkennungssysteme

223

4.3.3

Der VW-Beschaffungsprozess

224

4.3.4

Monitoring und Lieferantenentwicklung

226

4.3.5

Die B2B-Plattform „VW Group Supply.com"

227

4.3.6

Dezentrale Regelungen in den Lieferantenketten der Volkswagen AG

4.4 Analyse umweltbezogener/sozialer Schwachstellen (Chancen/Risiken)

228 228

4.4.1

Normative Ebene

4.4.2

Friiherkennung

229 229

4.4.3

Beschafiungsprozess

230

4.4.4

Monitoring und Lieferantenentwicklung

230

Inhaltsverzeichnis 4.5 Entwickelte Losungsoptionen

XI 231

4.5.1

Normative Ebene

232

4.5.2

Friiherkennung

233

4.5.3

Beschaffungsprozess

234

4.5.4

Monitoring und Lieferantenentwicklung

237

4.6 Das Konzept einer Integrationsstrategie

238

4.6.1

Normative Ebene

239

4.6.2

Friiherkennung

241

4.6.3

Beschaffungsprozess

242

4.6.4

Monitoring und Lieferantenentwicklung

245

4.6.5

Zusammenfassung

247

4.7 Bewertung des VW-Konzeptes auf Basis des Kriterienrasters

249

4.8 Ableitung eines allgemeinen Nachhaltigkeitskonzeptes fiir das strategische Beschafflingsmanagement

262

5 Zusammenfassung und Ausblick

265

5.1 Zusammenfassung der Forschungsergebnisse

265

5.2 Forschungsbeitrag der Arbeit

268

5.2.1

Operationalisierung untemehmensstrategischer Nachhaltigkeit

5.2.2

Nachhaltigkeitskonzept fur das strategische Beschafflingsmanagement

270

5.2.3

Generalisierbarkeit der Ergebnisse auf Basis der Aktionsforschung

272

5.2.4

Grenzendes Forschungsdesigns

274

5.3 Weiterffihrender Forschungsbedarf

Literaturverzeichnis

268

275

279

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Aufbau der Arbeit

8

Abbildung 2: Die drei Dimensionen einer Nachhaltigen Entwicklung

23

Abbildung 3: Entstehung von Zielen

27

Abbildung 4: Schnittmengenmodell okonomischer, okologischer und sozialer Nachhaltigkeit

33

Abbildung 5: Nachhaltige Untemehmen im gesellschaftlichen Kontext

35

Abbildung 6: Einordnung der vier Konzepte

40

Abbildung 7: Verschiedene Stakeholder eines Untemehmens

65

Abbildung 8: Vier Ebenen von Beschaffungsentscheidungen

72

Abbildung 9: Traditioneller Beschaffungsprozess

77

Abbildung 10: Hauptaktivitaten des Lieferantenmanagements

78

Abbildung 11: Ubersicht der Beschaffungsstrategien

79

Abbildung 12: Wesentliche Argumentationslinien der inhaltlichen Auswertung

106

Abbildung 13: Komponenten qualitativer Forschungsdesigns

123

Abbildung 14: Doppelte Zielsetzung der Aktionsforschung

132

Abbildung 15: Zyklischer Verlauf des Aktionsforschungsprozesses

137

Abbildung 16: Das System Fahrzeugbau und seine Prozessketten

177

Abbildung 17: Veranderungen der Wertschopfungsprozesse

178

Abbildung 18: Strukturwandel durch Modularisierung

179

Abbildung 19: Zulieferstruktur in der Automobilindustrie

180

Abbildung 20: Veranderung der Zulieferpyramide

182

Abbildung 21: Produktionsanteile groBer Automobilhersteller im Jahr 2000

186

Abbildung 22: Bestandteile eines Automobils

188

Abbildung 23: Der okologische Produktlebenszyklus

190

Abbildung 24: Nachhaltigkeitsleitbild der Volkswagen AG

206

XIV

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 25: Strategische Beitrage zur nachhaltigen Entwicklung bei Volkswagen

206

Abbildung 26: Beschaffungsstrategie der Volkswagen AG bis 2015

208

Abbildung 27: Ablauf Forward/Global Sourcing Prozess bei Volkswagen

210

Abbildung 28: Hauptsitz der befragten Untemehmen

215

Abbildung 29: Regionen der Geschaftstatigkeit

216

Abbildung 30: Vorprodukte aus anderen Regionen

217

Abbildung 31: Umgesetzte Standards der befragten Untemehmen

218

Abbildung 32: Geforderte Standards Sub-Lieferanten

218

Abbildung 33: Anreize fur die Umsetzung von Umwelt- und Sozialstandards

219

Abbildung 34: Mogliche Verbesserungen okologischer und sozialer Problemfelder

220

Abbildung 35: Analysetools und Lebenszyklus offentlicher Meinungsbildung

233

Abbildung 36: Losungsoptionen flir die Prozessstufe Technische Angebotspriifung

235

Abbildung 37: Erweiterung des Beschaffungsprozesses (Stufen 1-2)

244

Abbildung 38: Erweiterung des Beschaffungsprozesses (Stufen 3-5)

244

Abbildung 39: Erweiterung des Beschaffungsprozesses (Stufe 6)

245

Abbildung 40: Erweiterung des Beschaffungsprozesses (Stufe 6)

245

Abbildung 41: Allgemeinkonzept „Nachhaltigkeit im Beschaffungsmanagement"

264

Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Schematisierter Ablauf derForschungsstudie

11

Tabelle 2: Unterschiede zwischen Grundlagenwissenschaft und angewandter Wissenschaft .16 Tabelle 3: Vergleich Formen praxisbezogener Forschungsergebnisse

18

Tabelle 4: Vorstellungen von Nachhaltiger Entwicklung

21

Tabelle 5: UbersichtNachhaltigkeitskriterien/-prinzipien fur Untemehmen

36

Tabelle 6: Einordnung der Standards in die verschiedenen Formen

61

Tabelle 7: Ubersicht Anspruchsgruppen und Ziele

66

Tabelle 8: Ubersicht zu Definitionen des Beschaffungsmanagements

69

Tabelle 9: Systematisierung von Sourcing Konzepten

74

Tabelle 10: Mogliche Konsequenzen des Abnehmers auf Lieferantenbewertungen

82

Tabelle 11: Verfahren zur Integration okologischer Aspekte in das Beschaffungsmanagement

91

Tabelle 12: Griinde fur die Ubemahme von Verantwortung in Lieferantenbeziehungen

97

Tabelle 13: Funktionale Kriterien ftir die Konzeptbewertung

98

Tabelle 14: Prozessbezogene Kriterien fur die Konzeptbewertung

100

Tabelle 15: Verfahrenstechnische Kriterien fur die Konzeptbewertung

103

Tabelle 16: Verfahrenstechnische Kriterien ftir die Konzeptbewertung

104

Tabelle 17: Fordemde/hemmende Faktoren fiir Nachhaltigkeit im Beschaffungsmanagement

107

Tabelle 18: Phasenverlauf des Aktionsforschungsmodells

136

Tabelle 19: Ubersicht Giitekriterien der Aktionsforschung

139

Tabelle 20: Merkmale der Aktionsforschung im Vergleich zur traditionellen Forschung

139

Tabelle 21: Uberblick zentrale Forschungsmethoden der Aktionsforschung

141

Tabelle 22: Umgesetzte Giitekriterien nach Mayring

155

Tabelle 23: Umsetzung der Aktionsforschungsphasen im Forschungsprojekt

165

XVI

Tabellenverzeichnis

Tabelle 24: Umsetzung der Gutekriterien der Aktionsforschung im Projekt

168

Tabelle 25: Uberblick Einsatz zentraler Forschungsmethoden im Projekt

169

Tabelle 26: Auswahl sozialer Problemfelder in verschiedenen Landem

197

Tabelle 27: Umweltbezogene und soziale Anforderungen an Lieferanten bei Wettbewerbem

201

Tabelle 28: Hauptsitz, Regionen der Geschaftstatigkeit und Vorprodukte der befragten Untemehmen

215

Tabelle 29: Einordnung der Standards/Prinzipien in die Nachhaltigkeitsdimensionen

223

Tabelle 30: Einstufung der Auditierungsergebnisse

226

Tabelle 31: Losungsoptionen zum Ausbau der normativen Bedingungen

232

Tabelle 32: Erweiterungsmoglichkeiten der Friiherkennungsmethoden

234

Tabelle 33: Losungsoptionen fur die Prozessstufe Betriebsmittelanforderungen

234

Tabelle 34: Losungsoptionen fiir die Prozessstufe Lieferantenvorschlag

235

Tabelle 35: Losungsoptionen fiir die Prozessstufe Kaufteileanfrage

235

Tabelle 36: Losungsoptionen fur die Prozessstufe Lieferantenbewertung

237

Tabelle 37: Losungsoptionen ftir die Prozessstufe Pre-Meeting/CSC

237

Tabelle 38: Erweiterte KontrollmaBnahmen

238

Tabelle 39: Klassifizierungsschema fiir Selbstauskunft

243

Tabelle 40: Nachhaltigkeitskonzept ftir Beschaffung Fahrzeug-Serienmaterial

248

Tabelle 41: Geplanter Zeithorizont fiir die Umsetzung des Nachhaltigkeitskonzeptes

249

Tabelle 42: Zusammenfassung der Bewertung des Konzeptes anhand des Kriterienrasters..257 Tabelle 43: Integrative Regelungen fiir ein nachhaltiges Beschaffungsmanagement

271

Tabelle 44: Zusammenfassung der Anforderungen fiir die Generalisierbarkeit

274

Abkiirzungsverzeichnis AA

AccountAbility

AG

Aktiengesellschaft

BA

Beschaffung Allgemein

BMBF

Bundesministerium fur Bildung und Forschung

BME

Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik

BMU

Bundesministerium fur Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

BMW

Bayrische Motorenwerke

BP

Beschaffung Produktion

BS

British Standard

BWL

Betriebswirtschaftslehre

B2B

Business-to-Business

CEPAA

Council on Economic Priorities Accreditation Agency

COP

Cary-Over-Parts

CO2

Kohlenstoffdioxid

CSC

Corporate Sourcing Committee

CSR

Corporate Social Responsibility

DC

DaimlerChrysler

EMAS

Eco Management and Audit Scheme

ESH

Environment, Safety and Health

ESL

Electronic Supplier Link

EU

Europaische Union

FS

Forward Sourcing

GM

General Motors

GmbH

Gesellschafl mit beschrankter Haflung

GRI

Global Reporting Initiative

GS

Global Sourcing

Hrsg.

Herausgeber

ICC

International Chamber of Commerce

XVIII

Abkiirzungsverzeichnis

ILO

International Labor Organisation

lOW

Institut fur okologische Wirtschaftsforschung

ISEA

Institute for Social and Ethical AccountAbility

ISO

International Organisation for Standardization

lUCN

International Union for Conservation of Nature and natural Resources

LDB

Lieferantendatenbank

LPT

Local Purchasing Team

NGO

Non Governmental Organisation

OE

Organisationseinheit

OECD

Organisation for Economic Co-operation and Development

OHSAS

Occupational Health and Safety Assessment Series

PROSA

Product Sustainability Assessment

QM

Qualitatsmanagement

QS

Qualitatssicherung

SA

Social Accountability

SEA

Supplier Environmental Advisory

SES

Safety Evaluation System

SRU

Rat der Sachverstandigen fur Umweltfragen

TE

Technische Entwicklung

TS

Technical Specification

UBA

Umweltbundesamt

UMS

Umweltmanagementsystem

UNCED

United Nations Conference on Environment and Development

UNEP

United Nation Environmental Program

VDA

Verband der deutschen Automobilindustrie

VW

Volkswagen

WBCSD

Word Business Council for Sustainable Development

WCED

World Commission for Environment and Development

ZSB

Zusammenbauteile

1 Einleitung 1.1

Problemstellung der Arbeit

Der Begriff Globalisierung hat sich in den vergangenen Jahren zu einem zentralen Kristallisationspunkt der Politik, des Umweltschutzes und der intemationalen Aktivitaten von Unternehmen entwickelt. Er steht fur eine neue Qualitat intemationalen Handelns, welche aus der zunehmenden Reichweite, Dynamik und Komplexitat intemationaler Wirtschaftsbeziehungen erwachst. Untemehmen tatigen in steigendem Mafie auslandische Direktinvestitionen, erschlieBen Beschaffungs- und Absatzmarkte in Schwellen- und Entwicklungslandem, installieren globale Einkaufsplattformen mit Hilfe des Internets und nutzen die weltweiten Finanzmarkte zur Akquirierung von Kapital. Konzentrierte sich das intemationale Geschaft fruher auf den Export von Produkten aus dem Heimatland in Auslandsmarkte, so sind mittlerweile globale Produktions- und Zulieferstrukturen entstanden. Die fortschreitende Globalisierung konfrontiert Untemehmen gleichzeitig mit einer immer starker werdenden Intemationalisiemng des Wettbewerbs.' Dadurch ergibt sich die Notwendigkeit, nach neuen, effizienteren Moglichkeiten zur Gestaltung von Geschaftsprozessen und der Erhaltung der Marktposition zu suchen.^ Hierbei milssen alle Aktivitaten der gesamten Wertschopfungskette eines Untemehmens beriicksichtigt werden.^ Amold spricht in dem Zusammenhang vor allem jenen weltweit agierenden Untemehmen Wettbewerbsvorteile gegeniiber ihren Konkurrenten zu, die versuchen, vertikale Kooperationsformen mit ihren Lieferanten aufzubauen, um so die immer komplexeren Organisationsstmkturen im Beschaffungsbereich zu bewerkstelligen. Die Anzahl an Lieferanten, auf die ein Untemehmen ftir den Bezug seiner Rohstoffe bzw. Vorprodukte zuriickgreifen kann, ist in den letzten Jahren im Zuge der Globalisiemng stark angestiegen und hat dadurch die Komplexitat des Beschaffungsbereiches erheblich gesteigert/ Dies ermoglicht Abnehmem eine groBere Auswahl und somit eine Starkung derjenigen Lieferantenuntemehmen, die in Billiglohnlandem (Schwellen- und Entwicklungslander) produzieren und deshalb zu giinstigen Preisen anbieten konnen. Jene sind in der Wertschopfungskette meist „upstream" angesiedelt und stehen dadurch oftmals nicht unter dem direkten Einfluss des endabnehmenden Untemehmens. Meist sind sie dem Endhersteller sogar nicht einmal bekannt.

Vgl. Teece et al. 1997. Vgl. Handfield et al. 2005, S. 18. Vgl. Amold 1997a. Vgl. Amold 1997b, S. 111 ff.; auch Piontek 1997.

2

1.1 Problemstellung der Arbeit

Gleichzeitig werden an exponierte Firmen von ihren gesellschaftlichen Anspruchsgruppen^ immer mehr direkte Anforderungen beziiglich umweltbezogener und sozialer Aspekte ihrer Untemehmenstatigkeit gestellt/ Vor allem Organisationen wie Greenpeace, Amnesty International Oder andere Nicht-Regierungsorganisationen (Non-Governmental Organisations (NGO)) verfiigen, im Gegensatz zu unkoordinierten Protestbewegungen, iiber hoch professionalisierte Kommunikationsformen und -wege gegeniiber Untemehmen und der breiten Offentlichkeit.' Hauptaufgabe eines Untemehmens war mehrere Jahrhunderte lang die Schaffung von Werten durch die Herstellung von Giitem bzw. Dienstleistungen. Seit geraumer Zeit vollziehen Untemehmen jedoch ein Umdenken in ihrer untemehmenspolitischen Ausrichtung. Grund dafur sind neue Formen okologischer und sozialer Forderungen, wie z. B. die Schaffung von Arbeitsplatzen, und der daraus resultierende Wettbewerbsdruck.* Besonders Firmen, die mit ihrer Marke den Kontakt zum Endverbraucher - dem Kunden - herstellen, sehen sich vermehrt diesem Offentlichkeitsdruck ausgesetzt.' Zum Beispiel wiirden nach einer Umfrage aus dem Jahr 1996 75 % der amerikanischen Konsumenten ihre Kaufentscheidungen von dem Umweltbewusstsein der Untemehmen abhangig machen und sogar 80 % sind bereit, Mehrkosten fur umweltfreundlichere Produkte zu bezahlen.'® 2002 gaben ebenfalls 45 % der Deutschen an, Produkte von Untemehmen zu boykottieren, die sich nachweislich umweltschadigend verhalten." Langsam verstarkt sich damit das Bewusstsein, dass dauerhafter wirtschaftlicher Erfolg nur einhergehend mit bewusstem Handeln unter Berucksichtigung von Umweltschutz und sozialer Verantwortung erreicht werden kann. Untemehmen miissen sich deshalb sowohl der wirtschaftlichen als auch okologischen und sozialen Auswirkungen ihres Wirtschaflens bewusst sein.'^ In direktem Zusammenhang mit den beschriebenen Entwicklungen der Globalisiemng stehen die Arbeitsbedingungen, unter denen Arbeitnehmer vor allem in Schwellen- und Entwicklungslandem Konsumgiiterprodukte, wie z. B. Textilien und Bekleidung oder Spielwaren, herstellen, die hauptsachlich in den Industrielandem konsumiert werden.'^ Immer wieder wird von den verschiedensten NGOs, insbesondere den Menschenrechtsorganisationen, auf soziale Missstande hingewiesen, indem sie Untemehmen in der Offentlichkeit anprangem, die durch Arbeitnehmerausbeutungen Profit machen.'^ Kritisiert werden vor allem: Kinderarbeit, unzureichende Arbeitssicherheit, Unterschreitung gesetzlich vorgeschriebener Mindestlohne, Un-

In der folgenden Arbeit wird entweder der englische Begriff „Stakeholder" oder die deutsche Ubersetzung „Anspruchsgruppen" verwendet. Beide Begriffe sind gleichbedeutend und stehen synonym fureinander. Vgl. Ulrich 1977, S. 1 ff.; Schaltegger/Sturm 1994, S. 1. Vgl. Teubner 2000. Vgl. Pfriem 1996. Vgl. Lawrence 2002, S. 187 f Vgl. Drumwright 1994 (zitiert nach Lamming/Hampson 1996, S. 45). Vgl. Kuckartz/Grunenberg 2002, S. 77. Vgl. Kommission der Europaischen Gemeinschaften 1998, S. 5 f Vgl. Krauss 1997; Lai 1998; Connor 2002. Vgl. Griineberg et al. 2001, S. 70 f

1 Einleitung

3

terdriickung gewerkschaftlicher Betatigung, Diskriminierung, unzumutbare Arbeitzeiten, erzwungene Arbeitsstunden etc.'^ Diese Unterschiede in den jeweiligen Arbeitsbedingungen der einzelnen Lander ergeben sich durch die unterschiedlichen vorherrschenden gesetzlichen Rahmenbedingungen bzw. okologischen und sozialen Standards. In Schwellen- und Entwicklungslandem entsprechen die Arbeits- und Sozialgesetze haufig nicht den MaBstaben der westlichen Industrienationen bzw. konnen von den jeweiligen Behorden in einem Land nicht durchgesetzt werden.'^ Globalisierung eroffnet somit Untemehmen einerseits neue Beschaffungsmoglichkeiten mit sinkenden Preisen, erfordert andererseits jedoch gleichzeitig eine komplexere Organisationsstruktur aufgrund der gestiegenen Lieferantenanzahl. Die Ausweitung der Beschaffung eines Untemehmens auf andere Lander birgt neue umweltbezogene und soziale Verantwortlichkeiten auf globaler wie nationaler Ebene gegentiber Stakeholdem.'^ Vorrangig Verbraucher sowie NGOs erwarten immer mehr Informationen iiber die Bedingungen, unter denen Produkte und Dienstleistungen produziert werden, und strafen VerstoBe auf umweltbezogener und sozialer Ebene mit gesellschafllicher Verachtung (vgl. als Beispiele Shell, Nike)'^ Besonders die Reputation und das Image eines Untemehmens sind als fundamental Erfolgskriterien der Geschaftstatigkeit zunehmend gefahrdet und ziehen mogliche EinbuBen der Wettbewerbsfahigkeit auf den Absatzmarkten nach sich." Deshalb ist es sinnvoll fur Untemehmen, a priori umweltbezogene und soziale Aspekte in ihre Lieferantenbeziehungen zu integrieren, um damit Risikopotenziale bezuglich solcher Missstande zu reduzieren bzw. auszuschlieBen sowie zusatzliches Vertrauen bei Stakeholdem aufzubauen.^° Doch gerade aufgmnd der gestiegenen Lieferantenanzahl entstehen Untemehmen verstarkt Probleme bei der Umsetzung von Stakeholder-Anfordemngen in ihren immer starker ausdifferenzierten Lieferantenbeziehungen. Hierbei stellen sich Fragen nach neuen Kriterien beziiglich der Bewertung und Auswahl von Lieferanten, nach moglichen Formen der Einfuhmng und Umsetzung von Umwelt- und Sozialstandards in Lieferantenbeziehungen sowie Kontrollmechanismen und Einhaltungsanreizen fiir Lieferanten. Dies lasst ein sehr komplexes Organisationsproblem ftir Untemehmen erkennen. Insbesondere die Automobilindustrie ist durch ein hochkomplexes Netzwerk weltweit tatiger Zulieferer gepragt.^' Sichtbar wird dies sowohl an der Vielzahl von Lieferanten, mit denen ein Automobilhersteller in direktem Kontakt steht (horizontale Lieferantenstmktur), als auch an der Tatsache, dass der jeweilige Lieferant seinerseits haufig auf eine mehrstufige LieferantenVgl. Time 1996; Washington Post 1996; Spiegel 1998, 2001. Vgl. Scherer 2002, S. 11. Vgl. Kommission der Europaischen Gemeinschaften 2002, S. 5. Vgl. Mohr/Schneidewind 1996; Murphy/Matthew 2001. Vgl. Roberts 2003, S. 160. Vgl. Kommission der Europaischen Gemeinschaften 2002, Roberts 2003, S. 161; S. 5; Simpson 2005, S. 314. Vgl. MendiusAVendeling-Schroder 1991, S.ll f.; Simpson/Power 2005, S. 61.

4

1.2 Zielsetzung und Forschungsfragen

kette" zuruckgreift (vertikale Lieferantenstruktur)." Durch die globale Beschaffung von Vorprodukten beziehen auch Automobilhersteller heutzutage Lieferanten aus Schwellen- und Entwicklungslandem in dieses Netzwerk ein, die an ihren Produktionsstandorten teilweise andere gesetzliche Rahmenbedingungen bzw. okologische und soziale Standards aufweisen, welche zum Teil deutlich von den eigenen Standards des Automobilherstellers im Industrieland abweichen. Bei mehrstufigen Lieferantenbeziehungen konnen Untemehmen allgemein kaum garantieren, dass ihre Lieferanten die Standards einhalten, denen das Untemehmen im eigenen Land folgen muss.^'* Da Anspruchsgruppen — hier vor allem NGOs —, welche sich oft als Forderer einer Nachhaltigen Entwicklung ansehen, die Verantwortung fiir das Verhalten von Lieferanten in der Regel ihren offentlich exponierten Auftraggebem zuweisen, entstehen enorme Risiken ftir die offentliche Reputation und fiir die Attraktivitat des Absatzuntemehmens gegeniiber seinen Kunden. Deshalb ist es fiir einen Automobilkonzem, wie beispielsweise die Volkswagen AG (VW), wichtig, Risiken aufgrund von VerstoBen ihrer Lieferanten bezogen auf selbst beriicksichtigte Umwelt- und Sozialstandards zu verringem bzw. wenn moglich auszuschliefien.

1.2

Zielsetzung und Forschungsfragen

Vor diesem Hintergrund ist das Ziel dieser Forschungsarbeit, ein Integrationskonzept zur Umsetzung umweltbezogener und sozialer Standards im Beschaffungsmanagement bzw. in den Lieferantenbeziehungen eines Automobilherstellers am Beispiel der Volkswagen AG unter Beriicksichtung der in diesem Fall spezifischen Strukturen, Prozesse und Verantwortlichkeiten zu entwickeln. Die Arbeit geht von der These aus, dass sich der Grundgedanke Nachhaltiger Entwicklung, der immer starker auch im Beschaffiingsmanagement der Untemehmen in den Blickpunkt des Interesses riickt, durch die Beriicksichtigung umweltbezogener und sozialer Standards in Zusammenarbeit mit den Lieferanten eines Untemehmens auch im Bereich Beschaffung etablieren lasst." Gleichzeitig wird damit die Erhohung der Transparenz innerhalb der Wertschdpfimgsketten fiir vorgelagerte Stufen der Direktzulieferer (First TierSupplier) angestrebt sowie die Verantwortungsiibemahme von Untemehmen fiir okologische und soziale Auswirkungen in der gesamten vor- und nachgelagerten Wertschopfiingskette gefi)rdert. Hierbei ergeben sich in doppelter Hinsicht positive Auswirkungen fiir die Untemehmenstatigkeit. Einerseits beeinflusst die Anerkennung umweltbezogener und sozialer Verantwortung Im Rahmen der Arbeit werden die Begriffe „Lieferantenkette", „Wertsch6pfungskette" und „Supply Chain" synonym verwendet. Vgl. Arnold 1997b, S. 95 f Vgl. BMU 2002a, S. 77. Vgl. Seuring/Miiller 2004, S. 119; ftir den Umweltbereich siehe auch Walton et al. 1998; Hall 2000; Bowen etal. 2001; Sarkis 2003.

1 Einleitung

5

eines Untemehmens bezogen auf seine Lieferantenkette das Image und den Ruf des Unternehmens in der Offentlichkeit, da Stakeholder-Gruppen (vor allem NGOs und Verbraucher) mehr und mehr Informationen dariiber erwarten, unter welchen Bedingungen Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe bzw. Vorprodukte beschafft und anschlieBend Produkte und Dienstleistungen produziert werden. Solche Informationen gewinnen im stetig ansteigenden intemationalen Wettbewerbsdruck zunehmend an Bedeutung und stellen somit einen Wettbewerbsvorteil dar.^^ Andererseits wurde versucht, im Rahmen der Arbeit einen Such- und Lemprozess anzustoBen, welcher dem Untemehmen die Moglichkeit eroffhet, sich wieder ein Stuck in Richtung Nachhaltigkeit weiterzuentwickeln. Aus der aufgezeigten Problemstellung ergibt sich folgende Forschungsfrage fur die vorliegende Arbeit:

Wie konnte ein strukturiertes Konzept zur Integration und Kontrolle von Umweh- und Sozialstandards in das strategische Beschaffimgsmanagement im Sinne einer Nachhahigen Entwicklung aussehen? Fiir die Beantwortung dieser Fragestellung konnen wiederum folgende Unterfragen abgeleitet werden: 1. Welche Bedeutung haben umweltbezogene und soziale Standards im Rahmen Nachhahiger Entwicklung bisher allgemein fur Untemehmen? 2. Welche Umwelt- und Sozialstandards werden derzeit bereits von Lieferanten der Automobilindustrie umgesetzt oder sogar wiederum von ihren Vorlieferanten gefordert? 3. Wie stellt sich der Ist-Zustand von Automobilherstellem, und speziell am Beispiel der Volkswagen AG, bezogen auf die Beriicksichtigung von Umwelt- und Sozialaspekten innerhalb der Beschaffungsstrukturen (Lieferantenauswahl, Lieferantenvorgaben und Lieferantenkontrolle) dar? 4. Welche Handlungsempfehlungen konnten aus einem speziellen Nachhaltigkeitskonzept zur Integration und Kontrolle von Umwelt- und Sozialstandards in die Lieferantenbeziehungen ftir die Volkswagen AG als Automobilhersteller fur ein von anderen Untemehmen einsetzbares Allgemeinkonzept abgeleitet werden? Die Arbeit widmet sich somit einem neuen Gestaltungsfeld fur Untemehmen auf dem Weg zu einer Nachhaltigen Entwicklung: der Integration und Kontrolle von Umwelt- und Sozialstandards in das Beschaffungsmanagement bzw. die Lieferantenbeziehungen, ftir das in der Literatur bisher keine Ansatze zu konzeptionellen Modellvorschlagen gefunden werden konnten.^' In diesem Zusammenhang stellt besonders die Uberfordemng von Lieferanten mit nicht umsetzbaren Anspriichen, die alle Standards beinhalten, ein Problem dar. Gleichzeitig muss jeVgl. Sarkis 1999. Die gleiche Feststellung findet sich auch bei Simpson 2005.

6

1.3 Gang der Untersuchung

doch darauf geachtet werden, ein Konzept zu entwickeln, welches zum einen in die vorhandenen Untemehmensstrukturen implementiert werden kann und zum anderen das Risikopotenzial beziiglich umweltbezogener oder sozialer ProblemeA^erstoBe innerhalb der Wertschopfungsketten wirklich reduziert und damit die Leistungsfahigkeit der gesamten Supply Chain verbessert.^* 1.3

Gang der Untersuchung

Die vorliegende Arbeit beschreibt den Prozess sowie die Inhalte eines Aktionsforschungsprojektes und nimmt eine Bewertung der Ergebnisse vor. Sie besteht aus einem theoretischen (Kapitel 2), einem methodischen (Kapitel 3) und einem empirischen Teil (Kapitel 4) und setzt sich aus insgesamt funf Kapiteln mit folgenden Inhalten zusammen: Das erste Kapitel, die Einleitung, zeigt als Ausgangsbasis die grundlegende Problemstellung der Arbeit auf. Davon ausgehend wurden eine allgemeine Zielsetzung und entsprechende Forschungsfragen abgeleitet. Der Gang der Untersuchung gibt einen Uberblick iiber den Ablauf der Arbeit. Danach wird kurz das Forschungsprojekt dargestellt, welches der Arbeit als empirisches Forschungsfeld diente. AbschlielJend erfolgt eine ausftihrliche Erlauterung des wissenschaftstheoretischen und forschungsprogrammatischen Grundverstandnisses. Im zweiten Kapitel werden die theoretischen Grundlagen Nachhaltiger Entwicklung und des Beschaffungsmanagements aufgearbeitet. Fur den ersten Hauptteil wird das Thema Nachhaltigkeit ausfuhrlich diskutiert. Hierbei wird auf die Definitions- und Verstandnisfrage sowie den Drei-Saulen-Ansatz („tripple bottom line") eingegangen. Zudem wird Nachhaltigkeit als untemehmensstrategische Frage untersucht, um die Bedeutung von Untemehmen als wesentliche Akteursgruppe bei der Umsetzung von Nachhaltigkeit in der Gesellschaft aufzuzeigen. Ein dritter Aspekt beriicksichtigt die Chancen und Risiken, die sich fur Untemehmen im Zuge der fortschreitenden Globalisierung ergeben. AbschlieBend werden die Themen Umwelt- und Sozialstandards und Stakeholder vorgestellt. Die Arbeit soil zeigen, wie Umwelt- und Sozialstandards zur Forderung einer nachhaltigen Untemehmensentwicklung besonders im Bereich der Beschaffung eingesetzt werden konnen. Der zweite Hauptteil umfasst die Einordnung der Arbeit in den Bereich des Beschaffungsmanagements. Ein erster wichtiger Block beinhaltet die theoretischen Grundlagen des Beschaffungsmanagements. Der zweite Abschnitt geht auf das Thema Lieferantenbeziehungen ein. In einem dritten Schritt werden die beiden Themenkomplexe Nachhaltigkeit und Beschaffungsmanagement zusammengeftihrt. AnschlieBend wird ein Zwischenfazit aus den vorherigen theoretischen Ausfuhrungen des gesamten Kapitels gezogen. Den Schluss bildet die Entwicklung eines Anforderungskataloges auf Basis eines Kriterienrasters fur ein Konzept zur Integration von Nachhaltigkeit in das BeschaffungsSiehe dazu auch Simpson 2005, S. 314.

1 Einleitung

7

management eines Untemehmens. Anhand der Kriterien soil das im Rahmen des Forschungsprojektes entwickelte VW-Konzept in Kapitel 4 bewertet werden. Gleichzeitig wird auf fordemde und hemmende Faktoren ftir die Umsetzung von Nachhaltigkeit im Beschaffungsmanagement eingegangen, welche ebenfalls im Rahmen des Konzeptes teilweise berucksichtigt wurden. Das dritte Kapitel gibt zuerst eine theoretische Einftihrung in den Bereich der Qualitativen Sozialforschung und stellt daraus abgeleitet die der Arbeit zugrunde liegende Forschungsmethodik vor. Unter Berucksichtigung der Zielsetzung und ausgehend vom zu untersuchenden Forschungsfeld soil fur das Forschungsprojekt auf die Methodik der Aktionsforschung zuriickgegriffen werden. Deshalb wird im zweiten Teil des Kapitels auf die Grundlagen, die Zielsetzung, den Prozessverlauf, die Methoden sowie die Gutekriterien von Aktionsforschung eingegangen. Den Schluss bilden Erlauterungen zu moglichen Problemen und Risiken bei der Durchfuhrung von Aktionsforschung. Der dritte Teil beschreibt abschlieUend anhand der aufgezahlten Merkmale die Umsetzung der Aktionsforschungsmethodik im Projekt, einschlieBlich aller analysierten Schwierigkeiten, Probleme und Mangel, und nimmt dazu Stellung. Im vierten Kapitel wird am Anfang eine kurze Darstellung der Merkmale und Besonderheiten der Automobilbranche, des Wettbewerbs sowie der okologischen und sozialen Herausforderungen und speziell des Automobilherstellers Volkswagen AG in Bezug auf Nachhaltigkeit und Beschaffungsmanagement gegeben, da Volkswagen empirischer Untersuchungsgegenstand des Forschungsprojektes war. Weiterhin zeigt der zweite Teil zum einen die Umsetzung und Ergebnisse der verschiedenen Projekteinheiten und stellt zum anderen alle Losungsoptionen fiir die Integration von Nachhaltigkeit in den einzelnen Ebenen dar, die wahrend des Projektes erarbeitet wurden. Erst danach wird das endgiiltige Konzept der Integrationsstrategie, welches sich aus verschiedenen Losungsoptionen zusammensetzt, als Forschungsergebnis beschrieben und erlautert. AnschlieBend fmdet in diesem Kapitel eine Bewertung des Konzeptes auf Basis des in Kapitel 2.4 entwickelten Kriterienrasters sowie der fordemden und hemmenden Faktoren fur Nachhaltigkeit statt. Im letzten Abschnitt werden aus dem spezifischen VW-Konzept Handlungsempfehlungen ftir andere Untemehmen und somit allgemeine Elemente eines Nachhaltigkeitskonzeptes ftir das Beschaffiingsmanagement als Orientierungsrahmen abgeleitet. Das ftinfte Kapitel schlieBt die Arbeit mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse und einer Gesamtbetrachtung des Forschungsprojektes. Weiterhin werden die Forschungsbeitrage der Arbeit zur Operationalisierung von Nachhaltigkeit, ftir das strategische Beschaffungsmanagement sowie die, die sich aus dem Einsatz von Aktionsforschung ergeben, aufgezeigt und die Grenzen des Forschungsdesigns diskutiert. AbschlieBend erfolgt ein Ausblick auf den

8

1.3 Gang der Untersuchung

weiterftihrenden Forschungsbedarf. Abbildung 1 fasst den Aufbau der Arbeit noch einmal im Uberblick zusammen. Kapitel 1: Problemstellung, Zielsetzung, Gang der Untersuchung und Wissenschaftstheorie

I

Kapitel 2: Konzeptionelle Grundlagen Nachhaltige Entwicklung

1

, 1

1

1

Umwelt-/ Sozialstandards

Globalisierung

Untemehmen

Stakeholder

• Beschaffungsmanagement

1

1

1

1

Strategieebenen

Aufgaben

Prozess

>

Entwicklung eines Kriterienrasters zur Bewertung

i

i

i

Forderade/hemmende Faktoren

I

Kapitel 3: Forscliungsniethodil( und Einordnung der Arbeit Empirische Sozialforschung

1

Qualitative Sozialforschung

Aktionsforschung

1

Umsetzung der Aktionsforschung im Projekt

1

I

Kapitel 4: Entwicklung und Bewertung einer Integrationsstrategie Empirisches Feld: Automobilindustrie und Volkswagen AG

1

Konzept

.i

\

Bestandsaufnahme

Losungsoptionen yf

Bewertung des Konzeptes

Ableitung eines allgemeinen Nachhaltigkeitskonzeptes

T

Kapitel 5: Schlussbetrachtung, Forschungsbeitrag und Ausblick

Abbildung 1: Aufbau der Arbeit

,

Lieferanten- 1 ketten |

Kontext

1

Konzept

1 Einleitung

1.4

9

Das Forschungsprojekt

In diesem Kapitel wird auf die Inhalte und den Ablauf des Forschungsprojektes „Nachhaltigkeit in der Lieferantenkette" eingegangen. Dieses diente als Grundlage und Datensammlung fiir den in Kapitel 3 dargestellten Aktionsforschungsprozess sowie die in Kapitel 4 beschriebenen und bewerteten Ergebnisse der Untersuchungen. Das Forschungsprojekt stellte ein Gemeinschaftsprojekt der Volkswagen AG und Wissenschaftlem der Universitat Oldenburg, speziell dem Lehrstuhl fur Produktion und Umwelt am Institut BWL, dar und wurde im Zeitraum von Januar 2003 bis August 2004 durchgefuhrt. Das Vorhaben gestaltete sich von Beginn an als ein Dialogprozess mit relativ weitgehender Ergebnisoffenheit durch den Praxispartner. Ausgehend von der zentralen Forschungsfrage ergaben sich einzelne Fragestellungen fur das konkrete Vorgehen innerhalb des Projektes: • Welche Bedeutung haben umweltbezogene und soziale Aspekte im Rahmen nachhaltiger Entwicklung bisher ftir Lieferanten der Volkswagen AG? Welche Umwelt- und Sozialstandards werden derzeit bereits von Lieferanten umgesetzt oder sogar wiederum von ihren Vorlieferanten gefordert? •

• •

Wie stellt sich der Ist-Zustand der Volkswagen AG bezogen auf die Berticksichtigung von Umwelt- und Sozialaspekten innerhalb der Beschaffungsstrukturen (Lieferantenauswahl, Lieferantenvorgaben und Lieferantenkontrolle) dar, welche Liicken konnen aufgezeigt werden? Welche Herausforderungen (Chancen und Risiken) ergeben sich fur die Volkswagen AG als global tatiges Untemehmen? Wie konnte eine Strategic zur Integration und Kontrolle von Umwelt- und Sozialstandards in die Lieferantenbeziehungen ftir das Untemehmen Volkswagen aussehen?

Als wissenschaftlicher Partner und somit in der Rolle des Forschers iibemahm die Universitat Oldenburg vor allem folgende Aufgaben: • Beratungsfunktion ftir das Projekt, • wissenschaflliche Analysen zu grundlegenden theoretischen Themen, • • • •

eine empirische Untersuchung zur Umsetzung von Umwelt- und Sozialstandards im Rahmen einer Lieferantenumfrage, Moderations- und Beratungsfunktionen innerhalb des Diskursprozesses, Strukturierung, Aufbereitung und Dokumentation der einzelnen Prozessergebnisse und Mitwirkung an der Entwicklung eines Konzeptes zur Umsetzung der Ergebnisse.

10

1.4 Das Forschungsprojekt

Auf der Seite des Praxispartners wurden in den gesamten Projektverlauf im Rahmen von Workshops folgende Organisationseinheiten (OE) der Volkswagen AG involviert: •

Arbeitsumwelt- und Arbeitsschutz,



Beschaffling/Beschaffungsstrategie,



der Gesamtbetriebsrat,



Umweltstrategie und Umweltplanung,



Qualitatssicherung (QS) fur die Bereiche Geschaftsprozesse und Lieferanten-Audit,



Regierungsbeziehungen,



die Technische Entwicklung



sowie das Zentrale Personalwesen.

Unabhangig davon existierte gleichzeitig ein Kemprojektteam (KPT) bestehend aus drei Vertretem des Praxispartners (Beschaffung, Umweltstrategie und Personalwesen) und zwei Vertretem der Wissenschaft zur Koordination sowie Vor- und Nachbereitung der Workshops. Das Forschungsprojekt kann grundsatzlich in vier wesentliche Projekteinheiten gegliedert werden, welche einmaligen oder prozessoralen Charakter aufwiesen und somit teilweise immer wieder durchlaufen wurden: 1. Vorbereitende Analysen, 2. Projektteamtreffen und Workshops, 3. Bestandsaufnahme VW (Interviews) und 4. Einbeziehung von Lieferanten (Umfrage/Lieferanten-Workshop).

1 Einleitung

1 Nr.

Zeitraum

Beteiligte

Vorbereitende Analysen • Herausforderungen • Standards • Best Practice-Untemehmen

Februar-Juni 2003

UOL

2.

Workshop 1 • Einfiihrung in die Thematik • Problemdefinition/Ergebnisse der Analyse • Ziele VW „Nachhaltigkeit Lieferantenkette"

10. Juli 2003

VW, UOL

3.

Bestandsaufnahme VW • Erfassung Vorgaben intern/extern • Strukturen und Prozesse • Problembereiche Lieferanten

August-September 2003

KPT

September 2003

VW, UOL

1

1

Projektabschnitte

1 ^•

1 ^•

Workshop 2 • Ergebnisse Bestandsaufnahme VW • Zieldefinition • Diskussion verschiedener LSsungsstrategien • Planung vor Ort-Besuche bei Lieferanten

5.

Lieferantenumfrage

Juli-November 2003

UOL

6.

Workshop 3 • Ergebnisse Lieferantenumfrage • Konzeptentwurf Integrationsstrategie • Entwicklung LieferantenerklSrung • Planung Lieferanten-Workshops

November 2003

VW, UOL

7.

Workshop 4 • Ergebnisse vor Ort-Besuche Mexiko • Uberarbeitung Konzeptentwurf und Lieferantenerklarung • Diskussion Risiko-Fruherkennung

28. Januar 2004

VW, UOL

8.

Workshop 5 • Vorstellung der vorlaufigen Projektergebnisse • Vorbereitung der Lieferanten-Workshops

16.Marz2004

VW, UOL

9.

Einbeziehung Lieferanten • Lieferantenumfrage aus Ausgangsbasis • L Lieferanten-Workshop • IL Lieferanten-Workshop

November 2004 24.Juni 2004 28.06.2004

VW,UOL,EX 1

10.

Workshop 6: • Abschlussdiskussion • Verabschiedung des Endkonzeptes

30. August 2004

VW, UOL

11.

Abschlussbericht

Juni-August 2004

UOL

VW KPT UOL EX

= alle einbezogenen OEs von Volkswagen = Internes Projektteam (VW Organisationseinheiten + UOL) = Forschungsteam der Carl von Ossietzky Universitat Oldenburg = Ausgewahlte Lieferanten von Volkswagen

1

1

|

Tabelle 1: Schematisierter Ablauf derForschungsstudie

Da Kapitel 4.2 eine ausftihrliche inhaltliche Aufarbeitung der Umsetzung der einzelnen Projekteinheiten darstellt, soil an dieser Stelle nicht darauf eingegangen werden.

12

1.5 Wissenschaftstheoretische/forschungsprogrammatische Grundlagen

1.5

Wissenschaftstheoretische/forschungsprogrammatische Grundlagen

Die folgende Arbeit widmet sich einem konkreten Praxisproblem, der Integration umweltbezogener und sozialer Standards in die Beschaffungsstrukturen des Volkswagen Konzems ftir eine Nachhaltige Entwicklung. Sie besitzt dadurch ein gestaltungsorientiertes Anliegen. Dabei wird ausgehend von den extemen gesellschaftlichen Bedingungen und den intemen strukturellen Zwangen des Untemehmens versucht, einen Ansatz fur die Entwicklung eines ganzheitlichen, das heiiJt alle tangierenden Prozesse umfassenden, Konzeptes zu bieten. Gleichzeitig zielt die Untersuchung auf situationsspezifische Handlungsempfehlungen ab und konzentriert sich auf einen intemationalen Automobilhersteller, die Volkswagen AG, als konkreten Forschungsgegenstand.^' Somit liegt der Arbeit ein qualitativer Forschungsansatz^" zugrunde und die Forschung an sich wird als iterativer Lemprozess verstanden, welcher eine standige Interaktion zwischen Fragen an die Realitat, Sammlung von Daten, kritischer Reflexion und Abstraktion sowie theoretischer Verarbeitung beinhaltete.^' Eine ausfuhrliche Beschreibung des Forschungsansatzes der Arbeit einschlieBlich der Umsetzung im Forschungsprojekt wird in Kapitel 4 gegeben, weshalb an dieser Stelle darauf verzichtet werden soil. Dieser Forschungsansatz baut auf dem Grundverstandnis der Betriebswirtschaftslehre als anwendungsorientierte Wissenschaft nach Hans Ulrich auf, welches im Folgenden ausfiihrlich beschrieben ist.^^ 1.5.1 Anwendungsorientierte Wissenschaft Als wissenschaftstheoretisches Grundverstandnis wird der Arbeit das Verstandnis Hans Ulrichs zu anwendungsorientierter Wissenschaft zugrunde gelegt. Darunter versteht er „[...] die Tdtigkeit von Hunderttausenden von wissenschaftlich gebildeten Menschen, die darauf gerichtet ist, mit Hilfe von Erkenntnissen der theoretischen oder Grundlagenwissenschaften Regeln, Modelle und Verfahren fur praktisches Handeln zu entwickeln /...7""- Diese Forschung steht somit als Diskrepanz zwischen Grundlagenforschung und Praxis und ist unabdingbare Voraussetzung fur ein wissenschaftsgeleitetes praktisches Handeln. Dabei wird die Bestimmung von Forschungszielen und Fortschrittskriterien des Wissens von praktischen Interessen abhangig gemacht.^^ Bisher wurde dieser Bereich jedoch kaum von Seiten der Wissenschaftstheorie berucksichtigt. Grundsatzlich gibt es in diesem Zusammenhang zwei verschiedene Ansatze: Zum einen wird davon ausgegangen, dass zwischen theoretischer und anwendungsorientierter Forschung

„In unserer bisherigen Forschung erfiihren wir, dass eine qualitative und tief schiirfende Forschung von Einzelfallen und Branchen oft zielftihrender ist, als eine herkommlich, quantitativ ausgerichtete und representative Forschung.", Belz/Tomczak 1994, S. 22. Siehe ausfiihrlich Kapitel 5.2. Fiir nahere Erlauterungen siehe Kapitel 1.3.4. Vgl. Ulrich 2000. Ulrich 2000, S. 203. Vgl. Ulrich 2000, S. 205 ff

1 Einleitung

13

kaum Unterschiede existieren, zum anderen wird anwendungsorientierte Forschung direkt der Praxis zugeordnet und nicht als Wissenschaft anerkannt." Ulrich selbst vertritt keinen der beiden Ansatze. Seiner Meinung nach gibt es wesentliche Unterschiede zwischen beiden Forschungsarten, die sich aus den spezifischen Zusammenhangen bei der Problementstehung und den verschiedenen Strukturen ergeben. Dementsprechend konnen die jeweiligen Forschungsmethodiken und Fortschrittskriterien nicht miteinander gleichgesetzt werden. Die Merkmale anwendungsorientierter Wissenschaft fasst er in folgenden fiinf Punkten zusammen:^*^ 1. Ausgangsort ftir Probleme angewandter Forschung ist die Praxis und nicht die Wissenschaft. Nicht die Giihigkeit und die Erklarungskraft von Theorieentwiirfen und allgemeinen Hypothesen sind hierbei von Bedeutung, sondem manfi-agtnach der Anwendbarkeit von Modellen und Regeln ftir anwendungsorientiertes Verhalten in der Praxis. Anwendbarkeit bedeutet in dem Rahmen sowohl, dass das identifizierte Problem durch das entwickehe Modell und die Regeln angemessen dargestellt werden kann, als auch eine Anschlussfahigkeit bei den Adressaten der Modelle und Regeln gewahrleistet ist." AusgangsortftirUntersuchungen der Arbeit war der Beschafftingsprozess eines multinationalen Untemehmens. Problemstellung des Projektes bildete das Fehlen umweltbezogener und sozialer Standards in den Lieferantenbeziehungen als ein Risiko ftir Reputationsverluste von Untemehmen gegeniiber offentlichen Anspruchsgruppen im Sinne Nachhaltiger Entwicklung. Volkswagen besafi vor der Durchftihrung des Projektes keine systematischen Strukturen und Prozesse, um umweltbezogene und soziale Anforderungen bei Lieferanten beriicksichtigen und kontrollieren zu konnen. Ftir die Entwicklung einer geeigneten, den Rahmenbedingungen angepassten Integrationsstrategie wurden alle vom Beschafftmgsprozess beeinflussten Organisationseinheiten auf Konzemebene in das Projekt einbezogen. Im Rahmen von diskursorientierten Workshops wurde gemeinsam ein Konzept zur Umsetzung von Nachhaltigkeit erarbeitet und verabschiedet. 2. Der Inhalt von Problemen handelnder Menschen lasst sich nicht in die verschiedenen Disziplinen der Grundlagenft)rschung einordnen und ist somit a-disziplinar. Daraus ergibt sich von vomherein eine gewisse Interdisziplinaritat ftir den Bereich angewandter Forschung. Dieser Herausft)rderung wird die vorliegende Forschungsarbeit nur teilweise gerecht. Ein erster Ansatz entsteht durch die Verbindung eines betriebswirtschaftlichen Themas, des Beschafftingsmanagements, mit einer sozialwissenschaftlichen (auch soziologisch bzw. psychologisch gepragten) Forschungsmethodik, der Aktionsftjrschung, welche in der Betriebswirtschaftlehre (BWL) eher selten Anwendung findet.^ Ein weiterer interdisziplinarer Aspekt ergibt sich aus der Einbeziehung mehVgl. Ulrich 2000, S. 206. Vgl. Ulrich 2000, S. 206. Vgl. Schneidewind 1998, S. 23. Vgl. Kaplan 1998; auch Gleich 2001, S. 133 ff.

14

1.5 Wissenschaftstheoretische/forschungsprogrammatische Grundlagen

rerer Organisationseinheiten eines Untemehmens und einzelner Lieferanten als Stakeholder in den Forschungsprozess. Auch wenn auf wissenschaftlicher Seite nur Wirtschaftswissenschaftler beteiligt waren, so wird das grundlegende Forschungsthema Nachhaltigkeit inzwischen von den verschiedensten Wissenschaflen aufgegriffen und beforscht und besitzt damit aus sich selbst heraus schon eine gewisse Interdisziplinaritat. 3. Angewandte Forschung beinhaltet das Ziel, eine neue Wirklichkeit zu entwerfen. Dieser Ansatz geht einen Schritt weiter als der Versuch empirischer Grundlagenforschung die vorgefundene Wirklichkeit zu beobachten und anhand allgemeiner Theorien zu analysieren und zu begriinden. Die bestehende Wirklichkeit ist nur die Basis fur die Entwicklung moglicher zukiinftiger Wirklichkeiten.^' Ziel des Forschungsprojektes war die Umstrukturierung und Erweiterung des bestehenden VW-Beschaffungsprozesses auf alien Ebenen (Normative Ebene, Fruherkennung, Beschaffungsprozess und Monitoring einschlieBlich Lieferantenentwicklung) um umweltbezogene und soziale Anforderungen (Kriterien) fur eine nachhaltigere Lieferantenauswahl und bewertung. Hierfur wurde von den Ergebnissen einer Bestandsaufnahme (Ist-Analyse) bei Volkswagen ausgegangen, prozessbedingte Schwachstellen abgeleitet und versucht, geeignete Losungsoptionen fiir Veranderungen zu entwickeln. 4. Als Regulativ des Prozesses angewandter Forschung steht nicht die Wahrheit wissenschaftlicher Aussagen, sondem der Nutzen der zu entwickelnden Entwiirfe fur die Praxis. Dabei wird von einem erweiterten Wahrheitsbegriff ausgegangen. In dem Kontext kann Wahrheit verschiedene Bedeutungen haben: Wahrheit als „Korrespondenz" meint die Ubereinstimmung von Aussagen und objektiver Wirklichkeit, Wahrheit als „Koharenz" betriflft die Konsistenz und innere Logik von Aussagen, Wahrheit als „Pragmatischer Nutzen" fokussiert auf die praktischen Folgen einer Aussage.*" AuBerdem konnen die Fortschrittskriterien angewandter Forschung eher als Nutzkriterien betrachtet werden. Dazu zahlen Leistungsgrad, Zuverlassigkeit, universelle Anwendbarkeit usw. der geflindenen Aussagen. Die Ergebnisse der Arbeit sollen fiir Volkswagen als zuverlassige Methode dienen, Umwelt- und Sozialstandards in Lieferantenbeziehungen erfolgreich zu integrieren und dadurch Reputationsrisiken zu minimieren. Wichtig war hierbei die Einftihrung von entsprechenden Prozessen in der Beschaffung und die Entwicklung geeigneter Instrumente, um Probleme innerhalb der Kette kurzfristig zu erkennen und zeitnah im Falle jedes einzelnen Lieferanten darauf reagieren zu konnen. Anhand dieser Kriterien lasst sich der Nutzen des Konzeptes fur die Praxis bemessen. 5. Diese forschungsleitenden Nutzkriterien stellen direkte, standig durch den Forscher angewendete Werturteile dar, wodurch das Wertfreiheitspostulat fur eine angewandte Vgl.Lenk;S. 189 f Vgl.Kvalel991.

1 Einleitung

15

Forschung nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Daraus resultiert die Notwendigkeit ftir entwickelte Modelle, sich immer am moglichen Beitrag, einen solchen Nutzen zu stiften, messen lassen zu miissen/' Der Beitrag zum Nutzen des im Forschungsprojekt erarbeiteten Modells lasst sich im Wesentlichen aus der Einordnung der Projektergebnisse in Kapitel 5 ableiten. 1.5.2 Betriebswirtschaftslehre als anwendungsorientierte Sozialwissenschaft In der vorliegenden Arbeit wird BWL als anwendungsorientierte Sozialwissenschaft verstanden/^ Dabei wird von dem Handeln eines menschlichen Individuums ausgegangen, welches ftir die Losung des konkreten Problems mehrere Aspekte der RealitatAVirklichkeit analysiert, basierend auf in der Praxis entwickelten Kriterien wie beispielsweise Sicherheit, Kostenminimierung, Haltbarkeit, Schnelligkeit, praktische Bewahrtheit etc/^ Der Begrundungszusammenhang ist an dieser Stelle kaum von Bedeutung und die vorgeftmdene Realitat nur der Ausgangspunkt ftir die Erforschung von Gestaltungsmodellen moglicher zukunftiger Wirklichkeiten. „ Gestaltungsmodelle sind Darstellungen komplexer Systeme, welche die fiir das Verhalten des Systems relevanten Komponenten und Aspekte wiedergeben und aufzeigen, wie das System auf mogliche Eingrijfe voraussichtlich reagieren wird. "^ Im Vergleich zu den Grundlagenwissenschaften geht es also nicht um die Gultigkeit geeigneter Theorien und Hypothesen, deren Wahrheitsgehalt durch Uberpriiftmgen der beobachtbaren Realitat festzustellen ist, sondem um die praktische Anwendbarkeit, den Nutzen sowie auch Schaden eines potenziellen Gestaltungsmodells, welches in gewissem Sinne an der Realitat getestet werden muss. Dies erft)lgt jedoch im Rahmen eines Anwendungszusammenhangs, dessen Untersuchung die zentrale Aufgabe der angewandten Wissenschaften darstellt. Die eingesetzte Empiric richtet sich auf das Erfassen gangiger Praxisprobleme und die Bewertung des jeweiligen Gestaltungsmodells durch dessen Umsetzung aus/^ Fiir die angewandten Wissenschaften ist der Anwendungszusammenhang der wissenschaftlichen Erkenntnisse die Praxis selbst. Dort entstehen die Probleme und werden die erarbeiteten Losungen umgesetzt und auf ihren Erfolg hin untersucht. Der Begriff „Praxis" umfasst menschliches Handeln (Verhalten) im Kontext komplexer sozialer und natiirlicher Systeme, wobei sich die Komplexitat durch die hohe Verhaltensvarietat des einzelnen Menschen als grundlegendes Element eines sozialen Systems ergibt. Deshalb sind ftir die Umsetzung der Erkenntnisse angewandter Wissenschaften eine sinnvolle Abgrenzung des untersuchten sozialen Systems und die Anerkennung der Komplexitat dieses Systems bezogen auf die wahrgeVgl. Schneidewind 1998, S. 24. Vgl. ausfuhrlich Ulrich 1984, S. 168 ff. Vgl. Lenk 1979, S. 141 ff. Ulrich 1984, S. 184. Vgl. Ulrich 1984, S. 170 ff

1.5 Wissenschaftstheoretische/forschungsprogrammatische Grundlagen

16

nommene Wirklichkeit bedeutend und unabdingbar. Eine Moglichkeit fur die Abgrenzung solcher Systeme bezogen auf Umfang und Zeit sind die Auswirkungen, die von einer angestrebten Problemlosung ausgehen konnen. „ Praxis ist nicht nur die einzelne Handlung des einzelnen Menschen oder der Institution, sondern sind auch die Wirkungen, die sich daraus auf das Ganze ergeben. ""^ Komplexitat ist somit als Grundvoraussetzung ftir jede Untersuchung eines Anwendungszusammenhangs anzuerkennen und grundsatzliche Grenzen des Wissen-Konnens zu akzeptieren. Daraus ergeben sich bedeutende forschungsmethodische Schlussfolgerungen. Angewandte Wissenschaften miissen nach Ulrich die Wertbezogenheit menschlichen Denkens und Handelns im Rahmen ihrer Forschung berucksichtigen und den handelnden Menschen des untersuchten sozialen Systems moglichst in die Entwicklung eines Gestaltungsmodells ftir die zu verandemde Wirklichkeit einbeziehen/^ In der Tabelle 2 werden die wesentlichen Unterschiede zwischen den Grundlagenwissenschaflen und angewandten Wissenschaften noch einmal zusammengefasst dargestellt. Unterscheidungskriterien

Grundlagenwissenscliaften

Angewandte Wissenschaften

Problem

Entstehung im Theoriezusammenhang

Entstehung im Praxiszusammenhang

Ziel

allgemeine Theorien zur Erklarung bestehender Realitaten

Regeln und Modelle zur Schaffung neuer Realitaten

Praxisbezug

akzessorisch

konstitutiv: Ermoglichung eines wissenschaftlich fundierten Handelns in der Praxis

Realitat

Untersuchungsobjekt

Ausgangspunkt fiir Untersuchung zukiinftiger Realitaten

Empiric

Priifung von Hypothesen

Erfassung typischer Probleme der Praxis; Priifung von Gestaltungsmodellen

BegrQndungszusammenhang

Ubemahme aktueller Nutzenvorstellungen der Praxis

Untersuchung des jeweiligen Anwendungszusammenhangs

Tabelle 2: Unterschiede zwischen Grundlagenwissenschaft und angewandter Wissenschaft^*

Diesbeziiglich stellt sich nun die Frage, warum das der Arbeit zugrunde liegende Forschungsprojekt den angewandeten Wissenschaften zugeordnet werden kann? Ausgangspunkt des Projekts waren die Lieferantenketten des Untemehmens Volkswagen und damit einhergehend die bestehenden Beschafflingsstrukturen und -prozesse. Grundlage jedes einzelnen Beschafftingsvorgangs ist die Entscheidung des Einkaufers, einen bestimmten Lieferanten ftir ein Angebot auszuwahlen (Handeln). Diese Entscheidung basiert auf im System festgelegten Auswahlkriterien wie Preis, Lieferzuverlassigkeit usw. Die der Entscheidung zugrunde liegenden Beschafftingsstrukturen und -prozesse (Realitat) sind der Ausgangspunkt ftir die Entwicklung moglicher Gestaltungsmodelle zur Integration umweltbezogener und sozialer Standards als zusatzliche Entscheidungskriterien (zukunftige Realitat). Damit wird versucht, ftir eine zu-

Ulrich 1984, S. 177. Vgl. Ulrich 1984, S. 175 ff. Angelehnt an Ulrich 1984, S. 179.

1 Einleitung

17

kiinftige Realitat Aspekte Nachhaltiger Entwicklung in die Lieferantenbeziehungen des Volkswagen Konzems zu integrieren. Die praktische Anwendbarkeit, der Nutzen bzw. Schaden des entwickelten Integrationskonzeptes konnen anhand der Wirksamkeit auf die Etablierung von Umwelt- und Sozialstandards bei Lieferanten gemessen werden. Anwendungszusammenhang ist das existierende Beschaffungsmanagement bei Volkswagen als soziales System. Durch die Beschrankung der Untersuchung auf die Volkswagen AG erfolgt eine Abgrenzung des Systems gegeniiber anderen Branchen auf die Automobilindustrie, als auch gegeniiber anderen Automobilherstellem auf einen bestimmten Original Equipment Manufacturer^' (OEM). Innerhalb des Untemehmens beschrankt sich das Projekt auf das Beschaffungsmanagement als Teilfunktion des Untemehmens und in dem Kontext auf die Auswahl eines Lieferanten fiir die Beschaffling von Fahrzeug-Serienteilen. Das Projekt untersucht, wie die einzelnen Schritte sowie die Gesamtstrukturen und die Verantwortlichkeiten des Ablaufs verandert werden miissen, um umweltbezogene und soziale Standards als Entscheidungskriterien in den Prozess einzubauen. Die von Ulrich fur angewandte Wissenschaften geforderte Beriicksichtigung der Wertbezogenheit menschlichen Denkens und Handelns sowie die Einbeziehung der am Prozess beteiligten Menschen in die Entwicklung eines Gestaltungsmodells zur Umsetzung der Standards erfolgt ftir das Projekt im Rahmen eines Aktionsforschungsansatzes als grundlegende Forschungsmethodik.^® 1.5.3 Kategorien und Instnimente praxisbezogener Forschungsergebnisse Nach Ulrich gibt es grundlegend vier Formen praxisbezogener Forschungsergebnisse im Rahmen einer anwendungsorientierten Betriebswirtschaftslehre:'' 1. Ergebnis: Fiir das Ergebnis erarbeitet der Wissenschaftler als Berater oder Experte inhaltliche Losungen konkreter Praxisprobleme fiir den Praktiker. Hierbei wird das Problem gedanklich vorweggenommen und versucht, auf dem Papier zu losen. 2. Methode: Bei dieser Form wird das Problem inhaltlich nicht gelost, sondem der Wissenschaftler stellt lediglich Losungsverfahren fur konkrete Praxisprobleme bereit, die vom Praktiker noch angewendet werden miissen. Es geht somit um Vorgehensweisen fiir die Entwicklung von Problemlosungen in der Praxis. 3. Konzept: Bei einem Konzept entwirft der Wissenschaftler Gestaltungsmodelle einer moglichen zukiinftigen Wirklichkeit fiir die Veranderung sozialer Realitat zur Realisierung durch den Praktiker. Die Perspektive der angewandten Wissenschaft ist ausgerichtet auf Fragen der zukiinftigen Gestaltung ganzer komplexer Systeme. 4. Regeln: Der Wissenschaftler legt die Regeln fiir die Entwicklung und Anwendung von Gestaltungsmodellen in der Praxis fest. Diese Regeln beinhalten Antworten auf

In der Arbeit werden die Begriffe „Original Equipment Manufacturer" und „Automobilhersteller" synonym fiireinander verwendet. Siehe dazu ausfuhrlich Kapitel 3. Vgl. Ulrich 1984, S. 180.

1.5 Wissenschaftstheoretische/forschungsprogrammatische Grundlagen

18

die Frage, nach welchem Schema Problemlosungen in der Praxis erarbeitet werden sollen. Stellt man diese Formen praxisbezogener Forschungsergebnisse gegeniiber, ergibt sich folgendes Bild, dargestellt in Tabelle 3. Die Unterscheidung der einzelnen Formen praxisbezogener Forschungsergebnisse im Rahmen einer anwendungsorientierten Betriebswirtschaflslehre basiert auf der Art (Inhalt), dem Ort und der Perspektive der jeweiligen Problemlosung. Problemldsung

Ergebnis

Methode

was gedanklich auf dem Papier aktuelle und einzelne Probleme

wie in der Praxis

Konzept

was gedanklich auf dem Papier zukunftige GestalPerspektive aktuelle und eintung komplexer Praxisbezug zelne Probleme Systeme Tabelle 3: Vergleich Formen praxisbezogener Forschungsergebnisse" Art Ort

Vorschriften wie in der Praxis zukunftige Gestaltung komplexer Systeme

Anhand dieser Ubersicht lasst sich erkennen, in welche Form die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit eingeordnet werden konnen. Ziel war es, eine grundlegende Systematisierung" zu entwickeln, wie Umweh- und Sozialstandards iibergreifend in Lieferantenketten umgesetzt werden konnen. Somit ergibt sich eindeutig die Zuweisung der vorliegenden Forschungsergebnisse in die dritte Kategorie „Konzept". Das im Rahmen des Forschungsprojektes erarbeitete Konzept zur Umsetzung von Nachhahigkeit in Lieferantenbeziehungen beschreibt, was innerhalb der bestehenden Beschaffungsstrukturen und -prozesse geandert werden muss, um okologische und soziale Aspekte bei der Bewertung, der Auswahl, dem Monitoring und der Entwicklung von Lieferanten systematisch beriicksichtigen zu konnen. Es geht somit um die zukiinftige Neugestaltung eines komplexen Systems, des Beschaffungsmanagements, durch die Einbeziehung des Nachhaltigkeitsansatzes in alle Geschaftsbereiche eines Untemehmens und speziell fur eine Verantwortungsubemahme beziiglich des Verhahens von Lieferanten im Sinne einer Nachhahigen Entwicklung. Die erarbeiteten Konzeptbausteine wurden abschlieBend schrifllich in Form eines Projektabschlussberichtes festgehalten. Dieser dient als Grundlage fur die sich anschliefiende Ausgestaltung der praktischen Umsetzung, die wiederum die Frage nach den Methoden fur die Entstehung praxisbezogener Forschungsergebnisse beantworten soil. Jener Teil war jedoch nicht Inhalt des Forschungsprojektes, weshalb an dieser Stelle nicht weiter darauf eingegangen werden soil. Ansatze dazu sind jedoch sowohl in der Beschreibung des Projektverlaufs (siehe Kapitel 3.5.3.1) als auch in den Ausfuhrungen zu den Forschungsergebnissen (siehe Kapitel 4) immer wieder zu fmden.

Angelehnt an Ulrich 1984, S. 180. Vgl. Seghezzi 1996, S. 1198; Pischon 1999, S. 98.

2 Konzeptionelle Grundlagen

2.1

Nachhaltige Entwicklung

Bereits seit Anfang der 90er Jahre gewinnt das Leitbild einer globalen Nachhaltigen Entwicklung fiir Untemehmen an Bedeutung, obwohl es erst in letzter Zeit durch demographische Entwicklungen, Bilanzskandale und eine verscharfte Klimaschutzpolitik verstarkt von der Offentlichkeit wahrgenommen wird. Auch am Finanzmarkt soil das Thema in den nachsten zehn Jahren erheblich an Bedeutung gewinnen.*" Nachhaltigkeit flir Untemehmen beinhaltet unter anderem das friihzeitige Erkennen von Risiken und das Ergreifen entsprechender vorbeugender MaBnahmen. Vor allem ftir unmittelbar von der Globalisierung, der Kohlenstoffdioxid(C02)-Diskussion und der Ressourcenknappheit betroffene Branchen, wie beispielsweise die Automobilindustrie, spielt Nachhaltigkeit heutzutage eine herausragende Rolle."

Nachhaltigkeit gehort demzufolge in der heutigen Zeit zu einem haufig benutzten Begriff innerhalb gesellschaftlicher Diskussionen.*^ Ausgangspunkt des Ansatzes einer Nachhaltiger Entwicklung" ist die Wahmehmung globaler okologischer Umweltprobleme und weltweit wachsender sozialer Armutsprobleme als Ergebnisse wirtschaftlicher Entwicklungsprozesse und Teile einer einzigen Krise systematisch miteinander verkniipft.'* Es stellt eine normative Leitidee zur Erweiterung des Verantwortungsbegriffs auf die globalen Entwicklungsbedingungen der Menschheit dar und basiert auf der Annahme, dass okologische, okonomische und soziale Probleme integriert mit neuen handlungsleitenden Strategien gelost werden miissen.^' In den folgenden Kapiteln soil dem Leser ein Grundverstandnis von Nachhaltigkeit vermittelt und das Konzept beziiglich des RoUenverstandnisses von Untemehmen im Rahmen der Umsetzung der regulativen Nachhaltigkeitsidee untersucht werden. Somit liegt der Schwerpunkt des Betrachtungsfokus auf der Bedeutung des Konzeptes fur die Untemehmensebene. 2.1.1 Definition von Nachhaltigkeit Der Begriff der Nachhaltigkeit stammt aus der Forstwirtschaft und sagt aus, dass Rodung und Wiederbepflanzung in einem ausgeglichenen Verhaltnis stehen miissen, damit der folgenden Generation die gleiche Menge an schlagreifen Baumen zur Verfugung steht.^ Der Begriff taucht zum ersten Mai im Zusammenhang mit Veroffentlichungen der Intemational Union for Vgl. Fuchs 2004. Vgl. World Business Council for Sustainable Development (WBCSD) 2004, S. 12 ff. Siehe beispielsweise die Beitrage in Schneidewind et al. 2003. In der folgenden Arbeit wird entweder der englische Begriff „Sustainable Development" oder die deutsche Ubersetzung „Nachhaltige Entwicklung" verwendet. Beide stehen synonym fiireinander. Vgl.Hauffl987,S.4. Vgl. Brand etal. 2001, S. 2. Vgl. Niedersachsisches Umweltministerium 1997, S. 3.

20

2.1 NachhaltigeEntwicklung

Conservation of Nature and Natural Resources (lUCN) in der Wortkombination „Sustainable Economic Development" auf, welche eine an der Endlichkeit bzw. begrenzten Reproduktionsfahigkeit natiirlicher Ressourcen, der Regeneration von Okosystemen und dem Schutz der Artenvielfalt orientierte Wirtschaftsentwicklung bezeichnet.^' Die erste populare und allgemein anerkannte und pragende Definition von „Sustainable Development" vmrde 1987 im Abschlussbericht „Our common future" von der Brundtland-Kommission im Rahmen der Weltkommission fur Umwelt und Entwicklung (WCED) abgegeben: „ Sustainable Development is a development that meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs."". Ubersetzt bedeutet dies, dass Nachhaltige Entwicklung die Bediirfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass zukiinftige Generationen ihre eigenen Bediirfnisse nicht befriedigen konnen." Dieses Konzept bildete zum ersten Mai die Grundlage einer integrativen globalen Politikstrategie.^ Die Kommission erhob diesen Begriff zum Ausgangspunkt eines ersten konzeptionellen Ansatzes zur Losung okologischer, okonomischer und sozialer Probleme. Gleichzeitig bleibt diese Definition jedoch sehr offen und interpretationsbediirflig. Seit dieser Zeit entstanden daraus noch eine Reihe weiterer Definitionen fiir Nachhaltige Entwicklung, in denen verschiedene Autoren ihr eigenes VerstSndnis von Nachhaltigkeit mit Hilfe unterschiedlichster Aspekte betonen." Kastenholz, Erdmann und Wolff stieBen bei der Durchsicht entsprechender Literatur auf uber sechzig verschiedene Definitionen. Diese Vielfalt ist auf unterschiedliche Wissenschaflsdisziplinen, verschiedene Naturverstandnisse, Wertvorstellungen und Interessen zuriickzufiihren.^ Die anschliefiende Tabelle 4 beinhaltet eine kurze Ubersicht unterschiedlicher Vorstellungen von Nachhaltiger Entwicklung in der Literatur und zeigt dabei gleichzeitig die Spannbreite und die daraus resultierende Gefahr der Beliebigkeit des Nachhaltigkeitsbegriffs auf.

Vgl. Rees 1992, S. 18 ff.; Kopfmiiller, 1993, S. 6 ff. The World Commission on Environment and Development (WCED) 1987, S. 43; Enquete-Kommission 1998,8.28. Vgl.Haufn987,Vorwort. Vgl. Umweltbundesamt (UBA) 1997, S. 4. Vgl. Lison 2002,8.19. Vgl. Kastenholz et al. 1996, 8. 1.

2 Konzeptionelle Gnindlagen

21

Schwerpunkt

Typische Definition

Wichtige Vertreter

Erhaltung des natiirlichen Kapitalstocks

Sustainable Development beschreibt eine gesellschaftliche Entwicklung unter der Bedingung nicht negativer Veranderungen des natiirlichen Kapitalstocks wie Boden und Bodenqualitat, Wasser und Wasserqualitat, Land- und Wasserbiomasse sowie der Fahigkeit zur Regeneration und Assimilation von Abfallen in der jeweiligen Umweh. Ein Leben innerhalb des Umweltraums, d. h. der Menge an Energie, Rohstoffen, Wasser, landwirtschaftlichen Flachen usw., die von der Menschheit dauerhaft genutzt werden kann, ohne dabei die Gnindlagen zukiinftigen Lebens zu zerstoren. Eine Entwicklung, die die Bediirfhisse der Gegenwart einlost, ohne die Fahigkeit der zukiinftigen Generationen, ihre Bediirfnisse zu erfiillen, zu beeintrachtigen. Ein optimales Ressourcen- und Umweltmanagement im Zeitablauf verlangt ein anhaltendes Wirtschaftswachstum unter der Bedingung, die Dienste und Qualitat der natiirlichen Ressourcen zu erhalten.

Pearceetal. 1988; Stephan 1990; Ayres 1994

Erhaltung des Umweltraums

Intergenerative Gerechtigkeit Konstanter und steigender Wohlstand

OkologischDauerhafte Entwicklung schlieBt [...] eine umweltgerechte, okonomischan der Tragekapazitat der okologischen Systeme ausgerichtesoziale Vemetzung te Koordination der okonomischen Prozesse ebenso ein, wie entsprechende soziale Ausgleichsprozesse zwischen den in ihrer Leistungskraft immer weiter divergierenden Volkswirtschaften Tabelle 4: Vorstellungen von Nachhaltiger Entwicklung

Sustainable Netherlands 1992;WuppertalInstitut 1996 Pearce 1987; EnqueteKommission 1994; Brundtland-Bericht 1987 Brundtland-Bericht 1987; Barbier 1989; Internationale Handelskammer 1991 SRU 1994

Eine schlussige Systematisierung der unterschiedlichen Definitionen ist schwer mdglich, jedoch lassen sich aus der Fiille von Nachhaltigkeitsdefinitionen zusammenfassend vier wesentliche und fur alle Definitionen giiltige Erkenntnisse ableiten:^' 1.

Der Schlussel fur die Gestaltung nachhaltiger Entwicklungsprozesse liegt in der Auseinandersetzung mit den menschHchen Bediirfhissen

2.

sowohl gegenwartiger als auch zukiinftiger Generationen (intergenerative Gerechtigkeit).

3.

Gleichzeitig ist hiermit die Forderung nach einem Ausgleich zwischen Industrie- und Entwicklungslandem verbunden (intragenerative Gerechtigkeit) und

4.

die Einsicht, dass okonomische, soziale und okologische Entwicklungen notwendigerweise als eine innere Einheit zu sehen sind (integrativer Aspekt).

Ein zweiter wichtiger Schritt war die United Nations Conference on Environment and Development (UNCED) in Rio de Janeiro im Juni 1992, welche von den Vereinten Nationen aufgrund des Brundtland-Berichtes einberufen wurde.^* Sie war das Symbol eines neuen Bewusstseins fiir die gemeinsame Verantwortung der Weltgesellschaflen und gleichzeitig die Forderung nach weltweiten MaBnahmen in der Umwelt-, Entwicklungs-, Sozial- und Wirt-

Vgl.Hauffl987,S.46. Vgl. UBA 1997, S. 3; Muller-Christ 2001, S. 49.

22

2.1 NachhaltigeEntwicklung

schaflspolitik von 178 Staaten.**' Man hatte erkannt, dass die Erhaltung der natiirlichen Lebensgrundlagen des Menschen ein groBes AusmaB an intemationaler Zusammenarbeit, sowie die Integration entwicklungspolitischer Aspekte erfordert. Als Ergebnis dieser Konferenz konnten konzeptionelle Grundlagen fur eine qualitativ neue Zusammenarbeit in der Umweltund Entwicklungspolitik verzeichnet werden.^° Aufgrund fehlender Existenz einer gemeinsamen einheitlichen Definition wird auch in Deutschland noch iiber die Interpretation und Operationalisierung von Nachhaltiger Entwicklung gestritten. Die Auffassungen dariiber, wie eine Nachhaltige Entwicklung angestoBen und unterstiitzt werden kann, sind sehr unterschiedlich. Gesellschaflliche Vorstellungen sind stark zeit- und situations-, als auch kultur- und wissensabhangig. Gleichzeitig besteht ein Abhangigkeitsverhaltnis beziiglich Problemfindungen und Schwerpunktsetzungen von dem jeweiligen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungsstand. Weiterhin spielen auch die Komplexitat des Leitbildes, die Ressourcenausstattung und die jeweiligen individuellen Bediirfhisse eine entscheidende Rolle. Daraus lasst sich schlussfolgem, dass es kaum moglich sein wird, den Begriff Nachhaltige Entwicklung weltweit einheitlich, fur alle Situationen und Handlungsakteure geltend, zu definieren. 2.1.2 Dimensionen Nachhaltiger Entwicklung und ihre Ziele In der Nachhaltigkeitsdebatte hat sich ein „Drei-Saulen-Ansatz" („tripple bottom line"^') durchgesetzt, welcher Nachhaltige Entwicklung in eine okologische Funktionalitat, eine okonomische Effizienz und eine soziale Verantwortung untergliedert.^^ Dieser ist zum ersten Mai im Rahmen der Brundlandt-Kommission offiziell benannt worden.'^ Alle drei Dimensionen sind in Abbildung 2 im Verhahnis zueinander dargestellt. Die okologische Dimension befasst sich mit dem Schutz der natiirlichen Lebensgrundlagen, das heiBt der schonenden Nutzung natiirlicher Ressourcen und der Sicherung fur nachfolgende Generationen. Bei der okonomischen Dimension geht es um die Zunahme und langfristige Sicherung des Wohlstandes und um die Entwicklung und Verstarkung intelligenter, weitsichtiger Formen des Wirtschaflens, in denen sich Ressourcenschonung mit Lebensqualitatssicherung oder -vermehrung verbindet. Die soziale Dimension beinhaltet die Entwicklung zukunftsfahiger Lebensstile, Freiheits- und weitere soziale Rechte, die langfristige Sicherung sozialer Systeme, die Festigung demokratischer Strukturen sowie die Frage der gerechten Verteilung von Wohlstand zwischen den heute lebenden und den zukiinftigen Generationen, aber auch Fragen zu Bildung und Gesundheit.

^' '' '• ^^

Vgl. Enquete-Kommission 1998, S. 27. Vgl.UBA1997,S.3. Vgl. Elkington 1997. Bisher besteht jedoch in der Nachhaltigkeitsdebatte kein Konsens, ob die politisch-institutionelle Dimension als eine eigenstandige vierte Saule gesehen werden kann, die gleichrangig neben den drei anderen Saulen steht Oder nicht. " Vgl. WCED 1987.

2 Konzeptionelle Grundlagen

23

Maximal mogliche soziale Verbesserungen

Minimal mdgliche soziale Verbesserungen

Minimal mfigliche dkologische Verbesserungen

Minimal mdgliche dkonomische Verbesserungen

Maximal mdgliche dkologische Verbesserungen

Okologie

Maximal mdgliche dkonomische Verbesserungen

Okonomie

Abbildung 2: Die drei Dimensionen einer Nachhaltigen Entwicklung'^

Die Aufstellung von strategischen Zielen ist der erste Schritt auf dem Weg zu einer Operationalisierung des Leitbildes Nachhaltiger Entwicklung. Mit Hilfe klar definierter Zielvorgaben wird es moglich, Handlungskonzepte und MaBnahmen zur Umsetzung dieses Leitbildes zu entwickeln.'^ Allerdings sind Nachhaltigkeitsziele und Umsetzungsvorschlage bisher nur sehr allgemein formuliert worden und miissen auf die entsprechenden untersuchten Sachverhalte angepasst werden. Das Gesamtziel einer Nachhaltigen Entwicklung stellt neben dem Erhalt der gesunden natiirlichen Umwelt auch die Festigung bzw. Schaffung gesunder wirtschaftlicher und sozialer Gesellschaftsbedingungen dar. Daraus ergibt sich als Voraussetzung ftir eine Nachhaltige Entwicklung, dass es zu einer Abstimmung zwischen wirtschafllichen, sozialen und okologischen Zielen kommen muss. Zwischen den einzelnen Dimensionen bestehen komplexe Zusammenhange. Es ist zu beachten, dass die drei Zieldimensionen nicht nur einzeln betrachtet und miteinander abgeglichen werden, sondem die Entwicklung einer alle drei Dimensionen iibergreifenden Perspektive von besonderer Bedeutung ist.^^ 2.1.2.1 Ansatze fur das Verstandnis Nachhaltiger Entwicklung Bei der Formulierung von Nachhaltigkeitszielen kann zwischen zwei Ansatzen unterschieden werden:^^ Der erste Ansatz geht von einem in der okonomischen Umwelttheorie vorherrschenden naturwissenschaftlich-technischen Begriffsverstandnis aus7* Hier spielen vor allem

Empacher/Kluge 1999, S. 88. Vgl.Oko-Institutl999,S. 1. Vgl. Enquete-Kommission 1998, S. 32. Vgl. Kanning/Miiller 2001, S. 16 f. Vgl. Hiibscher/Muller 2001, S. 366.

24

2.1 Nachhaltige Entwicklung

Forderungen nach moglichst konkreten Umwelt-Qualitatszielen eine Rolle, die angestrebte Zustande oder Eigenschaften der Umwelt beinhalten.^' Jenen schlieBen sich Handlungsziele an. In ihnen werden Mafinahmen in quantifizierbarer und messbarer Form benannt, die es ermoglichen sollen, den in den Qualitatszielen beschriebenen Zustanden oder Eigenschaften der Umwelt naher zu kommen.*" Auch wenn die einzelnen Konzepte, die diesem Ansatz entsprechen, sehr verschieden in ihrem methodischen Vorgehen sind, so wird von alien Autoren jedoch recht einheitlich die Reduzierung des durchschnittlichen Umweltverbrauchs um einen Faktor vier bis zehn als Ergebnis fur eine Nachhaltige Entwicklung gefordert.*' Jener Ansatz soil an der Stelle nicht weiter ausgeftihrt werden, da er im Rahmen der Arbeit keine Bedeutung hat und nur zur besseren Einordnung des folgenden Ansatzes in die Nachhaltigkeitsdiskussion dient. Der zweite Ansatz behandelt den Begriff Nachhaltige Entwicklung als regulative Idee", das heiBt „als ein Orientierungsmuster, das gesellschaftliche Entwicklungs- und Suchprozesse leitet, ohne operationalisierbare Handlungsziele vorzugeben. "". Die relative Unbestimmtheit dieser regulativen Idee wird immer wieder zum Gegenstand gesellschafllicher Diskurse gemacht, aus denen „gesellschaftlich geteilte" Werte (wie z. B. die intemationalen Normen der International Labour Organisation (ILO) oder der Global Compact**) hervorgehen sollen. Ziel ist die Institutionalisierung von Such- und Lemprozessen, die einen okologischen Strukturwandel und gewiinschte Verbesserungen der sozialen Rahmenbedingungen nach sich ziehen. Dafur ist es notwendig, Werthaltungen zu verandem und ein neues Wohlstandsmodell, basierend auf einem rechten Mal3 fur Raum und Zeit sowie einem optimalen Ausgleich zwischen Effizienz und Suffizienz (siehe Kapitel 2.1.3.3), zu entwerfen." Nachhaltigkeit soil auf diesem Wege im Rahmen eines gesellschaftlichen Lemprozesses gefunden werden.**^ „ Was Sustainability ist bzw. was sinnvoll darunter verstanden werden kann, wird man erst am Ende eines jahrzehntelangen Such-, Lern- und Erfahrungsprozesses genauer, wenn auch nie deflnitiv wissen. "*^ Bei der Untersuchung und Diskussion Nachhaltiger Entwicklung geht es hier weniger um numerische und quantifizierte normative Zielsetzungen, als um qualitative Zielvorstellungen in Form von Leitbildem (siehe Kapitel 2.1.3.2), die insgesamt auf die Erhaltung von Entwicklungsprozessen und Innovationsfahigkeit ausgerichtet sind.** Man geht davon aus, dass eindeutige Losungsoptionen fur komplexe und dynamische Probleme im Rahmen einer Nachhaltigen Entwicklung nicht bestandsfahig sind und entsprechende Moglichkeiten ^' *° *' *2 " ^ *' *' " **

Vgl. ReesAVackemagel 1992; Friends of the Earth Netherlands 1994; Schmidt-Bleek 1994. Vgl. Enquete-Kommission 1998, S. 34 f. Vgl. Spangenberg 1996, S. 205. Vgl.Minschetal. 1998. Schneidewind et al. 1997, S. 183. Siehe dazu ausfiihrlich Kapitel 2.1.5.4. Vgl.Muller2004,S.7. Vgl. Hiibscher/Miiller 2001, S. 367. Homann 1996, S. 37. Vgl. Enquete-Kommission 1998, S. 33.

2 Konzeptionelle Grundlagen

25

einem kontinuierlichen Anpassungsprozess unterliegen.*' Dafur werden weiche Steuerungsinstrumente wie Informationen der Beteiligten, Partizipation, Diskussionsrunden, Koordination, Kooperation etc. einbezogen, um eine Vorstellung zu erarbeiten, was Nachhaltigkeit in verschiedenen Situationen bedeuten kann. Voraussetzung ftir die Ausgestaltung und Umsetzung des Leitbildes Nachhaltiger Entwicklung ist die Einbeziehung unterschiedlichster gesellschafllicher Anspruchsgruppen (Stakeholder) (siehe Kapitel 2.1.6), um im Rahmen umfassender Diskursprozesse differenzierte Anspriiche der verschiedenen Gruppen zusammenzutragen und gemeinsame Wege fur eine Nachhaltige Entwicklung zu identifizieren.^ Insgesamt konnen jedoch nicht alle Diskussionen um eine Nachhaltige Entwicklung einem dieser zwei Ansatze zugeordnet werden*", da sie nicht immer das zugrunde liegende Verstandnis einer Nachhaltigen Entwicklung genau genug spezifizieren.'^ Trotzdem ist deutlich geworden, dass beide Ansatze als Komplementare versuchen, auf unterschiedlichste Weise Nachhaltigkeit zu erreichen. Im Rahmen des Projektes wurden vor allem Grundlagen der regulativen Idee bei der Entwicklung des Konzeptes beriicksichtigt. Der Prozess zur Findung von Nachhaltigkeitspotenzialen in der Beschaffung von Volkswagen wurde deshalb durch einen kontinuierlichen Diskurs mit ausgewahlten intemen Anspruchsgruppen (betroffenen Organisationseinheiten) und zum Teil extemen Anspruchsgruppen (Lieferanten und Bildung/Forschung) begleitet. Dieser Such- und Lemprozess wurde genutzt, um aus Einzelgesprachen und Workshops die Nachhaltigkeitsanforderungen von Volkswagen an Lieferanten zu bestimmen und um Wege und MaBnahmen einer Integrationsstrategie identifizieren bzw. ableiten zu konnen. Durch die Beteiligung intemer Anspruchsgruppen sollte eine allgemeine Akzeptanz fur den Prozess und die Ergebnisse des Gesamtprojektes erreicht werden. 2.1.2.2 Ziele als Motoren einer Nachhaltigen Entwicklung Ziele konnen gleichzeitig ausschlaggebender Impuls aber auch ein mogliches Ergebnis von Nachhaltigkeitsdiskursen sein. Dies ergibt sich aus der Tatsache, dass Such- und Lemprozesse einerseits aus dem Wunsch heraus, Wege fur die Umsetzung eines bestimmten Nachhaltigkeitsziels zu suchen, geboren werden und andererseits als Werkzeug zur Verstandigung und Einigung auf gemeinsame und verbindliche Nachhaltigkeitsziele gesellschafllicher Anspruchsgruppen ftir ein bestimmtes Thema einsetzbar sind.'^

Vgl. Homann 1996, Schneidewind et al. 1997; Kumar/Graf 2000, Gartner 2003. Vgl. Muller 2004, S. 7; Seuring et al. 2003. Siehe beispielhaft Zabel 1999b. Vgl. Muller 2004, S. 8. Siehe als Beispiel Seuring et al. 2003.

26

2.1 Nachhaltige Entwicklung

An dieser Stelle ist es notwendig, die Begriffe Leitbild, Strategic und Ziele gegeneinander abzugrenzen.'"* „Leitbilder dienen der Komplexitatsreduktion, leiten den Umgang mit Unsicherheit, dienen der Identitdtsstiftung und ermoglichen gemeinschaftsbezogene Entscheidungen. Sie konnen auch die Zukunftsperspektive beriicksichtigen. In der Leitbildfunktion lassen sich iibergreifende Zusammenhdnge erfassen, Ziele [...] formulieren, wobei dem Zukunftsaspekt dadurch Rechnung getragen wird, dafi die Ziele vage, skizzenhaft, bildhaft formuliert werden, so dafi ein angemessener Handlungsspielraum offen bleiben kann. "^^ Im Gegensatz dazu lassen Strategien erkennen,,,[...] wie ein Unternehmen seine bestehenden und seine potentiellen Stdrken dazu benutzt, Umweltbedingungen und deren Verdnderungen gemdfi den unternehmerischen Absichten zu begegnen. "^ Absichten kennzeichnen nach Kreikebaum dabei die langfristige Ausrichtung der Untemehmenspolitik. Wahrend Absichten Art und Richtung der Untemchmcnszicle (den Ziclinhalt) fcstlcgcn, beinhaltct die im glcichen Zusammenhang verwendetc Definition des Begriffs Ziele Jediglich die genaue Quantifizierung von Absichten" und somit nur das ,,Zielausmafi als Zielerfiillungsgrad".^'' Anhand der Definitioncn lasst sich ableiten, dass sich Strategien und ebenso Ziele aus der vorherigen Definition von Leitbildem ergeben (siehe Abbildung 3). Weiterhin ist es notwendig, die Dualitat zwischen einem Ziel und dem zugehorigen Prozess aufzuzeigen (siehe ebenfalls Abbildung 3). Aus einem erkannten Problem ergibt sich die zwingende Notwendigkeit, Ziele zu formulieren, die als Grundlage fur den Prozess der L6sungsfindung dieses Problems dienen und diesen gleichzeitig anstofien. Durch die in den Zielen enthaltenen Informationen werden die anzustrebenden Ergebnisse, die durch den Prozess erreicht werden sollen, vorgegeben. Im Laufe dieses Prozesses ergeben sich durch den L6sungsversuch des Problems emeut Auswirkungen auf sowohl die prozessauslosenden Ziele als auch das vorgelagerte Problem selbst. Dadurch werden diese jeweils verandert und eine neue Kette „Problemdefinition - Zielformulierung - Prozessdurchfiihrung" wird in Gang gesetzt. Ziele entstehen somit einmal wahrend des Entwicklungsprozesses von Problemlosungen und gleichzeitig als Ergebnis der Umsetzung von Leitbildem in Strategien und deren konkreter Ausgestaltung. Als Ergebnisse der Diskursprozesse sind sie die grundlegenden Motoren fur die Umsetzung von Nachhaltigkeit.

Vgl. Kreikebaum 1993, S. 48 ff. Irrgang 1996, S. 22; weiterftihrend siehe auch Jakubowski 1999, S. 14 ff. Kreikebaum 1993, S. 52. Vgl. Kreikebaum 1993, S. 48 f

2 Konzeptionelle Grundlagen

27

Leitbild

A

1

1

T Strategic

A 1 Problem

>^

1 Y Ziel

Prozess

A

Abbildung 3: Entstehung von Zielen

Im Folgenden sollen nun fur eine bessere Strukturierung die einzelnen Dimensionen Nachhaltiger Entwicklung (okologisch, okonomisch und sozial) naher betrachtet und ihnen jeweils mogliche Ziele zugeordnet werden, die im Rahmen von Nachhaltigkeit eine Rolle spielen konnen. 2.1.2.3 Die okologische Dimension In der okologischen Dimension wird als Hauptziel die Substanzerhaltung und somit explizit die Bewahrung des gesamten Naturkapitals sowie die Wiederherstellung bzw. Bewahrung der vielfaltigen Funktionen der Natur definiert. Das bedeutet zum einen, den existierenden Bestand an natiirlichen Ressourcen so aufrechtzuerhalten, dass kunftige Generationen auf dieselbe produktive Kapazitat der natiirlichen Umwelt zuriickgreifen konnen.'* Zum anderen soil die Aufhahme- und Regulierungsfunktion der Umwelt nur innerhalb der Grenzen ihrer Belastbarkeit genutzt werden, um die natiirlichen Lebensgrundlagen nicht zu gefahrden. Somit ergibt sich als ein Grundproblem von Nachhaltigkeit der richtige Umgang mit den nicht regenerativen Ressourcen sowie den sonstigen vielfaltigen Funktionen der Umwelt. Bereits 1994 wurden von der Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt" des deutschen Bundestages okologische Nachhaltigkeitsregeln formuliert, die inzwischen allgemein anerkannt wurden:'' 1. Die Abbauraten emeuerbarer Ressourcen soil deren Regenerationsrate nicht iiberschreiten. Dies entspricht der Forderung nach Aufrechterhaltung der okologischen Leistungsfahigkeit, das heifit (mindestens) nach Erhaltung des von den Funktionen her definierten okologischen Realkapitals (Regeneration). 2. Nicht emeuerbare Ressourcen sollen nur in dem Umfang genutzt werden, in dem ein physisch und funktionell gleichwertiger Ersatz in Form emeuerbarer RessourVgl. Nutzinger/Radke 1995, S. 26. Vgl. Enquete-Kommission 1998, S. 46; Miiller-Christ 2001, S. 66; urspriinglich siehe Daly 1995.

28

2.1 Nachhaltige Entwicklung

cen Oder hoherer Produktivitat der emeuerbaren sowie der nicht emeuerbaren Ressourcen geschaffen werden kann (Substitution). 3. Stoffeintrage in die Umwelt sollen sich an der Belastbarkeit der Umweltmedien orientieren, wobei alle Funktionen zu beriicksichtigen sind; nicht zuletzt auch die Regulierungsfunktion (Anpassungsfahigkeit). 4. Das ZeitmaB anthropologischer Eintrage bzw. Eingriffe in die Umwelt muss im ausgewogenen Verhaltnis zum ZeitmaB der fur das Reaktionsvermogen der Umwelt relevanten naturlichen Prozesse stehen (Anpassungsfahigkeit). 5. Gefahren und unvertretbare Risiken fiir die menschliche Gesundheit durch anthropogene Einwirkungen sind zu vermeiden. Es ist deutlich zu erkennen, dass der Inhalt dieser grundlegenden Forderungen einer Zweiteilung unterliegt. Die ersten vier Regeln beziehen sich hauptsachlich auf die Funktionsfahigkeit des Naturhaushaltes und die Nutzungsfahigkeit von Naturgiitem. Die funfte Regel dagegen beinhaltet die menschliche Gesundheit und ist somit als Kriterium fiir nachhaltiges Handeln eigentlich der sozialen Dimension zuzuordnen. Trotzdem spielt das Thema Gesundheit auch fiir die okologische Dimension eine wesentliche Rolle. Anhand dieser okologischen Nachhaltigkeitsregeln lassen sich zusammenfassend drei ubergeordnete Bereiche fur okologische Nachhaltigkeitsziele ableiten: Ressourcennutzung, Stoffeintrage und Risiken. 2.1.2.4 Die okonomische Dimension Im Gegensatz zur okologischen Dimension der Nachhaltigkeit ist die okonomische Dimension aus mehreren Grunden umstritten.'^ Einerseits lassen sich kritische Belastungsgrenzen nicht ohne weiteres analog zum Okologischen defmieren, welche eine Art Mindeststandard okonomischer Nachhaltigkeit festlegen konnten.'®' Andererseits besteht kein Konsens bezuglich des Inhalts sowie des Stellenwertes der Okonomie in der Trias der Nachhaltigkeitsdimen-

Weit verbreitet - jedoch nicht ohne Kritik - ist die Ansicht, die auch die EnqueteKommission des Bundestages in ihrem Abschlussbericht „Konzept Nachhaltigkeit, vom Leitbild zur Umsetzung" vertritt. Nachhaltiges okonomisches Handeln diene demnach nicht dem okonomischen Selbstzweck, sondem musse im Dienste sozialer und insbesondere okologischer Zielsetzungen stehen.'"^ Daraus ist zu schlussfolgem, dass es sich bei der okonomischen Nachhaltigkeit, wie bei den anderen beiden Dimensionen auch, dem Wesen nach um einen integrierten Aspekt handelt. Hiermit wird nicht nur der Inhalt okonomischer Nachhaltigkeit grob vorgegeben, sondem gleichzeitig ihr Stellenwert herausgestellt. Einem Abwagen mogliVgl. Global Reporting Initiative (GRI) 2002, S. 1 ff. Auch wenn dies in der Literatur bereits ansatzweise versucht wurde.; vgl. Krol/Karpe 1999, S. 42. Vgl. Enquete-Kommission 1998, S. 48.

2 Konzeptionelle Grundlagen

29

cher Vorteile okonomischer Art sind Grenzen gesetzt, wenn von hohen daraus resultierenden okologischen oder sozialen Belastungen ausgegangen werden kann. Okonomische Nachhaltigkeitsaspekte und Zielvorstellungen, die sich aus den oben genannten Vorstellungen ergeben, unterscheiden sich von traditionellen wirtschaftlichen Zielsetzungen wie beispielsweise Wirtschaftswachstum, Gewinnmaximierung oder einzeluntemehmerische Erfolgssicherung.'"^ Diese sind zwar auch anzustreben, jedoch nur unter der Berucksichtigung okologischer und sozialer Folgen. Ein Ziel im Sinne Nachhaltiger Entwicklung stellt das Bediirfnis nach angemessenem Wirtschaftswachstums dar. Kritisch betrachtet, kann dieses Wachstum auf langfristige Sicht, zumindest in den Industrienationen, nur qualitativ sein. Qualitatives Wachstum in diesem Sinne zielt auf die Steigerung der Wohlfahrt bzw. Verbesserung der Lebensqualitat ab. Dafur wird eine starkere Gewichtung struktureller Komponenten der wirtschaftlichen Expansion vorausgesetzt, was erstens die Betrachtung von Okonomie und Okologie als interdependente Systeme und zweitens die Berucksichtigung sowohl nicht materieller als auch materieller Wohlfahrtskomponenten bedingt.'^ Um dies zu erreichen, muss eine Entkopplung von Ressourcenverbrauch und Wirtschaftswachstum stattfmden, da bei gleich bleibendem oder steigendem Ressourcenverbrauch sonst die Grenzen okologischer Belastbarkeit und Nutzbarkeit auf Dauer iiberschritten und somit gegen okologische Restriktionen verstoBen wiirde. Unmittelbar aus dem Ziel eines qualitativen Wachstums gehen weitere Teilziele hervor, deren Erftillung dafiir notwendig ist. Zum einen ist dies auf einer eher technischen Seite die Erhohung der wirtschaftlichen Effizienz, insbesondere der Ressourceneffizienz und damit verbunden der Innovationsrate, um effizientere Pfade einzuleiten, und zum anderen die Veranderung der Konsumgewohnheiten der Verbraucher, da sich die Effizienzstrategie nicht unausschopflich zeigt.'"' Weitere Regeln, die durch die Enquete-Kommission 1998 in die Diskussion gebracht wurden, beziehen sich auf folgende Punkte:*^ 1. Das okonomische System soil individuelle und gesellschaftliche Bedurfnisse effizient befriedigen. Dafiir muss die Eigenverantwortung gefordert und in den Dienst des Gemeinwohls sowie ubergeordneter Interessen gestellt werden, um das Wohlergehen der derzeitigen und zukiinftigen Bevolkerung zu sichem. 2. Preise miissen dauerhaft die wesentliche Lenkungsfunktion auf Markten wahmehmen. Sie sollen dazu weitestgehend die Knappheit der Ressourcen, Senken, Produktionsfaktoren, Giitem und Dienstleistungen widerspiegeln (Vermeidung extemer Kosten).

Vgl. Vgl Vgl. Vgl.

Rennings 2001, S. I f f Frey 1979, S. 39 f Dyllick/Hockerts 2002. Enquete-Kommission 1998, S. 48.

30

2.1 Nachhaltige Entwicklung

3. Es geht um die Gestaltung der Rahmenbedingungen des Wettbewerbs im Hinblick auf nachhaltige Funktionsfahigkeit der Markte, die Anregung von Innovationen sowie die Forderung des gesellschaftlichen Wandels und einer langfristigen Orientierung. 4. Wichtig sind vor allem der Erhalt sowie die qualitative Verbesserung der Leistungsfahigkeit der Gesellschaft und ihres Produktiv-, Sozial- und Humankapitals. In der Debatte um Nachhaltigkeit spielen die verschiedenen gesellschaftlichen Anspruchsgruppen eine besonders grofie Rolle. Die Existenz eines Rahmens, der Untemehmen Anreize fur nachhaltiges Handeln bietet, ist eine wesentliche Voraussetzung fiir die Umsetzung von Nachhaltigkeit in Untemehmen. Diesen Rahmen auszugestalten, ist Aufgabe des Staates bzw. der Gesellschaft (NGOs sowie Offentlichkeit). Mit Hilfe von geeigneten umwelt- und sozialpolitischen Instrumenten muss ein Anreizsystem fiir Untemehmen geschaffen werden. Nur dann konnen hier einzelne Untemehmen als Vorreiter ihre Verantwortung beziiglich Nachhaltiger Entwicklung wahmehmen, wenn ihnen nicht durch die Ignoranz der anderen wirtschaftliche Nachteile entstehen. Diese Verantwortung umfasst, abgeleitet von Zielen einer okonomischen Nachhaltigkeit, hier vor allem die Bereiche: Stabilitat, langfristige Erfolgssichemng, Innovation und Qualitat. 2.1.2.5 Die soziale Dimension Die soziale Nachhaltigkeit ist im Gegensatz zu der okologischen und der okonomischen Dimension wesentlich schwieriger zu fassen. Innerhalb der sozialen Nachhaltigkeitsdimension werden Gesellschaften oder soziale Systeme beziiglich dynamischer wirtschaftlicher und stmktureller Verandemngen ihrer Umwelt unter besonderer Betrachtung der Zukunftsfahigkeit jener Systeme analysiert. Schlussfolgemd ergibt sich eine weiterfuhrende Definition: Soziale Nachhaltigkeit ist nicht nur die Erhaltung, sondem auch die Entwicklung und Entwicklungsfahigkeit von Gesellschaften, sozialen Systemen und Stmkturen.'®' Das Ziel einer sozialen Nachhaltigkeit kann in der dauerhaften und menschenwiirdigen Existenzsichemng der individuellen Mitglieder einer Gesellschaft, das heiBt in der Erhaltung der existierenden sozialen Sichemngssysteme und des damit verbundenen Sozialkapitals gesehen werden.'°* Sozialkapital ist ein vertrauensbildendes Element in sozialen Systemen und umfasst alle aktuellen und potenziellen Ressourcen, die aufgmnd gegenseitigen Kennenlemens und Gruppenzugehorigkeit entstehen.'^ Soziales Kapital wird generiert, wenn durch Informationen und der Ausbildung von Normen zwischenmenschliche Beziehungen und Handlungen erleichtert werden."° Soziale Stabilitat und individuelle Freiheit sind somit unverzichtbare Pfeiler fiir eine Nachhaltige Entwicklung.

Vgl. Empacher/Wehling 1999, S. 4. Vgl. Miiller-Christ 2001, S. 68; auch EmpacherAVehling 1999, S. 5. Vgl. Bourdieu 1983, S. 248. Vgl.Haugl997,S. 8.

2 Konzeptionelle Grundlagen

31

Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass soziale Entwicklung die Voraussetzung ftir okologische und/oder okonomische Verbesserungen sein kann.'" Diese steht somit unter einem besonderen Druck. Das Wesen der sozialen Dimension liegt vor allem in ihrer Schutzfunktion und der Umsetzung von gesellschaftlich festgelegten Gerechtigkeitszielen und damit dem sozialen Ausgleich. Zu den Kemelementen sozialer Nachhaltigkeit zahlen:"^ 1. Existenzsicherung aller Gesellschaftsmitglieder, die sich am besten am Konzept der Grundbediirfnisbefriedigung (Emahrung, Wohnung, Kleidung, korperliche Unversehrtheit, Gesundheitsversorgung und vertragliche Umwelt, Zugang zu sauberem Trinkwasser und sanitaren Einrichtungen, Absicherung bei Krankheit, Alter, sozialen Notlagen, Bildung und Beschaftigung) konkretisieren und operationalisieren lasst. 2. Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der Sozialressourcen, welche ein soziales System zusammenhalten und flinktions- und entwicklungsfahig machen. Als Beispiele zu nennen waren hier Handlungspotenziale wie Solidaritat und Toleranz, die aufgrund der Qualitat gesellschafllicher Zusammenhange existieren. 3. Chancengleichheit im Zugang zu Ressourcen beinhaltet den Aspekt der inter- und intragenerativen Gerechtigkeit und Sicherung der menschenwiirdigen Existenz jedes Individuums durch die Verteilung von Gtitem und Dienstleistungen. 4. Partizipation an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen, weil eine soziale Entwicklung nicht nur ftir, sondem vor allem durch die handelnden Individuen erfolgt. Diese vier Kemelemente, welche sich ftir die soziale Dimension auf die Bereiche Gesundheit, Gleichheit, Grundbediirfnisse, Partizipation/Kommunikation und Bildung zusammenfassen lassen, bilden einen geeigneten Bezugsrahmen ftir die Auswahl und Formulierung grundlegender Menschenrechte, die gleichbedeutend auch soziale Nachhaltigkeitsaspekte darstellen. Die politische Diskussion uber soziale Nachhaltigkeit bewegt sich im Moment hauptsachlich auf der Ebene der korperlichen Unversehrtheit. Dazu zahlen primar folgende Aspekte: Kinder- und Zwangsarbeit, Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz oder Arbeitszeiten. Eine wirklich Nachhaltige Entwicklung setzt jedoch voraus, dass alle drei Nachhaltigkeitsdimensionen und ihre jeweiligen Ziele gleichzeitig in alien einzelnen MaBnahmen beriicksichtigt werden und man nicht mehr beispielsweise nur eine einseitige Maximierung des Umweltschutzes unter Beriicksichtigung okonomischer und sozialer Nebeneffekte darunter versteht. Prioritaten zwischen den Zielsetzungen richten sich dabei in erster Linie nach dem Handlungsbedarf, weshalb diese in den Industrielandem eher auf dem okologischen Bereich liegen und in den Entwicklungs- und Schwellenlandem eine vergleichsweise starkere Gewichtung der okonomischen und sozialen Dimensionen besteht."^

Vgl. Miiller-Christ 1995, S. 240 ff. Vgl. EmpacherAVehling 1999, S. 10 ff Vgl. Krol/Karpe 1999, S. 39.

32

2.1 NachhaltigeEntwicklung

2.1.2.6 Integration der drei Nachhaltigkeitsdimensionen Durch die Integration der drei Nachhaltigkeitsdimensionen stellt Nachhaltige Entwicklung eine strategische Herausforderung dar, die eine dimensionsiibergreifende Problemanalyse beinhaltet. Da die okologische, die okonomische und die soziale Nachhaltigkeitsdimension mit ihren Anspriichen und Eigengesetzlichkeiten nebeneinander formuliert sind, miissen bei der Operationalisierung die einzelnen Wechselbeziehungen und Wechselwirkungen zwischen den Dimensionen und ihren Zielsetzungen ermittelt, dargestellt und beachtet werden."'* Die drei Nachhaltigkeitsdimensionen spiegeln dabei lediglich unterschiedliche Betrachtungsebenen eines gemeinsamen Wirklichkeitsbereiches des Problems wider. Dabei ist jedoch ihre geforderte Gleichrangigkeit in der Diskussion um eine Nachhaltige Entwicklung auch bei der Einfuhrung und Umsetzung von Standards sicherzustellen. Fiir die Integration der drei Nachhaltigkeitsdimensionen wird haufig das Schnittmengenmodell als typische Herangehensweise fur deren Umsetzung angewendet (siehe Abbildung 4).'" In diesem Modell wird deutlich, dass zwischen den einzelnen Dimensionen Uberschneidungsbereiche existieren, in denen sowohl Trade-offs als auch Win-win-Situationen moglich sind. Entsprechend dem Ziel Nachhaltiger Entwicklung sollten jedoch moglichst Win-winSituationen oder sogar Win-win-win-Situationen geschaffen werden. Das bedeutet, dass bei der Verwirklichung okonomischer Ziele zugleich auch okologische sowie soziale Ziele zu erreichen sind, was indirekt auch als ein Ziel von Standards gesehen werden kann. Diesem Ziel steht ein Spannungsverhaltnis der Nachhaltigkeitsdimensionen entgegen, was zur Folge hat, dass ftir jede wirtschaflliche, soziale und okologische MaBnahme die zwangslaufigen negativen Auswirkungen auf die angrenzenden Dimensionen ermittelt und minimiert werden

"* Vgl. Enquete-Kommission 1998, S. 29. "^ Vgl. Muller-Christ 2001, S. 71. "' Vgl. Muller-Christ 2001, S. 72 f.

2 Konzeptionelle Grundlagen

33

Abbildung 4: Schnittmengenmodell okonomischer, okologischer und sozialer Nachhaltigkeit"'

Dieses Spannungsverhaltnis bei der Erreichung von Nachhaltigkeit in den einzelnen Dimensionen spielt auch im Rahmen dieser Arbeit eine wesentliche Rolle und wird bei den nachfolgenden Untersuchungen integrativ berucksichtigt. Dies beruht auf der Tatsache, dass als Forschungsobjekt ein Untemehmen flingiert, was eine besondere Stellung der okonomischen Dimension nach sich zieht. Nur durch eine Dreieinigkeit der Dimensionen wird es jedoch moglich, nachhaltige Entwicklungspotenziale im Bereich Beschaffung in Form von Umweltund Sozialstandards realistisch einzuschatzen und umsetzen zu konnen. 2.1.3 Nachhaltigkeit als unternehmensstrategische Frage 2.1.3.1 Rolle der Untemehmen Untemehmen spielen im Nachhaltigkeitsprozess eine zentrale Rolle."* Die Bedeutung von Untemehmen in der Nachhaltigkeitsdiskussion ergibt sich durch die zunehmende globale Ausweitung untemehmerischer Tatigkeit und der damit verbundenen Entstehung von Machtzentren, welche nicht nur iiber ihre Produktionstatigkeit, sondem auch iiber ihren Einfluss auf Lebensstile und Konsummuster die Nutzung von Ressourcen und die Freisetzung von Stoffen und Energien pragen. Gleichzeitig sind Untemehmen aber auch Zentren sozialer, okonomischer und okologischer Innovationen und konnen somit als potenzielle Problemloser fur eine Nachhaltige Entwicklung angesehen werden.'" In diesem Zusammenhang kann Nachhaltigkeit defmiert werden als „ [...] Unternehmensstrategie zur Steigerung des langfristigen Shareholder Value durch die Wahrnehmung von Chancen und die Beherrschung von Risiken, die sich aus wirtschaftlichen, okologischen und sozialen Entwicklungen oder Verdnderungen er"' Vgl.Fichterl998,S. 14. "' Vgl. BMU 2002c, S. 23. "' Vgl. Kanning/Miiller 2001, S. 22; auch Prakash Sethi 2002, S. 20.

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2.1 Nachhaltige Entwicklung

geben. "'^°. Knapp 90 % der Beteiligten von Politik, Wirtschaft und Medien teilen nach Ansicht einer Studie zur Umwelt-, Markt- und Trendforschung inzwischen die Einstellung, dass nachhaltig ausgerichtete Untemehmen langfristig einen groBeren wirtschaftlichen Erfolg haben werden.'^' Weiterhin stellen Untemehmen eine gesellschaftlich besonders bedeutsame Akteursgruppe dar, die zum Erfolg des gesellschaftlichen Suchprozesses nach einer nachhaltigen Lebensund Wirtschaftsweise mafigeblich beitragen kann. Die Bedeutung von Untemehmen in unserer Gesellschaft begrundet sich aus den direkten und indirekten Effekten, die von ihnen ausgehen. Zu den direkten Effekten zahlen jene Auswirkungen, die durch die von Untemehmen getroffenen Entscheidungen iiber Produktgestaltung und Produktionstechnik Einfluss auf unser Leben haben, bspw. Emissionen oder Abfalle. Zu den indirekten Effekten zahlen dagegen z. B. Dinge wie die Auswirkung sinkender Beschaftigung auf die gesellschaftliche Akzeptanz von Nachhaltigkeitszielen. Gleichzeitig besitzt ein Untemehmen noch eine Sozialisiemngsfunktion, da es als Ort gesellschaftlichen Lemens fungiert und deshalb eine Mitverantwortung fiir Bildung und Entwicklung einer Gesellschaft tragt.'" Die Untersuchungen dieser Arbeit beschranken sich allerdings hauptsachlich auf indirekte Effekte, vemrsacht von Untemehmen durch die fiir den Bereich der Beschaffung relevanten Entscheidungen entlang ihrer Lieferantenketten. In der nachfolgenden Grafik (siehe Abbildung 5) wird der bereits beschriebene mogliche Beitrag von Untemehmen zu einer Nachhaltigen Entwicklung in den gesellschaftlichen Kontext gestellt. Andere Akteursgmppen wie Staat, Konsumenten, Umweltgmppen werden als Mitverantwortliche aufgefiihrt. Sie konnen durch ihr Verhalten auch Einfluss auf den Nachhaltigkeitsbeitrag von Untemehmen ausuben. Der Staat legt durch seine hoheitliche Instanz die Rahmenbedingungen des Wirtschaftens fest, Konsumenten konnen durch nachhaltiges Konsumverhalten eine Umorientiemng im Untemehmen bezogen auf Nachhaltigkeit mafigeblich fbrdem und Umweltverbande besitzen die Moglichkeit, durch eine hohe Kooperationsbereitschaft Einfluss auf Untemehmensentscheidungen geltend zu machen. Die hier angefiihrten Beispiele sind nur einige der zu betrachtenden Stakeholder, welche in den nachfolgenden Untersuchungen starkere Beriicksichtigungfindensollen.

Ringger/Karius 2002, S. 18; weitere Definitionen finden sich bei Cottrell/Rankin 2000, S. 1; Schaltegger/Figge 2001; S. 24; Dyllick/Hockerts 2002; S. 131; Funk 2003, S. 65 f Vgl. Kohtes Kleves 2001, S. 1; siehe weiterfuhrend zur Akzeptanz von Nachhaltigkeit als Voraussetzung fur Untemehmenstatigkeit IFOK 1997; Hedstrom et al. 1998; Holliday 2001. Vgl. Kurz 1997,8.79.

2 Konzeptionelle Grundlagen

35

Nachhaltigc Enr»1cklung A

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SliUU

A

A

Koiisumcntcii

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A

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Ethisdi cebotcii

EticktcautUmwcli

Sozialisicmnu

Abbildung 5: Nachhaltige Untemehmen im gesellschaftlichen Kontext'^^ Nach Dyllick bringt Nachhaltigkeit als untemehmensstrategische Frage der Beteiligung am gesellschaftlichen Suchprozess vor allem Vorteile, die zu einer langfristigen Existenzsicherung und Planungssicherheit, der Vermeidung von Konflikten mit Anspruchsgruppen und dem Erkennen und Ausntitzen von Differenzierungs- und Marktpotenzialen beitragen.'^^ Gleichzeitig wird die Fahigkeit eines Untemehmens gestarkt, direkten Bezug auf die Veranderungen in seiner Umwelt zu nehmen, wie z. B. auf die Wahmehmung gegeniiber seinen Anspruchsgruppen oder das Kaufverhalten bei Konsumenten. Auf Untemehmensebene gibt es verschiedene Versuche, in Form von Erklarungen, Verhaltenskodizes etc. einen konkretisierenden Bezugsrahmen fur Nachhaltigkeit als untemehmenspolitisches Leitbild zur Strukturierung sowie Handhabung der komplexen Probleme und vielfaltigen Aufgaben eines Unternehmens zu entwickeln (siehe Tabelle 5). Dies geschieht freiwillig und meist aus der Wahrnehmung ethisch begriindeter untemehmerischer Verantwortung heraus.'"

Autor/Organisation

Kriterien/Prinzipien fUr eine Nachhaltige Entwicklung

Meffert und Kirchgeorg (vgl. Meffert/Kirchgeorg 1993; Matten 1998)

• Verantwortungsprinzip: Forderung der Nachhaltigkeit als Aufgabe des Untemehmens • Kreislaufprinzip: Verbrauch von Energien und Stoffen in der Herstellung als Kreislauf • Kooperationsprinzip: Koordination modemer Wirtschaftsprozesse miteinander

Agenda 21 (Kapitel 30) (vgl. Gray 1999b, S. 10)

• Forderung einer umweltvertraglicheren Produktion • Forderung einer verantwortungsbewussten Untemehmerschaft

Darstellung angelehnt an Kurz 1997, S. 96. Vgl. Dyllick 2002, S. 6. Vgl. Steger 1993, S. 41 ff.; auch Matten 1997; allgemein Schmidheiny 1992.

2.1 Nachhaltige Entwicklung

36 Autor/Organisation

Kriterien/Prinzipien fOr eine Nachhaltige Ent>vicklung

World Business Council for Sustainable Development (WBCSD) (vgl. WBCSD 1999)

Oko-Effizienz (Eco-efficiency): • Verminderung der Material- und Energieintensitat von Produkten • Reduzierung des SchadstofFausstoBes und Ausbau einer Kreislaufwirtschaft International Chamber of Com• Integration von Umwelt in die Untemehmensstrategie merce (ICC) (vgl. ICC 1990) • Umweltorientiertes Management • Umweltfreundlichkeit der Produkte • Offenheit bzw. Dialog mit Stakeholdem Institut fiir okologische Wirt• Umweltschutz wahrend des ganzen Produktlebenszyklus schaftsforschung (lOW) (vgl. lOW • Kommunikation mit anderen Akteuren 1996) • Einhaltung von sozialen und umweltbezogenen Vorschriften und Standards Sustainable Business Strategy • Kriterienliste mit fmanziellen und strategischen Aspekten (vgl. Crosbie/Knight 1995, S. 25 f) Dyllick (2002)

• Prinzip der Kapitalerhaltung (vom Einkommen leben, nicht vom Kapital) • Prinzip der Dauerhaftigkeit (kurz- und langfristige Aspekte integrieren) • Prinzip der dreidimensionalen Wertschopfling (okonomische, okologische und soziale Aspekte beriicksichtigen) | Tabelle 5: Ubersicht NachhaltigkeitskriterienZ-prinzipien fur Untemehmen'^*

In diesem Kontext wird Nachhaltigkeit als regulative Idee verstanden.'^^ Problematisch dabei ist die Tatsache, dass sich Nachhaltigkeit, als ausformuliertes Untemehmensziel dargestellt, unter dem Einfluss neuer Erkenntnisse und Erfahrungen und der Weiterentwicklung von Systemen kontinuierlich verandert. Als Folge daraus ergeben sich gleichzeitig ein neu zu definierender Entwicklungsbedarf und die Einbeziehung der jeweils Betroffenen.'" Nachhaltigkeit ist somit ein stetiger Entwicklungsprozess, dessen Richtungspfade immer wieder iiberpriifl und angepasst werden mussen. Dem gegeniiber steht in der okonomischen Umwelttheorie ein naturwissenschaftlich-technisches Begriffsverstandnis mit Forderungen nach moglichst quantitativen Umweltzielen, die jedoch in der sozialen Dimension weniger leicht umsetzbar sind (normative Ansatze).'^' Der Nachhaltigkeitsprozess wird umso erfolgreicher sein, je umfassender und offensiver sich die Untemehmen daran beteiligen. Fiir eine erfolgreiche Umsetzung von Nachhaltigkeitsanspruchen ist es notwendig, den Ansatz der Nachhaltigen Entwicklung mit in die verschiedenen untemehmerischen Tatigkeiten und Entscheidungen aufzunehmen. Die Beschaffung von Giitem und Dienstleistungen ist ein wichtiger Bereich untemehmerischer Tatigkeit. Dabei stellt Nachhaltige Entwicklung fur Untemehmen im eigentlichen Sinne nur ein Leitbild dar, das die weitere Konkretisierung offen lasst, fur eine spezielle Anwendung einer solchen jeDie Auswahl der dargestellten Ansatze, Kriterien fur eine Nachhaltige Entwicklung zu entwickeln, erfolgte auf Grundlage ihres Bezuges zur untemehmensstrategischen Dimension. Vgl. Schneidewind et al. 1997, S. 183; Minsch et al. 1998, S. 18. Vgl. Kurz 1997, S. 92 ff. Vgl. Kanning/Miiller 2001, S. 17.

2 Konzeptionelle Grundlagen

37

doch bedarf. Die Bedeutung von Leitbildem fur Untemehmen und ihre Umsetzungsmoglichkeiten im taglichen Wirtschaften soUen nun im nachsten Kapitel naher erlautert werden. 2.1.3.2 Leitbilder als Visionen Leitbilder stehen fur Visionen und sind die Grundvoraussetzung jeder untemehmerischen Tatigkeit. Mit ihrer Hilfe werden theoretische Konzepte im taglichen Wirtschaften eines Untemehmens operativ umgesetzt. Zukunftiges Wirtschaften ohne tragfahige Visionen ist von vomherein zum Scheitem verurteilt. Auch fiir eine Umsetzung des Konzeptes „Nachhaltige Entwicklung" auf Untemehmensebene sind Leitbilder von grofiter Bedeutung. Eine Methode zur Operationalisierung der Anforderungen einer Nachhaltigen Entwicklung in Gestaltungsempfehlungen ist deren direkte Umsetzung in Gestaltungsprinzipien. Hier gehen Kanning und Miiller von drei Grundlagen dieser Leitbilder aus: dem Verantwortungsprinzip, dem Kreislaufprinzip und dem Kooperationsprinzip, welche in der betriebswirtschaftlichen Diskussion um eine Nachhaltige Entwicklung aus verschiedenen Ansatzen abgeleitet werden konnen.'^® Alle drei sind dabei inhaltlich eng miteinander verkniipft. Das Verantwortungsprinzip beinhaltet das Bekennen zur Verantwortung fiir zukunftige Generationen und die Erhaltung der verfiigbaren Ressourcenbasis im Rahmen der intergenerativen Gerechtigkeit sowie anderer Auswirkungen des Wirtschaftens. Es geht somit um das Wahmehmen von Umweltverantwortung im Sinne von Vorsorge und um die Vermeidung irreversibler Umweltwirkungen. Gleichzeitig muss auch die Verantwortung fiir die gegenwartig lebende Generation iibemommen und der Abbau des Wohlstandsgefalles unterstiitzt werden.'^' Basis fiir das Kreislaufprinzip ist die Vorstellung, okonomische Prozesse im Sinne eines Kreislaufs zu organisieren. Dazu zahlen die standige Wiederverwendung, Wiederverwertung, Weiterverwendung und Weiterverwertung von Ressourcen, um der Verminderung des Ressourcenbestandes entgegenzuwirken. Die Gestaltung von Stoffstromen wird dabei als zentrale Aufgabe des Managements gesehen. Inhalt des Kooperationsprinzips ist die verstarkte Abstimmung okonomischer Prozesse im Sinne einer Okologieorientierung, da nur unter dieser Bedingung die Steuerung von Stoffkreislaufen iiber den gesamten Lebenszyklus eines Produktes moglich ist.'^^ Im Vergleich dazu leitet Fichter sieben Prinzipien fiir das Nachhaltige Untemehmen ab: das Leistungs-, Vorsichts-, Vermeidungs-, Dialog-, Entwicklungs-, Verantwortungs- und Konformitatsprinzip. Mit Hilfe dieser Prinzipien soil versucht werden, die gesellschaftliche Rolle von Untemehmen als multifimktionale Wertschopfiingseinheiten innerhalb von Belastungs-

Vgl. Mefferty^irchgeorg 1993, S. 34 ff.; Fichter 1998, S. 15 ff.; MattenAVagner 1998, S. 57 ff.; Zabel 1999, S. 168 ff. Siehe ausfuhrlicher zur Bedeutung des Verantwortungsprinzips fur Untemehmen Kapitel 2.1.3.4. Vgl. Kanning,/Muller 2001, S. 22.

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2.1 NachhaltigeEntwicklung

grenzen zu reflektieren.'" Als Unterstutzung zur Umsetzung dieser Prinzipien schlagt er zusatzlich die Verwendung strategischer Ansatzpunkte vor. Dazu zahlen: Handlungsleitbilder, Untemehmenskultur, Strategic, Strukturen, Systeme, Information und Kommunikation, Mitarbeiter sowie Kooperation. Dabei wird jedoch auch hier vergessen, eine greifbare Theorie zur Umsetzung der vorgeschlagenen Handlungsprinzipien sowie deren Verkniipfung mit den strategischen Ansatzpunkten eines Managements zu geben. Dieser Zustand wird von MiillerChrist als nur ein Beispiel ftir die Theorielosigkeit des nachhaltigen Diskussionsansatzes angefuhrt.'^' Meffert und Kirchgeorg, die auch Grundlagc der Ableitungen von Kanning und Miiller waren, versuchen in ersten Ansatzen bereits 1993 die Umsetzung von Handlungsprinzipien zu beschreiben und einen moglichen Weg aufzuzeigen.'^^ Dabei kommt es fur die Definition und Implementierung von untemehmerischen Leitbildem vor allem darauf an, bereits wahrend des Beschreitens des Weges zu einer Nachhaltigen Entwicklung die einzigartigen und Erfolg versprechenden Elemente spezifischer Untemehmensleitbilder herauszuarbeiten und diese dann in Strukturen, Strategien und Systeme zu ubersetzten.'^** Gleichzeitig wird davon ausgegangen, dass Nachhaltigkeit insgesamt eine iibergreifende gesellschaftliche Aufgabe darstellt und Untemehmen somit nicht allein dafiir verantwortlich sind, die Nachhaltigkeitsforderungen umzusetzen.'^' 2.1.3.3 Operationalisierung des Leitbildes Nachhaltiger Entwicklung Fur Untemehmen ist es wichtig das entwickelte Leitbild einer Nachhaltigen Entwicklung in die eigene Kultur, Strategic, Strukturen und Prozesse zu iiberfuhren und somit umzusetzen.'^* Leider wird jedoch dessen Realisierung eher selektiv vorangetrieben und umfassende und strukturierte Konzepte dazu bei Untemehmen sind eher selten.'^' Meist finden sich Ansatze zu der Einfuhrung eines Verantwortlichen oder sogar Abteilung flir Nachhaltigkeit, der Veroffentlichung von Nachhaltigkeitsberichten oder der Integration des Themas in die Kommunikationsstrategie des Untemehmens nach auBen."*^ Offen bleibt jedoch die wirkliche Verbindung und damit Operationalisierung von Nachhaltiger Entwicklung mit/in den einzelnen Geschaftprozessen, wie z. B. dem Beschafflingsmanagement."** Dafiir bedarf es verschiedenster Konzept, die jeweils auf die entsprechenden Bediirfnisse der Untemehmen angepasst werden

'" "' '^^ '^' ''' '^« '^' '^ '*'

Vgl. Fichter 1998, S. 15 ff. Vgl. Muller-Christ 2001, S. 87. Vgl. Meffert/Kirchgeorg 1993. Vgl. Mefferty^irchgeorg 1993, S. 36. Vgl. Schmitt 1998,8.90. Vgl. Meffert/Kirchgeorg 1998, S. 451 ff.; Fichter 1998, S. 17 ff; Zabel 1999, S. 175. Siehe als einzelne Beispiele Meffert/Kirchgeorg 1993; Minsch et al. 1996; Welford 1997. Vgl. Dyllicky^ockerts 2002, S. 131. Vgl. DeSimone/Popoff 1997 (zitiert nach Dyllick/Hockerts 2002, S. 131).

2 Konzeptionelle Grundlagen

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Um das Leitbild einer Nachhaltigen Entwicklung in die Geschaftstatigkeiten eines Untemehmens transferieren zu konnen, existieren nach Seuring derzeit im Wesentlichen vier Konzepte (siehe zur Ubersicht Abbildung 6) fiir ein untemehmensubergreifendes Nachhaltigkeitsmanagement:"*^ 1. Industrial ecology (lE)'^^ 2. Life cycle management (LCM)'^, 3. Integrated chain management (ICM)"*^ 4. Green/environmental/sustainable supply chain management (ESCM)'*^. Wahrend die drei ersten Ansatze vor allem die okologische Dimension von Nachhaltigkeit betrachten und viele Forscher in diesen Gebieten einen naturwissenschaftlichen oder technischen Hintergrund besitzen, hat sich der Ansatz des ESCM aus dem betriebswirtschaftlichen Kontext her entwickelt.'*^ Dabei geht es vor allem um Fragen, wie in Supply Chains zwischen den drei Dimensionen (okologisch, okonomisch und sozial) Win-win-Situationen hergestellt bzw. Trade-offs vermieden werden konnen und welche Bedeutung Zusammenarbeit und Kooperationen fur die Supply Chain in Bezug auf Nachhaltigkeit haben.'** Oftmals beinhaltet dies die Verbesserung umweltbezogener und sozialer Leistungen des Lieferanten fur sowohl die Produkte als auch Produktionsprozesse und die Konzentration der Beschaffung eines Untemehmens auf solche Lieferanten (siehe ausfuhrlicher dazu Kapitel 2.2.6).'^' Hier wird deutlich, dass diesem vierten Ansatz des ESCM auch die Forschungsfrage der vorliegenden Arbeit zugeordnet werden kann.

•"' Vgl. Seuring 2004, S. 306. '^^ Siehe ausfuhrlicher Frosch/Gallopoulos 1989; Graedel 1994; Ayres/Ayres 1996; Korhonen 2000. '^ Siehe weiterftihrend Linnanen et al. 1995; Fava 1997; Heiskanen 2002; Hunkeler et al. 2003. '^^ Siehe ausfuhrlicher Enquete Kommission 1994; Cramer 1996; Wolters et al. 1997; Boons 1998, 2000. "^ Siehe weiterftihrend Beamon 1999, Bowen et al. 2001; Zsidisin/Siferd 2001; Rao 2002. '"' Vgl. Seuring 2004, S. 312. "*^ Vgl. Seuring/Miiller 2004; Cramer 1996; Seuring 2001; Kogg 2003. "' Vgl. Rao 2002, S. 632.

2.1 Nachhaltige Entwicklung

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Political agenda setting

A product esign strategy Supply Chain Management

Abbildung 6: Einordnung der vier Konzepte''*'

Weiterhin werden in der Literatur fiir die Umsetzung und Gestaltung Nachhaltiger Entwicklung in den Geschaflsprozessen von Untemehmen immer wieder drei unterschiedliche Strategieoptionen genannt:'^' Effizienz-Strategie Im Rahmen der Effizienz geht es um die Suche nach okologisch, okonomisch und sozial optimalen und sinnvollen Losungen fur Produkt- und Prozessinnovationen. Die Effizienzstrategie strebt die Steigerung der Ressourcenproduktivitat an, das bedeutet, die Leistungen auf samtlichen Stufen der Wertschopfungskette mit dem geringst moglichen Einsatz an Stoffen und Energie zu erftillen. Ziel ist es, den iibermaBigen Stoff- und Energieverbrauch sowie die damit verbundenen Umweltbelastungen zu reduzieren. Dafiir bedarf es einer Anderung der Rahmenbedingungen bei Erhaltung oder Verbesserung des Produktes.'" Suffizienz-Strategie Mit dieser Strategie ist die Forderung nach Bescheidenheit bzw. Geniigsamkeit verbunden. Dabei wird eine Uberprufung der intragenerativen Verteilung und Gleichverteilung von Umweltnutzungen angestrebt. Man geht davon aus, dass es durch eine Bewusstseinsbildung, die Entstehung einer Umweltethik, insbesondere aber auch durch die Anpassung der Rahmenbedingungen zu einer Anderung von Lebensstilen, das heiBt zu einem Wandel im Nachfrageverhalten der wirtschafthchen Akteure kommt. Die Grundlagen dieser Annahmen sind in der

In Anlehnung an Seuring 2004, S. 315. Vgl. Rogall 2000, S. 26; Siebenhtiner 2000, S. 109 ff; KanningyTVIuller 2001, S. 19. Vgl Schmidt-Bleek 1994.

2 Konzeptionelle Grundlagen

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Tatsache zu finden, dass sich das Konsumverhalten der industrialisierten Welt aufgrund der Grenzen des Ressourcenwachstums nicht auf die gesamte Weltbevolkerung ausweiten lasst.'" Konsistenz-Strategie Konsistenz bezieht sich auf die Beschaffenheit von Stoffen, welche entweder im wirtschaftlichen Kreislauf verbleiben oder biologisch verarbeitbar sein sollen. An dieser Stelle werden zum ersten Mai im Gegensatz zu den beiden anderen Strategien die qualitativen Aspekte der Stoffe mit berucksichtigt. Stoff- und Energiestrome bzw. Stoffwechselprozesse sollen so umgestaltet werden, dass sie einander nicht storen oder sogar komplettieren und in die naturlichen Stoffkreislaufe ruckfuhrbar sind. Es handelt sich hierbei um die Veranderung des Produktes, das jedoch immer noch die gleiche Leistung bereitstellt.'^"* Die Frage ist nun, mit welcher dieser drei Strategien eine Umsetzung und Gestaltung von Nachhaltigkeit in Untemehmen wirklich erreicht werden kann. Dabei ist zu beachten, dass Effizienz oder Suffizienz einzeln betrachtet nicht ausreichend sind, da sie beide mengenorientierte Ansatze darstellen. Die Qualitat der Stoffe als ein bedeutender Faktor nachhaltiger Betrachtungen wird dabei vemachlassigt. Effizienz und Suffizienz sind vom Prinzip richtig, sie miissen jedoch um die Konsistenz, den Aspekt der okologischen Stoffqualitaten, erganzt werden, um Materialstrome nachhaltig bewirtschaflen zu konnen. Deshalb geht man davon aus, dass es sich nicht um drei alternative Strategien handelt, sondem sie sich erganzen miissen und nur gemeinsam einen wirksamen Beitrag zur Umsetzung und Gestaltung von Nachhaltigkeit leisten.'" Negativ ist an dieser Stelle anzumerken, dass sich jede der drei Strategien hauptsachlich auf die Elemente der okologischen Dimension anwenden lasst. Die Effizienz- und die Konsistenzstrategie behandeln vor allem Ressourcenproduktivitat, Stoff- und Energieverbrauche sowie Produktveranderungen. Nur die Suffizienzstrategie zeigt Ankniipflingspunkte an die okonomische und die soziale Dimensionen, da sie die Bewusstseinsbildung in der Gesellschaft, die Anpassung von Rahmenbedingungen und die Veranderung des Konsumverhaltens untersucht. Sowohl bei den Strategieoptionen als auch den Ansatzen zeigt sich das Problem einer bisher einseitig okologisch beherrschten Nachhaltigkeitsdiskussion.''^ In dieser Arbeit wird versucht, vor allem auch die soziale Nachhaltigkeitsdimension in Form von Sozialstandards in die Operationalisierung von Nachhaltigkeit im Beschaffungsmanagement einzubeziehen (siehe Kapitel 4.5.1). Deshalb erweisen sich die Effizienz- und die Konsistenzstrategie nur bedingt geVgl. BUND und Misereor 1996. Vgl. Gleich et al. 1999. Vgl. Gleich et al. 1999, S. 8 f Vgl. Dyllick/Hockerts 2002, S. 135.

42

2.1 NachhaltigeEntwicklung

eignet, um in die Untersuchungen integriert zu werden. Trotzdem finden sie in den okologisch dominierten Untersuchungsbereichen Beriicksichtigung. Die Suffizienzstrategie kann im Gegensatz eher auf die Untersuchungsbereiche des Projektes angewendet und umgesetzt werden. Auch von den Ansatzen her fokussiert die Arbeit, wie bereits erwahnt, aufgrund des Forschungsgegenstandes Beschaffungsmanagement und Lieferantenketten, eindeutig auf dem Ansatz des ESCM, welcher insgesamt die besten Voraussetzung fiir die „tripple bottom line" bietet. 2.1.3.4 Die Reichweite von Untemehmensverantwortung Das Verantwortungsprinzip ist der kleinste gemeinsame Nenner aller dargestellten Prinzipien untemehmerischer Nachhaltigkeit. Untemehmen wird in diesem Zusammenhang die Verantwortung ftir okologische und soziale Auswirkungen ihrer Geschaftstatigkeit vollstandig zugewiesen und miissen bereit sein, diese zu iibemehmen.'" Wesentlich dafur ist die Voraussetzung, dass ein Untemehmen in einen umfassenden Dialog mit seinen Anspruchsgruppen tritt, wenn davon ausgegangen wird, dass Losungsoptionen fur eine Entwicklung in Richtung Nachhaltigkeit nur gemeinsam in Zusammenarbeit verschiedenster gesellschaftlicher Akteure gefunden werden konnen.'^* Diese Voraussetzung bedingt die Bereitschafl, Informationen allgemein iiber das Untemehmen zur Verfiigung zu stellen und speziell soziale und okologische Leistungen als auch Herausfordemngen gegeniiber den Anspmchsgmppen offen zu kommunizieren.'^' Ausdmck der Wahmehmung untemehmerischer Verantwortung sind oflmals vom Untemehmen ftir die eigenen Aktivitaten gesetzte Standards (Codes of Conduct"^) (siehe ausfuhrlich Kapitel 2.1.5), welche die der Geschaftstatigkeit zugmnde liegenden Verhaltensgmndsatze manifestieren und offen legen.'^' In den letzten Jahren kam zudem verstarkt die Fordemng auf, dass multinational agierende Untemehmen nicht nur die Verantwortung ftir ihr eigenes Handeln, sondem auch ftir ihre Zulieferketten „upstream" der Supply Chain iibemehmen miissen.'" Dem fokalen Untemehmen in der Kette kommt aufgmnd seiner organisatorischen Aufgaben und dem Kontakt zum Konsumenten eine wesentliche Bedeutung zu.'" Es bewegt sich verstarkt im Blickpunkt der Offentlichkeit und unter besonderer Beobachtung thematisch verbundener NGOs. Unangemessenes Verhalten in Bezug auf okologische und soziale Leistungen, wie Umweltschutz, Arbeitsschutz und die Wahmng von Menschenrechten, wird mit einem Medienskandal bestraft

Vgl. MattenAVagner 1998, S. 63. Vgl. Schneidewind 2000, S. 19 ff.; Miiller et al. 2003, S. 43. Vgl. Fichter 1998, S. 13; Kumar/Graf 2000, S. 27 ff.; Miiller/Koplin 2003. Eine Definition fur Codes of Conduct findet sich in Kapitel 2.1.5. Vgl. Matten 1998, S. 10; MattenAVagner 1998, S. 65 sprechen von einer „Normsetzungspflicht der Unternehmen"; Zabel 1999a, S. 10 von „Normierungsverantwortung". Vgl. Simpson, S. 313. Handfield/Nichols 1999, S. 18; Schary/Skjott-Larsen 2001, S. 24.

2 Konzeptionelle Grundlagen

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und kann somit einen Reputationsverlust fiir Untemehmen und deren Produktmarken gegeniiber der Offentlichkeit bedeuten.'*^ Entsprechend der Entwicklungen der Automobilindustrie und ihrer Zulieferbeziehungen, welche in Kapitel 4.1.2 beschrieben werden, stellt sich hier die Frage, inwieweit unter diesen Umstanden multinationalen Automobilherstellem die Verantwortung fur den Umweltschutz sowie Sozialbedingungen auf alien Stufen vorgelagerter Prozessketten noch zugerechnet werden kann. Doch vor allem die Zulieferbetriebe erfahren ofhnals einen enormen Kosten- und Zeitdruck von den Abnehmem, wodurch die Umsetzung und Einhaltung von Umwelt- und Sozialstandards erschwert wird. In Schwellen- und Entwicklungslandem bestehen allerdings auch Spielraume ftir Verbesserungen, da die Umsetzung von Umwelt- und Sozialstandards oft kostengiinstiger vorgenommen werden kann als in Industriestaaten und direkte Synergien zu Qualitats- und Kostenverbesserungen bestehen. Die Diskussion um Nachhaltigkeitsstandards flir Lieferanten konzentriert sich im Moment hauptsachlich auf die Spielzeug-, die Textil- und die Sportartikelindustrie.'" Aber auch die Automobilindustrie konnte irgendwann von negativen Schlagzeilen betroffen sein. In diesem Zusammenhang spielt besonders die Reichweite der Verantwortung von Untemehmen eine wichtige Rolle. Dabei unterscheidet man drei verschiedene Auffassungen. Die erste These geht davon aus, dass die Verantwortung fiir die Durchsetzung von Umweltschutz und Menschenrechten Aufgabe des Staates ist. In diesem Fall ware das Untemehmen nur ein passiver Akteur der Gesellschaft, welcher sich an gegebene Regeln zu halten hat, wie alle anderen Akteure auch. Doch bereits die Allgemeine Erklamng der Menschenrechte aus dem Jahre 1948 sieht ebenfalls Untemehmen starker in der Verantwortung fiir deren Umsetzung.'** Darauf auft)auend enthalt die zweite These die Fordemng an Untemehmen, die niedrigen Umwelt- und Sozialstandards vieler Entwicklungs- und Schwellenlandem nicht zu akzeptieren Oder sogar auszunutzen, sondem aktiv daran mitzuarbeiten, dass intemational anerkannte Standards fiir Menschenrechte und Umweltschutz Beachtung fmden und gesetzlich in jedem Land verankert werden. Diese Fordemng bezieht sich allerdings auch auf die Zustande in Zulieferbeziehungen, welche von Seiten der Abnehmer durch entsprechende okologische und soziale Fordemngen und einem verringerten Kostendmck wesentlich beeinflusst werden konnen.'^' Eine dritte These verlangt von Untemehmen das aktive Eintreten gegeniiber den Staaten, in denen sie tatig sind, fiir eine Verbessemng von Standards, da sie sich sonst zu „Profiteuren der dortigen Verhaltnisse" machen wiirden, welche die Menschenrechte nicht beachten. Diese Extremposition bemft sich auf den Einfluss transnationaler Untemehmen auf die

Siehe als Beispiel: WemerAVeiss 2001. Vgl. Jenkins 2001,8.19. Vgl. United Nation 1948; VOLKSWAGEN AG 2004, S. 19. Vgl. VOLKSWAGEN AG 2004, S. 19.

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Politik ihrer Gastgeberlander. Griinde fiir diese Bedeutung von Untemehmen sind zum einen die zunehmende globale Ausbreitung und die damit verbundene Entstehung von Machtzentren, welche nicht nur iiber ihre Produktionstatigkeit, sondem auch uber ihren Einfluss auf Lebensstile und Konsummuster die Nutzung von Ressourcen und die Freisetzung von Stoffen und Energien pragen. Gleichzeitig sind Untemehmen aber auch Zentren sozialer, okonomischer und okologischer Innovation und konnen somit als potenzielle Problemloser angesehen werden.'^* Weiterhin wird betont, dass es die Aufgabe transnationaler Untemehmen ist, okologische und soziale Anfordemngen an Lieferanten in der Kette weiterzugeben und diese gleichzeitig bei der Erfullung von Umweh- und Sozialstandards in Fomi von Wissenstransfer und Anleitung zu unterstiitzen und nur in wirklich letzter Konsequenz des Geschaftsverhahnis zu beenden, falls keine Bereitschaft eines Lieferanten fur Verandemngen existiert. Dabei spielen zum einen intemationale Umwelt- und Sozialstandards eine Rolle, die bei entsprechender Verpflichtung darauf hinweisen, dass bestimmte Themen im Zuliefemntemehmen bereits geregelt sind. Zum anderen setzen einige Untemehmen vermehrt auf Codes of Conduct'^^ welche meist auch fur Lieferanten gelten. Beide moglichen Formen der Umsetzung von Nachhaltigkeit in der Lieferantenkette sollen im folgenden Kapitel erlautert werden. 2.1.4 Globalisierung - Chancen und Risiken 2.1.4.1 Definition und Positionen Die Globalisiemng ist in den letzten Jahren zu einem zentralen Thema in Wirtschaft und Politik geworden. Globalisiemng kann als Prozess der weltweiten Vemetzung okonomischer, okologischer und sozialer Aktivitaten defmiert werden, bei dem Untemehmen die Hauptakteure darstellen'^", die ihre wirtschaftlichen und sozialen Kontakte immer weiter ausbreiten, so dass sich diese Netzwerkbeziehungen immer mehr iiberregional starken.'^' Die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Handlungen iiberschreiten dabei territorial defmierte Staatsgrenzen. Es gibt keine Deckungsgleichheit zwischen dem Raum politischer bzw. nationalstaatlicher Regelungen und dem Raum wirtschaftlicher und gesellschafllicher Interaktionen."^ In diesem Zusammenhang werden demokratische Prozesse der Nationalstaaten nach und nach durch marktbezogene Austauschprozesse abgelost sowie bisherige rahmengebende politische Handlungsspielraume dadurch erweitert und mehr oder weniger umgekehrt von der Wirtschaft vorgegeben'^\ Der Einflussbereich von Nationalstaaten verringert sich und die Macht multinationaler Untemehmen wachst mehr und mehr. Damit ist Globalisiemng zum Teil mit ''« Vgl. Kanning/Miiller 2001, S. 22; VOLKSWAGEN AG 2004, S. 19. '*•' Definition: „Codes of Conduct sind Verhaltenskodizes, zu denen sich Untemehmen im Rahmen von sozialvertraglichen Produktionsweisen selbst verpflichten.", Diirr et al. 2001, S. 14. ''" Vgl. Kumar/Graf 2000, S. 20 f ' " Vgl. Giddens 1995, S. 85; Perraton et al. 1998, S. 136. ''^ Vgl. Ziim 1998; Steinmann 1999, S. 1. •'' Vgl. Scherer 2000, S. 2.

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dafur verantwortlich, dass sich die von der Politik und Offentlichkeit zugewiesene Verantwortung fur Untemehmen bezogen auf umweltorientierte und soziale Probleme auf intemationaler Ebene ausweitet und sie als treibende Krafte fiir das Konfliktpotenzial der Globalisierung, wie beispielsweise Umweltzerstorungen und Ausbeutungen, angeprangert werden.'^'* Multinationale Untemehmen bewegen sich dadurch in eine wachsende Legitimationskrise.'^' Die Bedeutung untemehmerischer Verantwortung ist vor allem in Entwicklungs- und Schwellenlandem sichtbar, wo muhinationalen Firmen oft Produktionsbedingungen bzw. Arbeitsleistungen zu extrem giinstigen Kosten angeboten werden. Untemehmen haben aber einerseits durch ihr Handeln nicht nur weit reichende wirtschaftliche Auswirkungen, sondem sie nehmen andererseits gleichzeitig damit auch wesentlichen Einfluss auf Werte und Lebensstile und somit gesellschaftliche Stmkturen.''^ Insgesamt wird im Moment iiberall auf der Weh intensiv iiber die wirtschaftlichen und sozialen Folgen von Globalisiemng mit sehr unterschiedlichen Positionen diskutiert.'^^ Allerdings konnen diese in zwei wesentHchen Gmppen zusammengefasst werden: die Globalisiemngsbefurworter und die Globalisiemngsgegner. Globalisiemngsbefurworter sind der Meinung, dass politische Entscheidungen gezieh den Marktkraften starker untergeordnet werden miissen, um die Effizienz der Ressourcenallokation zu erhohen.'^* Der nationale Staat stehe in Konkurrenz mit dem intemationalen Wettbewerb und besitze kein Recht, sich hinter wettbewerbsbeschrankenden Schutzwallen zu verstecken. Er habe vielmehr die Pflicht, Wettbewerbsschranken abzubauen und in Zukunft zu verhindem. Globalisiemngsgegner dagegen weisen auf die Auswirkungen der Globalisiemng fur den Zusammenhalt und das Funktionieren unserer menschlichen Gesellschaft hin.'^' Sie sind der Meinung, dass nationalstaatliche Politik in der Verantwortung steht, negativen Konsequenzen der Globalisiemng entgegenzuwirken und diese zu reduzieren. 2.1.4.2 Untemehmen im Spannungsfeld Multinational Untemehmen stehen im Mittelpunkt des Spannungsfeldes dieser kontraren Standpunkte und miissen versuchen, innerhalb dieses Rahmens ihre Rolle in der Weltgesellschafl neu zu positionieren.'*" Die Stellung von Untemehmen leitet sich einerseits aus ihrer Bedeutung als zentrale Motoren der Globalisiemng und andererseits aus ihrer Verpflichtung zur Verantwortungsiibemahme fiir deren Auswirkungen ab. Dabei geraten sie mit ihrem Verhalten immer wieder unter Kritik, wie z. B. im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tatigkeiten in Vgl. BMU/UBA 2001, S. 129. Vgl. Homann/Gerecke 1999, S. 431. Vgl. Scherer 1997, S. 11. Vgl. im iJberblick Busch 1998, S. 13 ff.; Miinch 1998, Menzel 2001, S. 226 ff. Vgl. Donges 1995, 1998; Siebert 1997, 1998; Donges/Freitag 1998; sowie Giersch 1998. Vgl. Altvater/Mahnkopf 1996; auch Beck 1997; sowie Die Gruppe von Lissabon 1997; Giddens 1997, 1998; Gray 1999a; Habermas 1998; Miinch 1998. Vgl. Scherer 2000; Engelhard/Hein 2001.

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2.1 Nachhaltige Entwicklung

Entwicklungs- und Schwellenlandem. Besonders die Textil- und Sportartikelindustrie stand in der letzten Zeit regelmaBig am Pranger fur Verletzungen der Menschenrechte bei Zulieferem in Sudostasien und Lateinamerikas. Sie hatten in den vergangenen 30 Jahren ihre Produktionsstatten aufgrund wesentlich niedrigerer Lohnkosten aus den klassischen Industriestaaten in solche Billiglohnlander verlagert.'*' Ein Beispiel dafur ist vor allem der Sportartikelhersteller Nike, der immer wieder der Offentlichkeitskritik durch NGOs ausgesetzt ist.'*^ Hinzu kommen die Entwicklung immer besserer Informations- und Kommunikationstechnologien und die damit verbundene Prasenz zahlreicher Medien, was zu einer weltweiten Zunahme von Transparenz gefuhrt hat. Aufgrund der relativ zeitnahen, unbegrenzten und kostengiinstigen Verfligbarkeit von Informationen konnen die Anspruchsgruppen sehr schnell und umfassend iiber Missstande und Probleme eines Untemehmens jeglicher Art unterrichtet werden.'" Dadurch wird NGOs und ihren Reaktionen auf das Fehlverhalten von Untemehmen immer mehr Aufmerksamkeit entgegengebracht und sie erlangen hohe Akzeptanz und wesentliche Einflussmoglichkeiten in der Gesellschafl gegeniiber anderen Anspruchsgruppen.'" Das Verhahen von Untemehmen im Rahmen ihrer Geschaftstatigkeit steht somit weltweit unter Beobachtung und Bewertung. Im Zuge dieser Entwicklungen kam und kommt es neben dem Austausch von Waren und Dienstleistungen, dem Kapitalverkehr und dem Fluss von Informationen auch zu der globalen Ausbreitung von Werten und Standards.'" Dem wird versucht, untemehmensseitig durch das Setzen eigener Normen und deren Einhaltung zu begegnen und gleichzeitig damit einen Weg zur Umsetzung untemehmerischer Nachhahigkeit zu fmden. Dabei ist es unter Beriicksichtigung sich stetig andemder Nachhaltigkeitsanforderungen wichtig, flexible und anpassungsfUhige Losungen zu erarbeiten, die zudem fehlerfreundlich konstruiert und handhabbar sind.'** Untemehmen reagieren mit der Festlegung von Codes of Conduct fur sich selbst und gleichfalls auch fiir ihre Lieferanten, um diese auf die Einhaltung bestimmter Verhaltensstandards verpflichten zu konnen, siehe z. B. Otto'*^ oder Deichmann'*^'*' Es wird jedoch argumentiert.

Vgl. Scherer 2000, S. 2 f Vgl. Connor/Atkinson 1996, Asia Monitor Resource Centre and Hong Kong Christian Industrial Committee 1997, Boje 1998, Goldmann/Papson 1998. Vgl. Keamey 1999, S. 208; Post 2000, S. 41. Vgl. Christmann/Taylor 2001, S. 444. Vgl. Sautter, S. 2. Vgl. Miiller/Koplin 2003, S. 30; Seuring/Goldbach 2005. Vgl.Lohrie2001,S. 7. Vgl. Deichmann 2001. Vgl. Scherer 2000, S. 3.

2 Konzeptionelle Grundlagen

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dass Lieferanten mehr und mehr unter dem Druck stehen, zunehmend einer Reihe vieler einzelner Standards ihrer Abnehmer gerecht werden zu miissen. Diese Entwicklung konnte in absehbarer Zeit AusmaBe erreichen, die dann kaum noch zu bewaltigen waren. Deshalb findet verstarkt ein Trend zur Herausbildung privater Umwelt- und Sozialstandards offentlicher Institutionen mit intemationaler Giiltigkeit statt, die versuchen, umweltbezogene und soziale Forderungen weltweit zu vereinheitlichen. Diese sollen im folgenden Kapitel naher betrachtet werden. 2.1.5

Umweltstandards und Sozialstandards

Eine Moglichkeit fur die Umsetzung eines „Nachhaltigkeits-Managements" stellt die Anerkennung intemationaler Leitlinien, Prinzipien, Normen bzw. Standards dar. Beispielsweise die Halfle aller Dax30-Untemehmen bekennt sich zum Global Compact. Weiterhin besteht die Moglichkeit, sich einer staatlichen, privaten oder kooperativen Initiative anzuschlieiJen, um nachhaltiges Wirtschaflen eines Untemehmens starker offentlichkeitswirksam zu machen. Beispiele hierfur sind das Umweltprogramm der Vereinten Nationen oder econsense"^, das Forum Nachhaltige Entwicklung der deutschen Wirtschaft e. V., welche jedoch keine konkreten Leitlinien oder Standards vorgeben. Eine regelmaBige Bewertung und damit Anerkennung nachhaltiger Untemehmensaktivitaten wird bisher insbesondere durch eine Listung in den Nachhaltigkeits-Indizes FTSE4G00D oder dem Dow Jones Sustainability Index erreicht."* Da Nachhaltige Entwicklung auf zukiinftigen okologischen und sozialen Entwicklungen basiert, welche aufgrund ihrer Komplexitat und Unsicherheiten ein staatlich regulierendes Eingreifen oflmals unmoglich machen, miissen Untemehmen meist flexible Losungsansatze entwickeln, um nachhaltige Anforderungen und Ziele innerhalb ihres Wirtschaftens operativ umzusetzen, damit die Untemehmensleistung zu verbessem und so einen Weg zur Realisierung von Nachhaltigkeit zu finden."^ Ubergeordnet spielen Umwelt- und Sozialstandards, zunehmend durch gesellschaftliche Institutionen gesetzt, als international etablierte Leitlinien zwar eine wichtige RoUe, sie haben aber noch keinen allgemein gesetzlich verpflichtenden Charakter erreicht.''^ Als Ausloser fur die steigende Bedeutung und vermehrte Einfuhrung von Stan-

'^ Econsense ist eine Initiative fiihrender national und global agierender Untemehmen und Organisationen der Deutschen Wirtschaft, die das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung in ihre Untemehmensstrategie integriert haben. Das Forum wurde im Juli 2000 auf Initiative des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) gegriindet und zahlt mittlerweile 22 Untemehmen aus 9 Branchen zu seinen Mitgliedem. Weiterfiihrend siehe online unter: http://www.econsense.de. "' Vgl. Fuchs 2004. "' Vgl. EpsteinyTloy 1998, S. 287; Miiller 2003, S. 1. "^ Vgl. Matten/Wagner 1998, S. 65 sprechen von einer „Normsetzungspflicht der Untemehmen"; Zabel 1999a, S. 10 von „Normiemngsverantwortung", Miiller 2003, S. 1.

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2.1 Nachhaltige Entwicklung

dards sowie Entwicklung von Codes of Conduct in Untemehmen konstatiert Berenbeim drei wesentliche Griinde:'^ 1. Die Globalisierung der Markte treibt Untemehmen dazu, Standards als offentliche Statements universeller Untemehmensgrundsatze weltweit einzusetzen. 2. Hinzu kommt eine verstarkte Einbindung von Vorstanden und Aufsichtsraten in den Prozess der Entwicklung von Standards, um die Akzeptanz dieser als Teil von Regierungsprozessen zu verdeutlichen. 3. Eine qualitative Verbesserung und damit steigende Wahmehmung der Standards resultiert aus den zunehmenden ethischen Erfahrungen des Senior Managements. Bisher kam es vor allem in der Textilindustrie zur Entstehung zahlreicher Codes of Conduct (vgl. C&A, Deichmann und Otto). Langois und Schlegelmilch definieren diese als „...a statement setting down corporate principles, ethics, rules of conduct, codes of practice or company philosophy concerning responsibility to employees, shareholders, consumers, the environment or any other aspect of society external to the company. ""^ Die Social Accountability Initiative (SAI)"* aus New York geht davon aus, dass mittlerweile weltweit bereits 500 verschiedene Codes of Conduct fur Zulieferer existieren. Beispiele von Untemehmen am deutschen Markt mit unterschiedlichen Formen sind PUMA AG, Otto Group, Kraft AG, BASF AG und Hewlett-Packard GmbH."^ 2.1.5.1 Die Entstehung von Standards Standards im heutigen Sinne fmden sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts, entstanden im Zuge der europaischen Industrialisiemng als Reaktion auf die Ausbeutung der Arbeiter in den neu entstandenen Fabriken.'^* Dabei handelte es sich um staatlich vorgeschriebene Sozialstandards als Reaktion auf das gmndlegende Machtgefalle zwischen Arbeitnehmem und Arbeitgebem. Es begann mit den „factory acts" in GroBbritannien, die die Arbeitszeit fur Jugendliche unter sechzehn Jahren auf zwolf Stunden pro Tag reduzierten und die Arbeit von Kindem unter neun Jahren ganzlich verboten. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist ein stetiges Anwachsen von Zahl und Genauigkeit staatlicher und tarifvertraglicher Standards in alien industrialisierten Landem zu verzeichnen."' Dabei bestehen jedoch heute noch von Land zu Land Unterschiede, was von wem wie geregelt wird.^^ Durch die ansteigende Arbeitslosigkeit in den Siebzigem und die zunehmende Verdichtung globaler Interaktionen in den Neunzigem sowie die steigende Transparenz beziiglich Arbeits-, Lebens- und Umweltbedingungen in den verschie-

Vgl. Berenbeim 2000, S. 7. Langois/Schlegelmilch 1990, S. 522. Siehe online unter: http://www.cepaa.org. Vgl. Kopke 2003. Vgl. Reichert 2000, S. 7; Pallmann 2002, S. 3. Vgl. Pallmann 2002, S. 3. Vgl. Reichert 2000, S. 7.

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denen Regionen der Erde sind solche Regelungen jedoch vermehrt unter Druck geraten. Dies hatte in den letzten Jahren eine verstarkte Ausbreitung privater Standards, zuerst im okologischen und spater im sozialen Bereich, zur Folge, deren Erfolg aufgrund ihrer freiwilligen Anwendung bislang relativ gering ist.^®' 2.1.5.2 Bedeutung, Definition und Ziele In der Literatur werden die verschiedensten Begriffe wie Leitlinien, Prinzipien, Normen oder Standards mit diesem Thema in Verbindung gebracht. Teilweise erfolgt eine Unterscheidung und Abgrenzung, oftmals werden diese jedoch synonym verwendet. Insgesamt wird in der Arbeit nicht zwischen den einzelnen Begriffen unterschieden. Trotzdem soil in Ansatzen eine grobe Einordnung der Begriffe Normen und Standards gegeben werden. Normen haben eine technische und wirtschaftliche Verbesserung auf iiberbetrieblicher Ebene zum Ziel. Sie stellen allgemein anerkannte Regeln dar, die in alien Bereichen des menschlichen Lebens existieren und diese somit gestalten und dadurch ein gemeinschaftliches Miteinander erst ermoglichen.^®^ Regeln sind „fiir einen abgegrenzten Adressatenkreis gultige, dauerhafte Restriktionen individuellen und kollektiven Tuns, die die Zielsetzung haben, individuelles und kollektives Handeln fur bestimmte Problemjalle und Problemklassen vorzustrukturieren. "^°\ Dies ist jedoch ein sehr weites Begriffsverstandnis. Stable dagegen bezeichnet Normen als Verhaltensanforderungen bzw. als „Richtschnur des Handelns".^*^ Sie konnen entsprechend ihrem Entstehungsprozess, ihrem Geltungsbereich und ihrem Objektbezug gegeneinander abgegrenzt werden.^"^ Nach Miiller ergeben sich durch eine Normung^^ auf iiberbetrieblicher Ebene auf einzelwirtschaftlicher Ebene entsprechende Standards fur Untemehmen.^"' Die International Organization for Standardisation (ISO) beschreibt Standards als ein „Dokument, das mit Konsens erstellt und von einer anerkannten Institution angenommen wurde und das fiir die allgemeine und wiederkehrende Anwendung Regeln, Leitlinien oder MerkmalefUr Tdtigkeiten oder deren Ergebnisse festlegt, wobei ein optimaler Ordnungsgrad in einem gewissen Zusammenhang angestrebt wird. "^^^ Standards konnen im Kontext dieser Arbeit auch als anerkannte Regeln verstanden werden.

^°' Vgl. zu okologischen Standards Freimann 1997; Dyllick/Hamschmidt 2002; fiir soziale Standards existieren noch keine empirischen Befunde; Gilbert 2001, S. 130. '"' Vgl. Muller 2001a, S. 64. ^°^ Burr 1998, S. 314. ' ^ Vgl. Staehle 1999, S. 277. '"' Vgl. Schwaderlapp 1999, S. 78. ^'^ Definition: Normung ist „[...] die planmafiige, durch die interessierten Kreise gemeinschaftlich durchgefuhrte Vereinheitlichung von materiellen und immateriellen Gegenstanden zum Nutzen der Allgemeinheit.", Deutsches Institut fur Normung (DIN) 2001, S. 547. 2"' Vgl. Muller 2001a, S. 65. '"' DIN 2001, S. 548.

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2.1 NachhaltigeEntwicklung

In den letzten Jahren ist vor allem das Interesse an international etablierten Standards in den Bereichen Umwelt und Soziales gestiegen, welche mit ihrem Themenfokus explizit in das Drei-Saulen-Konzept der Nachhaltigkeit eingeordnet werden konnen.^^ Umweltstandards bezeichnet der Rat der Sachverstandigen fiir Umweltfragen als „ quantitative Festlegungen zur Begrenzung verschiedener Arten von anthropogenen Einwirkungen auf den Menschen und/oder die Umwelt "^^^. Dagegen konnen Sozialstandards definiert werden als anerkannte Mai3stabe zur Gestaltung von Arbeitsverhaltnissen und sozialen Sicherungssystemen^", also als Bedingungen, unter denen Menschen arbeiten und produzieren. Jedoch ist die Vielfalt der mit dem Wort Sozialstandards assoziierten Begriffe sehr grofi und reicht von den Kemarbeitsnormen uber Sozialklauseln bis bin zu Gutesiegeln und Verhaltenskodizes.^'^ Eine allgemein anerkannte Definition gibt es bisher allerdings noch nicht.^'^ Das Verstandnis von Sozialstandards ist somit sehr weitlaufig und die soziale Dimension Nachhaltiger Entwicklung generell noch nicht geniigend erforscht und abgegrenzt.^"* Dazu kommen weitere Begriffe wie z. B. Codes of Conduct.^'^ Vor dem Hintergrund des Leitbildes einer Nachhaltigen Entwicklung ergab sich eine groBe Anzahl von Standardinitiativen, die sich beziiglich ihrer Verbindlichkeiten, dem Grad der Selbsterftillung, inhaltlicher Themen bzw. Probleme (detaillierte Handlungsanleitungen, Normierungsverfahren etc.) unterscheiden.^"* Nach Waddock, Bodwell und Graves existieren bisweilen insgesamt iiber 400 Leitlinien, Prinzipien, Normen und Standards, die im Bereich Nachhaltigkeit angesiedelt werden konnen.^'^ Grundsatzlich konnen Standards in die Instrumente der Nachhaltigkeitspolitik eingeordnet werden. Man unterscheidet dabei: (1) Regulative Instrumente (Command-and-controlInstrumente) offentlicher Institutionen, wie z. B. Emissionsrichtlinien, welche das Mal3 an Umwelt- und Sozialleistungen bzw. Technologieinnovationen vorgeben, die von Untemehmen erreicht werden miissen. (2) Okonomische Instrumente (marktbasierte Instrumente) in Form fmanzieller Anreize, wie z. B. Steuem, um negative okologische und soziale Auswirkungen bestimmter Handlungen zu verringem bzw. zu vermeiden. (3) Zu den freiwilligen Instrumenten zahlen alle Selbstverpflichtungen von Untemehmen beziiglich ihrer Umweltund Sozialleistungen, beispielsweise Codes of Conduct, die weiterftihrend sind als die vorherrschenden gesetzlichen Vorgaben.^'* Gemafi diesen Defmitionen sind Standards den freiwilligen Instrumenten der Nachhaltigkeitspolitik zuzuordnen. Sie basieren meist auf dem

Vgl. Jenkins 2001, S. 5. SRU 1996, Tz. 727. Vgl. Sautter, S. 2. Vgl. Pallmann 2002, S. 3 ff. Vgl. Brown 2000, S. 4 ff. Vgl. Empacher/Kluge 1999, S. 87. Vgl. Jenkins 2001. Vgl. Waxenberger 2000, S. 17; Jenkins 2001, S. 5. Vgl. Waddock et al. 2002, S. 138. Vgl. Barde 2000, S. 157 ff.; Borkey et al. 2000, S. 8.

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Prinzip der freiwilligen Einhaltung und beinhalten okologische und soziale Bereiche, die gesetzlich bisher noch nicht weltweit einheitlich geregelt sind.^" Die Einbeziehung und Umsetzung von Standards in einem bestimmten Kontext von Unternehmen verfolgt im Allgemeinen folgende vier Ziele:^^® Risikominimierung Bei der Minimierung von Risiken fur Untemehmen spielen vor allem Themen der Verursachung okologischer Schaden als auch Strafen wegen Nichteinhaltung sozialer Menschenrechte eine Rolle. Die Untemehmensleistungen in diesen Bereichen sollen ixber die gesetzlichen Regelungen hinausgehend verbessert werden, um sich dadurch gegen Missstande abzusichem^^', sich fruhzeitig an scharfere Umweltgesetzte anzupassen bzw. diese zu vermeiden"^ und gleichzeitig Wettbewerbsvorteile zu erlangen. Dieses Ziel kann nun wiederum in drei Teilbereiche differenziert werden:"^ • Verbraucherschutz und Markttransparenz: Schutz des Verbrauchers vor qualitativ minderwertigen oder gefahrlichen Produkten als bisher haufigste Zielsetzung, • Umweltschutz: Schutz der Umweh vor Beeintrachtigungen und Schaden, die bei der Herstellung und Verwendung von Giitem und Dienstleistungen entstehen konnen und • Arbeitnehmerschutz: vor gesundheitsgefahrdenden Arbeitsbedingungen. Prozess- und Kostenoptimierung UmwehschutzmaBnahmen konnen gleichzeitig in verschiedenen Bereichen zu Prozess- und Kostenoptimierungen fur das Untemehmen fiihren. Mogliche Beispiele dafiir konnen sein: Abfall- und Ausschussreduzierungen aufgrund qualitativ besser geeigneter Materialien, optimierter Verfahren oder Qualitatssicherungssystemen, Verringerung des Primarinputs resultierend aus der Wieder- und WeiterverwendungZ-verwertung einzelner Materialien oder dem Einsatz anderer Materialen mit besserer Nutzungsquote, Energieeinsparungen als Nebenprodukt der Einfuhrung neuer umweltfreundlicher Technologien."^

Vgl. Griineberg et al. 2001, S. 64. Vgl. Bogaschewsky 2004, S. 192. „In vielen Industrien werden gefahrliche Outer (fur Mensch und Umwelt) ver- bzw. bearbeitet, oder es stellen die Produktionsprozesse selbst ein Risiko dar. Risikosenkend wirkt sich die Durchfuhrung adaquater technischer und/oder organisatorischer MaBnahmen sowie die Verwendung weniger gefahrlicher Materialien aus, [...].", Bogaschewsky 2004, S. 192 f. „Fruhzeitige Anpassungen an zukiinftige Verscharfungen der Umweltgesetzgebung sind oft kostengiinstiger als reaktive Strategien nach dem Erlassen neuer Vorschriften. Zudem konnen diese aktiven Strategien teilweise fiir ein positives Marketing genutzt werden. [...] Freiwillige MaBnahmen einzelner Untemehmen oder ganzer Industrien wirken haufig aufschiebend hinsichtlich des Erlassens scharferer Umweltgesetze.", Bogaschewsky 2004, S. 193. Vgl. Reichert 2000, S. 6. Vgl. Carasco/Singh 2003, S. 72; Bogaschewsky 2004, S. 194 f.

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2.1 Nachhaltige Entwicklung

Kundenorientierung Mit Hilfe der Umsetzung von Standards sollen ebenfalls okologisch und sozial orientierte Kundenwiinsche einbezogen werden. Dabei konnen zwei Strategien unterschieden werden. Im Rahmen einer Anpassungsstrategie an Kundenwiinsche reagiert das Untemehmen auf konkrete Forderungen im Zuge der Marktentwicklungen. Fiir die Manipulation von Kundenwiinschen wird bei einer Defensivstrategie dagegen versucht, Wiinsche von Konsumenten in Verbindung mit hoheren Umwelt- und Sozialstandards zu beeinflussen bzw. ganz zu verhindem. Meist werden die funktionalen Eigenschaften eines Produktes unter Ausklammerung jeglicher okologischer und sozialer Aspekte hervorgehoben. Nur selten werden in Form einer aktiven Strategie okologische und soziale Kundenpraferenzen propagiert und die Leistungsfahigkeit des eigenen Untemehmens auf diesen Gebieten besonders betont und vermarktet, um gezielt eine Differenzierung und Positionierung anzustreben."' Reputation Besonders die Sicherung bzw. der Ausbau von Reputation gegeniiber Kunden und anderen Stakeholdem ist ein weit verbreitetes Ziel im Zusammenhang mit dem Bestreben nach Umsetzung der Standards. Reputation wird heutzutage als wertvoller „intangible asset" betrachtet, da ein gutes/schlechtes Image die Wettbewerbsposition und somit den Erfolg eines Unternehmens mittel-, aber auch schon kurzfristig fordem/schadigen kann. Negative Testberichte Oder Medienreportagen konnen Umsatze relativ schnell von heute auf morgen einbrechen lassen. Vereinzelt gibt es aber auch Untemehmen, die sich nicht nur aus okonomischen Griinden, sondem auch aufgrund ihres „ethischen Gewissens" umweh- und/oder sozialvertraglich verhahen. Diese haben jedoch meist von vomherein eine gesicherte okonomische Basis und fehlenden Wettbewerbsdruck."^ 2.1.5.3 Kategorisierung von Standards Unabhangig davon, welches Ziel ein Untemehmen mit der Beriicksichtigung von Standards innerhalb seiner Geschaftstatigkeiten verfolgt, gibt es eine Vielzahl von Standardformen (Kategorien), die unterschieden werden konnen. Gmndsatzlich konnen Standards fiir eine Kategorisiemng in drei verschiedene Arten unterteilt werden:^" • Produktstandards: betrachten Merkmale von Produkten wie Inhaltsstoffe, GroBe, Form etc. Sie stellen die einfachste und meist angewandte Standardform dar, die sowohl einerseits aus Griinden des Verbraucherschutzes als auch andererseits des Umweltschutzes eingesetzt werden.

Vgl. Carasco/Singh 2003, S. 72; Bogaschewsky 2004, S. 195 f Vgl. Carasco/Singh 2003, S. 72; Bogaschewsky 2004, S. 196 f. Vgl. Reichert 2000, S. 6; Mcintosh 2003, S. 22; auch Waxenberger 2000.

2 Konzeptionelle Grundlagen

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Prozessstandards (Produktionsstandards, formale Standards): beinhalten Vorgaben/Normierungen ftir Produktionsprozesse, die Auswirkungen auf das Endprodukt haben konnen, uberlassen die Ausgestaltung der einzelnen Standards aber dem umsetzenden Untemehmen. Daraus werden untemehmensbezogene Ziele fur die inhaltliche Ausgestaltung abgeleitet und notwendige Strukturen fur deren Umsetzung eingefiihrt. Beispiele dafur sind definierte Produktionsprozessvorschriften, Anwendungsverbote bestimmter Prozesse oder Auflagen.



Verhaltensstandards (Leistungsstandards): geben keine direkten Vorgaben ftir den Einsatz bestimmter Produktionsprozesse, sondem klare Handlungsanleitungen fur ein bestimmtes Verhalten fur interne Betriebsablaufe. Sie defmieren also genau, was ein Untemehmen tun bzw. nicht tun soll/darf, wie z. B. auf Kinderarbeit zu verzichten oder Mindestlohne zu zahlen. Mcintosh bezeichnet sie altemativ auch als Leistungsstandards.^^* Sie machen somit qualitative Aussagen (dahingegen Prozessstandards eher quantitativ-technische), stehen jedoch dem Problem gegenuber, dass weder auf nationaler noch intemationaler Ebene Ubereinstimmung beziiglich der Inhalte und Interpretation solcher Standards existiert."'

Weiterfuhrend konnen diese Formen durch die Kategorien Zertifikat und Grundlagen erganzt werden:"^ • Zertifizierungsstandards enthalten ein System von Vorgaben, deren Einhaltung durch dritte Parteien im Untemehmen geprufl/zertifiziert wird. •

Grundlagenstandards versuchen durch die Einbeziehung von Best PracticeBeispielen Leitlinien fur nachhaltiges Handeln zu entwickeln.

Unter dem Blickwinkel umweltorientierter und sozialer Anfordemngen im Rahmen der Nachhaltigkeitsdiskussion spielen vor allem Prozess- und Verhaltensstandards eine wesentliche Rolle. Zu den Prozessstandards gehoren Ziele wie Emissionsgrenzwerte oder Arbeitssicherheit, zu den Verhaltensstandards Themen wie Vereinigungsfreiheit oder das Recht auf Kollektiwerhandlungen. Genau in diesem Punkt liegen die Besonderheit und das Problem fur die Umsetzung entsprechender Standards in Lieferantenketten. Ihre Einhaltung lasst sich im Gegensatz zu Produktstandards nicht durch die Analyse des fertigen einzelnen Produktes uberpriifen. Fiir die Uberwachung der Einhaltung von Prozess- und Verhaltensstandards bedarf es der Kontrolle und Uberwachung betriebsintemer Ablaufe und Verfahrensweisen (Monitoring). Gmndsatzlich kann ein Standard auch mehreren Kategorien zugeordnet werden."*

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Mcintosh etal. 2003, S.l. Waxenberger 2000, S. 18. Mcintosh et al. 2003, S. 22 f. Mcintosh et al. 2003, S. 22 f

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2.1 NachhaltigeEntwicklung

2.1.5.4 StandardsySterne In der Literatur existiert inzwischen eine breite Palette von Umwelt- und Sozialstandards. Im Forschungsprojekt wurde eine Auswahl der am haufigsten diskutierten privaten Umwelt- und Sozialstandards, Grundsatze bzw. Prinzipien getroffen, welche ausfuhrlicher auf ihre Bedeutung und Inhalte hin untersucht wurden (siehe Kapitel 4.2.1). Ein Teil dieser Standardsysteme fasst Mcintosh zu den „Global Eight" zusammen, welche seiner Meinung nach im Rahmen von Corporate Citizenchip"^ weltweit die groBte Relevanz und Verbreitung aufweisen. Zu dieser Gruppe gehoren der Global Compact, die ILO-Kemarbeitsnormen, die Guidelines fur multinationale Untemehmen der Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD), die Global Sullivan Principles^", die 14000 Serie der International Organisation for Standardization (ISO), der Social Accountability 8000 (SA 8000), der AccountAbility 1000 (AA 1000) und die Global Reporting Initiative (GRI)."^ Die Arbeitssicherheitsstandards British Standards (BS) 8800 und Occupational Health and Safety Assessment Series (OHSAS) 18001 beinhalten den Schutz der Mitarbeiter vor moglichen negativen Auswirkungen der beruflichen Tatigkeit. ISO 14001 und erganzend Eco-Management & Audit Scheme (EMAS) sind die meist verwendeten Standards zur Zertifizierung von Umweltmanagementsystemen"^ (UMS) auf intemationaler bzw. europaischer Basis. Internationale Sozialstandards stehen zwar noch am Anfang ihrer Etablierung, doch bereits jetzt wird SA 8000 und AA 1000 eine gewisse Bedeutung beigemessen. Der Global Compact, die International Chamber of Commerce (ICC)-Charta ftir eine langfristig tragfahige Entwicklung, die OECD-Guidlines fur multinationale Untemehmen sowie die GRI-Richtlinien entsprechen eigentlich nicht der Definition von Standards, welche normalerweise spezifisch ausgestaltet sind und fiir die Einhaltung konkreter Verhaltensweisen auf Basis fest definierter MaBstabe eintreten. Sie stellen allgemein gehaltene Grundsatze bzw. Prinzipien dar, die iibergeordnete Werte verkorpem, ohne konkrete Handlungsempfehlungen zu geben.^^*^ Sie spannen jedoch Rahmenbedingungen auf, an denen sich Untemehmen beziiglich ihrer strategischen Ausrichtung fur eine Nachhaltige Entwicklung orientieren konnen.

Vgl. Mcintosh et al. 2003. Die Global Sullivan Principles sind ein 1977 von Leo Sullivan, Mitglied des Aufsichtsrates von General Motors, festgelegter Verhaltensstandard fur US-amerikanische multinationale Untemehmen in Bezug auf ihre untemehmerische Tatigkeit in Siidafrika. Da dieser Standard fiir die Volkswagen AG als deutschen Automobilhersteller keine Bedeutung hat, soil er in den folgenden Ausfuhrungen nicht weiter untersucht werden. Vgl. Mcintosh et al. 2003, S. 1. Dyllick und Hamschmidt definieren das Ziel eines UMS wie folgt: „Ein UMS hat sicherzustellen, da6 alle gesetzlichen Anforderungen im Umweltbereich - im Sinne eines Minimalerfordemisse - eingehalten werden, aber auch dafi dariiber hinausgehende, eigene Ziele in Richtung einer kontinuierlichen Verbesserung und Verminderung von Umweltbelastungen verfolgt werden. Okologische Kriterien und Zielsetzungen miissen in den Tatigkeiten aller Bereiche des Untemehmens berucksichtigt werden, aber auch auf alien Ftihrungsebenen in die Entscheidungen einflieBen: von der obersten Ebene der Untemehmenspolitik iiber die Festlegung spezifischer Umweltprogramme bis zur Umsetzung dieser Programme auf operativer Ebene mittels geeigneter Personen, Strukturen, Mafinahmen und Mittel." Dyllick/Hamschmidt 2002, S. 481. Vgl. Mcintosh et al. 2003, S. 22.

2 Konzeptionelle Grundlagen

55

Im Folgenden sollen nun ausgewahlte Standards und Prinzipien vorgestellt, in die Entwicklung eingeordnet sowie inhaltlich genauer untersucht werden. Dabei wurde Bezug genommen auf Prinzipien und Standards, die fiir Volkswagen relevant sind, weil sie im Untemehmen als Leitlinien fur eine Nachhaltige Entwicklung bereits aufgenommen bzw. zukunftig aufgrund ihrer intemationalen Etablierung von wesentlicher Bedeutung sein konnen. AccountAbility 1000 Der AA 1000 wurde 1999 vom Institute for Social and Ethical AccountAbility (ISEA) innerhalb eines intemationalen Konsultationsprozesses von Untemehmen, NGOs und der Wissenschaft entwickelt. Er hat zum Ziel, die soziale Verantwortung und die Sozialleistungen von Untemehmen durch Lemprozesse im Rahmen einer umfassenden aktiven Stakeholderbeteiligung Stiick fur Stiick zu verbessem. Diese Stakeholder-Beteiligung findet weltweit statt und basiert auf Freiwilligkeit. Der gesamte Prozess des AA 1000 besteht aus dem Social and Ethical Accounting, Auditing and Reporting (SEAAR): der Erfassung von ethisch relevanten Sachverhalten, der LFberpriifung diesbeziiglicher Aufzeichnungen und der Publikation der Ergebnisse.^" Das heifit, ein Untemehmen beschreibt, erklart und rechtfertigt seine Handlungen, Unterlassungen, Risiken und Abhangigkeiten. Dadurch sollen die Wirtschaftsweise von Untemehmen legitimiert und das Vertrauen kritischer Anspmchsgruppen als Voraussetzung fur Reputationskapital erreicht werden."* Der AA 1000 lasst sich in mehrere Prozessschritte einteilen:"' 1. Planung, 2. Accounting (Informationserfassung), 3. Audit und Berichterstattung, 4. Einbettung in das Untemehmen. Bei diesem Standard werden inhaltlich keine normativen Elemente vorgegeben, was zu einer hohen Flexibilitat in Bezug auf die Rahmenbedingungen fuhrt.^^^ BS 8800/OHSAS 18001 Der BS 8800 und die OHSAS 18001 sind Standards fur Arbeitssicherheit, um Mitarbeiter eines Untemehmens vor moglichen negativen Auswirkungen ihrer bemflichen Tatigkeit durch adaquate MaBnahmen a priori zu schiitzen. Als erster Standard in diesem Bereich wurde 1996 der BS 8800 eingefuhrt, der Untemehmen einen Leitfaden zur Unterstutzung fur den Aufbau eines Occupational Health and Safety Management Systems gibt.^'*' Dieses beinhaltet die Festlegung einer Arbeitssicherheitsstrategie, einschliefilich Zielsetzung sowie deren Um-

Vgl. ISEA 1999; weiterfiihrend siehe online: http://www.accountability.org.uk. Vgl. Zadek 2001, S. 198 ff Vgl. ISEA 1999,8.13. Vgl. Gilbert 2003, S. 35 ff.; Mcintosh et al. 2003, S. 26. Vgl. British Standard (BS) 8800 1996.

56

2.1 Nachhaltige Entwicklung

setzung und Kontrolle. Seit 1999 wurde Untemehmen vom British Standard Institute durch die OHSAS mit dem Standard OHSAS 18001 zusatzlich die Moglichkeit einer extemen Zertifizierung von Managementsystemen im Arbeitssicherheitsbereich gegeben.^^^ Inhaltlich stimmen der BS 8800 und der OHSAS 18001 fast vollstandig uberein.^'^ Eco-Management & Audit Scheme (EMAS) Die EMAS-Verordnung, friiher auch Oko-Audit-Verordnung genannt, wurde 1995 von der Europaischen Union (EU) mit dem Ziel der Bewertung und kontinuierlichen Verbesserung von Umweltleistungen von Organisationen und einer diesbeziiglichen offentlichen Berichterstattung eingeftihrt. Sie enthalt Bedingungen ftir die freiwillige Teilnahme am ersten europaweit einheitlichen System zum Umweltmanagement und zur Betriebspriifung sowie formale Regeln zur Erstellung eines Umweltmanagementsystems harmonisiert im gesamten Gebiet der EU. Damit sollen Untemehmen zu freiwilligen Bemiihungen im Umweltschutz angeregt werden, wobei es im Besonderen um das AnstoBen selbsttragender okologischer Innovationsprozesse geht.^'^ Seit 2001 existiert nach einer weitgehenden Revision nun eine iiberarbeitete Version-EMAS II. Global Compact Der Global Compact ist eine Initiative der Vereinten Nationen, die 1999 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos von Generalsekretar Kofi Annan ins Leben gerufen wurde. Er verfolgt das Ziel der Zusammenfiihrung aller relevanten Gruppen (Regierungen, Untemehmen, Arbeitsmarkt, NGO und die Vereinten Nationen) fiir den freiwilligen gemeinsamen Aufbau sozialer und okologischer Eckpfeiler der Weltwirtschafl.^''' Gmndlage daftir sind die Allgemeine Erklamng der Menschenrechte von 1948, die Erklamng der Intemationalen Arbeitsorganisation uber die gmndlegenden Prinzipien und Rechte bei der Arbeit von 1998 und die Erklamng von Rio de Janeiro zu Umwelt und Entwicklung einschliefilich der Agenda 21 von 1992. Der Global Compact besteht insgesamt aus zehn allgemeinen Prinzipien aus den Bereichen Menschenrechte, Arbeitsnormen, Umweltschutz und Anti-Kormption:^'^ • Schutz der intemationalen Menschenrechte im eigenen Einflussbereich, • keine Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen, •

Wahmng der Vereinigungsfreiheit und wirksame Anerkennung des Rechts auf Kollektivverhandlungen,



Abschaffling jeder Art von Zwangsarbeit,



wirksame Abschaffung der Kinderarbeit,

Vgl. British Standard OHSAS 18001 1999. Vgl. Forster 2003, S. 102 ff. Vgl. Freimann 1997, S. 113 ff.; Miiller-Christ 2001, S. 288; weiterfuhrend siehe online: http://www.europa.eu.int/comni/environment/emas/. Vgl. VOLKSWAGEN AG 2002a, S. 4. Vgl. VOLKSWAGEN AG 2002a, S. 3 f.

2 Konzeptionelle Grundlagen



Beseitigung der Diskriminierung in Beschaftigung und Beruf,



umsichtiger Umgang mit okologischen Herausforderungen,



Initiativen zur Forderung eines verantwortlichen Umgangs mit der Umwelt,

57



Entwicklung und Vorbereitung umweltfreundlicher Technologien,



Bekampfung jeglicher Form von Korruption einschliefilich Erpressung und Bestechung.

GRI-Richtlinien 1997 wurde als Gemeinschaflsprojekt des California Environmental Resources Evaluation System (CERES) und des United Nations Environment Programme (UNEP) die Global Reporting Initiative mit dem Ziel der Schaffung weltweit anwendbarer Richtlinien fur die Berichterstattung tiber okonomische, okologische und soziale Leistungen von Untemehmen gegriindet.^'*^ Im Jahr 2002 kam es zur Veroffentlichung einer zweiten, iiberarbeiteten Version, bei der inzwischen auch eine Ausweitung der Richtlinien auf andere Organisationstypen stattgefunden hat. Die GRI-Richtlinien bieten ein standardisiertes Format ftir die Berichterstattung im Rahmen einer Nachhaltigen Entwicklung sowie zur Verbindung der okonomischen, okologischen und sozialen Elemente.^** Sie stellen ein Instrument dar, um die Beitrage einer Organisation ftir eine Nachhaltige Entwicklung glaubwiirdig, konsequent und vergleichbar publizieren zu konnen und sind maximal dazu geeignet, Normen, Standards oder Leitlinien zu unterstiitzen, zu harmonisieren und zu integrieren.^'*' Sie bilden den Rahmen zur Erstellung von Nachhaltigkeitsberichten, Sammlung und Presentation von Ergebnissen:"" 1. Einleitung und allgemeine Anleitung (Hintergrund zum Wesen, Aufbau und Bedarf der GRI, Anleitungen zum Aufbau und zur Anwendung des Leitfadens), 2. Berichterstattungsgrundsatze und -praktiken (grundsatzliche Untermauerungen, Konzepte und Praktiken), 3. Leitfaden (Strukturierung und Einzelheiten des Inhalts eines Berichtes und Anleitung zur Zusammenstellung der verschiedenen Telle des Berichts), 4. Anhange (Anleitungen und Mittel zur Verwendung). ICC-Charta Die Internationale Handelskammer verabschiedete 1991, in Anlehnung an den BrundtlandBericht, die Business Charter for Sustainable Development, ubersetzt „Charta fur eine langfristig tragfahige Entwicklung"."' Darin werden 16 Grundsatze des Umweltmanagements zu

Vgl. VOLKSWAGEN AG 2002b, S. 108. Vgl.Zadek 2001,8.209. Vgl. GRI 2002, S. 8. Vgl. GRI 2002. Vgl. Meffert/Kirchgeorg 1998, S. 184 ff.

58

2.1 Nachhaltige Entwicklung

folgenden Themen formuliert, die zur Unterstiitzung der Wirtschaft in ihrem Bemiihen um umweltgerechtes Verhalten fur einen freien und fairen Wettbewerb weltweit dienen sollen:^" •

umweltorientiertes Management und umweltvertraglich Entwicklung,



neuester Stand der Wissenschafl und Technik,



Schulung der Beschaftigten zur Verantwortung flir die Umwelt,



Priifung von Umweltfolgen vor Beginn oder Stilllegung von Aufgaben,



Produkte oder Dienstleistungen ohne Auswirkungen auf die Umwelt,



Information und Beratung von Kunden, Handlem und Offentlichkeit,



sparsamer Einsatz von Energie und Rohstoffen, Nutzung emeuerbarer Ressourcen,



Einhaltung der Grundsatze durch Subuntemehmer bzw. Zulieferer,



Zusammenarbeit mit Rettungsdiensten, Behorden und Kommunen,



Entwicklung und Forderung des Umweltbewusstseins und des Umweltschutzes, Transfer umweltfreundlicher Technologien,



Uberprufung von UmweltmaBnahmen, Durchflihrung von Umweltschutzaudits, regelmaBige Information von Stakeholdem.

Bereits zu dieser Zeit wurde umweltgerechtes Verhalten als ein wichtiger Baustein ftir Nachhaltigkeit akzeptiert.^" Die ICC-Charta gilt als wichtiger Vorlaufer fur das Kapitel 30 der Agenda 21.^*^ Sie enthalt jedoch keine Aussagen zu sozialen Anforderungen. ILO-Kernarbeitsnormen Die „Erklarung iiber die grundlegenden Prinzipen und Rechte der Arbeit" wurde 1998 von den 175 Mitgliedsstaaten der International Labor Organisation einstimmig angenommen. Zu den Kemarbeitsnormen gehoren acht Konventionen, die den vier Grundprinzipien Vereinigungsfreiheit, Zwangsarbeit, Diskriminierung und Kinderarbeit zugeordnet werden konnen:"^ • Nr. 87: Vereinigungsfreiheit und Schutz des Vereinigungsrechtes (1948) und Nr. 98: Vereinigungsrecht und Recht auf Kollektivverhandlungen (1949), • Nr. 29: Zwangsarbeit (1930) und Nr. 105: Abschaffung der Zwangsarbeit (1957), • Nr. 100: Recht auf gleiche Entlohnung von Frauen und Mannem (1951) und Nr. I l l : Diskriminierungsverbot am Arbeitsplatz (1958), • Nr. 138: Mindestalter der Zulassung zur Beschaftigung (1973), • Nr. 182: Verbot und Beseitigung der schlimmsten Formen von Kinderarbeit (1999).

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

International Chamber of Commerce (ICC) 1991. Deutsche Gruppe der Intemationalen Handelskammer 1991. BMU 1993,8.255. Sautter, S. 4; Mcintosh et al. 2003, S. 23; weiterfiihrend siehe online: http://www.ilo.org.

2 Konzeptionelle Grundlagen

59

Die Erklarung wird als bedeutende Entwicklung fur eine weltweite Beriicksichtigung und Implementierung dieser Prinzipien im Wirtschaftsgeschehen anerkannt."'^ Insgesamt fehlt ihr jedoch ein Wirkungsgrad aufgrund des mangelnden Zwangs zur Umsetzung."^ ISO 14001 Die ISO 14000-Normserie wurde 1996 von der International Organization for Standardization in Zusammenarbeit mit dem World Business Council for Sustainable Development (WBCSD) weltweit als Instrument zur Einrichtung, Priifung und Bewertung von Umweltmanagementsystemen eingefuhrt."* Ziel der ISO 14001 ist „die Forderung des Umweltschutzes und die Verhiitung von Umweltbelastungen im Einklang mit [...] soziookonomischen Erfordernissen ""' unter Beriicksichtigung einer kontinuierlichen Verbesserung. Sie besteht aus mehreren Teilschritten:'** 1. Festlegung einer Umweltpolitik: Rahmenabsteckung der Organisation, 2. Planung: Festlegung messbarer umweltbezogener Zielsetzungen, 3. Implementierung und Durchfuhrung: Umsetzung mit dazu notwendigen Ablaufen, 4. Kontrolle und Korrektur: Uberwachungsaufgaben, Messung, Umweltmanagementsystemaudit, 5. Bewertung: des Umweltmanagementsystems durch die oberste Leitung der Organisation. OECD-Leits^tze fiir multinationale Unternehmen Die Guidelines for Multinational Enterprises der Organisation for Economic Co-operation and Development sind Bestandteil der OECD-Erklarung uber intemationale Investitionen und multinationale Unternehmen.^*" „Die Leitsdtze spiegeln die gemeinsamen Wertvorstellungen der Regierungen jener Lander wider, die Ursprung des grofiten Teils der weltweiten Direktinvestitionsstrome sind und in denen die meisten multinationalen Unternehmen ihren Hauptsitz haben. Sie gelten fiir die von letzteren weltweit abgewickelten geschdftlichen Transaktionen. "^" Sie enthalten Empfehlungen von Regierungen teilnehmender Staaten^" fiir ein weltweit verantwortungsvolles Verhahen multinationaler Unternehmen im Hinblick auf die Themen Arbeits- und Umweltstandards, Verbraucherschutz und Korruptionsbekampfung im Einklang mit dem geltenden Recht des jeweiligen Gastlandes, ebenfalls basierend auf dem Prin-

"^ Vgl. Internationale Arbeitsorganisation, S. 1; Bundesministerium fur wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) 2000, S. 1. 2" Vgl. Kreikebaum et al. 2001, S. 166; Mcintosh et al. 2003, S. 23. "« Vgl. Poltermann 1998, S. 287. "' Miiller 2001b, S. 42. '^ Vgl. Muller 2001a, S. 25. 2^' Vgl. Jones 2000,8.81. 2^2 Vgl. OECD 2000, S. 5. ^" Dazu gehoren die 29 OECD Mitgliedslander plus Argentinien, Brasilien, Chile und die Slowakische Republik.

60

2.1 Nachhaltige Entwicklung

zip der Freiwilligkeit.^'^ Erstmals festgelegt wurden die Leitsatze 1976 und im Jahr 2000 komplett iiberarbeitet und unter anderem um das Thema Nachhaltigkeit erganzt.^" Social Accountability 8000 Der SA 8000 entstand als Idee einer amerikanischen Verbraucherorganisation (vgl. Council on Economic Priorities (CEP)) als Grundlage fur sozialvertragliches Handeln von international tatigen Firmen. Daraus wurde 1997 die Akkreditierungsinstitution Social Accountability International (SAI), welche gemeinsam mit multinationalen Untemehmen, den Vereinten Nationen, Zulieferem und NGOs einen sozialen Zertifizierungsstandards entwickelte mit dem Ziel des Aufbaus und der Etablierung eines weltweit giiltigen Zertifizierungs- und Kontrollsystems flir soziale Verantwortlichkeit auf der Ebene der betroffenen Produktionsstatten. Der SA 8000 beinhaltet die Verpflichtung fiir Untemehmen, soziale Verantwortung zu iibemehmen und durch exteme und unabhangige Priifer iiberwachen, bewerten und zertifizieren zu lassen.^^ Dabei geht es auf inhaltlicher Ebene um Mindestanforderungen fiir Arbeitsbedingungen und Rechte von Mitarbeitem als spezifische Verhaltensleitlinien fiir Untemehmen im Rahmen eines Managementsystems:^^^ •

Verbot von Kinder- und Zwangsarbeit,



Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften,



Verbot von Diskriminiemng und alien Formen von Gewaltanwendung,



Regelung der zulassigen Arbeitszeit sowie Entlohnung,



Recht auf Organisationsfreiheit und Kollektivverhandlungen.

Die prozessuale Ebene beschreibt die Umsetzung der Verhaltensrichtlinien an den einzelnen lokalen Produktionsstatten in vier Phasen: Vorbereitung, Implementiemng, Zertifiziemng und Uberwachung.^^* Die nachfolgende Tabelle 6 dient der Einordnung der eben beschriebenen Standards in die einzelnen Formen. Dabei werden diese gleichzeitig noch einmal den Nachhaltigkeitsdimensionen Umwelt bzw. Soziales/Arbeitsschutz zugewiesen und so nach Umwelt-, Sozial- oder kombinierten Standards differenziert.

Vgl. OECD 2000, S. 17. Vgl. Jones 2000, S. 83 f Vgl. Kreikebaum et al. 2001, S. 160. Vgl. Gilbert 2001, S. 128; weiterfiihrend siehe online unter: http://www.cepaa.org. Vgl. Kreikebaum et al. 2001, S. 176.

2 Konzeptionelle Grundlagen

Umwelt

61

Soziales

AA 1000*"' OHSAS 18001

Prozess

Verhalten

Zertifikat

X

X

X

X

X

X

EMAS

X

Global Compact*

X

X

GRI-Richtlinien*

X

X

ICC-Charta

X

ILO-Normen*

Produkt

X

Grundlagen

X X

ISO 14001*

X

OECD-Leitsatze*

X

SA 8000*

X X

X X X

X X

X

X

Tabelle 6: Einordnung der Standards in die verschiedenen Formen

Aus der Gesamtheit aller dargestellten Standards bzw. Prinzipien ergeben sich zusammenfassend wesentliche okologische und soziale Anforderungen an Untemehmen und ihre Lieferanten, welche im Rahmen der Konzeptentwicklung berucksichtigt werden miissen: Okologische Anforderungen •

Schaffung und Anwendung von Umweltmanagementsystemen,



aktiver Umgang mit okologischen Herausforderungen,



Vermeidung von Umwelt- und Gesundheitsschaden,



Entwicklung von Produkten und Prozessen mit geringem Ressourcenverbrauch,



Abfallvermeidung und Recycling und



Mitarbeiterschulung.

Soziale Anforderungen •

Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit,



keine Diskriminierung,



keine Zwangsarbeit,



keine Kinderarbeit,



angemessene Vergiitung/Lohne,



Arbeitszeitregelungen sowie



Arbeits- und Gesundheitsschutz.

Die mit einem * gekennzeichneten Standards gehoren zu den von Mcintosh et al. (2003) als „Global Eight" bezeichneten Umweh- und Sozialstandards mit der groBten Relevanz und dem hochsten Verbreitungsgrad weltweit.

62

2.1 Nachhaltige Entwicklung

International wird gegenwartig von NGOs eine verbesserte Durchsetzung von Umwelt- und Sozialstandards angestrebt, wobei es oft sehr schwierig ist, die Verwirklichung bzw. Nichtverwirklichung von Standards festzustellen. Der Ermessensspielraum fur die Einhaltimg bestimmter Sozialstandards in einem Land ist relativ gro/3, da die Rechtspraxis haufig vom geschriebenen Recht abweicht bzw. die landerspezifischen Bedingungen ftir die Verwirklichung einzelner Standards sehr verschieden sind."° International vereinbarte Standards konnen allerdings nur von den Staaten selbst umgesetzt werden, was in manchen Landem aufgrund der begrenzten administrativen Kapazitat zu erheblichen Problemenfiihrt.^^'Deshalb ist es ftir Untemehmen wichtig, privatwirtschaftliche Durchsetzungsmoglichkeiten zu entwickeln, um auch in Schwellen- und Entwicklungslandem Umwelt- und Sozialstandards bei Lieferanten gewahrleisten zu konnen und das Risikopotenzial eines Reputationsverlustes des eigenen Untemehmens gegeniiber seinen Anspruchsgruppen zu minimieren. Somit stellen Umwelt- und Sozialstandards einen ersten Schritt auf dem Weg zur Umsetzung und Ausweitung untemehmerischer Nachhaltigkeit allgemein, aber auch in den Lieferantenketten eines Untemehmens, dar und sind Grundlage weiterer Initiativen in diesem Bereich."^ Aber auch okonomische Vorteile sind AnreizeftirUntemehmen, umweltbezogene und soziale Anft)rderungen zum einen im Rahmen der eigenen Geschaftstatigkeit und zum anderen innerhalb ihrer Lieferantenbeziehungen einzuftihren und umzusetzen. Standards (1) erhohen demnach die gesellschaftliche Reputation und das Markenimage, (2) sind ein Kommunikationsmittel des Untemehmensverhaltens an Stakeholder, (3) helfen eine einheitliche Untemehmenskultur aufzubauen und die Untemehmenswerte dabei zu operationalisieren, (4) versuchen GeldbuBen, Sanktionen oder Rechtsstreitigkeiten abzuwenden und (5) ftirdem die Entwicklungsmoglichkeiten in Emerging Markets, da sie unterschiedliche Gesetzgebungen und Kulturen iiberbriicken."^ Lieferanten erhalten zusatzlich ein verbessertes Image und eine steigende Wettbewerbsposition gegeniiber ihren Abnehmem. Okonomische Vorteile im Rahmen der praxisbezogenen Erfahmngen von Otto und Quelle haben sich vor allem auch konkret in Form von Kostenreduziemngen, weniger Unfallen am Arbeitsort, einer besseren Gmndorganisation der Untemehmenstatigkeiten und einer Steigemng der Produktivitat von Lieferanten und deren Produktqualitat gezeigt."^ Aus Sicht des Abnehmers kommen dabei vor allem noch Aspekte wie ebenfalls ein verbessertes Image gegeniiber der Gesellschaft und ein daraus resultierendes Kundenvertrauen, eine Risikominimiemng im Hinblick auf „schlechte Presse", eine gestiegene Produktqualitat und Liefertreue sowie eine deutliche Verbessemng des Stakeholder-Dialoges, vor allem mit NGOs, zum Tragen. Der Kunde halt okologische und soziale Verantwortung von Untemehmen ftir eine Selbstverstandlichkeit und erwartet Produkte, die Vgl. Sautter, S. 4 f. Vgl. Sautter, S. 8. Vgl. Mcintosh et al. 2003, S. 24. Vgl. Carasco/Singh 2003, S. 72. Vgl.Lohrie2001,Folie6.

2 Konzeptionelle Grundlagen

63

unter akzeptablen Umweltschutz- und Sozialbedingungen produziert werden. Mangelnde Umwelt- und Sozialperformance kann schwerwiegende Folgen fur Lieferanten und seine Abnehmer haben, wie beispielsweise schlechtes Image, Verlust des Kundenvertrauens, Absatzriickgang, Schadensersatzforderungen, Riickgang des Aktienkurses oder sogar schlimmstenfalls einen Konkurs (z. B. Produktionsstatten von Nike in Vietnam).^^' Trotz dieser Notwendigkeit liegen jedoch bisweilen keine Forschungsarbeiten daruber vor, inwieweit die Umsetzung und Gewahrleistung von Umwelt- und Sozialstandards in Lieferantenbeziehungen helfen kann, Untemehmen auch im Bereich der Beschaffung „wirklich nachhaltiger" wirtschaften lassen zu konnen. 2.1.6 Der Stakeholderansatz Das Verstandnis untemehmerischer Tatigkeit hat sich in den letzten Jahrzehnten sehr ausdifferenziert."^ Von Hans Ulrich geht ein systemorientierter Ansatz aus, der das Untemehmen in seine AuBenweh eingliedert, die wiederum in verschiedene Umwehen unterteilt werden kann."' Dabei miissen marktliche, soziale, okonomische, technologische und okologische Spharen beim Treffen von untemehmerischen Entscheidungen beachtet werden."* Das Stakeholderkonzept stellt den Bezugsrahmen dar, in dem das Untemehmen und seine Umwelt kommunizieren und Abhangigkeiten entwickeln. Hierbei sind GroBuntemehmen nicht mehr nur als private Erwerbseinheiten eines oder mehrerer Eigentumer zu sehen, die letztlich auch nur die Interessen ihrer Shareholder verfolgen mussen. Durch ihre Einbeziehung in das gesellschaftliche System mussen Untemehmen viel mehr auch die Anspriiche anderer gesellschaftlichen Gmppen, die durch ihre Entscheidungen beeinflusst werden, kennen, im Rahmen der Geschaftstatigkeit beriicksichtigen und darauf reagieren, um gegebenenfalls wiedemm Einfluss auf das Untemehmen zu nehmen."' Diese Anspriiche konnen unterschiedlichen Urspmngs sein. Dabei unterscheidet man zwischen reinen Interessen, Legitimationsgrunden (Rechtsanspmch) und Eigentumsanspruchen:^*° • Interesse: Ein Individuum oder eine Gmppe wird durch eine Entscheidung beruhrt und bekundet Interesse an derselben. • Rechtsanspruch: Ein Individuum oder eine Gmppe hat das Recht in einer bestimmten Art und Weise behandelt zu werden. •

Eigentum: Ein Individuum oder eine Gmppe gehort eine Sache. Es oder sie sind somit Eigentumer.

Vgl.Lohrie 2001, Folic 6. Vgl. Ulrich 1977, Freeman 1984, Dyllick 1989, Pfriem 1996, Schncidewind 1998. Vgl. Ulrich 1973. Vgl. Ulrich 1973, S. 20. Vgl. Rauschenberger 2001, S. 27; Roberts 2003, S. 161. Vgl. Rauschenberger 2001, S. 27.

64

2,1 Nachhaltige Entwicklung

Untemehmen warden nunmehr als „quasi-offentliche Institutionen" betrachtet, denen aufgrund ihres Machtpotenzials eine besondere moralische Verpflichtung und gesellschaftliche Verantwortung von einzelnen Gruppen zugewiesen wird.^*' In den letzten 25 Jahren haben sich mehrere Autoren der Thematik des Stakeholder-Ansatzes angenommen.^*^ Als einer ihrer wichtigsten Vertreter ist Freeman zu nennen.^" Seine Abhandlung ,y^ Stakeholder Approach'"' beinhaltet die Kemthese, dass sich Anspruche gegeniiber einer Untemehmung nicht ausschliefilich iiber Kapital, Vertrage oder den Markt legitimieren, sondem auch iiber die reine Betroffenheit von untemehmerischen Handlungen bzw. Nichthandlungen. Seine Definition fur Stakeholder ist demnach: „[...] a stakeholder is any group or individual who can ajfect, or is affected by, the achievement of corporation's purpose. Stakeholder include employees, customers, suppliers, stockholders, banks, environmentalists, government and other groups who can help or hurt the corporation. "^^*. Somit werden als Stakeholder alle Personen, Gruppen und Institutionen bezeichnet, die einen Beitrag zu der Leistungserstellung des Untemehmens erbringen und somit Einfluss auf die Erreichung der Untemehmensziele nehmen oder deren eigene Zielerreichung von der Untemehmung beeinflusst wird und die dadurch ihrerseits wiederum einen Anspruch an diese erheben. Allgemein sagt das Stakeholderkonzept aus, dass Untemehmen zur Erreichung ihrer Ziele und zur Durchfuhmng ihrer Strategien von den Beitragen und Ressourcen der jeweiligen Stakeholder abhangig sind, welche ftir ihre Leistungen Gegenleistungen beanspmchen, um eigene Ziele verwirklichen zu konnen. Aufgabe der Untemehmensfuhmng ist es, die unterschiedlichen und manchmal widerspriichlichen Fordemngen der einzelnen Anspmchsgmppen in Einklang zu bringen.^" Dadurch ergibt sich ein Modell der Untemehmung, das aus einer Vielzahl bilateraler Austauschbeziehungen zwischen Untemehmen und Stakeholdem besteht. Gmndlage ist eine entsprechende Positioniemng des Untemehmens in der Gesellschaft, die durch stetige Kommunikation und Verhandlungsprozesse mit den relevanten Stakeholdem (siehe Abbildung 7) erreicht werden kann.^*^ Die Betroffenheit der einzelnen Stakeholder durch untemehmerische Handlungen bzw. Nichthandlungen kann sich auf unterschiedlichste Art und Weise darstellen. Freeman unterscheidet in seinem ersten Ansatz zwischen intemen (Eigentiimer, Management und Mitarbeiter) und extemen (Kunden, Lieferanten, Konkurrenten, Kapitalgebem, potenzielle Arbeitnehmer, Staat, Medien und Interessengmppen) Stakeholdem.^*^ Vgl. Ulrich 1977, S. Iff. Vgl. Ulrich 1977; Freeman 1984; Dyllick 1989. Vgl. Freeman 1984. Freeman 1984, S. 46. Vgl. Dyllick 1984, S. 74. Vgl. Hill 1996,8.415. Vgl. Freeman 1984,8.25.

65

2 Konzeptionelle Grundlagen

Im Vergleich unterteilt Carroll entsprechend ihrer Anspruchslegitimation in Primary Stakeholders mit expliziten Anspruchen, welche in einer formalen, offiziellen oder vertraglichen Beziehung zum Untemehmen stehen, und Secondary Stakeholders mit impliziten Anspruchen, die keine vertragliche Bindung zum Untemehmen aufweisen.^** Zu den Primaren Stakeholdem zahlen Eigentiimer, Mitarbeiter, Lieferanten und Kunden; zu den Sekundaren die allgemeine Offentlichkeit, Medien, Aktionsgruppen usw. Dadurch wird es moglich, den einzelnen Anspruchsgruppen verschiedene Prioritaten zuordnen zu konnen, obwohl der Einfluss von Sekundaren auf Primare Stakeholder nicht unterschatzt werden sollte.^*' Dementsprechend muss ein Untemehmen alle Stakeholderanspruche regelmafiig in seiner Geschaftstatigkeit berticksichtigen. Im Gegensatz dazu lassen sich nach Schaltegger und Figge Stakeholder durch die Bereitstellung von Ressourcen treffend kategorisieren.^'^ Diese Ressourcen teilen sich grob in drei Gmppen ein: Kapitalressourcen (Finanzkapital, Humankapital etc.), Vertrauen und gesellschaftliche Akzeptanz, Information und Know-how.

Soziokulturelles Umfeld

Politisches Umfeld

Medien

Aktionsgruppen Gewerkschaften

Allgemeine Offentlichkeit Eigentiimer

Kreditgeber Management

Lieferanten

Unternehmung

Endabnehmer/ Zwischenglieder

Mitarbeiter Behorden

Verbande Konkurrenten

Bildung/ Forschung Technologisches Umfeld

Institutionelles gesellschaftliches Umfeld Generelles gesellschaftliches Umfeld OKOSPARE

Abbildung 7: Verschiedene Stakeholder eines Untemehmens^''

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Carroll 1996. Carroll 1996,8.77. Figge/Schaltegger 2000, S. 11. Hill 1996,8.416.

Geographische Nachbarn Wirtschaftliches Umfeld

2.1 Nachhaltige Entwicklung

66

Die nachfolgende Tabelle fasst die einzelnen Stakeholder und ihre jeweiligen Interessen abschlieBend noch einmal zusammen:

Anspruchsgruppen Eigentiimer Management

'a

Mitarbeiter

Fremdkapitalgeber

Lieferanten

Kunden a Konkurrenz

Interessen (Ziele) • • • • • • • • • • • • • • • • •

Einkommen/Gewinn Erhaltung, Verzinsung und Wertsteigerung des investierten Kapitals Selbstandigkeit/Entscheidungsautonomie Macht, Einfluss, Prestige Entfaltung eigener Ideen und Fahigkeiten, Arbeit = Lebensinhalt Einkommen (Arbeitsplatz) Soziale Sicherheit Sinnvolle Betatigung, Entfaltung der eigenen Fahigkeiten Zwischenmenschliche Kontakte (Gruppenzugehorigkeit) Status, Anerkennung, Prestige („ego-needs") Sichere Kapitalanlage Befriedigende Verzinsung Vermogenszuwachs Stabile Liefermoglichkeiten Giinstige Konditionen Zahlungsfahigkeit der Abnehmer Qualitat und quantitativ befriedigende Marktleistungen zu giinstigen Preisen • Service, giinstige Konditionen usw. • Einhaltung fairer Grundsatze und Spielregeln der Marktkonkurrenz • Kooperation aufbranchenpolitischer Ebene

Staat und Gesellschaft

• Steuem • Sicherung der Arbeitsplatze • Sozialleistungen • Positive Beitrage zur Infrastruktur • Einhaltung von Rechtsvorschriften und Normen • Teilnahme an der politischen Willensbildung • Beitrage an kulturelle, wissenschaftliche und Bildungsinstitutionen • Erhaltung einer lebenswerten Umwelt Tabelle 7: Ubersicht Anspruchsgruppen und Ziele^'^

|

Um handlungsfahig zu bleiben, muss eine Untemehmung auf die verschiedenen Anspriiche (siehe Tabelle 7) aller Stakeholder eingehen. Dabei stellt sich jedoch immer noch die Frage, wer nun als wichtiger Stakeholder des Untemehmens zu betrachten ist und auf welche Anspriiche in welchem MaB eingegangen werden sollte, um sowohl die Existenz und Aktionsfahigkeit der Untemehmung als auch das Interesse der Stakeholder an der Untemehmung zu gewahrleisten. Als zentrale Elemente erweisen sich im gesellschaftlichen Kontext vor allem das Vertrauen der Stakeholder und die gesellschaftliche Akzeptanz, auf die ein Untemehmen

In Anlehnung an Thommen 1996.

2 Konzeptionelle Grundlagen

67

angewiesen ist. Es zeigt sich, dass der Markt nicht mehr als einziges Lenkungssystem externer Anspruche an das Untemehmen gesehen werden kann. Weitere Lenkungssysteme wie Moral und Politik gewinnen zunehmend an Bedeutung.^'^ Das Untemehmen muss sich somit erstens um wirtschaftliche Effizienz und technologische Effektivitat, insbesondere zur Befriedigung marktbezogener Anspruche, zweitens um Legalitat, das Einhahen gesetzlicher Bestimmungen, und drittens um Legitimitat, die Orientierung an ethischen und moralischen Werten der Anspruchsgruppen, bemiihen.^''* Man unterscheidet in der Theorie vier unterschiedliche Auffassungen:^'^ • Residualmodell: Hierbei betrachtet ein Untemehmen seine Stakeholder aus rein wirtschaftlicher Sicht. Die Eigenkapitalgeber gehen mit anderen Anspmchsgmppen Vertrage ein, um Ressourcen zu beschaffen, welche sie in ihrem Interesse verwenden konnen. Das Untemehmen beriicksichtigt in dem Modell also nur explizite Stakeholderanspriiche. Das Residualmodell wird auch als Shareholder Value-Konzept bezeichnet. • Erweitertes Residualmodell: Jenes Modell konzentriert sich immer noch am starksten auf die Eigentiimer-Anspruche, doch neben den bisherigen expliziten von Vertragspartnem werden zusatzlich auch implizite Anspruche dieser Partner beriicksichtigt. Andere Interessen weiterer Stakeholder sind fur das Untemehmen nur dann auch von Bedeutung, wenn sie aus Eigentiimersicht zusatzlichen Profit vermuten lassen. • Koalitionsmodell: Erstmals treten bei dem Modell Eigentumeranspriiche gleichrangig neben die Interessen anderer Stakeholder. Dabei spielen alle diejenigen Anspmchsgmppen eine Rolle, die in der Lage sind, auf das Untemehmen Einfluss geltend zu machen, unabhangig von ihrer vertraglichen Bindung an das Untemehmen. Somit sind auch Konkurrenten, Medien, Umweltschutzverbande etc. entsprechend ihrer okologischen, okonomischen und sozialen Erwartungen zu den Stakeholdem zu zahlen. • Sozialmodell: In diesem Modell erfolgt die Einbeziehung aller Stakeholder in die Entscheidungsfmdung, inklusive zukiinftiger Generationen. Dabei ist es nicht von Bedeutung, ob ein Stakeholder mit dem Untemehmen in einer vertraglichen Beziehung steht Oder welchen maBgeblichen Einfluss er auf das Untemehmen ausiibt. Das Koalitionsmodell und das Sozialmodell noch mehr entsprechen einer Sichtweise, die eng mit dem Gedanken nachhaltiger Entwicklung verbunden ist. Das Stakeholderkonzept lasst sich somit im Sinne des Koalitions- bzw. Sozialmodells auch im Kontext einer Nachhaltigkeitsbetrachtung anwenden. Letztlich entstehen die nachhaltig okologischen, sozialen und okonomischen Auswirkungen eines Untemehmens durch Interaktionen mit den Anspmchsgmppen. Das gilt beispielsweise fur die Kinderarbeit in Indien ebenso wie fur die Dividen-

Vgl. Dyllickl989,S. 139. Vgl. Schaltegger/Sturm 1994, S. 15. Vgl. Hummel/Schmidt 1997, S. 9 ff.; und Spremann 1996, S. 485 ff.

68

2.2 Strategisches Beschaffiingsmanagement und Lieferantenketten

denzahlungen an die Shareholder. Zu bedenken ist dabei, dass nicht jeder Anspruch als nachhahig anzusehen ist bzw. nicht jeder Anspruch sich durchsetzen lasst, ohne andere berechtigte Anspriiche allzu sehr einzuschranken (z. B. hohe Untemehmensgewinne vs. Arbeitnehmerlohne). Jeder Anspruch reprasentiert nur das Interesse einer gesellschaftlichen Anspruchsgruppe und kann auch im Sinne der Nachhaltigkeit nur im Ausgleich mit den berechtigten Anspruchen anderer Gruppen befriedigt werden. Fiir die Nachhahigkeitsbetrachtung ist vor allem der analytische Teil des Stakeholderansatzes von Bedeutung. Durch die verschiedenen Anspriiche der einzelnen Akteure bekommt man ein Abbild der Auswirkungen auf die okonomische, okologische und soziale Nachhahigkeit. Allerdings muss an dieser Stelle angemerkt werden, dass sich Untersuchungen im Rahmen von Stakeholder-Anspriichen hauptsachlich auf Konsumenten oder NGOs beziehen.^^ Lieferanten werden als eine weitere Anspruchsgruppe von Untemehmen zwar anerkannt, gleichwohl liegen jedoch bisher keine tiefer gehenden Untersuchungen beziiglich der Relevanz und Auswirkungen ihrer Anspriiche gegeniiber einem Untemehmen fur eine Nachhaltige Entwicklung vor.

2.2

Strategisches Beschaffungsmanageinent und Lieferantenketten

Seit sich in den achtziger Jahren die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass in jedem Bereich eines Untemehmens Potenziale fur eine Verbesserung der Wettbewerbssituation auf dem Absatzmarkt existieren, hat vor allem auch die Beschaffung^'^ als Kern der Versorgungsflinktion eines Untemehmens an Bedeutung gewonnen und ist aus ihrer Rolle als dispositiver Erftillungsgehilfe anderer Untemehmensfunktionen herausgewachsen.^'* Diese Entwicklungen ergaben sich aus den Umstanden, dass die Beschaffung von Zukaufleilen einen groBen Teil der Kosten eines Untemehmens ausmacht und die Qualitat der Endprodukte, welche den Umsatz beeinflusst, immer von der Qualitat der Einsatzgiiter abhangig ist.^'^ 2.2.1 Abgrenzung und Definition Schwierig ist die Abgrenzung des Begriffes „Beschaffungsmanagement" im Deutschen gegeniiber dem „Einkauf * und der „Materialwirtschafl". Es existieren sowohl synonyme Begriffsverwendungen als auch zahlreiche Unterscheidungsarten. Trotz umfassender beschafflingsspezifischer Literatur der letzten Jahre existieren keine einheitliche, allgemein anerkannte Begriffsdefinition und keine Klassifiziemng beschaffungspolitischer Instmmente.^^ Praktiker beziehen sich oft auf eine Definition von Mellerowicz, bei der es damm geht, dass Beschaffung „[...] die vom Betrieb benotigten GUter in der erforderlichen Qualitat zum angeVgl.Kurz 1997,8.92. Die BegrifFe „Beschaf!ung", „Beschaffungsmanagement" und „Supply Management" werden im Rahmen der Arbeit synonym verwendet. Vgl. Farmer 1981; Kraljic 1983; Caddick/Dale 1987; Reck/Long 1988; Ammer 1989; Monczka et al. 1993; Burt/Doyle 1994; Dumond 1994; Nishiguchi 1994; Saunders 1994; Arnold 1997b, Car/Smeltzer 1999. Vgl. Large 1999, S. 3. Eine Aufarbeitung der einzelnen Definitionen fmden sich bei Kaufmann 2001, S. 29 ff.

2 Konzeptionelle Grundlagen

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forderten Zeitpunkt, in den verlangten Mengen zu gunstigen Preisen zur Verfiigung stellen "^^' soil. Nach Arnold beinhaltet Beschaffung „sdmtliche unternehmens- und/oder marktbezogene Tdtigkeiten, die darauf gerichtet sind, einem Unternehmen die benotigten, aber nicht selbst hergestellten Objekte verjugbar zu machen "^"^ um hier nur zwei der Definitionen anzufuhren. Tabelle 8 erganzt diese um weitere Beispiele von Definitionen des Beschaffungsmanagements aus der Literatur.

Definition

Autor

„Purchasing strategy can be described as a set of rules that guides the configuration of the firm's purchasing effort over time in response to changes in competition and the environment so as to permit the firm to take advantage to profitable opportunities."

Scheuring(1989), S. 140.

„Das Beschaffungsmanagement als spezieller auf die Beschaffung ausgerichteter Managementprozess [umfasst] alle Handlungen der Informationsversorgung, Planung und Steuerung, die darauf ausgerichtet sind, einer Untemehmung das benotigte Produktionsmaterial, das sonstige Material, die Investitionsgiiter, die Dienstleistungen und die Handelswaren in geeigneter Form durch Transaktions- und Transferprozesse rechtlich und faktisch verfiigbar zu machen." „Central to the concept of supply is the purchasing, use and transformation of resources to provide goods or service packages to satisfy end customers today and in the future, and the organizational structuring decisions that accommodate global markets." "[...] Beschaffung [wird]als eine Funktion bezeichnet, die mit dem Bezug von Rohstoffen, Hilfs- und Betriebsstoffen, Anlagegiitem und Dienstleistungen sowie Rechten verbunden ist. Dieser Begriff der Beschaffung wird nach derzeitiger Meinung mit dem Begriff des Einkaufs gleichgesteUt." "[...] zur Versorgung des Unternehmens mit (direktem und indirektem) Material, Dienstleistungen, Rechten sowie Maschinen und Anlagen aus untemehmensextemen Quellen mit dem Ziel, zum Erreichen nachhaltiger Wettbewerbsvorteile beizutragen." „Purchasing is obtaining from external sources all goods, service, capabilities and knowledge which are necessary for running, maintaining and managing the company's primary and support activities at the most favourable conditions." Mit dem Begriff Beschaffung „[...] werden alle Aufgaben abgedeckt, die in der Praxis von den Funktionen Materialwirtschaft, Einkauf und (Beschaffungs-)Logistik wahrgenommen werden. Ebenso ist die Organisation und Steuerung der vorgelagerten Wertschopflingskette einzubeziehen und damit das seit geraumer Zeit starker diskutierte Konzept des Supply Chain/Network Management." Tabelle 8: Ubersicht zu Definitionen des Beschaffungsmanagements^*^

Large (1999), S. 23.

Harlandetal.(1999), S. 650.

Bichler/Krohn (2001), S. 39.

Kaufinann (2001), S. 39f.

1

Van Weele (2002), S. 14.

1

Bogaschewsky (2004), S. 175.

Der Gesamtprozess des Beschaffungsmanagements umfasst grundsatzlich die Quelle des zu beschaffenden Gutes (Beschafflingsobjekt) bis zur Verwendung.'^ Dabei wird zwischen Beschafflingsobjekten im engeren Sinne (i. e. S.) und Beschafiungsgutem im weiteren Sinne (i. w. S.) unterschieden werden. Zu den Beschaffungsobjekten i. e. S. zahlen nur Roh-, Hilfsund Betriebsstoffe sowie Halb- und Fertigerzeugnisse, welche als Produktionsmaterial in die zu fertigenden Produkte des Unternehmens eingehen. Gutenberg definiert diese „ ...als Aus^°' Mellerowicz 1977, S. 242. ^^^ Arnold 1997b, S. 3. ^^^ In Ahnlehnung an Seuring/Miiller 2004, S. 121. ^^ Vgl.Eichler2003,S. 1.

70

2.2 Strategisches Beschaffungsmanagement und Lieferantenketten

gangs- und Grundstojfe Jur die Herstellung von Erzeugnissen zu dienen bestimmt sind, mithin nach der Vomahme von Form- oder Substanzdnderungen oder nach dem Einbau in die Fertigerzeugnisse Bestandteile der neuen Produkte werden. Erst wenn Anlagen und Betriebsstoffe, Investitionen, Dienstleistungen, Rechte, Informationen, Arbeitskrdfte und Kapital hinzukommen, wirdvon Beschaffungsobjekten i. w. S. gesprochenP^^ Unabhangig von den meisten vorangestellten Definitionen basiert die vorliegende Arbeit, gemafi Bogaschewsky, auf einem weitergehenden Verstandnis von Beschaffungsmanagement, welches im intemationalen Sprachgebrauch oft mit dem Begriff „Supply Management" beschrieben^^, in dieser Arbeit jedoch unter den Begriffen Beschaffung oder Beschaffungsmanagement subsumiert wird. Dieses umfasst samtliche strategischen und operativen Funktionen (Aufgaben) der Bereiche Materialwirtschaft, Einkauf und (Beschaffijngs-)Logistik sowie zusatzlich die Organisation und Steuerung vorgelagerter Wertschopfiingsketten.'®^ 2.2.2 Ebenen des Beschaffungsmanagements Lange Zeit wurde unter dem Begriff „Beschaffungsmanagement" nur die operative Funktion der untemehmensintemen Organisation von Beschafftmgsablaufen des Einkaufs von Rohstoffen, Serviceleistungen und Montageteilen verstanden^"^ welche in den letzten Jahren durch strategische Bereiche, wie z. B. die Untersuchung von Abnehmer-Lieferanten-Beziehungen, ausgebaut wurde.'*^ Somit fmden wir heute grundlegend eine Zweiteilung vor:^'^ 1. operative Beschaffung, die sich mit der Abwicklung von Material- und Informationsfliissen beschaftigt, und 2. strategisches Beschaffungsmanagement, als Prozess der Formulierung und Umsetzung von Beschafftmgsstrategien^", bindet als Querschnittsfiinktion andere Organisationseinheiten des Untemehmens und vor allem auch Lieferanten mit ein, um langfristige Wettbewerbsvorteile zu erlangen. Ausgehend von Harland kann diese Einordnung von Beschafftingsentscheidungen jedoch durch zwei weitere Formen erganzt werden.^'^ Grundsatzlich werden somit vier Ebenen des Beschaffungsmanagements unterschieden, nach denen die Inhalte und Prozesse von Beschaf-

Vgl. Arnold 1997b, S. 3 fF.; Mikus 1997, S. 64; weitere wichtige Arbeiten zu Ansatzen der Gliederung von Beschaffungsobjekten finden sich in der Ubersicht in Grochla/Schonbohm 1980, S. 16 ff". Weiterftihrend zu diesem Begriff siehe Bogaschewsky 2003. Jene Vorgehensweise ist angelehnt an einen Beitrag von Bogaschewsky (2004), in dem der Bezug von Beschaffung zur Nachhaltigkeit untersucht wird; vgl. Bogaschewsky 2004, S. 175. Dieses Begriffsverstandnis erscheint dem Autor fur die Einordnung der empirisch untersuchten Untemehmenseinheit in der Arbeit als am besten passend. Vgl. Burt/Soukup 1985; Farmer 1985; Dobler/Burt 1990. Vgl. Seuring/Miiller 2004, S. 122. Vgl. Monczka et al. 2002, S. 10 ff. Vgl. Pfohl/Large 2003, S. 433. Vgl. Harland 2002.

2 Konzeptionelle Grundlagen

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fungsentscheidungen differenzierbar sind, wobei einzelne Entscheidungen auch mehreren Ebenen zugeordnet werden konnen.^'^ 1. Supply Policy: Die Ebene der Supply Policy beinhaltet Grundregeln und Konditionen von Untemehmen in der Beschaffung basierend auf langfristig orientierten Meinungen und Standpunkten (normative Glaubensfragen)^'^ welche z. B. Umwelt- oder Ethikfragen, die Internationale Ausrichtung oder die Transparenz betreffen konnen. Damit wird ein iibergeordneter Rahmen fur samtliche Beschaffungsaktivitaten von Giitem und Serviceleistungen und dementsprechend fur die anderen drei Ebenen aufgespannt. 2. Supply Strategy: Die Ebene der Supply Strategy gibt die Richtung fur Beschaffungsentscheidungen vor, um damit ein ganz konkretes Ziel zu verfolgen. Sie stehen gleichberechtigt weiteren Strategien anderer Untemehmensbereiche, beispielsweise Absatzstrategien gegeniiber und miissen deshalb mit diesen abgestimmt und integriert betrachtet werden. Alle Strategien bilden die Basis einer ubergeordneten Mission des Untemehmens zur Erzielung von Wettbewerbsvorteilen.^" Auf dieser Ebene ist auch die Vorgabe von Umwelt- und Sozialstandards als Anforderungen an Lieferanten einzuordnen.^'** 3. Supply Management: Auf der Ebene des Supply Management werden Beschaffungsaktivitaten organisiert und koordiniert durch den Einsatz von Planungs- und Kontrollinstrumenten. Dazu zahlt unter anderem auch die Bewertung und entsprechende Entwicklung von Lieferanten, anhand festgelegter MaBnahmen, um bestimmte Beschaffungsanforderungen des Abnehmers erfullen zu konnen.^'^ Diese und die vorhergehende Ebene sind in etwa gleichzusetzen mit dem oben beschriebenen deutschen Begriff des strategischen Beschaffungsmanagements. 4. Supply Operations: Die Ebene der Supply Operations entspricht dem operativen Beschafflingsmanagement der deutschen Literatur. Hier werden konkrete Beschaffungsentscheidungen des Tagesgeschaftes eines Einkaufers getroffen, beispielsweise welche Giiter oder Serviceleistungen werden bei welchem Lieferanten eingekauft. Diese Entscheidungen werden beeinflusst durch alle drei anderen Ebenen und bilden somit die operative Umsetzung der Supply Policies, Strategies und des Managements.

^ * ^ ' '

Vgl. Harland 2002. Vgl. Monczka et al. 2002 (zitiert nach Seuring et al. 2003, S. 1058). Vgl. Harland et al. 1999; Ramsay 2001 (zitiert nach Seuring et al. 2003, S. 1058). Vgl. Seuring et al. 2003b, S. 1058. Vgl. Handfield et al. 1998 (zitiert nach Seuring et al. 2003b, S. 1059).

72

2.2 Strategisches Beschaffiingsmanagement und Lieferantenketten

Abbildung 8: Vier Ebenen von Beschaffungsentscheidungen^'*

Ftir die vorliegende Arbeit ist jedoch nur das strategische Beschaffungsmanagement von Bedeutung, welches sich, wie bereits dargestellt, teilweise auf der Supply Management-Ebene und auf der Supply Strategie-Ebene bewegt und somit in diesem Fall beide Ebenen einschlieCt. 2.2.3 Aufgaben und Strategien des Beschaffungsmanagements Aufgabe des Beschaffungsmanagement ist die Ausrichtung der Beschaffungsfunktion auf die ErschlieBung und Sicherung von Erfolgspotenzialen, einerseits durch die Entwicklung benotigter Fahigkeiten und andererseits die Erarbeitung von marktlichen Handlungsmoglichkeiten entlang der gesamten Wertschopfungskette.^" Erfolgspotenziale ergeben sich durch die Ubereinstimmung der im Untemehmen entwickelten Fahigkeiten mit den marktlichen Handlungsmoglichkeiten und Nutzung der daraus sich ergebenden Aktionsraume, wodurch sich der Bereich der Beschaffung heutzutage wesentlich verandert hat.^^° Zur inhaltlichen Bestimmung der Erfolgskriterien dient die Entwicklung einer Beschaffungsstrategie. Beschaffungsstrategien enthalten dabei Handlungsabsichten (Plane) als Ergebnis eines Informationsversorgungs- und Planungsprozesses mit dem Ziel der Ableitung/Sicherung

Harland 2002. Vgl. Kirsch 1993, Sp. 4096; Cousins/Spekman. Vgl. Kaluza/Tretz 1997, S. 142.

2 Konzeptionelle Grundlagen

73

von Erfolgspotenzialen fur den Bereich Beschaffung."'. Daran schlieBt sich die strategische Planung an, die versucht, mogliche Pfade fiir das Erreichen einer angestrebten Entwicklung aufzuzeigen. Diese Pfade werden durch strategische Konzepte wiedergegeben, welche die Gesamtstrategie in umsetzbare Teilbereiche einschlieBlich konkreter MaBnahmen zerlegt sowie Verantwortlichkeiten und Ressourcen zuordnet.^^^ Grundsatzlich konnen folgende Teilbereiche strategischer Beschaffiingsaufgaben unterschieden werden:"^ • Versorgungssicherung/Risikominimierung, •

Bedarfsermittlung, Bedingungen und Darstellung des Beschaffungsprozesses,



Prufung der Eignung der Beschaffungsobjekte,



Identifizierung der Quellen am Markt,



eine Kostenreduzierung als auch Qualitats- und Leistungsverbesserung sowie



Untersuchung des Verhaltnisses zwischen Abnehmer und Lieferant.

Daraus abgeleitet ergeben sich nach Arnold im Wesentlichen vier Ziele fur das Beschaffungsmanagement:'^* • • • •

die Verbesserung der Integrationsfahigkeit der Beschaffungsobjekte von Lieferanten in die Wertschopfungsprozesse bzw. das Endprodukt des Untemehmens, die Steigerung der Innovationsfahigkeit eines Untemehmens durch das Erkennen und Nutzen von Innovationspotenzialen der Lieferanten, die Erschliefiung vertikaler Verbundeffekte anhand der Analyse der Wertschopfungsaktivitaten unter Berucksichtigung vor- und nachgelagerter Stufen und der Aufbau horizontaler Verbundeffekte aufgrund der Kooperation von Untemehmen gleicher Wirtschaflsstufen mit dem Ziel, Rationalisierungen fur Lieferanten durch Standardisierungen der nachgefragten Outer und Prozesse zu erreichen.

Insgesamt nehmen dabei die Bereiche Kosten, Qualitat, Lieferzeit und Versorgungssicherheit^", manchmal aber auch zusatzlich Flexibilitat und Innovationsfahigkeit, als Wettbewerbskriterien immer noch eine Vorrangstellung (Prioritat) gegeniiber anderen Zielen ein"**, stehen sich jedoch inzwischen relativ gleichberechtigt gegeniiber, auch wenn in der Praxis oflmals noch eine Konzentration auf den Preis als ausschlaggebend fur die Auftragsvergabe stattfmdet. Sie wirken nach Hill als Order-Winner*", das bedeutet, sie sind letztendlich aus-

^^' Vgl. Large 1999, S. 29; aufbauend auf der Definition: „Purchasing strategy relates to the specific actions the purchasing function may take to achieve its objectives." Carr/Smeltzer 1997, S. 200. '" Vgl. Arnold 1997b, S. 56 ff ^" Vgl. Grochla/Schonbohm 1980, S. 34 f; Large 1999, S. 15; ahnlich siehe auch Meyer 1986, S. 94 ff; Monczkaetal. 1998, S. 18 f ^" Vgl. Arnold 1997b, S. 64. ^^^ Vgl. Samson 1991, Garvin 1992; Stonebraker/Leong 1994; '2' Vgl. Gerwin 1987; Leong/SnyderAVard 1990. '^' Das Konzept der Unterscheidung zwischen Order-Qualifier-Kriterien und Order-Winner-Kriterien wurde von Hill im Jahre 1993 beschrieben; ausfuhrlich dazu siehe Hill 1993, S. 49 ff

2.2 Strategisches Beschaffiingsmanagement und Lieferantenketten

74

schlaggebend in Bezug auf die Lieferantenauswahl. Sie miissen nach rationalen Gesichtspunkten anhand genau festgelegter KenngroBen messbar sein, um Lieferanten vergleichen zu konnen. Order-Qualifier im Gegensatz dazu wirken eher unterstiitzend, damit ein Lieferant iiberhaupt fur eine Auftragsvergabe in die Auswahl moglicher Lieferanten einbezogen wird. Dazu konnen situations-, markt- und zeitspezifische Eigenschaften wie Flexibilitat und Innovationsfahigkeit, aber auch unter Umstanden die Einhaltung von Umwelt- und Sozialstandards zahlen.^^* Die verschiedenen Rollen dieser zwei Auswahlkategorien spiegeln unterschiedliche Wertigkeiten und Bedeutungen bei einer Lieferantenauswahl wieder.^^' Haufig variieren die Wertigkeiten und Bedeutungen eines Kriteriums von Beschaffungsentscheidung zu Beschaffungsentscheidung und ihre Rollen wechseln sogar. Das heiBt, ein Order-Qualifier wird zu einem Order-Winner und umgekehrt."° Dies kommt jedoch nur in seltenen Fallen vor und ist fiir bestimmte Kriterien wie z. B. den Preis nach Meinung der Autorin in der Praxis ganz auszuschlieBen. Entscheidungen, die im Rahmen der verschiedenen Beschaffungsstrategien getroffen werden miissen, sind sehr umfassend und vielfaltig. Sie beinhalten im Wesentlichen die Bereiche: geographische Ausdehnung des Beschaffungsmarktes, Organisations- und Wertschopfungsgrad der Beschaffungsobjekte und den Wertschopfungsort, Anzahl der Lieferanten fur die einzelnen Materialen, die Zeit, wann und wie lange das beschaffle Gut dem Untemehmen zur Verftigung stehen soil als auch die alleinige Beschaffung oder in Kooperation mit anderen Organisationen. Diese sind in Tabelle 9 zusammengefasst und sollen an dieser Stelle nicht weiter ausgefiihrt werden, da nicht alle Konzepte fiir das Thema der vorliegenden Arbeit von Bedeutung sind. Beschaffungsmarkt

Local

Domestic

Global

Beschaffungsobjekt

Unit

Modular

System

External

Wertschdpfungsort

Internal

Lieferantenzahl

Single

Dual

Beschaffungszeit

Stock

Demand Tailored

Beschaffungssubjekt

Individual

Multiple Just-in-Time Cooperative

Tabelle 9: Systematisierung von Sourcing Konzepten"'

Eine Grundlage des Forschungsprojektes „Nachhaltigkeit in der Lieferantenkette" und somit Rahmenbedingung fur die Arbeit stellt vor allem das Konzept des Global Sourcing dar. Der Trend der letzten Jahre zur Globalisierung der Markte und dementsprechend zur Intemationa-

Vgl. Hill 1993, S. 52 f. Vgl. Spring/Boaden 1997, S. 770. Vgl. Spring/Boaden 1997, S. 771. Angelehnt an Arnold 1996, Sp. 1872.

2 Konzeptionelle Grundlagen

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lisierung von Untemehmen"^ erlaubt die bewusste Wahmehmung von Beschaffungsmoglichkeiten, die sich fiir Untemehmen auf weltweiten Beschaffungsmarkten bieten."^ Die systematische Ausdehnung der Beschaffungspolitik auf intemationale Markten unter strategischer Ausrichtung wird als „Global Sourcing" bezeichnet.^^'* Global Sourcing beinhaltet das Ziel, „/"...7 die im eigenen Land knappen bzw. nicht vorhandenen oder zu teuren Guter, Dienstleistungen oder Verarbeitungskapazitdten in der gewUnschten Qualitat und Menge preisgUnstig und termingerecht im Ausland zu beziehen''?^^ Das bedeutet einerseits die bewusste Erganzung bisher vorhandener Beschaffungsmoglichkeiten um geeignete zusatzliche Lieferquellen"*^ und andererseits die Gewinnung neuer und Absicherung bestehender Wettbewerbsvorteile."^ Durch Global Sourcing konnen sich positive Effekte fur ein Untemehmen ergeben:^^* • Kosteneinsparungen: ergeben sich durch niedrigere Lohn- und Sozialkosten, Kosten der Energie, der RohstoffeA^orprodukte, des Lagers und des Untemehmens gegenuber inlandischen Lieferanten, • Sicherung neuer Bezugsquellen: bei rechtzeitiger ErschlieBung neuer Lieferantenmarkte, wodurch gegebenenfalls gleichzeitig neue Absatzmarkte entstehen konnen, •

GrSBere Produktpalette: durch Produktdifferenzierungen in Preis, Qualitat und Menge,



„Joint Venture": Zusammenarbeit zwischen Zulieferer und Abnehmer auf Basis einer partnerschaftlichen Beziehung zur gemeinsamen Sicherung der Untemehmenstatigkeit, Produktion im Ausland: fur eine bestmogliche Nutzung der jeweiligen Vorteile einzelner Standorte.



Den positiven Effekten gegenuber stehen zahlreiche Risiken globaler Beschaffung, welche vorab genau kalkuliert werden miissen. Ein wesentlicher Aspekt in diesem Zusammenhang sind die unterschiedlichen Standards der einzelnen Lander fur die Bereiche Qualitatssicherung, Umweltschutz, Arbeitsschutz und soziale Rechte. Grundlage dafur sind die jeweiligen gesetzlichen Vorgaben der Lander sowie das Know-how und die Erfahrungen der einzelnen Untemehmen. Niedrigere Umwelt- und Sozialstandards, vor allem in Schwellen- und Entwicklungslandem, konnen zu enormen Kosteneinspamngen ftihren. Deshalb sollten fur das Global Sourcing Fragen des Umweltschutzes, Arbeitsschutzes und sozialer Rechte bei Lieferanten im Rahmen des Beschafflingsprozesses besonders bei der Bewertung und Auswahl von Lieferanten, aber auch in anderen Bereichen des Lieferantenmanagements, wie z. B. dem

"2 "^ "^ "' "' ^" "*

Vgl. Kogut 1985; Hamel/Prahalad 1989; Porter 1990; Kanter 1994. Vgl. Schonsleben et al. 2003, S. 735. Vgl. Arnold 1997b, S. 112; Bichler/Krohn 2001, S. 55. Bichler/Krohn 2001, S. 55. Vgl. Munzer 1985,8.255. Vgl.Heflerl981,S.7ff. Vgl. Bichler/Krohn 2001, S. 56.

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2.2 Strategisches Beschaffungsmanagement und Lieferantenketten

Monitoring oder der Lieferantenentwicklung, berucksichtigt werden."' Da Global Sourcing seit Anfang der 90er Jahre eine wesentliche Beschaffungsstrategie der Automobilindustrie ist, spielen Risiken im Zusammenhang mit fehlenden oder niedrigen Umwelt- und Sozialstandards bei Lieferanten fur diese Branche eine bedeutende Rolle. Die Leistungsfahigkeit des eigenen Untemehmens wird in zunehmendem Umfang von der Leistungsfahigkeit und Zuverlassigkeit der Lieferanten mitbestimmt, da heute im Durchschnitt zwischen 50 % und 80 % des Umsatzes fur beschaffte Giiter und Dienstleistungen aufgebracht werden.^*° Dabei kam es in den letzten Jahren zu intensiven Formen der Zusammenarbeit auf einer partnerschafllichen Grundlage, welche uber die bisherigen Bereiche Einkauf, Bestellabwicklung, Lagerhaltung und Transport hinausgehen.^*' Wesentlich fur diese Entwicklung sind zudem einerseits neue Anforderungen an Abnehmer-LieferantenBeziehungen durch bedarfssynchrone (Just-in-time) Zulieferformen und andererseits erwartete Erfolgspotenziale aufgrund von Wettbewerbsvorteilen durch die Zusammenarbeit mit Lieferanten.^^^ Diese entstehen durch die Verkiirzung von Innovationszyklen durch gemeinsame Forschung und Entwicklung, Qualitatsverbesserungen und Kostensenkungen. Einhergehend ist der Trend des Outsourcing zu beobachten^^\ das Anstreben einer geringeren Fertigungstiefe aufgrund des Modular Sourcing, der Zulieferung kompletter Module oder Systeme.^'*^ Auf die Umsetzung dieser Entwicklungen in der Automobilindustrie wird umfassend in Kapitel 4.1.2 eingegangen. 2.2.4 A blaufeines Beschaffungsprozesses Der traditionelle Beschaffungsprozess setzt sich aus mehreren Teilschritten zusammen. Er geht von einem bestimmten Bedarf an Gtitem aus, die fur die eigene Produktion benotigt werden. Steht dieser fest, werden Lieferanten gesucht bzw. ausgewahlt, die fur eine Anfrage in Betracht kommen, weil sie das entsprechende Gut bereitstellen konnten. Bisherige Bedingungen dafiir sind eine gleich bleibende Qualitat, giinstige Preise sowie piinktliche Lieferung in zugesagter Menge. An die Ermittlung moglicher Lieferanten schlieBt sich die Erstellung einer Anfrage mit den spezifischen Daten der Bedarfsermittlung an, wodurch potenzielle Lieferanten zu einer Angebotsabgabe ermuntert werden. Diese werden nach Vorliegen im Rahmen der Angebotsbewertung zusammengestellt und anhand von vorher festgelegten Bewertungskriterien miteinander verglichen. Dabei wird der Lieferant ermittelt, der bereit ist, zu giinstigen Bedingungen und bei Gewahrleistung hochster Qualitat zu den vereinbarten Terminen das Gut zur Verfiigung zu stellen. Trotzdem wird mit ausgewahlten Lieferanten auf Basis "' Vgl. Bichler/Krohn 2001, S. 45. ^^^ Vgl. Kaluza/Tretz 1997, S. 142; auch Kaufmann 2001, Monczka et al. 2002. '"' Vgl. Wildemann 1996, S. 197. ^^ Vgl. Arnold 1997b, S. 105 ff.; Christopher 1998, S. 23. ^^^ Siehe ausfuhrlicher Arnold 1997b, S. 95; Bichler/Krohn 2001, S. 54. ^^ Siehe ausfuhrlicher Arnold 1997b, S. 100; Bogaschewsky 1994, S. 96; Bichler/Krohn 2001, S. 58 f

2 Konzeptionelle Grundlagen

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dieser Zielvorgaben weiter verhandelt, um z. B. noch zusatzlich Preissenkungen durchsetzen zu konnen. Erst jetzt kommt durch eine Auftragsbestatigung der konkretisierte Lieferantenvertrag zustande und die Bestellung wird ausgelost. Den Abschluss des traditionellen Beschafflingsprozesses bildet die Lieferantenbewertung^^^ welche sich aus der Bestelliiberwachung bezogen auf die vereinbarten Lieferkonditionen ergibt und wiederum in die Lieferantenauswahl zukiinftiger Beschaffungsvorgange einflieBt. Ergebnis ist eine Lieferantenliste als Teilmenge aller potenziellen Lieferanten, die einer standigen Erweiterung (Aufhahme neuer Lieferanten) bzw. Reduzierung (Streichung von Lieferanten) unterliegt. Nun kann der Kreislauf kontinuierlich ablaufender Beschaffungsprozesse wieder neu beginnen.^^

Abbildung 9: Traditioneller Beschaffungsprozess^^

2.2.5 Lieferantenstrategien: Management der Lieferantenbeziehungen Lieferanten sind ein wesentlicher Faktor und gleichzeitig kritische Ressourcen fur den Unternehmenserfolg. Sheth und Sharma konstituieren „ Value creation by suppliers has become an area of interest to firms. Value creation can manifest itself into access to technology, access ^^' Dabei ist der Begriff in diesem Zusammenhang unterschiedlich zum VW-Konzept gebraucht und deshalb dagegen abzugrenzen. Im VW-Konzept umfasst Lieferantenbewertimg nur die Ex-ante-Bewertung der Vorauswahl. Die hier im Beschaffungsprozess bezeichnete Lieferantenbewertung ex post wird dort als Monitoring definiert. ^"^ Vgl. Bichler/Krohn 2001, S. 40 f.; Eichler 2003, S. 20 f ^^"^ Angelehnt an Eichler 2003, S. 20.

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2.2 Strategisches Beschaffungsmanagement und Lieferantenketten

to markets, and access to information. Business customers will realize that suppliers provide access to value creation that will provide them with sustainable competitive advantage. "^'*^ Grundlage des strategischen Beschafflingsmanagements bildet das Lieferantenmanagement (Lieferanten-Abnehmer-Beziehungen), da Lieferanten direkten Einfluss auf die Reduzierung von Kosten, die Verbesserung von Qualitat, die Generierung neuen Wissens sowie die Sicherung extemer Erfolgspotenziale besitzen.^'*' Bedingung dafur ist jedoch die im Lieferantenmanagement angestrebte Zusammenarbeit mit Geschaftspartner auf den Beschaffungsmarkten.^^® Es muss permanent an die untemehmensintemen Veranderungen und die Veranderungen innerhalb des Untemehmensumfeldes angepasst werden."' Nach Diller ist Lieferantenmanagement im Sinne eines Beziehungsmanagements die „[...] aufeinander abgestimmte Gesamtheit der Grundsatze, Leitbilder und Einzelmafinahmen zur langfristig zielgerichteten Selektion, Anbahnung, Steuerung und Kontrolle von Geschdftsbeziehungen /...7"-^" Dieses setzt sich nach Wagner aus drei Komponenten zusammen:^" 1. Management der Lieferantenbasis (Auswahl, Bewertung und Kontrolle), 2. Lieferantenentwicklung und 3. Lieferantenintegration.

Management der Lieferantenbasis: - Lieferantenauswahl - Lieferantenbewertung - Lieferantenkontrolle Abbildung 10: Hauptaktivitaten des Lieferantenmanagements^'

^'^ Sheth/Sharma 1997, S. 94. ^^' Vgl. Simpson/Power 2005, S. 60 f; Lamming 1993; Krause et al. 2000; Dyer/Nobeoka 2000. "° Vgl. Large 1999, S. 35; Pfohl/Large 2003, S. 434. ''' Vgl. Wagner 2003, S. 729. " ' Diller 1995, Sp. 286. ' " Vgl. Wagner 2001,8.77. ^^* Angelehnt an Wagner 2003, S. 692.

2 Konzeptionelle Grundlagen

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Lieferantenstrategien sind Voraussetzung fiir die erfolgspotenzialorientierte Gestaltung aller Lieferanten-Abnehmer-Beziehungen eines Untemehmens und bilden den Rahmen fur die Umsetzung des Lieferantenmanagements in einzelne Aktivitaten wie das Management der Lieferantenbasis, die Lieferantenentwicklung und die Lieferantenintegration."^ Damit sollen strategische Ziele der Lieferbeziehungen wie Kostenoptimierung, Innovation und organisatorische Zulieferintegration erreicht und Lieferantenbeziehungen gefunden werden, die zu dieser Zielerreichung ftihren. Die markierten Felder in Abbildung 11 kennzeichnen die Beschaffungsstrategien, die wahrend der Arbeit angesprochen und beeinflusst wurden. Zum einen wurden die Beschaffungsprozesse der Volkswagen AG (siehe Kapitel 4.1.4.2) analysiert und angepasst und zum anderen die Lieferantenauswahl, Lieferantenbewertung und Lieferantenkontrolle neu eingeordnet. Aus diesem Grund folgt im nachsten Abschnitt eine theoriegeleitete Ubersicht zu diesen Themen.

BeschafTungsstrategien

I

Externe Erfolgspotenziale Lieferantenstrategien

Kooperationsstrategien

I

Interne Erfolgspotenziale Personalstrategien

Prozessstrategien

Strukturstrategien

Technologiestrategien

Abbildung 11: Ubersicht der Beschafflingsstrategien

2.2.5.1 Lieferantenbewertung Die Lieferantenbewertung ist einerseits Vorstufe der Lieferantenauswahl, schlieUt sich andererseits zusatzlich an die tatsachliche Leistungserbringung des Lieferanten fur eine direkte Beurteilung an. Beide Tatigkeiten sind Teil des gesamten Beschaffungsprozesses (siehe Abbildung 9). Durch den Vergleich von Lieferanten untereinander und die Betrachtung der Entwicklungen jedes einzelnen Lieferanten sollen Beschaffungsrisiken, die im Rahmen der Zusammenarbeit mit Lieferanten entstehen, minimiert und der Gewinn des Untemehmens maximiert werden."* Zu den Risiken zahlen beispielsweise Nichterfullung des Vertrages, Einsatz

Vgl. Monczka/Trent 1991, S. 4 ff. Vgl. Monczka et al. 2002, S. 225.

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2.2 Strategisches Beschaffungsmanagement und Lieferantenketten

minderwertiger Materialien oder fehlerhafter Produktionsprozesse mit der Folge mangelnder Qualitat des Produktes, unzureichender Service oder keine termingerechte Lieferung. Diese Risiken konnen durch eine Bewertung des Lieferanten nicht ganz verhindert, jedoch wesentlich reduziert werden. Trotz all der moglichen Risiken ist der Preis als Bewertungskriterium immer noch von besonderer Bedeutung und letztendlich ausschlaggebend fur eine Auftragsvergabe. Lediglich bei strategischen und komplexen Beschaffungsobjekten kann dieser durch langfnstige, partnerschaftliche Zusammenarbeit mit einem Lieferanten beeintrachtigt werden.^" Fiir die Lieferantenbewertung (und daraus resultierend die Auswahl von Lieferanten) setzen Untemehmen sehr unterschiedliche Ansatze ein, welche, wie bereits erwahnt, immer von der Bedeutung des zu beschaffenden Gutes und der festgelegten Beschaffungsstrategie (siehe Tabelle 9) abhangen. Dafur benotigte Informationen konnen mit Hilfe verschiedenster Moglichkeiten gewonnen werden, welche miteinander kombinierbar sind:^^* 1. Die erste Moglichkeit ist die Auswertung von Lieferanteninformationen, die in Form von Selbstauskiinften vom Lieferanten selbst im Rahmen der Angebotsanfragen zur Verftigung gestellt werden.^^' Dies ist ein sehr einfacher Weg der Informationssammlung. 2. Ein zweiter Weg ist der direkte Besuch eines Lieferanten vor Ort. Ein funktionsubergreifendes Experten-Team, bestehend aus verschiedenen Organisationseinheiten, inspiziert in Frage kommende Lieferanten. Dafiir werden finanzielle und personelle Ressourcen benotigt, die oftmals nur von GroBuntemehmen geleistet werden konnen. Auch ist es mdglich, die Lieferanten zu einer Prasentation bzw. einem Test der lieferbaren Zukaufteile einzuladen, was wesentlich kostengiinstiger ist. 3. Drittens besteht die Moglichkeit des Nutzens bereits vorliegender Lieferantenlisten, sofem diese aufgrund von Bewertungen vorausgegangener Leistungen in fruheren Zeiten durch Einkaufer oder andere Organisationseinheiten des Untemehmens angelegt wurden. Bei dieser Methode konnen jedoch Nachteile fur noch nicht bewertete Lieferanten entstehen, die in diesem Fall gegeniiber gelisteten Lieferanten schlechter gestellt sind. 4. Das Vorliegen eines Zertifikates ist eine vierte Moglichkeit die Fahigkeiten eines Lieferanten zu ermitteln. Durch eine akkreditierte Zertifizierungsinstitution wird z. B. mit dem ISO 9000-Zertifikat nach einem umfassenden Qualitatsaudit bestatigt, dass der Lieferant ein Qualitatsmanagementsystem eingefuhrt und somit seine Produktionsprozesse iiberwiegend im Griff hat.

Vgl. Wagner 2003,8.704. Vgl. Large 1999, S. 153. Vgl. Glantschnig 1994, S. 127 ff; Koppelmann 1997, S. 70 ff

2 Konzeptionelle Grundlagen

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5. AbschlieBend konnen Informationen aus extemen Quellen, von so genannten Dritten, bezogen werden. Hierbei ergeben sich oftmals Bewertungen aus einem anderen Blickwinkel, was fur eine objektive Betrachtung des Lieferanten sehr hilfreich sein kann.^^ Grundsatzlich gibt es Basiskriterien, die bei jeder Leistungsbewertung eines Lieferanten eine wesentliche Rolle spielen. Dazu gehoren die Kosten (der Preis), die Qualitat (festgelegte Leistungsziele), die Lieferbedingungen (Lieferzeit und Einhaltung zugesagter Lieferzeitpunkte, Zuverlassigkeit) und die technologischen Kapazitaten.^^' Daneben existieren aber auch noch andere Kriterien, wie z. B. Management-Kapazitaten oder Offenheit im Informationsaustausch, die bei einer Bewertung berucksichtigt werden konnen. Ergebnis einer Bewertung ist zum einen ein generelles Leistungsprofil des Lieferanten mit untemehmensspezifischen Daten und zum anderen beschaffungsobjekt- bzw. situationsspezifische Daten zu den vom Lieferanten angebotenen Giitem/Dienstleistungen. Wichtig ist die Kontinuitat solch einer Bewertung von Lieferanten iiber den reinen Beschaffungsvorgang hinaus. Zudem muss darauf geachtet werden, Lieferantenbewertungen so objektiv wie moglich zu gestalten, da in der Praxis eine vollstandig objektive Beurteilung aufgrund der qualitativen KenngroBen kaum moglich ist. Das bedingt die Festlegung von BewertungsmaBstaben, die eindeutig von den Mitarbeitem interpretiert werden konnen als auch vergleichbare Datenerhebungsmethoden fur die einzelnen Lieferanten, damit Bewertungen eines Lieferanten durch verschiedene Mitarbeiter zu gleichen Urteilen fuhren wurden.^" Die Aufbereitung der Daten erfolgt dann durch das Lieferantenbewertungssystem. Allen Bewertungssystemen ist gemein, dass eine Lieferantenkennzahl ermittelt wird, die in einer Kategorisierung des Lieferanten miindet. Das Ergebnis der Bewertung unterteilt Lieferanten meist in eine Klassifizierung von A-, B- und C-Lieferanten (siehe als Beispiel Tabelle 30). ALieferanten weisen demnach die beste Bewertung auf und werden hauptsachlich als Lieferanten eingesetzt. Die Kategorie B enthalt Zweit- oder Ausfalllieferanten und C-Lieferanten miissen fiir einen weiteren Einsatz vorab Verbesserungsnachweise vorlegen. Gleichzeitig bietet die Lieferantenbewertung die Moglichkeit der Friiherkennung von schleichenden Leistungsveranderungen des Lieferanten im positiven wie im negativen Sinne. Solche Veranderungen sollten dem Lieferanten mitgeteilt und iiber entsprechende Entwicklungsprogramme diskutiert werden.^"

Vgl. Monczka et al. 2002, S. 233 f Vgl. Wagner 2003, S. 721; Monczka et al. 2002, S. 244; Handfield et al. 2005, S. 2; Simpson/Power 2005, S. 61. Vgl.Wagner2003, S. 706. Vgl. Wagner 2003,8.723.

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2.2 Strategisches Beschaffungsmanagement und Lieferantenketten

Insgesamt gibt es unterschiedlichste Einstellungen von Untemehmen zum Thema Lieferantenbewertungen. Einige setzen ein hohes Leistungsniveau des Lieferanten als Bestandteil vertraglicher Vereinbarungen voraus. Andere wiederum honorieren gute Bewertungsergebnisse, wobei mehrere Formen von Konsequenzen des Abnehmers, welche in weiche und harte Konsequenzen differenziert werden konnen, existieren. Diese sind in der folgenden Tabelle zusammengefasst. Bei guten Bewertungsergebnissen

Bei schlechten Bewertungsergebnissen

Anerkennungsschreiben (weich)

Lieferantengesprach (weich)

Lieferantenauszeichnungen (weich)

Verstarkte Kontrollen (weich)

Angebot langerer Laufzeiten (hart)

Zielvereinbarung mit Lieferanten (weich)

ErhShung der Lieferquote (hart)

Lieferantenentwicklung (weich)

Einsatz des Lieferanten als Single Source (hart)

Reduzierung des Volumens (hart)

PreiszugestMndnisse (hart)

Abbruch der Geschaftsbeziehung (hart)

Intensivere Lieferantenintegration (hart) Tabelle 10: Mogliche Konsequenzen des Abnehmers auf Lieferantenbewertungen-**

2.2.5.2 Lieferantenauswahi Die Lieferantenauswahi wird von Harting als Entscheidungsproblem bezeichnet, das sich aus der Existenz mehrerer Lieferantenquellen fiir den Bedarf eines extern zu beschaffenden Gutes ergibt.^" Damit soil eine Selektion der Lieferanten ermoglicht werden. Sie wird beeinflusst von mehreren Faktoren und variiert sehr stark je nach Beschaffungsanforderung. Gnmdlegende Vorgaben setzen sich aus den moglichen Bezugsquellen, der jeweiligen Kaufsituation'" und der Art der zu beschaffenden Giiter zusammen.'^^ Lieferantenentscheidungen basieren weiterhin auf strategischen Untemehmensfragen wie dem Thema Make-or-Buy, der GroBe der angestrebten Lieferantenbasis, der Lieferantenintegrationstiefe, dem Umfang der Informationsweitergabe sowie den Qualitatssicherheits- bzw. Lieferantenzertifizierungsbestrebungen.'^ Als erganzende Entscheidungskriterien konnen Folgende wirken:^^" • GroBenverhaltnisse: Vorteile und Einfluss des Abnehmers aufgrund von Uberlegenheit, •

Entfemungen: Komplexitatserhohung durch Einbeziehung intemationaler Lieferanten,

^^ Vgl. Wagner 2003, S. 727. ^^^ Vgl. Harting 1989, S. 3 f ^^ Hierbei wird zwischen einer „new-task-situation" (neuartige Kaufsituation ohne Erfahrungen), einer „modified-rebuy-situation" (Routinekauf gleicher Giiter von gleichen Lieferanten) und einer „straight-buysituation" (unzureichende Erfahrungen aufgrund einer modifizierten Beschaffungssituation erfordem zusatzliche Informationen) unterschieden. ^^' Vgl. Harting 1989, S. 3. ''* Vgl. Handfield et al. 2005, S. 8. ^'' Vgl. Monczka et al. 2002, S. 249 f

2 Konzeptionelle Grundlagen

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Lieferanten als Konkurrenten: Lieferbereitschaft und Informationsweitergabe,



Forderung von Gegengeschaflen: Restriktionen auf kommerzielle Aktivitaten durch Regierungen anderer Lander und okologische und soziale Anforderungen: Vermeidung unzureichender Sozialstandards und Suche nach hochsten Umweltstandards.



Oft besteht die Gefahr eines Riickgriffs auf alte Lieferantenbeziehungen aufgrund fehlender ungenauer, unvollstandiger oder sogar falscher Informationen iiber die Marktgegebenheiten, so dass Lieferanten aufgrund von subjektiven Meinungen, Vorurteilen, Intuitionen und Prestigegedanken ausgewahlt werden. Deshalb ist es wichtig, dem reinen Kostendruck eines Einkaufers durch strategische Auswahlverfahren zu begegnen, wobei derzeit immer noch nur operative Wettbewerbsfaktoren wie Qualitat, Service und Liefertreue hauptsachlich Einfluss nehmen."^ Nachhaltige Themen wie Umweltschutz oder soziale Rechte finden bisher kaum Beriicksichtig bei Lieferantenentscheidungen. Grundsatzlich kann davon ausgegangen werden, dass jedes Untemehmen aufgrund unterschiedlicher Organisationscharakteristika einen eigenen Ablauf fiir den Lieferantenauswahlprozess besitzt, welcher zudem von Situation zu Situation variieren kann. Im Rahmen eines allgemeinen Ablaufmodells versuchen Webster und Wind dennoch den Entscheidungsprozess grob zu skizzieren."' Sie unterscheiden dabei fiinf Phasen, die grundsatzlich durchlaufen werden miissen (einschlieBlich spezifischer Abwandlungen), um eine Entscheidung treffen zu konnen:"^ 1. Bedarfsfeststellung: Eine Beschaffungssituation kann sich uberall in einem Unternehmen ergeben, sobald der Bedarf an einem Produkt oder Service entsteht und dieses/dieser intern nicht zur Verftigung gestellt werden kann und somit von einem externen Anbieter eingekauft werden muss. 2. Definition von Zielen und Spezifikationen: Der Bedarf eines Produktes/Services muss exakt bestimmt und in Form von Beschaffungsanforderungen festgehalten werden. Dies bedingt die Definition von Zielen der Beschaffungssituation und den Spezifikationen des Beschafftingsobjektes. Wesentlichen Einfluss auf die Beschaffungsanforderungen haben neben der Beschaffung meist die Organisationseinheiten Technische Entwicklung, Qualitatssicherung und Logistik. 3. Identifikation von Beschaffungsalternativen: Wenn die Bedingungen und der Zeitplan fur das zu beschaffende Gut genau bestimmt sind, kann der Markt nach verftigbaren Beschaffungsalternativen (Lieferanten) abgesucht werden. Bereits friiher genutzte Vgl.Hartingl989, S. 3f. Vgl. WebsterAVind 1972a, S. 31. Die Autoren sprechen dabei von einem „organizational bying decision process". Vgl. WebsterAVind 1972a, S. 32 ff.; WebsterAVind 1972b, S. 18.

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2.2 Strategisches Beschaffungsmanagement und Lieferantenketten

Beschafflingsquellen werden daftir zuerst untersucht. Je nach Art des Gutes (Charakteristika) miissen unterschiedliche Organisationseinheiten in die Auswahl potenzieller Lieferanten einbezogen werden. 4. Bewertung der Alternativen: Die Bewertung der Beschaffungsaltemativen ist der Mittelpunkt des gesamten Prozesses. Hier findet ein Abgleich der verschiedenen Angebote potenzieller Lieferanten anhand der in Phase zwei definierten Ziele und Spezifikationen statt. Bei einfachen Giitem ist oftmals letztendlich der Preis das ausschlaggebende Kriterium fiir eine Auflragsvergabe. Schwierigkeiten im Rahmen einer Lieferantenauswahl konnen sich fur komplizierte Beschaffungsobjekte ergeben, bei denen die Angebote aufgrund von Unklarheiten bzw. Unsicherheiten wesentlich voneinander abweichen. Um auch in solchen Situationen eine Entscheidung treffen zu konnen, ist es wichtig, vorab die Ziele und Spezifikationen gemafi ihrer Bedeutung zu gewichten und akzeptable Trade-offs abzugrenzen. 5. Lieferantenauswahl: Mit der Auswahl eines Lieferanten fur die Auflragsvergabe wird der Beschaffungsentscheidungsprozess abgeschlossen. Das beschriebene Modell der Lieferantenauswahl ist somit kein Abbild einer ausdifferenzierten Prozessstruktur, sondem stellt lediglich eine sehr einfache Form kontinuierlich durchlaufener Phasen dar, bevor es zu einer Beschaffungsentscheidung kommt. Einzelne Phasen werden dabei manchmal zyklisch durchlaufen, z. B. wenn Spezifikationen aufgrund mangelnder Alternativen oder neuer Informationen verandert bzw. angepasst werden mussen, bis endgiiltig eine Entscheidung getroffen wird.^" 2.2.5.3 Lieferantenkontrolle und Lieferantenentwicklung Fiir die Minimierung von Beschaffungsrisiken reicht eine Lieferantenbewertung allein jedoch nicht aus. Es ist wichtig, die Beurteilung eines Lieferanten durch Befragung und Beobachtung vor Ort anhand eines Besuchs der FertigungsstStte zu iiberprufen, um sich ein Bild iiber die vorherrschende Situation zu machen.^''* Deshalb fuhren Untemehmen Kontrollen in Form einer aufwendigen Methode: dem Lieferanten-Audit"' durch. Dabei konnen nicht nur Angaben Uberpriift, sondem zudem gezielt auf Schwachstellen und Probleme des Lieferanten eingegangen und Moglichkeiten fiir Lieferantenentwicklungsaktivitaten aufgezeigt werden. Aber auch fur den Lieferanten konnen durch Audits Vorteile entstehen. Das Aufzeigen von Verbes-

"^ Vgl. WebsterAVind 1972a, S. 33. "' Vgl. Large 1999,8.154. ^'* Bisher werden Lieferanten-Audits im Zuge der ISO 9000 hauptsachlich im Bereich Qualitat durchgefiihrt. Ein Qualitatsaudit ist eine „systematische und unabhangige Untersuchung, um festzustellen, ob die qualitatsbezogenen Tatigkeiten und die damit zusammenhangenden Ereignisse den geplanten Vorgaben entsprechend und ob diese Vorgaben wirkungsvoll verwirklicht und geeignet sind, die Ziele zu erreichen.", DIN ISO 8402, S. 12.

2 Konzeptionelle Grundlagen

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serungsmafinahmen kann das Qualitatsniveau verbessem und Kosten reduzieren, gleichzeitig werden interne Schwachstellen erkannt und zusatzliches Know-how aufgebaut. Audits konnen sich auf einen Standort, ausgewahlte Produkte oder Funktionen im Untemehmen des Lieferanten beziehen. Grundsatzlich wird zwischen einem Verfahrensaudit (auch Prozessaudit) und einem Systemaudit unterschieden."^ Das Verfahrensaudit untersucht die verschiedenen intemen Prozesse des Lieferanten als Voraussetzung fur die Herstellung von Giitem mit hoher ProduktquaHtat einschHeBlich der vorhandenen Ressourcen. Ein Systemaudit ist weiter gehend und wird zur Uberpriifung aller MaBnahmen im Rahmen der Produktionstatigkeit des Lieferanten eingesetzt. Haufig sind in der Praxis allerdings Mischformen beider Auditarten vorzufmden. Die genaue Ausgestaltung eines Audits ist individuell unterschiedlich und vom durchfuhrenden Untemehmen (Lieferanten-Abnehmer-Beziehung, Beschaffungsobjekt) abhangig. Fur ein wirklich erfolgreiches und effizientes Audit ist jedoch die Zusammenarbeit der Organisationseinheiten Beschaffung, Qualitatssicherung und Produktion phaseniibergreifend fur den gesamten Prozesses unabdingbar und erfordert zusatzlich die Unterstiitzung des jeweiligen zu auditierenden Lieferanten."^ Die schriflliche Ankiindigung des Audits enthah den festgelegten Auditumfang, den Termin und den beauftragten Auditor bzw. das Auditteam. Diese konnen entweder extern einer unabhangigen Institution angehoren oder intern Teil einer Organisationseinheit (z. B. Qualitatssicherung) des Abnehmers sein. Fur oder gegen die Entscheidung, eine eigene Auditierung durchzuftihren, muss der enorme Aufwand einer Auditierung der Eignung des Auditors, beispielsweise bei sehr spezifischen Technologien, gegeniibergesteUt und abgewogen werden."* Wichtig ist immer eine geeignete Dokumentation der Ergebnisse, um das Audit nach einer langeren Zwischenzeit immer wieder nachvoUziehen zu konnen."' Nach Abschluss des Lieferanten-Audits wird der Lieferant in ein untemehmenseigenes Klassifizierungsschema eingeordnet, um ihn mit anderen auditierten Lieferanten vergleichbar zu machen. SoUten bei einem Lieferanten-Audit schwerwiegende Mangel festgestellt werden, kann die Qualitatssicherung die Freigabe des Lieferanten ftir die Beschaffung verweigem bzw. widerrufen. Ein positives Ergebnis ist Voraussetzung fur eine Produktvergabeentscheidung. Indirekt ist somit auch die LieferantenkontroUe in Form von Audits ein Baustein der Lieferantenbewertung. Hinzu kommt der Aspekt der Lieferantenentwicklung durch den Abnehmer. Darunter werden alle Aktivitaten zusammengefasst, die dem Lieferanten helfen sollen, seine Leistungen und Fahigkeiten dahingehend zu verbessem, um zukunflig die Beschaffungsanforderungen des

VgLKastreutz 1994,8.82. Vgl. Kastreutz 1994, S. 82 ff.; Kirstein et al. 1996, Sp. 1724 ff Vgl. Wagner 2003, S. 709. Vgl. Large 1999,8.155.

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2.2 Strategisches Beschaffiingsmanagement und Lieferantenketten

Abnehmers zu erfullen.^*** Solche Aktivitaten beziehen sich oft auf technische, qualitatsbezogene oder Lieferfahigkeiten bzw. Kostenreduziemngen, setzen dafur jedoch langerfristige gemeinsame Bemiihungen voraus.^*' Eingesetzte Methoden sind beispielsweise direkte Leistungsmessungen, Vergleiche mit Wettbewerbem, intensiver Informationsaustausch, Erstellung von Entwicklungsplanen, Durchfiihrung von Trainings oder sogar direkte Investitionen beim Lieferanten.^" Dabei konnte ein Zusammenhang zwischen der Intensitat der Involvierung des Abnehmers in die Lieferantenentwicklungsbemiihungen und dem Mai3 der Verbesserungsanstrengungen und positiven Auswirkungen beim Lieferanten festgestellt werden.^" 2.2.6 Nachhaltigkeit in der Beschajfung Bereits seit Anfang der 90er Jahre sind Nachhaltigkeitsanforderungen wie Umweltschutz und soziale VerantwortungftirUntemehmen insgesamt von groBer Bedeutung, um Risiken beziiglich ihrer gesellschaftlichen Reputation zu vermeiden.^^ Sowohl auBerbetriebliche, durch die sich immer weiterentwickelnden gesetzlichen Regelungen, als auch innerbetriebliche, zum einen aufgrund untemehmerischer Willenserklarungen und zum anderen entsprechend struktureller und ablauforganisatorischer Vorkehrungen, Entwicklungen ftihren verstarkt zu der Erkenntnis, dass sich Untemehmen beziiglich ihres betrieblichen Handelns und ihrer intemen Prozesse diesem Druck nicht mehr entziehen konnen.^" Auch Strategien und das Management (siehe Kapitel 2.2.2) im Bereich der Beschaffung sind ftir die Betrachtung eines Untemehmens unter nachhahigkeitsrelevanten Gesichtspunkten wichtig, wenn ein Untemehmen seine Nachhahigkeitspolitik effektiv umsetzen will.^*^ Vor allem im Umwehbereich fmden sich verstarkt Lieferantenanfordemngen, welche den Einsatz natiiriicher Ressourcen reduzieren sowie durch die Verbessemng der Leistungsfahigkeit des Lieferanten Umwehrisiken reduzieren sollen.^*^ Bereits im Jahr 1994 konstatierte Lloyd ftir den Umwehbereich: „[...] in the future, environmental pressures will increase. Social, economic, business, financial and legal measures are going to force companies to set up environmental management systems. These will have to include as a key sub-system the appraisal and monitoring of suppliers. "^** Diese Aussage kann aus heutiger Sicht gleichfalls auf die soziale Dimension Nachhaltiger Entwicklung iibertragen werden.

Vgl. Handfield et al 2000; Krause et al 2000. Vgl. Scannel et al. 2000. Vgl. Handfield/Nichols 1999; Krause et al. 2000; Scannel et al. 2000. Vgl. Handfield/Bechtel 2002. Vgl. Roberts 2003, S. 160. Siehe dazu die Ausfiihrungen Kapitel 2.1.3.4 und 2.1.5; vgl. auch Industrieanzeiger 1993, S. 18. Vgl. Lamming/Hampson 1996, S. 45. Vgl. Simpson 2005, S. 313. Lloyd 1994, S. 39.

2 Konzeptionelle Grundlagen

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GemaB Schneidewind ist Nachhaltigkeit nicht nur mit Blick auf ein einzelnes Untemehmen, bezogen auf die Bedingungen, Einspar- und Substitutionspotenziale intemer Stoff- und Energiefliisse, zu sehen.^*' Fur eine Nachhaltige Entwicklung mussen auch exteme Herausforderungen und Auswirkungen vor- und nachgelagerter Wertschopfungsstufen des Produktlebensweges aufierhalb eines Untemehmens und die darin einbezogenen Akteure (Lieferanten und Kunden) beriicksichtigt werden.^'^ Deshalb geht es vor allem um den okonomischen Erfolg entlang der Wertschopfungsketten durch die Einhaltung okologischer und sozialer Standards auf Basis der Zusammenarbeit und gemeinsamen Entwicklung von Abnehmem und Lieferanten.^" Diese soUen helfen, von Untemehmen ausgehende Umweltbelastungen und Menschenrechtsverletzungen bereits in den Vorstufen zu erkennen und zu reduzieren bzw. moglichst zu vermeiden. Fiir die Zukunft wird von einem Anstieg des Einflusses okologischer und sozialer Standards auf Produktvergabeentscheidungen ausgegangen.^'^ Als Ausgangspunkt fur Entwicklungen des Supply Managements im Umwelt- und Sozialbereich sehen Green et al. das Zusammenwirken drei verschiedener Trends: (1) des Anstiegs der strategischen Bedeutung des Beschaffungsmanagements^''\ (2) der Entstehung partnerschafllicher Abnehmer-Lieferanten-Beziehungen^'^ und (3) des Bewusstseins des Zusammenhangs zwischen den Beschaffungsentscheidungen und den Umweltleistungen eines Untemehmens^*^ Der Ansatz einer Nachhaltigen Entwicklung in der Beschaffung eines Untemehmens erwachst dabei aus der allgemeinen Anpassung der eigenen Produkte entlang der Supply Chain in Bezug auf Design, Inhaltsstoffe, Herstellungsverfahren, Verwertbarkeit und Entsorgung an veranderte okologischen und soziale Bedingungen.'^ Daraus ergeben sich verschiedene Arbeitsfelder, innerhalb derer solche Anpassungen beriicksichtigt und umgesetzt werden miissen:''^ 1. Global Sourcing: Ein erster Bezug resultiert aus der Entscheidung iiber die Beschaffung von Zukaufteilen weltweit und somit auch aus Billiglohnlandem, in denen die Risiken fur okologisches und soziales Dumping enorm hoher sind als in industrialisierten Landem mit entsprechenden gesetzlichen Rahmenbedingungen. Hinzu kommt die Frage, ob bzw. welche Nachhaltigkeitsanfordemngen ein bestimmtes Gut erfiillen soil. 2. Einkaufsbedingungen: Zusatzlichen Einfluss auf die Integration von Nachhaltigkeit im Beschaffungsmanagement besitzen im Beschaffungshandbuch bereits verankerte Umwelt- und Sozialaspekte, da diese von vomherein bei den Entscheidungen in den Vgl. Schneidewind 2004, S. 109. Vgl. Dyllick/Hamschmidt 2002, S. 477; fur den Umweltbereich („green supply") siehe auch Green et al. 1996. Vgl. Schneidewind 2004, S. 109; Simpson 2005, S. 315. Vgl. Dyllick/Hamschmidt 2002, S. 478. Vgl. Kraljic 1983; DTI 1991 (zitiert nach Green/Morton/New 1996, S. 189). Vgl. Schonberger 1983, 1990; Kay 1993; Lamming 1993 (zitiert nach Green et al. 1996, S. 189). Vgl, CIPS/BIE 1993; BIE 1995 (zitiert nach Green et al. 1996, S. 189). Vgl. Dyllick/Hamschmidt 2002, S. 478; auch Green et al. 1996, S. 190 f. Vgl. Green et al. 1996, S.190 f; Bogaschewsky 2004, S. 176 ff.

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2.2 Strategisches Beschaffungsmanagement und Lieferantenketten

einzelnen Ablaufen beriicksichtigt werden. Unterstiitzt werden kann dies durch ein entsprechendes Informationssystem mit fur den Mitarbeiter aktuell relevanten Daten. 3. Lieferantenmanagement: Die Bestimmung der Lieferantenanzahl eines Untemehmens, basierend auf Risikoaspekten beziiglich der Lieferzuverlassigkeit, kann das gesamte Logistiksystem, speziell die Umweltfreundlichkeit der Transporte und die Akzeptanz eines zweiten Anbieters mit niedrigeren Umwelt- und Sozialstandards beeinflussen. Gleichfalls hat auch die Lieferantenauswahl im Rahmen der Produktvergabeentscheidung maBgeblichen Einfluss, da vor allem an diesem Punkt nachhaltigkeitsbezogene Leistungskriterien im Rahmen der Bewertung des Lieferanten beriicksichtigt werden konnen. 4. Logistik: Auch die Art des Abrufs und der Bereitstellung (Stock, Demand-Tailored, Just-in-Time) ruft unterschiedliche logistische Aufwendungen und damit Umweltbelastungen hervor. Hierbei ist die Frage unklar: „[...], ob hduflge Lieferungen mittels kleinerer Transportfahrzeuge tatsachlich und immer weniger okologisch sind als die seltenere Beforderung grofierer Mengen mittels Schwerlasttransporte. "^'^ Leider existieren bisher kaum Ansatze zur Beurteilung okologischer Vorteile der einzelnen Varianten.^^ 5. Kooperation: Ein weiterer Ansatz ist die Zusammenarbeit und Entwicklung mit Lieferanten. Gemeinsame Produktentwicklungen ermoglichen es dem Abnehmer Einfluss auf die okologischen und sozialen Produktionsbedingungen des Lieferanten zu nehmen. Durch die Zusammenarbeit mit Lieferanten entlang der gesamten Wertschopfungskette konnen untemehmensiibergreifende okologische und soziale Standards ftir alle mit dem gleichen wirtschaftlichen Ziel definiert und umgesetzt werden (siehe ausfuhrlich dazu das nachste Kapitel 2.2.6.3). 6. Entsorgung/Recycling: Letztendlich spielt ebenfalls die Art der Verwendung und Entsorgung von Zukaufleilen fur eine umfassende Betrachtung von Nachhaltigkeit in der Beschaffung eine Rolle, auch wenn der Bereich in diesem Zusammenhang von Untemehmen (trotz der Bedeutung des Themas Recycling) oft ausgeklammert wird. Auch hier ergeben sich Einwirkungsmoglichkeiten auf sowohl Lieferanten als auch Kunden. Bereits in der Beschaffung sollen somit Risiken fur ein Untemehmen erkannt und minimiert werden. Fiir die Arbeit stehen hierbei Aspekte des Global Sourcing (Punkt 1), der Einkaufsbedingungen (Punkt 2) und der Lieferantenauswahl und -bewertung (Punkt 3) im Vordergrund. Alle drei Punkte miissen beriicksichtigt werden, wenn es darum geht, Umwelt- und Sozialstandards in Lieferantenketten zu integrieren. Dieses Ziel der Arbeit ergibt sich aus der

Bogaschewsky 2004, S. 177. Laut Bogaschewsky (2004) treten solche Ansatze bisher lediglich teilweise im Rahmen der Okosteuer auf Kraftstoffe auf

2 Konzeptionelle Grundlagen

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in Kapitel 1 dargestellten Problemsituation und der daraus abgeleiteten Forschungsfrage. Die Punkte 4 bis 6 wurden in diesem Zusammenhang fur das Projekt erst einmal ausgeklammert, da sie die Entscheidungsfindungen wahrend des Beschaffungsprozesses fiir die Auswahl eines Lieferanten nicht direkt betreffen, sondem erst im Anschluss daran als Komponenten der Logistik, der Kooperation und des/der Recycling/Entsorgung eine RoUe spielen. 2.2.6.1 Ansatzpunkte fur ein umweltbezogenes strategisches Beschafflingsmanagement Zsidisin und Siferd definieren umweltbezogene Beschaffung („green supply") fur ein Unternehmen somit als „[...] set of purchasing policies held, actions taken, and relationships formed in response to concerns associated with the natural environment. These concerns relate to the acquisition of raw materials, including supplier selection, evaluation, and development: supplier's operations; in-bound distribution; packaging; recycling; reuse; resource reduction; and final disposal of the firm's products. "^^ Umweltbezogene Beschaffung stellt damit einen Teilbereich des ESCM dar (siehe Kapitel 2.1.3.3).*°' Ziel ist es, Risiken fur Untemehmen zu vermeiden, die aufgrund unzureichender Umweltaktivitaten und -standards bei Lieferanten entstehen und dem Endabnehmer angelastet werden.'*"^ Okologische Kriterien sind fur die Beschaffung von Bedeutung, sobald von den zu beschaffenden RohstoffenA^orprodukten, sowohl wahrend der Nutzungsphase als auch wahrend der Lagerung, der Fertigung und des Transports, Umweltbelastungen ausgehen konnen. Schwerpunkte einer umweltbezogenen Beschaffung sind in der Literatur die Reduzierung des Ressourceneinsatzes, Wiederverwendung und Recycling, Qualitatssteigerungen sowie die Kontrolle der Umwelteinflusse von Lieferanten.'**'^ Hinzu kommen Fragen der Sicherung von Rechtskonformitat und der Vermeidung von Umweltkosten*^. Interessant ist, dass bereits schon 1996 vom Bundesverband Materialwirtschafl, Einkauf und Logistik (BME) „Umweltleitlinien" fur deutsche Firmen festgelegt wurden. Damit hat sich der Verband zu einem okologisch verantwortlichen Handeln fur ein Ressourcen schonendes Stoffstrommanagement verpflichtet.*'' Dabei ist uber die letzten Jahre eine Entwicklung von End-of-pipe-Programmen zur Reduzierung von Missionen, Wasserverschmutzungen und Energieverbrauchen'*^, tiber „clean techno-

"^ '*°> *°2 ^^

Zsidisin/Siferd 2001,8.69. Vgl. Rao 2002. Vgl. Simpson/Power 2005, S. 61. Vgl. Zsidisin/Siferd 2001, S. 62; ausahrlich dazu siehe Murphy et al. 1995; Carter/Carter 1998; Carter/Ellram 1998; Carter et al. 1998; Klassen/McLaughlin 1993; Kellog 1994; Noci 1997; Lamming/Hampson 1996; Zsidisin/Hendrick 1998. ^ Vgl. Dyllick/Hamschmidt 2002, S. 482.; Bogaschewsky 2004, S. 176 ff.; zum Thema Umweltkosten siehe weiterfuhrend Wucherer et al. 1997, S. 79 ff. *^^ Siehe dazu ausfuhrlich Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik (BME) 1996. *^ Vgl. Hunt/Auster 1990; Azzone/Bertele 1994.

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2.2 Strategisches Beschaffungsmanagement und Lieferantenketten

logics" Ende der 80er, welche die Einwirkungen von Untemehmen auf die Umwelt im Rahmen des Produktionsprozesses reduzieren sollten*°\ bis hin zu einem „eco auditing" zur Anpassung von Produkten und Serviceleistungen*^* seit Beginn der 90er Jahre von statten gegangen. Seit geraumer Zeit zeichnet sich zudem eine neue Entwicklungslinie vor allem bei multinationalen Untemehmen ab. Diese versuchen verstarkt, uber die eigenen Untemehmensgrenzen hinweg zusatzlich ihre Supply Chains umweltorientierter, das heiBt aus Sicht einer okoeffizienteren Perspektive, zu gestalten.'*^ Grundsatzlich kann umweltbezogene Beschaffung heutzutage in zwei wesentliche Formen gegliedert werden: (1) Einbeziehung von UmweltkriterienZ-standards in die Entscheidungen entlang des Beschafflingsprozesses („greening the supply process") und (2) Optimierung der Umwcltvertraglichkcit der beschafften Produkte („product-based green supply")/'® Um Umweltstandards in die cinzelnen Beschaffungsentscheidungen des gesamten Prozesses integricren zu konnen, miissen zusatzliche Information iiber die Umweltleistungen der Lieferanten eingeholt und diese in einem entsprechenden Bewertungs- und Klassifizierungssystem (Rating-Systeme) verarbeitet werden. Unterstiitzung findet diese Art zusatzlich durch eine verstarkte Ausbreitung normierter Umweltmanagementsysteme nach EMAS oder ISO 14001. Die Anforderungen solcher Umweltmanagementsysteme gelten im Rahmen der Beschaffung vor allem auch fur den Bezug umweltvertraglicher RohstoffeA^orprodukte und der damit verbundenen Produktionsprozesse. Eigene Umweltstandards mussen gleichfalls auf alle Geschaftspartner des Untemehmens, besonders die Lieferanten, ubertragen werden. Dazu ist es erforderlich, konkrete okologische Anforderungen in den Beschafflingsrichtlinien festzulegen und Verfahren zur Bewertung und Uberprufung (Audits) der Umweltauswirkungen eigener Tatigkeiten und der Einhaltung okologischer Anforderungen durch die Geschaftspartner einzufiihren.'*" Die Umweltvertraglichkeit eines Produktes, als zweite Form umweltbezogener Beschaffung, setzt sich aus seinen Eigenschaften, seiner Verpackung sowie der Wiederverwertung bzw. des Recyclings zusammen. Dabei kann ein bisher beschaffles Produkt verbessert Oder auf ein Produkt mit bereits geringeren Umweltauswirkungen ausgewichen werden.'*'^ Zusammenfassend konnen alle lieferantenbezogenen Regelungen beider Formen in drei Verfahren zusammengefasst werden:"*'^

Vgl. Welford/Gouldson 1993; Porter/van der Linde 1995. Vgl. ICC 1989; Frakee 1995. Vgl. Noci 1995; Hass 1996. Vgl. Bowen et al. 2001, S. 175. Vgl. Dyllick/Hamschmidt 2002, S. 481; Zsidisin/Siferd 2001, S. 68; Bowen et al. 2001, S. 177. Vgl. Bowen etal. 2001, S. 175. Vgl. Ellringmann et al. 1995, Kapitel III-7; Hartmann 1996, S. 54 ff; Zsidisin/Siferd 2001, S. 68; Walton etal. 1998.

2 Konzeptionelle Grundlagen

Verfahren fttr

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Regelungen

Beschaffiing umweltvertraglicher Produkte und Leistungen

• Volldeklaration der Inhaltsstoffe komplexer Produkte, • Klarung von Entsorgungsfragen vor der Beschaffiing, Beriicksichtigung des Umweltschutzes • Definition von Anforderungen an die Lieferanten in den allgebei der Vertragsgestaltung meinen Einkaufsbedingungen und dazugehorigen Qualitats- und Umweltvereinbarungen, • Verpflichtung des Lieferanten zur Substitution von Problemstoffen, Beurteilung der Umweltleistungen von • Integration okologischer Anforderungskriterien bei der LieferanGeschaftspartnem tenbewertung und -auswahl, • Durchfuhning von Lieferanten-Audits, • Lieferantenentwicklung und Integration dieser in Umweltmanagementinitiativen. Tabelle 11: Verfahren zur Integration okologischer Aspekte in das Beschaffungsmanagement

Voraussetzung ftir die erfolgreiche Umsetzung dieser Aktivitaten ist jedoch die umfassende Kommunikation und der Erfahrungsaustausch zwischen einem endabnehmenden Untemehmen und seinen Lieferanten. Nur so konnen entlang der Supply Chain Umweltleistungen realisiert und die damit verbundenen moglichen Kosten gering gehalten werden/'* Erweitemd dazu wird in der Literatur der Aufbau strategischer Beziehungen und enger Kooperationen empfohlen, um beide Parteien zu motivieren, durch den Transfer von Ressourcen, Wissen und Fahigkeiten gemeinsam an Umweltverbesserungen zu arbeiten und damit sowohl Risiken als auch Erfolge zu teilen/" Solche Kooperationen fordem die Einfuhrung einer umweltbezogenen Beschaffiing/"^ 2.2.6.2 Ansatzpunkte fur ein soziales strategisches Beschaffungsmanagement Hinweise auf bzw. Ansatze fur Untersuchungen zur steigenden Bedeutung sozialer Kriterien fur das Beschaffungs- bzw. Supply Chain Management, wie z. B. Lieferantenbewertungen basierend auf sozialen Anforderungen, konnten in der Literatur kaum gefunden werden. Erste Ansatze fmden sich dazu beispielsweise bei Roberts, Carter oder Drumwright.*'' Diese sprechen von „ethical sourcing", „purchasing social responsibility" oder „social responsible buying", worunter jedoch sowohl Sozial- als auch Umweltstandards fiir Beschaffungsentscheidungen subsumiert werden.*'* Das zeigt, dass soziale Faktoren unabhangig von der Umweltdimension bisher nicht betrachtet wurden. Da auf die reine umweltbezogene Beschaffiing bereits ausfuhrlich eingegangen wurde, sollen nun nur Ansatze untersucht werden, welche die sozialen Anforderungen mit einschlieBen. Als Voraussetzung und Untersttitzungsmechanismen fiir ein soziales Beschaffungsmanagement werden eine personenorientierte Organisati" Vgl.Zsidisin/Siferd 2001,8.68. Vgl. Ford 1980; Laneros/Monckza 1989; Sako 1992; Lamming 1993; Lane/Bachmann 1998; Cousins 1999. '^ Vgl. Green et al. 1996; Lamming/Hampson 1996. ^ Vgl. Drumwright 1994; Roberts 2003; Carter 2005. * Vgl. Roberts 2003, S. 159.

92

2.2 Strategisches Beschafftingsmanagement und Lieferantenketten

onsstruktur, die Leitung durch das Topmanagement, Mitarbeiterinitiativen und der Wettbewerbsdruck durch den Markt gesehen/" Parallel sind diese Faktoren nach Meinung der Autorin aber auch fur den Umweltbereich von Bedeutxing. Weiterfuhrende Informationen ftir ein soziales Beschaffungsmanagement enthalten die aufgezeigten Ansatze nicht. Es existieren immer wieder Bezuge zum umweltbezogenen Beschaffungsmanagement, woraus sich die grundsatzliche Frage ergibt, ob nicht alle Formen und Verfahren dieses Bereiches auch auf die Integration sozialer Anforderungen ubertragen werden konnen. Da das Projekt den Anspruch erhebt, Umwelt- und Sozialstandards gleichermaBen in die Strukturen und Prozesse zu integrieren, wird sich zeigen, inwieweit diese Vorstellung realisierbar ist bzw. wo in diesem Zusammenhang welche Probleme auftreten konnen. 2.2.6.3 Umwelt- und Sozialstandards in Lieferantenbeziehungen Auch ftir das Lieferantenmanagement konnen MaBnahmen zur Umsetzung Nachhaltiger Entwicklung aufgezeigt werden. Durch die Zusammenarbeit von Abnehmem und Lieferanten wird es moglich, Kapazitaten und Ressourcen zu kombinieren und die gemeinsame Leistungsfahigkeit beider Partner zu erhohen, um wettbewerbsfahig zu bleiben bzw. sogar Wettbewerbsvorteile zu erlangen.^^" In der Beschaffungsmanagementliteratur konnten bisher nur vier Bereiche identifiziert werden, in denen die Zusammenarbeit von Abnehmem und Zulieferem diskutiert ist: Forschung und Entwicklung, Qualitat, Produktion und Logistik."^' Somit stellt sich hier die Frage, ob eine Zusammenarbeit von Abnehmem und Lieferanten auch ftir ein Nachhaltigkeitsmanagement in Form der Etabliemng und Einhaltung von Umwelt- und Sozialstandards mSglich ist und dafur die erforderlichen Strategien und MaBnahmen im partnerschafllichen Verbund mit Lieferanten besser verfolgt und umgesetzt werden konnen. Zur Beantwortung dieser Frage fehlen bislang jedoch iiberzeugende Untersuchungen. In den letzten Jahren haben vor allem im Bereich des Umweltschutzes vereinzelt Untemehmen versucht, Einfluss auf das Verhalten ihrer Lieferanten zu nehmen.'*^^ Besonders Abnehmer der Automobilindustrie stellen vermehrt Umweltschutz-Anfordemngen an ihre Zulieferer. Dabei geht es hauptsachlich um die Vermeidung von Produkten, Vorprodukten und Materialien, die gesetzlichen Substanzverboten unterliegen und als umwelt- und gesundheitsschadlich betrachtet werden sowie die Einftihmng von Umweltmanagementsystemen (meist ISO 14001) bei Lieferanten. „ The diffusion of environmental management techniques via the supply chain is [...] a very important factor influencing the improvement of industrial environ-

Vgl. Carter 2005, S. 179. Vgl. Dangelmaier 1999, S. 11; Simpson/Power 2005, S. 60. Vgl. BeBlich/Lumbe 1994, S. 120; Green et al. 1996; S. 194. Vgl. Lamming/Hampson 1996; Florida 1996; Wycherley 1999, Hall 2000; Geffen/Rothenberg 2000; Canning/Hanmer-Lloyd 2001; Handfield et al. 2005; Preuss 2005.

2 Konzeptionelle Grundlagen

93

mental performance."''" Die wesentlichen Griinde fur dieses Vorgehen sind jedoch auch hier eher die gesetzlichen Vorgaben und das Thema Kostenreduzierung/^^ Obwohl viele Abnehmer ihre umweltbezogenen Standards und Anforderungen in Form von Fragebogen, Umweltrichtlinien und Listen mit Substanzvorgaben an Lieferanten weitergeben, sind vermehrt in Kooperation durchgefuhrte Entwicklungsprozesse im Bereich des Umweltschutzes erkennbar/^^ Grundsatzlich existieren derzeit verschiedene Moglichkeiten zur Integration von Umwelt- und Sozialstandards in Lieferantenketten ftir eine umweltgerechte und soziale Beschaffung:'*^^ 1. Mit Hilfe von Fragebogen werden Aktivitaten von Lieferanten beziiglich ihrer Einhaltung von umweltbezogenen und sozialen Anforderungen abgefragt und somit deren Bedeutung verdeutlicht. In diesem Zusammenhang spielt oft die Abfrage eines Zertifikates, wie z. B. ISO 14001, eine wichtige RoUe. 2. Ein weiteres Mittel ist die Bewertung und Kontrolle des Verhaltens eines Lieferanten direkt vor Ort durch eigene Mitarbeiter oder exteme Institutionen (Audit). Ergebnis ist eine Lieferantenkategorisierung und -priorisierungftirdie Beschaffiingsentscheidung. 3. Das Partnering bzw. Mentoring beinhaltet die Entwicklung einer engen BeziehungA^erbindung zum Lieferanten, um dort gemeinsam durch die Unterstiitzung des Abnehmers umweltbezogene und soziale Aktivitaten beispielsweise in Form innovativer Technologien und umweltfreundlicherer Produkte/Produktionsprozesse aufzubauen und umzusetzen. Dabei werden Fragebogen, Zertifikatabfragen und Klassifizierungsschemata bisher bevorzugt eingesetzt, da okonomische Bedenken aufgrund zusatzlicher Kosten sowie der Vertrauensaufbau das Partnering/Mentoring meist einschranken/" Diese unterschiedlichen Formen resultieren aus der Tatsache, dass jedes Untemehmen, aufgrund von bereits vorhandenen Systemen, seiner Historie und der Branche, unterschiedliche Rahmenbedingungen mitbringt und somit ein umfassendes Allgemeinkonzept („one-size-fits-air') ftir alle kaumftmktionierenwird/^* Trotzdem kann davon ausgegangen werden, dass einzelne Bausteine immer wieder in den verschiedensten Nachhaltigkeitsansatzen zu fmden und auch ftir das im Forschungsprojekt entwickelte Integrationskonzept relevant sind. Lieferanten sehen darin eine groBe Chance, gemeinsam sinnvollere, leistbare Umweltrichtlinien zu entwickeln, um groBere Erfolge im Umweltschutz erreichen zu konnen. Fiir Lieferan-

Lloyd 1994, S. 40. Vgl. Green et al. 1996,8.1994. Vgl. Geffeny^othenberg 2000, S. 183f; Rao 2002, S. 636. Vgl. Rao 2002, S. 634; erganzend siehe Lloyd 1994; Lamming et al. 1999; Hines/Johns 2001. Vgl. Min/Galle 1997; Cox et al. 1999; Rao 2002, S. 636. Vgl. Green et al. 1996, S. 195.

94

2.2 Strategisches Beschaffiingsmanagement und Lieferantenketten

ten sind vor allem personliche Kommunikationswege wie gemeinsame Treffen, Workshops Oder aktive Partnerschaften von grofier Bedeutung. Erst anhand solcher unterstiitzender Tools kann es gelingen, Schwierigkeiten/Probleme bei der Umsetzung okologischer Standards auf Lieferantenseite, wie zu hohe Kosten, mangelnde Lieferzeiten, technologische Hurden, spezifische Beschaffungsanforderungen und mangelndes Umweltbewusstsein, zu iiberwinden/^' Viele Lieferanten sind jedoch auch der Meinung, dass Abnehmer zu wenige umweltbezogene Kriterien im Rahmen ihrer Beschaffungsentscheidungen fiir einen bestimmten Zulieferer beriicksichtigen. Immer noch stehe der Preis an erster Stelle bei der Auswahl eines Angebotes. Zudem gibt es nicht nur Vorgaben von Abnehmem an Lieferanten, sondem auch Lieferanten versuchen durch verschiedenste Initiativen Abnehmer dazu zu bringen, ihre eigenen Umweltziele zu erflillen, wenn dies nicht der Fall sein sollte/^^ Erste Anzeichen sind erkennbar, dass okologische Anforderungen von Endherstellem auch von Lieferanten an ihre Zulieferer in der Kette weitergegeben werden und eine Implementierung von ISO 14001 zur Standardbedingung im Umweltbereich wird/^' Dabei ergeben sich Schwierigkeiten bei kleinen und mittleren Zulieferem aufgrund fehlender Ressourcen und Systeme fur eine Umsetzung. Deshalb sind besonders First Tier-Supplier vermehrt darauf angewiesen, ihren Zulieferem technische Unterstiitzung, finanzielle Hilfe etc. ftir das Erreichen neuer Umweltanforderungen zur Verftigung zu stellen."^^ Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Bedeutung vor allem umweltbezogener aber auch sozialer Standards in Lieferantenketten in den letzten Jahren als ein Instrument zur Umsetzung von Nachhaltigkeit im Beschaffiingsmanagement gestiegen ist. Umweltbezogenes und zum Teil soziales Risikomanagement ist zu einem wichtigen Teil der Reputation und des Images einer Marke geworden. Dabei unterscheiden sich die Ansatze und Verfahren von Untemehmen zu Untemehmen und Industrie zu Industrie. Grundsatzlich konnen aus den verschiedenen dargestellten Ansatzen jedoch funf wesentliche Schritte fur die Einfuhrung solcher Standards in Lieferantenketten festgehalten werden:'*" • Formulierung von Codes of Conduct bzw. Einfuhrung institutioneller Standards, • Einfuhrung eines Fruherkennungs- und Risikobewertungssystems, • Ausbildung/Schulung von Mitarbeitem, •

Implementierung umweltbezogener/sozialer Audits durch inteme/exteme Spezialisten,



Aufstellung eines Verbesserungsplans fur Lieferanten entsprechend den Auditierungsergebnissen.

Vgl. BSR Education Fund 2001, S. 4 ff. Vgl. BSR Education Fund 2001, S. 5. Vgl. Koplin et al. 2004, S. 396 ff. Vgl. BSR Education Fund 2001, S. 7. Vgl. International Investment 2004, S. 19.

2 Konzeptionelle Grundlagen

95

Aber auch Abnehmer tragen eine Verantwortung fur soziale und umweltbezogene Probleme und Schwachstellen in Lieferantenketten. Sie besitzen maBgeblich Einfluss auf das Verhalten von Lieferanten gegeniiber ihren Arbeitnehmem und der Umwelt. In diesem Zusammenhang miissen Faktoren des Beschaffungsprozesses hinterfragt werden, welche soziale und okologische Missstande bei Lieferanten hervomifen bzw. begiinstigen.

2.3

Zwischenfazit

Anhand der vorherigen Ausfuhrungen kann insgesamt festgehalten werden, dass in der Literatur und der Forschung die in den letzten Jahren gestiegenen Anforderungen an Untemehmen bezogen auf Umweltschutz und soziale Verantwortung im Rahmen von Nachhaltigkeit in der Beschaffung generell eine breitere Aufmerksamkeit erfahren haben. Leider werden bis heute allerdings in der Praxis kaum okologische und soziale Fragen und daraus resultierende Einflussmoglichkeiten der Nachhaltigen Entwicklung bei Entscheidungen uber die Gestaltung des operativen sowie strategischen Beschaffungsmanagements, besonders bei der Lieferantenauswahl, umgesetzt (siehe zur Ist-Situation der Volkswagen AG Kapitel 4.2.3)/^^ Verantwortlich dafur sind zum einen die noch haufig vorzufmdende nachgeordnete Stellung des Beschaffungsbereichs als Erftillungsgehilfe, zum anderen die geringen Einflussmoglichkeiten der Organisationseinheit durch nicht vorhandene Vertreter in der Untemehmensspitze und drittens unzureichende Kenntnisse und mangelnde Zeitressourcen von Mitarbeitem der Beschaffungsabteilung. Jedoch werden laut Bogaschewsky die potenziellen Einflussmoglichkeiten dieses Bereichs in Bezug auf okologische und soziale Aspekte ftir eine Nachhaltige Entwicklung durch die Vielzahl und Intensitat der Einbeziehung des Beschaffungsmanagements bei wesentlichen strategischen und operativen Untemehmenstatigkeiten mehr als unterschatzt/" Es wird ebenfalls deutlich, dass in der Literatur bisher kaum Informationen zum Umgang mit umweltbezogenen und sozialen Herausforderungen und der Integration von entsprechenden Standards speziell in den Lieferantenbeziehungen zu fmden sind (siehe Kapitel 4.1.3.4). Es fehlt derzeit eine grundlegende konzeptionelle Aufarbeitung bedingter struktur- und prozessbezogener Veranderungen, die Voraussetzung fur die Umsetzung von Umwelt- und Sozialstandards in Lieferantenketten sind. Weder Umwelt- noch Sozialstandards bzw. ihre gemeinsame Betrachtung wurden mit Blick auf das Beschaffungsmanagement bislang einer differenzierten Untersuchung unterzogen.^^^ Somit ist, aufgrund der ungeklarten Auswirkungen von beispielsweise Umweltmanagementsystemen auf die Leistungssteigerungen eines Untemeh-

Vgl. Sarkis 1999, S. 4; Simpson/Power 2005, S. 62. Vgl. Bogaschewsky 2004, S. 174 ff Zum gleichen Ergebnis kommen auch bereits Green et al. 1996, S. 191; sowie Seuring/Muller 2004, S. 152. Erste vereinzelte Ansatze zu diesem Thema, jedoch mit unterschiedlichen Schwerpunkten, stellen ihrer Meinung nach Noci 1997, Murphy/Bendell 1998 sowie Carter/Dresner 2001 dar; Seuring/Muller 2004, S. 145.

96

2.4 Herausforderungen flir ein Konzept zur Umsetzung von Nachhaltigkeit in Lieferantenbeziehungen

mens in Supply Chains sowie deren Bewertung^", eine klare Forschungsliicke'*^* erkennbar, zu deren SchlieBung diese Arbeit einen Beitrag leisten soil. Daraus ergibt sich der Bedarf einer Untersuchung, welche Nachhaltigkeitsforderungen, die an Untemehmen gerichtet werden, auch auf den Bereich der Beschaffiing angewendet und umgesetzt werden miissten. Dabei sind folgende Forschungsfelder einzubeziehen:^^' 1. Bestimmung normativer Anforderungen einer Nachhaltigen Entwicklung ftir das Beschaffungsmanagement, 2. Anpassung der vorhandenen Beschafflingsstrukturen ftir die Umsetzung der normativen Anforderungen, 3. Entwicklung adaquater unabhangiger Mess-, Bewertungs- und Kontrollsysteme, einschlieBlich geeigneter Anreiz- und Belohnungs- als auch Qualifikationssysteme fiir Lieferanten, 4. Schaffung umfassender Informations- und Kommunikationssysteme auf untemehmensintemer und zwischenbetrieblicher Ebene. Die Arbeit widmet sich damit einem neuen Gestaltungsfeld des Supply (Chain) Managements, bei dem es vor allem um die Entwicklung eines Konzeptes zur Integration von Umwelt- und Sozialstandards in das Beschaffungsmanagement eines Untemehmens gehen soil, zu der bisher noch keine umfassenden Ansatze in der Literatur gefunden werden konnten.^ Im folgenden Kapitel 2.4 werden nun, basierend auf den dargestellten theoretischen Grundlagen, Kriterien ftir die Einordnung und Bewertung des im Forschungsprojekt entwickelten Integrationskonzeptes von Nachhaltigkeit im Beschaffungsmanagement erarbeitet. 2.4

Herausforderungen fur ein Konzept zur Umsetzung von Nachhaltigkeit in Lieferantenbeziehungen

Dieses Kapitel der Arbeit dient dazu, basierend auf den theoretischen Grundlagen in Kapitel zwei einen Anforderungskatalog auf Basis eines Kriterienrasters ftir ein Integrationskonzept von Nachhaltigkeit in die Lieferantenbeziehungen eines Untemehmens zu entwickeln. Anhand der Kriterien soil das im Rahmen des Forschungsprojektes entwickelte VW-Konzept abschliefiend in Kapitel 5.4 bewertet werden.

Vgl. Green et al. 1996, S. 192; Handfield et al. 2005, S. 18. Lamming und Hampson konstatieren ebenfalls einen Mangel an praktischen Losungen ftir umweltbezogene Herausforderungen; vgl. Lamming/Hampson 1996, S. 45. Vgl. Prakash Sethi 2002; in Ansatzen mit Bezug auf Umweltmanagement siehe auch Noci 1997; Lamming/Hampson 1996, siehe zum Thema weiterer Forschungsbedarf auch Bogaschewsky 2004, S. 211 ff.; Simpson/Power 2005, S. 60. Zur gleichen Feststellung kommt auch Simpson 2005, S. 314.

2 Konzeptionelle Grundlagen

97

2.4.1 Entwicklung eines Kriterienrasters Die Ubertragung und Integration der okologischen, okonomischen und sozialen Rahmenbedingungen und konkreten Vorgaben einer Nachhaltigen Entwicklung in die Lieferantenketten und damit zusammenhangend auf die Strukturen und Prozesse des Beschaffungsmanagements bedeutet fur Untemehmen eine groBe Herausforderung und Transferleistung.^' Um dem Anspruch von Nachhaltigkeit im Sinne einer kreislaufwirtschafllichen Prozessorientierung gerecht zu werden, mussen alle Geschaftspartner auBerhalb der eigenen Organisation, das heifit iiber die Grenzen eines Untemehmens hinweg, einbezogen werden. Dazu zahlen vor allem auch Lieferanten und ihre umweltbezogenen und sozialen Auswirkungen.'*^^ Fiir die Identifizierung von Bewertungskriterien wird im Folgenden eine Unterscheidung in funktionale, prozessbezogene und inhaltliche Anforderungen an ein solches Konzept vorgenommen. 2.4.1.1 Funktionale Anforderungen Fiir die funktionalen Anforderungen stellt sich grundsatzlich die Frage nach den Motiven eines Untemehmens, wenn es sich zu der Verantwortung fiir umweltbezogene und soziale Auswirkungen seiner eigenen Geschaflstatigkeit und dem damit verbundenen Verhalten seiner Lieferanten bekennt. Nach Graafland gibt es fur Untemehmen vier verschiedene Grtinde, umweltbezogene und soziale Verantwortung in Lieferantenbeziehungen wahrzunehmen.'*^^ Die einzelnen Griinde und die sich daraus ergebenden Funktionen ftir ein Untemehmen sind in Tabelle 12 dargestellt. Funktion

Grund

Intrinsische Werteflinktion

Das Untemehmen misst der Beschaffling von Giitem in einer ethischen Art und Weise einen gezielten hohen Wert zu.

Dialogflinktion

Das Untemehmen wird befahigt, auf diesbeziigliche Fragen von Konsumenten und anderen Stakeholdem antworten zu konnen.

Managementfunktion

Ein Untemehmen sollte wissen, unter welchen Bedingungen seine Handelswaren produziert werden, um diese gegebenenfalls verbessem zu konnen.

Reputationsfunktion

Es ist wichtig fiir die WirtschaftHchkeit eines Untemehmens, eine gute Reputation aufrechterhalten zu konnen.

Tabelle 12: Griinde fur die Ubemahme von Verantwortung in Lieferantenbeziehungen***

Fiir den Erfolg eines Konzeptes zur Integration von Nachhaltigkeit in Lieferantenbeziehungen ist es deshalb wichtig vorab zu klaren, welche der aufgezeigten Funktionen mit dem Konzept verfolgt und umgesetzt werden soUen. Aus diesem Sachverhalt ergibt sich ein erstes Kriterium fur die Bewertung solch eines Konzeptes: die Bestimmung der Funktion. Natiirlich konnen hierbei auch mehrere Funktionen gleichzeitig angesprochen werden. Entscheidend ist in

^' ^' ^' ^

Vgl. Kreikebaum 2002, S. 188. Vgl. Kreikebaum 2002, S. 193. Vgl. Graafland 2002, S. 284. Angelehnt an Graafland 2002, S. 284.

98

2.4 Herausforderungen fur ein Konzept zur Umsetzung von Nachhaltigkeit in Lieferantenbeziehungen

dem Zusammenhang nur, dass diese am Anfang ausfiihrlich diskutiert und festgelegt werden, um Ziele definieren zu konnen, die mit dem Konzept verwirklicht werden sollen. Nr.

Bewertungskriterium

Inhalte

Funktionale Kriterien 1.

Funktion

NormenAVerte Dialog Management Reputation

Tabelle 13: Funktionale Kriterien fur die Konzeptbewertung

2.4.1.2 Prozessbezogene Anforderungen Die Ausfuhrungen zum Thema Nachhaltigkeit in Kapitel 2.1 haben gezeigt, dass keine eindeutigen Losungspfade zur Umsetzung von Nachhaltigkeit existieren, sondem Untemehmen, Oder auch anderen gesellschafllichen Akteuren, jeweils eine Vielzahl unterschiedlicher Handlungsmoglichkeiten zur Wahmehmung okologischer, okonomischer und sozialer Verantwortung offen stehen. Dabei ist es wichtig, flexible Losungsstrategien zu erarbeiten, welche sich neuen Anforderungen anpassen und fehlerfreundlich konstruiert sind, da zukiinftige Entwicklungen, die im Fokus von Nachhaltigkeit stehen bzw. stehen konnten, nicht vorhersehbar sind und somit einer hohen Unsicherheit bezuglich ihrer Wirkung unterliegen.'*^* Hinzu kommt die im Kontext einer Politik der Nachhaltigkeit geforderte Einbeziehung aller betroffenen Akteursgruppen (siehe Kapitel 2.1.6) in solch ein Projekt, da eine umfassende Strategie als Orientierungsmuster zur Umsetzung von Nachhaltigkeit entsprechend dem Konzept der regulativen Idee (siehe Kapitel 2.2.2.1) nur auf Basis gesellschaftlicher Aushandlungs- und Lemprozessen geflinden werden kann. Einbezogene Akteure dienen in dem Zusammenhang als Wissensbasen („knowlegde holders"), um die praktische Umsetzbarkeit eines Konzeptes gewahrleisten zu konnen. Gleichzeitig soil durch die Beteiligung eine Involvierung geschaffen werden, damit die intendierten Veranderungen anschlieBend auch umgesetzt werden.'*^ Zudem werden Stakeholder in der Literatur oft als kritischer Faktor fur die Umsetzung von Umweltanforderungen angesehen. Untemehmen sollten deshalb pro-aktiv relevante Stakeholder in den Prozess der Verbesserung von Umwelt- bzw. Sozialleistungen einbeziehen.'*^^ Folglich konnen also zwei wesentliche Elemente aus dem Konzept der regulativen Idee abgeleitet werden, die sich wiederum aus folgenden Kriterien zusammensetzen:'^*

Vgl. Muller/Beschomer 2005, S. 48. Vgl.Haueisen 2000,8.261. Vgl. Simpson 2005,8.317. Vgl. Muller/Beschomer 2005, 8. 53 f.

2 Konzeptionelle Grundlagen

1. Reflexion:

• •

2. Stakeholder:



99

selbstvorgenommene Problemidentifikation im Kontext einer nachhaltigen Entwicklung, Reflexion iiber die UmsetzungsmaBnahmen zur Losung der identifizierten Probleme, Einbeziehung der Stakeholder in den Entwicklungsprozess,



Stakeholder-Dialog iiber den Reflexionsprozess von der Problemidentifikation bis zu den UmsetzungsmaBnahmen,



Berichterstattung iiber den gesamten Prozess.



Glaubwiirdigkeit der Informationen ftir die Stakeholder

Diese von Miiller und Beschomer identifizierten Kriterien sollen inhaltlich eins zu eins fur das Kriterienraster iibemommen werden. Bei der Entwicklung des Konzeptes ist somit darauf zu achten, dass in einem ersten Schritt eine Untersuchung der Probleme und entsprechend die Ableitung von Zielen ftir eine Problemlosung aus dem Untemehmen selbst heraus vorgenommen werden muss. Das bedeutet, dass die Mitarbeiter das Bewusstsein fur ein Problem und seine Losung durch die Reflexion der vorhandenen Situation eigenstandig erarbeiten. Dabei ergibt sich als positiver Nebeneffekt eine bessere Akzeptanz von resultierenden Veranderungen bei den Betroffenen. Um die identifizierten Ziele letztendlich zu erreichen, miissen im Konzept auBerdem konkrete UmsetzungsmaBnahmen diskutiert und festgelegt werden. Ein zweites wichtiges Kriterium stellt nach Miiller im Zusammenhang mit Nachhaltigkeit die Stakeholderbeteiligung dar.'*^' Hier geht es im Rahmen der Konzeptentwicklung um die Moglichkeiten ftir Stakeholder, auf die Inhalte der Anforderungen und die damit verbundenen Struktur- und Prozessveranderungen Einfluss nehmen zu konnen. Das bedeutet, dass diese in den Entwicklungsprozess ftir das Konzept mit einbezogen werden sollten. Fiir die Integration von Nachhaltigkeit in Lieferantenbeziehungen spielen hauptsachlich die Lieferanten als wichtige Akteursgruppe eine Rolle, die die bei der Umsetzung des Konzeptes entstehenden strukturellen und prozessualen Veranderungen und neuen Anforderungen mittragen miissen. Deshalb sollte ein Stakeholder-Dialog, in diesem Fall mit mehreren Lieferanten, iiber den gesamten Reflexionsprozess der Konzeptentwicklung stattfinden. Damit der Gesamtprozess im Nachhinein auch fur weitere Stakeholdergruppen nachvollziehbar ist, kann auf eine umfassende und vollstandige Berichterstattung, beispielsweise in Form eines Abschlussberichtes, nicht verzichtet werden. Tabelle 14 fasst beide Kriterien noch einmal zusammen:

Vgl. Miiller/Beschomer 2005, S. 52 ff.

100

2.4 Herausforderungen fur ein Konzept zur Umsetzung von Nachhaltigkeit in Lieferantenbeziehungen

Nr.

Bewertungskriterien

Inhalte

Prozessbezogene Kriterien 2.

Reflexion

SelbstvorgenommeneProblemidentifikation

3.

Stakeholder

Einbeziehung in Entwicklungsprozess

UmsetzungsmaBnahmen Dialog iiber gesamten Prozess Berichterstattung Tabelle 14: Prozessbezogene Kriterien fiir die Konzeptbewertung

2.4.1.3 Inhaltliche (verfahrenstechnische) Anforderungen Fiir die Bewertung der Inhalte des Integrationskonzeptes soil von einer verfahrenstechnischen Perspektive ausgegangen und sich auf so genannte Gutekriterien gestiitzt werden. Dieses Vorgehen bezieht sich auf eine Methodik von Graafland, welcher diese Form der inhaltlichen Bewertung der Umsetzung umweltbezogener und sozialer Verantwortung in Lieferantenketten bereits auf den Fall C&A im textilen Sektor angewendet hat.'*^^ Dabei werden von Kaptein sieben Gutekriterien iibemommen, welche sich fordemd auf das soziale Verhalten auf Basis gesellschaftlicher Werte und Normen auswirken konnen: Klarheit, Konsistenz, Erreichbarkeit, Unterstiitzung, Transparenz, Stakeholderbeteiligung und Sanktionen.*^* Fiir die Bewertung werden diese auf das Verhaltnis zwischen dem fokalen Untemehmen und seinen Lieferanten in Bezug auf die Projektergebnisse iibertragen. Graafland erganzt jene um fiinf Qualitatsprinzipien fur soziales und ethisches Accounting, Auditing und Reporting, die von Zadek et al. entwickeh wurden. Dazu zahlen: Vergleichbarkeit, Entwicklung, Untemehmensleitlinien und Managementsystem, Offenlegung, exteme Priifung und kontinuierliche Verbesserung.'*" Die einzelnen Gutekriterien und Qualitatsprinzipien sollen nun im Folgenden unter Berucksichtigung des Kontextes der Arbeit naher erlautert werden: 1. Das Prinzip der Klarheit bzw. Ubersichtlichkeit wird daran gemessen, wie prazise und eindeutig die Erwartungen des jeweiligen Untemehmens in Bezug auf die Ziele und Anforderungen von Nachhaltigkeit in Lieferantenketten sowohl intern fur die eigenen Mitarbeiter, aber auch extern fur Lieferanten und andere Geschaftspartner formuliert sind. Die einzelnen Standards sollten deshalb in einem offiziellen Dokument genauestens beschrieben sein. 2. Gleichzeitig miissen die Anforderungen bzw. Standards Konsistenz besitzen. Das heiBt, sie miissen von dem Untemehmen koharent auf alle Lieferanten angewendet werden, es sei denn, innerhalb der Anforderungen wurden bereits unterschiedliche

^^^ Siehe ausftihrlich Graafland 2002. ''' Vgl. Kaptein 1998, S. 117. ' " Vgl. Zadek etal. 1997.

2 Konzeptionelle Grundlagen

3.

4.

5.

6.

7.

8.

101

Regelungen fur bestimmte Gruppen von Lieferanten getroffen. Doch auch in diesem Fall kann das Prinzip der Konsistenz fur die Anwendung der Standards auf alle Lieferanten in einer Gruppe aufrechterhalten werden. Das Kriterium der Erreichbarkeit untersucht, ob die einzelnen Anforderungen des Untemehmens fur einen Lieferanten iiberhaupt realisierbar sind. Diese Realisierbarkeit ist davon abhangig, wie gut die Standards wahrend ihrer Erarbeitung auf die existierenden Strukturen und Ablaufe in der Praxis abgestimmt und wie intensiv die betroffenen Lieferanten als Stakeholder in den Entstehungsprozess eingebunden wurden, um realitatsnahe Bedingungen zu schaffen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Form der Unterstutzung, die Lieferanten bei der spateren Umsetzung und Einhaltung der Standards in ihren eigenen Firmen und vorgelagerten Ketten vom endabnehmenden Untemehmen gegeben wird. Dabei sind verschiedene Intensitatsstufen von der reinen Informationsweitergabe bis zur personellen Beratung denkbar, welche im gegebenen Fall jedoch auch fur alle Lieferanten erschwinglich sein miissen. Transparenz beinhaltet die Frage, wie deutlich das Untemehmen seine eigenen umweltbezogenen und sozialen Ergebnisse als auch die genauen Inhalte der Bedingungen, die beztiglich dieser Leistungen an Lieferanten gestellt werden, kommuniziert. Diese Kommunikation umfasst nicht nur den Austausch zwischen dem Untemehmen und seinen Lieferanten, sondem auch die Weitergabe solcher Informationen an andere Stakeholder bzw. die gesamte Offentlichkeit. Sanktionen stellen allgemein eine wirksame Methode zur Durchsetzung von Bedingungen jeder Art bezogen auf einen definierten Adressatenkreis dar. Deshalb kann als ein weiteres GUtekriterium fur ein Konzept zur Integration von Umwelt- und Sozialstandards in Lieferantenbeziehungen der Katalog an festgelegten MaBnahmen zur Ahndung von VerstoBen herangezogen werden, die entsprechend greifen sollen, wenn ein Lieferant gegen einen oder mehrere Standards verstoBt. Die Vergleichbarkeit als GUtekriterium fiir eine Konzeptentwicklung bezieht sich im Wesentlichen auf die Vergleichbarkeit der Ergebnisse der Audits mit anderen Ergebnissen aus vorherigen Jahren. Voraussetzung dafur ist, dass bereits Daten etwa identischer Audits aus anderen Prozessen vorliegen. Mit diesem Gmndsatz wird die Anschlussfahigkeit eines Konzeptes an bis dahin bereits in Ansatzen praktizierte Einzelfalle Oder Teilprozesse angestrebt. Damit in Zusammenhang steht auch das Prinzip der Entwicklung. Ein Konzept sollte maBgebliche Prozesse enthalten, die sicherstellen, dass auch die Weiterentwicklung der Lieferanten bezogen auf ihre Umsetzung und Einhaltung der Standards regelmaBig, z. B. in Form von Audits oder Entwicklungs- bzw. Verbessemngsplanen mit Nachweispflichten, uberprufl und nachvoUzogen werden kann.

102

2.4 Herausforderungen ftir ein Konzept zur Umsetzung von Nachhaltigkeit in Lieferantenbeziehungen

9. Ein besonders wichtiges Gutekriterium betrifft den Bereich der Untemehmensleitlinien bzw. Managementsysteme. Voraussetzung ftir die erfolgreiche Umsetzung des Konzeptes in Bezug auf die Lieferanten ist die Integration der Standards zum einen auf Inhalts- und zum anderen auf Prozessebene in die Organisation des eigenen Unternehmens. Um dies zu erreichen, miissen intern die Inhalte der Anforderungen schriftlich fixiert und der Gesamtprozess zur Umsetzung eindeutig beschrieben und mit einem Ablau§)lan hinterlegt sein. Weiterhin bedarf es der Anderung bzw. Anpassung bereits vorhandener und von dem neuen Prozess betroffener Handbiicher oder Organisationsrichtlinien durch die Einbeziehung der jeweiligen Regelungen. 10. Vorteilhaft, aber kein Ausschlusskriterium, ist die exteme Priifling der Standards durch Dritte. Nur durch Besuche der Lieferanten vor Ort kann die Umsetzung und Einhaltung von Umweh- und Sozialstandards kontrolliert werden, da diese aufgrund ihrer Art als Prozessstandards nicht an dem Produkt selbst nachvoUziehbar sind. Hierbei stellt sich somit die Frage, ob ftir das Monitoring der Lieferanten unabhangige exteme Prufiingsinstanzen eingeplant wurden oder ob entsprechende Audits durch ein internes Priifungsteam, angelehnt an das Qualitatsaudit, durchgeftihrt werden sollen. 11. Ein letztes Qualitatsprinzip ist die kontinuierliche Verbesserung. Von Interesse sind hier besonders Anhaltspunkte im Konzept, die bereits zu diesem Zeitpunkt auf eine bewusst angestrebte und geplante Entwicklung des gesamten Systems mit Bezug auf die Nachhaltige Entwicklung des Untemehmens hinweisen. Auf inhaltlicher (verfahrenstechnischer) Ebene konnte das Prinzip der Stakeholderbeteiligung, welches in engem Zusammenhang mit der Erreichbarkeit steht, als Qualitatsprinzip ausgeklammert werden, da dieses Kriterium bereits bei den prozessbezogenen Anforderungen (siehe Kapitel 2.4.1.2) in das Raster aufgenommen wurde. Alle anderen aus den verfahrenstechnischen Qualitatsprinzipien abgeleiteten Kriterien sind in Tabelle 15 noch einmal dargestellt.

2 Konzeptionelle Grundlagen

Nr.

Bewertungskriterien

103

Inhalte

Inhaltliche Kriterien 4.

Klarheit

Erwartungen des Untemehmens

5.

Konsistenz

Koharente Anwendung

6.

Erreichbarkeit

Realisierbarkeit ftir Lieferanten

7.

Unterstiitzung

Hilfestellung ftir Umsetzung

8.

Transparenz

Kommunikation von Ergebnissen Ahndung von VerstoBen

9.

Sanktionen

10.

Vergleichbarkeit

Bezug Audits aus Vorjahren

11.

Entwicklung

RegelmaBigkeit der Audits

12.

Untemehmensleitlinien

Integration in Organisation

13.

Exteme Priifung

Unabhangige Prufungsinstanzen

14.

Verbesserung

Entwicklung des Systems

Tabelle 15: Verfahrenstechnische Kriterien fur die Konzeptbewertung

2.4.1.4 Zusammenfassung zu einem Kriterienraster Ftir die Bewertung des im Projekt erarbeiteten Konzeptes (siehe Kapitel 4.7) wurden die funktionalen, die prozessbezogenen und die inhaltlichen Kriterien in einem Gesamtraster zusammengefasst. Jedes Kriterium wird anhand seines Erfiillungsgrades gemessen. Bei dem Erfullungsgrad wird zwischen den Kategorien „kein", „gering", „mitter' und „hoch" unterschieden. Damit wird es moglich, die unterschiedlichen Umfange bei der Beriicksichtigung der einzelnen Kriterien im Konzept herausarbeiten zu konnen, um ein differenzierteres Bild als nur die Aussage „erfullt" oder „nicht erftillt" im Rahmen der Bewertung zu erhalten. Dieses kann anschliefiend besser interpretiert werden. Eine dariiber hinaus gehende Skaleneinteilung tragt nach Meinung der Autorin nicht zu praziseren Bewertungsergebnissen bei und wiirde das Kriterienraster insgesamt verkomplizieren. Tabelle 16 zeigt das entwickelte Kriterienraster, welches ftir die Gesamtbewertung des Konzeptes in Kapitel 4.7 eingesetzt werden soil.

104

Nr.

2.4 Herausforderungen fur ein Konzept zur Umsetzung von Nachhaltigkeit in Lieferantenbeziehungen

Bewertungskriterium

Inhalte

Erfiillungsgrad Hoch 1 Mittel | Gering | Kein

Funktionale Kriterien

1 ^•Funktion

Normen/Werte Dialog Management Reputation

Prozessbezogene Kriterien 2.

Reflexion

Problemidentifikation Umsetzungsmafinahmen

3.

Stakeholder

Einbeziehung Dialog iiber gesamten Prozess Berichterstattung

Inhaltliche Kriterien 4.

Klarheit

| Erwartungen des Untemehmens

5.

Konsistenz

Koharente Anwendung

6.

Erreichbarkeit

Realisierbarkeit ftir Lieferanten

7.

Unterstiitzung

Hilfestellung ftir Umsetzung

8.

Transparenz

Kommunikation der Ergebnisse

9.

Sanktionen

Ahndung von VerstoBen

10.

Vergleichbarkeit

Bezug Audits aus Vorjahren

11.

Entwicklung

Regelmafiigkeit der Audits

12.

Untemehmensleitlinien

Integration in Organisation

13.

Exteme Priifling

Unabhangige Priifungsinstanz

14.

Verbesserung

Entwicklung des Systems

Tabelle 16: Verfahrenstechnische Kriterien ftir die Konzeptbewertung

2.4.2

Fbrdernde und hemmende Faktoren

Fur den spateren Erfolg bei der Umsetzung eines Konzeptes zur Integration von Nachhaltigkeit in die Beschaffung definieren Seuring und Muller zudem fbrdernde und hemmende Faktoren, die bereits im Rahmen der Entwicklung eines solchen Konzeptes beriicksichtigt werden miissen/" Diese sind das Ergebnis einer umfassenden Literaturrecherche in Zeitschriften und Datenbanken sowie deskriptiver und inhaltlicher Auswertung (qualitative Inhaltsanalyse nach

Vgl. Seuring/Miiller 2004, S. 147.

2 Konzeptionelle Grundlagen

105

Mayring 2003) der identifizierten Beitrage bezogen auf die Themenschnittmenge Beschafflings- bzw. Supply Chain Management und Nachhaltigkeit. In dieser Literaturanalyse wurde der Stand der Forschung zu den Themen Beschaffungsmanagement und Nachhaltigkeit aufgearbeitet mit dem Ziel, sowohl diesbeziigliche Forschungsschwerpunkte als auch Forschungslucken zu identifizieren. Herausgefilterte Beitrage zu diesem Thema wurden zuerst deskriptiv auf Basis einer einfachen Klassenbildung nach den Merkmalen: • Welche Forschungsmethodik wird verwendet? • Welche Dimensionen nachhaltiger Entwicklung werden berucksichtigt? • Welcher Fokus wird im Bereich des Beschaffungsmanagement gewahlt? • In welchen Zeitschriften oder Biichem werden entsprechende Beitrage veroffentlicht? • Wie ist die Verteilung der Publikationen im betrachteten Zeitraum? und danach inhaltlich bezogen auf folgende Fragen ausgewertet:^*'* •

Warum wird das Thema Nachhaltigkeit uberhaupt als relevant fur das Beschaffungsmanagement angesehen?



Welche speziellen Probleme ergeben sich, wenn Nachhaltigkeit im Beschaffungsmanagement von Untemehmen und somit in ihren Wertschopfungsketten integriert und umgesetzt wird?

Dabei wird als Orientierungsrahmen fur die qualitative Inhaltsanalyse auf die vier wesentlichen Erkenntnisse von Hauff zuriickgegriffen (siehe Kapitel 2.1.1)/" Inhaltlich wurden als Schlagworte fur die Literaturrecherche erstens im Bereich Beschaffungsmanagement die Begriffe Purchasing, Sourcing, Supply, Stoffstrom, Beschaffung sowie Einkauf und zweitens im Bereich Nachhaltigkeit: Sustainable/Sustainability, Environmental, Green/Greening, Nachhaltigkeit, Umwelt, Soziales/Social als auch Ethik/Ethics defmiert. Ausgeklammert wurden Beitrage zum offentlichen Beschaffungsmanagement, zu ethischen Fragen beim Einkauferverhalten, zu den Themen Reverse-Logistics und Remanufacturing sowie aus Praktikerzeitschriften (also nur wissenschaftliche Artikel) ohne jeglichen konzeptionellen oder empirischen Bezug.'*'^ Neben einer Datenbankrecherche erfolgte ab dem Jahrgang 1990 eine vollstandige Durchsicht defmierter Schltisselzeitschriften, „[...], um zu vermeiden, dass wegen der natiirlich immer mit einer gewissen Subjektivitat verhafteten Schlagwortsuche, [...]"^^^ Artikel iibersehen und nicht erfasst werden.*^*

Vgl. SeuringMuller 2004, S. 120. Vgl. Hauff 1987,8.46. Vgl. Seuring/Mtiller 2004, S. 129 f Vgl. Seuring/Miiller 2004, S. 131. Fiir eine Ubersicht aller untersuchten Zeitschriften und Datenbanken siehe Seuring/Miiller 2004, S. 131 f

2.4 Herausforderungen ftir ein Konzept zur Umsetzung von Nachhaltigkeit in Lieferantenbeziehungen

106

Da fur die vorliegende Arbeit nur die inhaltlichen Ergebnisse der Untersuchung relevant sind, soil auf die deskriptive Auswertung an dieser Stelle nicht weiter Bezug genommen werden/^' Ausgehend davon, dass Nachhaltigkeit eigentlich nicht einer bestimmten Funktion im Unternehmen zugeordnet werden kann und das Beschaffungsmanagement eine der klassischen Untemehmensfunktionen darstellt, resultiert ftir Untemehmen das Ziel, das Leitbild Nachhaltigkeit auch in den Lieferantenketten zu beriicksichtigen. Bei der Umsetzung von Nachhaltigkeit in der Beschaffung ergeben sich die Themenfelder Produkt- und Prozessleistung, Kooperationen, Performance der Kette und Einflussfaktoren, welche nach Meinung von Seuring und Mtiller in diesem Zusammen betrachtet werden mtissen (siehe Abbildung 12)/^

1

CA

'i

1

Nachhaltigkeit

Ziele

^

Beschaffung

Produkt- und Prozessleistung

Performance der Kette

Kooperationen

Einflussfaktoren

Probleme aus SCM, die am Thema r'Jachhaltigkeit deutlich werden bzw nsbesondere gelost werden miissen

Besondere Themen, die durch die Integration von Nachhaltigkeit entstehen

Abbildung 12: Wesentliche Argumentationslinien der inhaltlichen Auswertung^'

Fur die Entwicklung eines Konzeptes zur Integration von Umwelt- und Sozialstandards in Lieferantenketten spielen vor allem die Einflussfaktoren eine Rolle. Hierbei unterscheiden Seuring und Muller zwischen einer hemmenden und einer fordemden Wirkung.*^^ Die zusammengetragenen Faktoren beziehen sich auf Argumente, die immer wieder in der Literatur fur den Erfolg betrieblicher MaBnahmen des Umweltmanagements oder damit verbundener Managementsysteme genannt werden/" Zu den fordemden und hemmenden Faktoren gehoren:

"^^ ^ '^' ''2 '^^

Eine ausfuhrliche Beschreibung der deskriptiven Ergebnisse fmdet sich in Seuring/Milller 2004, S. 132 ff. Vgl. Seuring/Muller 2004, S. 142 ff. Vgl. Seuring/Muller 2004, S. 141. Vgl. Seuring/Muller 2004, S. 146. Siehe beispielsweise Newton/Harte 1997.

2 Konzeptionelle Grundlagen

Fdrdernde Faktoren

107

Hemmende Faktoren

• Integration in die Untemehmenspolitik

• Hohere Kosten

• Untemehmensiibergreifende Kommunikation

• Koordinationsaufwand

• Klare Zielvorgaben fiir die Einkaufer

• Mangelnde Kommunikation in der Kette

• Monitoring, Evaluation; Reporting • Drohende Sanktionen • Managementsysteme (z. B. ISO 14001) • Training und Schulungen von Beschafflingsmitarbeitem sowie Lieferanten Tabelle 17: Fordemde/hemmende Faktoren fur Nachhaltigkeit im Beschaffungsmanagement'*^

Hierbei stehen einige Faktoren in direktem Zusammenhang, wie z. B. die untemehmensubergreifende Kommunikation als positives Element mit dem sich eher negativ auswirkenden Koordinationsaufwand. Diese Zusammenhange miissen dementsprechend bei ihrer Analyse berucksichtigt und untersucht werden. Zusatzlich ist es wichtig darauf zu achten, dass Projekte zur Integration von Nachhaltigkeit in die Lieferantenbeziehungen eng an die eigentliche Untemehmenstatigkeit gekoppelt sind und die Leistungsfahigkeit des Untemehmens und seiner Wertschopflingsketten groB genug ist, sich im Wettbewerbsumfeld damit behaupten zu konnen.**^ Im nachsten Kapitel 3 wird nun die in der Arbeit eingesetzte Forschungsmethodik der Aktionsforschung sehr umfassend theoretisch aufgearbeitet und in den Kontext allgemeiner forschungsmethodischer Grundlagen eingeordnet. AnschlieBend folgt eine ausfuhrliche Beschreibung der Umsetzung dieser Forschungsmethodik im Projekt.

Seuring/Miiller 2004, S. 147; auch Seuring 2004, S. 22. Vgl. Hummel 2000; Meyer 2001 (zitiert nach Seuring/Miiller 2004, S. 148).

3 Forschungsmethodik und deren Umsetzung in der Arbeit Das Thema Nachhaltigkeit und die Beriicksichtigung von Umwelt- und Sozialstandards im Bereich der Beschaffung eines Untemehmens als Instrument zur Vermeidung okonomischer, okologischer und sozialer Risiken in Wertschopfungsketten werden in der Literatur bisher kaum aufgearbeitet. Umfassende Systematisierungskonzepte und Instrumente zur Ausgestaltung und Umsetzung okologischer und sozialer Anforderungen in Supply Chains sind nach Seuring und Miiller nur vereinzelt zu finden.^ Aufgrund der in Kapitel eins aufgezeigten Forschungslucke, der Neuartigkeit und Zukunftsorientierung der analysierten Fragestellung war es notwendig, dem Untersuchungsgegenstand im Rahmen der angewandten Forschungsmethodik mit Prinzipien wie Offenheit und Flexibilitat zu begegnen. Dafur werden im Folgenden forschungsmethodische Grundlagen gelegt und die Herangehensweise fur das Forschungsprojekt erlautert.

3.1

Empirische Sozialforschung

Empirische Sozialforschung begegnet uns standig im alltaglichen Leben, z. B. in der Presse, in Rundfunk und Femsehen. Dabei stellen alle Sozialwissenschaften empirische Disziplinen dar, mit relativ identischen Forschungslogiken und Forschungsinstrumenten.'*^' Sie geht von verschiedenen Grundannahmen iiber die Zuganglichkeit der beobachteten Realitat bzw. Wirklichkeit und deren Bedeutung fur wissenschaftliche Erkenntnisse aus und stiitzt sich ftir die Untersuchung auf systematische Erhebungs- und Auswertungsverfahren, also Vorgehensweisen zur Bewertung der jeweils ermittelten Aussagen. 5.7.7 Einordnung Urspriinglich wurde der Begriff „Wissenschafl" lediglich mit dem Bereich der Naturwissenschaften gleichgesetzt. Erst mit dem franzosischen Philosophen Auguste Comte (1798-1857) kamen das Wort Soziologie und somit die Bezeichnung „Sozialwissenschaft" sowie ihre Definition auf. Grund dafur war ein Riickgang der Bedeutung von Religion und Tradition als verbindliche Vorgaben flir menschliches Handeln. Wissenschafl sollte nun dazu dienen, diese Aufgabe weiterhin zu iibemehmen. Es entstand ein neuer zusatzlicher Zustandigkeitsbereich der Wissenschafl (die Sozialwissenschaften), die auf der Grundlage empirischer Daten unbestreitbare, handlungsleitende Erkenntnisse hervorbringen sollte, was sich jedoch im Nachhinein als nicht haltbar herausstellen sollte.^*

Vgl. Seuring/Miiller 2004. Vgl. Kromrey 2002, S. 9. Vgl. Kromrey 2002, S. 13 f.

110

3.1 Empirische Sozialforschung

Allgemein unterscheidet man zwischen zwei entgegensetzten Richtungen der Wissensgewinnung, der Deduktion und der Induktion. Deduktion beinhaltet den Riickschluss vom Allgemeinen auf das Besondere. Das heifit, alle Aussagen einer Wissenschaft, die unzutreffend sind, miissen durch die Erfahrung zum Scheitem gebracht werden konnen, dementsprechend an der Erfahrung iiberpnifbar sein.^' Dafiir werden aus der Theorie Hypothesen deduziert und versucht, diese zu falsifizieren. Angelehnt ist diese Position an die analytisch-nomologische bzw. deduktiv-nomologische Wissenschaftsvorstellung. Sie geht davon aus, dass der Gegenstand von Wissenschaft eine geordnete, strukturvolle, regelhafte wirkliche Welt (der Tatsachen) mit strukturierten Beziehungen zwischen einzelnen Gegenstanden, einem Ablauf von Ereignisfolgen nach gleich bleibenden Regeln (Gesetzen) und Ursachen fiir jedes Ereignis (Kausalitatsprinzip) ist. Aufgabe der Wissenschaft ist es nun, diese Strukturen und GesetzmaBigkeitenftirunterschiedliche Untersuchungsgegenstande zu entdecken.'*'" Ein solcher Deduktionsschluss erzeugt allerdings kein neues, sondem lediglich redundantes Wissen, dient also der Wahrheitsbewahrung. Lange Zeit gait jedoch als wissenschaftstheoretische Basis empirischer Forschung die Induktion, die umgekehrt vom Besonderen zum Allgemeinen, also von einzelnen Beobachtungen zu verallgemeinerten Aussagen iiber ahnliche Situationen fiihrt. Induktionsschltisse sind jedoch immer mit Risiko behaftet, weil sie sich der Welt des direkt Beobachtbaren und logisch Eindeutigen entziehen (Induktionsproblem). Dies fiihrte dann auch letztendlich zur Abkehr vom induktiven zu einem deduktiven Wissenschaftsprogramm."*^' Im Gegensatz dazu steht eine qualitativ orientierte bzw. interpretative Sozialwissenschaft. Hier schaffen die Gegenstande (Menschen) durch ihr eigenes Handeln sich standig verandemde gesellschaftliche Strukturen, in denen sie miteinander leben. Die einzelnen Beziehungen werden in den verschiedenen Situationen immer wieder neu definiert bzw. neu entwickelt. Dadurch erhalten die Dinge ihre Bedeutung und leiten sich Ziele sowie Erwartungen ab. Es geht also nicht mehr darum „Wahrheiten" zu postulieren, sondem die Welt in ihrem Sein zu beschreiben und zu erklaren und somit einen kritischen Blick auf die Realitat zu werfen.'*^^ Im Rahmen empirischer Forschung stehen sich also zwei unterschiedliche Konzepte, die analytisch-nomologische (quantitative) Wissenschaft und die interpretative (qualitative) Sozialwissenschaft, gegeniiber. Diese Arbeit geht vom Ansatz der interpretativen Sozialwissenschaft aus und setzt diesen als Grundlagefiirdas weitere methodische Vorgehen, verortet sich dementsprechend im Bereich qualitativer Sozialforschung.

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Popper 1971, S. 15. Kromrey 2002, S. 25 f Bortz/Doring 2002, S. 299. Kromrey 2002, S. 27.

3 Forschungsmethodik und deren Umsetzung in der Arbeit

111

3.1.2 Anforderungen - allgemeine Gutekriterien Ein wesentliches Merkmal empirischer Forschung ist die LFberprufung bzw. Einschatzung der ermittelten Forschungsergebnisse der einzelnen Untersuchungen mit Hilfe von QualitatsmaBstaben, so genannter Gtitekriterien/^^ Fiir diese Qualitatsbeurteilung empirischer Forschung kann grundsatzHch zwischen drei zentralen Gutekriterien unterschieden werden, welche wichtige Anforderungen fur eine wissenschaftliche Datenerhebung darstellen:^^* 1. Objektivitat: In der quantitativen Forschung liegt Objektivitat vor, wenn die gewonnenen Ergebnisse unabhangig vom Anwender sind. Es ist es also wichtig genau festzulegen, wie eine Untersuchung durchzufuhren, auszuwerten und das Ergebnis zu interpretieren ist/^* 2. ReliabilitMt: Die Reliabilitat bezeichnet die Prazision eines Forschungsinstrumentes, also die Genauigkeit mit der das gepriifte Merkmal gemessen wird/'^ Eine perfekte Reliabilitat (das heiBt keine Fehler) kann in der Realitat allerdings nicht erreicht werden. Es treten immer gewisse Fehlereinfliisse, wie z. B. Missverstandnisse oder situative Storungen auf. Davon ausgehend beeinflusst vor allem auch die Objektivitat die Reliabilitat, da Diskrepanzen zwischen Anwendem Fehlervarianzen erzeugen konnen/'^ 3. Validitat: Validitat beschreibt, inwieweit und wie gut mit einer Untersuchung genau die Sache gemessen wird, die eigentlich gemessen werden soll/^* Das heifit, ob durch das Vorgehen genau die Tatsachen erfasst werden, die die Strukturen der erforschten Bereiche erkennen lassen. Hierbei kann zwischen intemen und extemen Daten unterschieden und diese dann miteinander verglichen werden/'' Insgesamt miissen diese Kriterien jedoch auch mit einem gewissen Vorbehalt betrachtet werden. Oftmals unterliegen sie einer harten Kritik beziiglich ihrer Tragfahigkeit, die jeweils kurz angerissen werden soil. Gleichzeitig existieren Unterschiede in der Bedeutung und dem Inhalt der Gutekriterien bei der quantitativen im Vergleich zur qualitativen Forschung. Gerade in Bezug auf die kritischen Diskussionen setzt sich mehr und mehr die Erkenntnis durch, dass quantitative MaBstabe der Datenerhebung nicht vorbehaltlos iibemommen, sondem eigene Gutekriterien qualitativer Forschung neu defmiert werden miissen, um damit einen bessere Verbindung der MaBstabe zu Vorgehen und Ziel des Forschungsprogramms zu gewahrleisten.'**'' An dieser Stelle sollen jedoch nur Gutekriterien fur den quantitativen Forschungsbe-

In der Literatur findet man auch die Bezeichnungen Qualitatskriterien oder Bewertungskriterien. Im Rahmen dieser Arbeit soil jedoch einheitlich der Begriff Gutekriterien verwendet werden. Vgl. Denzin/Lincoln 1994, S. 100; Bortz/Doring 2002, S. 193; Mayring 2002, S. 140. Vgl. Bortz/Doring 2002, S. 195. Vgl. Bortz/Doring 2002, S. 195. Vgl. Bortz/Doring 2002, S. 199. Vgl. Bortz/Doring 2002, S. 199. Vgl. Kleining 1995,8.20. Vgl. Mayring 2002, S. 140.

112

3.2 Qualitative Sozialforschung

reich beschrieben werden. Die Darstellung der Bedeutung und Umsetzung jener Kriterien fur qualitative Untersuchungen erfolgt erst in Kapitel 3.2.2. 3.2

Qualitative Sozialforschung

In der empirischen Sozialforschung unterscheidet man wie bereits in Kapitel 3.1.1 erwahnt zwischen quantitativen, wie z. B. Fragebogen, und qualitativen Forschungsmethoden, beispielsweise Experteninterviews, Text- und Inhaltsanalysen etc. Wahrend quantitative Forschungsansatze hauptsachlich zur empirischen Uberpriifung von aus der Literatur abgeleiteten Hypothesen eingesetzt werden, dienen qualitative Forschungsansatze der ErschlieBung relativ neuer und unbekannter Untersuchungsgebiete. Dabei „[...] ist der Forscher angehalten, so offen wie moglich gegeniiber neuen Entwicklungen und Dimensionen [...] im Untersuchungsprozefi [...] zu sein".^^ In jedem Forschungs- und Erkenntnisprozess lassen sich normalerweise sowohl quantitative als auch qualitative Methoden finden. Man spricht von einem multimethodischen Vorgehen, welches zur Integration verschiedener Merkmale des Forschungsgegenstandes genutzt wird.*" Wobei meist immer noch die qualitative Seite unterreprasentiert ist, da sie in der Wissenschaft bis heute ihren gleichrangigen Stellenwert gegeniiber seinem quantitativen Pendant nicht durchsetzen konnte.^" 3.2.1 Grundlagen qualitativen Denkens Im Rahmen der qualitativen Forschungsstrategie wird die Betrachtung konkreter Einzelfallbeispiele zur empirischen Grundlage einer davon abgeleiteten Modellkonzeption bzw. Theoriebildung. Es werden direkte Bezuge aus etablierten Theorien versucht in der Realitat zu analysieren und die betrachteten Situationen mit Hilfe von Modellen und Konzeptionen so zu strukturieren, dass praktisches Handeln und Entscheiden nach logischen Sinnstrukturen moglich wird.*" Auf Basis der Kritik qualitativer Forschung an quantitativen Ansatzen sind im Rahmen der Entstehung eines methodologischen Gegenentwurfs und dem Versuch der praktischen Umsetzung eigener Vorstellungen mehrere allgemein giiltige Grundsatze und Prinzipien als Grundlage qualitativen Vorgehens proklamiert worden, die beispielhaft im Folgenden kurz erlautert werden. 3.2.1.1 Allgemein giiltige Grundsatze nach Mayring Aus den unterschiedlichen qualitativen Ansatzen lassen sich nach Mayring fiir die Durchfuhrung qualitativer Forschung funf allgemein giiltige Grundsatze ableiten:*"

Vgl. Lamnek 1988, S. 23. Vgl. Witzel 1982, S. 10. Vgl. Mayring 2002, S. 19. Vgl. Osterloh/Grand 1994, S. 290. Siehe ausfuhrlich dazu Mayring 2002, S. 19 ff

3 Forschungsmethodik und deren Umsetzung in der Arbeit

113

Starkere Subjektbezogenheit Der Hauptuntersuchungsgegenstand, also Ausgangspunkt und Ziel von Forschung, ist in der Sozialwissenschaft immer das menschliche Subjekt. Um Verzerrungen der Ergebnisse durch z. B. eine Methodentiberbewertung vermeiden zu konnen, ist der direkte Zugang zu den betroffenen Subjekten dringend erforderlich. Dabei wird zwischen drei zu beachtenden Richtlinien unterschieden: der Beriicksichtigung der Ganzheit des Subjektes, der Beachtung der Historizitat und der Orientierung an konkreten praktischen Problemen. Betonung der Deskription Ausgangspunkt wissenschaftlicher Analysen muss eine detaillierte und ausfuhrliche Deskription des Gegenstandsbereiches sein. Hierbei geht es erstens um eine Einzelfallbezogenheit, das heiBt den direkten Bezug zum einzelnen Subjekt. Zweitens ist dies jedoch nur moglich, wenn der Forscher dem Subjekt sehr offen gegeniiber begegnet und drittens zudem die angewendeten methodischen Schritte einer ausfuhrlichen Kontrolle unterzieht. Erst danach konnen erklarende Konstrukte eingesetzt werden. Interpretation der Forschungssubjekte Untersuchungsgegenstande und Forschungsprozesse der Sozialwissenschaften sind von vomherein mit subjektiven Intentionen belegt, wodurch sich ftir verschiedene Akteure und Beobachter komplett andere Bedeutungen ergeben konnen. Vorurteilsfreie Forschung ist kaum moglich. Deshalb ist es wichtig, dass Vorverstandnis bezuglich des Untersuchungsgegenstandes darzulegen und subjektive Erfahrungen als legitimes Erkenntnismittel zuzulassen. Forschung ist dementsprechend immer als Forscher-Gegenstand-Interaktion zu interpretieren. Eine ErschlieBung und Auswertung der unterschiedlichen Bedeutungen erfolgt durch Interpretationen. Untersuchung in alltaglicher Umgebung Beobachtungen im Bereich sozialwissenschaftlicher Forschung sollten immer in einer natiirlichen, alltaglichen Umgebung durchgefuhrt werden. Dadurch konnen Verzerrungen, die beim Zugang zur Realitat entstehen, verringert und moglichst nah an die AUtagssituation angekniipft werden. Dieser Grundsatz steht vor allem in engem Zusammenhang mit der Subjektorientierung. Verallgemeinerungsprozess Im Verallgemeinerungsprozess werden abschlieBend die Ergebnisse generalisiert. Man unterscheidet an dieser Stelle zwischen der argumentativen Verallgemeinerung, dem Verweis auf die Moglichkeiten der Induktion und der Formulierung eines Regelbegriffs. Die Generalisierungen miissen also schrittweise beschrieben werden, da menschliches Handeln immer sehr stark von der gegebenen Situation abhangt und somit subjektive Bedeutungen bei den Bewertungen der Ergebnisse eine wesentliche Rolle spielen. Besonders in der Einlosung dieses funf-

114

3.2 Qualitative Sozialforschung

ten Grundsatzes ergeben sich fiir die qualitative Forschung erhebliche Umsetzungsprobleme. Oftmals wird nur mit sehr kleinen Fallzahlen gearbeitet und es kommt im Wesentlichen auf die Begriindungen der Resultate und ihrer Giiltigkeiten an. Diese Quantifizierungen miissen dann noch einmal emeut auf ihre Sinnhaftigkeit gepriift werden. 3.2.1.2 Zentrale Prinzipien nach Lamnek Lamnek definiert dagegen sechs eigenstandige Kriterien, welche die von Mayring angefiihrten teilweise abdecken, im Wesentlichen jedoch erweitem, da jeder auf seine Art und Weise diese definiert.^*^ Offenheit Mit dem Prinzip der Offenheit werden die Ziele der Wahmehmung auch unerwarteter und instruktiverer Informationen und der Anpassungsfahigkeit des methodischen Instrumentariums an Abweichungen von der Planung verfolgt. Das beinhaltet eine Offenheit gegenuber den Untersuchungspersonen, der Untersuchungssituation sowie den einsetzbaren Methoden.*^^ Daraus konnen zwei Folgen fur die Methodologie und die Wissenschaftstheorie abgeleitet werden: Erstens ergibt sich eine „Explorationsfunktion" qualitativer Sozialforschung und zweitens der Verzicht auf „Hypothesenbildung ex ante"."**^ Zugunsten der Konzentration auf eine explorierende Felderkundung muss jedoch die theoretische Durchdringung des Untersuchungsgegenstandes zuriickgefahren werden. Dadurch wird es unmoglich, vorab Hypothesen zu formulieren und diese dann innerhalb des Forschungsprozesses zu priifen. In diesem Sinne findet eine Hypothesenbildung erst auf Grundlage der im Prozess gefundenen Daten statt und qualitative Forschung ist somit meist ein hypothesengenerierender und nicht wie quantitative Forschung hypothesenpriifender Ansatz.**" Forschung als Kommunikation Der Aspekt beinhaltet die Kommunikation und Interaktion zwischen Forscher und Untersuchungssubjekt als konstitutiven Bestandteil des gesamten Forschungsprozesses.'*^ Damit lost sich die Unabhangigkeit zwischen Forscher und Untersuchungsgegenstand auf und die gesamte Forschungsrichtung erhalt einen so genannten „kommunikativen Grundcharakter"'*''. „Der kommunikative Sozialforscher behandelt das informierende Gesellschaftsmitglied als prinzipiell orientierungs-, deutungs- und theoriemdchtiges Subjekt. "^^^ Das bedeutet, die Wahmehmung der Wirklichkeit ist perspektivenabhangig und andert sich somit in diesem Fall mit dem Wechsel der Perspektive vom Forscher hin zur beforschten Person. Dadurch ergibt Vgl. Lamnek 1995a. Vgl. Lamnek 1995a, S. 22. Vgl. Hoffmann-Riem 1980, S. 343 ff. Vgl. Lamnek 1995, S. 23. Vgl. Kiichler 1983, S. 10. Dieser Begriff wurde von Schiitze 1978 gepragt. Vgl. Schiitze 1978, S. 118.

3 Forschungsmethodik und deren Umsetzung in der Arbeit

115

sich jedoch, dass bereits alle Beschreibungen der Wirklichkeit bzw. Sachverhalten von Theorien gepragt sind und eine theorieunabhangige Ausgangslage der Beobachtung weder fur die Aussagen des Sozialforschers noch der Untersuchten gewahrleistet werden kann/" Als zentraler Punkt der Untersuchungen qualitativer Forschung resultiert die Notwendigkeit, sich auf die Analyse der gegenseitigen Aushandlungsprozesse der Wirklichkeitsdefinitionen zwischen dem Forscher und seinem Forschungssubjekt zu konzentrieren. Ihre kommunikative Interaktion wird zum Gegenstand der Forschung. Um nun eine an die ReaHtat angepasste Untersuchungssituation zu erreichen, soUte sich die forschungsbezogene Kommunikationssituation moglichst eng an den Regeln des aUtagswehlichen Handelns orientieren, das heiBt, so natiirlich (real) wie moglich sein/'"* Prozesscharakter - Forschung und Gegenstand Hinter diesem Prinzip verbirgt sich nicht nur der Prozesscharakter des Forschungsaktes selbst, sondem gleichzeitig wird dieser auch dem Untersuchungsgegenstand unterstellt, da im Rahmen qualitativer Forschung die Prozesshaftigkeit sozialer Strukturen und Systeme berucksichtigt werden muss. Vomehmlich stehen kollektiv geteilte Deutungs- und Handlungsmuster im Mittelpunkt, die immer wieder durch ihre Anwendung von sozialen Akteuren reproduziert sowie modifiziert werden und somit erst eine soziale Wirklichkeit konstituieren."'^ Daraus ergeben sich als zentrale Inhalte qualitativer Forschung die Dokumentation, die analytische Rekonstruktion und die Erklarung durch verstehendes Nachvollziehen dieses Prozesses der Schaffung von Wirklichkeit. Verhaltensweisen und Aussagen der Untersuchten sind dabei prozessbezogene Ausschnitte dieser Inhalte. Lamnek leitet daraus ab, dass „alle Beteiligten des Interaktionsprozesses [...] an der Konstruktion von Wirklichkeit und an der Aushandlung von Situationsdefiziten f...]"*^ mitgestalten, wodurch z. B. die Involvierung eines Forschers selbst auch ein Ergebnis des Prozesses darstellt. Reflexivitat von Gegenstand und Analyse Auch das Prinzip der Reflexivitat bezieht sich sowohl auf den Forschungsgegenstand als auch die Forschungsanalyse. Innerhalb des interpretativen Paradigmas wird fur die Bedeutungen der Ergebnisse menschlichen Handelns generell Reflexivitat vorausgesetzt. Das heifit, sie sind von vomherein nur im Zusammenhang mit der Erschaffung der sozialen Wahrheit zu bewerten. Damit Reflexivitat jedoch innerhalb eines Forschungsprozesses iiberhaupt umsetzbar wird, versteht man in vereinfachter Form darunter eher die reflektierte Position eines Forschers, das Offensein fur unerwartete Veranderungen und die Fahigkeit, auf neue Situationen angepasst reagieren zu konnen.'*'^

'^^ Vgl. Schiitze 1978, S. 123. ''' Vgl. Hoffmann-Riem 1980, S. 348 ff.; Kleining 1982, S. 240 ff. '^' Vgl. Hopf 1982,8.31 I f f ^'' Lamnek 1995a, S. 25. ^^^ Vgl. Lamnek 1995a, S. 26.

116

3.2 Qualitative Sozialforschung

Explikation Explikation beinhaltet die Forderung nach einer weit reichenden Offenlegung der einzelnen Prozessschritte der Untersuchung. Hierbei geht es um Normen, nach denen Daten aus dem kommunikativen Prozess eruiert und diese Daten anschliefiend interpretiert werden. In der Realitat ist jene Forderung allerdings kaum vollstandig nachzuhalten, da sie dem Forscher meist nicht bewusst ist. Trotzdem ist es wichtig, Untersuchungs- und Analyseverfahren nicht ganz unreflektiert anzuwenden, um Nachvollziehbarkeit der Interpretationen (wie beim Prinzip des Prozesscharakters gefordert) und damit eine Intersubjektivitat der Ergebnisse zu gewahrleisten/''* Flexibilitat Im Rahmen der Flexibilitat steht am Anfang jeder Untersuchung ein weit offener Blickwinkel auf die Dinge, welcher sich im Fortgang der Untersuchung verengt. Dabei muss man lemen, was die relevanten spezifischen Daten sind, wie Ideen fiir Bezugslinien entstehen und wie Werkzeuge resultierend aus dem Lemen uber die Erfahrung der Wahrheit eingesetzt werden/'^ Insgesamt bezieht sich dieses Prinzip jedoch auf den gesamten Forschungsprozess und nicht nur auf ein einzelnes Erhebungsverfahren, was gleichzeitig einer Konzentration auf eine standardisierte Technik entgegensteht. „Es gibt keine Vorschriften, denen man bei Verwendung irgendeiner dieser Vorgehensweisen folgen mufi; die Vorgehensweise sollte an ihre Umstdnde angepafit und an der Einschatzung ihrer Angemessenheit und Fruchtbarkeit orientiert werden ".^^ Insgesamt gibt es also zahlreiche Forderungen, die als Grundlage fur eine gute qualitative Forschung proklamiert werden, je nachdem auf welcher methodologischen Abstraktionsebene man sich befindet. Dazu kommen noch die bereits in Kapitel 3.1.2 beschriebenen Giitekriterien, welche sich in abgewandelter und erweiterter Form auch im Rahmen qualitativer Forschung anwenden lassen. 3.2.2 Gutekriterien qualitativer Datenerhebung Im Vergleich zu quantitativen Ansatzen muss sich auch qualitative Forschung einer Bewertung anhand gewisser Gutekriterien stellen, wobei die Geltungsbegrundung der Ergebnisse und der durchlaufene Prozess wesentlich flexibler gestaltet sein sollten und dadurch an Bedeutung gewinnen.*®' Aus der Literatur lassen sich allerdings grundsatzlich drei verschiedene Grundpositionen zum Thema Gutekriterien qualitativer Datenerhebung unterscheiden: erstens die Anpassung quantitativer Gutekriterien fur die qualitative Forschung, zweitens die Ent-

Vgl. Lamnek 1995a, S. 26. Vgl.Blumerl979,S.54f. Blumer 1979,8.55. Vgl. Mayring 2002, S. 140, auch Heinze et al. 1975 und Heinze 1987.

3 Forschungsmethodik und deren Umsetzung in der Arbeit

117

wicklung eigener Gutekriterien fiir die qualitative Forschung und drittens die allgemeine Ablehnung von Giitekriterien fur die qualitative Forschung uberhaupt.'°^ Angelehnt an die quantitative Forschung haben die zentralen Gutekriterien Objektivitat, Reliabilitat und Validitat in angepasster Form auch fiir den qualitativen Bereich eine Bedeutung und konnen auf diesen ubertragen werden.'^^ Obwohl sich, wie bereits in Kapitel 3.1.2. dargelegt, dabei wesentliche Unterschiede und Probleme fur ihre Anwendbarkeit auf qualitative Untersuchungsergebnisse ergeben und beachtet werden miissen. Sie werden jedoch als „Einheitskriterien" angesehen, mit denen sich jede Art von Forschung bewerten lasst.^^ Obj ektivitat (An wenderunabhangigkeit) Objektivitat im Rahmen qualitativer Forschung setzt vergleichbare Resultate bei Einsatz identischer Methoden fur die Untersuchung desselben Sachverhaltes durch unterschiedliche Forscher voraus (interpersonaler Konsens). Um dies zu erreichen, sind eine ausfuhrliche Beschreibung des methodischen Vorgehens und eine Standardisierung notwendig. Durch die individuelle Vorbereitung des Forschers auf die untersuchte Person wird versucht, im subjektiven inneren Erleben der Untersuchungspersonen vergleichbare Situationen herzustellen. Auch hier konnen im Nachhinein Auswertungs- und Interpretationsobj ektivitat anhand des Konsenskriteriums beurteilt werden. Ob Interpretationen ubereinstimmen, ist jedoch in der qualitativen Forschung eher ein Validitats- als ein Objektivitatsproblem, da als Voraussetzung fur valide Interpretationen ein interpersonaler Konsens vorliegen muss.'*'* Reliabilitat (Zuverlassigkeit) Fiir den qualitativen Bereich beinhaltet Reliabilitat die Frage, inwieweit das ausgewShlte Verfahren bei mehrfacher Anwendung oder bei Anwendung durch verschiedene Forscher zu den gleichen Ergebnissen ftihren wiirde. Allerdings sollte die Reliabilitat erst nach Abschluss des Such- oder Findungsprozesses geprufl werden.'*^ Dabei kann die Zuverlassigkeit qualitativer Ergebnisse durch wiederholte Befragungen oder Abwandlungen der Forschungsbedingungen untersucht werden. Allerdings gestaltet sich dies unter der MaBgabe schwierig, dass in der qualitativen Forschung oft die Einzigartigkeit, die Individualitat und die historische Unwiederholbarkeit von Situationen und ihrer kontextabhangigen Bedeutung herausgestellt werden. Gleichzeitig wurden aber keine eigenstandigen Methoden der Zuverlassigkeitspriifung entwickelt.'^' Insgesamt ist es trotzdem wichtig, die Reliabilitat qualitativer Ergebnisse zu gewahr-

Vgl.Steinke 2000,8.319. Vgl. Lincoln/Guba 1985; Kirk/Miller 1986; Kelle et al. 1993 (zitiert nach Steinke 2000, S. 320). Vgl.Steinke 2000,8.319. Vgl. Bortz/Doring 2002, 8. 326 f. Vgl.Kleiningl995,8.20. Vgl.Lamnekl993,8. 177.

118

3.2 Qualitative Sozialforschung

leisten, da resultierende MaBnahmen fur Betroffene angemessen und verbindlich gestaltet sein mussen.'®* ValiditSt (Gultigkeit) Auch fur die qualitative Forschung stellt Validitat das wichtigste Gutekriterium fiir Untersuchungen dar. Im Gegensatz zur quantitative!! Datenerhebung bezieht sich die Validitat hier auf Interpretationen des Ergebnismaterials. Als Bewertungsmoglichkeiten konnen Vergleiche unterschiedlicher Teile desselben Materials (z. B. widerspriichliche Aussagen innerhalb eines Interviews), Vergleiche zwischen Personen (widersprechende AuBerungen) als auch Hintergrundinformationen (durch Literatur oder Experten) herangezogen werden. Das eindeutigste Merkmal fur Validitat ist allerdings, wenn zwischen mehreren Personen Einigkeit iiber die Glaubwiirdigkeit und den Bedeutungsinhalt des Forschungsmaterials besteht. Man unterscheidet hierbei drei verschiedene Arten von Einigkeit: • zwischen alien Forschem, die gemeinsam an einem Projekt arbeiten, • zwischen Forschem und Beforschten (kommunikative/dialogische Validierung), • zwischen den Forschem und auBenstehenden Laien und Kollegen (argumentative Validiemng). Sollte an irgendeiner Stelle keine Ubereinstimmung bezuglich der Interpretationen vorliegen, so miissen die Ergebnisse neu uberarbeitet und verandert werden.'^ Insgesamt ist jedoch zu beachten, dass Validitat in ihrer hier beschriebenen Form nicht von Anfang an in alien Einzelheiten vorliegen muss, da immer wieder Meinungsverschiedenheiten fur Interpretationsmodifikationen existieren konnen. Sie kann deshalb auch erst im Verlaufe fachlicher Auseinandersetzungen zu dem Thema entstehen.^'° Um der oben benannten Flexibilitat gerecht zu werden, wird die Anwendbarkeit quantitativer Gutekriterien auf qualitative Forschung teilweise angezweifelt. Anhanger dieser Position vertreten die Meinung, dass fur die qualitative Forschung aufgmnd ihrer wissenschaftstheoretischen, methodologischen und methodischen Besonderheit selbststandigere, besser geeignetere Gutekriterien gefunden werden miissen.^" So entwickelte z. B. Mayring*'^ sechs iibergreifende Gutekriterien qualitativer Forschung, abgeleitet aus spezifischen Kriterienkatalogen qualitativer Forschungsdesigns allgemeinerer Uberlegungen zu qualitativer Forschung von Kirk und Miller, Flick und Kvale.^'^

* Vgl. Bortz/D6ring 2002, S. 327. ' Vgl. Bortz/Doring 2002, S. 327 ff. ^ Vgl. Gerhard 1985, ausfiihrlich Scheele/Groeben 1988, S. 18 ff. (zitiert nach Bortz/Doring 2002, S. 335). ' Vgl. Steinke 2000, S. 320. ^ Vgl. Mayring 2002, S. 144 ff. ' Vgl. Kirk/Miller 1986; Flick 1987; Kvale 1988.

3 Forschungsmethodik und deren Umsetzung in der Arbeit

119

Verfahrensdokumentation Der erste wichtige Grundsatz fur eine gute qualitative Forschung ist eine genaue Verfahrensdokumentation. Aufgrund der entsprechenden Ausrichtung und Spezifitat der einzelnen Forschungen auf die jeweiligen Untersuchungsobjekte mtissen detailgetreue Dokumentationen uber das Forschungsvorgehen, wie z. B. die Explikation des Vorverstandnisses, die Zusammenstellung des Analyseinstrumentariums oder die Durchfuhrung und Auswertung der Datenerhebung, angelegt werden, damit dieses hinterher fiir Unbeteiligte nachvollziehbar wird. Argumentative Interpretationsabsicherung Der Aspekt der argumentativen Interpretationsabsicherung besitzt einen sehr starken Bezug zu dem oben beschriebenen Validitatskriterium. Wie bereits erwahnt, geht es bei qualitativen Ansatzen um Interpretationen, deren Qualitat im Gegensatz zu quantitativen Daten nicht durch Rechnen bewiesen bzw. eingeschatzt werden kann. Darum ist es wichtig, Interpretationen argumentativ zu begninden."^ Dies lasst sich an drei Kriterien festmachen: erstens muss ein adaquates Vorverstandnis der Interpretationen vorliegen, um diese theoriegeleitet deuten zu konnen, zweitens sollten Interpretationen in sich schlussig sein und drittens kommt es vor allem darauf an, ahemative Deutungsmoglichkeiten zu suchen und diese zu uberprufen.^'^ Regelgeleitetheit Auch ftir qualitative Forschung spielen gewisse Verfahrensregeln und ein systematisches Vorgehen durch den Einsatz von Analysemodellen eine bedeutende Rolle. Einerseits mtissen qualitative Ansatze zwar offen fur Ausnahmen und bereit sein, festgelegte Vorgehensschritte kurzfristig zu modifizieren, andererseits muss jedoch eine systematische Bearbeitung des Materials gewahrleistet werden. Eine zu strenge Regelkonformitat konnte an dieser Stelle allerdings hinderlich sein.^'^ Nahe zum Gegenstand Die Nahe zum Gegenstand ergibt sich bei qualitativer Forschung durch die Betrachtung der erforschten Subjekte in ihrer naturlichen Umgebung (ihrer Alltagswelt). Der Forscher muss also ins Feld gehen, anstatt die Versuchspersonen ins Labor zu holen. Ein Ziel qualitativer Ansatze ist die Untersuchung sozialer Probleme dort, wo sie entstehen. Durch ein offenes und gleichberechtigtes Verhaltnis zwischen Forscher und Subjekt sollen Losungen gefunden werden, die praktikabel fur die Beforschten sind und sich eng an deren Bedtirfnissen orientieren. Somit wird versucht, eine groBtmogliche Nahe zum Gegenstand zu erreichen.^'^

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Hirsch 1967, S. 209 ff.; Terhart 1981, S. 769. Becker/Geer 1979 (zitiert nach Mayring 2002, S. 145). Mayring 2002, S. 146. Mayring 2002, S. 146.

120

3.2 Qualitative Sozialforschimg

Kommunikative Validierung Unter der bereits erwahnten kommunikativen Validierung, also der Uberprufling der Einigkeit zwischen Forscher und Untersuchungssubjekt iiber den Bedeutungsinhalt des Forschungsmaterials versteht man die Diskussion erarbeiteter Interpretationen mit den Beforschten.^'^ Es ist wichtig, dass sich diese in den Analyseergebnissen wiederfinden und verstanden fiihlen, wobei jedoch beriicksichtigt werden muss, dass die Ubereinstimmung dabei von den subjektiven Bedeutungsstrukturen der Betroffenen abhangig ist. Trotzdem konnen aus solch einem Dialog wichtige Argumente zur Absicherung der Rekonstruktion subjektiver Bedeutungen erlangt werden.^" Triangulation Triangulation als ein Gutekriterium qualitativer Forschung meint, dass durch die Verbindung mehrerer Analysedurchlaufe (auch qualitativ und quantitativ moglich) die Qualitat der Forschung durch unterschiedliche Datenquellen, Interpreten, Theorieansatze oder Methoden wesentlich verstarkt und Verzerrungen kompensiert werden konnen."*' Es wird versucht, dadurch mehrere Losungswege zu eruieren, um diese dann gegeniiberzustellen und vergleichen zu konnen. Ziel der Triangulation ist das Erkennen von Starken und Schwachen der jeweiligen Analysearten mit den zugehorigen Ergebnissen, die dann zu einem Gesamtbild zusammengefiigt werden."' Fasst man all diese Giitekriterien zusammen, bietet sich ein breites Spektrum zur Uberpriifung der Qualitat qualitativer Forschung. Im direkten Gegensatz pladieren Gegner allgemein gegen die Formulierung solcher Giitekriterien fiir eine qualitative Forschung. Im Rahmen der postmodemen Sicht wird die Moglichkeit, Giitekriterien qualitativer Forschung auf ein festes Bezugssystem anzuwenden, vollstandig abgelehnt."^ Eine weitere Ablehnung erfahren Giitekriterien aus sozial-konstruktivistischer Sicht. Die Bedingung einer sozial-konstruierten Welt ist demnach nicht mit Bewertungsstandards von Erkenntnisanspriichen vereinbar, weil dadurch die Grundlage des sozialen Konstruktivismus verlassen werde."^ Eine letzte Begriindung kommt von Denzin (1990). Er ist der Ansicht, dass durch die Schreibweise eines Forschers in der ersten Person Singular die Distanz zwischen beobachteter Person und Realitat iiberwunden ist und weder Reliabilitat noch Validitat von Bedeutung sind."^

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Kliiver 1979; Heinze et al. 1981 (zitiert nach Mayring 2002, S. 147). Mayring 2002, S. 147; auch Terhart 1981, 1995; Kvale 1995. Denzin 1978; auch Jick 1983 und Fielding/Fielding 1986 (zitiert nach Mayring 2002, S. 147). Kockeis-Stangl 1980 (zitiert nach Mayring 2002, S. 148). Richardson 1994, S. 552; Smith 1984, S. 383. Shotter 1990, S. 69. Denzin 1990,8.231.

3 Forschungsmethodik und deren Umsetzung in der Arbeit

121

Anhand der drei auBerst verschiedenen Positionen wird ersichtlich, wie unterschiedlich die Meinungen zum Thema Giitekriterien in der qualitativen Forschung sind. Allen jemals an die qualitative Forschung gestellten Anspriichen gerecht zu werden, ist kaum moglich. Deshalb ist es fur diese Arbeit im Rahmen einer spateren Qualitatsuberprufung der eingesetzten Forschungsmethodik wichtig, sich fiir oder gegen Giitekriterien zu entscheiden und im gegebenen Fall geeignete Giitekriterien festzulegen. Fiir das weitere Vorgehen wurde ein dreistufiges Argumentationsschema entwickelt: Es wird der Standpunkt vertreten, dass qualitative Forschung ohne die Bewertung durch entsprechende Giitekriterien einer wissenschaftlichen Anerkennung nicht standhalten kann. Sie wiirde sich dann der Gefahren von Beliebigkeit und Willkiirlichkeit aussetzen. Unbeteiligte miissen erst durch Nachweise von der Qualitat der Untersuchungen und Ergebnisse iiberzeugt werden. An dieser Stelle wird mit Terhart einhergegangen, dass die Ergebnisse qualitativer Forschung als Produkte verschiedener Entscheidungs- und Konstruktionsleistungen wahrend des Forschungsprozesses entstehen und gleichzeitig bewertet werden.'" Die Verwendung quantitativer Giitekriterien zur Beurteilung qualitativer Forschung wird in dieser Arbeit abgelehnt. Sie wurden ftir andere quantitative Methoden festgelegt, deren Grundannahmen kaum mit denen qualitativer Forschung iibereinstimmen. Die Erfiillung quantitativer Giitekriterien ftir qualitative Ergebnisse ist durch das geringe Vorhandensein von Formalisierbarkeit und Standardisierbarkeit kaum zu leisten."^ Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, an den quantitativen Kriterien orientierte und die Methoden, Wissenschafts- und Erkenntnistheorien qualitativer Forschung angepasste Giitekriterien zu entwickeln. Steinke betont hierfiir die Bedeutung der Entwicklung eines GiitekriterienSystems anstatt einzelner loser Kriterien, welches das Ziel verfolgen sollte, relativ viele Aspekte der Qualitatsbewertung qualitativer Sozialforschung einzuschlieBen."' Fiir die spatere Auswertung der Forschungsergebnisse dieser Arbeit wird an dieser Stelle auf die Giitekriterien von Mayring Bezug genommen."* Diese stellen bereits ein sehr umfassendes System von Giitekriterien dar, dass in der Literatur durch die Verwendung in zahlreichen Arbeiten weite Verbreitung erfahren hat."' Die sechs ubergreifenden Giitekriterien zur Datenerhebung von Mayring bilden also die Bewertungsgrundlage zur Qualitatsbeurteilung der in Kapitel 4.2 dargestellten empirischen Forschungsergebnisse der Arbeit."^ Die Anwendung dieser Giitekriterien und die damit einhergehende wissenschaftliche Qualitatspriifung erfolgt in Kapitel 3.4.

Vgl. Terhart 1995, S. 375. Vgl. Steinke 2000, S. 322. Vgl. Steinke 2000, S. 323. Vgl. Mayring 2002, S. 144 ff. Siehe beispielsweise Warschun 2002, S. 9 f. Vgl. Mayring 2002, S. 144 ff.

122

3.2 Qualitative Sozialforschung

3.2.3 Untersuchungsdesigns Allgemein beinhaltet der Begriff Forschungsdesign die Frage nach der Planung, nach einem festgelegten Vorgehenskonzept flir die bevorstehende Untersuchung, die Erhebung und Analyse von Daten sowie die Auswahl des Materials. Ragin definierte das Ganze als einen „[...] Plan fur die Sammlung und Analyse von Anhaltspunkten, die es dem Forscher erlauben, eine Antwort zu geben - welche Frage er auch immer gestellt haben mag. Das Design einer Untersuchung beruhrtfast alle Aspekte der Forschung von den winzigen Details der Datenerhebung bis zur Auswahl der Techniken der Datenanalyse.""'. Es stellt also Mittel zur Datensammlung dar, um die jeweils entsprechenden Forschungsziele zu erreichen. Bei der Wahl des Forschungsdesigns miissen verschiedene Einflussfaktoren beriicksichtigt und gleichzeitig Entscheidungen getroffen werden."^ Der Verlauf eines Forschungsprojektes und somit gleichzeitig das Forschungsdesign lassen sich in einzelne Prozessphasen untergliedem, welche in Abbildung 13 zusammengefasst sind. Wahrend jeder Phase miissen Entscheidungen ftir die erfolgreiche Realisierung des Designs getroffen werden. Am Anfang ist es wichtig, die Zielsetzung festzulegen, die man mit Hilfe des Forschungsvorhabens beantworten mochte. Dabei sollte eine angemessene Offenheit des Forschers gegenliber seinem Vorhaben existieren. Daraus ergibt sich direkt die Formulierung einer entsprechenden Fragestellung, welche groBen Einfluss auf das endgtiltige Forschungsdesign hat und deshalb so klar und eindeutig wie moglich sowie friihzeitig im Verlauf formuliert werden muss. Allerdings kann es im Zusammenhang mit einzelnen Designs (z. B. Aktionsforschung"^) immer wieder zu Konkretisierungen bzw. Fokussierungen, weiterer Eingrenzung Oder Revidierungen der anfanglichen Forschungsfrage innerhalb des Projektes kommen. Voraussetzung ist jedoch grundsatzlich eine Fragestellung, die so gestellt ist, dass sie im Rahmen des Projektes mit den zur Verfugung stehenden Ressourcen beantwortet werden kann. Zudem ist es wichtig, bei der Auswahl des Designs die Generalisierungsziele des Forschungsprojektes zu beachten. Was soil mit der Studie erreicht werden? Innerhalb der qualitativen Forschung konnen die numerische und die theoretische Generalisierung unterschieden werden, wobei jedoch die meisten qualitativen Forschungen auf der theoretischen Generalisierung aufbauen."'* Es wird also hinterfragt, inwieweit die durchgefuhrten Fallinterpretationen theoretisch verallgemeinert werden konnen. An dieser Stelle spielt vor allem die Bedeutung der Triangulation eine Rolle, die zu einer Erhohung der theoretischen Generalisierung fuhren kann."^ Zusatzlich sollten noch Ziele der Darstellung in eine Designentscheidung einbezogen werden. Ein weiterer oft unterschatzter Faktor ist durch die zur Verfiigung stehenden Res-

Vgl. Ragin 1994, S. 191. Vgl. Flick 2000, S. 252. Siehe ausfiihrlich Kapitel 3.3.3 und 3.3.4.; allgemein siehe Flick 2002, S. 69; Maxwell 1996, S. 49. Vgl. Flick 2000, S. 260. Siehe Kapitel 3.2.2.

3 Forschungsmethodik und deren Umsetzung in der Arbeit

123

sourcen, wie z. B. Zeit oder Kompetenzen, vorgegeben. Vor Ablauf des Forschungsvorhabens sollten beispielsweise die Zeiten einzelner Arbeitsschritte kalkuliert werden. AbschlieBend haben gleichfalls auch die eingesetzten Methoden, welche dem Untersuchungsgegenstand angemessen sein sollten, und der dem ganzen Forschungsvorhaben zugrunde liegende theoretische Rahmen Auswirkungen auf das endgiiltige Forschungsdesign."^

Abbildung 13: Komponenten qualitativer Forschungsdesigns"^

Mayring unterscheidet grundsatzlich im Rahmen qualitativer Forschung folgende Basisdesigns:"* 1. Einzelfallanalysen (Fallstudie), 2. Dokumentenanalyse, 3. Handlungsforschung (Aktionsforschung), 4. Feldforschung, 5. das qualitative Experiment, 6. qualitative Evaluationsforschung. Innerhalb dieser Arbeit wurde das Design der Aktionsforschung zur Beantwortung der eingangs gestellten Forschungsfragen ausgewahlt. Aus diesem Grund soil an dieser Stelle im Rahmen der Arbeit nicht auf jedes einzelne qualitative Design naher eingegangen werden. Das anschlieBende Kapitel 3.3 ordnet die Methodik der Aktionsforschung in den allgemeinen Kontext sozialwissenschaftlicher Forschung ein, beschreibt seine geschichtliche Entstehung

Vgl. Flick 2000, S. 257 ff In Anlehnung an Flick 2000, S. 264. Vgl. Mayring 2002, S. 41 ff; siehe dazu auch Flynn et al. 1990, S. 256 ff; Meredith et al. 1998; S. 309.

124

3.2 Qualitative Sozialforschung

und erlautert Grundlagen, Ziele und besondere Merkmale einschlieBlich des Forschungsverlaufs und der Methoden. Zum Schluss werden Probleme und Risiken der Aktionsforschung aufgezeigt und versucht, Handlungsempfehlungen fur die Durchsetzung von Aktionsforschung abzuleiten. 3.2.4 Forschungsmethoden In der qualitativen Forschung unterscheidet man ein Vielzahl unterschiedlicher Methoden bzw. Verfahrenweisen"', welche jedoch in drei wesentliche Technikarten gegliedert werden konnen, auf die im Folgenden naher eingegangen werden soil.''*" Speziell ftir den Bereich der Aktionsforschung kann allerdings von vomherein eine Einschrankung moglicher qualitativer Forschungsmethoden vorgenommen werden (siehe Tabelle 21). Andere Forschungsmethoden haben im Rahmen der Arbeit keine Beachtung geflinden. Bei den nachfolgenden Erlauterungen zum Bereich qualitativer Forschungsmethoden wird aus diesem Grund erstens eine Einschrankung auf ausgewahlte Verfahren vorgenommen. Zweitens entsprechen zudem die nachfolgend beschriebenen Methoden denen, welche im Kontext des Forschungsdesigns eingesetzt wurden, um den untersuchten Forschungsgegenstand erheben, aufbereiten und auswerten zu konnen. 3.2.4.1 Erhebungstechniken (Materialsammlung) Zu den Erhebungsmethoden zahlen im Rahmen qualitativer Forschung das Interview, die Gruppendiskussion und die teilnehmende Beobachtung. Es geht um die Sammlung von Informationen uber die Wirklichkeit. Fiir die qualitative Forschung spielt dabei vor allem das verbale Gesprach eine wesentliche Rolle, um den beforschten Objekten eine Moglichkeit zur Interpretation ihrer eigenen Bedeutungsinhalte zu geben.''*' An dieser Stelle soil auf alle genannten Erhebungsmethoden eingegangen werden, da sie innerhalb des Forschungsvorhabens verwendet wurden.'"^ Qualitatives Interview Die Ziele eines qualitativen Interviews konnen sehr verschieden sein. Ihre Anwendung reicht von der Erfassung und Analyse subjektiver Perspektiven der Beobachteten uber die Ermittlung von Expertenwissen bis hin zu Biographieerhebungen. Mit ihnen konnen Situationsdeutungen oder Handlungsmotive erfragt bzw. Alltagstheorien und Selbstinterpretationen differenziert erhoben werden. Sie beinhalten gleichzeitig die Moglichkeit der diskursiven Verstandigung iiber die erhaltenen Interpretationen.''*^ Fiir den Methodenbereich der Interviews kann

Siehe dazu ausfiihrlich Flynn et al. 1990, S. 258 ff. Vgl. Mayring 2002, S. 65. Vgl. Mayring 2002, S. 66. Siehe Kapitel dazu Kapitel 3.5.3.3. Vgl. Hopf 2000, S. 350.

3 Forschungsmethodik und deren Umsetzung in der Arbeit

125

auf eine Vielzahl verschiedener Arten sowohl standardisiert, teilstandardisiert oder offen zuriickgegriffen werden.'^ Im Forschungsprozess wurde das fokussierte Interview eingesetzt, bei dem man sich auf einen vorab definierten Gesprachsgegenstand konzentriert und versucht, relativ offene Reaktionen und Interpretationen der Interviewpartner zu bekommen. Sie sind eine Spezialform teilstandardisierter Interviews, da ihnen flexible Gesprachsleitfaden zugrunde liegen. Ziel ist es, die Reichweite des fokussierten Themas abzustecken und weitere Standpunkte und unberiicksichtigte Aspekte aufzugreifen.^*' Gruppendiskussion Gruppendiskussionen kommen immer dann zum Einsatz, wenn Meinungen und Einstellungen stark an soziale Zusammenhange und Strukturen gekoppelt sind. Sie legen grundsatzlich Einstellungen der Beteiligten, durch welche das Denken, Fiihlen und Handeln im Alltag bestimmt wird, offen, wodurch ein Zugang zu offentlichen Meinungen, koUektiven Einstellungen oder auch Ideologien eroffnet wird. Fiir eine solche Diskussion miissen zunachst entsprechend der Forschungsfrage relevante Gruppen gebildet werden, die auch im Alltag Bestand haben. Die Diskussion beginnt mit einer Fragestellung oder Aussage als Grundreiz, der im weiteren Verlauf durch zusatzliche Reizargumente erganzt wird. Am Ende steht eine Metadiskussion als Bewertungsrahmen. Mit Hilfe von Gruppendiskussionen konnen vor allem alltagliche Sinnstrukturen in sozialen Situationen erfasst werden. '^ Teilnehmende Beobachtung Die teilnehmende Beobachtung wird dem Bereich der Feldforschung zugeordnet und fmdet besonders da Anwendung, wo der Untersuchungsgegenstand in soziale Situationen integriert und der Gegenstandsbereich von auBen schwer erfassbar ist. Der Beobachter (Forscher) gliedert sich selbst in die zu untersuchende soziale Situation ein und baut zu den Beforschten eine direkte personliche Beziehung auf, wahrend er Untersuchungsdaten generiert. Dadurch wird versucht, durch Nahe zum Untersuchungssubjekt dessen Innenperspektive zu erfahren. Wichtig bei dieser Methode sind ein guter Zugang zum Feld, die Verwendung eines Leitfadens und die Zusammenfassung der Beobachtungen in einem Beobachtungsprotokoll, welches fur die Schlussauswertung wichtig ist.''*^ 3.2.4.2 Aufbereitungstechniken (Materialsicherung und -strukturierung) Zur Sicherung des in der Erhebung gesammelten Materials muss dieses festgehalten, aufgezeichnet, geordnet und strukturiert werden. Fur jene Aufbereitung stehen als Verfahren die Transkription, das Protokoll oder die Konstruktion deskriptiver Systeme zur Verfugung. BeVgl. Spohring 1989, S. 147 ff; Lamnek 1995, S. 35 ff. Vgl.Hopf2000,S.535f Vgl. Mayring 2002, S. 76 ff Vgl. Mayring 2002, S. 80 ff

126

3.2 Qualitative Sozialforschung

senders die Form des Protokolls kam im Rahmen der vorliegenden Arbeit verstarkt zum Einsatz.^'** Deshalb sollen hier methodische Grundlagen dazu erlautert werden. In diesem Zusammenhang kann zwischen einem zusammenfassenden und einem selektiven Protokoll unterschieden werden.^^' An dieser Stelle wird jedoch nur auf das zusammenfassende Protokoll eingegangen, da nur diese Form im Projektverlauf Anwendung gefunden hat. Protokolle Bei der Erstellung eines Protokolls wird das gesammelte Material beztiglich seines thematischen Inhalts strukturiert und gleichzeitig zusammengefasst."® Protokolle werden eingesetzt, um Handlungsprozesse beschreiben und analysieren zu konnen. Dabei unterscheidet man mehrere Formen, von wortlichen Nachschriften bis lediglich zur Aufzeichnung von Beschliissen. Moser gibt dazu folgende Moglichkeiten vor, welche durch weitere erganzt werden konnen:"' • Aufnahme des Handlungsprozesses auf Tonband, wortliche Wiedergabe nur ftir Passagen, die fur das Ziel der Arbeit wesentlich sind, • Formulierung eines Verlaufsprotokolls anhand vordefinierter Kriterien, • Erstellung von Video- oder Tonbandaufhahmen als Erganzung zum Verlaufsprotokoll, • Protokollierung einzelner wesentlicher Phasen des Handlungsprozesses, • Protokolle verschiedener Gruppen als Vergleichspotenziale. Ziel einer Protokollerstellung ist der Versuch, mit Hilfe der Aufzeichnungen Ansatze zur Reflexion eines Handlungsprozesses finden zu konnen. Durch die schriftliche Fixierung und zeitliche Distanz zwischen der Erstellung eines Protokolls und seiner Auswertung soil die Objektivitat der Analyse erhoht werden.'" 3.2.4.3 Auswertungstechniken (Materialanalyse) Zu den Auswertungsmethoden qualitativer Forschung zahlen z. B. die gegenstandsbezogene Theoriebildung, die phanomenologische Analyse, die sozialwissenschaftlich-hermeneutische Paraphrase, die qualitative Inhaltsanalyse, die objektive Hermeneutik, die psychoanalytische Textinterpretation und die typologische Analyse."^ Solche allgemeinen qualitativen Auswertungstechniken kamen im Kontext der Arbeit nicht zum Einsatz.

Siehe Kapitel 3.5.3.3. Vgl. Mayring 2002, S. 94 ff. Vgl. Mayring 2002, S. 94. Vgl.Moserl977, S. 39f. Vgl. Moser 1977,8.40. Vgl. Mayring 2002, S. 103 ff.

3 Forschungsmethodik und deren Umsetzung in der Arbeit

127

Die Auswertung der im Projekt gesammelten Informationen und Daten fand in Rahmen des Diskursprozesses der Aktionsforschung zwischen Forscher und Beforschten durch Kommunikations- und Interpretationsverfahren statt. Eine ausfuhrliche Beschreibung dieser Auswertungsmethoden erfolgt in Kapitel 3.3.4.3, weshalb an dieser Stelle darauf verzichtet werden soil. 3.3

Aktionsforschung - ReflexivitMt zwischen Prozess und Ziel

Aktionsforschung"* als ein altemativer sozialwissenschaftlicher Forschungsansatz zur traditionellen klassisch-empirischen Sozialforschung ist schon seit vielen Jahren im deutschen und angloamerikanischen Sprachraum existent"^ und erfahrt vor allem im Bereich des „Production and Operations Management" in den letzten Jahren wieder verstarkt Anwendung."** Hierbei werden Fragen nach dem Verhaltnis von Theorie und Praxis, Theorie und Empiric sowie der Interaktion von Forscher und Erforschten neu analysiert. Theoretische und methodologische Wurzeln des Aktionsforschungsansatzes sind „[...] im Umfeld der interaktionistisch orientierten amerikanisch-englischen Human-Relations-Bewegung der 40er und 50er Jahre "'" zu finden. Ein zweiter AnstoB kam aus der Auseinandersetzung zwischen Kritischem Rationalismus und Kritischer Theorie, dem Positivismusstreit, als Reaktion auf das Praxisdefizit der Kritischen Theorie,"* mit dem Anklingen von Kommunikation und Selbstreflexion bis zur Hinwendung zum Diskurs durch Habermas."' Aktionsforschung kann als Weiterfuhrung dieser Uberlegungen betrachtet werden.'*^ i. 3.1 Stellung im Kanon sozialwissenschaftlicher Forschung Trotz zahlreicher Erorterungen und Auseinandersetzungen zu dieser Forschungsmethodik in den letzten Jahrzehnten bleibt bisher unklar, welche Stellung Aktionsforschung wirklich beigemessen und welchen Wissenschaftlichkeitsanspruch jener Ansatz fiir sich einnehmen werden kann. Wagner kommt nach seiner Wissenschaftlichkeitsuntersuchung zu der Uberzeugung, dass Aktionsforschung eine gewisse Beachtung als eigenstandige Wissenschaftsdisziplin zugemessen werden muss, auch wenn sie einer einheitlichen Methodologie noch bedarf.'^' Mayring weist Aktionsforschung groBe Bedeutung fur die deutschsprachige Erziehungswis-

"'* In der Literatur werden sehr z, T. sehr unterschiedliche BegrifFe fur den Ansatz der Aktionsforschung verwendet, wie z. B. Alltagsorientierte Forschung, Handlungsforschung oder auch Praxisforschung, In dieser Arbeit wird jedoch einheitlich der gelaufigste Begriff „Aktionsforschung", abgeleitet aus dem Englischen „action research", benutzt. "' Siehe beispielsweise Lewin 1953, Haag et al. 1972, sowie Moser 1975 und 1978. "' Vgl. Westbrook 1995, S. 18; Coughlan/Coughlan 2002, S. 222. "' Radtke 1979, S. 75 f. "' Vgl. Heinze 2001,8.79. "' Vgl. Habermas 1971. '«* Vgl. Moser 1975, S. 63. ^'' Vgl. Wagner 1997, S. 261 ff

128

3.3 Aktionsforschung - Reflexivitat zwischen Prozess und Ziel

senschaft der siebziger Jahre zu.^" Bereits 1946 forderte Kurt Lewin^" in einem Aufsatz: „Die fiir die soziale Praxis erforderliche Forschung lafit sich am besten als eine Forschung im Dienste sozialer Unternehmungen oder sozialer Technik kennzeichnen. Sie ist eine Art Handlungsforschung (Action Research), eine vergleichende Erforschung der Bedingungen und Wirkungen verschiedener Formen des sozialen Handelns und eine zu sozialem Handeln fUhrende. Eine Forschung, die nichts anderes als BUcher hervorbringt, geniigt nicht. "^'^\ In dieser Aussage kommt vor allem die doppelte Zielsetzung dieses Forschungsansatzes zum Ausdruck, auf die in Kapitel 3.3.3 naher eingegangen werden soil. Sievers proklamiert fur die Aktionsforschung auBerdem vor allem einen Paradigmenwechsel gegeniiber traditioneller sozialwissenschafllicher Forschung in drei Bereichen:'^^ (1) starkere Kooperation von Theorie und Praxis, (2) neuartige Bedingungen fur Beschaffling, Verwendung und Giiltigkeit empirischer Daten und (3) ein neues Design und alternative Strategien fur den Forschungsprozess. Dieses handlungsorientierte Paradigma geht hierbei von der Annahme aus, menschliches Handeln sei nur aus den Absichten und Kontexten der Handelnden/Beforschten heraus interpretierbar und den einzigen Weg, Handlungen zu identifizieren und zu verstehen, bilde die verbale Kommunikation.*'^ Als zentrales Postulat der Aktionsforschung konstatieren Kriiger, Kliiver und Haag, „ [...] gesellschaftliche Praxis als integralen Bestandteil sozialwissenschafllicher Forschung zu betrachten und Praxis nicht als etwas Theorie aufierliches anzusehen. "'^' (siehe weiterftihrend Kapitel 3.3.3 - Partizipation). Das bedeutet, Aktionsforschung kann vor allem bei unstrukturierten mit sozialen Handlungen verbundenen Problemlagen, iiber einen langeren Zeitraum und innerhalb einer bestimmten Gruppe, Institution oder Organisation eingesetzt werden, wenn es darum geht zu verstehen, wie ein System ftir die Losung des Problems aus sich selbst heraus verandert werden muss und was aus diesem Veranderungsprozess wiederum ftir andere Systeme gelemt werden kann."* 3.3.2 Die Entwicklung der Aktionsforschung Wie aus den vorangegangenen Ausfuhrungen deutlich geworden ist, bezeichnet Aktionsforschung eine bestimmte Ausrichtung sozialwissenschaftlicher Forschung und stellt einen Untersuchungsplan dar. Sie basiert auf der Annahme, dass die Untersuchung sozialer Systeme eine spezifische, den besonderen Eigenarten dieser Systeme angemessene Forschungsweise

Vgl. Mayring 2002, S. 50 ff. Kurt Lewin wird mit seinem Werk „Die Losung sozialer Konflikte" aus dem Jahr 1953 als einer der Begriinder der modemen Sozialwissenschaften angesehen. Lewin 1982, S. 280. Vgl. Sievers 1979. Vgl. Gruschka 1976, S. 146, siehe ausfuhrlich zu den verschiedenen Ebenen der Kommunikation Gruschka 1976, S. 155 ff. Kriiger etal. 1975, S. 8. Vgl. Coughlan/Coghlan 2002, S. 227; auch Coghlan/Brannick 2001.

3 Forschungsmethodik und deren Umsetzung in der Arbeit

129

notwendig macht. Dabei wird von der auf Lewin zuruckgehenden Grundannahme ausgegangen, dass Problemlosungsprozesse besonders geeignet sind, um Erkenntnisse uber soziale Zusammenhange generieren zu konnen. Dieser gab diesem Forschungsansatz auch seinen Namen und definierte Aktionsforschung als „[...] eine vergleichende Erforschung der Bedingungen und Wirkungen verschiedener Formen des sozialen Handelns und eine zu sozialem Handeln fuhrende Forschung"^^^. Die Wurzeln der Aktionsforschung liegen im Positivismusstreit der deutschen Soziologie und seiner forschungspraktischen Wendung."" Als erstes Zeichen einer neuen Form der empirischen Sozialforschung im deutschsprachigen Raum"' ist der von Haag et al. 1972 veroffentlichte Sammelband „Aktionsforschung: Forschungsstrategien, Forschungsfelder und Forschungsplane" anzufuhren, in dem mit dem Ziel der Neuthematisierung des Theorie/Praxisund des Theorie/Empirie-Verhaltnisses die Methode der Aktionsforschung vorgestellt wird."^ Dabei wird durch die Vermittlung von Projekterfahrungen einerseits versucht, Praktikem Moglichkeiten fiir Aktionsforschungsprojekte aufzuzeigen. Andererseits geht es auf theoretischer Ebene um eine „histonsche Neuvergegenwartigung des Aktionsforschungsansatzes "."^ Dieses Werk hat laut Moser mafigeblich zur Publizitat des Aktionsforschungsansatzes beigetragen."'* Zudem erschien 1975 eine Begriindung von Moser zur Postulierung von Aktionsforschung als eigenstandiges, wissenschaflstheoretisch fundiertes Paradigma."' Danach erfolgte 1979 eine Darstellung von Horn, in der die LFberschreitung methodischer und methodologischer Grenzen und die Abkehr von politischen Normen traditioneller empirischer Forschung durch den neuen Ansatz beschrieben werden.*^^ Von Heinze, Loser und Thiemann entstand unter dem Begriff „Praxisforschung" 1981 ein Konzept fur die Unterrichtsforschung"^ und im direkten Anschluss daran erregte ein Jahr spater ein Forschungsbericht des „Marburger Grundschulprojektes" von Klafki und Kom"* die Aufmerksamkeit, da die Ergebnisse der Untersuchung die Reformierung der (Grund-)Schule in weitem MaBe beeinflussten."' Ein letzter wesentlicher Entwicklungsschritt der Aktionsforschung wurde von Altrichter und Posch 1990 mit der Lehrerforschung, einer schulbezogenen Variante, gemacht.'*" Diese und viele andere Projektberichte dieser neuen Forschungsmethode erhielten in der Offentlichkeit meist nur selten die entsprechende Anerkennung sowohl von anderen Forschem als auch von Prakti^^' Lewin 1953,8.280. "° Zum Positivismusstreit siehe Adomo 1969. " ' Von 1966 bis 1994 kam es zu etwa 1000 wissenschaftlichen Arbeiten iiber dieses Thema. vgl. Wagner 1997, S. 11. '"' Vgl. Haag et al. 1972, S. 38 ff. "^ Vgl.Moserl975, S. 54. "^ Vgl. Moser 1977. "^ Vgl. Moser 1975. " ' Vgl. Horn 1979. " ' Vgl. Heinze et al. 1981. " ' Vgl. Klafki/Kom. 1982. " ' Vgl. Wagner 1997, S. 18. ^^•^ Vgl. Altrichter 1990, Altrichter/Posch 1994.

130

3.3 Aktionsforschung - Reflexivitat zwischen Prozess und Ziel

kern, den eigentlichen Zielgruppen ihrer Forschungstatigkeiten. In ihrer Meinung unterstiitzt wurden sie dagegen von Sozialforschem, die ebenfalls die klassischen Forschungsverfahren fiir zu reduktionistisch, mechanistisch und funktionalistisch vorbestimmt hielten. Zusammenfassend hat die Aktionsforschung jedoch als entgegengesetztes Instrument und Herausforderung zu den bis dahin traditionellen empirischen Forschungsmethoden zwei wichtige Entwicklungen der Wissenschaft allgemein hervorgebracht. Zum einen ist heute die kombinierte Verwendung quahtativer und quantitativer Methoden fur einen flexibleren Umgang mit verschiedenen Untersuchungsstrategien nicht nur akzeptiert, sondem sogar teilweise gefordert^*', und zum anderen hat sich durch den Ansatz der Aktionsforschung das Verhaltnis der Wissenschaft zu sozialen Fragen und Problemen der Gesellschaft erheblich verbessert, da das wissenschaftliche (erkenntnistheoretische) Wissen seine bisherige Hoherwertigkeit und seinen AusschlieBlichkeitsanspruch gegeniiber dem aUtagsweltlichen (anwendungsorientierten) Wissen aufgeben musste."^ Die Selbstdeutungen der untersuchten Individuen iiber ihre eigene Lebenswelt wurden im Raum einer interaktiven Sozialforschung'" zu primaren Erkenntnisquellen. 3.3.3 Programmatik und besondere Merkmale Fiir die Darstellung der Programmatik wird zuerst auf die Ziele eingegangen, die mit dem Einsatz dieser Forschungsmethodik erreicht werden sollen. Zudem unterscheidet sich Aktionsforschung in einigen Merkmalen bewusst von anderen Forschungsmethodiken. Diese sollen im Folgenden besonders hervorgehoben werden. 3.3.3.1 Ziele der Aktionsforschung Die Forschungsmethodik der Aktionsforschung soil nach Gunz ihre Ergebnisse bereits wahrend des Forschungsprozesses praktisch umsetzen und gleichzeitig als Wissenschaft in die Praxis verandemd eingreifen."^ Klafki fiihrt dazu aus: Aktionsforschung „[...] vollzieht sich in direktem Zusammenhang mit den jeweiligen praktischen Losungsversuchen, denen sie dienen will; sie greift als Forschung unmittelbar - und nicht erst nach vollzogenem Forschungsprozefi, als sog. ,Anwendung' der Forschungsergebnisse - in die Praxis ein, und sie mufi sich daher auf RUckwirkungen aus dieser von ihr selbst mit beeinflufiten Praxis aufFragestellungen und Forschungsmethoden im Forschungsprozefi selbst - und nicht erst in der abschliefienden Auswertungsphase im Hinblick auf zukiinftige Forschung - offen halten. "^". Naher betrachtet bewegt sich Aktionsforschung also im Rahmen einer doppelten Zielsetzung,

Vgl. Mayring 2002, S. 9, bezeichnet als qualitative Wende. Vgl. Wagner 1997, S. 16 f Zu dem Begriff siehe Lenk 1986, S. 32. Vgl. Gunz 1986; Gummesson 2000 (zitiert nach Coughlan/Coghlan 2002, S. 224). Vgl. Klafki 1976, S. 60.

3 Forschungsmethodik und deren Umsetzung in der Arbeit

131

da sie sich nicht nur auf die Ubeq^rufung bzw. Gewinnung theoretischer Erkenntnisse konzentriert, sondem gleichzeitig bei der Problemwahl und Problemlosung an konkreten gesellschaftlichen Bediirfnissen ansetzt und zusatzlich das Ziel verfolgt, wissenschaftliche Grundlagen ftir die Veranderung sozialer Situationen zu liefem.^*^ Diese Dualitat fuhrt Aktionsforschung in einen doppelten Legitimationszwang, was bedeutet, dass sie sich zum einen sowohl innerhalb als auch aufierhalb des Wissenschaftssystems legitimieren muss und zum anderen dadurch mit divergierenden Relevanzkriterien und Wertpraferenzen konfrontiert ist.^*^

Entwicklung und Uberpriifung sozialwissenschaftlicher Theorie

Praktische Veranderung sozialer Systeme A i i f 1 Relevanz der Daten: Bedeutung durch Einbeziehung in und zugleich Beeinflussung des Forschungsverlaufs

Standiges Pendeln zwischen Informationssammlung, Diskurs und praktischen Handlungen

Abbildung 14: Doppelte Zielsetzung der Aktionsforschung

Im Zentrum dieses Forschungsansatzes steht letztendlich der erfolgreiche Lemprozess aller an der Forschung Beteiligten. Der Aktionsforscher ist bestrebt, sich zusammen mit seinen Forschungsobjekten innerhalb aUtagHcher Arbeits-, Lem- und Selbstreflexionsprozesse weiterzuentwickeln.'^* Gemeinsames Lemen ist die Voraussetzung dafiir, dass Aktionsforschung wirklich ihren Beitrag zu einer praktischen gesellschaftlichen Veranderung leisten kann. 3.3.3.2 RoUe des Forschers (Partizipation) Ein besonderes Merkmal des Aktionsforschungsprozesses stelh das neue gemeinsame Handlungssystem'*' zwischen dem Forscher und dem Praxispartner dar. Dieses weist den Charakter eines Intersystems'^ (Einbeziehung von Wissenschaft und Praxis) auf, welches Riordan charakterisiert als „[...] a kind of approach to studying social reality without separating (while Distinguishing) fact from value; they require a practitioner of science who is only an engaged participant, but also incorporates the perspective of critical and analytical observer, not as a validating instance but as integral to the practice. "^^\ Aufgrund unterschiedlicher Bedurfnisse, Motivationen und Zielvorstellungen beider Partner miissen fur eine gemeinsame Vgl. Lewin 1963, S. 204; Checkland 1993; Gummesson 2000 (zitiert nach Coughlan/Coghlan 2002, S. 224); Naslund 2002, S. 334. Vgl. Sievers 1979, S. 120. Vgl. Haag et al. 1972,8.42. Vgl. Sievers 1979, S. 123. Vgl. Clark 1976, S. 119ff. Riordan 1995, S. 10.

132

3.3 Aktionsforschung - Reflexivitat zwischen Prozess und Ziel

Kooperation Divergenzen erkannt, akzeptiert und in eine iibergreifende Konsensbildung bzw. Zielabstimmung aufgenommen werden.^'^ Dem Forscher kommt innerhalb dieses Systems einerseits die Rolle eines teilnehmenden Moderators und Prozessunterstiitzers zu (extemes Modell). Er gibt Denkanstofie, macht auf mogliche Probleme aufmerksam und hinterfragt gangige Argumentationsmuster und hilft den Beforschten damit, selbststandig eigene Bedingungen und Einfliisse zu erforschen, um daraus abgeleitet Problemlosungen entwickeln und implementieren zu kSnnen.*'^ Gleichzeitig kann er aber andererseits zusatzlich noch Teil des beforschten Systems sein, in dem sozialen Veranderungsprozess aktiv mitwirken und so eine Doppelrolle einnehmen (internes Modell).*''* In beiden Fallen ist fur einen erfolgreichen Forschungsprozess Transparenz eine wesentliche Bedingung, denn es ist besonders wichtig, dass alle am Prozess Teilnehmenden diesen als solchen nachvollziehen konnen. Das heifit alle angewandten Untersuchungsmethoden miissen gleichzeitig auch Inhalt des gemeinsamen Diskurses sein. Es soil also versucht werden, die normalerweise vorhandene Unterscheidung Subjekt und Objekt zwischen Forscher und Klient durch eine beiderseitige Zusammenarbeit zu iiberwinden. Alle Beteiligten sollen ihr Wissen und ihre Fahigkeiten einbringen, um, wie in Kapitel 3.3.3.1 dargestellt, die Probleme zu verstehen, gemeinsam voneinander und miteinander zu lemen sowie sich weiterzuentwickeln.''' 3.3.3.3 Beziehung Forscher - Beforschte (Interaktion) Innerhalb des Ablaufs von Aktionsforschung wird die in der traditionellen Sozialforschung geforderte Distanz zwischen Forscher und Beforschten aufgehoben und durch eine beidseitige Interaktion und multiple Teams ersetzt.''* Der Forscher sieht dabei das Untersuchungsobjekt nicht mehr als ein von ihm unbeeinflusstes soziales System, das er als AuBenstehender nur betrachtet, sondem er versucht, ein aktiver Teil dieses Systems zu werden.*'^ Dafur ist es jedoch notwendig, iiber einen langeren Zeitraum mit dem Untersuchungsobjekt zusammenzuarbeiten, gegebenenfalls sogar zu leben. Hierbei ergeben sich oft moralisch-verbindliche Beziehungen zwischen Forscher und Beforschten, aus denen sich Werte und Normen entwickeln, die den Umgang miteinander bestimmen. Dieser Werte und Normen miissen sich beide Parteien bewusst sein und sie anerkennen.*'* Gleichzeitig darf der Aktionsforscher aber nicht seine Identitat als Wissenschaftler komplett verlieren, sondem sie im Rahmen der Anpassung lediglich verandem.'^ Nur iiber diesen Weg konnen reale Handlungsperspektiven, angelehnt Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Sievers 1979, S. 123. Schein 1987, 1995; Coghlan 1994 (zitiert nach Coughlan/Coghlan 2002, S. 227). Bartunek et al. 2000 (zitiert nach Coughlan/Coghlan 2002, S. 227). Kompe 1979, S. 60; Naslund 2002, S. 334. Gummesson 1995; Reason 1999 (zitiert nach Coughlan/Coghlan 2002, S. 225); Eisenhardt 1999, S. 538. Benbasat et al. 1987 (zitiert nach Westbrook 1995, S. 8). Coghlan/Brannick 2001, Gummesson 2000 (zitiert nach Coughlan/Coghlan 2002, S. 225). Kramer/Kramer/Lehmann 1979, S. 27 ff.

3 Forschungsmethodik und deren Umsetzung in der Arbeit

133

an die gemeinsam bestimmte soziale Wahrheit (Sinnorientierung), entwickelt werden, die in der Zukunft auch ein Chance auf langfristiges Bestehen haben.*^ 3.3.3.4 Theoriebildung (Kommunikation) Im Rahmen der Theoriebildung wird im Vergleich zu herkommlichen Verfahren empirischer Sozialforschung innerhalb des Aktionsforschungsprozesses eine weitgehend „herrschaftsfreie" Kommunikation angestrebt. Die Betrachtung und Interpretation der Daten erfolgt aufgrund des Research Teams, bestehend aus alien am Projekt Beteiligten, aus den verschiedensten Blickwinkeln und Hintergriinden heraus.^' Voraussetzung dafur ist, dass zum einen die Ziele und Systemzwange und zum anderen die Handlungsablaufe und eingesetzten Instrumente von alien Projektbeteiligten zusammen diskutiert und festgelegt werden (siehe auch Ebenen der Kommunikation Kapitel 3.3.4.2). Diese sind allerdings nicht konsistent, sondem unterliegen einem standigen Kontroll- und Anpassungsprozess wahrend der Untersuchungen. Dabei ist eine flexible Vorgehensweise und Verwendung von Untersuchungsmethoden erforderlich. Somit wird erreicht, dass die Forschungsobjekte nicht nur Hintergrund und Ziel des Projektes kennen, sie konnen bzw. miissen sich sogar an den Auswertungen und Interpretationen sowie der Verwertung der Forschungsergebnisse beteiligen und darauf direkt Einfluss nehmen. Das gesamte Vorgehen erhalt dadurch einen diskursiven Charakter (vergleiche dazu Kapitel 3.3.4). Insgesamt konnen die beschriebenen Merkmale^^ und die Dualitat der Zielsetzung von Aktionsforschung gleichgesetzt werden mit den „klassischen Aktionsforschungspostulaten" von Haag et al. Dazu zahlen folgende Aussagen:^^ •

Problemauswahl und -definition: geschehen aufgnmd konkreter gesellschafllicher Bediirfnisse, nicht vorrangig aus dem Bedtirfnis wissenschaftlicher Erkenntnisziele,



Forschungsziel: ist das praktisch verandemde Eingreifen in gesellschaftliche Zusammenhange und nicht ausschliefilich die Uberprufung und Erarbeitung theoretischer Erkenntnisse,



Forschungsprozess: Daten als Momente eines prozesshaften Ablaufs unter Beriicksichtigung ihrer Gesamtheitswirkung in der Realitat,

Vgl. Moser 1975, S. 169. Vgl. Eisenhardt 1999, S. 540; Coughlan/Coghlan 2002, S. 229. Als erganzende Quellen siehe auch Foster 1972; Susman/Evered 1978; Peters/Robinson 1984; Argyris et al. 1985; Whyte 1991; Aguinis 1993; Coghlan 1994; BaskervilleAVood-Harper 1996; Eden/ Huxham 1996; Checkland/Holwell 1998; Greenwood/Levin 1998; McDonagh/Coghlan 2001. Vgl. Kliiver/Kriiger 1972, S. 76 f.

134

3.3 Aktionsforschung - Reflexivitat zwischen Prozess und Ziel



Problem: Betrachtung einer Gesamtsituation im Rahmen der sozialen Wirklichkeit, aus der eine Isolation einzelner Untersuchungsvariablen fiir forschungsimmanente Zwecke unmoglich wird,



Forscher: Aufgabe der Distanz zum Forschungsobjekt zugunsten einer bewussten Einflussnahme und



Rolle des Forschungssubjektes: Selbstverstandnis als integriertes Subjekt in die Interaktionen des Gesamtprozesses.

Moser bemangelt in diesem Zusammenhang die fehlende Moglichkeit, anhand der Postulate wissenschaftliche und auBerwissenschaftliche Tatigkeiten unterscheiden zu konnen, als Bedingungen fur den Ausschluss zweifelhafter Gebiete.^ 3.3.4 Forschungsprozess und zentrale Forschungsmethoden Wie eben dargestellt, umfasst der Forschungsprozess die Sammlung aller Daten als Momente eines prozessoralen Ablaufs unter Beriicksichtigung ihrer Gesamtheitswirkung in der Realitat. Dabei kommt dem Wechselspiel der einzelnen Phasen zwischen den Handlungsfeldem Forschung und Praxis (Aktion) eine besondere Bedeutung zu. Wesentlich hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang auch der Bereich der Kommunikation zwischen Forscher und Beforschten einschlieBlich der besonderen Stellung des herrschaftsfreien Diskurses und dessen Bewertung anhand eigener Giitekriterien (siehe Kapitel 3.3.4.2). 3.3.4.1 Phasenverlauf Insgesamt weist jedes Aktionsforschungsprojekt den Charakter eines Feldexperimentes auf, was sich nicht nur auf die beabsichtigten Veranderungen in der Praxis bezieht, sondem auch den Kooperationsprozess zwischen Forscher und Beforschtem betrifft.^^ Am Anfang steht immer die Darstellung des Praxisproblems mit einer entsprechenden Zielfestlegung der angestrebten Veranderung (Problemidentifikation), da das genau defmierte Design eines Prozessablaufs im Rahmen von Aktionsforschung im Wesentlichen immer abhangig von den jeweils vorherrschenden Praxisgegebenheiten ist.^ Aufgrund unterschiedlicher Handlungs- und Kommunikationsbedingungen, Hintergrunde, Probleme und Interessen miissen die Bedingungen der Zusammenarbeit, dazu gehoren die Kooperationsmoglichkeiten, Ziele und Vorgehensweisen, Verfahrenregeln und Handlungsspielraume, geklart werden (Erkundung), bevor man in die aktive Projektarbeit einsteigt (Eintritt). Beide Phasen konnen nach Coughlan und

*Vgl. Moser 1975. ' Vgl. Kriiger et al. 1975, S. 25. ^Vgl.Mayring 2002,8.51.

3 Forschungsmethodik und deren Umsetzung in der Arbeit

135

Coghlan auch als ein einziger Schritt, das Verstehens von Inhalt und Ziel des Aktionsforschungsprojektes, zusammengefasst werden.^^ Hat man sich iiber diese Projektgrundlagen geeinigt, folgen normalerweise die Phasen der Datensammlung, des Datenfeedbacks und der gemeinsamen Diagnose. Hier werden Untersuchungsvariablen der Praxissituation zusammengetragen, analysiert und aufbereitet sowie gegebenenfalls Prozesse und Strukturen hinterfragt. Diese stellen die Grundlage der Interpretations- und Verstandigungsprozesse fur den Diskurs zur anschliefienden Erarbeitung sinnvoller Handlungsempfehlungen dar. Dabei unterscheidet Gruschka zwischen zwei Reflexionsebenen: der Realanalyse und der Kategorialanalyse.^* Die Realanalyse konzentriert sich auf die existierenden Handlungsablaufe bzw. Handlungseinheiten, die innerhalb der Kategorien Personen/Gruppen, Handlungsinteresse, Ressourcen, Prozess, Problembereiche und Transformationsergebnisse betrachtet werden. Als Erganzung dazu beschaftigt sich die Kategorialanalyse mit Fragen zur gesellschaflHchen Einschatzung der Funktion, Umfang und Bedingungen des Veranderungsprozesses.^ Daran schlieBt sich weiter die Handlungsplanung mit der Entwicklung spezifischer Vorgehensplane, der Festlegung von VerantwortHchkeiten und der Vorgehensweise fiir die spatere Ergebnisauswertung an. Daraus lasst sich bedingterweise der praktische Teil, die Handlungsdurchfuhrung und die Implementierung der Veranderungsstrategien, ableiten. Am Ende des gesamten Phasenmodells steht die Auswertung aller Ergebnisse und erreichten Veranderungen.^'° Die beschriebenen sechs Phasen bilden, bezogen auf Coughlan und Coghlan, anschlieBend an das Verstehen den zweiten Schritt eines Aktionsforschungszyklusses. Als dritten iibergeordneten Schritt, welcher im Phasenverlauf von Frohman, Sashkin und Kavanagh nicht enthalten ist, fuhren sie das Monitoring ein, welches die Basis fiir die wissenschaftliche Reflektion des Forschers, z. B. im Rahmen einer Doktorarbeit, ist.^" Trotz dieses strukturierten Vorgehens bleibt dem Forschungsprozess eine gewisse Flexibilitat erhalten, da auch eine zyklische Anordnung dieses Modells moglich ist.^'^ Das heifit, sollten sich innerhalb einer der Aktionsforschungsphasen Probleme ergeben, kann jederzeit auf eine der vorgelagerten, bereits durchlaufenen Stufen riickgekoppelt und von dort aus wieder in den normalen Prozess eingestiegen werden.^'^ „Eine vernunftige Sozialtechnik schreitet daher in

'"' ^' ^ ^'^ '" ''' "'

Vgl. Coughlan/Coghlan 2002, S. 230. Vgl. Gruschka 1976. Siehe ausfuhrlich dazu Gruschka 1976, S. 191, 193 ff. und 217 ff. Vgl. Frohman et al. 1974; auch Sievers 1976, S. 10 ff Vgl. Coughlan/Coghlan 2002, S. 233. Vgl. Eisenhardt 1999, S. 539. Vgl. Sievers 1979, S. 125; Coughlan/Coghlan 2002, S. 230.

3.3 Aktionsforschung - Reflexivitat zwischen Prozess und Ziel

136

einer Spirale von Schritten voran, deren jeder aus einem Kreis von Planung, Handlung und Tatsachenfindung iiber das Ergebnis der Handlung zusammengesetzt ist. "^"* Die folgende Tabelle 18 fasst abschliefiend den Phasenverlauf eines Aktionsforschungsmodells nach Frohman et al. noch einmal zusammen.^'^ Abbildung 15 zeigt im Vergleich dazu eine zyklische Darstellung des Aktionsforschungsprozesses nach Coughlan und Coghlan.^'^ Phasen

Vonviegend

Inhalt

Forschung

Erste Orientierung und Vorentscheidung iiber die weitere Zusammenarbeit

Aktion

Entwicklung einer gemeinsamen Arbeitsbeziehung und eines Kontraktes; erste Problemorientierung; Auswahl der Datensammlungs- und -feedbackmethoden

— Datensammlung

Forschung

Analyse von Organisationsvariablen und -prozessen

"a. Datenfeedback

Aktion

Riickgabe der aufbereiteten Daten an das Klientensystem zur Diskussion und Diagnose

Erkundung •2 Eintritt

1 Forschung

Einsicht in die Systemsituation, -probleme und -defizite

a Handlungsplanung

Diagnose

Aktion

Entwicklung spezifischer Handlungsplane, die eine Entscheidung driiber einschliefien, wer die Plane ausfiihrt und wie der Erfolg ausgewertet werden kann

o Handlungsausfiihrung

Aktion

Ausfuhrung der erarbeiteten Veranderungsstrategien

Forschung

Bewertung der Effektivitat vs. InefFektivitat der Handlungsausfiihrung; Beendigung oder Erweiterung des Projektes |

Auswertung

Tabelle 18: Phasenverlauf des Aktionsforschungsmodells^'

Abbildung 15: Zyklischer Verlauf des Aktionsforschungsprozesses^'

Lewin 1953, S. 284. Vgl. Frohman et al. 1974. Vgl. Coughlan/Coghlan 2002, S. 230. Sievers 1979, S. 124 (nach Frohman/Sashkin/Kavanagh 1974). Coughlan/Coghlan 2002, S. 230.

3 Forschungsmethodik und deren Umsetzung in der Arbeit

137

Zudem lassen sich zwei weitere Differenzierungsstufen eines Aktionsforschungsprozesses untergliedem, die Exploration und die Inspektion/" Das Hauptmerkmal der explorativen Stufe, dazu zahlen die Phasen Erkundung, Eintritt, Datensammlung und Datenfeedback, ist die Flexibilitat gegenuber dem Forschungsprozess (Untersuchungsmethoden). In diesem Zusammenhang stoBt man auf eine anfangliche Breite und Unstrukturiertheit des theoretischen Vorverstandnisses des Forschers, um eine Handlungsoffenheit fur den Prozessverlauf gewahrleisten zu konnen. Ergebnis dieser Stufe sollte die Konkretisierung von Forschungsfragen und methoden darstellen. Die zweite Stufe, die Inspektion, erstreckt sich iiber die Phasen Diagnose, Handlungsplanung, Handlungsausfuhrung sowie Auswertung. Sie beinhaltet die Systematisierung und Strukturierung der im Feld gewonnenen Eindrucke und Informationen und bestimmt sowie entwickeh sukzessiv die Inhahe des Forschungsprozesses. Parallel dazu muss der Untersuchende seine Rolle als Forscher und Beteiligter reflektieren und einordnen. Beide Stufen spiegeln den allgegenwartigen Diskursprozess („kooperierenden Dialog") zwischen alien Beteiligten wider. 3.3.4.2 Gtitekriterien und Kommunikation Die Methode der Aktionsforschung kann nicht an den Kriterien traditioneller Forschung gemessen werden, sondem bedarf dessen eigener."" Dabei handelt es sich vomehmlich um Giitekriterien fur Aushandlungsweisen, Kommunikations- und Interpretationsverfahren, die in vier Kategorien eingeteilt werden konnen:"' (1) Kommunikation, die der Verstandigung zwischen Forscher und Forschungssubjekt dient und Basis des Diskursprozesses ist, (2) Intervention als Einwirkungsbedingung, wobei der Forscher hier nicht bewusst verzerrend auf den Forschungsprozess Einfluss nehmen darf, (3) Transparenz als Kontrollbedingung, welche die Offenlegung von Funktionen, Zielen und Methoden des Forschungsprozesses umfasst, um diesen ftir alle Beteiligten nachvollziehbar zu gestalten, sowie (4) Relevanz, welche als Kriterium die Bedeutsamkeit der Forschungsarbeit ftir die Entdeckung von Regeln und GesetzmaBigkeiten des sozialen Feldes bzw. deren Veranderungen beinhaltet. Innerhalb jeder dieser Kategorien konnen wiederum je drei verschiedene Gutekriterien defmiert werden, die in Tabelle 19 aufgefuhrt sind. Vor allem jedoch die verbale Kommunikation als Grundannahme des handlungsorientierten Paradigmas spielt in diesem Zusammenhang eine wesentliche Rolle (siehe auch Kapitel 3.3.1). Dabei kann Kommunikation auf vier verschiedenen Ebenen ablaufen:"^

Vgl.Heinze2001,S.83f. Vgl. Reason/Bradbury 2001, Gummesson 2000 (zitiert nach Coughlan/Coghlan 2002, S. 226). Vgl.Moserl975,S. 22ff. Vgl. Gruschka 1976, S. 154 ff. Eine ausfuhrlichere Darstellung des Diskurses als zentrale Instanz der Aktionsforschung findet sich zusatzlich in Kapitel 3.3.4.4.

3.3 Aktionsforschung - Reflexivitat zwischen Prozess und Ziel

138

1. (Gegenseitiges) Verstehen beinhaltet den Austausch von Meinungen, das Zusammentragen von Informationen und die Einschatzung von Problemlagen. Hierbei geht es zunachst einmal um ein zwangloses Sich-Mitteilen. Man antwortet direkt auf die Handlung eines anderen, ohne diese explizit zu interpretieren. 2. Die Voraussetzung fiir (kontroverses) Interpretieren ist ein Entwicklungsstand der Vorverstandigung, bei dem der Forscher die Selbstwahmehmung der Beforschten als Handlungsfiguren in den Situationsdeutungen ihrer sozialen Wirklichkeit einschatzen und beriicksichtigen kann. 3. Interpretationen iiber den jeweiligen Sachverhalt werden in den kommunikativen Prozess zwischen Forscher und Beforschten eingebracht und dienen nun als Grundlage ftir ein (verniinftiges) Verstandigen. Im Rahmen des Verstandigens wird sich, auf Grundlage der beiden vorgelagerten Stufen Verstehen und Interpretieren, bemtiht, gemeinsam Sinnstrukturen und Handlungsmoglichkeiten ftir spatere Praxisveranderungen zu flnden. Diese Phase stellt die einfache Form eines Diskurs-Modells nach Habermas dar.^" 4. Die letzte Ebene der Kommunikation besteht aus dem (planmaOigen) Entscheiden, welche die Handlungsorientierung der Aktionsforschung sicherstellen soil. Nach der Entwicklung eines Bewusstseins fur die Notwendigkeit von Veranderungen (siehe Interpretation) und dem Entwurf einer Entscheidungssituation (siehe Verstandigung) kommt es abschliefiend zur Auswahl einer Veranderungsstrategie aus mehreren Handlungsaltemativen und deren Begriindung. Bedingung

'•S

3

S .SP a a

GUtekriterien

Inhalt

Einfiihlungsvermogen (Empathie)

Hineinversetzen in andere Personen oder Situationen -> Zweck des Verstehens durch inneren Nachvollzug

Gegenseitigkeit (Interdependenz)

Erkenntnis und handlungsmaBige Einsicht in wechsel- und gegenseitige Abhangigkeitsbeziehungen

Vemiinftigkeit (Rationalitat)

Realisierung subjektiver Handlungszwecke durch soziale Handlungen oder Einsatz sozial normierter Mittel -> Legitimierung/Begrundung von Entscheidungen

Einwirkungsfahigkeit (Intervention)

Einlassen auf konkrete Situationen und wirksam werden aus eigener Verantwortung

Riickmeldungspromptheit (Feedback)

Schnellstmogliche Riickkopplung der Informationen oder Objektivationen (interpretierten Informationen) an die Beteiligten

Anerkennungsbereitschaft (Rekognition)

Giihigkeit und Akzeptanz der Ergebnisse von den Beteiligten aufgrund der durchgefiihrten Kommunikation

Durchschaubarkeit (Kontrollierbarkeit)

Verstandlichkeit der wissenschaftlichen Theorien sowie Kommunikation und Interpretationen

Nachvollziehbarkeit (Reproduzierbarkeit)

Eigene Verfiigung der Beteiligten iiber Methoden, Regeln, Verfahrensweisen und Schritte durch Offenlegung

-> Betroffenheit durch Handeln oder Nichthandeln

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1



a Z a ^

Zu den Voraussetzungen und Implikationen eines Diskurses siehe Habermas 1971, S. 120 ff. Nahere Ausfiihrungen dazu an dieser Stelle wiirden fur den Rahmen der Arbeit jedoch zu weit gehen.

3 Forschungsmethodik und deren Umsetzung in der Arbeit

Bedingung

1

"S "SC-

SI

o B

1

139

Gtttekriterien

Inhalt

Veranderbarkeit (Revidierbarkeit)

Moglichkeit der Revision gegeniiber bzw. vorgefundener Orientierungen in Problemstellung, Operationalisierung, Kommunikation und Interpretation

Kurzfristige Bedeutsamkeit (Situationsrelevanz)

Subjektives Interesse der Betroffenen und Beteiligten an Theorien, Kommunikationen und Interpretationen -^ Bedeutung fiir Handelnde im Feld

Langfristige Bedeutsamkeit (Zielrelevanz)

Erheblichkeit der wissenschaftlichen Orientierungen flir die Realisierung des angestrebten Zielsystems

Uberleitende Bedeutsamkeit (Praxisrelevanz)

Angestrebte und ermoglichte praktische Ubertragung durch wissenschaftliche Begleitmethoden und Verfahren in eine differenzierte und entfaltete Zielperspektive

Tabelle 19: Ubersicht Giitekriterien der Aktionsforschung"*

Um die Besonderheiten des Ansatzes der Aktionsforschung abschlieBend noch einmal hervorzuheben, sind in Tabelle 20 diese noch einmal zusammengefasst, einschlieBlich der Zielsetzung und des Design des Forschungsprozesses. Gleichzeitig werden sie den entsprechenden Merkmalen der traditionellen Forschungspraxis gegenubergestellt. Merkmal

Traditionelle Forschung

Aktionsforschung

Zielsetzung

Beschreibung und Erklarung der Realitat extemer Beobachter, der nicht in das Forschungsgeschehen eingreift

Handlungsorientierungen zur Veranderung der Realitat -^ Lemprozess logistische Trennung von Wissensproduktion (Wissenschaft) und Wissensanwendung (Gestaltung) -^Partizipation Subjekt-Subjekt-Beziehung: Betroffene bestimmen gemeinsam Sinnorientierung und Reflektion ihrer Situation (Auflosen der Distanz) -> Interaktion nach dem Forschungsgegenstand geformt

RoIIe des Forschers

Beziehung Forscher- Subjekt-Objekt-Beziehung: extemer objektiver Beobachter bestimmt Beforschte(r) Sinngehalt der Situation RoUe des Instruments Theoriebildung

pragt Sichtweise auf den Untersuchungsgegenstand Theorien werden anhand von Daten gepruft

Design - Ablauf des Forschungsprozesses

sequentiell: Erhebung, Auswertung, Interpretation

Daten bilden die Grundlage fiir den Diskurs, in dem Handlungsorientierungen gewonnen werden (herrschaftsfreier/kooperierender Dialog) -> Kommunikation zyklischer, iterativer Lemprozess: Problem und Ziele bestimmen, Handlungsplan aufstellen, Handlung realisieren, evaluieren, ggf. Handlungsplan modifizieren etc. (Revision) -> Diskurs

Tabelle 20: Merkmale der Aktionsforschung im Vergleich zur traditionellen Forschung"

3.3.4.3 Methoden und Auswertung Forschungsmethoden im Rahmen der Aktionsforschung unterscheiden sich in ihrer Art kaum von Methoden anderer empirischer Sozialforschung, z. B. Fragebogen, Interview etc., sondem lediglich durch ihre unterschiedliche Funktion im Rahmen des Wissenschaftsprozesses."^ DaAngelehnt an Gmschka 1976, S. 147 ff. Koplin 2005, S. 384. Vgl. Moser 1977, S. 16.

140

3.3 Aktionsforschung - Reflexivitat zwischen Prozess und Ziel

bei konnen sowohl quantitative als auch qualitative Arten"^ zum Einsatz kommen, da keine Methoden traditioneller Forschung ausgeschlossen werden. Wichtig sind jedoch die genaue Planung und der richtige Einsatz verschiedener Forschungsmethoden, gemeinsam abgestimmt mit den Beforschten, um spater daraus theoretische Implikationen ableiten zu konnen."* Die Ergebnisse eines Aktionsforschungsansatzes werden von Ritsert als „aktionsgenerierte Daten" bezeichnet."' Sie stellen selbst nur generierte Erfahrungswerte von Forscher und Beforschten zur Erarbeitung von Aussagen dar und werden anschlieBend gemeinsam analysiert, um ihre Wahrheitsanspriiche im Diskurs zu analysieren, und erst dann erhalt man theoretische und praktische Neubewertungen der sozialen Wahrheit. Sie kommen somit hauptsachlich im Rahmen der Informationssammlung zur systematischen Untersuchung des Handelns zum Einsatz, wenn auch der Forscher besonders engagiert ist, um seine spezifischen Kompetenzen einzubringen. Daraus ergibt sich die Frage, welche Methoden der Informationssammlung fiir die Aktionsforschung geeignet sind und wie die gewonnenen Daten ausgewertet bzw. entschliisselt werden konnen. Dabei kann zwischen verschiedenen Informationstypen unterschieden werden:"" 1. Wissen iiber Fakten (Sein und Schein): Das Wissen uber Fakten beinhaltet Daten aus Erhebungen nach selektiven Kriterien zur breiten und differenzierten Informationssammlung fiir eine bestimmte Fragestellung. 2. Wissen iiber spezielle Ereignisse (Wesen und Erscheinungen): Zum Wissen iiber spezielle Ereignisse zahlen Daten iiber in dem Moment vorherrschende gesellschaftliche Situationen, welche haufig die Briichigkeit sozialer Institutionen anhand einzelner Konflikte zeigen. 3. Wissen iiber Normen und Regeln (Sein und Sollen): Beim Wissen iiber Normen und Regeln resultieren die Daten aus den normativen Orientierungen gesellschafllicher Teilbereiche als Grundlage des Selbstverstandnisses sozialen Handelns. Gleichzeitig ist es nicht immer erforderlich, dass der Forscher selbst im Feld anwesend ist und das Geschehene direkt registriert. Es besteht einerseits die Moglichkeit, Daten uber geeignete Instrumente zu erheben oder andererseits mit anwesenden Personen im Feld in Kontakt zu stehen und diese zu befragen."^ Die neue Funktion von Forschungsmethoden im Rahmen der Aktionsforschung ergibt sich nun durch die enge Verkniipfung der Informationssammlung mit dem anschlieBenden Diskurs (siehe Kapitel 3.3.4.2), bei dem Wahrheit dialogisch durch systematisches Argumentieren erreicht werden soil. Forschungsmethoden werden damit „zu ei' Vgl. Eisenhardt 1999, S. 535. * Vgl. Eisenhardt 1999, S. 537 f.; Gummesson 2000 (zitiert nach Coughlan/Coghlan 2002, S. 225). ' Vgl. Ritsert 1975. ' Vgl. Moser 1977,8.51. 'Vgl.Moserl977,S.24f.

3 Forschungsmethodik und deren Umsetzung in der Arbeit

141

nem Vehikel der Realisierung von Partizipationsanspruchen und Erweiterung von Handlungskompetenz"^^^, indem Feldsubjekte aktiv in den gesamten Forschungsprozess integriert werden. Fiir den Prozess der Informationsgewinnung konnen nun verschiedene Methoden genutzt werden. Tabelle 21 beinhaltet, wie bereits in Kapitel 3.2.4 dargestellt, die zentralen Forschungsmethoden der Aktionsforschung nach Moser."^ Stellung des Forschers Anwesenheit im Feld

Nichtanwesenheit im Feld • Statistische Erhebung iiber sozio-okonomische Daten • Standardisierte/offene Fragebogen Inhaltsanalysen InH^ •• Quasi-Experiment b ^ • Informelle Tests • Inhaltsanalyse sich wies4> &^ derholender Ereignisse '^ § • Selbst- bzw. Fremdeinschatzung von Ereignissen durch schriftliche Befra2$ S gung (Interviews) o ^ S ^

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• Soziometrie • Inhaltsanalysen • Quasi-Experiment • Standardisierte/offene Fragebogen • Semantisches Differenzial

• Quasi-Experiment • Strukturierte/unstrukturierte Beobachtung

• Aufnahme von Prozessen mittels Medien im Sinne der Beobachtung • Protokolle • Unmittelbare Prozessreflexion mit schriftlicher Fixierung, Krisenexperimente • Strukturierte/unstrukturierte Beobachtung • Quasi-Experiment • Krisenexperiment • Gruppendynamische Reflexion • Rollenspiel, Planspiel

Befragung von Gewahrspersonen • Standardisiertes bzw. offenes Interview von Betroffenen • Expertenbefragung • Literaturanalysen • Quellenanalysen • Dokumentenanalyse • Befragung nach Einschatzung durch Betroffene • Expertenbefragung • Dokumentenanalyse • Literaturanalysen • Quelleninterpretationen • Standardisiertes bzw. offenes Interview • Einschatzung durch Experten • Rollenspiel, Planspiel • Literaturanalysen • Quelleninterpretationen • Dokumentenanalyse

|

Tabelle 21: Uberblick zentrale Forschungsmethoden der Aktionsforschung"'*

Solche wissenschaftlichen Verfahren konnen ftir die Aktionsforschung fruchtbar gemacht werden, da sie selbst auch nur Prazisierungen und Verfeinerungen alltaglicher Handlungsformen sind."^ Ableitend ergibt sich dadurch eine begrenzte Anzahl von Methoden, auf die wissenschaftliche Methodologien zuriickgreifen konnen. Deshalb erscheint es Moser wichtig, in einem Projekt moglichst viele verschiedene, aber nicht wahllos Methoden entsprechend der Zielsetzungen und dem Prozessverlauf anzuwenden, um eine gegenseitige Kontrolle zu erreichen."^ AUerdings kommen diesen Handlungsformen bei ihrer Verwendung als Forschungsmethoden unterschiedliche Stellenwerte entsprechend der jeweilig vorliegenden methodologischen Grundannahmen zu. Sie konnen unabhangig davon allgemein in drei Kategorien beziiglich ihres Verhaltnisses zum untersuchten Gegenstand differenziert werden:"'

"2 "^ "'^ "^ "' "'

Moser 1977, S. 25. Vgl. Moser 1977. Moser 1977, S. 26. Vgl. Mollenhauer/Rittelmeyer 1975, S. 687. Vgl. Moser 1977. Vgl. Moser 1977, S. 28 ff.

142

3.3 Aktionsforschung - Reflexivitat zwischen Prozess und Ziel



Die Herstellung von Situationen: die zu Handlungen fuhren (Generierung), welche als wesentliche Informationsquellen fur ein Projekt definiert sind. Dazu zahlen das Experiment, Rollen und Planspiele, Krisenexperimente und informelle Tests. • Das Erfassen vorliegenden Handelns: uber die Einschatzung und Bewertung durch Befragungen, um natiiriiche Aspekte zu ermitteln. Hier konnen strukturierte und unstrukturierte Beobachtungen, standardisierte bzw. nichtstandardisierte Interviews, Expertenbefragungen, als auch wieder Rollen und Planspiele, Protokolle, nachtragliche unmittelbare Prozessreflexionen, Soziometrie, die Erhebung sozio-okonomischer Daten sowie das Differenzial zugeordnet werden. • Die Aufarbeitung von Handlungsdeterminanten und Handlungsprozessen der Mitwelt: durch die Analyse gegenstandlicher Dokumente und Aussagen, die zur Klarung menschlichen Verhaltens fuhren konnen, wie z. B. die Literatur-, Quellen, Dokumenten- und Inhaltsanalysen. Es geht somit um Erfahrungen und Kenntnisse, die nicht mehr einer direkten Beobachtung oder Befragung zuganglich sind. Auch im Rahmen der Aktionsforschung kann die Auswertung der gesammelten Oaten sowohl quantitativ als auch qualitativ erfolgen. Im quantitativen Bereich konnen von vomherein ausschlieClich einfache Verfahren wie die Auszahlung von Haufigkeiten oder Durchschnittswerte eingesetzt werden, da grundsatzlich allein die Projektgruppe als Grundgesamtheit eingesetzt wird und nur dort, wo das Umfeld des Projektes in die Informationssammlung einbezogen wird, sind Methoden der schlieBenden Statistik (Stichprobenverfahren) durchftihrbar. Aber auch die Wahrheit dieser Ergebnisse (der Erkenntnisfortschritt) muss im Nachgang innerhalb eines Diskursprozesses argumentativ geklart und begriindet werden. Die qualitative Datenauswertung beinhaltet nicht nur die Interpretation von Texten, sondem vor allem auch die interpretierende Analyse sozialer Ereignisse und Handlungsprozesse. Zusatzlich konnen fiir die intersubjektive Absicherung und Konfrontation verschiedener Interpretationen als weitere Verfahren die Interpretation von Protokollen und die unmittelbare Prozessreflexion herangezogen werden. "* Weiterhin existieren qualitative Auswertungsmoglichkeiten fur so genannte Zeitreihenvergleiche. Eine enorme Bedeutung im Rahmen der Auswertung von Aktionsforschungsdaten erlangt zudem das Moment der Reinterpretation. Das heiBt, es besteht die Moglichkeit, sowohl qualitativ erhobene Daten quantitativ zu bewerten als auch quantitative Ergebnisse als einmalige Situationskonstellationen zu betrachten und qualitativ zu interpretieren."' FUr die Entschliisselung konnen die oben benannten Informationstypen dafur genutzt werden, die untersuchte gesellschaftliche Situation aus drei verschiedenen Perspektiven zu betrachten, um gemeinsame Tendenzen aber auch Unterschiede zu analysieren. Daraus werden ein breit gefachertes Abbild fur die folgenden Interpretationen der Lebenszusammenhan-

Vgl.Moser 1977,8.47. Vgl. Moser 1977, S. 47; erganzend siehe Kreppner 1975.

3 Forschungsmethodik und deren Umsetzung in der Arbeit

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ge illustriert und ableitend Schlussfolgerungen als Input fur die Wahrheitsfindung im anschlieBenden Diskurs gezogen. 3.3.4.4 Bedeutung des Diskurses Diskurse im Rahmen der Aktionsforschung dienen der kritischen Reflexion von Normen und Tatsachen auf der Basis von Wissensbestanden, resultierend aus den verschiedenen Informationstypen. Dabei wird von mehreren Datenquellen solcher Wissensbestande ausgegangen:^ • Alltagswissen: beinhaltet Erfahrungen des alltaglichen Lebens, wobei an dieser Stelle zwischen den Kenntnissen uber bestimmte Dinge und den Kommunikationsregeln einer Gesellschaft unterschieden werden muss. • Betriebswissen von Institutionen: entsteht durch den Kontakt einer Person mit Organisationen wie Schule, Kirche oder dem Staat. • Theoretisches Wissen: im Kontext von Wissenschaft und Philosophie, wird unspezifisch im Laufe eines Lebens erworben. • Systematische Erhebungen: ermoglichen die Untersuchung konkreter Fragestellungen im Sinne empirischer Methoden. Dabei stellen Diskurse die Grundlage jeder sprachlichen Kommunikation dar und sind somit gesehen einfach Diskussionen. Jeder Mensch hat aufgrund seiner Fahigkeit, Situationen zu deuten und auf Argumente anderer zu reagieren, die Moglichkeit, an Diskussionen teilzunehmen und zu kommunizieren. Eine Diskussion wird dann zum Diskurs, wenn es sich inhaltlich um eine Problematisierung von Argumenten handelt. Solch eine Situation tritt ein, sobald das in die Diskussion eingebrachte Wissen Widerspruche enthalt und die verschiedenen Argumente auf ihre Voraussetzungen hin untersucht werden miissen. Widerspruche konnen in dem Zusammenhang innerhalb einer Datenquelle oder zwischen verschiedenen Datenquellen auftreten. Ziel eines solchen Diskurses ist immer die Erzielung eines neuen Konsenses fur den Umgang mit solchen Widerspriichen und daraus resultierend Empfehlungen fur das praktische Handeln in der Gesellschaft.^' 3.3.5 Probleme und Risiken der Aktionsforschung Insgesamt miissen an dieser Stelle auch die Schwierigkeiten und Risiken im Rahmen eines Aktionsforschungsprozesses abgewogen werden. Einerseits eroffnet die Aktionsforschung programmatisch neue Forschungsspielraume, andererseits lasst sie allerdings auch methodologische Grauzonen offen, die sie der Gefahr eines Methodenanarchismus („anything goes") ausliefem. Aktionsforschung als angewandte Forschungsmethodik enthalt daher sowohl we-

Vgl. Moser 1977, S. 66. Vgl. Moser 1977, S. 74.

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3.3 Aktionsforschung - Reflexivitat zwischen Prozess und Ziel

sentliche Chancen als auch Probleme bzw. Risiken, deren sich der Forscher im Einzelnen bewusst sein muss und die er bei der Auswertung und Interpretation seiner Ergebnisse nie vernachlassigen darf. Ein erstes Problem ergibt sich aus der entsprechenden Neuzuordnung der Handlungs- und Forschungsakte. Haag et al. bekennen: „Damit andert sich die Forschung von Grund auf. Forschung ist hier als Strukturierungsleistung in den KommunikationsprozefitiberArbeitsund Lernprozesse eingebunden. Aktionsforschung wird zu einem Erkenntnisprozefi in einem Herstellungsprozess. "^^. Es geht nicht darum, theoretisches Wissen dem Forschungsobjekt als wahr zu oktroyieren. Aufgabe des Forschers ist es, zur Erkenntnisgewinnung des wahren Wissens durch Bestehen im erfolgreichen Handeln hinzufuhren. Aktionsforschung ist dann erfolgreich, wenn eine „Synthese aus dialogischer Erkenntnisproduktion und praktischer Umsetzung der gemeinsam erworbenen Erkenntnisse" ^^ erreicht wurde. Das heiBt: „Die Legitimation von Aktionsforschung bemisst sich an der Frage, ob es ihr gelingt, den Lern/Erkenntnisprozess des Forschers als veranderndes Moment in das Handeln der Erforschten zuriickzuvermitteln oder nicht. "^. Daran schlieBt direkt die zweite Frage an, ob ein Wissenschaftler, welcher aufgrund seiner Auswahl des Forschungsobjektes dieses innerhalb der Aktionsforschung selbst zum Subjekt macht, nicht von vomherein einen Informationsvorsprung gegeniiber dem Forschungssubjekt und dadurch eine gewisse Uberlegenheit besitzt und die Gleichstellung von Forscher und Beforschtem im Prozess nicht mehr moglich ist. Damit verbunden ist die Gefahr der Manipulation des Beforschten, wenn die Projektinitiative vom Forscher ausgeht und dadurch seine Analyseinteressen gegeniiber der wirklichen Losung des praktischen Problems im Vordergrund stehen."' Deshalb ist es wichtig, gleich zu „[...] Beginn der Kooperation eine ehrliche und offene Auseinandersetzung um die Ziele und Inhalte jeweiliger Projektvorhaben zwischen Wissenschaftlern und Praktikern "^ zu suchen. Kompetenzen und Interessen aller Beteiligten fur den gesamten Projektverlauf sollten gesammelt und abgestimmt werden. Auf diese Weise konnen bestehende Divergenzen (z. B. Wissen und Erfahrungen) als Folge unterschiedlicher Sozialisation und Rollen Stuck fur Stuck verringert werden.^^ Ein drittes Risiko wird durch den Versuch, die Umgebung fur einen herrschaftsfreien Dialog zwischen Forscher und Beforschten zu schaffen, hervorgerufen, da die gesellschaflliche Wirklichkeit auBerhalb des Forschungsprozesses durch Biirokratisierung, hierarchische Kommunikation und Aufrechterhaltung von Macht gekennzeichnet ist. Man kann solche Strukturen nicht einfach im Gesprach ausblenden bzw. wegdiskutieren.^* Auch der Prozess der Aktionsforschung ist, wie jede andere Forschung auch, in die sozialen Bedingun"2 ^^ ^