Lektureschlussel: Jakob M. R. Lenz - Der Hofmeister 3150154057, 9783150154052 [PDF]


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Buchcover......Page 1
Lektüreschlüssel: Jakob M. R. Lenz - Der Hofmeister......Page 2
Impressum......Page 3
Inhalt......Page 4
1. Erstinformation zum Werk......Page 5
2. Inhalt......Page 7
3. Personen......Page 16
4. Werkstruktur......Page 24
5. Wort- und Sacherläuterungen......Page 27
6. Interpretation......Page 41
7. Autor und Zeit......Page 51
8. Rezeption......Page 61
9. Checkliste......Page 64
10. Lektüretipps/Filmempfehlungen......Page 67
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Lektureschlussel: Jakob M. R. Lenz - Der Hofmeister
 3150154057, 9783150154052 [PDF]

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Zitiervorschau

Georg Patzer Lektüreschlüssel Jakob M. R. Lenz Der Hofmeister

Reclam

LEKTÜRESCHLÜSSEL FÜR SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER

Jakob Michael Reinhold Lenz

Der Hofmeister Von Georg Patzer

Philipp Reclam jun. Stuttgart

Dieser Lektüreschlüssel bezieht sich auf folgende Textausgabe: Jakob Michael Reinhold Lenz: Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung. Stuttgart: Reclam, 1963, 2002 [u. ö.]. (Universal-Bibliothek. 1376.)

Alle Rechte vorbehalten © 2009, 2010 Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen Made in Germany 2010 RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart ISBN 978-3-15-950459-9 ISBN der Buchausgabe 978-3-15-015405-2 www.reclam.de

Inhalt 1. Erstinformation zum Werk 2. Inhalt

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3. Personen

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4. Werkstruktur

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5. Wort- und Sacherläuterungen 6. Interpretation 7. Autor und Zeit 8. Rezeption

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9. Checkliste

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10. Lektüretipps/Filmempfehlungen

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1. Erstinformation zum Werk Wie die meisten Werke von Jakob Michael Reinhold Lenz ist auch Der Hofmeister autobiographischer Natur. Schon während seines Studiums war Autobiographischer Lenz ein halbes Jahr als Hofmeister – als Hintergrund Erzieher der Kinder in einem fremden Haus also – tätig. Im Frühjahr 1771 reiste er mit den Brüdern von Kleist als ihr ›Gesellschafter‹ von Livland bis nach Straßburg. Auch nach seiner Trennung von ihnen musste er sich zeitweise als Privatlehrer durchschlagen. Geboren am 23. Januar 1751 in Seßwegen (Causvaine) / Livland als Sohn eines streitbaren Pfarrers, sollte auch Lenz Theologe werden. Er hörte Vorlesungen in Königsberg, unter anderem bei Kant, und las die Bücher der englischen Moralphilosophen Shaftesbury und Hume und der damals populären Autoren Shakespeare, Milton und Pope. In Straßburg, wo er sich dem Sturm-und-Drang-Kreis anschloss, schrieb er seine wichtigsten Werke. Von Goethe gefördert, entstanden in schneller Folge Lustspiele nach dem Plautus, Der Neue Menoza und Der Hofmeister, sein erstes großes Stück. Darin hat er seine programmatischen Anmerkungen übers Theater umgesetzt. Anlass des Stücks war ein Skandal in einem Nachbarhaus in Livland: Ein Hofmeister hatte sich in die Tochter des Hauses verliebt und sie verführt. Der Name der Familie: Berg, wie in Lenz’ Stück. Im Hofmeister verarbeitete Lenz auch seine eigenen Erfahrungen in Königsberg und Straßburg, außerdem schildert er das Studentenleben aus erster Hand. Noch in der überlieferten handschriftlichen Fassung von 1772 tragen viele Per-

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sonen die Namen von Kommilitonen, der Lautenlehrer Rehaar heißt noch Reichardt, wie Johann Reichard, Musiklehrer in Königsberg, Pätus heißt noch Pegau, wie ein Bekannter und späterer Schwager von Lenz. Lenz schickte das Manuskript an mehrere Verleger; auch einigen Freunden ließ er es zukommen. Über einen von ihnen bekam es Goethe, der es wohl 1773 an den Verleger Weygand vermittelte, einen der führenden Verleger des Sturm und Drang. 1778 wurde Der Hofmeister in Hamburg aufgeführt, später auch in Berlin und Mannheim. Die Kritik war begeistert, und man hielt Goethe für den Autor des 1774 zunächst anonym erschiePlötzliche nenen Stücks. Lenz wurde mit einem Schlag Berühmtheit berühmt, das Stück wurde nachgedruckt und sogar noch zu seinen Lebzeiten ins Dänische übersetzt. Über 15 Rezensionen erschienen zu dem Werk, die meisten lobend bis begeistert. Der Hofmeister übte einen großen Einfluss auf die zeitgenössische Dramatik aus (der Dramatiker Friedrich Maximilian Klinger plagiierte es sogar in seinem Drama Das leidende Weib [1775]), blieb aber das einzige zu Lebzeiten des Autors aufgeführte Drama.

2. Inhalt Das Drama spielt in Ostpreußen und in Sachsen. Die ostpreußischen Schauplätze sind: die Kreisstadt Insterburg; der wohl fiktive Ort Heidelbrunn, das bei Insterburg liegt; und Königsberg (heute Kaliningrad). In Sachsen spielen die Szenen in den Universitätsstädten Halle a. d. Saale und Leipzig. Die Handlung wechselt sehr häufig von einem Schauplatz zum anderen.

Erster Akt Der erste Akt spielt »zu Insterburg« (5). 1. Läuffer ist aus der Not heraus Hofmeister geworden. Sein Vater sagt, er sei nicht tauglich zum Adjunkt (Hilfspastor) – Läuffer selbst meint, dass sein Vater für die Kosten einer solchen Stelle nicht aufkommen will –, und bei der Schule ist er vom Geheimen Rat nicht angenommen worden. 2. Der Geheime Rat und sein Bruder, der Major, erörtern den Sinn eines Hofmeisters. Der Major ist sich offenbar nicht im Klaren darüber, wozu Sinn eines Hofmeisters sein Sohn erzogen werden soll. Er weiß nur, dass sein Sohn, wie einst er selbst, eine militärische Laufbahn einschlagen soll. Der Geheime Rat hält diesen Wunsch für nicht mehr zeitgemäß. 3. Läuffers Tanzkünste und seine Französischkenntnisse werden von der Majorin auf die Probe gestellt. Graf Wermuth, der an Gustchen, der Tochter des Hauses, interessiert ist, tritt ein und beginnt ein Gespräch über die Tanzkunst.

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Als Läuffer mitreden will, wird er von der Majorin zurechtgewiesen: Bedienstete dürfen in Gesellschaft von Standespersonen nicht mitreden. 4. Der Major unterbricht Läuffer, der gerade dabei ist, Leopold, den Sohn des Majors, zu unterrichten. Der Major ist herrschsüchtig seinem Sohn gegenüber, der bald abtritt. Die beiden unterhalten sich über das Gehalt Läuffers, der mit den regelmäßigen Kürzungen unzufrieden ist. Der Major kommt auf seine Tochter Gustchen zu sprechen und lobt ihre Schönheit. Sie habe zudem eine Schwäche für Bücher und Trauerspiele. Läuffer soll ihr das Zeichnen beibringen. Zum Schluss warnt der Major, er werde demjenigen, der seiner Tochter zu nahe kommt, eine Kugel durch den Kopf jagen. 5. Fritz von Berg, der Sohn der Geheimen Rats, verabschiedet sich von Gustchen, die zu ihrer Familie nach Heidelbrunn zurückkehrt. Sie spielen dabei Romeo und Julia auf die Liebenden Romeo und Julia an – auch der Werber Graf Wermuth wird mit einer Figur aus Shakespeares Stück verglichen. Fritz siezt Gustchen zunächst, nach einer Umarmung kommt es aber zum Du und zu einem Liebesversprechen: Fritz will nach drei Jahren an der Universität Gustchen zur Frau nehmen; Gustchen will keinen anderen außer Fritz heiraten. 6. Fritz’ Vater, der Geheime Rat, erwischt die beiden beim feierlichen Liebesbekenntnis und mahnt sie zur Vernunft, denn sie hätten keine Ahnung, was ein Schwur wirklich bedeute. Er verbietet den weiteren Kontakt und erlaubt lediglich einen offenen Briefwechsel. Zugleich hat er Verständnis für die beiden und wünscht sich, dass Gustchens Eltern etwas vernünftiger wären und die Verbindung zuließen.

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Zweiter Akt 1. Insterburg. Der Geheime Rat und der Pastor Läuffer führen ein lebhaftes Gespräch über die Vor- und Nachteile von Hauslehrern. Der Geheime Rat hält das Hofmeisterdasein des jungen Läuffer für ungünstig, denn dadurch verliere er in der engen Welt des fremden Haushalts seine Freiheit. Er ist Verfechter der Hofmeister – ein überflüssiger öffentlichen Schulen und meint, es müsste in Beruf? der Welt überhaupt keine Hauslehrer geben. Sinnvoller sei es, wenn die Adligen ihr Geld in die Finanzierung öffentlicher Anstalten einfließen ließen. Es sei sogar schädlich für junge Adlige, einen Hofmeister zu haben, der für jeden Wunsch zur Verfügung steht. Dem Pastor ist das Gespräch unangenehm, er will fort. Er fragt jedoch an, ob der Geheime Rat seinen zweiten Sohn beim Major unterbringen möchte, was für Läuffer finanzielle Vorteile mit sich brächte. Der Rat lehnt entschieden ab. Zum Schluss überreicht der Pastor dem Geheimen Rat einen Brief, in dem sich Läuffer über die Verhältnisse in Heidelbrunn beschwert. Auch dies kann den Geheimen Rat nicht dazu bewegen, seinen Sohn dorthin zu schicken. Läuffer solle lieber kündigen und sich etwas anderes suchen. 2. Heidelbrunn. Läuffer ist zutiefst unglücklich, was Gustchen nicht entgangen ist. Sie bemitleidet ihn. 3. Halle. Fritz von Berg, zum Studium in Halle, sehnt sich nach Gustchen. Sein Freund Pätus will ihn aufmuntern und wundert sich, dass Fritz seit Beginn seines Aufenthalts mit keinem einzigen Mädchen gesprochen hat. Der Student Bollwerk tritt auf und berichtet vom Eintreffen einer Theatertruppe. Lessings Minna von Barnhelm wird aufgeführt. Alle wollen ins Theater, auch Pätus, obwohl er keinen geeig-

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neten Rock hat. Fritz, der das Stück unbedingt sehen will, und Bollwerk ziehen gemeinsam fort. Pätus wirft sich einen Wolfspelz über und macht sich ebenfalls auf den Weg. 4. Zwei Frauen unterhalten sich über das Spektakel, das Pätus bei der großen Hitze im Der Mensch im Wolfspelz Wolfspelz geboten hat. Drei Hunde seien ihm hinterher gewesen, er sei – hochrot im Gesicht – davongelaufen. 5. Heidelbrunn. Gustchen und Läuffer haben sich verliebt und beklagen ihr Schicksal, denn eine Verbindung sei unter anderem wegen des Adelsstolzes ihrer Familie unmöglich. Gustchen, die schwanger ist, nennt Läuffer Romeo und macht weitere Anspielungen auf das Schicksal Romeos und Julias. Läuffer spielt seinerseits auf den Gelehrten Abälard an, der ebenfalls eine Schülerin veführte und dafür schwer bezahlen musste. 6. Der Major macht sich um seine Tochter Sorgen, vor allem weil sie in ihrem derzeitigen gesundheitlichen Zustand – sie ist blass, hager und weinerlich – keine gute Partie mehr darstellt. Von ihrer Schwangerschaft ahnt er nichts. 7. Halle. Fritz befindet sich in Haft, weil er für den verschuldeten Pätus gebürgt hat. Bollwerk und Herr von Seiffenblase wundern sich sehr über Fritz’ Blauäugigkeit. Fritz’ Vertrauen in Pätus ist jedoch unerschütterlich. Pätus tritt auf, verzweifelt. Sein Vater habe ihn nicht empfangen wollen. Er will sich umbringen.

Dritter Akt 1. Heidelbrunn. Der Major ist sehr bedrückt wegen seiner Tochter. Der Geheime Rat will ihn beruhigen. Die Majorin stürzt herein mit der Nachricht von Gustchens Schwanger-

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schaft. Die Familie sei verloren. Der Major ist verzweifelt und will in seiner Wut sofort handeln. Der Geheime Rat sperrt ihn jedoch ein und will erst einmal alles untersuchen. 2. Die Schule im Dorf Heidelbrunn. Läuffer sucht Zuflucht beim Schulmeister Wenzeslaus. Graf Wermuth stürzt mit einigen bewaffneten Bediensteten herein und fragt nach dem Hofmeister Läuffer, der sich in einer Kammer versteckt hält. Wenzeslaus gelingt es, die Gruppe aus dem Haus zu werfen. 3. Heidelbrunn. Der Geheime Rat erfährt von Seiffenblase und dessen Hofmeister Näheres über das Schicksal seines Sohnes und beklagt das Schicksal seiner Familie. Er fragt sich, ob er für die Ausschweifungen seiner Jugend bestraft wird. 4. Die Schule im Dorf Heidelbrunn. Wenzeslaus beschreibt sehr ausführlich sein Dasein als Ansichten eines Schulmeister und seinen Lebenswandel. Schulmeisters Durch Disziplin, einen geregelten Tagesablauf sowie Tabakgenuss hält er seine Begierden im Zaum. Läuffer hört nicht ohne Ernüchterung zu.

Vierter Akt 1. Insterburg. Der Major und der Geheime Rat verzweifeln beide an ihrer Familie. Der Major will fliehen, hofft aber gleichzeitig, seine Tochter wiederzusehen. Der Sohn des Geheimes Rats, Fritz, ist mittlerweile wieder auf freiem Fuß, denn ein Professor ist für die ausstehende Summe aufgekommen. Der Major will Graf Wermuth sprechen, dem er vorwirft, sich bei der Verfolgung Läuffers nicht genug Mühe gegeben zu haben.

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2. Gustchen hat vor zwei Tagen ihr Kind geboren und lebt in ärmlichen Verhältnissen bei einer blinden alten Frau im Wald; Sie will trotz der Bedenken der alten Frau die Bettlerhütte verlassen und ins Dorf gehen, um ihrem Vater eine Nachricht zukommen zu lassen. 3. Die Schule im Dorf Heidelbrunn. Läuffer lebt mittlerweile seit einem Jahr beim Schulmeister Wenzeslaus. Nun stürmen plötzlich seine Verfolger hinein. Der Major schießt auf ihn und verletzt ihn dabei leicht. Läuffer kann dem Major keine Nachricht von seiner Tochter geben, worauf der Major bereut, ihn nicht gleich getötet zu haben, und davonläuft. Der Geheime Rat wirft Läuffer einen Beutel voller Geld zu, bevor die Gruppe wieder den Raum verlässt. Ein Wundarzt wird geholt. 4. Gustchen ist am Ende ihre Kräfte und wirft sich in einen Teich; der Major, der dies zufällig sieht, springt ihr hinterher. 5. Der Major hat seine Tochter gerettet. Die beiden verzeihen sich gegenseitig. Der Major Der Major rettet seine Tochter behauptet aber, Läuffer erschossen zu haben. Er trägt seine Tochter fort, glücklich darüber, dass er sie tatsächlich wiedergefunden hat. 6. Leipzig. Pätus ist am Abend vorher zum Fenster eines Mädchens hineingestiegen. Der Vater des Mädchens, der Musiker Rehaar, sieht sich und seine Familie entehrt. Bei ihrer Auseinandersetzung schlägt ihm Pätus ins Gesicht. Rehaar droht damit, den Vorfall beim Hochschulrektor zu melden. Fritz will Pätus zur öffentlichen Abbitte zwingen. Pätus weigert sich, und Fritz fordert ihn zum Duell, um Genugtuung für den beleidigten Rehaar zu bekommen.

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Fünfter Akt 1. Die Schule im Dorf Heidelbrunn. Läuffer begegnet Marthe, der blinden Frau, die sich um Gustchen gekümmert hat und sich in ihrer VerLäuffer und sein Kind zweiflung in die Schule begeben hat. Sie trägt ein Kind auf dem Arm. Läuffer nimmt das Kind auf seinen Arm und tritt vor einen Spiegel: Er erkennt sein eigenes Kind und fällt in Ohnmacht. 2. Ein Wäldchen vor Leipzig. Das Duell zwischen Fritz und Pätus kommt nicht zustande, da Pätus von seinem Freund keine Satisfaktion will. Stattdessen stößt Rehaar nach Pätus und verletzt ihn am Arm. Pätus bittet anschließend um Verzeihung – und um die Tochter Rehaars, der nun gegen eine solche Verbindung nichts einzuwenden hat. 3. Die Schule im Dorf Heidelbrunn. Läuffer hat sich kastriert. Wenzeslaus, der vor allem an Läuffers Seelenheil denkt, beglückwünscht ihn dazu, denn er versteht Läuffers Beweggründe (Reue und Verzweiflung) nicht. 4. Leipzig. Von Rehaar erhält Fritz einen Brief. Er erzählt von Seiffenblase, der früher bei Rehaar Musikstunden genommen hat und sich nun in Königsberg aufhält. Rehaar berichtet, Seiffenblase wohne Rehaars Tochter gegenüber, der er viel Aufmerksamkeit entgegenbringt und die er offenbar zu seiner Mätresse machen will. Fritz bittet Rehaar darum, Pätus nichts davon zu sagen, und geht, den ungeöffneten Brief in der Hand, davon. 5. Königsberg. Der Geheime Rat und Gustchen beobachten vom Fenster aus, wie Herr von Seiffenblase das Haus verlässt, in dem die Rehaar wohnt. Er lässt den Kopf hängen. Der Geheime Rat und Gustchen vermuten, dass er

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von der Tante der Jungfer Rehaar eine Abfuhr bekommen hat. 6. Leipzig. Pätus liest den Brief vor, in dem Seiffenblase vom angeblichen Tod Gustchens berichtet. Fritz gibt sich selbst die Schuld an ihrem Tod, denn er hat sein Versprechen nicht eingehalten. Die beiden wollen nach Hause reisen, können sich die Reise aber nicht leisten. Pätus will zur Lotterie in der Hoffnung, etwas gewonnen zu haben. 7. Königsberg. Gustchen und Rehaar lernen sich kennen. Der Geheime Rat berichtet, die Tante der Rehaar habe Seiffenblase tatsächlich des Hauses verwiesen. Der Major ist frustriert, dass er die alte Frau, von der ihm Wenzeslaus in einem Brief berichtet hat, nicht finden kann. 8. Leipzig. Pätus hat tatsächlich einen großen Lotteriegewinn gemacht und jubelt, dass Ein glücklicher Zufall er seine Schulden begleichen kann. Er will sofort nach Insterburg aufbrechen – gemeinsam mit Fritz. 9. Die Schule im Dorf Heidelbrunn. Wenzeslaus fragt Läuffer, ob ihm die Predigt, die er soeben gehalten hat, gefallen hat, aber Läuffers Aufmerksamkeit hat nicht den Worten Wenzeslaus’, sondern einem hübschen Mädchen gegolten, das er aus seiner Kinderlehre kennt. Wenzeslaus weist darauf hin, dass Läuffer gar nicht die Mittel habe, um das Mädchen zu befriedigen. 10. Lise, das Mädchen, das Läuffer während der Predigt angestarrt hat, schaut vorbei, um nachzufragen, ob am nächsten Tag die Kinderlehre stattfindet oder nicht. Läuffer lobt ihre Schönheit und fragt nach, ob jemand schon um ihre Hand angehalten habe. Er fragt, ob sie ihn annähme; sie bejaht. Sie küssen sich. Wenzeslaus tritt herein und ist zunächst entrüstet, dass Läuffer das Mädchen küsst. Läuffer

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erklärt, dass sie heiraten wollen. Wenzeslaus hält eine kinderlose Ehe für ein Unding, aber Lise stört es gar nicht, wenn in der Ehe tierische Triebe nicht gestillt werden. Läuffer, überglücklich, küsst sie noch einmal. Die beiden wollen zu Lises Vater gehen. 11. Insterburg. Fritz und Pätus kommen in Insterburg an. Fritz und sein Vater, der Geheime Rat, versöhnen sich. Der Geheime Rat hat einige Überraschungen parat: Pätus wird zu Rehaar, Fritz zu Gustchen geführt. Letzte Szene. Der Major ist überglücklich, denn der alte Pätus hat ihm sein Enkelkind gebracht. Die alte blinde Frau ist in Wahrheit die Mutter des alten Pätus, die er vor vielen Jahren wegen einer Erbstreitigkeit verstoßen hat. Der alte Pätus schämt sich für seine Vergangenheit, will aber alles wiedergutmachen. Der GeVersöhnung zum Schluss heime Rat meldet dem Major, es gebe einen, der um die Hand seine Tochter wirbt. Er führt ihn zu Fritz. Der Major ist überglücklich. Fritz will Gustchens Kind annehmen wie das eigene. Der alte Pätus wird mit seinem Sohn vereint, der ihm die Kosten für Erziehung und Studium zurückzahlen kann, sogar mit Zinsen. Fritz verspricht zum Schluss, den Jungen, in dessen Gesicht er Gustchen erkennt, niemals durch Hofmeister erziehen zu lassen.

3. Personen Der Titelheld des Stücks ist Läuffer, der Hofmeister, aber ebenso wichtig ist die Liebesgeschichte zwischen Gustchen und Fritz. Um die beiden Paare Läuffer – Gustchen und Fritz– Gustchen gruppieren sich Gustchens Eltern, Fritz’ Vater, sein Freund Pätus und der Schulmeister Wenzeslaus. Im Hintergrund agieren Graf Wermuth und Seiffenblase, Rehaar und seine Tochter, Pätus’ Mutter und Lise. Außerdem gibt es eine Reihe von Personen, die auftauchen und wieder verschwinden. Sie wirken oft nur wenig individuell, sondern eher als Vertreter ihres Standes. Einige von ihnen werden so überzeichnet, dass sie fast zu Karikaturen werden. Die meisten Figuren haben sprechende Namen: Der Name ›Läuffer‹ verweist auf seine Sprechende Namen Dienstbotenstellung und erinnert an seine sexuelle Getriebenheit (»läufig«). ›Seiffenblase‹ spielt auf das Verblasene des Adels an. ›Pätus‹ (aus dem Lateinischen: »verliebt blinzelnd«) ist ein eher versteckter Hinweis auf Liebe und Sexualität. ›Rehaar‹ lässt an das Unmännliche des Vaters und das Unschuldige der Tochter, Graf ›Wermuth‹ an den Alkohol denken. Läuffer ist ein junger Theologe ohne kirchliches Amt. Seine Situation erläutert er in einem Monolog, der das Stück eröffnet: Als Helfer eines älteren Pfarrers kann er nicht arbeiten, weil ihm der Vater keine Stelle kaufen kann, als Pastor ist er zu jung und als normaler Lehrer kann er nicht arbeiten, weil der Geheime Rat ihn nicht für fähig hält. Gleichzeitig zeigt er sich schon am Anfang unterwürfig,

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naiv und zugleich überheblich. Vom Major lässt er sich den versprochenen Lohn immer weiter kürzen und von seinem Schüler hat er einmal eine Ohrfeige bekommen. Läuffer macht seinem Namen alle Ehre: Immer läuft er davon. Nie ist er Herr der Situation. Eher unfreiwillig wird er Hofmeister. Wie es scheint, verführt die Tochter des Hauses ihn, jedenfalls schmachtet sie ihn als Romeo an (35). Als die Familie von der Verbindung und von der Schwangerschaft erfährt, muss er fliehen. Wenn ihn Wenzeslaus nicht beschützt hätte, wäre er von Graf Wermuth vermutlich erstochen worden. Auch auf der Flucht zeichnet sich Läuffers VerLäuffers Passivität halten durch Passivität aus: Seine Selbstkastrierung ist keine überlegte Handlung, sondern eine Kurzschlussreaktion aus »Reue, Verzweiflung« (74). Er hofft, dass er dadurch geläutert wird. Aber als er später Lise trifft, verliebt er sich. Wenzeslaus spricht das endgültige Urteil über ihn: »Das müsst ein ganz andrer Mann sein, der aus Absicht und Grundsätzen den Weg einschlüge, um ein Pfeiler unsrer sinkenden Kirche zu werden« (89 f.). Gustchen, eigentlich Auguste, ist eine typische Tochter aus besserem Hause. Ihre Erziehung besteht aus Romanlektüre, Religions- und Eine weltfremde Tochter aus Zeichenunterricht. Romane und Theaterbesserem Hause stücke haben einen großen Einfluss auf sie und verführen sie zu einem romantischen Leben fern der Realität. So spricht sie Läuffer als »Romeo« (35) an, nachdem sie schon Fritz gesagt hat, sie sei seine Julia (14). Von ihrer weiteren Lektüre wird bezeichnenderweise Rousseaus Die neue Heloise von 1761 genannt, die

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von einer Liebesbeziehung zwischen einem Lehrer und einer Schülerin erzählt. Auch im weiteren Verlauf ist Gustchen eine eher unglaubhafte Figur. Sie bekommt ein Kind, flieht in die Wälder und will sich ertränken. Glücklicherweise geht sie erst ins Wasser, als ihre Retter schon zur Hand sind. Fritz von Berg ist die zweite männliche Hauptrolle. Während Läuffer einen sozialen Abstieg hinEin Mensch, der nehmen muss, bleibt sich Fritz treu. Er ist ein das Richtige tut unschuldiger, etwas naiver, aber doch guter Mensch. Er ist in Gustchen verliebt. Sie schwören sich Liebe, aber er muss zum Studieren nach Halle und Leipzig. Dort geht er für seinen Freund Pätus sogar vertrauensvoll ins Gefängnis. Er redet ihm ins Gewissen, dass er keinen guten Umgang mit Frauen hat. Als sich Pätus über Herrn Rehaar aufregt, versucht Fritz, ihn zu beruhigen. Auf seine Professoren macht Fritz offenbar so einen guten Eindruck, dass einer sogar für ihn bürgt. Gustchen bleibt er treu und wird sogar melancholisch, weil er sie nicht sehen darf. Ihr Schicksal und vor allem die Nachricht von ihrem angeblichen Tod erschüttern ihn, und er gibt sich die Schuld, weil er zwar geschworen hat, zurückzukehren, es aber nicht getan hat. Am Schluss trifft er Gustchen wieder, die inzwischen ein Kind von Läuffer hat. Er verzeiht ihr, will sie heiraten und auch das Kind annehmen. Pätus ist Fritz’ bester Freund. Er geht gerne mit Mädchen aus, hat sich in Halle allerdings finanziell übernommen, weswegen er fliehen muss. Eigentlich ist er ein gutmütiger Kerl, nur ein wenig aufbrausend: Einmal verlangt er einen

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Degen, um sich zu erstechen, und später ohrfeigt er Rehaar, als der ihm Vorwürfe macht. Am Schluss kann Pätus durch einen Lotteriegewinn alles wieder gutmachen und sogar das unschuldige Mädchen, das er entehrt hat, heiraten. Der verschrobene Lehrer Wenzeslaus hat eine eigenartige Sonderrolle. Er ist ein eigenständiger, wenn auch skurriler Charakter. Brille und Lineal deuten auf seine Gelehrsamkeit, aber auch auf seine Obsession durch Zucht und Ordnung hin. Auch er ist, wie viele andere, auf seinen Bereich beschränkt. Auf die Aufgeregtheit Läuffers reagiert er zunächst überhaupt nicht. Dennoch versteckt er ihn und verteidigt ihn gegen den Grafen. Hier zeigt sich Wenzeslaus selbstbewusst und wehrhaft gegen die Zumutungen des Adels. Er ist ein kritischer und aufgeklärter Bürger, der trotzdem an der Religion hängt. Allerdings ist er kein Freiheitskämpfer, sondern kümmert sich um seinen privaten Bereich. So versorgt er den verletzten Läuffer, gibt ihm Schutz, bringt ihn dazu, ihm in der Schule zu helfen, und sorgt sich um ihn. Wenzeslaus’ Lebenswandel entspricht eiDer asketische ner Doktrin, die er sich aus der Bibel und Pedant dem christlichen Glauben zurechtgebastelt hat: die asketische Selbstbescheidung. Der Geheime Rat von Berg ist der IntelEin selbstbewusslektuelle des Stücks, überlegen, rational ter Intellektueller und kritisch. Schon in der zweiten Szene fragt er seinen Bruder, warum er einen Hofmeister einstellt und was sein Sohn lernen soll. Der Major bleibt die Antwort schuldig. Der Geheime Rat ist verantwortlich dafür, dass Läuffer vom Schuldienst ausgeschlos-

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sen wird, daher ist es verständlich, dass Läuffer ihn fürchtet: Er sei »ein Pedant und dem ist freilich der Teufel selbst nicht gelehrt genug« (5). Als er mitbekommt, dass sein Sohn einen Liebesschwur geleistet hat, fragt er ihn streng rational aus, statt die romantische Situation als solche zu betrachten. Seine Forderung lautet: »Denk doch!« (17). Mit seiner Predigt und der Drohung, dass man ihn unter die Soldaten und sie in ein Kloster stecken wird, verängstigt er die beiden. Indem er ihnen dann den vertrauten Umgang verbietet, treibt er Gustchen in die Arme von Läuffer. Scharf verurteilt der Geheime Rat die feudalen Gesellschaftszustände. Er fordert grundlegende Reformen, ein für alle offenes Bildungssystem und soziale Gleichheit. Er ist allerdings auch skeptisch, was die Durchsetzbarkeit betrifft. Die Schuld am Schulsystem schiebt er auf die Hofmeister: Wenn es sie nicht gäbe, müssten die Adligen ihre Söhne auf die öffentlichen Schulen schicken. Er wendet sich auch gegen die Adligen, die ihre Grenzen überschreiten, und gegen Seiffenblase, der ein Bürgermädchen zu seiner Mätresse machen will. Der Geheime Rat ist die einzige Person im Stück, die nicht triebgesteuert ist. Er hält seinen Bruder zurück, als der cholerisch wird, und versucht, mäßigend auf ihn einzuwirken. Seine Bemühungen bleiben jedoch ohne Erfolg: »Wenn doch der Major vernünftiger werden wollte, oder seine Frau weniger herrschsüchtig!« (18). Den Hofmeister bedauert er: »Ohne Freiheit geht das Leben bergab rückwärts, Freiheit ist das Element des Menschen wie das Wasser des Fisches« (20). Damit nimmt er das schlechte Ende vorweg. Dabei ist er aber kein kalter Intellektueller, sondern voller Mitleid mit Läuffer. Einmal verbindet er ihm sogar

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eine Wunde und gibt ihm Geld. Am Schluss der Stücks ist er es, der die Liebenden zusammenführt und den allgemeinen Frieden herstellt. Major von Berg ist der Typus eines aufbrausenden, groben und nicht ernstzunehmenden Soldaten. Er ist intellektuell dumpf, seine ArguEin dumpfer Soldat mente sind die Lautstärke, seine Gewalt über seine Untergebenen, zu denen auch sein Sohn gehört, und das Festhalten an der Tradition, ganz gleich, wie sie beschaffen ist. Auf die Frage seines Bruders, des Geheimen Rats, was der Hofmeister seinem Sohn beibringen solle, kann er nur stottern: »Dass er – was ich – dass er meinen Sohn in allen Wissenschaften und Artigkeiten und Weltmanieren – Ich weiß auch nicht, was du immer mit deinen Fragen willst; das wird sich schon finden« (6). Er bedroht und schlägt seinen Sohn; seine Tochter verwöhnt er. Er hat einen begrenzten Horizont: Er will seine Pflicht tun und seinem König dienen, alles andere ist ihm gleichgültig. Seine Starrheit und aufbrausende Art machen ihn unfähig, rational zu handeln. Andererseits ist er durchaus fähig, Fehler einzusehen, zu bereuen und zu versuchen, Unrecht wieder gutzumachen. Letztlich hat er ein gutes Herz. Neben Fritz ist er die einzige Person, die im Laufe der Handlung eine Entwicklung durchmacht. Von einem Menschen, der seine Tochter liebt, sie aber nicht richtig zu erziehen vermag, wird er zu einem Menschen, der seine Fehler einsieht und sich bessert. Am Schluss denkt er sogar noch an das kleine Kind, das versorgt werden muss.

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Majorin von Berg, die Frau des Majors, hält nichts von den Domestiken und will nur mit Adligen verkehren. So weist sie Läuffer in die Schranken, als der dem Grafen widerspricht, und behandelt ihn schlecht. Außerdem verkörpert sie die böse Mutter gegenüber Gustchen. Vom Geheimen Rat wird sie als herrschsüchtig und dumm charakterisiert. Dabei ist sie stärker als ihr Mann. Nach nur wenigen Szenen verschwindet sie aus dem Stück. Graf Wermuth und von Seiffenblase bleiben als Personen blass. Sie verkörpern nur den dummen, eingebildeten Adligen, der kein echtes Selbstbewusstsein hat und nur wenig wirkliche Kenntnisse. Der Graf bringt Gustchen viel Aufmerksamkeit entgegen, aber die wirklichen Probleme des Majors oder der Tochter interessieren ihn nicht. Als er Läuffer verfolgt, Adlige und ihre Grenzen behandelt er Wenzeslaus herabwürdigend, lässt sich aber dann von ihm hinauswerfen. Von Seiffenblase ist genauso schlicht und gefühllos: An die Freundschaft glaubt er offenbar nicht, denn er lehnt es ab, für Pätus zu bürgen. Was der Graf mit Gustchen vorhat, versucht von Seiffenblase bei Jungfer Rehaar. Auch er stößt dabei an seine Grenzen. Von einer Bürgersfrau wird er des Hauses verwiesen, weil er öffentlich gesagt hat, dass er ihre Nichte zur Mätresse machen will. Rehaar als Musiklehrer ist neben Wenzeslaus die zweite Lehrerfigur. Während Wenzeslaus selbstbewusst ist und sich auch gegen Adlige wehrt, hat Rehaar Angst und sagt seine Meinung lieber nicht offen. Er ist ein gutmütiger Mensch, der den adligen Jungen Geld leiht, und hat immer wieder Probleme, es zurückzubekommen. Als Pätus

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seine Tochter entehrt, droht er mit der Obrigkeit; als Pätus ihn ohrfeigt, weint er und läuft davon. In Ein misslungenes einem Wald kommt es zu einem skurrilen Duell Duell, in dem Rehaar Pätus verletzt, der sich daraufhin entschuldigt und ihm verspricht, seine Tochter zu heiraten. Damit sind sie versöhnt. Jungfer Rehaar ist ein unschuldiges Mädchen, das im Stück vor allem die Rolle spielt, den dreisten Annäherungsversuchen des Adligen Seiffenblase ausgesetzt zu werden, um dann ihr Glück bei Pätus zu finden. Damit soll die Verworfenheit des Adels demonstriert werden.

4. Werkstruktur Wie viele seiner Zeitgenossen hat auch Lenz in Der Hofmeister die drei aristotelischen Einheiten von Die drei Einheiten Ort, Zeit und Handlung bewusst missachtet. Die Szenen entsprechen nicht immer einer genauen Chronologie und scheinen willkürlich angeordnet. Die Handlung spielt nicht an einem Ort, sondern springt plötzlich von einem Schauplatz zum andern: von Insterburg über Heidelbrunn nach Halle und Leipzig, von Innenräumen in den Wald. Der Hinweis auf Lessings Stück Minna von Barnhelm deutet die ungefähre Spielzeit an: Im Jahr 1768 war es das Ereignis des Jahres. Die Handlung zieht sich jedoch über drei Jahre hin. Zwischen dem 1. und 2. Akt liegen zwei Jahre, da Läuffers Vater vom »Anfang des dritten« (19) Jahres der Anstellung spricht. Im 4. Akt heißt es, Gustchen sei schon ein Jahr bei der Bettlerin, und im 5. Akt ist das Kind bereits kein Säugling mehr. Die Szenen sind nicht streng chronologisch geordnet und bilden keine Einheit. Im 2. Akt ist die zeitliche Abfolge nicht ohne Weiteres zu erkennen, und an einigen Stellen ist es offensichtlich, dass die Ereignisse mehr oder weniger gleichzeitig stattfinden. Dies gilt besonders für den 5. Akt. In vielen Fällen ist es auch gar nicht nötig, sich über die Chronologie Klarheit zu verschaffen, da sich die Handlung in parallele Handlungen aufZwei Handlungsstränge spaltet, die nur gelegentlich Berührungspunkte haben. Man kann von einer ›Läuffer-‹, einer ›Fritz-‹ und einer ›Gustchen-Handlung‹ sprechen: Fritz und Gustchen schwören sich ewige Liebe, müssen

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sich dann aber trennen. Die ›Fritz-Handlung‹ führt zu seinem Studienort, zu seiner Rückkehr zum Vater und zur Versöhnung. Die Affäre zwischen Gustchen und Läuffer findet auf einer anderen Ebene statt. Gustchen wird schwanger, beide fliehen, aber nicht gemeinsam. Läuffer gerät an Wenzeslaus, Gustchen an eine alte Bettlerin. Hier gibt es an einer entscheidenden Stelle einen Berührungspunkt zwischen den beiden Handlungssträngen, als Läuffer das gemeinsame Kind sieht und es als sein eigenes erkennt. Von hier aus geht die ›Läuffer-Handlung‹ weiter: Er kastriert sich und lernt die naive Lise kennen. Die ›Gustchen-Handlung‹ führt zum versuchten Selbstmord am Teich, wo sie der Vater findet und rettet, bis zur Wiedervereinigung mit Fritz. Dass dabei sowohl Unwahrscheinlichkeiten als auch zeitliche Ungenauigkeiten Die Rolle des Zufalls auftreten, hat Lenz nicht interessiert, solange die Handlung dadurch weitergebracht wird. So findet der Vater seine Tochter ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als sie sich im Teich ertränken will. Das ist im Drama aber nötig, damit es zu einem glücklichen Ende kommen kann. Es ist ebenfalls unglaubwürdig, dass Läuffer in dem Säugling sein eigenes Kind erkennt. Das ist wiederum Voraussetzung dafür, dass Läuffer sich besinnt, was zu seiner Selbstkastration führt. Auch dass Fritz und Pätus sich aus ihren Studienorten befreien können, ist nur möglich, weil Pätus ›zufällig‹ Geld gewinnt. Aufschlussreich ist die Unterscheidung Theorie und zwischen theoretischen und konkreten Leben Szenen. Die theoretisch geprägten Szenen behandeln die Problematik der Privaterziehung. Dazu gehören die 2. Szene des 1. Aktes, in der sich

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der Geheime Rat und der Major unterhalten, sowie die 1. Szene des 2. Aktes, in der der Rat und Pastor Läuffer diskutieren. Die Ausführungen des Schulmeisters Wenzeslaus und die Schlussszene lassen sich auch als theoretisch geprägt bezeichnen. Die konkreten Szenen hingegen zeigen die Folgen der Privaterziehung für Läuffer und Gustchen. Viele Nebenstränge verwischen diese beiden Kategorien allerdings so sehr, dass eine klare Unterscheidung nicht immer möglich ist. Die einzelnen Szenen im Hofmeister sind wie Momentaufnahmen, die die Handlung in einem kleinen Punkt akzentuieren. Es sind isolierte Augenblicke, Ausschnitte, in denen oft nicht einmal etwas Wichtiges passiert. Die Anstöße liegen oft vor, aber nicht in den Szenen selbst. Deswegen sind die Szenen meist sehr knapp und enden oft abrupt. Dadurch enthalten einzelne Szenen eine besondere Schärfe und Prägnanz, selbst wenn sie nur Details beitragen. Durch die Verknappung der Szenen auf ein Mindestmaß und die Weglassung der verbindenden Szenen erreicht Lenz ein hohes Tempo, die Handlungen folgen Schlag auf Schlag. Der Hofmeister ist phasenweise eine Tragödie, aber er enthält durchaus auch komische Elemente, Eine Tragödie? besonders da sich zum Schluss die Paare zusammenfinden. So ist Gustchen als gefallenes Mädchen eigentlich ehrlos geworden und nicht mehr gesellschaftsfähig. Dennoch wird ihr tragisches Schicksal durch die Wiederaufnahme in die Familie ausgeglichen. Auch Läuffer muss nicht sterben. Allerdings muss er sich selbst entmannen, wird aber dafür mit einer naiven Ehefrau belohnt, die mit diesem Zustand zufrieden ist. So ist das Geschehen letzten Endes zugleich tragisch und komisch.

5. Wort- und Sacherläuterungen 4 Hofmeister: Hauslehrer, Privaterzieher. Majorin: alte Bezeichnung für die Gattin eines Majors. Jungfer: Fräulein. Junker: etwa: junger Herr, alte Anrede eines adligen Sohns. 5,4 Adjunkt: Pastor adiunctus; beigeordneter, d. h. untergeordneter Pastor. 5,12 Klassenpräzeptor: Lehrer. 5,18 Konrektor: stellvertretender Schulleiter. 5,19 diskurrieren: sich unterhalten, von frz. discourier. 5,24 Scharrfüßen: Verbeugungen. 6,7 foderst: alte Form von ›forderst‹. 6,22 Kontrefei: Konterfei, Abbild. Eltervaters: Großvaters. 6,35 Hollunken: Halunken, Gauner. 7,3 Sr. Exzellenz: Seiner Exzellenz, Anrede für hochgestellte Personen. 7,5 galonierter: betresster, von frz. galoner. 7,6 Patronin: Hausherrin. 7,11 Kanapee: gepolsterte Sitzbank mit Rücken- und Seitenlehnen. 7,30 blöden: hier: ängstlichen. 7,32 ein Kompliment: hier: eine Verbeugung. 8,2 Pas: frz.: Schritt (im Tanz). 8,4 Assembleen: Gesellschaften. 8,12 Virtuos: kunstfertiger Musiker. 8,18 enrhumiert: erkältet. 8,19 ff. Vous parlez … mon cher: frz.: Sie sprechen ohne Zweifel französisch? – Etwas, Madame. – Haben Sie

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schon Ihre Reise nach Frankreich gemacht? – Nein, Madame … Ja, Madame. – Dann müssten Sie eigentlich wissen, dass man in Frankreich nicht die Hand küsst, mein Lieber. 9,3 on ne peut pas mieux: frz.: man kann nicht besser. 9,11 Domestiken: Angestellte, Dienstboten. 9,17 hohen Schule: Hochschule, Universität. 9,26 bordierten: mit einer Borte geschmückten. 10,13 Canaille: schlechter Mensch. 10,16 Heiduck: ungarischer Viehhirte, dann: Söldner, hier: Diener. 10,20 Tuckmäuser: Duckmäuser, ängstlicher Mensch. 10,22 Feriieren: Ferien machen. 10,24 Malum hydropisiacum: Wassersucht. 10,26 Cornelio: Cornelius Nepos (um 100 – 25 v. Chr.), römischer Historiker. 10,29 Rückenbein: Rückgrat. 11,5 Galgendieb: Dieb, der es verdient, gehängt zu werden. 11,7 gassenläuferischer: sich herumtreibender, auf der Straße herumlungernder. 11,28 Salarii: Gehalt. 12,13 Buschklepper: Strauchdieb, Spitzbube. 13,6 Galgenstrick: wie Galgendieb, vgl. Anm. zu 11,5. 13,8 versieht: aus Versehen falsch macht. Lex: Lektion, Hausaufgabe, von lat. lectio. 13,31 Juliette: gemeint ist Julia aus Shakespeares Romeo und Julia. 14,9 Gellert: Christian Fürchtegott Gellert (1715–1769), deutscher Dichter. 14,16 Graf Paris: in Shakespeares Romeo und Julia Romeos Rivale. 14,28 für den: veraltet für: vor dem.

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15,17 englisches: engelhaftes. 15,33 itzt: jetzt. 16,2 Mühmchen: von Muhme: kleine Nichte. 16,17 Romane: hier: Schwärmereien. 17,4 Sekunda: vorletzte Klasse des Gymnasiums. 19,8 Dero: Ihr. 19,29 Tagdieben: Faulenzen. 20,22 Käficht: Käfig. 20,27 f. die Kondition aufsagten: kündigen würde. 20,36 Anmutungen: Zumutungen, Launen. 21,1 Firnis: lackartiger Anstrich. 21,5 f. dampfigten: eitel aufgeblasenen. 21,6 abgedämpften: ausgedienten, unterdrückten. 21,9 Gewinst: Gewinn. 21,20 zinsbar: zinspflichtig. 22,4 Laban: Schwiegervater Jakobs, vgl. 1. Mose 29. 22,13 Hugo Grotius: eigtl. Hugo van Groot (1583–1645), ndl. Rechtsgelehrter. 22,18 Geschmeiß: Gesindel. 22,31 Cholerikus: Choleriker, jähzorniger Mensch. 23,7 Subjecta: Personen, Menschen in abhängiger Position. 23,9 verderbten: verdorbenen. 23,12 Grille: Laune, Einfall. 23,14 Mamsell: Fräulein, von frz. mademoiselle. 23,18 zum Fonds der Schule: zum Besitz der Schule. 23,19 salariert: bezahlt. 23,23 f. Argusse: von Argus, einem Wächter aus der griechischen Mythologie. 23,24 künstlich: hier: kunstvoll, geschickt. 23,33 f. Gegenkompliment: Gegengruß. 24,5 Disput: Wortwechsel, Diskussion.

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24,12 Faktotum: Diener. 24,13 f. Polyhistor: Gelehrter mit Wissen auf allen Gebieten. 24,26 subsistieren: Lebensunterhalt verdienen, auskommen. 24,28 quittieren: die Stelle aufgeben. 25,25 f. Anwerbungen: Bewerbungen, Bemühungen. 26,7 tiefsinnig: hier: trübsinnig. 26,17 erstaunende: erstaunliche. 27,17 f. besponnen: Studentensprache: bei Geld. 27,27 Philister: Studentensprache: alle, die nicht Studenten sind. 28,4 steht noch zu Gevattern: Studentensprache: ist noch verpfändet. 28,8 invitieren: einladen (aus dem Frz.). 28,13 Hundstagen: die heißesten Tage des Jahres, zwischen 23. Juli und 23. August, stehen unter dem Einfluss des Sternbilds Großer Hund. 28,18 breiter tun: vornehmer tun. 28,21 das Wetter: hier: der Teufel. 28,30 lausichter: lausiger. 29,5 Aye!: Ausruf der Zustimmung (aus dem Engl.). 29,17 einlogieren: einziehen, von frz. loger. 30,9 Karzer: Arrestraum in Schulen und Universitäten. 30,15 kreditieren: Kredit geben, leihen. 30,23 Ahndungen: Ahnungen. 30,24 Döbblinsche Gesellschaft: Carl Theophil Döbbelin (1727–1793), Schauspieler und Theaterleiter in Berlin. 30,25 Komödie: hier allgemein: Theater. 30,35 f. zum Versatz: als Pfand. 31,16 silberstücknen: teurer Kleiderstoff mit Grund aus Silberfäden.

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31,16 rotsammetne: aus rotem Samt. 31,35 ausgetrummelt: ausgerufen, bekanntgemacht. 32,5 mit allem Fleiß: mit Absicht. 32,12 Schmieralien: Schreibzeug. 32,13 Minna von Barnhelm: berühmtes Lustspiel von Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781), das seit 1786 von Döbbelin gespielt wurde. 32,33 Spießruten: brutale militärische Strafe. 33,2 Schubb: Schubs, Stoß. 34,31 Pantomime: hier: Geste, Gebärde. Romeo: Gestalt aus William Shakespeares (1564–1616) Stück Romeo und Julia. 35,8 besorgtest du für mich: warst du um mich besorgt. 35,10 schröcklicher: schrecklicher. 35,13 Abälard: der Philosoph Pierre Abélard (1079–1142) hatte als Hauslehrer seine Schülerin Heloïse verführt und nach der Geburt des gemeinsamen Sohnes heimlich geheiratet. Zur Strafe wurde Abélard von Heloïses Vormund überfallen und entmannt. 35,16 Die neue Heloise: Anspielung auf Julie ou la Nouvelle Héloïse (1761) von Jean Jacques Rousseau (1712– 1778). Im Mittelpunkt des vielgelesenen Romans steht die Liebesbeziehung eines bürgerlichen Hauslehrers zu seiner adligen Schülerin. 35,32 Bouteillen: Flaschen (aus dem Frz.). 36,5 Piquet: Kartenspiel. 36,7 Touren: hier: Rundgänge. 36,8 Fontenelle: in der damaligen Medizin ein künstliches Geschwür, um Krankheiten aus dem Körper zu ziehen. 36,10 Ökonomie: hier: Landwirtschaft. 36,11 ausgeschlagenen: hier: bis zum letzten Glockenschlag des Abends.

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36,25 Pietist: Angehöriger einer evangelischen, frommen Sekte. 36,26 Quacker: Quäker, Angehöriger einer puritanischen Bewegung. 37,1 Nachtwämschen: Nachtjäckchen. 37,6 Heautontimorumenos: griech. ›der Selbstquäler‹, Charakter aus der gleichnamigen Komödie des römischen Dichters Terenz (um 190 – 159 v. Chr.), übersetzt von Anne Lefèvre-Dacier (1654–1720). 37,21 scharren: hier: Geld sparen. 37,30 Lazarus: Anspielung auf den mit Geschwüren bedeckten Lazarus aus der Bibel: Lk 16,19–31. 38,6 zum Gesicht herausgeschlagen: am Gesicht abzulesen. 38,7 schalu über: eifersüchtig auf (von frz. jaloux). 38,11 f. Sottisen: Grobheiten, Dummheiten. 39,2 sieben Weisen Griechenlands: sieben weise Herrscher im 7. und 6. Jh. v. Chr. 39,5 lüderliche: liederliche. 39,14 Kreditores: Gläubiger. 39,18 f. Kaventen: Bürgen. 39,22 prostituieren: hier: bloßstellen, in Verruf bringen. 39,24 Mauren: Mauern. 39,33 Säkulum: Jahrhundert. 40,4 f. Präzeptores: Lehrer. 40,12 f. einen verlornen Sohn: Anspielung auf das biblische Gleichnis in Lk 15,11–32. 40,34 Hundert Meilen: 750 Kilometer (eine deutsche Landmeile entspricht 7,5 Kilometer). 41,6 Pedell: Diener eines Universitätsgerichts, Hausmeister. 41,32 Sekundant: Beistand, Helfer bei einem Duell.

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43,26 Bataillen: Schlachten. 43,27 Blessuren: Verwundungen. 44,12 f. Infamie: Unverschämtheit. 44,29 beunmündig: entmündigen. 44,30 f. ein Exempel statuieren: ein abschreckendes Beispiel geben. 45,5 lineiert: zieht Linien. 45,7 steht mir nach dem Leben: will mich umbringen. 45,14 Vorschrift: hier: Vorlage zum Abschreiben. 45,25 Unstern: unglückliche Lage. 45,30 Cholera: hier: Jähzorn. 46,16 unus ex his: lat.: einer von denen. 46,30 Zirkulation: hier: Kreislaufbewegung. 46,36 Tressen: Besatz, Borte, auch als Rangabzeichen bei Offizieren. 47,11 f. zu morsch Pulver-Granatenstücken: kurz und klein. 47,21 Passionen: Leidenschaften. 47,26 Efferveszenz: Aufwallung. 47,27 tumultuarisches: aufrührerisches, wildes. 48,4 Siegfrieds: Anspielung auf den Helden des Nibelungenlieds. 49,5 Groschen: kleine Münze. 49,21 Hohepriester Eli: der alttestamentl. Eli hatte böse Söhne (1. Sam 2,12 ff.) und starb in hohem Alter, als er vom Stuhl fiel und sich dabei den Hals brach (1. Sam 4,18). 49,29 Damon und Pythias: zwei treue Freunde der Antike, vgl. Schillers Gedicht »Die Bürgschaft«. 49,33 Erzrenommisten: Angeber. 50,28 Ignorant: Dummkopf. 51,21 visitieren: durchsuchen.

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51,23 zu laxieren: um abzuführen, um den Stuhlgang zu beschleunigen. 51,28 f. ἄριστον μὲν τὸ ὕδωρ: griech.: »das Beste ist das Wasser«, Anfang der 1. Olympischen Ode des griech. Dichters Pindar (518–438 v. Chr.). 51,32 der große Mogul: westl. Bezeichnung für die islamischen Herrscher Indiens; der Titel stand sprichwörtlich für großen Reichtum. 52,7 bis eilfe: bis elf Uhr. 52,16 Tabagie: Rauchstube, Tabakladen. 53,7 satt überhörig: ungehörig satt. 53,24 Allons!: gehen wir! 53,27 in der Latinität: im Lateinischen. 53,32 Corderii Colloquia: Colloquiorum scholasticorum libri quattuor, ›Gespräche für Schüler in vier Büchern‹ (1564), des frz. Gelehrten Maturinus Corderius (1479– 1565), bis ins 18. Jh. als Lehrbuch für Latein benutzt. Gürtleri Lexicon: vierspachiges Novum Lexicon Universale (1683) von Nicolaus Gürtler (1654–1711), ein wichtiges Standardwerk für den Sprachunterricht. 54,2 Kollaborator: hier: Gehilfe, Aushilfslehrer. 54,9 f. mutwillige Zerstörung Jerusalems: Anspielung auf die Offenbarung der Bibel 21,1–27, nach der schwere Sünder nicht in den Himmel kommen. 55,5 wie Kain: nach 1. Mose 4,12 wurde Kain zur Strafe für den Mord an seinem Bruder zur Heimatlosigkeit verdammt. 55,10 Ausschweifungen: hier: phantastische Ideen. 56,4 griechisch werden: den griechisch-orthodoxen Glauben der Russen annehmen. 56,28 Türkenpallasch: Türkensäbel. Victorie: Sieg.

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57,18 drei Lilien auf dem Rücken: Brandmarkung für straffällig gewordenen Dirnen unter dem frz. König Ludwig XIV. (1643–1715). Vivat!: lat.: Er lebe! – Der Ausruf wird hier grammatikalisch falsch mit dem Plural »die Hofmeister« verbunden. 57,29 auszustehen: hier: im Freien zu stehen, um zu betteln. 59,21 Chirurgus: Wundarzt. 59,30 gerochen: gerächt. 60,25 Bankozettel: Banknote. 60,28 Barbier: Bartscherer, Friseur, früher auch Wundarzt. 61,2 f. in iure naturae … gentium: im Naturrecht, im bürgerlichen Recht, im Kirchenrecht und im Völkerrecht. 61,6 sondiert: mit einer Wundsonde untersucht. 61,9 in fine videbitur cuius toni: lat. Sprichwort: am Ende wird man die Tonart erkennen. 61,15 Pathologie: Lehre von den Krankheiten. 61,16 Collegia: lat.: Vorlesungen an der Hochschule. 61,17 in amore omnia insunt vitia: lat.: in der Liebe liegen alle Fehler. – Zitat aus der Komödie Der Eunuch des römischen Dichters Terenz (um 190 – 159 v. Chr.). 61,18 Fakultät: Abteilung einer Hochschule. 61,31 nicht ans Fenster stecken: nicht öffentlich machen. 63,12 Adelbrief: käuflicher Adelstitel. 63,16 maledeite: verwünschte. 64,14 Kokette: Gefallsüchtige, auch: Dirne. 64,19 Lamm: nach dem Bild von Christus als Lamm, vgl. Joh 1,29. 64,21 Batterien: Geschütze, Kanonen. 64,26 Teekessel: hier: Mann, der seinen Geschlechtstrieb nicht beherrschen kann.

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65,7 blöde: hier: schüchtern. 65,22 Quinte: hier: die höchste Saite der Laute. 65,32 Otschakof: türkische Festung und Hafenstadt Otschakow an der Mündung des Dnjepr. 66,9 Musikus: Musiker. Courage: Mut. 66,14 in der Suite: in der Folge, im Gefolge. Prinzen Czartorinksy: Adam Kasimir Fürst Czaroryski (1734–1823), bewarb sich 1763 um den polnischen Königsthron. 66,20 Hofkavaliere: Hofleute. 66,23 seit Anno Dreißig: seit dem Jahr 30 (1730). 66,28 das dritte Chor war’s, k, k: die gleichgestimmten Saitenpaare der Laute heißen Chöre. K ist eine Tonbezeichnung in der frz. Lautentabulatur. 66,35 toujours content, jamais d’argent: frz.: Immer zufrieden, niemals Geld. 67,3 Serenade: hier: eine Abendmusik, die man einer Person vorträgt. 67,13 honett: ehrlich, ehrenhaft. 68,10 Dem Kalbsfell folgen: Soldat werden (der mit Kalbsfell bespannten Trommel der Soldatenwerber folgen). 68,16 Magnifikus: Titel eines Hochschulrektors. 68,21 Lautchen auf ihr spielen: umgangssprachl.: mit ihr schlafen. 69,10 Satisfaktion: Genugtuung, meist im Zusammenhang mit einem Duell. 70,26 Hagar: Frau Abrahams. Als Abraham Hagar und ihren gemeinsamen Sohn verstieß, bewahrte Gott beide vor dem Verdursten (vgl. 1. Mose 21,14 ff.). 71,22 Memme: Feigling. 71,28 immatrikuliert: in der Universität eingeschrieben.

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72,4 legiert: Fechtersprache: schlägt dem Gegner die Klinge aus der Hand. 72,28 Honettetät: Redlichkeit, Ehre (aus dem Frz.). 72,30 kuraschöse: mutige (frz.: courageux). 73,19 frigidus per ossa: lat.: kalt durch die Gebeine. 73,21 das Lineamenten: Gesichtszüge, Miene. 73,24 kastriert: entmannt. 73,27 Origenes: griech. Kirchenvater und Philosoph (185– 254), entmannte sich aus religiösen Gründen. 73,28 Rüstzeug: Werkzeug. 73,33 Jubilate: lat.: Freut euch! – Jubelruf aus der Bibel. 74,13 Lots Weib: nach der Bibel die Frau, die sich bei der Zerstörung von Sodom und Gomorrha umdrehte und zur Salzsäule erstarrte (1. Mose 19,24 ff.). 74,14 Zoar: nach der Bibel Lots Zufluchtsort (1. Mose 19,22 f.). 74,15 Kollega: Kollege. 74,17 den blinden Juden: die Blindheit der Juden (die Jesus nicht als Messias anerkennen wollten). 74,24 Diät: hier: Lebensweise. 74,30 Essäer: auch: Essener. Jüdische Sekte zur Zeit Christi. 74,34 ihr Fleisch: ihre sinnlichen Begierden. 75,1 in amore omnia insunt vitia: vgl. Anm. zu 61,17. 75,3 f. lauro tempora … pulsabit: lat.: »Mit Lorbeer werde ich die Schläfen bekränzen, und er wird mit erhobener Stirn die Sterne berühren.« Freies Zitat nach zwei Gedichtzeilen des Horaz (65–8 v. Chr.) aus seinen Oden (3,30,16 und 1,1,36). 75,24 f. unter meinem Kuvert: hier: unter meiner Anschrift. 76,24 Mätresse: Geliebte. 76,26 Ausländerin: als Sächsin ist Rehaars Tochter in Preußen Ausländerin.

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76,31 Krepanz: Schwäche. 77,13 erbrechen: hier: das Briefsiegel aufbrechen. 77,19 Orthographie: Rechtschreibung. 77,32 genotzüchtigt: vergewaltigt. 78,5 schlägt: hier: öffnet, um Blut herauszulassen beim Aderlass, einem gebräuchlichen medizinischen Verfahren im 18. Jh. 78,6 so französisch: so empfindlich. 78,8 f. maliziösen: bösen, boshaften. 78,19 Melancholei: Melancholie, Schwermut. 78,27 Bärenhäuter: nach dem röm. Historiker Tacitus (um 55–117) tragen die Germanen Felle und faulenzen, wenn Frieden ist, also: sie liegen auf der Bärenhaut. 81,23 kalmäuserst du: machst du dir trübe Gedanken. 82,2 Friedrichsd’or: preußische Goldmünze. 82,14 ist’s nicht ausgemacht: hier: ist meine Frage nicht beantwortet. 82,17 Anmerkung: hier: Beobachtung. 82,20 Gemeine: Gemeinde. 82,23 Strauß: Kampf, Streit. 82,25 σκάνδαλον ἐδίδους, ἕταιρε: griech.: Du hast Ärgernis erregt, Freund. 82,30 ff. Der Evangelist Markus … Schlange ähnlich: die Schlange ist nach der christl. Ikonographie das Symbol für den Evangelisten Markus. 82,33 geflügelten Schlange: gefallenen Engel. 83,6 kasuistisch: hier: auf seinen besonderen Fall bezogen. Die theologische Kasuistik ist die Lehre vom Verhalten in Gewissensfragen. 83,19 Revolution: Umwälzung, Aufstand. Ursprünglich ein astronomischer Begriff für den Umlauf der Himmelskörper.

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83,19 f. Luzifer: ›Lichtbringer‹, oberster Teufel. 83,23 kein Teufel mehr statuiert: die Existenz eines Teufels wird nicht mehr behauptet. 83,31 posito: lat.: gesetzt den Fall. 84,6 Reutet: Rottet. 84,8 f. ich weiß jemand: Jesus im Gleichnis vom Unkraut (Mt 13,24–30). 84,11 Pöbel: Volk, einfache Leute. 84,12 freigeistern: sich von den überlieferten (meist religiösen) Vorstellungen lösen. 84,23 vom alten Sauerteig: Rest des Sauerteigs vom Vortag, der für das neue Brot gebraucht wird. 84,24 wer einmal geschmeckt hat die Kräfte der zukünftigen Welt: Anspielung auf Hebr 6,4–6. 84,34 den weisen Männern im Areopagus … Phryne willen: auf dem Areopag tagte das höchste Gericht Griechenlands; die schöne Phryne gewann einen Prozess, indem sie sich vor den Richtern auszog. 85,3 ohne Sold: hier: ohne Gegenleistung. 85,7 Revieren: Gegenden. 85,9 Sorgfalt: hier: Sorge. 85,10 Fleischtöpfen Egyptens … Kanaan: Auf der Flucht aus dem reichen Ägypten wünschte sich das Volk Israel zurück in die ägyptische Gefangenschaft, wo es nicht hatte hungern müssen (vgl. 2. Mose 16,3). 85,16 Entschließungen: Gedanken, Entschlüssen. 87,10 pro deum atque hominum fidem!: lat.: Bei der Treue der Götter und der Menschen! – Ausruf aus der römischen Literatur. 87,11 falscher Prophet: Anspielung auf die Bibel, Mt 7,15. 87,14 ff. Es muss ja Ärgernis kommen … kommt!: Zitat aus Mt 18,7.

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88,4 O tempora, o mores!: lat.: O Zeiten, o Sitten! – Zitat aus der ersten Rede gegen Catilina von Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.). 88,5 f. Valerius Maximus … de pudicitia: Anekdote »über die Schamhaftigkeit« von Valerius Maximus (1. Jh. n. Chr.) aus dessen Buch Denkwürdige Taten und Aussprüche. 88,8 die Räson: frz.: der Grund. 88,8 f. ut etiam … perferret: lat.: dass sie auch ihre Küsse ihrem Gatten rein überbringen sollte. 88,10 f. Etiam oscula … etiam oscula: lat.: auch die Küsse, nicht nur die Jungfräulichkeit, auch die Küsse. 88,16 profanieren: entweihen, entwürdigen. 88,18 Serail: das Frauengemach im Sultanspalast. 88,23 Eunuch: Kastrat. 89,15 Connubium sine prole … sine sole: lat.: eine Ehe ohne Kind ist wie ein Tag ohne Sonne. 89,16 Seid fruchtbar und mehret euch: vgl. 1. Mose 1,22. 89,32 Kapaun: hier: Kastrat. 89,33 f. homuncio: lat.: Menschlein. 90,17 Ich bin nicht wert, dass ich Ihr Sohn heiße: Anspielung auf das Gleichnis vom verlorenen Sohn, vgl. Lk 15,21. 91,2 f. Katzbalgereien: Streitereien. 91,25 Ritter von der runden Tafel: Anspielung auf König Artus’ Tafelrunde. 93,1 präsentieren: hier: sich vorstellen. 93,14 Tiger: Symbol für Grausamkeit. 94,13 ein Philosoph: hier: einer, der sich über Vorurteile hinwegsetzt. 94,33 gewarten: erwarten.

6. Interpretation Der zentrale Aspekt von Lenz’ Der Hofmeister ist schon im Untertitel genannt: die Erziehung. Es geht dabei nicht nur um die Erziehung der Erziehung und Gesellschaft Kinder, sondern auch um die Stellung des Privatlehrers: Die Verhältnisse in Deutschland waren zu Lenz’ Zeiten nicht so, dass Lehrer, gebildete Personen aus einfachen Verhältnissen, ein gutes Leben führen konnten. Im Hofmeister muss sich der Lehrer sogar selbst entmannen, um sein gesellschaftliches Überleben zu sichern: ein starkes Symbol für Unterdrückung und Selbstbeschränkung. Auch die Liebe, das Studium und das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern funktionieren nur nach genauen gesellschaftlichen Spielregeln. Werden sie gebrochen, wie von Läuffer oder Fritz, zieht das eine Katastrophe nach sich – oder sogar mehrere.

Machtverhältnisse Läuffers Misere beginnt damit, dass ihm fast alle Berufsmöglichkeiten verschlossen sind: Er ist nicht tauglich zum Adjunkt des Vaters, er ist zu Der Bürger in der Sackgasse jung für einen Pfarrer, und für die angesehene Lateinschule wurde er nicht zugelassen. Vom Adel wird er nicht ernst genommen oder sogar wie niederes Personal behandelt. Zudem ist Läuffer eher untertänig als selbstbewusst, weil er sich sonst alle Chancen verspielen würde. Besonders stark zeigt sich dies in der Szene I,3, wo die Majorin Läuffer in Anwesenheit des Grafen wie einen

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6 . IN TERPRETATION

gemeinen Diener behandelt. Auch die Tatsache, dass sich Mitte des 18. Jahrhunderts immer mehr junge Männer ein Studium erlauben konnten, spielt eine Rolle im Hofmeister. Unter Umständen brachte dieser Schritt einen sozialen Aufstieg mit sich: So hofft auch Läuffer, über den Hofmeisterposten zu einer höheren Stellung in der Verwaltung zu kommen. Auch Lenz selbst hatte immer wieder gehofft, als Bibliothekar oder an der Universität eine Stellung zu erlangen. Aber das Stück zeigt, dass dies nicht gelingt: Läuffer scheitert, er bekommt nicht nur keinen besseren Posten, sondern muss sich bescheiden und sogar kastrieren. Erweitert wird dieses Thema, indem Lenz die Zustände unter den Studenten schildert, nicht ohne satirischen Blick, aber doch mit einem Sinn für die finanziellen Probleme und den Druck durch reichere Mitstudenten.

Die Rolle der Frauen Lenz’ Hofmeister ist eigentlich ein Männerstück: Auch wenn Frauen darin auftreten, haben sie keine Der Hofmeister: tragende Rolle. Dies entspricht durchaus der ein Männerstück? damaligen Rolle der Frau in der Gesellschaft. Gustchens Erziehung soll sich auf Religionsund Zeichenunterricht beschränken, und ihre Herzensbildung hat sie aus Büchern. Sie wird von Anfang an als sentimentales Wesen charakterisiert. Ihr erster Auftritt endet mit einer gefühlsüberladenen Verlobung mit Fritz, und später spielt sie mit Fritz und auch Läuffer Julia und Romeo. Gustchen, die stets in der Verkleinerungsform vorkommt, hat nur eine Waffe, und das ist ihr Körper: Ohne Bildung kann sie nur mit ihrem Aussehen glänzen, und so wird sie

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von den meisten Männern auch gesehen. Sie bleibt Objekt, das nur unter der Obhut ihres Vaters überleben kann – deswegen ist er es, der sie aus dem Wasser rettet. Eine richtige Erziehung für Frauen wird im Stück überhaupt nicht reflektiert und scheint auch für Lenz keine Rolle zu spielen.

Private oder öffentliche Erziehung Ein wichtiges Thema, das der hochironische Untertitel Vorteile der Privaterziehung vorgibt, ist Erziehung: Privat der Unterschied zwischen der privaten und oder öffentlich? der öffentlichen Erziehung. Vor allem der Geheime Rat steht auf dem Standpunkt, dass eine öffentliche Erziehung besser ist als eine private durch einen Hofmeister. Dies scheint auch Lenz’ Standpunkt zu sein, denn zum einen ist der Geheime Rat die positivste Figur in seinem Stück, zum anderen zeigt Lenz gleich zwei Privatlehrer, die skurrile, teilweise triebgesteuerte Figuren sind: Läuffer und den Lehrer eines Adligen. An Fritz demonstriert Lenz dagegen, wohin die öffentliche Erziehung führt: Fritz wird ein verantwortungsbewusster und toleranter Bürger, der Gustchen verzeiht und dazu bereit ist, ihr uneheliches Kind zu adoptieren. In der Unterhaltung zwischen dem Geheimen Rat und dem alten Läuffer wirft der Rat den Hofmeistern vor, sie würden sich anpassen und ihre Freiheit opfern, nur um eine bessere Stellung zu bekommen. Außerdem unterstellt er ihnen mehrfach, sie seien nicht wirklich gelehrt und gebildet. Auch Wenzeslaus meint, Läuffer würde in seiner Schule kaum zum Hilfslehrer taugen.

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Mit der öffentlichen Erziehung ist allerdings stets die Lateinschule gemeint, das Gymnasium, das nur den Söhnen des Bildungsbürgertums und des Adels offenstand. Die Volksschule unterrichtete Grundlagen wie Schreiben, Lesen und Rechnen. Für Läuffer ist sie anfangs keine Option gewesen, und doch muss er später Wenzeslaus helfen. Im Stück überwiegen die Argumente gegen die private Erziehung: Durch sie schottet sich der Adel und Bürger Adel vom Volk ab. In einer öffentlichen Schule würden die adeligen Söhne sozialen Umgang lernen, und sie müssten mehr leisten, um mit den Bürgersöhnen mithalten zu können. Auch für die Lehrer sei eine öffentliche Schule besser: Sie seien unabhängiger und würden für das Gemeinwohl arbeiten. Außerdem würden die öffentlichen Schulen allmählich besser, wenn auch die Adeligen ihre Söhne hinschicken würden: Dann hätten die Lehrer mehr Geld und damit eine zusätzliche Motivation. Zudem werde der Unterricht auf mehrere Lehrer aufgeteilt und dadurch besser. Als Hofmeister sei man direkt abhängig von seinen Herrn, Ein Leben in Abhängigkeit die einen wie einen Bediensteten behandeln und nicht wie einen Intellektuellen, einen Lehrer, der die Kinder zu gebildeten Menschen erziehen soll. Das Leiden des Hofmeisters Läuffer ist entsprechend groß, wie drastisch gezeigt wird: Seine Existenz ist karg, er hat keine Möglichkeit, eine vernünftige Stelle zu bekommen, und er hat keinerlei Rechte.

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Domestizierung der Menschen Ein weiteres Problem tut sich auf, wenn sich die Hofmeister selbst herabwürdigen und sich von ungebildeten Eltern vorschreiben lassen, was sie den Kindern beizubringen haben. Im Fall des Majors kommen denn auch nur ein paar Floskeln heraus, eigentlich solle der Sohn Soldat werden. Richtige Bildung ist hier nicht gefragt. Die Anpassung der Hofmeister an ihre Herren um des Geldes willen wird vom Geheimen Rat auf einer abstrakteren Ebene so ausgedrückt: »Ohne Freiheit geht das Leben bergab rückwärts, Freiheit ist das Element des Menschen wie das Wasser des Fisches« (20). Zudem fördert die Servilität der Hofmeister auch die Hochnäsigkeit ihrer Schüler, die sehen, wie die Bürgerlichen vor dem Adel kuschen.

Die Selbstentmannung Im Hofmeister gibt es nur eine Lösung für den armen Hofmeister: die Selbstentmannung. Erst Bertolt Brecht (1898–1956) hat dieses DeAllegorische Interpretation tail als Allegorie gelesen: Der unterdrückte Lehrer muss sich anpassen und sogar kastrieren, er muss also sein Menschsein abschneiden, damit er in die Gesellschaft passt. Zu Lenz’ Zeit wurde durchaus ernsthaft diskutiert, ob die Kastration ein Weg sei, den Sexualtrieb im Zaum zu halten. Zudem gab es noch Kastraten in der Oper, die virtuose Sopranstimmen besaßen, auch diese waren durchaus anerkannt.

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So scheint die Selbstentmannung nicht nur ein skurriles, sogar satirisches Detail zu sein, sondern auch eine Lösung für Läuffers Problem. Sie bringt ihm einen normalen Beruf und eine normale Familie, wenn auch ohne Kinder.

Die Lösungen Alle Konflikte werden im Hofmeister auf wunderbare und eher unglaubwürdige Art gelöst: Durch einen Lottogewinn mit Geld versorgt können Pätus und Fritz abreisen; durch einen Zufall rettet der Vater seine Tochter; durch seine Selbstentmannung bekommt Läuffer wieder bürgerliche Sicherheit; Gustchen wird wieder zur standesgemäßen Ehefrau, ihr uneheliches Kind adoptiert; plötzlich ist Pätus mit der Musikertochter zufrieden; ebenso plötzlich verzeiht der alte Pätus seiner Mutter. Man kann dieses Übermaß an Harmonie, das unerwartet und eher unbegründet über die Personen hereinbricht, fast nur ironisch verstehen, als einen Deus ex machina, der rettet, was eigentlich nicht mehr Deus ex machina zu retten ist. Lenz macht dadurch vor allem deutlich, dass Beziehungen, Karrieren und Lebensläufe seiner Zeit unter einem Höchstmaß an Verstörung und Zerstörung leiden. Nur durch eine Reihe von großen Zufällen können die Akteure im Hofmeister die Konflikte überwinden, in die sie wegen der gesellschaftlichen Zwänge geraten sind.

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Beziehungen Durch das gesamte Stück zieht sich die Erfahrung von gestörten oder zerstörten Beziehungen. Alle leben mehr oder weniger einsam und reden aneinander vorbei. Sie sind allesamt kaum Persönlichkeiten, sondern in ihrer Rolle gefangen und durch sie getrieben. Der einzige, der darüber reflektieren kann, ist der Geheime Rat. Die meisten anderen sind fast nur noch Karikaturen. Der Adel, besonders Graf Wermuth, ist in dumpfes Repräsentieren und hohles Getue abgerutscht, seine Rolle als führende Schicht ist längst ausgespielt. Das Bürgertum hat noch keine sozial tragende Rolle, entmannt sich oder gibt sich mit den bestehenden Verhältnissen zufrieden. Ein Hauptaugenmerk des Stückes liegt auf den Familien. Die Söhne sind entweder auf der Flucht oder werden verstoßen; die Töchter sind GefalleFamilien in der Krise ne: Gustchen hat eine Affäre, bekommt ein uneheliches Kind und flieht; Pätus hat Schulden und bekommt von seinem Vater keine Unterstützung; Jungfer Rehaar wird nach einem Abenteuer aus der Vaterstadt entfernt; Läuffer flieht aus Angst; Fritz wird von seinem Vater im Stich gelassen. Durch die Worte »Ich bin nicht wert, dass ich Ihr Sohn heiße« (90), mit denen auf das Gleichnis vom verlorenen Sohn angespielt wird, kommt die Wende, bis sich am Schluss alle verziehen haben und die intakte Familie wieder besteht. Aber das Gleichgewicht ist und bleibt doch wacklig.

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Freiheit Niemand ist frei im Hofmeister. Läuffer ist von seinen Trieben bestimmt und ohne freie Berufswahl: Ein sozialer Aufstieg kann im Stück nicht gelingen. Fritz ist in seinem Studentenstatus gefangen, Gustchen in ihren Trieben und wirklichkeitsfernen Phantasien, die Nebenfiguren in ihren sozialen Rollen. Für Wenzeslaus und den Geheimen Rat ist Freiheit nur in der Gebundenheit an den Staat und an die nützliche Arbeit möglich. Der Rat empfiehlt daher den Staatsdienst. Wenzeslaus ist an seine Schule gebunden und an Gott. Eine absolute Freiheit ist so nicht zu erreichen. Außerdem sind die Personen zu schwach: Die Freiheit scheitert nicht nur an der Unterdrückung, sondern auch an der Anpassung. »O Freiheit, güldene Freiheit!« (51), ruft Läuffer aus, als er in Wenzeslaus’ Haus ist. Aber etwas später erfährt er, dass es auch hier keine Freiheit gibt: »Ich will Euch nach meiner Hand ziehen, dass Ihr Euch selber nicht mehr wiedererkennen sollt« (54), sagt Wenzeslaus. Schon vorher hat sich Läuffer immer nur angepasst. Seine Entschuldigung ist dieselbe, die auch Wenzeslaus Illusorische benutzt: Die Verhältnisse sind eben nicht so. Freiheit Der absolut frei handelnde Mensch bleibt eine Illusion. Am pathetischsten über die Freiheit redet Herr von Berg, der andererseits die Standesgrenzen verteidigt: »ein Mensch der sich der Freiheit begibt, vergiftet die edelsten Geister seines Bluts […] und ermordet sich selbst« (20). Andererseits aber hilft er Läuffer nicht. Was er nicht einsieht, ist, dass Freiheit nur eine leere Floskel ist, wenn man arm ist.

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So führt sich das Pathos der Sturm-und-Drang-Zeit selbst ad absurdum, indem ein Adeliger es ausspricht. Auch der selbstbewusste Wenzeslaus sagt: »Ich bin auch so frei nicht; ich bin an meine Schule gebunden, und muss Gott und meinem Gewissen Rechenschaft von geben« (51). Er hat sich in seiner Nische eingerichtet, ohne Ambitionen auf eine Revolution. In ähnlicher Weise ist die jüngere Generation nicht an einem Umsturz interessiert, sondern nur an ihren persönlichen Schicksalen.

Liebe und Sexualität Statt der freien Liebe gibt es im Hofmeister andere Lebensmodelle: die Anfälligkeit der Frauen und das unmoralische Draufgängertum der Männer einerseits, die Ehe und die Kastration andererseits. Fritz und Gustchen und Pätus und Jungfer Rehaar, sogar Läuffer und Lise schließen eine Ehe. Den Weg zur Kastration, also zur endgültigen Befreiung von aller Lust, geht nur Läuffer. Angefeuert und gelobt von Wenzeslaus sucht er diesen radikalen Ausweg. Sein Mentor schwärmt: »Das ist die Bahn, auf der Ihr eine Leuchte der Kirche, ein Stern erster Größe, ein Kirchenvater selber werden könnt« (73). Für Wenzeslaus ist die Lust eindeutig Teufelswerk. Allerdings geht Läuffer diesen Weg nicht aus religiösen Gründen: Es ist ein Akt der Selbstbestrafung und der Reue. Damit zeigt Lenz die hässliche Folgen der Repression Konsequenz der sinnlichen Unterdrückung: »O Unschuld, welch eine Perle bist du! Seit ich dich verloren, tat ich Schritt auf Schritt in der Leidenschaft und endigte mit Verzweiflung« (75), sagt Läuffer. Da-

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gegen predigt Fritz sexuelle Enthaltsamkeit, denn »die Vernunft muss immer am Steuerruder bleiben« (64). Vernünftig macht er auf die sozialen Folgen des vorehelichen Geschlechtsverkehrs oder eines unehelichen Kindes aufmerksam: die öffentliche Ächtung. Lenz deutet die sexuellen Handlungen sehr subtil an (Läuffer sitzt in II,5 an Gustchens Bett), dabei ist von Liebe kaum die Rede: Er sorgt sich um seine Zukunft, sie wiederum schwärmt von »ihrem Romeo«. Erst als Läuffer sich schon entmannt hat und Lise trifft, kann er selbst von der Liebe reden. Sie hat dann zwar noch etwas Sinnliches, aber der sexuelle Aspekt bleibt ausgeklammert.

7. Autor und Zeit Jakob Michael Reinhold Lenz war wohl einer der wichtigsten Autoren seiner Zeit. Lenz’ unglückliche Liebesbeziehungen zu Friederike Brion und zu Goethes Schwester Cornelia Schlosser, sein unstetes Wanderleben zwischen dem Elsass, Weimar und Russland, seine unkonventionellen politischen Lenz – der Stürmer und Dränger und pädagogischen Ideen, seine Aufsehen erregenden Stücke – all das machte ihn zur Verkörperung des »Sturm und Drang« schlechthin.

Kindheit und Jugend Lenz wird am 23. Januar 1751 in Seßwegen (Causvaine) / Livland geboren. Livland ist zu dieser Zeit eine russische Provinz mit einer schmalen Oberschicht aus Adel, Bürgertum und Pfarrern. Lenz’ Vater war erst Hauslehrer, dann Pfarrer, ab 1758 Oberpastor in Pastorenfamilie Dorpat. Er war gleichzeitig Aufseher der Stadtschule und ab 1779 Generalsuperintendent Livlands. Bekannt war er als streitbarer theologischer Schriftsteller, der seine pietistischen Wurzeln nicht verleugnete. Lenz’ erste dichterische Versuche sind Gedichte und ein Hexameterepos Der Versöhnungstod Jesu Christi, das 1766 veröffentlicht wird. Sein erstes Stück, Der verwundete Bräutigam, schreibt Lenz 1766 nach einer wahren Begebenheit.

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Studium Ab Herbst 1768 studiert Lenz in Königsberg Theologie. Dort hört er auch Vorlesungen von Immanuel Kant, dem großen Philosophen. Von Kant lernt er die Trennung zwischen Metaphysik und diesseitig begründeter Moral. Nebenbei liest er die englischen Moralphilosophen Shaftesbury und Hume; er liest Shakespeare, Milton und Pope und Lessings Minna von Barnhelm; auch Schriften zur Volkswirtschaft und Politik gehören zu seiner Lektüre. Sein Vater will, dass er eine Hofmeisterstelle in Livland antritt; stattdessen reist Lenz im Frühjahr 1771 mit den Baronen Friedrich Georg und Ernst Nikolaus von Kleist nach Straßburg, gegen freie Kost und Logis, aber ohne Bezahlung.

Straßburg Straßburg war damals eines der intellektuellen Zentren Europas. Deutsche und französische Kultur traf unmittelbar aufeinander, der Gegensatz prägte die Bestrebungen der Sturm-und-Drang-Autoren, eine genuin deutsche Kultur zu schaffen. Hier schließt sich Lenz, der im Herbst 1774 den Dienst bei den Kleists aufgibt und als Privatlehrer in Straßburg lebt, dem Kreis der jungen Sturm-und-Drang-Autoren an, die sich gegen das herrschende Literaturverständnis und den Literaturbetrieb auflehnen und sich von feudalen Bindungen emanzipieren wolHerder und len. Vor allem die Ideen von Jean-Jacques Goethe Rousseau und Herder beeinflussen Lenz zu

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dieser Zeit stark. Mit Johann Gottfried Herder, der wie Lenz aus Livland stammt, ergibt sich eine lange Freundschaft. 1771 lernt Lenz auch Goethe kennen und freundet sich mit ihm an. Lenz ist begeistert vom Goetz und vom Werther, Goethe schätzt und fördert Lenz und vermittelt viele seiner Schriften an Verleger. Erst Goethes Weggang nach Weimar und seine Anpassung an die dortigen Verhältnisse schafften eine Distanz zwischen den beiden. Die Zeit in Straßburg ist Lenz’ produktivste. Hier entstehen sein Stück Der Hofmeister (erschienen 1774) sowie die Plautus-Übersetzungen, etwas später Der neue Menoza und Die Soldaten. Hier schreibt er Aufsätze über Literatur, u. a. die Anmerkungen übers Theater. Von Lessing angeregt, übersetzt Lenz die Komödien des Plautus und überträgt sie dabei auf deutsche Verhältnisse, da er in Plautus einen verwandZwei Vorbilder: Plautus und ten Geist entdeckt. Vor allem sein komisches Shakespeare Talent und seine Angriffe gegen die Obrigkeiten gefallen Lenz. Wie Goethe hat sich auch Lenz Shakespeare zum großen Vorbild erhoben. In seinen Anmerkungen übers Theater nebst angehängten übersetzten Stücken Shakespears (1774) feiert er den Bruch der Theaterregeln. Lenz’ erstes großes und eigenständiges Stück ist Der Hofmeister, in dem er die Anmerkungen übers Theater umsetzt. Die Handlung ist sehr forciert, manche Lösungen kommen nur durch Zufall zustande, manches ist auch grotesk überzeichnet. Gleichzeitig ist das Stück eine Kritik am Adel. Das Stück wird mit Begeisterung aufgeLob der Kritiker nommen. Vor allem wird die neue Form

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gelobt, die sich von den drei aristotelischen Einheiten löst. 1778 wird es in Hamburg aufgeführt, später auch in Berlin und Mannheim. Wie Der Hofmeister erscheint auch Der neue Menoza zunächst anonym. Die Idee hierzu hat Lenz aus Erik Pontoppidans lutherischem Erbauungsroman Menoza, ein asiatischer Prinz, der die Welt durchzog, um Christen zu suchen von 1742/43. In diesem Stück geht es noch genialischer zu als im Hofmeister: Die Handlung springt unmotiviert hin und her, die Personen geben ihren Einfällen nach, die Stimmungen wechseln ständig, oft retten sich die Figuren durch Gewalt, um einen Moment später um Verzeihung zu bitten: Die Welt ist nur noch irrational. Prinz Tandi reist durch die Welt und entdeckt überall nur Widersprüche in einem chaotischen Leben. Das Stück ist vor allem ein Sprachrohr für Lenz’ philosophische Einsichten: Handeln muss der Mensch, und lieben. Sogar in der Ehe, die damals noch häufig arrangiert war, sollten Vernunft, Freiheit und wahre Liebe herrschen. 1772 geht Lenz eine platonische Beziehung zu Friederike Brion in Sesenheim ein, die von Goethe verlassen wurde. Für ihn bleibt sie stets ein Idealbild, die Verkörperung einer Idee. Nach einer Zeit des Verliebtseins in die Braut von Friedrich Georg von Kleist, Cleophe Fibich, lernt er 1775 Cornelia Schlosser kennen, Goethes Schwester, die mit dem Juristen Johann Georg Schlosser in Emmendingen verheiratet ist. Sie erwiderte seine Sympathie, da sie sich in der Ehe unverstanden und in der südbadischen Provinz einsam fühlte. Ende 1775 schreibt Lenz die Erzählung Zerbin oder die neuere Philosophie, die ein Jahr später im Deutschen Museum, einer wichtigen Literaturzeitschrift, erscheint. Lenz de-

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montiert darin sehr geschickt die verschieGesellschaftsdenen Rollen, die in der Gesellschaft gespielt kritik werden. Keine der Figuren taugt zum Vorbild. Zerbin ist eine bittere Anklage gegen allzu große Vernunft und die starre Ständeordnung. Lenz’ nächstes Stück, Die Soldaten, wird 1776 gedruckt. Wie schon in Der Hofmeister liegt der Handlung auch hier eine wahre Begebenheit zugrunde, das Verhältnis von Cleophe Fibich zu Georg Friedrich von Kleist. Wie im Hofmeister stellt er auch hier einen Scheiternden in den Mittelpunkt: Mariane Wesener, Tochter eines Händlers, will aus dem bürgerlichen Kreis ausbrechen. Die Offiziere, die zu den Kunden des Vaters zählen und sich mit seinem Segen um Mariane bemühen, halten sich für etwas Besseres. Statt seiner ExVerlobten zu helfen, denkt der Tuchhändler Stolzius nur an Rache und vergiftet einen der Offiziere. Das Ende: Der Vater ist ruiniert, Mariane zur Prostituierten geworden. Die sozialen Zwänge besiegen die Freiheit. Ebenfalls 1776 entsteht die Schrift Über die Soldatenehen, in der sich Lenz mit den sozialen Bedingungen der Soldaten auseinandersetzt. Hier Eine theoretische Abhandlung greift er die Frauen an, deren animalische Kräfte diszipliniert werden müssten. Deswegen, und um sexuelle Ausschweifungen der Soldaten zu verhindern, setzt sich Lenz dafür ein, dass Soldaten heiraten dürfen. In vielen Details regelt Lenz die Sexualität, die Geschlechterrollen sind dabei allerdings eindeutig. 1776 entsteht auch die Komödie Die Freunde machen den Philosophen. Lenz kritisiert in diesem Stück eine Männergesellschaft, die ohne Konkurrenz nicht existieren kann. Das Selbstwertgefühl der Männer wird auf Kosten anderer aufrechterhalten, Gefühle spielen dabei keine Rolle.

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1777 erscheint sein Stück Der Engländer: Robert Hot ist ein Buchgelehrter, der sich ein erfülltes Leben bisher versagt hat. Als er sich in eine Prinzessin verliebt, erhebt er sie zu einer Heiligen. Er erlebt die große Leidenschaft und beharrt gegen alle Vernunft auf der unerfüllbaren Liebe. In dieser fast genießerischen Selbstquälerei kommt die Kritik gegen eine allzu vernünftige Gesellschaft zur Geltung. Allerdings ist Robert, anders als Werther, kein Vorbild, sondern wird durch seine Überspanntheit immer lächerlicher.

Weimar Im März 1776 verlässt Lenz Straßburg und geht nach Weimar. Finanziell ist er am Ende, und er hat keine Aussicht auf eine feste Anstellung. Goethe hat in Weimar eine feste Position, und Lenz hofft, dort als Dramatiker anerkannt zu werden und sich durch seine Schrift Über die Soldatenehen dem Herzog Karl August anzudienen. Tatsächlich führt Goethe ihn am Hof ein. Hier findet Lenz einen aufgeklärten Fürsten Lenz am Hof und eine gebildete Umgebung. Er wird als Vorleser und Gesellschafter geschätzt. Allerdings merkt er schnell, dass er keine gesicherte Position hat und in der höfischen Atmosphäre der Intrigen nicht bestehen kann. Zudem ist er für den Hof doch etwas zu exzentrisch: Seine Streiche sind noch Jahre später Stadtgespräch. In seinem Dramolett Tantalus beschreibt er seine Qualen, lässt den Helden Ixion sich in Juno verlieben, aber statt der Göttin umarmt er eine Wolke: eine Schimäre als Geliebte. Zwei Tage, nachdem Goethe Geheimer Rat geworden ist, flieht Lenz in die Einsamkeit und beendet seinen Roman

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Der Waldbruder, der aus vielen Perspektiven von Herz und Rothe (Lenz und Goethe) erzählt: Während Herz ein gefühlsbetonter Mensch ist, der sich nicht anpassen kann, ist Rothe der Vernünftige. Lenz macht deutlich, dass sich beides bedingt und ergänzt. Aber Der Waldbruder ist düster und pessimistisch: Liebe und Freundschaft sind nur ein Wahn, der durch Begierde und Machtstreben zerstört wird.

Nach Weimar Bis heute ist nicht geklärt, wie es zum Bruch mit Goethe gekommen ist. Am 26. November 1776 ereignet Bruch mit sich etwas, was Goethe in seinem Tagebuch Goethe als »Eseley« bezeichnet – offenbar hat Lenz ihn in irgendeiner Art beleidigt. Goethe erreicht, dass Lenz ausgewiesen wird. Aus einem Brief von Lenz an Herder geht hervor, dass ein Spottgedicht Anlass zum Bruch gewesen ist. Lenz’ weiteres Leben ist unstet. Er fährt nach Straßburg, dann nach Emmendingen, zurück nach Straßburg, über Colmar, Basel, Zürich und Emmendingen in die Schweiz. Als er 1777 in Emmendingen einen psychotischen Anfall bekommt, schickt Schlosser ihn zur Behandlung ins Elsass zum Pfarrer Johann Friedrich Oberlin, der in seinem Tagebuch über Lenz’ Aufenthalt vom 20. Januar bis zum 8. Februar 1778 berichtet. Lenz versinkt in religiösen Wahn, versucht sich umzubringen und ein Bauernkind vom Tod zu erwecken. Die Kur schlägt fehl. Erst bei Schlosser bessert sich sein Zustand, denn dieser kann ihn vom Nutzen körperlicher Arbeit überzeugen. Lenz arbeitet von Ostern bis

Jakob Michael Reinhold Lenz (Beistiftzeichnung von unbekannter Hand, um 1777)

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August 1778 bei einem Schuster, danach fünf Monate lang bei einem Förster, dann bei einem Arzt. 1777 erscheint Lenz’ letzte große ErzähDie letzte lung, Der Landprediger. Sie stellt eine Absage Erzählung an literarische Produktion und zugleich eine Forderung nach sozialem Engagement dar.

Riga und Russland Anfang Juni 1779 bringt Lenz’ Bruder ihn nach Riga. Seinem Vater ist er nicht willkommen. Die aufgeklärten Kreise der Stadt aber sind ihm wohlgesonnen, und er bewirbt sich um den Rektorposten an der Domschule, jedoch ohne Erfolg. Nach einer Reise nach Petersburg vom Februar bis September 1780 fährt Lenz nach Livland, wo er als Hofmeister arbeitet, sich verliebt und flüchtet. In Petersburg versucht er sich als Sekretär eines Generals; in Moskau wird er Privatlehrer in adeligen Häusern. Er wird auch Mitglied einer Freimaurerloge, plant eine Universität und eine Zeitschrift, Bibliotheken und Banken. Am 23. oder 24. Mai 1792 findet man Lenz tot auf einer Straße Mysteriöser Tod in Moskau. Die Umstände seines Todes werden nie geklärt. Möglicherweise hängen sie mit der sehr strengen Verfolgung der Freimaurer zusammen, für die sich Lenz engagiert hat.

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7 . AU TOR U N D ZEIT

Werktabelle 1766 Der verwundete Bräutigam. Drama Der Versöhnungstod Jesu Christi. Hexameterepos 1768 Die Landplagen. Versepos 1774 Der Hofmeister. Drama Plautus-Übersetzungen Der neue Menoza. Drama Anmerkungen übers Theater nebst angehängten übersetzten Stücken Shakespears 1775 Meinungen eines Laien, den Geistlichen zugeeignet Pandaemonium Germanicum. Drama (postum veröffentlicht 1819) 1776 Die Soldaten. Komödie Die Wolken Verteidigung des Herrn Wieland gegen die Wolken Zerbin oder die neuere Philosophie. Novelle Über die Soldatenehen Die Freunde machen den Philosophen. Komödie Tantalus. Dramolett Der Waldbruder. Roman (postum veröffentlicht 1882) Mysra Polagi. Drama 1777 Der Engländer Der Landprediger. Erzählung 1780 Philosophische Vorlesungen für empfindsame Seelen

8. Rezeption Schon früh galt Lenz als dichterisches Genie. Im Kreis des Sturm und Drangs hat er besondere Anerkennung genossen. Zwar werden die Regelverstöße seiner Stücke von den älteren Kritikern heftig kritisiert, von den neuen aber sehr gefeiert. Aber schon kurz nach seinem Tod geriet Lenz schnell in Vergessenheit. Schon für die Romantiker war er fast ein Unbekannter, bis 1828 Ludwig Tieck eine dreibändige Werkausgabe herausgab, in die er allerdings manche Texte aus Rücksicht auf Goethe nicht aufnahm. Um diese Zeit hat sich vor allem Georg Büchner (1813– 1837) mit Lenz auseinandergesetzt. Seine Büchner und sein Lenz Erzählung Lenz beschreibt den Wahnsinn des Dichters während seiner Kur bei Oberlin und unternimmt eine Rekonstruktion dieser schwierigen Zeit. Dies geschieht ohne Wertung, einfühlend und sachlich zugleich. Im 19. Jahrhundert galt Goethes Verdikt, Lenz sei psychisch krank gewesen. Daher haben sich nur wenige mit ihm auseinandergesetzt. Das änDie Wiederentdeckung Lenz‘ derte sich erst im Umkreis von Naturalismus und Expressionismus. Wie die Stürmer und Dränger betonten auch diese literarischen Strömungen die Bedeutung von Phantasie und Genie, und sie teilten deren Begeisterung für das Pathos der Jugend. Lenz wurde für Max Halbe, Frank Wedekind, Franz Blei und den Regisseur Otto Falckenberg wichtig. Für manche, wie Gerhart Hauptmann, Georg Trakl und Georg Heym, gab Büchners Lenz den entscheidenden Anstoß zur Beschäftigung mit Lenz.

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8 . REZEPTION

Vor allem sein Wahnsinn als unvernünftige, aber befreiende Kraft war für die Expressionisten sehr anziehend. 1928 trat ein Lenz in Franz Lehars Singspiel Friederike auf, und 1930 wurde in Düsseldorf die erste Oper aufgeführt, die sich auf ein Werk von Lenz stützt: Die Soldaten, von Manfred Gurlitt. Auch Bertolt Brecht und Marieluise Fleißer haben sich mit Lenz beschäftigt, wovon Fleißers Pioniere in Ingolstadt zeugt. 1950 brachte Brecht Lenz’ Hofmeister in einer stark bearbeiteten Fassung auf die Bühne – es war die erste Aufführung dieses Stückes seit 1791. Brechts Hofmeister-Bearbeitung Brechts Bearbeitung knüpft vor allem an die realistischen Tendenzen des Dramas an und wendet sich gegen die damals herrschende DDR-Ideologie, die Klassik und bürgerlichen Realismus als ästhetisches Programm vorgibt. Für Brecht ist Lenz ein Anwalt der bürgerlichen Klasse, die ihr Selbstbewusstsein noch finden muss. Auch andere DDR-Dichter, wie Johannes Bobrowski, Peter Huchel, Christoph Hein und Christa Wolf, beschäftigten sich mit diesem gescheiterten Dichter. In der Bundesrepublik wurden seit den fünfziger Jahren Stücke von Lenz inszeniert, 1957 Brechts Hofmeister-Bearbeitung, das Original 1957, 1963 auch Der neue Menoza. 1965 entsteht Bernd Alois Zimmermanns Oper Die Soldaten. Vor allem Paul Celan beschäftigte sich mit Lenz und der Tragik des Scheiternden. Heinar Kipphardt bearbeitete 1968 Die Soldaten, dabei fragt er vor allem nach den politischen Dimensionen des Stücks und lässt die Personen über ihre eigenen, beschränkten Rollen reflektieren. Nach dem Scheitern der Studentenrevolte (1968) kam es zu einer neuen Rezeption in der Bundesrepublik. Dazu gehören Peter Schneiders Erzählung Lenz (1973), Hermann

8. REZEPTION

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Kinders Roman Schleiftrog (1979) und Uwe Timms Kerbels Flucht (1980). Auch Film und Oper nahmen Film und Oper sich der Lenz-Figur an, wie zum Beispiel Wolfgang Rihm in seiner Kammeroper Jakob Lenz von 1979. 2005 kam Lenz, ein Film des Schweizer Filmemachers Thomas Imbach, in die Kinos. Nicht nur der Titel des Filmes spielt auf Lenz’ Schicksal an: Die Hauptfigur ist, wie J. M. R. Lenz, ein gequälter Visionär.

9. Checkliste 1. Erstinformation zum Werk 1.1 Welche Werke schrieb Lenz in Straßburg? 1.2 Was war der Anlass für das Stück Der Hofmeister? 1.3 Wie reagierte die Kritik?

2. Inhalt 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 2.9 2.10 2.11 2.12 2.13

Wie schätzt sich Läuffer selbst ein? Wozu will der Major seinen Sohn erzogen haben? Womit macht sich Läuffer unbeliebt? Welches Gehalt bekommt Läuffer? Welches Verhältnis haben Fritz und Gustchen? Wie denkt der Geheime Rat über Hofmeister? Worüber streiten sich Fritz und Pätus? Wie hilft Fritz seinem Freund Pätus? Wie hilft Wenzeslaus Läuffer? Wer rettet Gustchen aus dem Teich? Worüber streiten Fritz, Pätus und Rehaar? Wie reagiert Wenzeslaus auf die Kastration? Wieso können Fritz und Pätus doch nach Insterburg fahren? 2.14 Wie denkt Wenzeslaus über Läuffer und Lise? 2.15 Wieso kommt es zur großen Versöhnung?

9 . C HE C K L I S T E

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3. Personen 3.1 Welche Signifikanz haben die Namen im Stück? 3.2 Ist Läuffer selbstbewusst oder unterwürfig? 3.3 Wie kommt es zum Liebesverhältnis zwischen Läuffer und Gustchen? 3.4 Welche Rolle spielt Fritz von Berg?

4. Werkaufbau 4.1 Wie sind die Szenen geordnet? 4.2 In welchem Zeitraum spielt das Stück? 4.3 Beschreiben Sie die Handlungsstränge, die sich im Hofmeister erkennen lassen. 4.4 Warum gibt es so viele Unwahrscheinlichkeiten?

5. Interpretation 5.1 Welches ist der zentrale Aspekt von Lenz’ Der Hofmeister? 5.2 Beschreiben Sie die im Stück herrschenden Machtverhältnisse. 5.3 Welche Rolle spielen die Frauen im Stück? 5.4 Wie wichtig ist die private Erziehung? 5.5 Welche Rolle spielt die Selbstentmannung? 5.6 Wie glaubhaft ist das Ende des Stücks?

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9 . CH ECK L IS TE

6. Autor und Zeit 6.1 6.2 6.3 6.4

Wie bekannt war Lenz zu seinen Lebzeiten? Welche Schriften entstanden in Straßburg? Wie kam es zum Bruch mit Goethe? Wo lebte Lenz nach seiner Weimarer Zeit?

10. Lektüretipps / Filmempfehlungen Einzelausgaben Jakob Michael Reinhold Lenz: Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung. Stuttgart: Reclam, 2001 [u. ö.]. (Universal-Bibliothek. 1376.) – Nach dieser Ausgabe wird zitiert. – Der Hofmeister. Synoptische Ausgabe von Handschrift und Erstdruck. Hrsg. von Michael Kohlenbach. Basel/ Frankfurt: Stroemfeld / Roter Stern, 1986.

Werkausgaben Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Briefe in drei Bänden. Hrsg. von Sigrid Damm. München: Hanser, 1987. Taschenbuchausgabe Frankfurt a. M.: Insel, 1992. – Werke. Hrsg. von Friedrich Voit. Stuttgart: Reclam, 1992. (Universal-Bibliothek. 8755.)

Zur Biografie Hohoff, Curt: Jakob Michael Reinhold Lenz in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek 1977. Damm, Sigrid: Vögel, die verkünden Land. Das Leben des Jakob Michael Reinhold Lenz. Berlin 1985. Winter, Hans-Gerd: Jakob Michael Reinhold Lenz. Stuttgart 1987.

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1 0 . L EK TÜ RETIPPS / F IL M E M P F E HL UNGE N

Schulz, Georg-Michael: J. M. R. Lenz. Stuttgart 2001. (Reclams Universal-Bibliothek. 17629.) Boetius, Henning: Der verlorene Lenz. Frankfurt a. M. 1985.

Zum Werk Luserke, Matthias (Hrsg.): Jakob Michael Reinhold Lenz im Spiegel der Forschung. Hildesheim 1995. Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.): Jakob Michael Reinhold Lenz. München 2000. Winter, Hans-Gerd / Inge Stephan: »Unaufhörlich Lenz gelesen …« Studien zu Leben und Werk von J. M. R. Lenz. Stuttgart/Weimar 1998. Zu Der Hofmeister Becker-Cantarino, Barbara: Jakob Michael Reinhold Lenz: »Der Hofmeister«. In: Interpretationen. Dramen des Sturm und Drang. Stuttgart 1997. S. 33–56. (Reclams Universal-Bibliothek. 8410.) Hinderer, Walter: Lenz, Der Hofmeister. In: Die deutsche Komödie (Hrsg. von Walter Hinck). Düsseldorf 1977. S. 66–88. Müller, Udo: Jakob Michael Reinhold Lenz, Der Hofmeister. Stuttgart 2000. Voit, Friedrich: Erläuterungen und Dokumente. Jakob Michael Reinhold Lenz: »Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung«. Stuttgart 1986, 2002. (Reclams Universal-Bibliothek. 8177.) Mayer, Hans: Lenz oder Die Alternative. In: Ders: Das unglückliche Bewusstsein. Frankfurt a. M. 1986.

10. L EK TÜ RETI P P S / F I L M E M P F E HL UNGE N

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Filme Jakob Michael Reinhold Lenz: Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung. Bearbeitung: Bertolt Brecht. Musik und musikalische Bearbeitung: Axel Alexander. Regie: Harry Buckwitz. Hessischer Rundfunk 1976. Lenz. Regie: Thomas Imbach. Schweiz 2005.