Süd- und Mittelamerika: Fischer Weltgeschichte, Bd.23, Südamerika und Mittelamerika: Bd. II [16., Aufl.]
 9783596600236, 3596600235 [PDF]

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Zitiervorschau

Fischer Weltgeschichte Band 23

Süd- und Mittelamerika II Von der Unabhängigkeit bis zur Krise der Gegenwart Herausgegeben und verfaßt von Gustavo Beyhaut

Dieser Band ist der zweite der beiden Bände über Süd- und Mittelamerika im Rahmen der Fischer Weltgeschichte. Der Autor, Professor an der Universität Montevideo, ist gegenwärtig als Directeur d’Études Associé an der École Pratique des Hautes Études in Paris tätig. Er schildert die Entwicklung der süd- und mittelamerikanischen Staaten von ihrer Entstehung zu Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. In Querschnitten werden die entscheidenden Etappen der Geschichte Lateinamerikas in den letzten 160 Jahren vorgeführt. Der Verfasser bietet dem Leser keine Summe einzelner Nationalgeschichten, sondern arbeitet die großen, die lateinamerikanische Staatenwelt verbindenden Linien der Politik, der Kultur, der Wirtschaft und des gesellschaftlichen Lebens heraus. Von den Unabhängigkeitskriegen unter Simon Bolívar bis zu den inneramerikanischen Problemen der Staats- und Wirtschaftsführung in unseren Tagen reicht die Spannweite dieser modernen Geschichtsbetrachtung, die sich zur Erklärung des historischen Prozesses vor allem sozialgeschichtlicher Methoden und Fragestellungen bedient. Der Band gibt Einblicke in die Entstehungsgeschichte der Krise, in der sich die Länder Süd- und Mittelamerikas gegenwärtig befinden und von der die USA, die Sowjetunion und Europa gleichermaßen mitbetroffen sind. Der Band ist in sich abgeschlossen und mit Abbildungen, Kartenskizzen und einem Literaturverzeichnis ausgestattet. Ein Personen- und Sachregister erleichtert dem Leser die rasche Orientierung. Der Verfasser dieses Bandes Gustavo Beyhaut, geb. 1924 in San Carlos (Uruguay); studierte Rechts- und Geschichtswissenschaft; 1947-1949 Gymnasiallehrer in Durazno (Uruguay); 1949-1952 Stipendiat in

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Frankreich: Studium der französischen Quellen für die vergleichende Geschichte des zeitgenössischen Lateinamerikas; 1952 Professor für amerikanische Geschichte am ›Instituto de Professores Artigas‹, später an der Philosophischen Fakultät der Universität Montevideo; 1958-1961 Lehr- und Forschungsaufträge an verschiedenen argentinischen Universitäten: an der Volkswirtschaftlichen Fakultät der Universität Buenos Aires und an der Philosophischen Fakultät der Universität Rosario, sowie Direktor des dortigen Historischen Instituts; seit 1964 Directeur d’Études Associé an der École Pratique des Hautes Études in Paris. Prof. Beyhaut ist mittlerweile als Professor an der Sorbonne emeritiert. Er veröffentlichte 1959 ›Sociedad y cultura latinoamericana en la realidad internacional‹ und ist Mitherausgeber des 1961 publizierten Buches ›lnmigración y desarrollo en la Argentina‹. 1964 erschien in Buenos Aires ein Beitrag zu der vom Verfasser bevorzugten Sozialgeschichte unter dem Titel ›Raices contemporaneas de America Latina‹. Einleitung Der vorliegende Band soll einen Gesamtüberblick über den tiefen Wandel vermitteln, der sich im Leben Lateinamerikas in den letzten 150 Jahren, also von der Erringung der Unabhängigkeit bis in unsere Tage, vollzogen hat. Allerdings erweist sich der heutige Stand der historischen Erkenntnis als noch so unzulänglich, daß sich diesem Unterfangen ernste Schwierigkeiten in den Weg stellen. Die Durchsicht des in den Pariser Archiven über diesen Zeitabschnitt vorhandenen Materials hat wohl letztlich dem Verfasser zu der Auffassung verholfen, daß viele Probleme der lateinamerikanischen Geschichte eine gemeinsame Wurzel haben und daß daher eine vergleichende Untersuchung von Vorteil wäre. Eine neuere Geschichte Lateinamerikas darf keinesfalls eine Summe der Geschichte der einzelnen Staaten sein. Die Rolle des Staates als solchen war für den Gang der Ereignisse in diesem Kontinent viel weniger bedeutend, als es die der westeuropäischen Staaten in früheren Zeiten war. Die europäische Expansion und die Eroberung von Kolonien in aller Welt riefen Veränderungen höchst unterschiedlicher Art hervor. Zuweilen setzte ein ungeheurer Zustrom europäischer Siedler in fast unbewohnte Gebiete (wie Australien und Nordamerika) ein. In einigen Ländern wie Indien und anderen Gebieten Asiens dagegen errang eine verschwindend kleine Minderheit von Siedlern die Herrschaft über alte Kulturvölker, ohne sich ihnen einzugliedern. In anderen Fällen wiederum strömte eine beträchtliche Zahl von Kolonisten in bereits dicht besiedelte Gebiete, und es entstand ein Nebeneinander zweier verschiedener, durch eine Mauer von Vorurteilen getrennter Welten. Die Art der Kolonisation bestimmte dann später auch die Weise, in der die verschiedenen Gebiete die Fesseln der politischen Abhängigkeit von Europa abwarfen. Die Emanzipation Nordamerikas erscheint eindeutig als ein Willensakt der

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Kolonisten britischer Herkunft. In Indien dagegen gelangen mit der Unabhängigkeitserklärung die Kolonisierten zur Macht. Im Falle Algeriens setzt sich nach langandauerndem Kampf und schließlich errungenem Sieg eine kolonisierte Mehrheit endlich gegen eine kämpferische, heftigen Widerstand leistende Minderheit von Siedlern durch. Südafrika wiederum ist ein Beispiel dafür, wie eine Minderheit von Siedlern sich weigert, den Kolonisierten irgendwelche Rechte einzuräumen. Wo wäre nun Lateinamerika in diesem Bilde einzuordnen? Durch die Conquista wurde eine zahlenmäßig bedeutende eingeborene Bevölkerung (zu der noch die aus Afrika importierten Sklaven hinzukommen) der Kolonialherrschaft unterworfen. Im Unterschied zu anderen Kolonialgebieten dürfte aber Lateinamerika der Kontinent sein, auf dem die wenigsten Schranken zwischen Siedlern und Kolonisierten errichtet wurden, wo sich die Verschmelzung von Rassen und Kulturen im stärksten Ausmaß vollzog. Die Unabhängigkeitsbewegung war vorwiegend eine Sache der Siedler, denn die Lage der Indianer und Neger verschlimmert sich eher noch mit der Erlangung der Unabhängigkeit und während des ganzen 19. Jahrhunderts. Ein Wandel der Dinge wird erstmals dadurch bedingt, daß an vielen militärischen Fronten weitere Kreise der Bevölkerung, und damit zahlreiche Mestizen und Angehörige der unterworfenen Rassen, zur Hilfeleistung herangezogen werden müssen. Zwar hat es eine Zeit gegeben, in der Lateinamerika, je mehr es danach trachtete, sich zu europäisieren, unter dem Komplex seines kulturellen und völkischen Hybridismus litt. Aber die Zeiten ändern sich, und die Entwicklung in anderen Weltgegenden ermutigt heute durchaus dazu, eine Untersuchung der lateinamerikanischen Gesellschaft gerade unter dem Blickwinkel der Verschmelzung von Rassen und Kulturen durchzuführen. In diesem Geiste entscheidet sich der Verfasser für eine historische Darstellung, die vom Üblichen stark abweichen wird. Es wird sich nicht so sehr um eine globale Darstellung von geschichtlichen Vorgängen handeln, als vielmehr um eine Bestandsaufnahme und jeweilige Analyse von Grundproblemen. Dem Leser wird weniger eine sauber getrennte Schilderung der Verhältnisse in jedem einzelnen Land geboten; er sieht sich vielmehr in eine etwas vage Welt versetzt, in der ansonsten dem 19. Jahrhundert zugeschriebene Merkmale noch im 20. Jahrhundert Gültigkeit haben, oder in der eine anfänglich für Brasilien aufgezeigte Entwicklung möglicherweise mit der Geschichte der Ereignisse in Kuba oder irgendeinem anderen Land fortgesetzt wird. Es mag sein, daß der Verfasser nicht über alle Daten, die er sich wünschen möchte, verfügt, um festumrissene Perioden und Typen der geschichtlichen Entwicklung aufzustellen. Eines aber ist sicher: dieses asynchronistische Bild, in dem nationale Grenzen nicht als gültige Faktoren für eine Aufgliederung und getrennte Betrachtung tiefgehender historischer Umwälzungen gelten, dieses Bild entspricht wirklichkeitsgetreu dem, was Lateinamerika war und heute ist.

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Und weil es sich so verhält, lädt der Verfasser den Leser ein, ihm weiter zu folgen, nachdem er ihn gewissenhaft auf die möglichen Überraschungen aufmerksam gemacht hat, die der einzuschlagende Weg bereithält.

Einheit und Vielfalt der modernen Geschichte Lateinamerikas Eine völlig falsche Vorstellung von Lateinamerika hat weiteste Verbreitung gefunden; sie ist voll von literarischen Ausschmückungen, entspricht nicht den wahren Gegebenheiten und schenkt den regionalen Unterschieden keine Aufmerksamkeit. Das bedeutet aber nicht, daß nicht zahlreiche gemeinsame Faktoren zu berücksichtigen wären, die ihrerseits Lateinamerika als Ganzes von anderen Räumen unserer Erde unterscheiden. Zu diesen gemeinsamen Faktoren sind etwa die koloniale Herkunft zu zählen, welche die Institutionen und die Kultur so nachhaltig prägten, und die noch immer bestehende Abhängigkeit von den Zentren des Weltgeschehens, auch nach der Erreichung der nationalen Selbständigkeit. Bestimmte allgemeine Entwicklungslinien und die sie auslösenden Faktoren können im Zusammenhang betrachtet werden: es handelt sich jeweils um selbständig gewordene ehemalige spanische oder portugiesische Kolonien, in deren Wirtschaftsgefüge der Großgrundbesitz eine vorherrschende Rolle gespielt hat, wo noch immer traditionsgemäß billige Arbeitskräfte unter Bedingungen beschäftigt werden, die der Fronarbeit nahekommen, und wo sich, durch Anstoß von außen, eine Tendenz zu exportorientierten Monokulturen herausgebildet hat. Alle diese Faktoren tragen zu einer gewissen Einheitlichkeit und Zusammengehörigkeit bei; eine vergleichende Betrachtung ihrer Entwicklung wird also von Vorteil sein. Demgegenüber sind manche unterscheidenden Faktoren zu berücksichtigen: es ist nicht belanglos, ob es sich um ehemalige spanische oder portugiesische Kolonien handelt; das indianische Element der Bevölkerung übt andere Einflüsse aus als die Afrikaner und ihre Abkömmlinge; die europäische Einwanderung kam nicht allen Ländern in gleichem Maße zugute; es gibt Sondermerkmale regionaler Art in bezug auf die Anbautypen, die Sozialstruktur, etc. Um in dieser Richtung, zuverlässiger als bisher, voranzukommen, erscheint die Aufstellung von Typologien angezeigt, die eine klarere Beurteilung der Unterschiede und Ähnlichkeiten gestattet. Jacques Lambert1 zum Beispiel hat, um eine Grundlage für die Untersuchung der politischen Institutionen zu erhalten, eine geeignete Klassifizierung erarbeitet. Er unterteilt dabei die lateinamerikanischen Länder in drei Hauptgruppen, je nachdem ob es sich bei ihnen vorwiegend um eine gut entwickelte nationalstaatliche Struktur, eine archaische Gesellschaftsstruktur in geschlossenen Gemeinschaften oder um eine dualistische Sozialstruktur handelt. Klare Merkmale für eine archaische Gesellschaftsstruktur sind nach Lambert: mehr als 60% Analphabeten, Jahreseinkommen pro Kopf der Bevölkerung von weniger als 150 Dollar,

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Geburtenraten von mehr als 40‰ und Beschäftigung des’ überwiegenden Teils der aktiven Bevölkerung in der Landwirtschaft. Als Merkmale einer hochentwickelten Gesellschaftsstruktur müssen angesehen werden: 75% der Bevölkerung oder mehr sind des Lesens und Schreibens kundig, weniger als 35% der aktiven Bevölkerung sind in der Landwirtschaft tätig; die Geburtenraten liegen unter 30‰; in diesen Strukturen hat die Mehrheit der Bevölkerung die alten Formen gesprengt und sich zu einer nationalstaatlichen Gesellschaft zusammengefunden. Zwischen diesen beiden Typen liegen die ungleichmäßig entwickelten Länder mit einer dualistischen Gesellschaftsstruktur. Zu den Ländern mit hochentwickelter und homogenerer Gesellschaftsstruktur zählen Argentinien und Uruguay mit 20 bzw. 3 Millionen Einwohnern. In ihnen verschwand die Urbevölkerung mit der fortschreitenden Kolonisierung völlig, es besteht ein hohes Maß von Verstädterung, ein geringer Prozentsatz der aktiven Bevölkerung ist in der Landwirtschaft tätig, und die Einwanderung aus Europa war von beträchtlichem Umfang. Ein hoher Prozentsatz der Bevölkerung kann lesen und schreiben (1950: Argentinien 90%; Uruguay 85%). Die Geburtenrate liegt bei 25‰, und die Lebenserwartung von ungefähr 65 Jahren ist etwa so hoch wie in den westeuropäischen Ländern. Chile (mehr als 7 Millionen Einwohner) weist ähnliche Verhältnisse in bezug auf Alphabetisierung, Verstädterung und Anteil der in der Landwirtschaft tätigen Bevölkerung auf; aber es zeigt stärkere Anzeichen für gesellschaftlichen Dualismus infolge der Ausdehnung des Großgrundbesitzes und des niedrigen Lebensstandards eines Großteils der Bevölkerung. Zu den Ländern, in denen eine archaische Gesellschaftsstruktur überwiegt, gehört eine Gruppe kleinerer Länder im Karibischen Raum (Guatemala, El Salvador, Haiti, Dominikanische Republik) und in Südamerika Peru, Ekuador und Bolivien. In gewisser Hinsicht könnte ihnen Paraguay zugesellt werden. Es sind stark mestizisierte Länder (nur 10 bis 15% Nachkommen von Europäern). Das Pro-Kopf-Einkommen liegt bei etwa 150 und vielfach sogar weit unter 100 Dollar jährlich (Zahlen von 1952). Die Geburtenrate ist hoch (selten weniger als 45‰) und die Lebenserwartung sehr gering (weniger als 50 Jahre). Der Prozentsatz an Analphabeten ist sehr hoch (zwischen 60 und 90 im Jahre 1955). Paraguay bildet einen Sonderfall, unter anderem, weil noch heute manche Züge des kollektivistischen Jesuitenstaates dort fortleben. Diese Gruppe von etwa zehn Ländern hat insgesamt eine Bevölkerung von nur 36 Millionen. Zu der – nach der Lambertschen Einteilung – dritten Gruppe, den ungleichmäßig entwickelten Ländern mit dualistischer Gesellschaftsstruktur, gehören Brasilien mit mehr als 70 Millionen Einwohnern und Mexiko mit 34 Millionen: fast die Hälfte der Bevölkerung des unabhängigen Lateinamerikas und, wenn Kolumbien und Venezuela (14 bzw. 7 1/2 Millionen Einwohner) in diese Gruppe eingeschlossen werden, fast die Hälfte des gesamten Landgebietes.

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Es handelt sich um eine wenig einheitliche Gruppe. Brasilien und Mexiko unterscheiden sich nach geographischer Lage, ethnischer Zusammensetzung, Kulturzugehörigkeit (portugiesisch im ersten, spanisch im zweiten Fall), doch trotzdem gleichen sie einander, und sie sind die Länder, deren Entwicklung am schnellsten voranschreitet. Mexiko ist im Verhältnis zu seiner Bevölkerungsdichte zu unfruchtbar, hat mehr ländliche Siedlungszentren und unterscheidet sich durch den hohen Prozentsatz eingeborener Bevölkerung von den anderen Ländern dieser Gruppe. In diesen vier Ländern bestehen betont archaische neben hochentwickelten Gesellschaften. Der hochentwickelte Teil der Bevölkerung umfaßt etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung und zeigt eine Tendenz zu stetigem Anwachsen. Betrachtet man diese vier Länder unter dem Gesichtspunkt der Aufteilung auf die drei Sektoren der Wirtschaftstätigkeit, so lassen sich folgende Merkmale feststellen: die Hälfte – oder ein wenig mehr – der aktiven Bevölkerung ist in der Landwirtschaft tätig (Brasilien 58%, Kolumbien 58%, Mexiko 54%); in Venezuela liegt der Prozentsatz wesentlich niedriger, nicht aufgrund der industriellen Entwicklung, sondern infolge des Vorhandenseins eines künstlich aufgeblähten tertiären Sektors). In diesen Gesellschaften haben sekundäre und tertiäre Wirtschaftstätigkeiten zur Entstehung eines vorwiegend städtischen Mittelstandes geführt, in den auch die Arbeiterschaft einzubeziehen wäre, da ein enormer Unterschied zwischen deren Lebensstandard und dem der ländlichen Massen besteht. Das Pro-Kopf-Einkommen beläuft sich in dieser Ländergruppe nach Lambert (Zahlen von 1952–54) auf 220 Dollar in Mexiko, 230 in Brasilien und 250 in Kolumbien. Das höhere Einkommen in Venezuela (540 Dollar) ist für den Entwicklungsstand des Landes ohne Aussagewert und ausschließlich dem Erdöl zu verdanken. Dieses Einkommen ist sehr ungleichmäßig zwischen hochentwickelten und rückständigen Gebieten der Länder und unter den verschiedenen Schichten der Bevölkerung verteilt. Lambert schließt gewisse atypische Fälle aus seiner Einteilung aus: Panama (wegen der Beeinflussung durch den Fremdkörper der Kanalzone), Costa Rica (wegen des hohen Standes seiner politischen und sozialen Entwicklung trotz des Vorwiegens seiner Agrarstruktur) und Kuba (wegen der durch die Revolution geschaffenen Lage). Einen weiteren ernstzunehmenden Versuch, eine typologische Klassifizierung des lateinamerikanischen Raumes zu erarbeiten, haben Charles Wagley und Marvin Harris2 unternommen. Sie stützen sich auf das Vorhandensein von Subkulturen und schreiben: »Eines der verwirrendsten Probleme bei der Untersuchung der komplexen National- und Regionalkulturen Lateinamerikas ist die Vielfalt der Normen und Institutionen, Werte und Verhaltensweisen, die einen ›kulturellen gemeinsamen

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Nenner‹ für ganz Lateinamerika darstellen und die lateinamerikanische Kultur von den anderen Hauptkulturen der westlichen Welt unterscheiden. Doch besteht der ›kulturelle gemeinsame Nenner‹ des modernen Lateinamerika nicht einfach in diesen von der Mehrheit der lateinamerikanischen Bevölkerung übernommenen Institutionen, Werten und Verhaltensnormen. Es müssen auch beträchtliche kulturelle Unterschiede innerhalb der komplexen, heterogenen Gesellschaften berücksichtigt werden.« Wagley und Harris unterscheiden neun wichtige Typen von Subkulturen. »Es ist von ›Subkulturen‹ die Rede, weil es sich um Varianten innerhalb einer umfassenden kulturellen Tradition und den Lebensstil bedeutender Schichten innerhalb der lateinamerikanischen Gesellschaft handelt. Als Typen werden sie bezeichnet, weil ihre Beschaffenheit je nach der Umwelt, der Geschichte und den Lokaltraditionen, die für die jeweilige Nation oder Region charakteristisch sind, voneinander abweicht.« Es handelt sich um folgende Typen: 1. Eingeborene in Stammesgemeinschaften. Sie umfassen die Kulturen der wenigen Urbevölkerungen, die sich bis auf den heutigen Tag erhalten haben. 2. Moderne Eingeborene. Sie entstanden aus der Verschmelzung von Institutionen und kulturellen Normen der Ureinwohner mit iberischen Institutionen, vorwiegend aus dem 16. und 18. Jahrhundert. Sie umfassen einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung. Sie sprechen im allgemeinen eine Eingeborenensprache, können aber auch zweisprachig sein. Bei vielen ist die Gemeinschaft auch heute noch durch den gemeinsamen Landbesitz begründet. Nominell sind sie katholisch, doch leben in ihren Glaubensvorstellungen noch präkolombianische Züge fort. 3. Bäuerliche Gemeinden. Hier handelt es sich um relativ isoliert lebende bäuerliche Bevölkerungen (Mestizen, Cholos, Ladinos, Caboclos, usw.), die aus Indianern, Negern, Weißen oder Mischlingen dieser Rassen bestehen können. Ihre Lebensweise ähnelt der des modernen Eingeborenen; jedoch betrachten sie sich im allgemeinen als Bürger des Landes, in dem sie wohnen, und die nationalen Normen und Institutionen spielen bei ihnen eine gewichtigere Rolle als bei den Ureinwohnern. Ihre Wirtschaft ist enger mit der regionalen und nationalen Wirtschaft verflochten. Sie benutzen die Landessprache. 4. Die ›Ingenio‹-Pflanzung. Die Europäer, die sich im Karibischen Raum und den Ebenen des nördlichen Südamerika niederließen, fanden dort weder Edelmetall noch ein reichliches Angebot an eingeborenen Arbeitskräften vor. Sie organisierten ein landwirtschaftliches System, das auf dem Masseneinsatz afrikanischer Sklavenarbeiter gründete. So entstand die für die Neue Welt typische Pflanzung, die Hazienda, Finca, Estancia, Fazenda oder wie immer die Bezeichnung in den verschiedenen Ländern lauten mag. Die landwirtschaftlichen Betriebe bildeten schließlich echte Gemeinschaften. Zwar unterscheiden sie sich je nach dem geographischen Raum und dem Anbauprodukt (Zuckerrohr, Kaffee, Bananen, Baumwolle, Kakao, Hanf usw.),

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doch weisen sie in sozialer und kultureller Hinsicht auch zahlreiche Ähnlichkeiten auf. Am typischsten ist die Zuckerrohrplantage, deren Mittelpunkt das Herrenhaus war, in dem der Besitzer mit seiner zahlreichen Familie und einer großen Dienerschaft wohnte. Der Ingenio war eine kleine, primitive Zuckerfabrik, die aus einer von Hand oder mit Hilfe von Tieren oder Wasserkraft betriebenen Mühle bestand. Zur Zeit der Sklaverei war die Anzahl der auf einer Pflanzung lebenden Menschen nicht sehr groß (200 bis 300). Die Familie des Besitzers bildete eine umfassende patriarchalische Gruppe. Zwischen diesen Aristokraten und den Sklaven bestanden festgefügte Beziehungen. Es handelte sich um eine von Negersklaven und Besitzern europäischer Herkunft gebildete ›Kasten‹Gesellschaft. Die Abschaffung der Sklaverei, die Schwankungen auf dem Weltmarkt und schließlich die industrielle Zuckergewinnung bewirkten weitreichende Veränderungen bei den kolonialen Pflanzungen. Trotzdem sind in Lateinamerika noch viele Plantagen anzutreffen, die ungeachtet der inzwischen eingeführten Lohnarbeit dem herkömmlichen lngenio sehr ähneln. 5. Die Fabrik-Pflanzung. Später kommt das moderne, industrialisierte landwirtschaftliche Unternehmen auf, wodurch eine neue Subkultur entsteht. An die Stelle der traditionellen engen Verbundenheit und gegenseitigen Abhängigkeit zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern tritt auf der Plantage nun eine rein ökonomische Beziehung zwischen beiden. Die lokale Gruppe wird immer größer, je mehr die Zahl der Arbeiter wächst und deren Heterogenität mit jeder neuen Spezialisierung zunimmt. In steigendem Maße gewinnt die Gewerkschaftsbewegung an Einfluß unter den Arbeitnehmern, die dem städtischen Industrie proletariat näherstehen als den Arbeitern des traditionellen Ingeniös. 6. Kleinstädtische Typen. Seit altersher gibt es in Lateinamerika kleine Landstädte, in denen in regelmäßigen Abständen bestimmte Feste gefeiert werden und die für das umliegende ländliche Gebiet gleichzeitig religiösen Mittelpunkt und Verwaltungszentrum bilden. Mit der Verbesserung der Transportmittel haben sich viele dieser Landstädte zu regionalen Marktzentren entwickelt. In dem Maße wie diese Handelszentren ihren Aktionsradius erweitern, produziert die ländliche Bevölkerung nicht mehr ausschließlich für den lokalen Verbrauch. Jedoch gibt es auch heute noch unzählige Landstädtchen in Lateinamerika, die dem unmittelbar angrenzenden ländlichen Bereich als städtisches Zentrum dienen und viele der traditionellen Normen bewahrt haben. Solche Ortschaften weisen zwei Kulturen mit einem starken Gegensatz zwischen zwei sozialen Gruppen auf: einerseits Land- und Handarbeiter, andrerseits Grundbesitzer, Kaufleute und Beamte, die sich nicht in der Landwirtschaft betätigen und die örtliche Oberschicht bilden. Diese letzteren huldigen in gewisser Weise einer archaischen Auffassung von den Lebensidealen und

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Verhaltensnormen, wie sie in früherer Zeit für den Großbürger in den Weltstädten und den Landadel auf den Plantagen kennzeichnend war. Der Katholizismus dieser Oberschicht in den Subkulturen der Landstädte ist orthodoxer als bei den bäuerlichen Subkulturen und denen der modernen Eingeborenen. 7. Die großstädtische Oberschicht. In den großen Städten suchen die Angehörigen der großstädtischen Oberschicht so weit wie möglich die traditionellen Normen und Ideale der Grundbesitzeraristokratie zu bewahren. Diese Gruppe beherrscht im allgemeinen die lokale und regionale Politik. Sie setzt sich aus Grundbesitzern zusammen, die nicht auf ihren Besitzungen leben, höheren Regierungsangestellten und Beamten, Fabrikanten oder Besitzern großer Handelshäuser, Ärzten, Rechtsanwälten und Angehörigen anderer Berufe in guten wirtschaftlichen Verhältnissen. Sie verachten die Handarbeit, lieben den Luxus und pflegen enge Kontakte zu Europa und Nordamerika. Bis vor zwei Jahrzehnten war vor allem Frankreich ihr Vorbild, und als zweite Sprache beherrschten sie zumeist das Französische. Heute sind nordamerikanische Leitbilder und die englische Sprache in den Vordergrund gerückt. 8. Die großstädtische Mittelklasse. Sie setzt sich aus den sogenannten ›Stehkragen‹-Arbeitern und Vertretern anderer Berufe zusammen, die im Dienste der Regierung stehen oder im Handel beschäftigt sind. Ihr materieller Konsum und ihr Ansehen erreichen nahezu das Niveau der großstädtischen Oberschicht. Besonders hoch wird es bewertet, daß man nicht zur Handarbeit gezwungen ist. 9. Das städtische Proletariat. Obwohl es sich hier um den wichtigsten Sektor der großstädtischen Zentren handelt, ist dieser Typus noch am wenigsten bekannt. Infolge der Zuwanderung aus ländlichen Gebieten kann ein Teil des städtischen Proletariats in Wirklichkeit Träger von bäuerlichen, kleinstädtischen oder Plantagen-Subkulturen sein. Die vorstehend aufgeführten Ansätze zu einer typologischen Klassifizierung sind lediglich ein Beispiel für die bisherigen Ergebnisse einer intensiven Bemühung vieler Fachleute. Manche von ihnen betonen die kulturellen Unterschiede. Andere wiederum stützen sich auf rein zahlenmäßige Daten, die in wachsendem Maße in wirtschaftlichen und sozialen Studien zur Verfügung gestellt werden. Natürlich halten alle diese Typologien einer eingehenden Analyse noch nicht stand. Trotzdem sind diese Ansätze wertvoll und stehen nicht im Gegensatz zu unserer Auffassung, daß nur nach Berücksichtigung der regionalen Besonderheiten ein Vergleich und eine Synthese angestrebt werden dürfen. Kriterien für die Abgrenzung der vier im vorliegenden Werk behandelten grossen Zeitabschnitte Je mehr jeder Historiker sich bemüht, tiefgreifende Umwälzungen zu untersuchen, desto weniger kann er sich der althergebrachten Forderung nach

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Angabe genauer Daten beugen. Das gilt besonders für Lateinamerika, treten doch hier diese Umwälzungen in manchen Regionen viel klarer zutage als in anderen Gebieten, wo alte Institutionen und Sitten fortleben. Das Vorhandensein von Zonen mit langsamer und Zonen mit schneller Entwicklung ist jedoch keine geographische Konstante, denn es gibt durchaus Beispiele dafür, daß infolge bestimmter wirtschaftlicher oder politischer Prozesse eine Region ihren Rückstand mit einem Sprung aufgeholt und sich derart entwickelt hat, daß der erzielte Fortschritt es nun im Gegenteil erschwert, sie in der folgenden Periode mit ihren Hauptmerkmalen einzuordnen. Die oben angeführten verschiedenen Ansätze zu einer typologischen Klassifizierung für Lateinamerika sollten auf diese Schwierigkeiten hinweisen, bevor wir uns der eigentlichen Untersuchung des historischen Entwicklungsprozesses zuwenden. Um diesen Prozeß besser darlegen zu können, unterteilen wir ihn in vier Hauptperioden. Die erste Periode, Die Unabhängigkeit, wird annähernd den Zeitraum von 1810 bis 1825 umfassen, wenngleich sie eigentlich noch etwas länger dauert. Ihr Hauptgegenstand ist selbstverständlich der Kampf gegen die koloniale Abhängigkeit bis zum endlich errungenen Sieg. Die zweite Periode, Europäisierung und von außen beeinflußte wirtschaftliche Expansion, reicht ungefähr bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts. Allerdings finden manche in diesem Zeitabschnitt einsetzende Veränderungen erst mit dem Ersten Weltkrieg, andere sogar noch später ihren Abschluß; ein weiterer schlüssiger Hinweis auf die Notwendigkeit, bei der Angabe von Jahreszahlen zur Abgrenzung der einzelnen Abschnitte nicht zu rigoros zu sein. Der wirtschaftliche Wandel setzt in dieser Periode etwa um die Mitte des 19. Jahrhunderts ein und vollzieht sich mit besonderem Nachdruck von 1870 an. Der gewaltige Zustrom europäischer Einwanderer macht sich vom letzten Drittel des Jahrhunderts an bemerkbar. Die politischen Vorgänge decken sich mehr oder weniger mit dem hier abgegrenzten Zeitabschnitt und seinen Wesensmerkmalen. Allerdings schließen wir bewußt die mexikanische Revolution (ab 1910) und Regierungsperioden wie die des Präsidenten Battle in Uruguay (1903–1907; 1911–1915) und des Präsidenten Irigoyen (1916 bis 1922) in Argentinien aus, weil sie eher für die Geschehnisse in der nächsten Periode kennzeichnend sind. Im Hinblick auf den geographischen Zusammenhang der in diesem Abschnitt vornehmlich geschilderten Wandlungsprozesse muß noch einmal darauf hingewiesen werden, daß sie in sehr verschiedener Weise alle Regionen betreffen. Chile zeigte eine frühe staatliche Reife. Die Ebenen am Rio de la Plata und die Kaffeeanbaugebiete in Brasilien erlebten eine unerhörte wirtschaftliche Expansion und wurden zum Hauptanziehungsgebiet für Millionen europäischer Einwanderer. Die britische Vorherrschaft bestimmte auf dem Wege über den Handel und Kapitalinvestitionen maßgeblich den Gang der Entwicklung (allerdings waren bereits nordamerikanische Vorstöße in den Karibischen Raum zu beobachten).

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Die dritte Periode, Beginn der Krise, umfaßt die Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg. An ihrem Beginn stehen die mexikanische Revolution und der politische Fortschritt in Argentinien und Uruguay. Die bemerkenswertesten Umwälzungen gehen jedoch vom Ersten Weltkrieg und – was die strukturellen Veränderungen anbetrifft – noch eindeutiger von der Weltwirtschaftskrise im Jahre 1929 aus. Jene Gesellschaften, die als erste eine gewisse Stabilität und Entwicklung erreichten (Argentinien, Uruguay), wiesen allerdings nachher nicht auch die höchsten wirtschaftlichen Wachstumsraten auf (wie Mexiko und Brasilien). Zu den grundlegend wichtigen Tatsachen dieser Periode gehören die wachsende Bevormundung durch die USA und die Zunahme nordamerikanischer Investitionen, der überall spürbare Schock der Krise von 1929–1934 und die wachsende Einsicht, daß die Europäisierung Spuren hinterlassen hat, deren Bereinigung ebenso notwendig wie schwierig war. Der vierten und letzten Periode, Die neueste Zeit, ist im Prinzip die detaillierte Betrachtung der Ereignisse nach dem Zweiten Weltkrieg vorbehalten. Es braucht fast nicht noch einmal besonders erwähnt zu werden, daß sich hierbei des öfteren Anlaß für einen ausgedehnten Rückblick ergeben wird, der unter Umständen die Geometrie der schematischen Darstellung durchbricht und die saubere Trennungslinie zwischen den einzelnen Perioden überschreitet. Eine moderne Geschichte Lateinamerikas kann es nur geben, wenn Vergangenheit und Gegenwart real miteinander in Verbindung gesetzt werden, wenn durch Hinweise auf die Entwicklung zur Klärung heutiger Probleme beigetragen wird. Eine letzte Bemerkung sei gestattet, auch auf die Gefahr einer Wiederholung hin: nicht nur dieser, sondern jeder Versuch einer Gesamtdarstellung der Geschichte Lateinamerikas sieht sich durch die Asynchronität der Umwälzungen gefährdet. Reisen ist in Lateinamerika unter anderem eine Art und Weise, die Vergangenheit wieder lebendig zu machen. Noch heute kann man während einer solchen Fahrt auf Reste primitiver Völker stoßen, bei denen der Kontakt mit dem weißen Mann fast oder gar keine Spuren hinterlassen hat, auf Landstriche, die noch zum Teil von einstigen Merkmalen der kolonialen Gesellschaft geprägt sind; in anderen Gegenden glaubt man sich ins 19. Jahrhundert zurückversetzt, und in den modernen Großstädten endlich wird man mannigfache Erscheinungen beobachten können, wie sie die modernste Entwicklung in den Industriegesellschaften nach sich zieht. Erste Periode Die Unabhängigkeit In mancher Hinsicht sind die Merkmale dieser Periode über die hier gezogenen zeitlichen Grenzen (1810–1825) hinaus gültig. In gewisser Weise war die Emanzipation Lateinamerikas der Höhepunkt einer Entwicklung, die sich seit Beginn des 18. Jahrhunderts gebieterisch abzuzeichnen begann: des beharrlichen

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britischen Vordringens gegen das spanische und portugiesische Kolonialreich. Die spanischen Reformversuche lösten gewisse Spannungen aus, als sie mit ihren Umgestaltungsplänen an die Interessen der kreolischen Aristokratie, deren Forderungen nach Autonomie und neuen Privilegien ständig größer wurden, rührten. Seinen endgültigen Abschluß fand der Prozeß der Emanzipation, muß man sagen, nicht im Jahre 1825, denn manche Gebiete schütteln erst später die kolonialen Bande ab, und außerdem entstehen auch nach dieser Zeit noch neue Staaten dadurch, daß andere größere Staatsgebilde auseinanderfallen. Unter diesem Blickwinkel müßte das Jahr 1898 (Unabhängigkeit Kubas) bzw. 1903 (Lostrennung Panamas von Kolumbien) als abschließendes Datum genannt werden.

1. Die Unabhängigkeitskriege Die Ursachen der Unabhängigkeitsbewegung lassen sich kaum ergründen, wenn man lediglich die kurze Spanne der Unabhängigkeitskriege und die Jahre unmittelbar vorher untersucht. Eine völlige Klärung kann nur erzielt werden, wenn man sie im Zusammenhang mit einem größeren, tiefgreifenden Umwandlungsprozeß sieht, der bereits lange zuvor begann und weit über die Zeit der bewaffneten Auseinandersetzungen hinausgreifen sollte. Da die Kenntnis dieses Prozesses grundsätzlich notwendig ist, um den Niedergang der iberischen Kolonialherrschaft in Lateinamerika verstehen zu können, sollen hier einige seiner wesentlichen Faktoren festgehalten werden: 1. Die Festigung der britischen Interessen in Übersee, gestützt auf die Navigationsakte und eine kluge, mit der wirtschaftlichen Entwicklung Englands in Einklang stehende Politik. Die hohen Aktivsalden der Handelsbilanz, die gleichermaßen aus dem legalen wie aus dem Schmuggelhandel herrührten, brachten Großbritannien in den Besitz eines großen Teils der in den spanischen und portugiesischen Kolonien in Amerika geförderten Edelmetalle. Das aber befriedigte noch keineswegs die wachsenden britischen Gelüste, die sich außerdem durch reformfreudige Minister der iberischen Halbinsel und deren Versuche, diesen Stand der Dinge zu ändern, bedroht sahen. 2. Die tiefgreifenden Veränderungen innerhalb der europäischen Gesellschaft durch den Aufstieg des Bürgertums und die Entwicklung einer regen Unternehmertätigkeit und eines starken Wettbewerbs innerhalb der in voller Expansion befindlichen kapitalistischen Wirtschaften. Dort nahmen große, besonders auf den Überseehandel ausgerichtete Gesellschaften ihre Tätigkeit auf. Die Produktion wurde organisiert und so der Boden für die Errungenschaften der Technik bereitet. 3. In den von diesem Entwicklungsprozeß nicht unmittelbar berührten peripheren Gebieten war man zwar nicht voll und ganz an dieser

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Unternehmertätigkeit beteiligt, welche die Produktion mechanisierte und organisierte, teilte aber zumindest das Streben nach Reichtum und hatte eine klare Vorstellung von den Genußmöglichkeiten, die dieser gewährt: die kreolischen Oberschichten hatten ihr Vermögen ständig vergrößert und verlangten noch mehr, als das Mutterland ihnen zuzugestehen gewillt war. 4. Schließlich sind die großen kulturellen Wandlungen im Gefolge der Verbreitung des Gedankengutes der Aufklärung zu nennen. Ihr militantester Ausdruck in Lateinamerika sollten Logen und Geheimgesellschaften werden, die immer stärkere Verbreitung fanden, je mehr sich die Lateinamerikaner durch ausgedehnte Reisen und Lektüre vom Verfall gewisser Institutionen überzeugen konnten, die jetzt von einem neuen Wertsystem in Frage gestellt wurden.

Die Lage in den spanischen Kolonien Immer wieder erhoben sich in Spanien Stimmen gegen die Ursachen seines Niedergangs; sie wiesen unter dem Eindruck der in Europa weit verbreiteten Neuerungsbestrebungen auf die Fehler in der spanischen Wirtschaftspolitik, die Vernachlässigung der Produktion, die Zunahme des Müßigganges und Mängel im Handel mit den Kolonien hin. Mit dem Beginn der Bourbonenherrschaft in Spanien, insbesondere aber während der Regierung Karls III. (1759–88) kam es zu staatlichen Reformen, da dieser Herrscher sich mit fähigen Mitarbeitern umgab und eine ganze Reihe von Neuerungen einführte: technische Ausbildung, Verfolgung arbeitsscheuer Elemente, Förderung des Handwerks und der Landwirtschaft. Die spanischen Reformen gingen jedoch die Probleme des Königreichs allzu legalistisch und oberflächlich an, als daß sie einen wirklich durchschlagenden Erfolg hätten erzielen können. Zudem vergrößerten diese Reformen die Unzufriedenheit der kreolischen Aristokratien, denn sie zielten auf eine bessere und straffere zentralistische Verwaltung ab und liefen somit den Autonomiebestrebungen dieser Kreise zuwider, die sich, ohne daß diesbezügliche gesetzliche Verfügungen bestanden hätten, von allen höheren Ämtern ausgeschlossen sahen. In seiner Rede über die Volksbildung des Handwerkerstandes und ihre Förderung vertrat Campomanes, Minister Karls III., die Ansicht, die beste Art und Weise, den Schmuggelhandel zu bekämpfen, sei es, den Anreiz durch die hohen Gewinne zu beseitigen, indem man dem legalen Handel Zugeständnisse mache und ihn besser ausbaue. An dieser Stelle können nicht alle Erleichterungen aufgezählt werden, die dem Handel mit den Kolonien nach und nach gewährt wurden; es genügt, darauf hinzuweisen, daß sie nicht ausreichten, die Unzufriedenheit in den Kolonien zu beseitigen. Die vom Mutterland ausgehenden Reformen liefen außerdem manchen lokalen Interessen zuwider und steigerten so nur noch den Wunsch, die Zollschranken zwischen den Kolonien und der übrigen Welt endgültig niederzureißen.

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Welch kurzsichtige Vorstellungen über die notwendigen und nützlichen Reformmaßnahmen herrschten, zeigt ein etwas naiver königlicher Erlaß Karls III. aus dem Jahre 1776, der die Geistlichkeit aufrief, die weitverbreitete Ansicht zu bekämpfen, daß der Schmuggelhandel zwar ein Vergehen, aber keine Sünde wäre. » ...Seine Majestät hat beschlossen, daß ich in Seinem königlichen Namen Euren christlichen Eifer anrufe und Euch ermahne, Ihr selbst und Eure Vikare, Pfarrer und Prediger möchtet Euch bemühen, dem unwissenden Volk darzulegen, wie falsch und verwerflich diese Auffassung ist, indem Ihr allen Gläubigen vor Augen stellt, welchen Schädigungen und ewiger Verdammnis sie ihre Seele aussetzen ...« Ein solches Verfahren war von vornherein zum Scheitern verurteilt, denn der weiten Verbreitung des Schleichhandels konnte nicht mit diesen Mitteln entgegengearbeitet werden, dazu bedurfte es radikaler Lösungen. Es gab mannigfache Anzeichen für die zunehmende Brüchigkeit der Kolonialherrschaft. Das Ringen der kreolischen Oberschichten um die Macht äußerte sich in vielfältigem Widerstand gegen administrative Maßnahmen und in hartnäckigem Streben nach Selbstverwaltung. Die lästigen Beschränkungen durch das Handelsmonopol und der wachsende Hang der Kreolen zur Prachtentfaltung bewirkten eine Steigerung des Schmuggelhandels. Studienzirkel und Geheimgesellschaften wurden gegründet, in denen man, beeinflußt durch die Lektüre von Werken der Aufklärung, Pläne für eine Loslösung vom Mutterland schmiedete. Diesem ideologischen Reifungsprozeß stand jedoch noch keinerlei Wandel der realen Gegebenheiten zur Seite, und auch eine günstige internationale Konstellation ergab sich erst im Jahre 1808, als der spanische Thron vakant wurde. Doch dürfen die zahlreichen Ereignisse nicht außer acht gelassen werden, die den schließlichen Bruch vorbereiten: Bewegungen wie der Aufstand in Coro, Verschwörungen wie die des Nariño und der zunehmende britische Druck gegen das spanische Handelsmonopol. Dieser erreichte seinen Höhepunkt im Jahre 1806, als Francisco Miranda (ein Venezolaner, der im spanischen Heer gedient, am Nordamerikanischen Unabhängigkeitskrieg und, als Divisionsgeneral, während der Französischen Revolution an den Kriegen in Europa teilgenommen hatte) an der Karibischen Küste und der englische Admiral Popham am La-Plata-Fluß landeten. Beide hatten zuvor auf englischem Boden Verbindung miteinander aufgenommen. Miranda suchte zwar Unterstützung bei England, verfolgte aber das Ziel völliger Unabhängigkeit, und’ diese seine Pläne fanden damals noch keinen Anklang auf amerikanischem Boden. Popham leitete, anfangs ohne Ermächtigung durch die britische Regierung, einen offenen Eroberungszug ein, dem später ein zweiter, offizieller Versuch folgte. Er hatte außerdem geplant, einen Teil seiner Truppen in Chile an Land zu setzen, doch dies alles scheiterte am lokalen Widerstand und den Versorgungsschwierigkeiten. Die Ursprünge der militärischen Auseinandersetzung

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Paradoxerweise sollten England während der ganzen ersten Phase der Unabhängigkeitskämpfe in den spanischen Kolonien (bis 1814) durch die Allianz mit Spanien, das sich gegen Napoleon erhoben hatte, die Hände gebunden sein. Der französische Kaiser war Ende des Jahres 1807 mit seinen Truppen in die Iberische Halbinsel eingefallen und hatte dann unter Druck von der spanischen Monarchie die Verzichterklärung von Bayonne erreicht und Joseph Bonaparte zum König von Spanien proklamiert. Zur Verteidigung des angestammten Königshauses erhob sich das spanische Volk, und es kam zur Bildung freiheitlicher Juntas. Diese widersetzten sich mit Waffengewalt der französischen Fremdherrschaft. Anfänglich führte diese Lage auch in Hispanoamerika zur Einsetzung spanientreuer Juntas, die sich um engen Kontakt miteinander und die Koordination aller Anstrengungen bemühten. Aufgrund lokaler Gegebenheiten schlössen sich die autonomistischen Kreolen und die treuesten Anhänger des alten Regimes in zwei Parteien zusammen. Inzwischen wurde aus dem Vorgeplänkel eine kriegerische Auseinandersetzung. Der militärische Kampf hat ausschlaggebend zur Radikalisierung der Geschehnisse beigetragen. Denn die Unabhängigkeit ist nicht das Resultat einer Bewegung, die mit einem festumrissenen Programm und einer klaren ideologischen Zielsetzung aufgetreten wäre, sondern eine Antwort, die erst im Lauf der Ereignisse formuliert wird. Daher war der Einfall französischer Truppen in die Iberische Halbinsel letztlich die Ursache für die Kämpfe, die zur Unabhängigkeit fuhren, und dies aus zwei Gründen: in erster Linie weil die Ereignisse in Spanien Vorbild und Anstoß für eine liberale Junta-Bewegung in Amerika wurden, und außerdem, weil die militärische Ausschaltung Spaniens durch die Franzosen die Entsendung von Truppen nach Amerika vorübergehend verhinderte. Man muß sich fragen, warum der Beginn der spanisch-amerikanischen Revolution im Jahre 1810 angesetzt wird, obgleich die ersten Juntas sich bereits 1808 bildeten. Die Erklärung hierfür ist darin zu finden, daß trotz aller Agitation und einiger vereinzelter Fälle die Entstehung der Juntas im Jahre 1808 ein streng kontrollierter Vorgang ist. Generalkapitän Casas, der versuchte, eine Junta in Caracas zu gründen, die auf Initiative des Vizekönigs Amat in Bogotá gebildete Junta, die Junta in Montevideo, die gegen den Vizekönig Liniers ins Leben gerufen wurde, weil dieser angeblich gemeinsame Sache mit den Franzosen machte, sie alle bemühten sich stets um eine letzte Entscheidung des Mutterlandes, mit der das eigene Vorgehen autorisiert wurde, und fast immer geschah dies auch. Darin liegt ein offensichtlicher Unterschied zu den Ereignissen des Jahres 1810, da zu diesem Zeitpunkt in Spanien keine Institutionen mehr bestanden, auf deren Zustimmung irgend jemand noch Wert gelegt hätte: die Truppen waren geschlagen, und von den Juntas war die Regierungsgewalt – durch eine recht anfechtbare Prozedur – an einen Regentschaftsrat übergegangen, der es nur dem Schutz der britischen Flotte verdankte, daß er in seinem Zufluchtsort, der Insel León bei Cádiz,

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weiterbestehen konnte. Zu diesem Zeitpunkt konnte also nicht mit der Ankunft spanischer Truppen in Amerika gerechnet werden, und überdies breitete sich in den Kolonien die Überzeugung aus, daß im Mutterland im Augenblick keine Instanz mit letzter Entscheidungsgewalt mehr vorhanden war, an die man sich wegen der Sanktionierung auf amerikanischem Boden getroffener Maßnahmen hätte wenden können. Von diesem Zeitpunkt an wurden die amerikanischen Juntas, deren wichtigste die von Quito, Buenos Aires, Bogotá und Santiago waren, zu Sammelbecken eindeutiger Autonomiebewegungen, die sich schließlich an einer militärischen Auseinandersetzung beteiligten. Diese Juntas, von denen später der Anstoß zur völligen Lostrennung vom Mutterland ausgehen sollte, dürfen nicht mit anderen, von Anfang an radikaleren Bewegungen verwechselt werden, wie sie in Mexiko und Caracas um sich griffen, aber dann erstickt und niedergeschlagen wurden. Zeitlicher Ablauf des Krieges Von 1810 bis zur endgültigen Niederlage der spanischen Truppen in der Schlacht bei Ayacucho (1824) lassen sich mehrere Phasen der Auseinandersetzung unterscheiden. Wir wollen sie auf den drei Hauptschauplätzen des revolutionären Geschehens, in Mexiko, dem Karibischen Raum und am Rio de la Plata, einzeln verfolgen. In Mexiko war es ein gebildeter, im Lande selbst geborener Priester namens Hidalgo, der im ›Grito de Dolores‹ (1810) zum bewaffneten Aufstand gegen die Spanier aufrief. Er erklärte die Sklaverei für abgeschafft und versprach den Indianern die Rückgabe ihrer Ländereien. Bald stand er an der Spitze von mehr als achtzigtausend Mann und nahm die Stadt Guanajuato ein. Der Mangel an Waffen, die unzulängliche militärische Ausbildung seiner Truppen, das Mißtrauen der Grundbesitzeraristokratie, die erleben mußte, daß die Indianer für soziale Ziele kämpften, dies alles trug zu seiner Niederlage bei. Hidalgo wurde mit seinen engsten Mitstreitern im Juli 1811 hingerichtet. Ein anderer Priester namens Morelos, nicht so gebildet, aber mit größerem strategischen Geschick begabt, entfachte noch im gleichen Jahr an einer breiten militärischen Front den Aufstand von neuem. Es gelang ihm, eine reguläre Verwaltung aufzubauen, und im Jahre 1813 rief er die Unabhängigkeit Mexikos aus. Vier Jahre lang war er der Anführer der Revolution, die weiterhin indianerfreundlich und radikal blieb. Er verkündete die Abschaffung der Sklaverei und die Gleichheit aller Rassen und ließ eine – nie in Kraft getretene – Verfassung ausarbeiten, in der als Staatsform die Republik eingeführt wurde. Von Iturbide, einem Heerführer der königstreuen Truppen, geschlagen, wurde Morelos gefangengenommen und im Jahre 1815 erschossen. Es blieb nur noch eine einzige Widerstandsgruppe unter dem Kommando von Morelos’ Stellvertreter Guerrero übrig. Im Jahre 1810 bildete sich auch in Caracas eine Junta. Kurz darauf stellte sich, nach seiner Rückkehr aus England, Francisco

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Miranda an die Spitze der Rebellen und trug mit zur Ausrufung der Unabhängigkeit im folgenden Jahre bei. Aber die Eintracht unter den venezolanischen Rebellen und ihr militärischer Erfolg waren nicht von langer Dauer. Sie verloren den größten Teil ihrer Ausrüstung bei der Einnahme von Puerto Cabello durch die Royalisten, und die Einigkeit zerbrach an einer Reihe von Zwistigkeiten und Verrätereien, die in der Auslieferung Mirandas an die Spanier gipfelten. Miranda starb vier Jahre später im Gefängnis. Von diesem Zeitpunkt an wurde Simón Bolívar zum Anführer der Unabhängigkeitsbestrebungen im nördlichen Südamerika. Nach einer Reihe anfänglich gescheiterter Versuche und langwierigen Kämpfen sollte er schließlich den Sieg erringen. Bolívar war es gelungen, einen großen Teil der kriegerischen Llanero-Milizen, die zuvor auf Seiten der Königstreuen gekämpft hatten, für sich zu gewinnen; er erhielt wirtschaftliche Hilfe und Kriegsschiffe von Großbritannien; britische und irische Soldaten, Veteranen aus den Kriegen gegen Napoleon, kämpften in seiner Armee; er führte einen erbarmungslosen ›Krieg auf Leben und Tod‹ und bewies eine außergewöhnliche Geschicklichkeit in der beweglichen Kriegsführung, wie beispielsweise bei der Überquerung der Anden (von den weiten Ebenen des Orinoco bis in das Gebiet Neu- Granadas, des heutigen Kolumbien). Bei aller Kühnheit und Selbstgefälligkeit gelang es Bolívar, die unterschiedlichen Rebellengruppen an sich zu binden. Als Freund hochfliegender Pläne entwarf er Verfassungen und plante rastlos neue Feldzüge. Aber seinen Erfolg verdankte er in nicht geringem Maße der Hilfe Englands und dem Umstand, daß Morillo, Kommandant der königstreuen Truppen in Venezuela, infolge des liberalen Aufstandes unter Riego in Spanien (1820) keinen Nachschub erhielt und sich wenig später gezwungen sah, in seine Heimat zurückzukehren. Damit wird für Bolívar der Weg zum Angriff auf Peru, die letzte königstreue Bastion, frei. Ebenfalls im Jahre 1810 kam es zum Aufstand am Rio de la Plata. Am 25. Mai brach die Rebellion in Buenos Aires aus, breitete sich über das ganze Vizekönigreich aus, führte zur Abspaltung Paraguays und mündete in den Kampf der Provinzen gegen das Vormachtstreben von Buenos Aires ein. Unbeteiligt an diesen inneren Zwistigkeiten, plante General José de San Martín die Überquerung der Anden, um Chile zu befreien und die Spanier dann in Peru anzugreifen. Nach sorgfältiger Vorbereitung überquerte er Ende des Jahres 1816 die Kordilleren mit einem relativ starken und wohlausgerüsteten Heer und befreite Chile in den Jahren 1817–1818. Dank der Hilfe Lord Cochranes, eines englischen Seeoffiziers und Abenteurers, konnte er dann seine Soldaten in Chile einschiffen und an der peruanischen Küste wieder an Land setzen, worauf der spanische Vizekönig Lima verließ und Zuflucht im Gebirgsland suchte (1821). Im Juli des folgenden Jahres fand die berühmte Begegnung zwischen San Martin und Bolívar in Guayaquil statt. Das Ergebnis dieser Unterredung war San Martins Entschluß, sich zurückzuziehen und das Feld dem Libertador, dem Befreier, zu überlassen, der von Norden gekommen war und dem offensichtlich mehr daran lag, derjenige zu sein, welcher der

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spanischen Herrschaft in Südamerika den Todesstoß versetzen würde. So sollte es dann tatsächlich kommen: Antonio José de Sucre, ein Unterfeldherr Bolívars, gewann bei Ayacucho die letzte große Schlacht gegen die spanischen Truppen (1824). Nach der endgültigen Niederlage Napoleons im Jahre 1815 bekam England freie Hand zur nachdrücklichen Unterstützung der Rebellen. Andererseits hatte die spanische Amerika-Politik seit dem liberalen Aufstand unter Riego an Sicherheit und Ansehen verloren. Eine seiner unerwarteten Folgeerscheinungen war die Beschleunigung der Emanzipation Mexikos, die das Ergebnis gemeinsamer Anstrengungen des hohen Klerus und der grundbesitzenden Aristokratie war. General Iturbide, ein ehemaliger Royalist, hatte Verbindungen zu dem Rebellenführer Guerrero aufgenommen. Die Verhandlungen zeitigten den Iguala- Plan und die Ausrufung der Unabhängigkeit (1821). Die allgemeinen Bestimmungen dieses Plans wurden unter der Bezeichnung ›Die drei Garantien‹ bekannt: Mexiko sollte ein unabhängiges, von Ferdinand VII. oder einem Mitglied eines der europäischen Herrscherhäuser regiertes Königreich werden; einstweilen sollte eine Junta die Regierungsgewalt ausüben und einen verfassunggebenden Kongreß einberufen; die katholische Religion sollte Staatsreligion bleiben und die Kirche alle ihre Privilegien behalten; alle Mexikaner sollten gleich sein, und das Privateigentum sollte gebührend geschützt werden. Royalisten und Rebellen einigten sich nach und nach über den Iguala-Plan. Die spanischen Cortes weigerten sich zwar, die vollzogenen Tatsachen anzuerkennen, doch war es bereits zu spät, sie noch zu ändern. Mexiko hatte zu Zeiten Hidalgos und Morelos’ den Kampf unter sozialem Vorzeichen und mit aktiver Beteiligung der kolonisierten Bevölkerung aufgenommen, doch blieben nach Erreichung der Unabhängigkeit alle Privilegien der Kolonisten vollauf erhalten. Die Verwirklichung der ›Drei Garantien‹ des Iguala-Plans warf eine Unzahl von Problemen auf. Ferdinand VII. weigerte sich, die Unabhängigkeit anzuerkennen, und im Jahre 1829 ist sogar ein Landungsversuch spanischer Truppen zu verzeichnen (erst 1836 hat Spanien die junge Republik anerkannt). Die verkündete Gleichheit der Rassen war völlig illusorisch. Die Macht war in die Hände einer Koalition von Großgrundbesitzern aus Zentralmexiko, der hohen Geistlichkeit und gewissen Elementen des städtischen Bürgertums übergegangen, die ausreichende Unterstützung beim Militär gefunden hatte. Die Eingeborenen zogen keinerlei Nutzen aus dem Wandel der Lage. Zu den der Kirche garantierten Vorrechten gehörte auch die Steuerfreiheit, was die Staatseinnahmen verminderte. Das Heer weigerte sich, eine Herabsetzung der Gehälter und Truppenstärken hinzunehmen. So ergab sich ein chronisches, willkürlich manipuliertes Defizit, es kam zu ständigen Interventionen des Militärs und zahlreichen, durch die unzulänglichen Verkehrsverbindungen begünstigten, lokalen Aufständen. Mit Agustín de Iturbide und seinem Versuch,

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ein Kaiserreich zu begründen, übernahm zum ersten Mal in Lateinamerika ein ehrgeiziger General die Macht. Sein baldiger Sturz leitete eine langjährige Periode völliger Anarchie ein. Ihren vorläufigen Abschluß fand sie mit der Machtübernahme (1833) durch einen anderen, republikanisch gesinnten General namens Santa Anna, der es besser verstand, sich an der Macht zu halten. Soziologische Aspekte des Krieges Im Verlaufe der revolutionären Ereignisse war das Scheitern sowohl allzu radikaler als auch solcher Bewegungen zu beobachten, die von sehr fest umrissenen ideologischen Vorstellungen ausgegangen waren. Allein die hartnäckige militärische Auseinandersetzung und die damit verbundene Entstehung verschiedener Parteien ermöglichte den Fortgang der Revolution und die allmähliche Herausbildung festumrissener Interessen und Tendenzen. Der Kriegszustand löste zudem eine tiefe geistige Erschütterung und einen harten Wirtschaftskampf aus, was wiederum die Entwicklung eines Solidaritätsgefühls einzelner Gruppen und die Koordinierung gemeinsamer Anstrengungen begünstigte. Wir werden sehen, wo und wie diese Tatsachen in Erscheinung traten. In erster Linie ist die Rolle der Städte und der ländlichen Gebiete in diesem Krieg zu untersuchen. In den an der Aufhebung des spanischen Handelsmonopols interessierten Städten lockerten sich die Bande zum Mutterland und machten einer Art Tendenz zur gemäßigten Revolution Platz: im Interesse des Handels war vor allem die Öffnung der Häfen erforderlich, an andere Weiterungen und größere Veränderungen dachte man nicht. Die Städte, die in der kolonialen Hierarchie eine Rolle von Bedeutung gespielt hatten, hofften, diese beibehalten und weiter festigen zu können. Die dort oder auf ihren Besitzungen lebenden Grundeigentümer hatten keinerlei Interesse an irgendwelchen Strukturwandlungen, die sie ihrer Arbeitskräfte berauben oder ihre Privilegien beeinträchtigen konnten. Es waren besonders für den Kleinkrieg geeignete ländliche Gebiete. Die vorwiegend von Indianern bevölkerten Hochebenen (man denke an die erste mexikanische Rebellion und den gescheiterten Aufstand unter Pumacahua – 1814/15 – in Cuzco und Arequipa) erwiesen sich als günstiger Boden für eine soziale Auseinandersetzung, weil dort die Spannungen am stärksten waren und das Terrain sich besonders für den Einsatz schlecht bewaffneter Massen eignete; doch waren diese sozialen Revolutionen von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil sie an den Grundpfeilern des herrschenden Systems rüttelten. Dagegen wurden die weiten Viehzüchterebenen wichtige Brennpunkte für die Fortführung der Kämpfe. Dort hatte die Mestizisierung günstige Bedingungen gefunden, die sozialen Spannungen waren nicht so groß, und die besten Hilfsquellen für den Kampf standen zur Verfügung: Pferde zur Ermöglichung von Truppenbewegungen und zur Durchführung der Schlachten, Viehbestände (die in großem Umfang zur Sicherstellung der Verpflegung von den Truppen mitgeführt werden), Reiter

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(Gauchos, Llaneros), die in der Handhabung von Waffen erfahren waren und außergewöhnlichen Mut und Entschlossenheit besaßen. Messer und andere landwirtschaftliche Geräte wurden zu Lanzen umgeschmiedet, gefährliche Waffen, wenn man einerseits die Geschicklichkeit der Reiter und andererseits die umständliche Handhabung und geringe Reichweite der Feuerwaffen jener Zeit bedenkt. Eine derartige Miliz bedurfte keines größeren militärischen Rückhaltes, sie war beweglich und konnte in kürzester Zeit weite Strecken zurücklegen. Zu ihr gehörten die Llanero-Truppen, mit deren Hilfe Bolívar den Kampf zu seinen Gunsten entschied, und die Gaucho- Reitertrupps am Rio de la Plata: zwei Kernkräfte der sogenannten unorganischen Demokratie‹, die für die Erringung des Endsieges von so ausschlaggebender Bedeutung waren. In der Revolution machten sich zwei Arten des Radikalismus bemerkbar: einer intellektueller Herkunft und der andere, der sich am Geschehen selbst entzündete. Die erste Spielart war von der Französischen Republik beeinflußt, und manche ihrer Vertreter waren ausgesprochene Befürworter des Terrors; so etwa Mariano Moreno in Buenos Aires, dessen ›Operationsplan‹ in gewissen Grundzügen einen offensichtlichen jakobinischen Einfluß verrät. Die zweite Spielart des Radikalismus war das Ergebnis der Kämpfe der Volksmasse und wurde von denen inspiriert, welche die Revolution weiter tragen wollten, als es den Wünschen der Handelsherren und Großgrundbesitzer entsprach. Sie war einzig und allein eine Ausgeburt des Kampfes selbst, denn nach und nach hatten sich auch andere Schichten der Bevölkerung an ihm beteiligt, um ihre eigenen Interessen zu verfolgen. Zeitweise stand dieser Radikalismus unter dem Zeichen der Versprechungen, die man den unterworfenen Rassen machte, besonders dann, wenn man ihre aktive Teilnahme an den Kriegshandlungen wünschte, oder er kam bei der Verteilung der Kriegsbeute und der Konzession anderer Vorteile zum Ausbruch, selbst wenn dies zur Verstimmung unter den mächtigeren Schichten der Bevölkerung führte. Die radikalsten Maßnahmen dieser Art wurden zu Zeiten Hidalgos und Morelos’ in Mexiko durchgeführt, und eben deshalb scheiterte dort die Revolution. In anderen Fällen äußerte sich diese Tendenz zur Radikalisierung in der Auferlegung von Zwangsanleihen, Beschlagnahmung von Viehbeständen und Landaufteilungen (als Beispiel sei die sogenannte Agrarreform Bolívars angeführt, die den Soldaten zugute kommen sollte, tatsächlich aber nur von den höheren Offizieren ausgenutzt wurde; oder die noch radikalere ›Verordnung zur Förderung des flachen Landes‹, die im Jahre 1815 von dem uruguayischen General José Artigas erlassen wurde). Es ist noch nicht genügend hervorgehoben worden, welche Bedeutung der Kriegsmarine für den Verlauf der Revolution zukam. Zu Beginn der Auseinandersetzungen fanden die Revolutionäre keine ausreichende Unterstützung von Seiten befreundeter Seestreitkräfte: England war noch mit Spanien gegen Napoleon Bonaparte verbündet, die Vereinigten Staaten waren einerseits in einen Krieg gegen England verwickelt (1812–1814) und andrerseits noch zu sehr daran interessiert, Spanien nicht als Käufer für nordamerikanische

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Erzeugnisse zu verlieren. In dieser Periode beherrschte die spanische Flotte das Feld. Nach und nach boten jedoch einzelne nordamerikanische und englische Seeoffiziere ihre Dienste an. Lord Cochrane griff in Venezuela, dann in Chile und Peru, später in Brasilien ein. Zahlreiche Spuren des britischen Einflusses finden sich noch heute in der chilenischen, argentinischen und brasilianischen Kriegsmarine. Ein weiterer interessanter Punkt ist die Entwicklung bei den Landstreitkräften. Militärische und politische Betätigung gewannen nun Anziehungskraft, bot sich doch hier die Aussicht auf eine echte, ehrenvolle Laufbahn, die über alle Klassenund Kastenvorurteile hinweg einen sozialen Aufstieg gestattete. Obwohl die Tendenzen zur Radikalisierung scheiterten, ist es also unrichtig, zu behaupten, die Revolution habe keinerlei soziale Folgen gehabt. Zwar rief sie keine größeren Strukturwandlungen hervor, doch löste sie – und dies war von Bedeutung – durch die Eröffnung neuer, unter dem Kolonialsystem undenkbar gewesener Aufstiegsmöglichkeiten eine beachtliche soziale Mobilität aus. Nicht zuletzt aus diesem Grunde zog sich der Krieg so lange hin, ja, auch nach Beendigung des Konfliktes wurden immer wieder Vorwände gesucht, um die militärische Auseinandersetzung in den endlosen Bürgerkriegen des 19. Jahrhunderts fortzusetzen. Folgen der Unabhängigkeit Die internationale Anerkennung der Unabhängigkeit Lateinamerikas erfolgte nur schrittweise. England fühlte sich, wie wir bereits sahen, nach dem Sieg über Napoleon Spanien gegenüber nicht mehr verpflichtet und unterstützte in immer stärkerem Ausmaß die Rebellen. Seine Europapolitik stand im Gegensatz zu den Plänen der Heiligen Allianz, insbesondere aber zu den Zielen Spaniens und Rußlands, und trug nicht wenig dazu bei, daß es sich zur Unterstützung der Unabhängigkeitsbewegung entschloß. England gab indirekt – durch Schritte, die im Auftrage des Außenministers Canning unternommen wurden – den Anstoß zur Erklärung Monroes im Jahre 1823, die Nordamerika ins Lager der Gegner einer Intervention der Heiligen Allianz in Amerika führen sollte. Die Vereinigten Staaten erkannten im Jahre 1822 die Selbständigkeit Kolumbiens und Mexikos, später auch die anderer Staaten an. England folgte diesem Beispiel, und so wurde für die jungen Republiken der Weg zur internationalen Anerkennung frei. Allgemeinere Folgeerscheinungen des Unabhängigkeitskampfes waren unter anderem die Abschaffung der Inquisition, die teilweise Aufhebung des Indianertributs, die Maßnahmen gegen die Sklaverei, die Beseitigung – nicht so sehr in sozialer als vielmehr in juristischer Hinsicht – der Kastenunterschiede, die Einführung der Handelsfreiheit und günstiger Bestimmungen für die Einwanderung. Doch wirkten sich diese Änderungen nicht nachhaltig auf die Lage der ausgebeuteten Massen aus (zuweilen verschlechterte sich diese sogar). Die Revolution ließ viele an Feudalismus gemahnende soziale Privilegien

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unangetastet. Zwar war man bemüht, den in der westlichen Welt in voller Blüte stehenden politischen Formen des liberalen Kapitalismus nachzueifern, doch blieb es bei einer rein äußerlichen, oberflächlichen Nachahmung, die keine tiefe Umgestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen des Kolonialregimes bewirkte. Daher ist festzustellen, daß es sich um Unabhängigkeit ohne Entkolonisierung handelte, daß die Revolution in erster Linie ein Aufstand der Kolonisten gegen die Mutterländer war, von dem die kolonisierten Rassen keinen größeren Nutzen hatten (ausgenommen in Haiti und abgesehen von den Faktoren, die indirekt die Mestizisierung und den sozialen Aufstieg auf dem Weg über militärische und politische Betätigung begünstigten, wie weiter oben geschildert wurde); in diesem Zusammenhang wäre jedoch jede Verallgemeinerung nur eine Quelle von Irrtümern, da viele Sonderfälle zu berücksichtigen sind. Die Unterbrechung der normalen Handels- und Verbindungswege brachte ernste Rückwirkungen auf die Wirtschaft mehrerer Länder mit sich. So litten der Norden und Westen Argentiniens unter dem völligen Erliegen des üblichen Handelsaustausches mit Hochperu (dem heutigen Bolivien) während des Krieges; Montevideo verlor, während es sich in den Händen der Royalisten befand, seine natürliche Verbindung zu den übrigen Ansiedlungen am Rio de la Plata; der Guerillakrieg ließ in Neu-Spanien (Mexiko) nur noch Waren- und Personenverkehr unter bewaffnetem Geleitschutz zu; die Ansprüche der Revolutionsregierungen schufen oft Verwirrung; in den Bergwerksunternehmen ging viel Kapital verloren, und große Teile der Viehbestände fielen der Verpflegung der Revolutionstruppen und dem ständig um sich greifenden Brauch des Viehdiebstahls zum Opfer. Die von den Oberschichten so sehr herbeigesehnte Öffnung der Häfen war nicht von allgemeinem Vorteil für die gesamte Bevölkerung, denn sie trug zum Verfall des heimischen Handwerks bei und verschärfte die wirtschaftliche Abhängigkeit von Europa. Auch das beträchtliche Ausmaß der politischen Zersplitterung war eine Folgeerscheinung der Unabhängigkeit. Bolívar hatte im Jahre 1826 seine Einigungspläne auf dem von ihm einberufenen Kongreß in Panama darzulegen versucht, aber sie erweckten nur Mißtrauen und wurden nicht verwirklicht. Die Vereinigten Provinzen des Rio de la Plata, Chile und Brasilien nahmen an dem Kongreß gar nicht erst teil. Die Briten waren entschiedene Gegner dieses Unionsversuches, war er doch weder den internationalen Mächten noch den einheimischen Oligarchien genehm. Die Auflösungserscheinungen griffen um sich. Groß-Kolumbien zerfiel in drei Staaten: Kolumbien, Venezuela und Ekuador. Von Mexiko löste sich die Zentralamerikanische Konföderation los, die später in die Staaten El Salvador, Guatemala, Honduras, Nikaragua und Costa Rica auseinanderfiel. Im Süden entstanden als kleinere staatliche Gebilde Bolivien und Paraguay, und am Rio de la Plata wurde Uruguay als Pufferstaat zwischen Brasilien und Argentinien geschaffen. Allen diesen Ländern fehlte es an der inneren Geschlossenheit ihrer europäischen Vorbilder. Noch lange Zeit wurden sie von innenpolitischen

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Auseinandersetzungen heimgesucht und litten unter den Rivalitäten zwischen den lokalen Caudillos, die es immer wieder für nötig hielten, den bequemen Ausweg des Bürgerkrieges zu wählen, um ihre Interessengegensätze auszutragen. Eine unglückliche, durch den Dauercharakter der Bürgerkriege noch verschlimmerte Erbschaft aus der Zeit der Unabhängigkeitskämpfe war die wichtige Rolle des Militärs in der lateinamerikanischen Gesellschaft, ein Faktor, der sich, wenngleich in anderer Form, noch in unseren Tagen auswirkt. Die Unabhängigkeit Brasiliens Die Invasion napoleonischer Truppen auf der Iberischen Halbinsel richtete sich unmittelbar gegen Lissabon, weil es sich der Kontinentalsperre nicht anschließen wollte. Der gesamte portugiesische Hof übersiedelte mit Hilfe der britischen Flotte auf amerikanischen Boden. Mit ihm zusammen traf dort ein vollständiger Verwaltungs- und Militärapparat ein, insgesamt schätzungsweise zehntausend Personen. So wurde unversehens ein Regierungsapparat in ein Kolonialgebiet verpflanzt und wirkte dort unmittelbar als ein belebendes, dynamisches Element. Kronprinz Johann (Prinzregent von Portugal bis 1817 und dann als Johann VI. König) betrat am 22. Januar 1808 in Bahia (heute Salvador) Brasilien und erklärte sechs Tage später die brasilianischen Häfen als für den Handel mit allen befreundeten Nationen geöffnet. Daß er sich in Rio niederließ, wurde zum entscheidenden Faktor für die Wahrung der territorialen Einheit Brasiliens und die Einführung mannigfacher Reformen. Die Aufhebung der bisherigen Beschränkungen für die Industrie zeitigte angesichts der im Schütze der Handelsfreiheit wachsenden Konkurrenz der europäischen Waren nicht die erhoffte Wirkung. Immerhin waren unternehmerische Initiativen von einiger Bedeutung zu verzeichnen. Am 5. April 1808 wurde eine ›Eisenfabrik‹ (Hüttenwerk) in Cerro de Gaspar de Soares gegründet. Zwei Jahre danach wurde mit einem königlichen Erlaß ein ähnliches Unternehmen in Ipanema ins Leben gerufen, das acht Jahre später die Eisenproduktion aufnahm. Die Bank von Brasilien wurde eröffnet, technische Ausbildungsstätten (die Königliche Schule für Naturwissenschaften, Künste und Handwerk; die Akademie für Zeichnen, Malerei, Bildhauerei und Architektur) und die National-Bibliothek wurden geschaffen. Das erste Dampfschiffahrtsunternehmen erhielt seine Konzession, und im Jahre 1819 wurde dann das erste Schiff dieses Typs in Bahia in Dienst gestellt. Zur Entwicklung der Landwirtschaft wurde der Kaffeeanbau gefördert und im Jahre 1818 die Kolonie Nova Friburgo mit Schweizer Einwanderern gegründet. Das Tribunal der Königlichen Kommission für Handel, Landwirtschaft, Fabriken und Schiffahrt des Staates Brasilien wurde geschaffen, das u.a. Preise verlieh und sich für die Akklimatisierung nicht einheimischer Pflanzen einsetzte. Häfen wurden erweitert und der Bau von Verkehrswegen in Angriff genommen.

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Die Niederlassung des Hofes in Rio wirkte sich günstig auf die Entwicklung des mittleren Südens aus, dessen einziger bedeutender Hafen Rio war. Aus Minas Gerais, São Paulo und sogar aus Rio Grande do Sul strömten Viehtreiber mit ihren Lasttieren herbei, und es entstanden Handelsstädte an den Kreuzungen der großen Verbindungsstraßen. Die Kapitanien im Norden behielten lange Zeit ihre Monoproduktionsstruktur bei, da dem Handel dort keine Entfaltungsmöglichkeiten geboten waren; einmal, weil die Schicht der Großgrundbesitzer zahlenmäßig zu klein war (weder die Sklaven noch die lediglich für den Eigenbedarf produzierenden Kleinbauern konnten ihren Konsum steigern, und zum andern, weil jede wichtige Zone einen naheliegenden Hafen besaß, womit für Zwischenhändler und Verteiler wenig zu tun übrig blieb. Im Jahre 1815 wurde Brasilien durch Gesetz in den Rang eines Königreichs erhoben (das Vereinigte Königreich Portugal, Brasilien und Algarve war damit ins Leben gerufen). Die Niederlage Bonapartes machte die Rückkehr nach Europa möglich, aber Johann VI. entschied sich vorderhand für das Verbleiben des Hofes in Brasilien und verfolgte eine Expansionspolitik an der Südgrenze des Landes, in Richtung auf die Ufer des Rio de la Plata, und besetzte Montevideo im Jahre 1817. Er handelte in diesem Zeitabschnitt als amerikanischer Herrscher. Eben dies stärkte in Portugal die liberale, konstitutionalistische Bewegung, die sich seit dem Abzug der französischen Truppen aus Portugal nachdrücklich dafür einsetzte, einen Zustand rückgängig zu machen, der Portugal in ein Land verwandelt hatte, das von einem im Ausland befindlichen Hofe abhängig war. Die Einberufung der Cortes nach Lissabon erregte andererseits den Unwillen der brasilianischen Deputierten. Um eine Verschärfung der Spannungen zu vermeiden, beschloß Johann VI. im Jahre 1821, nach Portugal zurückzukehren und seinen Sohn Dom Pedro an seiner Statt in Brasilien zurückzulassen. Nun war es nur noch ein kleiner Schritt bis zur völligen Selbständigkeit Brasiliens. Die Brasilianer hatten sich bereits daran gewöhnt, vom eigenen Lande aus regiert zu werden, und Dom Pedro zeigte größten Widerwillen gegen den Druck, den die Liberalen auf seinen Vater ausübten. Zuerst berief er einen Rat von Provinzialabgeordneten als staatliches Organ und später eine gesetzgebende Versammlung für Brasilien ein. Am 1. August 1822 untersagte er, »als Regent dieses weiten Reiches« und unter Berufung darauf, daß der König ein Gefangener der Liberalen »ohne eigene Willensentscheidung und Handlungsfreiheit« sei, die Landung portugiesischer Truppen. Die Unabhängigkeitserklärung, genannt »Ruf von Ipiranga«, am 7. September ist dann lediglich der formale Gipfelpunkt und wirkungsvolle Abschluß einer bereits überreifen Entwicklung. Die begeisterte Zustimmung zu dieser Unabhängigkeitserklärung trug dem neuen Kaiser die Unterstützung der einheimischen Kräfte ein. Der ehemalige republikanische Verschwörer José Bonifacio de Andrada e Silva trat mit seinen

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Leuten begeistert auf dessen Seite. Aber Pedro I. erwies sich von Anfang an als eine gebieterische Persönlichkeit und löste nach zwei Jahren sein Bündnis mit José Bonifacio. Die Verfassung, endlich, die vom Kaiser bewilligt wurde, spiegelte die konservativen Ideen Pedros I. wider, aber trotzdem, und obwohl sie das alte Klassensystem aufrechterhielt, muß anerkannt werden, daß sie sich als sehr wertvoll für die Erhaltung der politischen Stabilität erwies. Im Jahre 1824 wurde die territoriale Einheit durch einen separatistischen Aufstand bedroht: die Rebellion der Nordoststaaten Pernambuco, Paraíba, Rio Grande do Norte und Ceará. Sie hatte sich an der Frage entzündet, wer die Präsidenten der einzelnen Provinzen berufen sollte (die Bewohner der Provinzen oder der Kaiser). Die Bewegung geriet in republikanisches Fahrwasser, entwarf Pläne zur Gründung einer Konföderation des Äquators‹, wurde aber niedergeschlagen. Etwa um die gleiche Zeit entstand am linken Ufer des Rio de la Plata eine Lage, die dem Kaiser einen Prestigeverlust einbrachte. In diesem Gebiet, das als Cisplatine Provinz formell dem Kaiserreich einverleibt worden war, setzte 1825 der bewaffnete Widerstand der Bevölkerung gegen die Brasilianer ein. Im Jahre 1828 stellte sich Argentinien hinter die Aufständischen. Der nicht eben selbstlosen britischen Intervention unter Lord Ponsonby war die Schaffung eines neuen kleinen Staates zu verdanken, der Republik östlich des Uruguay – República Oriental del Uruguay –, die von Brasilien und Argentinien gleichermaßen unabhängig wurde. Eine weitere Quelle von Mißhelligkeiten ergab sich aus der Tatsache, daß die Verfassung dem Kaiser zwar eine ausgleichende Funktion übertragen hatte, dieser jedoch keine guten Beziehungen zur Nationalversammlung unterhielt. Sein Widerstand gegen jegliche föderalistische Bestrebung und der Ausgang der Kämpfe im Süden des Landes ließen heftige Kritik an Pedro I. laut werden. Durch Vermittlung Englands war der Friede mit Portugal zustande gekommen. Doch hatte bei dieser Gelegenheit Johann VI. ausdrücklich erklärt, sein Sohn bleibe weiterhin portugiesischer Thronerbe. Der Tod Johanns VI. im Jahre 1826 komplizierte nun die Lage noch mehr. Dom Pedro glaubte, das Problem lösen zu können, indem er zugunsten seiner Tochter, Maria II., auf den Thron verzichtete. Diese sollte ihren Onkel Michael heiraten, der ebenfalls Anspruch auf die portugiesische Krone erhob. Die Gefahr einer unmittelbaren Machtübernahme durch Michael, der rückhaltlos konservativ eingestellt war, ließ Pedro I. an eine Rückkehr nach Portugal denken, was sein Ansehen beim brasilianischen Parlament noch mehr schmälerte. Dies alles ließ endlich den Entschluß in ihm reifen, auf den brasilianischen Thron zu verzichten, nach Portugal zurückzukehren und dort selbst die Macht zu übernehmen (1831). Er dankte zugunsten seines erst wenige Jahre alten Sohnes ab, weshalb es auch heißt, eigentlich habe die Geburtsstunde eines republikanischen Brasilien schon damals geschlagen.

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Die Übersiedlung des Hofes zuerst und später die Ausrufung des Kaiserreiches hatten Brasilien, im Gegensatz zu den ehemaligen spanischen Kolonien, von Beginn seines eigenen politischen Lebens an daran gewöhnt, eine einheimische Gesamtregierung zu besitzen, wodurch nicht nur die territoriale Einheit gewahrt wurde, sondern auch eine – nicht immer von Erfolg gekrönte – Expansionspolitik auf Kosten der Nachbarländer betrieben werden konnte. Die politische Machtentfaltung konnte indessen die nachteiligen Auswirkungen eines auf Großgrundbesitz und Sklaverei aufgebauten Systems nicht aufwiegen, weshalb dieser anfängliche Vorteil nicht alle jene Früchte zeitigte, die man hätte erhoffen dürfen. Er war gerade noch groß genug, daß es nicht zu Bürgerkriegen, sondern lediglich zu im Keime erstickten Verschwörungen kam, und gestattete zumindest die Verfolgung einer einigermaßen zielbewußten und realistischen Außenpolitik. Die Gesellschaftsstruktur des Landes bildete jedoch letztlich einen zu großen Ballast, als daß die besseren Startmöglichkeiten voll hätten ausgeschöpft werden können. Zweite Periode Europäisierung und von außen beeinflußte wirtschaftliche Expansion In dieser Periode, die ungefähr von der Erreichung der Unabhängigkeit bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts reicht, lassen sich, besonders unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Umwälzungen, drei Unterabschnitte beobachten: 1825 bis 1850, 1850–1875 und 1875–1914. In der ersten Phase gab es keine großen Veränderungen; die von der Beseitigung der Kolonialmonopole erhofften Folgen für die Wirtschaft blieben aus. In der zweiten zeichnete sich ein bestimmtes Wachstum der Exportwirtschaften ab. In der dritten war eine weitere Steigerung des Wachstums zu verzeichnen, und in manchen Ländern setzte der Industrialisierungsprozeß und die Abkehr von der Monokulturwirtschaft ein. Die Gesamtperiode wurde von bestimmten Veränderungen gekennzeichnet, die sich in einigen Ländern von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in das beginnende 20. Jahrhundert hinein vollzogen. In anderen Ländern blieb allerdings die Entwicklung stehen. So zum Beispiel in Bolivien, dessen Wirtschaft sich erst im 20. Jahrhundert dank des Zinnexports entwickelte, und dies in einer Form, die in mancher Hinsicht den Wesensmerkmalen der vorhergehenden Periode entsprach. Ähnlich veränderungsfeindlich verhielten sich die Plantagenwirtschaften traditionellen Stils, die auf der Ausbeutung der Sklavenarbeit und einem patriarchalischen System beruhten. Isolierte Lage, ungünstige geographische Verhältnisse oder mangelnder ökonomischer Anreiz für den Bau von Eisenbahnen waren Faktoren, die allgemein den Fortbestand geschlossener Hauswirtschaften oder den Anbau von Produkten ohne besonderes Interesse für den europäischen Markt bestimmten. Für die typischsten Erscheinungen dieser Periode darf die Entwicklung in Argentinien als vor allem repräsentativ betrachtet, und im Zusammenhang mit

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ihr müssen die Vorgänge in Uruguay, Chile und Südbrasilien untersucht werden.

 Abb. 1: Lateinamerika im 19. Jahrhundert

2. Einbruch des Industriekapitalismus und Aufstieg der Exportwirtschaften Im 19. Jahrhundert setzte in der lateinamerikanischen Welt eine Reihe von tiefgreifenden Wandlungen ein; der Anstoß dazu kam von außen und stand in unmittelbarem Zusammenhang mit der technischen Revolution in Europa und der Expansion der kapitalistischen Wirtschaft.

Die wirtschaftliche Aufwärtsbewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Von der Mitte des 19. Jahrhunderts an, insbesondere dann in den siebziger Jahren, erfuhr die Wirtschaft einen gewaltigen Auftrieb. Verschiedene Faktoren wirkten dabei zusammen. Einerseits ermöglichte eine bessere Organisation des Wirtschaftslebens den Einsatz größerer Kapitalmengen durch die für die großen Unternehmen jener Zeit besonders geeigneten Aktiengesellschaften. Das

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Bankwesen entwickelte sich, wurde rationalisiert und konzentriert, je weiter sich sein Betätigungsfeld ausgedehnte. Schiffs- und Eisenbahngesellschaften, Fabrikbetriebe, dies alles waren gewaltige Organisationen, die die herkömmlichen Möglichkeiten des Privatvermögens überstiegen. Die Entwicklung der industriellen Produktion und die Herausbildung großer Fabrikationszentren schritten ständig fort. Die Errungenschaften der Technik begünstigten jetzt außerordentlich die Expansion in Übersee: dazu gehörten die durch die Einführung von Schiffsrümpfen aus Metall und von Schiffsschrauben vervollkommnete Dampfschiffahrt, Eisenbahnen, Großhäfen, ausreichender Stapelraum für die Erzeugnisse. Der Schiffstransport wurde schneller und billiger. Man sollte weniger von einer Expansion in Übersee sprechen als vielmehr einfach davon, daß sich der Bereich der kapitalistischen Wirtschaft ausweitete und ihr Einfluß auf die Periphergebiete wuchs. Mit der Zunahme des Welthandels war zugleich eine Steigerung der Anbaufläche und eine Spezialisierung in Industrieländer und rohstoff- und nahrungsmittelerzeugende Gebiete zu beobachten. Zwischen 1860 und 1913, so wurde errechnet, erhöhte sich die industrielle Produktion in der Welt um mehr als das Siebenfache. Die kräftige Expansion des industriellen Kapitalismus verschärfte noch die Abhängigkeit der anderen Regionen dadurch, daß sich dort reine unselbständige Komplementärwirtschaften herausbildeten. Um die Mitte des Jahrhunderts wurde Gold in Kalifornien und Australien entdeckt, später auch in Südafrika und Alaska. Damit stand das notwendige Edelmetall für die Expansion der Geldwirtschaft zur Verfügung, die natürlich noch durch die neuen Formen des Wirtschaftslebens weiter gefestigt wird. Expansion des Kapitalismus bedeutet Expansion eines vorherrschenden Wirtschaftssystems. Wie Fritz Sternberg (Kapitalismus und Sozialismus vor dem Weltgericht) feststellt, dauerte es mehrere Jahrhunderte, bis um 1850 der Kapitalismus sich so weit entwickelt hatte, daß 10% der Weltbevölkerung diesem System entsprechend produzierte; aber in den zwei ersten Dritteln des folgenden Jahrhunderts – etwa von der Mitte des 19. Jahrhunderts an bis zum Ersten Weltkrieg – wurde der Kapitalismus zur vorherrschenden Produktionsform nicht nur in England, sondern in der ganzen Welt, bis schließlich zwischen 25 und 30% der Weltbevölkerung nach diesem System produzierte. In Großbritannien, USA, Deutschland und ganz Westeuropa lag praktisch das Produktionsmonopol in den Händen des Kapitalismus. Faktisch war damit ein Fortschritt in der Produktion der verschiedenen Regionen der Erde verbunden, obwohl es gleichzeitig auch zur Verarmung und Rückständigkeit der breiten Massen der Kolonialbevölkerungen kommen konnte. Das wirtschaftliche Übergewicht verschaffte Europa eine Vormachtstellung gegenüber der übrigen Welt, und in dem Maße, wie die Verkehrsmittel ständig vervollkommnet wurden, gerieten auch die abgelegensten Gebiete in eine Situation der Abhängigkeit. Das einfache freie Spiel von Angebot und Nachfrage sicherte Europa seine Überlegenheit. Es förderte – zum Nachteil der für den

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einheimischen Markt bestimmten Erzeugnisse – überall die Produktion von Exportgütern. Europa verschaffte sich dabei eine beherrschende Position im Handel und Transport der Exportgüter. Zusammenfassend ist zu sagen, daß der wirtschaftliche Auftrieb in dieser Epoche zur Entwicklung bestimmter Produktionsformen führte und die Abhängigkeit der von Krisen geschüttelten, allen Schwankungen des Außenhandels hilflos ausgesetzten unterentwickelten Gebiete verschärfte. In dieser Hinsicht wirkten sich die weltweiten Krisen von 1857, 1866, 1873, 1882, 1890 und 1900 um so stärker auf die einheimischen peripherischen Wirtschaften aus, je mehr diese nach und nach sich auf den Export eingestellt hatten. Etwa um die gleiche Zeit führte die stärkere Verflechtung mit dem internationalen Markt dazu, daß sich alle diese den Weltmarkt beherrschenden Phänomene auch auf die Regionalwirtschaften auswirkten. Dies ist um so verständlicher, wenn man die Expansion der Geldwirtschaft berücksichtigt, die als Übertragungselement diente. Die durch die Öffnung fast aller Häfen der Welt für den Handel geschaffenen Erleichterungen bedeuteten nicht etwa den Untergang des Kolonialismus, sondern führten lediglich zu einem Positionswechsel. Aus der ehemaligen Abhängigkeit von den alten Monopolen wurde nun eine völlige Unterordnung unter die Machtzentren des industriellen Kapitalismus. Nur daß sich unter diesen Umständen der beschleunigte Rhythmus von Angebot und Nachfrage noch bedrohlicher auf die bislang der Entwicklung noch widerstrebenden geschlossenen Wirtschaften auswirken konnte. Langsam wurden die feudalistischen Zentren des Großgrundbesitzes von Wirtschaftsformen einer Selbstversorgungslandwirtschaft überlagert, die im umgekehrten Verhältnis zu den Möglichkeiten der Exportkulturen standen. Eine neue Haltung gesellte sich zu der altgewohnten, aristokratisch angehauchten Geringschätzung der Arbeit: die Bewunderung für die Möglichkeiten des Einsatzes von Maschinen für immer neue Aufgaben. Maschinen wurden in den Dienst des Transportwesens und der Produktion gestellt, in Zucker- und Getreidemühlen eingesetzt und überall dort, wo eine Antriebskraft benötigt wurde. Die Expansion des industriellen Kapitalismus führte jedoch nicht zur Schaffung von Industriezentren in den Periphergebieten, sondern wurde lediglich zur Förderung des Handelswesens eingesetzt. Dazu bedurfte es der Entwicklung der Geldwirtschaft, des Ausbaus von Häfen und Verkehrswegen; doch geschah alles ausschließlich im Einklang mit den Interessen der Industriezentren. Die Nachfrage nach Nahrungsmitteln und Rohstoffen Der wirtschaftliche Aufschwung in jener Epoche ließ die Nachfrage nach Nahrungsmitteln und Rohstoffen ansteigen. Es hieß, mehr zu produzieren und zahllose Erzeugnisse für den Konsum in den Industriezentren schneller zu transportieren. Nach und nach ist eine Spezialisierung der Anbaukulturen zu

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verzeichnen, die sich auf jeweils ein Anbauprodukt verlegen und für den Export produzieren. Die lateinamerikanische Produktion weitete sich damals im Rahmen von Monokulturen aus, die für den Weltmarkt jeweils erzeugten, was die höchsten Gewinne abzuwerfen versprach. Die Nachfrage nach diesen Erzeugnissen war derart groß und anspruchsvoll, daß die Umstellung sich nicht ohne äußerst nachteilige Folgeerscheinungen vollzog: Verschlechterung der Lebensbedingungen in gewissen Landstrichen, überstürzte Abholzung und Rodung von Anbauflächen (was die Erosion und Auslaugung der Böden begünstigte). Die relativ hohen Löhne, die viele Arbeitskräfte in Gebiete mit gerade bevorzugten Monokulturen lockten, bedeuteten keineswegs eine Sicherung für die Zukunft und schlössen es nicht aus, daß die Arbeiter von einem Tag zum andern in tiefste Not geraten konnten. In Brasilien beispielsweise verdrängte der Kaffeeanbau nicht nur allmählich den Anbau von Zuckerrohr, sondern auch die bäuerlichen Kleinbetriebe, die Nahrungsmittel erzeugt hatten. Von allen brasilianischen Erzeugnissen war es der Kaffee, dessen Ausfuhr am beträchtlichsten zunahm. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts bildete sich die brasilianische Kaffeewirtschaft heraus, deren Bedeutung die der Zuckerproduktion bald überstieg. Im dritten Viertel des Jahrhunderts erzielte der Kaffee wesentlich bessere Preise als der Zucker, und damit setzte eine starke Abwanderungsbewegung von Arbeitskräften aus dem Norden in den Süden des Landes ein. In Peru spricht man von einer ›Guano-Ära‹ zur Bezeichnung der Epoche, in der dieser Naturdünger von den der peruanischen Küste vorgelagerten Inseln in großem Umfang exportiert wurde (etwa die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts). Mit den Einkünften aus diesem Export wurde der Bau von Eisenbahnen finanziert und die Dampfschiffahrt ausgebaut. Die wirtschaftliche Prosperität schuf ein günstiges Klima für die Sklavenbefreiung und die Abschaffung des Indianertributs. Während Peru sich in ein Guano-Exportland verwandelte, gingen alle anderen Wirtschaftstätigkeiten zurück. Nahrungsmittel mußten importiert werden. Die Lebenshaltungskosten stiegen. Der aufblühende Handel bereicherte die Konsignatare und andere im Guano-Geschäft engagierte Personen. Die Versuche der peruanischen Regierung, auch die Salpetervorkommen zur Steigerung der staatlichen Einkünfte auszunutzen, waren anfänglich erfolgreich, nahmen dann aber ein unglückliches Ende, als der Krieg gegen Chile (1879–83) und damit der Salpeterreichtum verlorenging. Chile zog nun seinen Vorteil aus der Salpetergewinnung, die den chilenischen Außenhandel sprunghaft ansteigen ließ (zuvor hatten land- und viehwirtschaftliche Erzeugnisse den Großteil – 48% zwischen 1844 und 1880 – der Ausfuhren bestritten). Das Angebot europäischer Industrieerzeugnisse

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Sowohl der industrielle Fortschritt in Europa als auch die technischen Neuerungen im Verkehrswesen trugen zu einer Überschwemmung des lateinamerikanischen Marktes mit Waren aus der Alten Welt bei. Der in England und anderen westeuropäischen Ländern nun herrschende industrielle Kapitalismus konnte der ganzen Welt eine Vielfalt von Waren zu Preisen anbieten, die unter denen der einheimischen Produkte lagen, so daß allmählich die traditionellen Heimindustrien von der Bildfläche verschwanden. Die nunmehr importierten Ponchos, Hüte, Messer, Stoffe aller Art, Getränke und verschiedensten Gebrauchsartikel verdrängten auf dem Markt die im eigenen Lande hergestellten Erzeugnisse. Diese Erscheinung trat gleichermaßen in ganz Lateinamerika auf; allerdings waren die Auswirkungen in den einzelnen Ländern nicht die gleichen. Vielfach wandelten sich traditionelle Bindungen zwischen den verschiedenen Gebieten. Die Warenschwemme beschränkte sich nicht nur auf Artikel des täglichen Gebrauchs, sondern erfaßte in wachsendem Umfang auch neue, besonders für den Erwerb durch die einheimischen begüterten Schichten bestimmte Dinge. Der Handel veränderte ganz allmählich sein Gesicht. Die Entstehung bedeutender Großhandelsunternehmen, die Tätigkeit von Handelsreisenden, die Gewährung großer Kredite und eine intensive Reklame für die neuen Erzeugnisse modernisierten das Verteilerwesen. Diese Neuerungen steigerten naturgemäß die Kauflust und damit auch den Konsum von Luxusgütern, womit der sogenannte ›Demonstrationseffekt‹ in vollem Ausmaß wirksam wurde. Für Lateinamerika stehen noch keine ausreichenden Unterlagen zur Verfügung, um die möglichen Folgen der Zerstörung des einheimischen Gewerbes in ihrer ganzen Tragweite abschätzen zu können. In Brasilien, Mexiko, Peru und Nordargentinien hatte es Zentren gegeben, die seit der Kolonialzeit gewisse Erzeugnisse für den heimischen Konsum herstellten. Sie gingen eines nach dem anderen unter. Die heimische Getreidemühle wurde vielerorts durch den einsetzenden Verbrauch von Importmehl verdrängt. Sogar die Sklaven in Brasilien trugen Kleider aus Stoffen europäischer Herkunft. Die heimischen Getränke wurden immer mehr durch importierte ersetzt. Aber die wichtigste Tatsache ist darin zu erblicken, daß diese Überschwemmung mit Importwaren zum Abfluß des Produktes aus den heimischen Reichtumsquellen ins Ausland führte und daß gleichzeitig diese Konsumorientiertheit nach und nach die Ausgabengroßzügigkeit entstehen ließ, die für die Stabilität der lateinamerikanischen Wirtschaften so verhängnisvoll werden sollte. Mit der Erlangung der Unabhängigkeit war die Öffnung der Häfen verfügt worden. Man lernte es schneller, zu konsumieren als zu produzieren. Der Außenhandel wurde zum Angelpunkt des Wirtschaftslebens. Der Exportsektor hatte sich beträchtlich erweitert, und die Importe nahmen ständig zu.

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Wenn die zerstörenden Auswirkungen des Imports europäischer Waren auch nicht besonders bemerkenswert waren – in Anbetracht des geringen Umfanges der lokalen Produktionen –, so ist es doch wichtig, festzustellen, daß sie die Entstehung einer modernen lateinamerikanischen Industrie sehr behinderten. Wahrscheinlich ist die Bedeutung der alteingesessenen heimischen Industrien übertrieben und die Möglichkeit, daß aus ihnen eine moderne Industrie hätte entstehen können, überschätzt worden. Weniger zu bestreiten ist dagegen, daß diese Rohstoffexportwirtschaften, wegen ihrer einseitigen Orientierung und ihrer Abhängigkeit, die eigene industrielle Entwicklung nicht in Angriff nehmen konnten. Der freie Handelsaustausch und das Fehlen protektionistischer Maßnahmen für die heimische Produktion trugen in nicht geringem Maße dazu bei. Der Aufruf der Europäer zur Beteiligung an Weltausstellungen beschleunigte den Neuerungsprozeß und festigte das Vertrauen zu den modernen Produktionsmethoden. Lateinamerika kam bereitwillig der Aufforderung nach: dicke Broschüren (zuweilen wahre Bücher) erschienen, in denen eingehend die Lage, die unternehmerische und wirtschaftliche Aktivität jedes einzelnen Landes dargelegt wurden; Verzeichnisse der zahllosen ausgestellten Warenmuster; Angaben über den Reiseverkehr. Noch heute tragen viele lateinamerikanische Erzeugnisse stolz ihre auf internationalen Ausstellungen des vergangenen Jahrhunderts gewonnenen Medaillen. Von den Ausstellungen gehen auch Impulse für die lateinamerikanische Wirtschaft aus. Eine jede von ihnen gab Anlaß zur Förderung der Wirtschaftstätigkeit, zur Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Wirtschaftszweigen und zur Auflösung eines euphorischen Prosperitätsgefühls auch im lateinamerikanischen Raum. Kredit und Kapitalinvestition Für die Investition von Kapital galten verschiedene grundlegende Gesichtspunkte. Vor allem wurden Anleihen zur Konsolidierung der Staatsgewalt gewährt, denn es war für das internationale Kapital ausschlaggebend wichtig, sich auf diese Weise Ordnung und bessere Garantien für seine Transaktionen zu sichern. Außerdem hielten sich die Investitionen im Interesse der internationalen Arbeitsteilung an gewisse Regeln: Bau von Häfen und Eisenbahnlinien zur Begünstigung der Einfuhr von Fertigwaren und der Ausfuhr von Rohstoffen; Kredite zur Ausweitung des Handels; Einführung technischer Neuerungen im Rahmen des Monoproduktionssystems zur Erzielung größerer Exportmengen. In den größeren Städten wurden Banken gegründet, welche die Steuerung von Investitionen und Geschäften übernahmen. Diese Institute hingen durchweg von der Londoner City ab. Sie förderten die Viehzucht in den La-Plata-Ebenen, die Salpeter- und Kupfergewinnung in Chile, die Kautschukgewinnung, den Anbau von Zuckerrohr, Kaffee, Baumwolle und anderen Produkten. Ausländisches

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Kapital erwarb praktisch über die Wasser-, Gas- und Elektrizitätswerke, später auch über die Telefongesellschaften, ein Monopol in den öffentlichen Dienstleistungen. Es kontrollierte das städtische Verkehrswesen und trug den Hauptanteil am Ausbau der Eisenbahnlinien. Auf dem Investitionssektor ergab sich eine eindeutige Vorrangstellung des britischen Kapitals, das bis 1891 in Lateinamerika die Summe von 167 Millionen Pfund Sterling erreichte. Dabei ergab sich weniger eine Entwicklung der Gesamtwirtschaft als vielmehr eine Verzerrung dieser zugunsten des Exportsektors, die sich später als schwer zu überwinden erweisen sollte. Alles, was mit dem Export zu tun hatte, machte schnellere Fortschritte als die übrige Wirtschaft. Unter anderem ist dieser Umstand kritisiert worden, weil er die Überweisung von Gewinnen ausländischer Kapitalgeber ins Ausland begünstigte. Die Diskrepanz in den Auswirkungen des technischen Fortschritts Nach Untersuchungen der CEPAL (Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Lateinamerika) und Hans W. Singers ist seit Ende des 19. Jahrhunderts eine Verschlechterung der terms of trade‹ zwischen den Industrieländern und den unterentwickelten Gebieten zu beobachten: die Industrienationen sind alleinige Nutznießer der in der Produktion erzielten Fortschritte und auch in gewissem Umfang des Fortschritts in den rohstoffproduzierenden Ländern. Aufschlußreich für Lateinamerika ist in dieser Hinsicht der Bericht von Raúl Prebisch über ›Die wirtschaftliche Entwicklung Lateinamerikas und einige ihrer Hauptprobleme‹. Ihm sind die Zahlen der nachstehenden Tabelle entnommen, die nach Angaben des britischen Board of Trade auf der Grundlage der durchschnittlichen Import- und Exportpreise zusammengestellt wurde (s.S. 50). Die nachstehende Statistik – bei der die Zeit des Ersten Weltkriegs (1914–1918) mit ihren außergewöhnlichen Schwankungen ausgeklammert wurde – zeigt die Tendenz zu sinkenden Preisen für Rohstoffe im Vergleich zu den Preisen für Industrieerzeugnisse. Unter anderem dürfte die Verschlechterung der terms of trade (d.h. die stärkere Tendenz zum Absinken der Rohstoffpreise) darauf zurückzuführen sein, daß sich, je nachdem, ob Depression oder Prosperität herrscht, die Preise für Industrieerzeugnisse anders verhalten als die Rohstoffpreise (was insbesondere in den siebziger Jahren zu beobachten ist).

In Zeiten konjunkturellen Aufschwungs steigen die Rohstoffpreise schneller als die Preise für Industrieerzeugnisse, während sie bei Konjunkturrückgang viel stärker fallen. Die Ursache dafür ist in der Statik der Löhne und in der Struktur vieler Märkte für Industrieerzeugnisse zu suchen. Infolgedessen klaffte von einem Konjunkturzyklus zum anderen die Entwicklung bei den beiden Arten

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von Gütern zum Nachteil der unterentwickelten Länder immer weiter auseinander, wodurch sich die wirtschaftliche Abhängigkeit und Schwäche der Rohstoffländer immer mehr verschärft hat.3 Hans W. Singer weist darauf hin, daß gesteigerte Produktivität entweder den Erzeugern oder den Verbrauchern zugute kommen kann: der erste Fall tritt ein, wenn die Steigerung der Produktivität ein Anwachsen des Realeinkommens mit sich bringt, der zweite, wenn sie sich in Preissenkungen niederschlägt. In den Industrieländern kommt die Produktivitätssteigerung durch das Anwachsen der Realeinkommen den Produzenten zugute4. In Zeiten wirtschaftlicher Rezession widersetzen sich gewisse Institutionen, wie die Gewerkschaftsorganisationen, und die Monopolstruktur eines Großteils der Märkte für Industrieerzeugnisse einer Senkung der Löhne einerseits und einer der Preise andrerseits. In den Rohstoffländern dagegen sollte der technische Fortschritt zu einem Absinken der Preise zugunsten des Rohstoff- Verbrauchers führen. Die terms of trade für die Rohstoffländer werden also vom eigenen Fortschritt und dem der Industrieländer zugleich beeinträchtigt. In diesen Ländern wirkt sich einerseits die gesteigerte industrielle Produktivität nicht preissenkend auf die importierten Fertigwaren aus, und andrerseits hat die Produktivitätssteigerung ein Absinken der Preise für die exportierten Rohstoffe zur Folge. Dieser Vorgang ist am Beispiel Lateinamerika zu verfolgen, wenn man etwa die ersten Auswirkungen der Produktionssteigerung bei dem für den Export bestimmten Kaffee untersucht. Alles in allem ist dieses ein weiterer Anlaß, die offensichtliche Euphorie, die von der Expansion des Exportsektors in manchen lateinamerikanischen Ländern ausgelöst wird, kritisch zu beurteilen. Manche Autoren treiben dabei den Realismus so weit, zu behaupten, die ausländischen Investitionen hätten nichts weiter erreicht, als die Wirtschaft in zwei hermetisch voneinander abgeschlossene Abteilungen zu spalten: auf der einen Seite die technisch entwickelte, für den Außenhandel arbeitende Wirtschaft, auf der anderen jene Volkswirtschaften, die in ihrer Rückständigkeit verharren. Dies trifft insbesondere zu, wenn die Beobachtungen sich auf kurze Zeiträume beschränken; aber auf längere Sicht und trotz gewisser Folgeerscheinungen der ungleichmäßigen Entwicklung muß doch festgestellt werden, daß dieser Anstoß von außen letztlich ein nicht zu verachtender dynamischer Faktor war. 3. Das Zeitalter der Eisenbahn und der Dampfschiffahrt Mit diesem Kapitel wenden wir uns einer Epoche tiefgreifender technischer Umwälzungen im lateinamerikanischen Leben zu. Sie waren eine unmittelbare Folge des in Europa vollzogenen Wandels. Diese Epoche ist auch als Beginn des lateinamerikanischen Industriezeitalters bezeichnet worden. Der Ausdruck ist jedoch nicht ohne Gefahren. Denn wenngleich viele der Neuerungen radikale Auswirkungen hatten, so darf doch keinen Augenblick lang übersehen werden, daß es sich dabei nicht um einen autonomen Prozeß handelte, sondern um eine

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abhängige Entwicklung, da ja diese Neuerungen in ihrer überwältigenden Mehrzahl Faktoren zu verdanken waren, die ihren Ursprung im Ausland hatten (weshalb sie nicht das Kennzeichen eines inneren Reifungsprozesses waren, der Erfindergabe oder technische und industrielle Begabung bewiesen hätte) und da sie dem Expansionszwang entsprachen, dem die Industriewirtschaften unterworfen waren. Nicht nur die Neuerungen selbst kamen aus dem Ausland, sondern größtenteils auch das Personal, das mit ihrer Anwendung betraut war. Andrerseits ist wohlbekannt, daß das lateinamerikanische Erziehungswesen jener Zeit seine Aufmerksamkeit vorwiegend der Vermittlung humanistischer Bildung widmete, daß aus den Universitäten vor allem Rechtsanwälte hervorgingen und daß die technische Ausbildung auf allen Stufen des Unterrichtswesens völlig vernachlässigt wurde. Der Prozeß der Technisierung der Wirtschaft und anderer Bereiche des Lebens von der Mitte des 19. Jahrhunderts an war vor allem davon abhängig, daß und ob Europa in der Lage und bereit war, ihn zu fördern. Im übrigen wird bei eingehender Analyse ersichtlich, daß dieser Prozeß durchaus Varianten in seinem Vollzug aufweist. Man könnte – wenn die Maßstäbe nicht allzu starr gehandhabt werden – folgende Modalitäten unterscheiden: technische Neuerungen, die im ganzen lateinamerikanischen Bereich zu positiven Wandlungen führten; verfrüht eingeführte technische Neuerungen, die allzu einseitig der Entwicklung des Exportsektors dienten und daher oft von recht umstrittenem Nutzen waren; schließlich die technischen Errungenschaften, die dem Hang des lateinamerikanischen Verbrauchers zum Luxuskonsum entgegenkamen und sich vom rein ökonomischen Standpunkt aus beurteilt als nachteilig erwiesen, weil sie den zivilisatorischen Fortschritt weit mehr auf den Verbrauchs- als auf den Produktionssektor gelangen lassen.

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 Abb. 2: Argentinische Carretas, das wichtigste Verkehrsmittel vor dem Bau der Eisenbahnen

Schon seit langem hatte sich die Anwendung neuer Techniken im lateinamerikanischen Raum unmerklich eingebürgert; der große Sprung nach vorwärts war aber dann dem Zusammenwirken zweier wesentlicher Faktoren zu verdanken: den wirklich umwälzenden Neuerungen, wie es die Aufnahme der Dampfschiffahrt und der Bau von Eisenbahnen waren, und der Technisierung des Exportsektors. Hinzu kommt, daß in Europa (anfangs besonders in England) große Kapitalmengen zur Verfügung standen, mit denen diese Umstellung finanziert werden konnte.

Die Schiffahrt Die Dampfschiffahrt hat in mannigfacher Weise das lateinamerikanische Leben neu geprägt. Vor allem verstärkte die Flußschiffahrt Handel und Reiseverkehr in zuvor wirtschaftlich weniger wichtigen Gebieten. Die Segelschiffahrt war zwar auch auf den Flüssen möglich, aber sehr schwierig und letztlich wenig gewinnversprechend gewesen. Das Segelschiff, vom Wind abhängig, muß kreuzen, wobei sich die erforderliche Fahrtrichtung nicht immer mit den Windungen des Flußlaufes deckt, und je umfangreicher das Segelwerk war, desto größerer Tiefgang war erforderlich.

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Mit dem Aufkommen des Dampfschiffes wurden alle diese Schwierigkeiten gegenstandslos: der Steuermann konnte genau dem Flußlauf folgen; die Schiffe (besonders die eigens für die Flußschiffahrt gebauten) konnten geringeren Tiefgang und größere Tonnage haben; schließlich konnte ein Schlepper mehrere Schiffe ziehen, so daß der Transport leichter und immer gewinnbringender wurde. Die Dampfschiffahrt auf den großen Flüssen Lateinamerikas verlieh weiten Gebieten neue Lebenskraft und großen wirtschaftlichen Wert und förderte die Entstehung neuer Städte, die sich in geschäftige Handelszentren verwandeln: Rosario am Paraná, Corumbá am Paraguay, Manaús am Amazonas. Das Flußmündungsgebiet am Rio de la Plata mit seinen Nebenflüssen (Paraná, Uruguay) und Zubringern (Paraguay) wurde damals zu einem bevorzugten Zentrum der Flußschiffahrt. In Brasilien entwickelte sich die Dampfschiffahrt ebenfalls hervorragend, zuerst auf dem São Francisco, dann auf dem Amazonas und auf dem ganzen Flußsystem, das in die Lagõa dos Patos bei Porto Alegre einmündet. Die Reihenfolge der Aufzählung ergibt sich in gewisser Weise durch die wirtschaftliche Bedeutung der einzelnen Gebiete. In Kolumbien wurde der Magdalena dank der Dampfschiffahrt zu einer großen Handelsschlagader.

 Abb. 3: Reisewagen aus Habana; Zeichnung von Victor Adam

Um die Mitte des Jahrhunderts machte sich ein europäischer und nordamerikanischer Druck zur Erlangung aller Freiheiten und Möglichkeiten für die Flußschiffahrt in Lateinamerika bemerkbar, was zu verschiedenen Konflikten führte. Der argentinische Staatsmann Juan Manuel de Rosas, Diktator von 1829 bis 1853, vereitelte zum Beispiel die europäischen Pläne (er ließ mit einer Kette

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den Paraná sperren) und Carlos Antonio López, Präsident von Paraguay von 1844 bis 1862, ergriff später ähnliche Maßnahmen. Ein weiteres Beispiel war der Widerstand der brasilianischen Regierung gegen nordamerikanische Versuche, die Schiffahrt auf dem Amazonas zu organisieren. Auf dem Rio de la Plata ergriffen in Buenos Aires ansässige Genueser Seeleute die Initiative in der Flußschiffahrt. Im Laufe der Zeit sicherte sich Mihanovich ein Monopol. Bei der Dampfschiffahrt auf den lateinamerikanischen Flüssen, vor allem dem Amazonas, wurden die auf den großen Flüssen der Vereinigten Staaten, dem Mississippi und dem Missouri, gesammelten Erfahrungen ausgenutzt, und auf diesem Gebiet engagierten sich die Nordamerikaner stärker als die Engländer, deren Hauptinteresse in Lateinamerika dem Ausbau des Eisenbahnwesens galt. Auch die Küstenschiffahrt und letztlich der gesamte Ausbau eines Systems von Dampferverbindungen im Karibischen Meer verdienen ein Wort der Erwähnung. Auch sie verstärkten den Kontakt zwischen den einzelnen Gebieten, sowie den Reise- und Warenverkehr. Im Karibischen Raum intensivierte die Dampfschiffahrt die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und steigerte die Abhängigkeit von ihnen. Wahrscheinlich wären ohne sie die ›Bananenrepubliken‹ und ihre großen Südfruchthandelsgesellschaften nicht entstanden, wie auch endlich nur die stärkere wirtschaftliche Bindung Kubas an Nordamerika zum Krieg gegen Spanien (1898) führte. Die Transatlantikschiffahrt war zweifellos von ausschlaggebender Bedeutung, denn sie gestattete durch die vorhandene Schiffsraumkapazität, geeignete Frachten und Möglichkeiten der Passagierbeförderung eine beschleunigte Entwicklung in Lateinamerika. Die ersten Schiffsgesellschaften, die, natürlich im Zusammenhang mit britischen Interessen, um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Erscheinung traten, waren die Royal Mail auf der Atlantik- und die Pacific Steam Navigation Co. auf der Pazifikroute. Schrittweise erlangten der Seefrachtverkehr und als Ergänzung dazu die Beförderung von Einwanderern ihre eigentliche Bedeutung, und es entstanden immer mehr Schiffsgesellschaften und Liniendienste. So unterhielten die Franzosen die Messageries Maritimes und gründeten die Chargeurs Réunis, die Deutschen die Hamburg-Amerika-Linie. Es ist interessant, zu beobachten, wie die verschiedenen Unternehmen ihre Liniendienste vom Karibischen Raum nach und nach bis Rio de Janeiro und später weiter nach Süden, bis zum Rio de la Plata, ausbauten. Oder wie sie sich der Eisenbahn in Panama versicherten, um den Anschluß an die Pazifiklinien herzustellen, wenn auch noch lange Zeit hindurch die Pazifikküste vorwiegend von Schiffen bedient wurde, die die Magallanesstraße durchfuhren (welche trotz ihrer frühen Entdeckung von den Segelschiffen meist gemieden wurde, weil diese – ohne die notwendige technische Ausrüstung für die auf diesem Seeweg lauernden Gefahren – die Umsegelung des Kaps Horn vorzogen).

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Die Segelschiffahrt wurde keineswegs schlagartig von der Dampfschiffahrt abgelöst; das Dampfschiff setzte sich erst allmählich durch. Von Anfang an war sein Betrieb teurer und stieß auf mannigfache Widerstände. Die Vervollkommnung, die andrerseits der technische Fortschritt in der Segelschiffahrt ermöglichte, ließ diese noch manchen Sturm siegreich überstehen. Die Klipper beispielsweise waren viel schneller und manövrierfähiger als die alten Segler, verfügten über größeren Schiffsraum und konnten sich daher noch eine ganze Weile halten. Das Dampfschiff spezialisierte sich nach und nach auf bestimmte Dienste: Post- und Passagierbeförderung und Transport von Waren, bei denen die größere Schnelligkeit der Zustellung die Nachteile der höheren Frachtkosten aufwog. Dem Segler blieben einstweilen andere Transportgüter vorbehalten: das übelriechende Guano, Salpeter, verschiedene Erze, Hölzer, Leder usw. So wie es schon immer Spezialschiffe gegeben hatte, die den Erfordernissen ihrer Zeit entsprachen, tauchen jetzt neue auf, unter anderem auf den Maultiertransport spezialisierte Schiffe. In dieser Zeit des Übergangs von alten zu neuen Methoden, von der Sklavenwirtschaft zur Lohnwirtschaft, fiel dem Maultier – das im Bergbau und Transportwesen bereits unentbehrlich war – eine neue gewichtige Rolle zu: die zusätzliche Verwendung bei halbmechanisierten Arbeitsvorgängen (man denke etwa an die ›Decauville‹Feldbahnen, die bei großen industriellen und städtischen Bauarbeiten so gute Dienste leisteten). Der wichtigste Schiffstyp wurde jedoch der normale Steamer, dessen Tiefgang zweimal, fünfmal, ja schließlich zehnmal größer wurde als bei den großen Segelschiffen, während gleichzeitig seine Sicherheit und Verwendbarkeit für den Transport sich vergrößerte. Luxuriöse erste Klassen, die in steigendem Maße Pracht und Komfort der großen Hotels widerspiegeln, für die Unterbringung der ›Elitepassagiere‹ und der ausländischen Geschäftsleute; dritte Klassen für die Beförderung von Einwanderern (die dafür zu zahlende niedrige Passage erlaubte es einem Wanderarbeiter, zweimal jährlich den Atlantik zu überqueren, beim Einbringen der Ernte in Europa und Amerika zu helfen und auf diese Art jahrelang sein Leben zu fristen). Beim Konkurrenzkampf wurden auch die kleinsten Einzelheiten berücksichtigt: Wahl geeigneter Zwischenhäfen, Reklame für Komfort, Schnelligkeit oder Billigkeit der Überfahrt usw. Mannigfache Kapitalinteressen waren im Spiel; man bemühte sich um die Gunst führender Staatsmänner in den einzelnen Ländern, machte Reklame, führte Preiskriege oder schloß kluge Übereinkommen. Unter den verschiedenen Schiffsarten, die sich nach und nach herausbildeten, müssen zwei erwähnt werden, die spezielle technische Einrichtungen erforderten: der Fruchttransporter, der besonders für die Bedürfnisse des nordamerikanischen Marktes entwickelt wurde und im Dienst der Bananengesellschaften stand, und das Kühlschiff für den Transport von Gefrierfleisch, das die wirtschaftliche Entwicklung der Pampa-Ebenen und ihre vollere Einbeziehung in den britischen Markt erlaubte.

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Im Frachtkostenkrieg waren zuerst die Rivalität zwischen Segler und Dampfer ausgetragen worden, danach Streitigkeiten und Konkurrenzkämpfe zwischen den Schiffsgesellschaften verschiedener Länder (hier sind ein anfängliches britisches Übergewicht, starke französische Konkurrenz, nordamerikanische Vormachtstellung im Karibischen Raum und das späte Auftreten deutscher, italienischer, schwedischer und anderer Gesellschaften zu beobachten). Im Transatlantikdienst hat es nie einen eigenen Beitrag Lateinamerikas von Bedeutung gegeben. Wenn man die Ungleichmäßigkeit in der Entwicklung Lateinamerikas und die heutigen Übelstände überdenkt, so verdient dieser Punkt besondere Beachtung: die Produktionsausweitung in der lateinamerikanischen Wirtschaft und deren wachsende Beteiligung am Welthandel waren stets auf die Dienste ausländischer Seetransportgesellschaften angewiesen, womit ein beträchtlicher Verlust an Frachteinnahmen und die Überlassung großer Gewinne an die ausländischen Schiffsgesellschaften verbunden war. In der Geschichte dieser Ereignisse spielen auch noch zweitrangige, aber nicht ganz unerhebliche Episoden eine Rolle: der Kampf zwischen kleinen und großen Gesellschaften, die Existenz einzelner unabhängiger Schiffe, die sich auf Sondereinsätze zu spezialisieren pflegten. Eine wichtige Tatsache ist es, daß in einem Kontinent, der es jahrhundertelang verstanden hatte, das Handelsmonopol des Mutterlandes durch intensive Schmugglertätigkeit erfolgreich zu umgehen, dieser Schleichhandel in seinen traditionellen Formen auf einen Schlag verschwindet (wenngleich er de facto in anderer Form weiterbesteht, insofern als die schwachen, vom herrschenden Liberalismus noch zugelassenen Zollschranken immer wieder durch falsche Deklarierungen und Beamtenbestechung umgangen werden). Mit der dank der Dampfschiffahrt erreichten größeren Regelmäßigkeit und Schnelligkeit der Verbindungen wurden manche Dinge zur Selbstverständlichkeit: die Korrespondenz zum Beispiel gewann außerordentlich an Bedeutung, der Handelsaustausch entwickelte sich dank dieser Schiffe und ihrer Zuverlässigkeit bei der Übermittlung von Aufträgen und Lieferungen, er zog Nutzen aus dem Versand von Mustern und der reichlichen Reklame in Gazetten und Zeitungen. Etwa von 1870 an stand genügend Laderaum zur Verfügung, und die Regelmäßigkeit der Liniendienste schaltete die Unbequemlichkeiten und Nachteile langer Wartezeiten aus. Eine unvorhergesehene Folge des Aufkommens der Dampfschiffahrt war es, daß die größere Schnelligkeit der Verbindungen die alten sanitären Schutzmaßnahmen gegenstandslos machte. Wenn zu der Zeit, als ein Segelschiff noch gut seine zwei Monate für die Überfahrt nach Amerika benötigte, an Bord irgendeine Epidemie ausbrach, dann mußte der Kapitän im Anlaufhafen die lokalen Behörden benachrichtigen, und das Schiff wurde unter Quarantäne gestellt. Nun aber, da die Überquerung des Atlantiks vierzehn Tage oder noch weniger dauerte, war dieser Zeitraum kleiner als die Inkubationszeit, und es

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kam sehr häufig vor, daß infizierte Passagiere an Land gingen, bevor die Krankheit zum Ausbruch kam. Zudem gingen sie in Städten an Land, wo das rapide Wachstum der Bevölkerung und das Zusammenleben auf engstem Raum die hygienischen Verhältnisse und damit die Möglichkeiten zur Bekämpfung der Krankheit verschlechtert hatte, weshalb jede Krankheit schnell um sich greifen konnte. Auch dies ist eine Erklärung für die großen Epidemien, die damals die lateinamerikanischen Städte heimsuchten. Anfänglich ging die Ausschiffung auf Reede vor sich. Dabei mußten die Passagiere und Waren oft in kleinere Schiffe oder in Karren umsteigen oder umgeladen werden, die ihnen im Wasser entgegenkamen. Die Häfen mußten erst ausgebaut werden, um großen Schiffen ein direktes Anlegen zu ermöglichen; genügend große Kais mußten gebaut werden und Lastkräne zum Be- und Entladen aufgestellt, große Lagerräume für die Stapelung der Waren, Büroräume für die Inspektion und die Beamten, Hotels für die Unterbringung der ankommenden Einwanderer erstellt, Wellenbrecher und Schutzbauten errichtet werden, damit ungünstiges Wetter nicht das ungeheure Kapital gefährdete, das in jedem Schiff steckte. Nach und nach geschah das alles in Rio, Buenos Aires, Veracruz, Valparaiso, Montevideo, Santos und anderen Hafenstädten. Die Anlage eines Hafens, sein Ausbau und seine Modernisierung waren ein gewaltiges wirtschaftliches Unternehmen, das die einheimischen Behörden nicht allein bewältigen konnten und das für private Geldgeber in den einzelnen Ländern keine lohnende Investitionsmöglichkeit darstellte: wiederum ein Anlaß zur Verschärfung der Abhängigkeit; ausländische Fachleute und Anleihen mußten herangezogen werden. Die Eisenbahnen Nachdem wir die Entwicklung der Dampfschiffahrt und des Hafenbaus betrachtet haben, muß nun in logischer Ergänzung dem Siegeszug der Eisenbahn Aufmerksamkeit geschenkt werden. Die ersten Schienenwege in Lateinamerika hatten, was Länge und Aufgabe anbetrifft, wenig mit der Entstehung der späteren großen Eisenbahnnetze zu tun. Zuerst bestand nur ein Interesse am Bau kurzer Strecken: kleine Zweigbahnen von den Bergbauzentren zur Küste, kurze Strecken zur Unterstützung der Flußschiffahrt dort, wo sie durch Stromschnellen und Wasserfälle behindert ist, und schließlich Verbindungen zwischen nahegelegenen Ortschaften, deren Bedeutung den Bau rechtfertigt: Lima und El Callao, Petrópolis und Rio, zum Beispiel. Nicht alle Gebiete Lateinamerikas erwiesen sich für den Bau von Eisenbahnen als geeignet; Gebirgsgegenden und tropische Urwälder bildeten zuweilen unüberwindliche Hindernisse. Eine der ersten Eisenbahnlinien wurde in Chile gebaut: die Copiapóbahn; sie wurde im Jahre 1848 begonnen und 1850 fertiggestellt. Die Leitung der Bauarbeiten lag in Händen des Nordamerikaners William Wheelwright, der für

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den Ausbau der lateinamerikanischen Eisenbahnen eine wichtige Rolle spielte. Er begann auch mit dem Bau der Linie Valparaiso – Santiago, die von Henry Meiggs fertiggestellt wurde. In Brasilien baute im Jahre 1854 der Baron Mauá eine kleine Bahnlinie zwischen Rio und Petrópolis. Anschließend wurde die ›Dom Pedro II.-Eisenbahn‹ in Angriff genommen; die erste Teilstrecke, von Rio nach Queimadas, konnte 1858 eröffnet werden. Auch nach São Paulo und Minas Gerais wurden Bahnen gebaut; noch im gleichen Jahr eine Linie im Staat Pernambuco. Ebenfalls in Bahia begannen die Bauarbeiten, während gleichzeitig die Bahnlinien nach Campos und Cantagallo (in Rio) fertiggestellt und ein ganzes Eisenbahnnetz mit dem Zentrum Sao Paulo angelegt wurde. Um das Jahr 1907 verfügte Brasilien über etwa 18000 km Eisenbahnstrecken. Die östliche Hälfte des Staates São Paulo war am besten damit versehen. Man baute die brasilianischen Eisenbahnen nicht nach einem Gesamtplan, so daß zu Beginn unseres Jahrhunderts weniger von einem umfassenden als von fünf unabhängigen Eisenbahnnetzen gesprochen werden mußte: in Pernambuco, Bahia, Minas Gerais, São Paulo und Rio Grande do Sul. Zwei von ihnen, die von Minas und São Paulo, wurden bald aneinander angeschlossen. Damit war die erste Eisenbahnverbindung zwischen zwei Staatengruppen hergestellt, die bald mit dem Seeweg in Wettbewerb trat. Jedes Einzelnetz erstreckte sich fächerförmig von einem Hafen ins Innere des Landes. Im Süden mußte dabei das Hindernis der Serra do Mar überwunden werden. Die einträglichste Bahnlinie war, aufgrund des Kaffeebooms, die von São Paulo. An anderer Stelle wird ausführlich von der Bahn über die Panama-Landenge die Rede sein. Sie wurde um die Mitte des 19. Jahrhunderts fertiggestellt; an den Bauarbeiten war bereits William Wheelwright beteiligt. In Peru begann der Eisenbahnbau mit der Strecke Lima – El Callao; es folgten die Linien von Mejía nach Arequipa, von Pisco nach Ica und schließlich die Bahn zum Bergbaugebiet Pasco. Im Jahre 1870 nahm Meiggs die Arbeiten an den Teilstrecken El Callao – La Oroya und Arequipa – Puno auf. Um 1892 wurden zwei weitere wichtige Linien in Betrieb genommen: vom peruanischen Hafen Mollendo nach Puno am Titicacasee (von wo aus man von 1902 an, nach Überquerung des Sees, in der Eisenbahn nach La Paz weiterfahren konnte) und die Bahn vom chilenischen Hafen Antofagasta quer durch die Atacamawüste nach Uyuni. Diese Strecke wurde bald darauf bis Oruro fortgeführt und erreichte im Jahre 1910 La Paz. Die für Bolivien wichtigste Linie, die den chilenischen Hafen Arica mit La Paz verbindet, wurde 1913 in Betrieb genommen. Die Linie Valparaiso – Mendoza reichte im Jahre 1893 erst bis Santa Rosa de los Andes. Von dort aus mußten die Reisenden ihren Weg bis Mendoza auf dem Maultierrücken fortsetzen, konnten dort aber wieder den Zug besteigen und nach Buenos Aires weiterfahren (die ›Transanden-Bahn‹ wurde erst im 20. Jahrhundert völlig fertiggestellt). In Venezuela wurde 1883 eine Eisenbahnverbindung von Caracas zum Hafen La Guaira und 1888 eine weitere von Valencia nach Puerto Cabello gebaut. Etwas

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später entstanden Teilstrecken im Innern des Landes, parallel zur Küste (zuerst von Maracay nach Ocumare, dann von Valencia nach Caracas).

 Abb. 4: Die Entwicklung des Eisenbahnwesens in Argentinien von 1865–1910

Die Gebirgszüge in Kolumbien erschwerten den Bau von Eisenbahnen ungeheuer. Ursprünglich wurden sie dort nur zur Unterstützung der Schiffahrt auf dem Magdalena herangezogen, dessen Mündungsgebiet schwer zugänglich ist. Man baute eine Bahn von Barranquilla am Magdalena zuerst nach Sabanilla und dann weiter nach Puerto Colombia am Karibischen Meer. Bogotá wurde 1909 ebenfalls mit dem Magdalena verbunden, Medellín erst im Jahre 1929. Seit 1914 besteht eine Eisenbahnverbindung zwischen dem Pazifikhafen Buenaventura und Cali, die später bis Popayán weitergeführt wurde. Auch in Mexiko lagen die Verhältnisse nicht einfach. Erst spät entstand eine Bahnlinie zwischen der Hauptstadt Mexiko und dem Hafen Veracruz (1872 von englischen Ingenieuren fertiggestellt). Unter dem Diktator Porfirio Díaz wurde das Eisenbahnnetz stetig ausgebaut. Als er im Jahre 1876 die Macht übernahm, gab es 691 Bahnkilometer im Land; 1911, nach seinem Sturz, 24711 km. Die großen Linien stellten die Verbindung zwischen Mexiko City, den Küsten, den Landesgrenzen und den Städten im Innern des Landes her. Zum größten Teil wurden sie von nordamerikanischen Gesellschaften gebaut.

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In der Republik Argentinien setzte der Eisenbahnbau im März 1861 mit der Anlage des südargentinischen Netzes ein. Im April 1863 nahm man die Linie Rosario-Córdoba in Angriff. Die argentinische ›Zentralbahn‹ in Rosario wurde 1865 eingeweiht; ihr Bau war großenteils der Initiative William Wheelwrights zu verdanken, der auch an der Errichtung der Linie zwischen Buenos Aires und dem Hafen La Ensenada mitwirkte und sich erfolgreich um die Beteiligung ausländischen Kapitals bemühte. Im Jahre 1866 wurde die ›Westbahn‹ von Buenos Aires nach Chivilcoy eröffnet und im gleichen Jahr die Bahn nach Gualeguay in Betrieb genommen. Zwischen 1880 und 1890 wuchs das argentinische Eisenbahnnetz von 2516 km auf 9397 km Länge an. Ende des 19. Jahrhunderts umfaßte es 16500 km und im Jahre 1914 eine Gesamtlänge von 33500 km. Die lateinamerikanische Welt war nach dem Bau der großen Eisenbahnlinien nicht mehr die gleiche wie zuvor. Der Bau der Eisenbahnen hatte sich nicht an der Verteilung der Bevölkerung und den dominierenden Wirtschaftssystemen ausgerichtet, sondern war anderen Gesichtspunkten gefolgt. Die großen Bahnlinien stellten, als Basis eines Systems, ein wirtschaftliches Großunternehmen dar, das hauptsächlich auf britischen Investitionen beruhte. Als wirtschaftliches Unternehmen forderten sie eine hohe Rentabilität und wurden nur dort angelegt, wo die Voraussetzungen dazu gegeben waren. Zu Beginn konnte möglicherweise für den Bau von Eisenbahnen ein gewisser lokaler Pioniergeist ausschlaggebend sein oder die Garantie eines Mindestzinses für das investierte Kapital oder auch bescheidene Summen, die von einzelnen Regierungen zur Verfügung gestellt wurden. Der wirklich entscheidende Faktor für die Entwicklung und den Ausbau des Eisenbahnwesens aber war die Expansion der Exportwirtschaften und der Grad ihrer Verflechtung mit ausländischen Kapitalinteressen. In den weiten Ebenen des Rio de la Plata durchquerte die Eisenbahn zum Beispiel dünn besiedelte Gebiete und Landstriche, die sich noch kurz zuvor in Händen der Indianer befunden hatten. Aber aus diesen Ebenen strömte sehr bald ein unermeßlicher Reichtum in Form von Exportgütern wie Fleisch, Wolle und Getreide. In manchen Fällen waren die wirtschaftlichen Aussichten so groß, daß sie den Bau von Eisenbahnen rechtfertigen konnten, ehe noch die erforderliche Bevölkerung zur Aufnahme der Produktion vorhanden war. Um beim argentinischen Beispiel zu bleiben: vor dem Siegeszug der Eisenbahn bestand ein wenig differenziertes Verkehrsnetz, bei dem die Karawanen von Lastfuhrwerken eine Hauptrolle spielten und die Regionalwirtschaften ziemlich unabhängig voneinander existierten. Der Eisenbahn blieb es vorbehalten, dieses System zu sprengen und die Stellung der einzelnen Landesteile zum klaren Vorteil der Provinz Buenos Aires, so wie auch der von Santa Fe und Entre Ríos, zum Schaden Catamarcas und des gesamten argentinischen Nordwestens zu verändern. Der Eisenbahnbau ging Hand in Hand mit einem System wirtschaftlicher Erschließung, das gute Frachten garantierte. Dem entsprach die

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Anlage der ersten Linien. In dem Maße, wie das System sich durchsetzte, wurden weitere Linien in andere Landesteile gebaut. Eine von ihnen, die Strecke nach Cuyo, brachte das Wirtschaftsleben dieser Region zu neuer Blüte und konnte die Entwicklung des Weinbaus auf kapitalistischer Grundlage sichern; eine andere, die Bahn nach Tucumán, trug entscheidend zur Entwicklung der Zuckerproduktion bei. Der wirtschaftliche Niedergang Catamarcas, das zuvor durch den Handelsverkehr nach Chile und Bolivien hinüber ein blühendes Wirtschaftsleben gekannt hatte, läßt sich nur damit erklären, daß infolge des Verlaufs der Bahnlinien dieser Handelsverkehr nun andere Wege einschlug. In Übereinstimmung mit der Anlage gewisser Bahnlinien wurden Besiedlungspläne entworfen, die dem Anschein nach die Entstehung einer ländlichen Mittelschicht begünstigten. Trotzdem läßt sich feststellen, daß die Eisenbahn im allgemeinen eher zu einer Konsolidierung des Latifundismus in Lateinamerika beitrug. Wie es am Beispiel Kuba vorzüglich zu beobachten ist, war es für die Anlage einer Eisenbahnlinie im allgemeinen Voraussetzung, daß eine Wirtschaftstätigkeit vorherrschte, die ein gewisses Mindestmaß von Technisierung und Produktionssteigerung erwarten ließ, was eine Konzentration des Reichtums sowohl forderte als auch begünstigte. Daraus ergab sich die außerordentliche Übereinstimmung zwischen den Interessen der Großgrundbesitzer gewisser lateinamerikanischer Länder und denen der Eisenbahngesellschaften (in Argentinien wurden auf diese Weise die britischen Interessen ausschlaggebend). Der Bau jeder Eisenbahnzweiglinie in Lateinamerika zeigt interessante Begleiterscheinungen, die dazu verleiten könnten, eine eigene Sozialgeschichte darüber zu schreiben. In diesem Zusammenhang interessieren vor allem die Bahnabzweigungen von den Exporthäfen. Schon der Bau allein warf eine Unzahl von Problemen auf. Woher sollten die benötigten Arbeitskräfte kommen? Vorwiegend wurden als Einwanderer ins Land gekommene europäische Arbeiter eingesetzt, in einigen Fällen aber auch Chilenen (in Oroya, Peru) oder Chinesen (bei der Panamabahn und auch sonst an der Pazifikküste). Für die Bauarbeiten waren vorbereitende Studien notwendig, mußten nicht leicht zu behandelnde Arbeiter in manchmal recht verkehrsfeindliche Gebiete gebracht werden. Das traf besonders für den Streckenbau in gebirgigen Gegenden zu. Im gesamten pazifischen Raum verdient die Pioniertätigkeit des Henry Meiggs Erwähnung, einer typischen Erscheinung jener Epoche, halb Unternehmer, halb Finanzabenteurer, der einen erheblichen Beitrag zum Bau vieler Eisenbahnen leistete, wobei er ganz nach Gutdünken mit den einheimischen Staatsmännern umsprang. Die Eisenbahn wurde zum Symbol des Fortschritts, und um dies klarer darlegen zu können, wollen wir uns im folgenden ganz konkret auf das argentinische Beispiel stützen: aus den Eisenbahnstationen entwickelten sich Zentren des sozialen und wirtschaftlichen Geschehens, Schwerpunkte des

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Zwischenhandels. In eine allzu sehr den alten Traditionen verhaftete Welt, wo der Wirtschaftsgeist nicht sehr rege, Pünktlichkeit und genaue Einhaltung von Terminen nicht von entscheidender Bedeutung waren, dort sorgte die Eisenbahn für einen neuen Lebensrhythmus. Sie war nach europäischem Vorbild organisiert, Zeit war ein wirtschaftlich wichtiger Faktor, die Leistungsfähigkeit des Unternehmens hing von seiner ordnungsgemäßen Organisation und der Auswahl guten Personals ab. Aus allen diesen Gründen ist noch heute vielerorts der Ausdruck ›britische Pünktlichkeit‹ sprichwörtlich, und die Eisenbahn wird häufig als Vorbild für gutes Funktionieren eines Betriebes hingestellt. Der neue Rhythmus, den die Eisenbahn dem Wirtschaftsleben aufprägte, sicherte wiederum die Verteilung der Waren, Fortbewegungsmöglichkeiten für Handelsagenten und Arbeiter, sowie die Errichtung eines leistungsfähigen Postdienstes ins Innere des Landes. In manchen Fällen konnte deutlich nachgewiesen werden, inwieweit die Eisenbahn zur Ausdehnung der Anbauflächen beigetragen hat. Unleugbar ist in Argentinien ihr Einfluß auf die Ausweitung des erschlossenen Gebiets in Richtung auf die Pampas. In Brasilien ist es noch viel leichter und genauer nachzuweisen, in welchem Ausmaß die Eisenbahn zur Expansion der zuvor viel begrenzteren Kaffeeanbaugebiete beitrug. Der Telegraf Eine weitere technische Errungenschaft, die mit den zuvor geschilderten Umwälzungen in engstem Zusammenhang stand, war der Telegraf. Auf nationaler Ebene trug er dazu bei, die staatliche Autorität zu festigen. Klare Beispiele dafür sind die Rolle, die der Telegraf bei den Truppenbewegungen zur Bekämpfung des Caudillismus im Landesinnern spielte, und die Bedeutung, die ihm Brasilien beimaß, als es mitten im Krieg gegen Paraguay seine erste Telegrafenleitung nach Süden baute, da diese Verbindungsmöglichkeit einfach nötig war. Die ersten Unterwasserkabel wurden von grundlegender Bedeutung für die Verbindungen zur alten Welt. Die Verlegung der ersten Kabel geschah unter britischer Kontrolle. Frankreich erkannte jedoch bald, wie wichtig es sei, in dieser Hinsicht nicht von England abzuhängen, und stellte eine eigene Kabelverbindung her. Nach und nach entstanden und organisierten sich die ersten Telegrafenagenturen. Der Telegraf versorgte die in vollem Aufschwung befindliche Tagespresse mit neuesten Nachrichten, vor allem aber spielte er eine wesentliche Rolle im Wirtschaftsleben: er übermittelte Börsennotierungen, informierte über gute oder schlechte Ernten in konkurrierenden Erzeugergebieten, über die Lage in der Geschäftswelt und mögliche Beeinflussungen durch die internationale Politik. Man darf behaupten, daß die Erstarkung einiger großer Unternehmen, insbesondere solcher, die sich mit der Aufstapelung und dem Handel von Landesprodukten befaßten, zum großen Teil auf einen geschickten und

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intensiven Gebrauch dieses neuen Systems der Nachrichtenübermittlung zurückzuführen ist. Ein Beispiel dafür ist die Getreidefirma Bunge und Born, die am Rio de la Plata ein riesiges Wirtschaftsimperium aufzubauen vermochte. Tag für Tag trafen in ihren Büros die Informationen ihrer Agenten in aller Welt über Produktion und Nachfrage ein. Tag für Tag gingen Anweisungen an ihre Agenten und Unteragenten im Innern Argentiniens hinaus, um Aufkäufe und Offertbedingungen auf die jeweilige Lage abzustimmen. Durch ständige Überwachung der Informationen und Nachrichten war das Unternehmen in der Lage, Stocks zu bilden und den Verkauf so einzurichten, daß ihm ein Großteil der Gewinne aus der Getreidewirtschaft zufiel. Die Technisierung der Landwirtschaft und des Bergbaus Die ersten Buschmesser, Messer und Spaten britischer Fabrikation, die nach der Erlangung der Unabhängigkeit Lateinamerikas dort massenhaft eingeführt wurden, übten fraglos einen direkten Einfluß auf die Produktion aus. Den Aufzeichnungen Carl August Gosselmans, eines Schweden, der in den Jahren 1837 und 1883 mehrere lateinamerikanische Länder bereiste, lassen sich wertvolle Hinweise darauf entnehmen, was man dort an Werkzeugen benutzte und was, seiner Ansicht nach, der schwedische Handel am besten liefern sollte: verschiedene Sorten von Nägeln, Eisenbeschläge, Rund- und Stabeisen, Ambosse, Anker, Töpfe, Äxte, Schaufeln, Stahl, Kupferplatten, Fensterglas, Sprengpulver, Segeltuch, Pech, Teer, Holz, Ziegel, Draht, Nadeln, Stoffe und Tuche, Seile, Flaschen, Hacken, Spaten, Säbel, Hämmer, Messer, Scheren, Vorhängeschlösser usw. Als erster Schritt auf dem Wege zur Technisierung der Produktionstätigkeit hat die wachsende Zahl neuer und die Verbesserung veralteter Produktionsmethoden zu gelten. Für diese Übergangszeit sind etwa die Einpökelungsverfahren zu nennen, die gesteigerte Leistungen erzielten. Nach und nach fanden landwirtschaftliche Geräte Verwendung, die einen wirksameren Einsatz von Pferden und anderen Arbeitstieren gestatteten, bessere Pflüge, Einzelteile zum Bau von Karren und Fuhrwerken, und auch die ersten Dampfmaschinen, die in wachsendem Maße eingesetzt wurden. In der Landwirtschaft bediente man sich jetzt der Mähmaschine und – sehr viel später – der Dreschmaschine. In den Viehzuchtgebieten wurden gute Zuchttiere und wissenschaftliche Zuchtmethoden eingeführt. Im Bergbau wurden decauville und Dampfmaschine zu den verschiedensten Zwecken eingesetzt. Bei der Zuckergewinnung ging, sowohl in Kuba als auch in Brasilien und anderen Ländern, die Technisierung mit einer stärkeren Konzentration und Rationalisierung der Erzeugung Hand in Hand. Die neuen Zuckerfabriken waren den alten Zuckermühlen, von denen auf jedem Großgrundbesitz praktisch eine gestanden hatte, weniger an Zahl, aber an Produktionskapazität weit überlegen. In der modernen Zuckerfabrik fanden Dampfmaschine und

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chemische Verfahren rege Verwendung, und so konnte ein besser raffiniertes Produkt erzeugt werden, das zwar geringeren Nährwert besaß, sich aber leichter über längere Zeiträume lagern und besser verkaufen ließ. Der Prozeß der Technisierung in der Landwirtschaft und dem Bergbau war den Gesetzen der traditionellen exportorientierten Monoproduktionswirtschaften unterworfen. Er fand leichten Eingang, wenn er den besseren Absatz eines in Europa nachgefragten Produktes ermöglichte. Diese Tendenz tritt besonders deutlich im Bau großer Gefrierfleischfabriken zutage. Das Wachstum der europäischen Bevölkerung und die gesteigerte Konsumfähigkeit eines großen Teils dieser Bevölkerung schufen eine größere Nachfrage nach Nahrungsmitteln. Für tierische Produkte, besonders für Fleisch, gab es einen genügend großen Markt in Europa, und in den Tiefebenen Lateinamerikas gab es genug Vieh zu niedrigem Preis. Aber die europäischen Verbraucher lehnten Dörr- oder Pökelfleisch, die sie für minderwertige Lebensmittel hielten, ab und verlangten Frischfleisch. Eine Zeitlang machte man Versuche mit der Ausfuhr von Lebendvieh. Die große Wende trat aber erst durch die Anwendung des Kühl- und Gefrierverfahrens bei Fleisch ein, wodurch die Konservierung ohne wesentlichen Geschmacksverlust und Veränderung des ursprünglichen Aussehens gesichert wurde. Dieses Verfahren machte, wie wir bereits sahen, den Bau von Schiffen mit Spezialkühleinrichtungen für den Transport des Fleisches erforderlich. Darüber hinaus wurden mit dem Ausbau dieses Produktionszweiges riesige Anlagen notwendig, in denen Vieh in genügender Anzahl geschlachtet und das Fleisch gelagert werden konnte, bis die Schiffe eintrafen, die es nach Europa transportierten. Die Organisation und die Mechanisierung der anfallenden Arbeiten erlaubten eine Kostensenkung und eine bessere Verwertung der Nebenprodukte. Die Einführung neuer technischer Methoden ermöglichte auch die Steigerung zuerst des chilenischen Salpeter- und dann auch des Kupferexports, kam der Förderung der Produktion von Kaffee in Brasilien, von Kakao in Ekuador, von Bananen in den karibischen Ländern zugute. Die Technisierung richtete sich am wachsenden Bedarf der Industrieländer an Nahrungsmitteln und Rohstoffen aus. Diese Abhängigkeit der lateinamerikanischen Produktion vom Ausland wurde besonders deutlich während der großen Krise in der europäischen Textilindustrie, die (infolge des Sezessionskrieges in Nordamerika) durch den Mangel an Baumwolle ausgelöst worden war. Niemals ist so viel wie zu jener Zeit für die Förderung der lateinamerikanischen Baumwollerzeugung unternommen worden: Verteilung von Saatgut und Anleitungen für den Anbau, Gewährung von Krediten und alle möglichen anderen Maßnahmen. Diese Anstrengungen trugen in einigen Fällen ihre Früchte, so in Brasilien, das einen kurzen Baumwollboom erlebte. Im städtischen Leben setzten sich schrittweise und nach europäischem Vorbild moderne Methoden im Bank- und Handelswesen durch. Es entstanden spezialisierte Handelshäuser, große Warenhäuser, prächtige, warengefüllte

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Schaufenster. Und damit das Leben der Stadt nicht mit Einbruch der Nacht aufzuhören brauchte, wurde die künstliche Beleuchtung, zuerst mit Gas, dann mit Elektrizität, eingeführt. Das künstliche Licht verlängerte nicht nur die Geschäftsstunden, sondern begünstigte auch das gesellschaftliche Leben, ermöglichte die abendliche Promenade und wurde überhaupt eine der größten Attraktionen des Lebens in der Stadt. Das Wachstum der Städte bedingte den Einsatz von Verkehrsmitteln, um die Verbindung zwischen dem Zentrum und den entlegenen Vororten zu erleichtern: zuerst die Pferdebahn und dann die elektrische Straßenbahn erfüllten diese Aufgabe. Die moderne Technik im Dienste eines luxuriöseren Lebens schlug sich in hochmodernen, mehrgeschossigen Bauten mit immer größerem Komfort in der Innenausstattung nieder. 4. Die internationale Politik und die neuen Staaten im 19. Jahrhundert Den europäischen Mächten und den Vereinigten Staaten konnte das Schicksal der jungen Republiken nicht gleichgültig sein; infolgedessen war ihre Außenpolitik manchen Schwankungen unterworfen, mit denen wir uns nun zu beschäftigen haben.

Die britische Politik Der Aufstieg Großbritanniens zur Weltmacht war bereits vor der Unabhängigkeit Lateinamerikas erfolgt. Seit dem Utrechter Frieden (1713) und dem Methuen- Vertrag (1703) hatte England aufgrund seines wirtschaftlichen Fortschritts nach und nach Konzessionen von den spanischen und portugiesischen Kolonialherren erhalten können. Das anfangs durch die Beutezüge britischer Korsaren und einen intensiven Schmuggelhandel geweckte Interesse an den amerikanischen Edelmetallen ließ England eine Politik betreiben, die ihm das Monopol für den Handel mit Negersklaven, Landegenehmigung für sog. Freischiffe und andere Handelserleichterungen für Großbritannien eintrugen. Allmählich erkannten die englischen Kaufleute und Politiker, welche Vorteile eine völlige Handelsfreiheit in diesen Ländern und sogar eine mögliche Ablösung der alten Kolonialherren versprachen. Vom Abfall der Kolonien in Nordamerika (1776) bis rund ein Jahrhundert danach genoß England die Vorteile seiner industriellen Entwicklung. Sie erlaubte es ihm, großen Nutzen aus dem Freihandel zu ziehen. Allerdings darf diese Feststellung nicht in allzu engem Sinne ausgelegt werden. Die Lateinamerikaner waren ihrerseits an den Vorgängen in Großbritannien interessiert. Vom ausgehenden 18. Jahrhundert an schenkten lateinamerikanische Besucher und Gelehrte aller Art der politischen Entwicklung in England größte Aufmerksamkeit. Francisco Miranda hatte in verschiedenen Unterredungen den Premierminister William Pitt für den Gedanken der Unabhängigkeit

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Hispanoamerikas zu gewinnen versucht. Als England im Jahre 1797, infolge der spanisch-französischen Allianz, Spanien den Krieg erklärte, wurden viele Hoffnungen ermutigt. Miranda und andere wurden förmlich zu britischen Agenten. Gleichzeitig verlor die spanische Monarchie unter Karl IV. (1788–1808) immer mehr an Ansehen und machte alle Hoffnungen auf die zur Zeit Karls III. geplanten Reformen zunichte. Die britischen Seefahrer, weit bedenkenloser als die führenden Staatsmänner, nahmen offen den Kampf gegen das Kolonialmonopol auf. Als sich im Jahre 1808 durch den Ausbruch des Widerstandes gegen die Franzosen die Lage in Spanien wandelte, wurde die britische Politik gegenüber Spanisch-Amerika vorsichtiger, denn die Engländer wollten ihre neuen Verbündeten auf dem europäischen Kontinent nicht verlieren. Die Übersiedlung des portugiesischen Hofes nach Rio festigte die britische Position in Brasilien, da England dort die Handelsfreiheit und Vorzugszölle für seine Waren erhielt, während zugleich der britische Botschafter in Rio, Lord Strangford, eine bedeutende Rolle in der brasilianischen Politik zu spielen begann. Doch konnte die britische Politik keine ganz klare Linie verfolgen. Im April 1811 schlug man den spanischen Behörden in Cádiz die Unterzeichnung eines Handelsvertrages vor, der den englischen Schiffen die amerikanischen Häfen öffnen sollte. Dafür verpflichtete sich England, bei den Rebellen zu vermitteln. Jedoch die Cortes wiesen diesen Vorschlag zurück. Ein Jahr später baten die Spanier selbst um die Vermittlung bei den Rebellen im Karibischen Raum und am Rio de la Plata; aber nun stellte die britische Regierung eine Bedingung: jedwede Beilegung des Konfliktes habe auf friedlichem Wege zu erfolgen und ohne daß Spanien sich im voraus geheime Vorteile zu sichern versuche. Inzwischen machte Lord Strangford in Rio seinen ganzen Einfluß geltend, um die Portugiesen von ihren ersten Plänen abzubringen, die Grenzen des lusitanischen Reiches bis zum Rio de la Plata vorzuschieben. Das Bündnis mit Spanien war jedoch kein Hindernis für den weiteren Zustrom britischer Waren auf den iberoamerikanischen Markt. Nach der Niederwerfung Napoleons nahm England am Wiener Kongreß (1815) teil, wo es offenbar gemäßigte Forderungen stellte: es ließ sich den Besitz von Trinidad und Guayana bestätigen, erzielte eine Erklärung zugunsten der freien Schiffahrt auf allen Flüssen, die mehr als ein Land durchfließen, und eine Erklärung gegen den Sklavenhandel. Von nun an nahm die britische Politik gegenüber Lateinamerika eindeutigere Formen an. Waffen und Hilfslieferungen zur Unterstützung der Aufständischen trafen in immer größerem Umfang ein. Britisches Kapital, in Form von Anleihen, trug zur Konsolidierung der neuen Staaten bei, zu denen England auf Beschluß seiner Regierung von 1822 an konsularische Beziehungen aufnahm. Wenig später wurde die Selbständigkeit Argentiniens, Mexikos, Kolumbiens und 1831 auch die Chiles von Großbritannien anerkannt. Vergeblich bemühten sich die Engländer darum, die jungen Staaten zur Übernahme der Monarchie als Regierungsform zu bewegen. Sie machten keinen

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Hehl aus ihrer Abneigung gegen die Pläne Bolívars, als im Jahre 1826 der Kongreß von Angostura einberufen wurde, und arbeiteten stets der Entstehung größerer Staatengebilde entgegen, weil diese ihrer Ansicht nach den eigenen Interessen zuwiderlief. Für jene Epoche wurde die britische Vormachtstellung in Lateinamerika zum Musterbeispiel für wirtschaftliche Abhängigkeit ohne koloniale Bindungen. Die meisten britischen Interessen waren schon allein durch die Möglichkeit des freien Wettbewerbs auf den Weltmärkten ausreichend geschützt, denn die auf der Insel frühzeitig erfolgte industrielle Revolution hatte England in die günstige Lage versetzt, Waren zu niedrigsten Preisen anzubieten. Nichtsdestoweniger gelang es britischen Diplomaten und Kaufleuten in vielen Fällen, über die Vorteile des freien Spiels von Angebot und Nachfrage hinaus, zusätzliche Vergünstigungen zu erzielen. Im Vertrag, der im Jahre 1810 mit dem portugiesischen Hof in Rio abgeschlossen wurde, erreichten sie es beispielsweise, daß der für alle ausländischen Waren festgesetzte Wertzoll von 24%, der für portugiesische Waren auf 16% herabgesetzt war, für Waren britischer Herkunft nur noch 15% betrug. Das beharrliche Bemühen um eine Beilegung des argentinisch-brasilianischen Grenzkonflikts durch Schaffung eines kleinen selbständigen Staates am Ostufer des Rio de la Plata beweist eindeutig den Wunsch Englands, seine eigenen Interessen in diesem Gebiet zu sichern. Der Kampf um die Aufhebung des Negerhandels und die Abschaffung der Sklavenarbeit stand in engstem Zusammenhang damit, daß England das Arbeitskräfteproblem in den eigenen Besitzungen relativ leicht hatte lösen können (in Indien vor allem wegen der reichlich vorhandenen Arbeitskräfte) und bestrebt war, das System der Lohnarbeit weiter auszudehnen, erhöhte sich auf diese Weise doch die mögliche Nachfrage nach englischen Konsumgütern, ein natürlicher Wunsch der industriekapitalistischen Wirtschaft, der England sich verschrieben hatte. Die Gewährung britischer Anleihen war sorgfältig berechnet. Die Diplomatie wachte eifersüchtig darüber, daß die lateinamerikanischen Wirtschaften praktisch nur eine Ergänzung der britischen Wirtschaft blieben. »In Lateinamerika ist der Engländer in gewissem Grad immer noch der ›Mylord‹ ... Sie kamen als Vertreter mächtiger Firmen, Handelsgesellschaften und Syndikate. Sie sind Leiter großer Filialniederlassungen, Ingenieure, Touristen, Sportler, Finanzleute. Der Engländer der unteren Schichten ist kaum anzutreffen; insofern liegen die Verhältnisse umgekehrt wie bei den Einwanderern aus anderen europäischen und amerikanischen Ländern. Eine Einwanderung von Engländern aus den ärmeren Schichten hat es in größerem Umfang nicht gegeben. England ist das Land, das zum großen Teil den Bau der Eisenbahnen finanziert hat. Dies alles beeindruckt den Lateinamerikaner mehr, als es in England, Frankreich oder Deutschland vorstellbar ist ... In den Städten Mexikos und Südamerikas gibt es deutsche Eisenwarenhandlungen und andere Läden, französische Krämer und Schneider neben spanischen und italienischen Kolonialwarenhändlern, Hotelund Gasthausbesitzern; sie alle sind wertvolle Mitglieder aufstrebender

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Gemeinschaften, genießen aber weniger Ansehen als jene Ausländer, die Banken, Großhandelsniederlassungen und Bergwerksbetriebe leiten und große Zucker-, Vieh- oder Baumwollfarmen gründen. England braucht sich nicht anzustrengen: die Tradition, die Zeit und sein guter Name arbeiten für es.«5 Das britische System stützte sich auf mehrere Grundgegebenheiten. Mit der Verwendung der Dampfmaschine hatte die englische Flotte eine unbestreitbare Überlegenheit nicht nur bezüglich der Kriegsmarine, sondern auch hinsichtlich der Wettbewerbsfähigkeit der britischen Handelsschiffahrt auf allen Meeren der Welt gewonnen. Die industrielle Revolution ermöglichte die fabrikmäßige Erzeugung eines großen Warenangebots, dessen Umfang und Preise die englische Vorherrschaft auf den Märkten sicherte. Ein gut organisiertes Finanzund Bankwesen gab Großbritannien die Möglichkeit, Kapital zur Stärkung der eigenen Interessen anzusammeln und zu investieren. Dabei verschlangen die Unternehmungen jener Zeit große, bis dahin ungewohnte Summen im Konkurrenzkampf um Frachten und Absatzmärkte sowie bei der Lagerhaltung von Nahrungsmitteln und Rohstoffen aus den Kolonien. England verfügte aber auch über das geeignete Personal für das reibungslose Funktionieren dieses komplizierten und vielseitigen unternehmerischen Apparates. Um diesen Stand der Dinge nicht zu gefährden, widersetzte sich England ganz entschieden den Plänen der Heiligen Allianz für eine Wiederherstellung der spanischen Kolonialherrschaft, und aus demselben Grunde kam es zum Eingreifen Englands (gemeinsam mit Frankreich) am Rio de la Plata gegen die Politik des Präsidenten Juan Manuel de Rosas und zur immer unerbittlicheren Verfolgung der Sklavenschiffe, die nicht ohne harten Kampf um die Mitte des 19. Jahrhunderts den Sklaventransporten über den Atlantik ein Ende bereitete. Bereits im Jahre 1833 hatten englische Truppen die Falklandinseln besetzt, die trotz wiederholter argentinischer Proteste zum Besitz der britischen Krone erklärt wurden. Im Jahre 1861 beteiligte sich Großbritannien gemeinsam mit Spanien und Frankreich an der Intervention in Mexiko. Allerdings zogen sich die englischen und spanischen Truppen nach der Einnahme der Hafenstadt Veracruz wieder zurück, da es klar erkennbar wurde, daß Frankreich etwas mehr als lediglich die Eintreibung von Schulden im Sinne hatte. Ein Jahr später übten Großbritannien und Frankreich starken Druck auf Argentinien und Uruguay aus, um die Bezahlung der Schulden aus dem Krieg gegen Rosas zu erzwingen. Das kaum verhüllte Eingreifen Englands in den Pazifikkrieg (Kampf um die Salpetervorkommen), in dem Peru und Bolivien von Chile besiegt wurden, nährte die Ansicht vieler, daß es sich dabei um einen britischen Krieg gehandelt habe. Im Jahre 1895 erfolgte ein britischer Interventionsversuch in Venezuela, ein anderer im Jahre 1902, diesmal gemeinsam mit Deutschland und Italien. Beide Versuche scheiterten jedoch am Widerstand der USA. Um diese Zeit wurde die britische Vormachtstellung, bereits von mächtigen Rivalen bedroht. Die Vereinigten Staaten lehnten sich gegen Englands Ansprüche auf und untergruben das britische System. Die allmähliche Zunahme

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des nordamerikanischen Einflusses im Karibischen Raum gipfelte in der Nichtbeachtung des Clayton-Bulwer-Vertrages (1850) und der entscheidenden Intervention in Panama: zum ersten Mal wich der britische Löwe einer anderen Macht im Kampf um die Beherrschung eines für den Weltverkehr so überaus wichtigen strategischen Schwerpunktes. Die europäischen Konkurrenten Bei seiner Interventions- und Einflußpolitik in Lateinamerika mußte sich England nicht nur die Konkurrenz der USA gefallen lassen. Auch andere Mächte schalteten sich ein. Unter ihnen Holland, das seine Rolle allerdings nur noch aufgrund einer großen Vergangenheit spielen konnte. Immerhin kam seinen Besitzungen-Guayana und zahlreiche Inseln in der Karibischen See mit Curaçao an der Spitze – nicht nur wirtschaftlich, sondern aufgrund ihrer geografischen Lage auch einzigartige strategische Bedeutung zu. Curaçao, ein Schlupfwinkel für Schmuggler und Piraten – wie Tanger in Afrika –, sollte sich nach und nach auf modernere, aber gleichfalls illegale und höchst lukrative Geschäfte verlegen: so spielt es heute eine Rolle als ein internationales Zentrum für den Devisenhandel und Bankgeschäfte, mit deren Hilfe die Steuern verschiedener Staaten umgangen werden. Auch die Rolle des jungen belgischen Staates bei der Förderung des Handelsund Finanzwesens in Lateinamerika ist nicht unbedeutend. Was Frankreich anbetrifft, so stand die von ihm angestrebte unmittelbare Einwirkung in gewisser Weise im umgekehrten Verhältnis zu dem enormen kulturellen Einfluß, den es ausüben sollte. Die weltanschaulichen Umwälzungen des 18. Jahrhunderts hatten in den gebildeten Kreisen Lateinamerikas, wo die Enzyklopädisten aufmerksame Leser und sogar Übersetzer fanden, ein gewaltiges Echo. Der ideologische Einfluß der Französischen Revolution blieb indessen ohne bleibende Auswirkungen auf die iberoamerikanischen Institutionen, trotz all der verschiedenen (aber gescheiterten) Verschwörungen, die von ihrem Geist getragen waren. Nur zögernd darf man als frühe Frucht in Haiti die Revolution von 1804 anführen, die einzige siegreiche Rebellion in Lateinamerika, an deren Anfang eine massive Beteiligung einer unterworfenen Rasse stand. Als Napoleon seine Macht auf Spanien ausdehnte, überschwemmten zahlreiche Agenten Amerika. Sie sollten Unruhe stiften und für die Anerkennung Joseph Bonapartes werben. Aber die Revolution stand dann unter einem ganz anderen Vorzeichen: zu Anfang gingen Autonomiestreben und ein eigenartiges Loyalitätsgefühl gegenüber der spanischen Krone Hand in Hand. Nach dem Sturze Napoleons und der Restauration der Bourbonenherrschaft in Spanien vollzog Frankreich eine Kehrtwendung zugunsten des spanischen Absolutismus (zu dessen Wiedereinführung auf der Iberischen Halbinsel es einen aktiven Beitrag leistete) und gegen die aufständischen Kolonien.

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Die bürgerliche Monarchie des Jahres 1830 knüpfte Beziehungen zu mehreren lateinamerikanischen Staaten an und beteiligte sich aktiv an der Intervention am Rio de la Plata gegen den argentinischen Präsidenten Rosas. Die französische Revolution von 1848 fand begeisterte Aufnahme in Lateinamerika, wo die Gruppen französischer Emigranten (viele von ihnen waren Saint-Simonisten und radikale Republikaner) einen gewissen Einfluß besaßen. Die Gegenrevolution in Frankreich und die Thronbesteigung Napoleons III. beschleunigten eben diesen Typ der Emigration, während eine beträchtliche Anzahl politischer Gegner des neuen Regimes auf die ›trockene Guillotine‹, nach Guayana, verschickt wurde. Die Großmachtträume Napoleons III. führten zu dem vergeblichen Versuch, ein Vasallenreich in Mexiko zu errichten, was das französische Ansehen in Lateinamerika erheblich beeinträchtigte. Die Dritte Republik bemühte sich stärker um die Aufrechterhaltung des kulturellen Einflusses und schenkte dem Wirken der Emigranten größere Beachtung, um auf diese Weise die wirtschaftlichen Beziehungen zu festigen, zu deren Entwicklung der junge französische Kapitalismus beitrug. Zu jener Zeit galt die Aufmerksamkeit vor allem der Gründung von Schiffahrtsgesellschaften und subsidiärer Unternehmen, sowie den Bankniederlassungen. Es ist merkwürdig festzustellen, wie im Gegensatz zum Scheitern der imperialen Bestrebungen Frankreichs die Eliten in Lateinamerika sich immer mehr die französischen Bildungs- und Lebensnonnen zum Vorbild nahmen. Die Qualität französischer Erzeugnisse übte auf die Oberklassen eine besondere Anziehungskraft aus; neben den Konsum von Luxuswaren traten vielfältige geistige Bindungen zu einer Zeit, da Spanien wenig zu bieten hatte und sein Ansehen noch stark durch die Erinnerung an die Unabhängigkeitskämpfe belastet war. Während die Engländer Vorteil aus ihrer wirtschaftlichen Vormachtstellung zogen, festigte sich der französische Einfluß auf kulturellem Gebiet. Die italienische Politik war vom dramatischen Widerspruch zwischen dem Streben nach der Schaffung eines Nationalstaates und der Massenabwanderung seiner Bevölkerung nach Amerika bestimmt. Im Jahre 1861 wurde nach dem Sieg der Einigungsbewegung Viktor Emanuel II. zum König von Italien ausgerufen. Von 1862 an sollte es dann zu verschiedenen diplomatischen Schritten von seiten Italiens kommen, die nicht ohne Einfluß waren. So zum Beispiel betrieb der italienische Diplomat Barbolani, angesichts der französisch-britischen Aktion zur Eintreibung von Entschädigungsgeldern für die durch den Krieg gegen Rosas erlittenen Einbußen, die Schaffung eines italienischen Protektorats als Garantie für die Neutralität Uruguays, wobei er sich die Anwesenheit der königlichen Korvette ›Iride‹ im Hafen von Montevideo zunutze machte. Aber er hatte einen ungünstigen Zeitpunkt gewählt, weil sich infolge der französischen Interventionen in Mexiko und Peru allgemein ein gewisser Argwohn breitgemacht hatte und sogar bereits Gespräche aufgenommen worden waren, die darauf abzielten, eine amerikanische Allianz ins Leben zu rufen. Daher

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mußten sich die diplomatischen Vertreter Italiens damit begnügen, über ihre Staatsbürger und die allgemeinen Handelsinteressen zu wachen. Spaniens Position war durch die Erinnerung an die Kolonialherrschaft und an die Unabhängigkeitskämpfe gekennzeichnet. Der Zustrom von spanischen Einwanderern und die zahlreichen Deklarationen brüderlicher Verbundenheit, in denen unverkennbar ein paternalistischer Ton mitschwang, waren kein Hindernis für einige recht konkrete Maßnahmen. Im Jahre 1829 scheiterte eine spanische Expedition gegen Mexiko, welche die Herrschaft des Mutterlandes über das ehemalige Vizekönigreich wieder hatte aufrichten sollen. Im Jahre 1861 beteiligte sich Spanien anfangs an der französischen Expedition nach Mexiko, zog sich aber bald wieder zurück. Im gleichen Jahre wurde auf Betreiben des Generals Santana die Dominikanische Republik noch einmal für vier Jahre der spanischen Krone unterstellt. Im Jahre 1864 besetzte Spanien die Chincha-Inseln und erklärte Peru, dessen Unabhängigkeit es nicht anerkannt hatte, den Krieg. Chile, Ekuador und Bolivien stellten sich auf die Seite Perus, und die Inseln wurden nach Befriedigung der spanischen Forderungen zurückerstattet. Nach dem Krieg gegen die Vereinigten Staaten verlor Spanien im Jahre 1898 seine beiden letzten Besitzungen in Amerika, Kuba und Puerto Rico, sowie die Philippinen. Indessen waren die Bindungen zwischen der ehemaligen Metropole und Spanisch-Amerika sehr stark, und im Interesse der Emigranten und Kaufleute war es angezeigt, die weitere Festigung dieser Beziehungen anzustreben, was heute im Namen der brüderlichen Verbundenheit und der Verteidigung der Hispanität geschieht. Auch das spät geeinigte Deutschland bekundete – trotz einer (wenn man von Brasilien und Chile absieht) geringen Auswandererbewegung – aktives Interesse für Lateinamerika, richtete Schiffsverbindungen ein und versuchte, die Handelsbeziehungen auszubauen. Der Beitrag der Deutschen zur Entwicklung Lateinamerikas zeichnete sich durch deren außerordentliche Tüchtigkeit und den Umfang deutscher Kredite aus. Der Wettbewerb sollte gegen Ende des Jahrhunderts bis zum aufziehenden Ersten Weltkrieg ständig zunehmen. Die Vereinigten Staaten von Monroe bis zum Panamerikanismus Schon vor dem Abfall der Vereinigten Staaten von Nordamerika hatte der Herzog von Sully gesagt: »Neu-England kann den spanischen Kolonien vielleicht einmal gefährlicher werden als das alte England. Die Volkwerdung und das Freiheitsstreben der amerikanischen Engländer scheinen von ferne die Eroberung der reichsten Länder Amerikas und die Errichtung eines neuen englischen Imperiums, unabhängig vom europäischen Weltreich, anzukündigen.« Nach der Erlangung der Unabhängigkeit entwickelte sich der nordamerikanische Handel ganz beachtlich. Zu jener Zeit befuhren die Segler aus Boston und anderen nordamerikanischen Häfen die Pazifikküsten, wo sie einen intensiven Handelsverkehr unterhielten, der unter anderem einen neuen

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›Dreieckshandel‹ – wie Pierre Chaunu ihn nannte – ins Leben rief: Mehl aus Nordamerika gegen spanische Silberpesos und Pesos für Seidenwaren aus dem Fernen Osten. Der Krieg zwischen Spanien und England verhalf dem nordamerikanischen Handel mit dem Süden zu einem gewaltigen Aufschwung. Nordamerika lieferte hauptsächlich Mehl und Sklaven, und man benutzte die Gelegenheit zur Eröffnung von Konsulaten in mehreren Häfen der spanischen Besitzungen: New Orleans, La Habana, Santiago de Cuba und La Guaira. Später löste das Bündnis zwischen England und Spanien gegen Napoleon eine zwiespältige Haltung bei den Nordamerikanern aus: während die Kaufleute aus dem Norden es vorzogen, gute Beziehungen zu den neuen alliierten Mächten zu pflegen, um Waren an sie liefern zu können, waren die Weizenanbauer mehr daran interessiert, den Export nach Lateinamerika zu steigern. Eine Botschaft des Präsidenten James Madison (1809–17) vom 5. November 1811 führte zu einem Beschluß des Kongresses in Washington, in dem es hieß: » ...mit freundschaftlichem Interesse die Errichtung souveräner, unabhängiger Staaten in den amerikanischen Provinzen Spaniens zu verfolgen ...« Ja, man war sogar entschlossen, herzliche Beziehungen zu diesen Ländern aufzunehmen, sobald sie souveräne Staaten geworden waren. Der Karibische Raum wurde natürlich der bevorzugte Schauplatz der Expansion des nordamerikanischen Handels. Der Handelsverkehr wurde durch den Ausbruch eines neuen Krieges gegen England (1812–1814) ein wenig in Mitleidenschaft gezogen und auch dadurch beeinträchtigt, daß im Laufe des 19. Jahrhunderts die Leistungsfähigkeit der nordamerikanischen Seglerflotte im Vergleich zu den immer größeren europäischen (besonders der britischen) Dampferflotten ständig abnahm. Die Expansion im eigenen Land band zudem die verfügbaren Kapitalmengen und Unternehmer, während die gerade erst einsetzende Industrialisierung noch keine günstigen Wettbewerbsmöglichkeiten schuf. Trotz allem unterstützten die Vereinigten Staaten auf mannigfache Weise die Kolonien in ihrem Freiheitskampf. Der nordamerikanische Gesandte Poinsett wurde im 2. Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts zum klugen Berater des Präsidenten José Miguel Carreras in Chile. Die durch das Buch The Rights of Man (1791/92) von Thomas Paine verbreitete Kenntnis der nordamerikanischen Verfassung wurde in den Händen der Rebellen zum wertvollen Instrument. Um 1817, als sich die Unabhängigkeit Hispanoamerikas als möglich abzuzeichnen begann, beschloß der nordamerikanische Präsident, neue Missionen in diese Länder zu entsenden. Im Jahre 1822 wurden Mexiko und Kolumbien, 1823 Chile und Argentinien von den USA anerkannt. Die berühmte Botschaft des Präsidenten James Monroe vom 2. Dezember 1823 war eine indirekte Folge der Bemühungen des britischen Ministers Canning, eine gemeinsame englisch-nordamerikanische Erklärung zustande zu bringen, in der die Absichten der Heiligen Allianz, zugunsten Spaniens in Lateinamerika einzugreifen, verurteilt werden sollten. Der nordamerikanische Präsident lehnte eine solche gemeinsame Erklärung ab, benutzte jedoch seine Jahresbotschaft an den Kongreß, um zu versichern, sein

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Land werde sich den europäischen Interventionsversuchen in den inzwischen unabhängig gewordenen Ländern Lateinamerikas widersetzen. Monroe erklärte, daß »die amerikanischen Kontinente infolge des freien und unabhängigen Zustandes, den sie erlangt haben und an dem sie festhalten, künftighin nicht als Gegenstand der Kolonisation durch irgendeine europäische Macht zu betrachten sind«. Und er fügte hinzu: »Wir sind es der Aufrichtigkeit und den freundschaftlichen Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und jenen Mächten schuldig, zu erklären, daß wir jeglichen Versuch ihrerseits, ihr politisches System auf irgendeinen Teil dieses Kontinents auszudehnen, als Gefährdung unseres Friedens und unserer Sicherheit betrachten müßten. In die Angelegenheiten jetzt noch bestehender Kolonien und abhängiger Gebiete haben wir uns nicht eingemischt und werden es nie tun. Was aber die Regierungen anbetrifft, die sich unabhängig erklärt und erhalten haben und deren Unabhängigkeit wir nach reiflicher Überlegung und nach gerechten Prinzipien anerkannt haben, so könnten wir ein Eingreifen irgendeiner europäischen Macht, um sie zu unterdrücken oder ihr Schicksal in irgendwelcher Art zu kontrollieren, nur als Ausdruck einer unfreundlichen Einstellung zu den Vereinigten Staaten ansehen.« Häufig ist das Verhalten der Vereinigten Staaten gegenüber Lateinamerika fälschlicherweise als eine auf verschiedene Prinzipien gestützte Politik unter der globalen und überdies ungenauen Bezeichnung Monroe-Doktrin dargestellt worden. Das Mißtrauen und die Ablehnung gegenüber allen kolonialistisch gefärbten Interventionsversuchen von Seiten Europas waren zwar eng mit der Verfolgung bestimmter Prinzipien verbunden, sie entsprachen aber auch den Interessen der Vereinigten Staaten. Die Monroe-Doktrin wurde weder in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts ins Spiel gebracht, als Großbritannien in Mittelamerika eingriff (um das Gebiet von Britisch-Honduras zu erweitern), noch als es 1833 die Falklandinseln besetzte; auch nicht während der französischen Blockade Mexikos und Argentiniens im Jahre 1838 oder anläßlich der englisch-französischen Intervention am Rio de la Plata im Jahre 1845. Auch während des nordamerikanischen Sezessionskrieges trat angesichts sehr handfester Bedrohungen die Doktrin in den Hintergrund, um sich mit reinen Deklarationen zu begnügen, während sie später durch immer neue Zusätze ausgebaut wurde. Der Irrtum vieler hat vielleicht darauf beruht, daß man der Doktrin an sich zu viel Bedeutung beimaß, anstatt die Gesamtentwicklung der nordamerikanischen Politik zu verfolgen. Aus diesem Grunde müssen die Wechselfälle dieser Politik unter drei Hauptgesichtspunkten untersucht werden: Grenzverlegung Nordamerikas, Panamaproblem und Ursprünge des Panamerikanismus. Die Ausweitung des nordamerikanischen Staatsgebietes erfolgte etappenweise. Im Jahre 1803 verkaufte Frankreich Louisiana an die Vereinigten Staaten (fast ein Drittel des heutigen Staatsgebietes der USA). Im Jahre 1819 verkaufte Spanien Florida. In den Jahren 1835–36 löste sich Texas von Mexiko,

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rief unter dem Einfluß nordamerikanischer Siedler seine Unabhängigkeit aus und schloß sich im Jahre 1845 den Vereinigten Staaten an. Aus dem deshalb ausbrechenden Krieg mit Mexiko gingen die Vereinigten Staaten als Sieger hervor und verleibten sich endgültig (1848) ein riesiges Landgebiet ein, das Texas, Neu-Mexiko, Arizona, Kalifornien, Nevada und Colorado umfaßte, deren spanische Namen genügend Auskunft über ihre Herkunft geben. Etwa die Hälfte des mexikanischen Staatsgebietes war damit an die Vereinigten Staaten übergegangen. Die Grenze verlief nunmehr längs des Rio Grande. Die Panamafrage ergab sich zum Teil aus dem Bestreben der Vereinigten Staaten, ihre Vormachtstellung im Karibischen Raum zu festigen, zum Teil war sie ein strategisches Problem im Ringen um die Beherrschung der Verkehrswege. Die Landenge von Panama wurde für die Reisen nach Kalifornien von einzigartiger Bedeutung und erwarb so wieder die Geltung, die sie in der Kolonialzeit besessen hatte, bevor Spanien aus Furcht vor den Überfällen auf seine Galeonen diesen Verkehrsweg zugunsten der Landverbindung von Peru nach Cartagena aufgegeben hatte. Es handelte sich um ein stark von Epidemien, besonders vom Gelbfieber, heimgesuchtes Gebiet. Aber die Goldfunde in Kalifornien bewogen die Reisenden in steigendem Maße, auf dem Wege dorthin den Isthmus zu überqueren, um die gefährlichere Reise durch riesige, noch von Indianern beherrschte Gebiete zu vermeiden. So häufig wurde dieser Weg eingeschlagen, daß ein nordamerikanisches Unternehmen den Bau einer Eisenbahn von Ozean zu Ozean in Angriff nahm, bei dem tausende von Arbeitern den Tod fanden. Diese Eisenbahnlinie verkürzte die Reise nach San Francisco um einige Wochen. Später wurden regelmäßige Dampfschiffahrtsverbindungen von England, Frankreich, Italien, Deutschland, Spanien und Holland eingerichtet. Mit dieser Bahnlinie von Colón nach Panama City hatten die Vereinigten Staaten am Isthmus Fuß gefaßt, was in Großbritannien Beunruhigung hervorrief. Es kam daher zur Unterzeichnung des Clayton-Bulwer-Vertrags, der die Neutralität der Landenge und des künftigen interozeanischen Kanals vorsah und den Vertragsmächten jeden Landerwerb in Mittelamerika untersagte. Mit Ferdinand de Lesseps trat unerwartet die französische Konkurrenz auf den Plan, aber ihre Bemühungen waren zum Scheitern verurteilt. Auf persönliches Betreiben des Präsidenten Theodore Roosevelt (1901–09) kauften die Vereinigten Staaten das Baumaterial und die Rechte der französischen Kanalgesellschaft auf, veranlaßten die Selbständigkeitserklärung Panamas, das sich im Jahre 1903 von Kolumbien löste, und führten jetzt den Bau des Kanals zu Ende. In der französischen Bauperiode waren schätzungsweise zweiundzwanzigtausend Arbeiter bei den Kanalbauarbeiten gestorben. Daß der Kanal fertiggestellt werden konnte, war vor allem der Entdeckung wirksamer Methoden zur Bekämpfung des Gelbfiebers zu verdanken. Auch der Umstand, daß nun die nordamerikanische Armee die Bauarbeiten übernahm und sämtliche entstehenden Kosten von der Regierung der Vereinigten Staaten getragen wurden, versetzte wiederum diese

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in die vorteilhafte Lage, den Kanal kontrollieren und ihren Einfluß in diesem Gebiet vergrößern zu können. Die neue Wasserstraße wurde am 14. August 1914 eröffnet, fünfunddreißig Jahre nach dem ersten Versuch Ferdinand de Lesseps’. Die Anfänge des Panamerikanismus datieren aus dem Jahre 1881. Damals berief der nordamerikanische Außenminister James Blaine die erste panamerikanische Konferenz ein, die schließlich 1889 in Washington zusammentrat. Ihr lag eine klügere und weitsichtigere Idee zugrunde als eine simple, einseitige Deklaration von der Art der Monroe-Doktrin; sie lief darauf hinaus, alle amerikanischen Republiken zu versammeln, um ihnen ein umfassendes Programm für politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit zu unterbreiten, das Richtlinien für die Regelung von Meinungsverschiedenheiten durch Schiedsspruch vorsah, weiterhin die Kodifizierung des amerikanischen internationalen Rechtes, die Vereinheitlichung von Konsularverfassungen und Währungssystemen, eine Zollunion, den Bau einer panamerikanischen Eisenbahn, die Errichtung von Schiffahrtslinien und die Untersuchung möglicher Beziehungen der Universitäten untereinander. Das waren die Grundlinien, hinter denen sich die nordamerikanische Absicht abzeichnete, eine Organisation ins Leben zu rufen, in der die Vereinigten Staaten eine beherrschende Rolle zu spielen hätten. Als Beweis dafür läßt sich anführen, daß der Sitz des neugeschaffenen Büros der amerikanischen Republiken nach Washington gelegt wurde und daß die Organisation trotz aller späteren Wandlungen niemals eine Entscheidung gegen die Interessen der Vereinigten Staaten fällte. Hinzu kam, daß die Außenpolitik der Vereinigten Staaten gegen Ende des Jahrhunderts ausgesprochen imperialistische Züge annahm. Eine Reihe von Umständen hatte diese Entwicklung begünstigt: die Beendigung der territorialen Expansion fiel mit der Erstarkung einer in vollem Aufschwung befindlichen kapitalistischen Wirtschaft zusammen, der es erspart war, sich mit anderen traditionellen Strukturen auseinandersetzen zu müssen. Andrerseits hatte das Auftreten zahlreicher Theoretiker und glühender Verfechter eines expansionistischen Nationalismus ein günstiges Klima für die Entwicklung geschaffen. In der Zeitspanne zwischen der Beendigung des Sezessionskrieges (1865) und dem Ende des Krieges gegen Spanien waren die Vereinigten Staaten (1898) zu einem Land herangewachsen, das seinen Platz im Konzert der Weltmächte und eine Vormachtstellung im Karibischen Raum beanspruchte. In einem Wirtschaftsbericht des französischen Gesandten in Montevideo hieß es am 17. Juli 1894: » ...Der panamerikanische Kongreß von 1889 und die Vorschläge einer Zollvereinigung, die dort gemacht wurden, dann auch der geplante Bau einer Eisenbahnverbindung von New York nach Montevideo haben mir schon oft Anlaß gegeben, das Ministerium über die Schritte zu unterrichten, mit deren Hilfe die Regierung in Washington versucht, die lateinischen Republiken im Süden unter die Botmäßigkeit ihrer Handels- und Finanzpolitik zu bringen, um so ihre Hegemonie in den drei Amerikas zu begründen. Anfangs schienen diese Bemühungen in meinem

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Zuständigkeitsbereich nur wenige praktische Konsequenzen zu haben. Gewisse Anzeichen lassen darauf schließen, daß sich das instinktive Mißtrauen zu legen beginnt. Uruguay neigt zu der Ansicht, seine Erzeugnisse könnten leicht Absatz in einem Land mit aufstrebender Industrie wie den Vereinigten Staaten finden. Die uruguayischen Geschäftsleute und Spekulanten sind schon fast gewonnen und versuchen, ihren Vorteil aus dem guten Willen zu schlagen, den nordamerikanische Kapitalisten, Großindustrielle und Großhändler ihnen bezeigen; seit sie anstelle illusorischer Vorteile für ihre Exportgüter besondere Erleichterungen für die Überschwemmung des uruguayischen Marktes mit nordamerikanischen Importfertigwaren geboten bekommen, denken sie weniger als je an die wahrscheinlich damit verbundenen verheerenden Folgen für die eigenen, eben erst entstehenden Industrien ...«6 Um die Auswirkungen dieser von Frankreich gefürchteten Politik zu verstehen, muß man zumindest zwei von der Expansion der amerikanischen Interessen betroffene Gebiete berücksichtigen: den Karibischen Raum und den Südteil des südamerikanischen Kontinents. Im ersteren kam es zu einer totalen Durchdringung, und die Karibische See wurde, wie man einmal mit Recht festgestellt hat, zu einem »amerikanischen Mittelmeer«. Im Süden des Kontinents lagen die Dinge anders. Vorderhand war es in gewissen Zonen – wie den Viehzuchtgebieten in Argentinien und Uruguay – nicht leicht, eine Umstellung der Wirtschaft zu erreichen und sie in eine abhängige Lage zu bringen, weil die nordamerikanischen Viehzüchter protektionistische Maßnahmen forderten. Es handelte sich hier, wie auch bei Chile und Brasilien, um weiter entfernte Länder mit größerer politischer Reife, als sie die Gebiete im Karibischen Raum besaßen, und daher konnte man hier nicht so offen und unverhüllt operieren wie dort. Imperialismus und ›Einflussnahme‹: die Diplomatie im Dienst des Handels Die Vielzahl von Ansichten über die imperialistische Expansion gegen Ende des 19. Jahrhunderts hat nach und nach eine Art geistiger Trägheit hervorgerufen, die dazu führt, daß das Wesentliche an diesem Phänomen in Vergessenheit gerät. Gewiß darf man den neuen Imperialismus nicht mit der alten Kolonialpolitik verwechseln; es muß auch darauf hingewiesen werden, daß die Gleichsetzung der Begriffe Finanzkapitalismus und Imperialismus umstritten ist. Aber dies alles schafft nicht die reale Tatsache aus der Welt, daß einige Länder zum Nachteil anderer aus ihrer Außenpolitik Nutzen zogen. Dieses Phänomen kann unter sehr verschiedenen Gestalten auftreten; daher auch die verschiedenen Auslegungen dafür. Was als ›induzierte‹ oder mach außen übertragene‹ Entwicklung bemerkbar wird, der reine Imperialismus oder der ›Dominanzeffekt‹, das Vorhandensein von Kolonialländern und ›Entwicklungsschwerpunkten‹, dies alles gehört zu einem einzigen Komplex von Faktoren, der das mangelnde Gleichgewicht im Verhalten der Industriezonen und der peripheren Gebiete erklärt. Zur weiteren Verschattung des eben gezeichneten Bildes trugen verschiedene Theorien über diesen

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Entwicklungsprozeß bei, die allzu einseitig nur das eine oder andere Merkmale berücksichtigten. Betrachtet man die lateinamerikanische Geschichte nach der Ausrufung der Unabhängigkeit, so ist zu beobachten, daß über die großen durch den Anstoß des Industrie-Kapitalismus bewirkten Umwälzungen hinaus ganz konkrete imperialistische Aktionen der europäischen Großmächte zu verzeichnen waren, die vom einfachen diplomatischen Schritt bis zur bewaffneten Intervention alle Spielarten umfaßten. Schon die Expansion des kapitalistischen Wirtschaftssystems ganz allein bewirkte große Veränderungen in der Welt: sie führte zur Änderung von Produktionssystemen und löste ungeheure Bevölkerungsbewegungen aus. Nach und nach verloren die Methoden, die der britische Liberalismus in der Auseinandersetzung mit dem alten hispanischen Kolonialismus entwickelt hatte, ihre Gültigkeit: verschiedene Industrienationen traten miteinander in Wettbewerb, das Prinzip des Freihandels wurde schrittweise aufgegeben, und man kehrte allmählich zum Protektionismus zurück. Sozusagen eine Umkehrung der Tendenzen: was um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert die Kolonialmonopole in Mißkredit gebracht hatte, verwandelt sich nach und nach in eine neue Form von Kolonialismus, der die Aufteilung Afrikas und das Vordringen in Asien zur Folge haben sollte. In Lateinamerika ging die imperialistische Durchdringung, trotz mehrerer Ansätze zu bewaffneten Interventionen und militärischen Eroberungen, im ganzen gesehen verschleierter vor sich. Die Großmächte bemühten sich fürs erste um eine leistungsfähige, wohlunterrichtete Diplomatie, die in der Lage war, in den brennendsten wirtschaftlichen und politischen Fragen ein Wort mitzureden. Die umfangreiche diplomatische Korrespondenz und die verschiedensten Dokumente, die als Zeugnis dieser Aktivität noch heute erhalten sind, beweisen, welche große Bedeutung man ihnen beimaß, und stellen gleichzeitig, eben deshalb, eine der wertvollsten Quellen für die Erhellung der Geschichte jener Epoche dar. Die Konsuln setzten sich zum Beispiel für die Bevorzugung der Handelsschiffe ihrer Länder ein und zögerten auch nicht, sich gegebenenfalls auf die Kriegsmarine ihrer Länder zu stützen. Sie bemühten sich, die Absatzbedingungen für die Erzeugnisse ihrer Länder zu verbessern und Rohstoffe zu beschaffen, wobei sie sich mit allen möglichen Mitteln über offizielle Widerstände hinwegsetzten. Einen Beweis für die Interventionsbereitschaft europäischer Diplomaten liefern uns die nachstehenden Ausführungen, die wir der diplomatischen Korrespondenz der französischen Gesandtschaft in Uruguay entnehmen. In einer Mitteilung vom 9. März 1888 hieß es in bezug auf den wachsenden wirtschaftlichen Einfluß Argentiniens in Uruguay, es fehle wenig an einer Verwirklichung des politischen Zusammenschlusses dieser beiden Länder: »Schon bald werden sich die Vereinigten Staaten von Südamerika konstituieren, und Europa wird sich in der Neuen Welt einer weiteren Großmacht gegenübersehen, mit der es noch vor Ablauf von etwa fünfzig Jahren zu rechnen

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haben wird. Sollten die europäischen Staaten nun inzwischen ruhig zusehen, wie die Zeit ungestört ihr Werk vollbringt, und sich nicht um das La Plata-Gebiet kümmern? Meine Kollegen sind nicht dieser Ansicht. Unsere Handelsinteressen in diesem Raum sind effektiv zu groß, als daß wir die Ereignisse, die sich vorzubereiten scheinen, aus den Augen lassen dürften ... Wenn wir zuließen, daß die Argentinische Republik sich Montevideos bemächtigt, so hieße das, ihr den Schlüssel zum La Plata auszuhändigen.« Der französische Diplomat schließt dann mit den Worten: »Ich hielt es für notwendig, Ew. Exzellenz meine Eindrücke zu übermitteln. Vielleicht könnte es Sie dazu veranlassen, unseren Marineschutz in den Gewässern dieser Region wirksamer zu gestalten. Gewiß werden die Engländer, wenn wir uns ihnen nicht anschließen wollen oder können, auch allein die freie Schiffahrt auf dem La Plata und dem Paraná zu verteidigen wissen. Doch wenn dieser Fall eintritt, werden sie sich ebenso gewiß eine Vorrangstellung sichern, die für ihren Handel und ihre Wirtschaftsbeziehungen zu Südamerika stets nützlich ist.«7 Diese Interventionsdenkart trat noch klarer in den im Jahre 1861 in Paris veröffentlichten Überlegungen von E. Grandidier zutage, der vom zweiten französischen Kaiserreich offiziell zu einer Studienreise nach Südamerika entsandt worden war. Grandidier erklärte die Rückständigkeit Boliviens vornehmlich mit dem Fehlen eines guten Seehafens (da Cobija sehr klein und von den Provinzen im Innern des Landes durch ein Meer von Sand getrennt war) und regte an, man möge Bolivien den Hafen Arica zusprechen. Doch unversehens enthüllt er uns, daß sein Vorschlag nicht nur dem Bestreben entsprang, Bolivien aus seiner Rückständigkeit herauszuhelfen, sondern aus dem Wunsch, es in die Reichweite der europäischen Schiffsartillerie zu bringen: »Noch ein anderer Umstand ist zu berücksichtigen, der daran schuld ist, daß der Handel nicht ganz den wünschenswerten Umfang erreichen konnte: die Tatsache nämlich, daß Frankreich und die Regierungen anderer Länder nicht in der Lage sind, den so oft durch revolutionäre Vorgänge oder durch Machtmißbrauch verletzten oder gefährdeten Interessen ihrer Staatsbürger Geltung zu verschaffen. Es gibt keine ernsthafte Garantie für die Ausländer, die sich in diesem Lande niederlassen möchten, und unsere Kanonen wären nicht imstande, die Forderungen zu Unrecht um ihren Besitz gebrachter französischer Kaufleute wirksam zu unterstützen. Wenn Arica an Bolivien abgetreten würde, dann wäre dieses Land nicht länger nahezu unangreifbar, und eine fünfzig Meilen breite Wüste könnte nicht länger zur Aufrechterhaltung dieses beklagenswerten Zustandes beitragen.«8 Für die Methoden, mit denen oftmals ausländische Kompagnien lateinamerikanischen Beamten gegenüber arbeiteten, findet sich ein aufschlußreicher Hinweis in der Befragung, der im Mai 1897 in England verschiedene Direktoren der Salpeter-Eisenbahngesellschaft in Chile von einem Aktionärsausschuß unterworfen wurden. Dieser sollte ermitteln, für welche Zwecke eine recht ansehnliche Summe ausgegeben worden war. Die Londoner

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›Railway Times‹ veröffentlichte unter anderem die Antwort des Parlamentsmitgliedes Sir Ashmead Bartlett auf die Frage, wie dieses Geld angelegt worden sei: »Ich könnte keinen präzisen Unterschied machen zwischen dem, was man legitime legale Ausgaben und legale Ausgaben privaten Charakters nennen könnte. Letztere bestehen natürlich, und das ist für niemanden ein Geheimnis, in Geldgeschenken an chilenische Staatsbürger, von denen anzunehmen war, sie könnten der Bahn nützlich sein. Die öffentliche Verwaltung in Chile ist, wie Sie wissen, sehr korrupt, und da wir von allen Seiten angegriffen wurden, riet man uns, diese Ausgabe im Interesse einer Wahrung der Rechte unserer Eisenbahn zu machen.« Das oberste Ziel der europäischen Politik war die Ausweitung des Handels. Um die Voraussetzungen dafür zu verbessern, wurden ganze Landstriche erforscht, Zollvergünstigungen und Meistbegünstigungsklauseln angestrebt, die freie Binnenschifffahrt durchgesetzt und die Ablehnung von Handelsangeboten der Konkurrenz betrieben. Ein weiteres Hauptziel der Außenpolitik der Großmächte war der Schutz ihrer Staatsbürger und Unternehmen. Unmerklicher, aber nicht weniger beharrlich kämpften die Großmächte, ohne auf größere Widerstände zu stoßen, um einen nachhaltigen Einfluß, der auf kulturellem Gebiet einsetzte und auf dem begrenzteren Feld des wirtschaftlichen Vorteils endete. Sie verstanden es, auch die widerspenstigsten Staatsmänner zu überzeugen oder zu kaufen, und gewannen die Eliten mit der Überlegenheit der europäischen Lebensformen, wodurch sich der Kapitalinvestition alle Türen öffneten. Gelegentliche Schwierigkeiten, die sich eher durch ausländische Rivalen als aus lateinamerikanischem Widerstreben ergaben, wurden allmählich überwunden. Die politische Unabhängigkeit hatte neuen Formen der Abhängigkeit Platz gemacht. Schiffahrts- und Telegrafengesellschaften, Produktionsbetriebe, Handelsund Kreditfirmen, wissenschaftliche Vereinigungen und andere Institutionen, sie alle trugen zur Sicherung dieses Einflusses bei. Eine ständige Sorge um die Einwanderer überstieg das normale Maß des Interesses an den eigenen Staatsbürgern; waren sie doch wichtige Träger der wirtschaftlichen Expansion und erhöhten sie doch Nutzen und Gewinne der Transatlantikrouten. Wie bereits erwähnt, ist es schwierig, den legitimen Schutz der Handelsinteressen von der imperialistischen Einflußnahme zu trennen. Der Versuchungen gab es viele, und mehr als einmal bot sich eine günstige Gelegenheit, beides miteinander zu verquicken. Diese Politik der Großmächte, die unter anderem durch Dokumente in ihren diplomatischen Archiven vollauf nachgewiesen ist, kann nicht überraschend sein, wenn man ihre ideologischen Voraussetzungen berücksichtigt. Wir wollen versuchen, die Hauptthesen einer – wie wir es einmal nennen wollen – theoretischen Rechtfertigung des Imperialismus eine nach der andren zu analysieren. Sie alle haben einen gemeinsamen Nenner, der in den meisten

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Fällen von den einheimischen Eliten anerkannt wird: wir könnten ihn als die Idee von der Überlegenheit Europas bezeichnen. Zu jener Zeit war tatsächlich die Annahme weit verbreitet, dem Europäer obliege die schwere Aufgabe, über die anderen Völker zu wachen, bis sie in der Lage wären, dies selbst zu tun. Der Europäer mußte die Unannehmlichkeiten der anderen lindern, sie erziehen, ihre Wirtschaft aufbauen, ihre Städte errichten, das Bandenwesen ausrotten und Bruderkriege verhindern. Er mußte es verhüten, daß in Indien die Witwen verbrannt und in China den kleinen Mädchen die Füße verkrüppelt wurden. Er mußte den Kannibalismus in Afrika und Neuseeland ausrotten und in Lateinamerika Plünderungen und Bürgerkriege verhindern. Diese Idee konnte zuweilen rassisch oder religiös verbrämt werden; in anderen Fällen trat sie als leidenschaftliche Verteidigung des Freihandels und der Ablehnung jeder Behinderung der Expansion des Industriekapitalismus auf; das Ergebnis war jedoch immer dasselbe. Die Vereinigten Staaten, die ihre Entstehung dem Umstand verdankten, daß sie die kolonialen Bande zerrissen, verfolgten mit der Zeit selber eine imperialistische Politik. Zur Erklärung dieses Phänomens ist verschiedentlich angeführt worden, es habe sich bei der Rebellion in Nordamerika um einen Aufstand der Siedler und nicht der Kolonisierten gehandelt, und andererseits habe das wirtschaftliche Wachstum und der politische Machtzuwachs die Vereinigten Staaten unausweichlich in diese Position gedrängt. Unterdessen fand sich Lateinamerika mit seiner wirtschaftlichen Abhängigkeit ab, und vorläufig bot das Vorhandensein rivalisierender Interessen ausländischer Mächte die beste Gewähr für seine politische Autonomie. 5. Das Arbeitskräfteproblem und die Anfänge der europäischen Einwanderung Die Expansion der Exportwirtschaften und die ständige Zunahme der europäischen Nachfrage nach Rohstoffen schlugen sich in einem steigenden Bedarf an Arbeitskräften nieder. Es war nicht leicht, den Anforderungen des neuen Wirtschaftssystems zu genügen. Um größere Mengen erzeugen zu können, war es notwendig, die Leistungsfähigkeit der einheimischen Arbeiter zu steigern oder neue Arbeitskräfte heranzuziehen. Wer zuvor den harten Bedingungen der Sklaverei ausgesetzt gewesen war, konnte sich jetzt nicht ohne weiteres auf die neuen Erfordernisse umstellen. Darüber hinaus weigerten sich die ehemaligen Sklaven, nachdem sie durch Gesetz nach und nach von ihren herkömmlichen Pflichten befreit wurden, unter den gleichen Bedingungen wie vorher zu leben, obgleich sich langsam die Lohnwirtschaft durchsetzte. Viele begnügten sich damit, lediglich zu produzieren, was zum eigenen Bedarf notwendig war. Andere wiederum begannen allmählich in die Städte abzuwandern.

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Der Arbeitskräftemangel Auf den ersten Blick wäre die einfachste Lösung des Arbeitskräfteproblems eine bessere Ausschöpfung des Reservoirs der eingeborenen Bevölkerung gewesen. Doch dieser Weg erwies sich als nicht gangbar. Seit der Kolonialzeit hatte man alle diese Schwierigkeiten durch die Einfuhr afrikanischer Negersklaven gelöst. Die Unterdrückung des Sklavenhandels aufgrund der Anwendung der Aberdeen-Akte vom Jahre 1845 (ihr zufolge mußte jedes mit dem Sklavenhandel befaßte oder auch nur dessen verdächtige Schiff auch in den Hoheitsgewässern anderer Staaten verfolgt, die möglichen Schuldigen festgenommen und nach englischem Recht abgeurteilt werden) ließ den Mangel an Arbeitskräften immer spürbarer werden und führte zu einem allgemeinen Ansteigen der Löhne. Zur Verschärfung des ganzen Problems trug die zunehmende europäische Nachfrage bei, die eine Produktionssteigerung dringend erforderlich machte. Berichte verschiedenster Art bezeugen diesen damaligen Engpaß in der Wirtschaft. So informierte im Jahre 1856 der französische Konsul in Caracas seine Regierung in einem offiziellen Bericht davon, daß die Kaffee-Ernte im Vergleich zu früheren Jahren zurückgegangen sei und man aus Mangel an geeigneten Arbeitskräften den Kakaoanbau auf den Plantagen völlig aufgegeben habe. Der französische Konsul in Lima berichtete seinerseits im Jahre 1869 über das Zuckerrohr: »Dieser Anbau könnte enorm ausgeweitet werden, doch ist nicht zu vergessen, daß der Mangel an landwirtschaftlichen Arbeitern sich in Peru stärker bemerkbar macht als in jedem andern Land der Welt.«9 Am Rio de la Plata lagen die Dinge nicht anders. Im Jahre 1873 forderte das französische Konsulat in Montevideo die ständige Anwesenheit eines französischen Kriegsschiffes im Hafen von Montevideo an, um zu verhindern, daß die Seeleute von den Handelsschiffen in der Erwartung hoher Löhne dort desertierten. Im Jahre 1888 schrieb F. Seeber über Argentinien: »Überall ist der Mangel an Arbeitskräften zu beobachten und alle öffentlichen Bauarbeiten sind wegen des Arbeitermangels eingestellt worden.«10 Zerfall der Sklavenwirtschaft in Lateinamerika Der Mangel an Arbeitskräften verschärfte sich in dem Maße, wie die einzelnen Republiken zur Freilassung der Sklaven schritten. Um das Jahr 1850 war – abgesehen von Brasilien, das noch für längere Zeit eine Ausnahme bildete – die Sklaverei erloschen oder auf dem besten Wege dazu. Der zu diesem Ergebnis führende Prozeß durchlief die bekannten Phasen: Verbot der Einfuhr neuer Sklaven, Freiheit der Geburt (d.h. der Kinder von Sklavenmüttern) und teilweise Befreiung von der Sklaverei, die den Weg zur endgültigen, völligen Abschaffung der Sklaverei vorbereitete.

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Verschiedene Umstände trieben diese Entwicklung voran. Vielleicht der wichtigste von ihnen steht im Zusammenhang mit den wirtschaftlichen Aspekten des Sklavensystems. Die ihm innewohnenden Widersprüche verurteilten es unausweichlich zum Verschwinden, sobald einmal ein gewisser Stand der wirtschaftlichen Entwicklung erreicht war. Von einer bestimmten Grenze an erwies sich die Sklavenwirtschaft tatsächlich als ein beträchtliches Hindernis für die Entstehung des Kapitalismus. Aus Gründen, die mit dem System der Arbeitsverfassung selbst zusammenhingen, setzte die Sklaverei dem Rationalisierungsprozeß in der Produktion und der Kalkulationsmöglichkeit gewisse Grenzen. Die damalige Sklavenwirtschaft war eine ›Verschwendungswirtschaft‹ und beruhte zudem auf sozial bedingten Produktionserfordernissen, die sie zwangsläufig gegenüber der Notwendigkeit technischer Neuerungen in der Produktion wenig anpassungsfähig machten. Der Sklave mußte auch außerhalb der Zeiten des Anbaus und der Ernte ernährt, gekleidet und untergebracht werden. Er kostete also tagtäglich eine gewisse Summe. Der Sklave konsumierte möglichst viel und arbeitete möglichst wenig. Da seine Arbeit nicht entlohnt wurde, zeigte er sich am Konsum, nicht aber an der Arbeit interessiert. Beim Sklavensystem ging es in Wirklichkeit unmittelbar um den Einsatz und die Kontrolle der Arbeitskräfte; das Hauptinteresse galt nicht so sehr der Steigerung der Produktivität als dem Bemühen, die Autorität über die Sklaven zu erhalten. Das war grundlegend wichtig. Kontinuierliche Tätigkeit wurde mit Gewalt und strengster Disziplin erzwungen, denn es fehlte an persönlichem und äußerem Anreiz für den Arbeitswillen. Allein dieser verlieh dem System freier Lohnarbeit eine Überlegenheit, die schließlich auch allgemein anerkannt werden sollte. Die Sklavenwirtschaft bewies überdies eine nur geringe Anpassungsfähigkeit an die wechselnden Bedingungen eines von kapitalistischen Normen beherrschten Marktes. Dadurch, daß der Sklavenhalter enorme Summen in den Ankauf von Arbeitskräften im voraus investieren mußte, war er dem Unternehmer gegenüber, der freie Arbeiter beschäftigte, im Nachteil. Dieser brauchte ja nur tatsächlich geleistete Arbeit zu entlohnen und kein Kapital im Erwerb von Arbeitskräften festzulegen. Gesteigerte Nachfrage führte innerhalb des Sklavensystems zum schleunigen Ankauf weiterer Arbeitskräfte, um die erforderliche Produktionssteigerung erzielen zu können. Dieses Vorgehen war um so notwendiger, als die Arbeitsleistung des einzelnen Sklaven aus den bereits angeführten Gründen ja nur gering war. Solange der Sklavenhandel den entsprechenden, relativ billigen Nachschub gewährleistete, war die Reaktionsfähigkeit der Wirtschaft nicht ernstlich gefährdet. Aber von dem Augenblick an, da das Angebot an Sklavenarbeitern spärlicher wurde, trug dieser Umstand dazu bei, den Verfall der Sklavenwirtschaft zu beschleunigen.

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Auch bei ungünstiger Marktlage wirkte sich die Starrheit dieses Wirtschaftssystems aus. Die Produktion konnte nicht in dem Maße, wie es der Konjunkturrückgang notwendig und wünschenswert machte, eingeschränkt werden. Die Zahl der zur Verfügung stehenden Sklavenarbeiter konnte nicht sofort verringert werden, so daß die Beschäftigung von Sklaven und deren Arbeitsleistung einen von den Produktionserfordernissen unabhängigen Rhythmus aufweisen mußten. Mit anderen Worten: das Vorhandensein einer bestimmten Zahl von Sklavenarbeitern, die sich nicht schnell verringern ließ, zwang das Sklavenunternehmen dazu, einen gewissen Produktionsstand zu halten, wenn es nicht einen Teil seines Personals völligem Nichtstun anheimgeben und so die sozialen Fundamente dieses Wirtschaftssystems aufs Spiel setzen wollte.

 Abb. 5: Sklavenversteigerung in Rio de Janeiro

Aufgrund seiner übergroßen Starrheit und seiner geringen Anpassungsfähigkeit an die Dynamik einer Wirtschaft, deren Kennzeichen die wachsende Vorherrschaft kapitalistischer Formen war, sah sich das System der Sklaverei zum Aussterben verurteilt. Häufig sind die negativen Auswirkungen der Sklaverei auf den Prozeß der technischen Arbeitsteilung und der beruflichen Spezialisierung hervorgehoben worden. Sie mußten natürlich zu einem starken Absinken der Produktivitätsraten im Vergleich zu denen der kapitalistischen Wirtschaft führen.

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Am Beispiel der miteinander konkurrierenden Dörrfleischfabriken in Rio Grande do Sul (Brasilien) und am Rio de la Plata lassen sich die Nachteile der Sklaverei gegenüber den neuen Wirtschaftsformen, die langsam in Lateinamerika Verbreitung fanden, besonders gut aufzeigen. Louis Couty liefert zu dieser Frage in seinem Werk ›L’esclavage au Brésil‹ einen interessanten Beitrag durch den Vergleich zwischen dem in Rio Grande praktizierten System der Sklavenarbeit und der freien Lohnarbeit am Rio de la Plata, etwa um das Jahr 1880: »Den Dörrfleischfabriken beider Gebiete wird das gleiche Vieh geliefert, sie bezahlen dafür dieselben Preise, ihre Erzeugnisse unterscheiden sich fast nicht voneinander und werden auf denselben Märkten abgesetzt. Die Bearbeitungsmethoden waren kaum verschieden, und trotzdem: während zu jener Zeit die Dörrfleischfabriken in Argentinien und Uruguay florierten, schrumpften die Märkte und Gewinne der brasilianischen Konkurrenten immer mehr.« Nachdem er siebzehn Fabriken besichtigt hatte, glaubte Couty, diese Tatsache damit erklären zu können, daß in Brasilien Sklavenarbeiter verwendet wurden, während in den Dörrfleischfabriken am La Plata europäische Einwanderer arbeiteten: »Hundert freie Arbeiter in einer Fabrik im Süden schlachten rund fünfhundert Stück Vieh pro Tag. Hundert Sklaven in einer brasilianischen Fabrik bewältigen etwa die Hälfte. Man kann die Gesamtarbeitsleistungen, an der Zahl der geschlachteten Tiere gemessen, vergleichen, oder einen einzelnen der einfachsten Arbeitsgänge, und wird feststellen, daß ein freier Arbeiter die Arbeit von zwei und zuweilen gar von drei Sklaven leistet. Außerdem ist der brasilianische Produzent, da er seine Arbeitskräfte im voraus durch den Kauf der Sklaven und ihren Unterhalt bezahlt hat, gezwungen, einen gleichmäßigen Arbeitsrhythmus aufrechtzuerhalten, um nicht seine Gemeinkosten als Verlust buchen zu müssen. Dagegen schlachtet der Konkurrent im Süden mehr Vieh, wenn er Geld damit verdienen kann, oder weniger, wenn die Marktlage ungünstig ist.« Da dieser letztere seine Arbeiter je nach der Stückzahl des geschlachteten Viehs bezahlte, waren diese daran interessiert, viel zu arbeiten. Die freien Arbeiter im Süden waren infolgedessen vorzuziehen, sie waren elastischer, arbeiteten besser und erleichterten die Arbeitsteilung. Abschließend versichert Couty, daß die Beschäftigung von Sklaven es nicht erlaube, die Produktion der wechselnden Nachfrage auf dem Weltmarkt anzupassen, weil es schwierig war, je nach den Schwankungen der Nachfrage die Zahl der Arbeitskräfte zu erhöhen oder zu verringern. Neben diesen für das Sklavenwirtschaftssystem besonders charakteristischen Nachteilen gegenüber den neu aufkommenden kapitalistischen Wirtschaftsformen begünstigten noch andere, wenn auch weniger einschneidende Faktoren den Untergang der Sklaverei. Einer dieser Faktoren war die hohe Sterblichkeitsrate unter der Sklavenbevölkerung, die mit deren niedrigem Lebensstandard eng zusammenhing. Das Leben des Sklaven war kurz. Bis zur Mitte des 19.

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Jahrhunderts sorgte reichlicher Nachschub aus Afrika für die Auffüllung der Lücken, die durch Todesfälle infolge von Erschöpfung oder epidemischen Krankheiten, bei Flucht- und Rebellionsversuchen entstanden waren. Aufgrund des britischen Verbots des Sklavenhandels sollte nun aber der Ersatz ausfallender Sklaven gerade von dem Zeitpunkt an unmöglich werden, als die europäische Nachfrage ständig stieg. Während das Gelbfieber unter der weißen Bevölkerung wütete, suchten Choleraepidemien ihre Opfer unter den Sklaven und Freigelassenen auf den Pflanzungen. Unterernährung, üble hygienische Zustände und übermäßige Arbeit machten sie zu bevorzugten Opfern. Ebenso wie die Pest im 14. Jahrhundert dadurch zu einem Wandel der englischen Gesellschaftsstruktur beitrug, daß sie die Beendigung der Leibeigenschaft beschleunigte und damit einen akuten Mangel an Arbeitskräften und die Einführung leistungsfähigerer Produktionsmethoden bewirkte, vollzog sich nun ein ähnlicher Prozeß in gewissen Gebieten Amerikas. Andererseits verhielt sich der Neger nicht völlig passiv. Die Geschichte der Sklaverei berichtet von zahllosen Einzel- und Kollektivfluchten, sogar von dem einen oder anderen organisierten Aufstand. Wohlbekannt sind die brasilianischen Quilombos, Gemeinschaften, die von entlaufenen Negern im tiefen Urwald gegründet wurden. Im Jahre 1860 berichtete das französische Konsulat in Caracas über einen Aufstand ehemaliger Sklaven in den venezolanischen Kakaoplantagen: »Die ehemaligen Sklaven dieser Pflanzungen befinden sich im Aufstand. Diese Unglücklichen, getäuscht von ehrgeizigen Elementen, die ihnen Waffen verschafften, haben sich mancherorts nicht damit begnügt, die Einbringung der Ernte zu verhindern; sie haben die Besitzer, die auf ihren Pflanzungen geblieben waren, ermordet, alles zerschlagen und die Wohnhäuser angezündet.«11 Die zunehmende Verwendung von Maschinen war gleichzeitig Ursache und Auswirkung des Verfalls der Sklavenwirtschaft. Ursache insofern, als die Maschinen Techniker oder zumindest Facharbeiter zu ihrer Bedienung brauchten. Auswirkung, weil der Mangel an Arbeitskräften den Einsatz von Maschinen förderte. »Die kürzlich eingeführten Dampfmaschinen zum Mahlen des Zuckerrohrs haben sich ausgezeichnet bewährt, weil sie helfen, sehr teure Arbeitskräfte einzusparen. Da von Tag zu Tag weniger Sklaven zur Verfügung stehen, haben sich die Pflanzer gezwungen gesehen, Zuckerrohr nur noch in begrenztem Umfang anzubauen, weil nur wenige freie Arbeiter bereit sind, für Lohn in diesem Produktionszweig zu arbeiten«, schrieb im Jahre 1848 der französische Konsul in Guayaquil in einem seiner regelmäßigen Berichte.12 Besondere Bedeutung für den Niedergang der Sklavenwirtschaft hatte die Politik Englands, die eine Frucht der ideologischen Entwicklung und der materiellen Interessen zugleich war. Die billigen indischen Arbeitskräfte versetzten damals die Engländer in die Lage, daß ihre Erzeugnisse erfolgreich

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mit denen der großen Sklavenarbeitszentren in Brasilien oder auf den Antillen in Wettbewerb treten konnten. Der Fall Brasilien Die Sklaverei in Brasilien verdient besondere Beachtung. Als England im Jahre 1826 ein unabhängiges brasilianisches Kaiserreich anerkannte, gelang es ihm, den Handel mit Negersklaven als einen Akt der Piraterie hinzustellen und damit das Durchsuchungsrecht für jedes verdächtige Schiff zu beanspruchen. Aber England mußte bis 1839 auf ein Gesetz warten, das jedem Neger die Freiheit zusicherte, sobald er brasilianischen Boden betreten hatte. Doch dieses Gesetz wurde nicht beachtet. Die Zahl der nach Brasilien eingeführten Sklaven schätzt man für 1840 auf dreißigtausend, und auf fünzig- bis sechzigtausend pro Jahr zwischen 1846 und 1849. Diese Zahlen sanken für das Jahr 1850 auf dreiundzwanzigtausend, für 1851 auf dreitausendzweihundert und auf siebenhundert im Jahre 1852.13 Bis zur Jahrhundertmitte war die Sklaverei noch die feste Grundlage des wirtschaftlichen und sozialen Gefüges in Brasilien. Eben deswegen mußte die Abschaffung des Sklavenhandels dieses Land stärker treffen als andere. Am 25. März 1847 berichtete das französische Konsulat in Bahia, der Negerhandel stelle noch immer den Hauptanteil an der Handelstätigkeit in diesem Hafen. Im Jahre 1845 kamen 5542 Sklaven in Bahia an Land. Im Jahre darauf verdoppelte sich diese Zahl. Bahia war eine Hochburg des Negerhandels, und viele einheimische Kapitalisten engagierten sich lieber im Sklavenhandel als in der Ausbeute der kurz zuvor in dieser Gegend entdeckten Diamantenvorkommen. Trotz gegenteiligen Augenscheins verhielten sich die brasilianischen Behörden dem Sklavenhandel gegenüber noch gleichgültig. Der Strom von Sklaven, der in diesem und anderen brasilianischen Häfen das Land betrat, ging weiter ins Landesinnere, auf die großen Zuckerrohrpflanzungen. Als dann tatsächlich die Sklaveneinfuhr in Brasilien eingestellt wurde, ergab sich als erste Folge ein intensiver Binnenhandel mit Negersklaven, die von Norden nach Süden, von den Zuckerrohrplantagen auf die Kaffeepflanzungen verkauft wurden. Die Arbeit in den Zuckerrohrplantagen erschöpfte die Arbeitskraft des Negers, dessen Preis unaufhaltsam stieg, zu schnell. Die Besitzer der jungen Kaffeefazendas im Süden waren die einzigen, die die immer höheren Preise noch bezahlen konnten. Ein französischer Bericht meldete im Jahre 1851 aus Bahia, die Einfuhr von Sklaven aus der einen in die andere brasilianische Provinz sei mit Steuern belegt worden, um den Binnenhandel zu bekämpfen. Aber diese gesetzlichen Maßnahmen hatten keinen nennenswerten Erfolg. Ein Konsulatsbericht über den Handel in Bahia stellte im Jahre 1868 fest: » ...Die Lage der hiesigen Landwirtschaft verschlechtert sich aus Mangel an Mitteln und Hilfskräften von Tag zu Tag mehr. In der Tat können nur einige

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wenige Großgrundbesitzer Zucker, Tabak und Baumwolle in mehr oder minder beträchtlichen Mengen produzieren, weil sie in der Lage sind, Maschinen und geeignete Geräte zur Erleichterung der landwirtschaftlichen Arbeiten einzusetzen. Aber diese Maschinen müssen bedient werden, und wenn man bedenkt, daß die Grundbesitzer Jahr für Jahr gezwungen sind, einige ihrer Sklaven zu verkaufen, um die anderen ernähren zu können, weil die erzielten Gewinne es ihnen kaum ermöglichen, ihre Schulden zu bezahlen, und wenn man bedenkt, daß sie weder mit freien Arbeitskräften rechnen noch ihre Sklaven ersetzen können, von denen tagtäglich ein paar verschwinden, so ist es einsichtig, daß die hiesige Landwirtschaft sich niemals weiter entwickeln kann, sondern nach und nach völlig zum Erliegen kommen wird.«14

 Abb. 6: Transport eines Flügels in Rio de Janeiro durch Sklaven

Auch in der Dörrfleischindustrie in Rio Grande do Sul stellte sich durch die abgeschnittene Sklavenzufuhr ein akuter Arbeitskräftemangel ein, der sich nach 1865 durch die Abwanderung von Sklaven in die Kaffeepflanzungen noch mehr verschärfte. Die Zahl der Sklaven in Rio Grande do Sul verringerte sich schnell, wie wir den Angaben von Fernando Henrique Cardoso entnehmen.15 Während es 1863 noch rund 77419 Sklaven dort gab, waren es zwanzig Jahre später nur noch 22709 und 1887 noch knapp 8500. Von der durch alle diese Dinge ausgelösten Krise erholte sich Brasilien erst, als der Kaffee sich als Hauptausfuhrprodukt des Landes durchsetzte, wobei der

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Schwerpunkt der Wirtschaftstätigkeit sich immer weiter nach Süden verlagerte und der europäische Arbeiter allmählich eine wesentliche Rolle spielte. Wenn die einwanderungsfreundliche Haltung auch das Problem des Sklavenarbeitermangels in Betracht zog, beschränkte sie sich nicht auf dieses allein, sondern läßt vielmehr eine bewußt fortschrittliche Gesinnung erkennen, und es äußert sich in ihr eine Kritik an der Sklavenwirtschaft. Schon bevor die Arbeitskräfte knapp wurden, setzten sich die Befürworter der Einwanderung für die freie Arbeit ein. Die Verteidiger der Sklaverei dagegen sahen in der Einwanderung keine Lösung, sondern den Ruin der Sklavenwirtschaft.16 Die Kritik am Sklavensystem hatte nun keineswegs die Rehabilitation des Negers als freier Mensch im Auge. Das Schwergewicht der Überlegungen richtete sich auf die ›Größe des Landes‹ und den Fortschritt, zu dem der Ausländer beitrug. Gewünscht wurde die freie Arbeit des Weißen und nicht die des befreiten Negers, der mit dem ›Makel‹ des Sklaventums behaftet und angeblich faul und zügellos war. Eine Folgeerscheinung der Versklavung wurde so allmählich als Ursache und als bestimmender Faktor für Stillstand und Rückständigkeit angesehen. Doch konnte das Arbeitskräfteproblem nicht nach den Vorstellungen derer, die sich für die ›Befreiung der Arbeit‹ einsetzten, durch die Einwanderung gelöst werden. Die Einwanderung weißer, freier Siedler beseitigte also nicht den Mangel an Arbeitskräften auf den Plantagen. Andrerseits waren schon im Jahre 1884, fünf Jahre vor der endgültigen Abschaffung der Sklaverei, die ehemaligen Sklaven zum größten Teil freigelassen: die Wirtschaft in Rio Grande hing zum Beispiel bereits nicht mehr von der Sklavenarbeit ab. Versuche zur Lösung des Arbeitskräfteproblems in den Dörrfleischfabriken setzten ein, als das Sklavensystem schon in vollern Verfall war. Man bemühte sich, Einwanderer direkt für die Dörrfleischfabriken anzuwerben, und schuf ein gemischtes Sklaven- und Lohnarbeitssystem, wobei Lohn von einer festgesetzten Produktionsleistung an bezahlt wurde. Die Freigelassenen wollten nicht in den Dörrfleischfabriken arbeiten. Die gleiche Abneigung zeigten die weißen (einheimischen wie ausländischen) Arbeiter, handelte es sich doch um eine Arbeit, die ihrer Art und ihrer (Sklavenarbeits-) Tradition wegen mit einem ›Makel‹ behaftet war. Um sich in einen kapitalistischen Unternehmer zu verwandeln, war es nicht damit getan, keine Sklaven mehr zu besitzen. Werte und Verhaltensnormen mußten neu definiert werden, und dieser Prozeß konnte nicht automatisch einsetzen. Einen gewissen Einfluß auf diesen Prozeß hatte der Paraguaykrieg, wenn wir den scharfen Beobachtungen der französischen diplomatischen Vertretung in Bahia Glauben schenken: »Der Kriegszustand hat trotz aller Verwüstung und allen Elends, die er verursachte, kräftig zum Fortschritt der brasilianischen Zivilisation beigetragen. Er vergrößerte die Unzufriedenheit und ließ infolgedessen Arbeit und Wirtschaft als notwendiger erscheinen; es wurden so

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dringend und so viele Menschen benötigt, daß das Land – in Ermangelung eines Aushebungssystems zum Waffendienst – keine kräftigeren und bereitwilligeren Verteidiger finden konnte, als die in großen Massen freigelassenen Sklaven, die heute einen Großteil der im Süden operierenden Armee ausmachen und später ein Riesenheer freier Arbeiter sein werden.«17 Der brasilianische Staat kaufte ständig Neger, um sie nach erfolgter Freilassung der Armee einzugliedern. Dieser Krieg, der drohende Zusammenbruch der Wirtschaft und die unablässige Kampagne für die Abschaffung der Sklaverei beschleunigten das endgültige Erlöschen der Sklaverei. Im Jahre 1871 verabschiedete das Parlament das Gesetz Nr. 2040, demzufolge Kinder von Sklavenmüttern vom Augenblick ihrer Geburt an frei waren. Verschiedene Maßnahmen trugen zur Beschleunigung der Freilassungen bei (der Kaiser selbst ging mit gutem Beispiel voran und ließ alle Sklaven seines Haushalts und der Krone frei). Ein Freilassungsfonds wurde geschaffen, aber aus Furcht vor Komplikationen zögerte die Regierung, ihn zu verwenden. Die Erbitterung der Sklavenbesitzer wuchs ständig, und als im Jahre 1888 das Gesetz über die endgültige Abschaffung der Sklaverei verabschiedet und damit auf einen Schlag 700000 Sklaven frei wurden, waren die Sklavenhalter sogar bereit, heimlich den Staatsstreich zu unterstützen, der ein Jahr später zur Ausrufung der Republik führen sollte. Erste Abhilfen Die Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Arbeitskräften gaben den Anstoß dazu, außerhalb des Landes nach Ersatz zu suchen. Da es dringend notwendig war, den jetzt unterbundenen Zustrom aus Afrika durch etwas anderes zu ersetzen, versuchte man einen Teil von Kapital und Schiffen, die bisher im Negerhandel engagiert waren, erfolgreich anderweitig einzusetzen. Die Methoden waren dabei genauso unmenschlich wie zuvor, und die Passagiere sahen sich einer Behandlung ausgesetzt, die sich kaum von dem unterschied, was man vorher den Sklaven zugemutet hatte. Von den Azoren und den Kanarischen Inseln bis an die Küsten Chiles fuhren die letzten Segel- und die ersten Dampfschiffe auf der Jagd nach der so lebenswichtigen Menschenfracht. Die Azoren und die Kanarischen Inseln waren übervölkert; es gab reichlich Gelegenheit, die Bewohner mit leichten Betrügereien zu verlocken. In der Korrespondenz des französischen Konsulats in Rio hieß es im Jahre 1852: »Die portugiesische Schifffahrt hat sich sehr nachdrücklich bemüht, die durch das Erlöschen des Sklavenhandels entstandene Lücke mit Auswanderern aus Porto und von den Azoren aufzufüllen. Nachdem sie glücklicherweise nicht mehr die Küsten Afrikas unsicher machen kann, hat diese unsaubere Gewinnquelle für sie zu fließen aufgehört. Doch wirft man ihr vor, sie wende bei den weißen Einwanderern dieselben Praktiken an, die vormals beim Sklavenhandel üblich waren.«18

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Oft gelang es einer geschickten Propaganda, größere Mengen von Kolonisten in Gegenden zu locken, wo sich die Lebensbedingungen von den gemachten Versprechungen weit entfernten. Aus diesem Anlaß kam es wiederholt zu Zwischenfällen. Als Beispiele lassen sich eine deutsche Reklamation gegenüber Brasilien und ein französischer Protest bei der paraguayischen Regierung anführen. Weit wirksamer als jede organisierte Werbung waren jedoch die Berichte der Emigranten selbst an ihre Familien; durch sie wurde ein weiterer Zustrom von Einwanderern am erfolgreichsten angeregt oder auch abgebremst. Doch war der Mangel an Arbeitskräften zu bedrohlich, als daß man auf die europäischen Einwanderer hätte warten können. Nur das Gebiet am Rio de la Plata blieb von den Auswirkungen der Versuche, Arbeitskräfte anderer Herkunft zu beschaffen, zum Teil verschont. Da war das Beispiel Englands, dem bei der Eroberung Indiens ein ungeheures Reservoir an Arbeitskräften zugefallen war. Viele dachten auch an die Untertanen des übervölkerten chinesischen Kaiserreiches, das unter ständiger Unterernährung, verschärft durch periodische Dürrekatastrophen und Krisen in der Landwirtschaft, zu leiden hatte. Andere Gebiete im Bereich des Pazifik boten ähnliche Bedingungen. Zuweilen war es sogar möglich, Inder aus den britischen Kolonien anzuwerben. Im Jahre 1877 traf in Rio ein französisches Schiff mit zweihundert indischen Arbeitern von der Insel Mauritius ein. Es handelte sich fast ausschließlich um freie Arbeiter und nicht um Kulis, deren Verschiffung die Engländer nicht gestatteten. Nach Erfüllung ihres Kontraktes in Mauritius hatten sie, von der Höhe der angebotenen Löhne verlockt, beschlossen, nach Brasilien zu gehen. Ebenso kamen 1878 die ersten russischen Mennoniten nach Brasilien, doch das in Aussicht gestellte Land und andere Vergünstigungen erhielten sie nicht. Zwischen Peru und Frankreich kam es im Jahre 1863 zu einem ernsten Zwischenfall wegen der Verschiffung mehrerer Tausend Polynesier, vorwiegend aus Tahiti. Die wenigen Überlebenden des Transports wurden schließlich in ihre Heimat zurückgebracht. Von dem Wunsch nach einer Steigerung der Produktion und der Behebung des Arbeitskräftemangels geleitet, gewährten manche Regierungen bestimmten Siedlergemeinschaften besondere Vergünstigungen: religiöse Autonomie, Befreiung vom Militärdienst, Freiheit der ideologischen Überzeugungen. So etwa die Regierung Paraguays, als sie die Gründung einer sozialistischen Kolonie (Neu-Australien) durch Siedler förderte, die angesichts der schlechten Wirtschaftslage Australien verlassen hatten und von den Vorteilen einer kollektivistischen Organisation überzeugt waren. Chinesen in Lateinamerika Auch chinesische Arbeitskräfte wurden in das Wirtschaftsleben Lateinamerikas eingegliedert, insbesondere in Kuba, Peru, Mexiko und beim Bau des

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Panamakanals. Aber auch andere Länder, wie Brasilien, Ekuador und Venezuela, machten Experimente dieser Art. Nach der Abschaffung der Sklaverei mußte Venezuela zusehen, wie seine Kakaopflanzungen langsam verkamen. Schließlich verabschiedete man ein Einwanderungsgesetz, das unter anderen Maßnahmen die Gewährung einer Prämie von fünfundzwanzig Pesos für jeden ins Land eingeführten Chinesen vorsah. Die brasilianische Regierung nahm Verhandlungen über die Einfuhr von Chinesen auf und zeigte reges Interesse an der Zuwanderung anderer asiatischer Siedler. Die Einwanderung von Japanern setzte 1903 ein und erreichte von 1928 an einen beachtlichen Umfang. Über Peru gibt es, was diese Frage anbelangt, eine reiche Dokumentation. Die Einfuhr von Chinesen begann hier im Jahre 1854, als General Castilla die Abschaffung der Sklaverei und des Indianertributs anordnete. Diese Maßnahme führte zu einer schweren Krise in der Landwirtschaft, wo es nun an Arbeitern fehlte. Man charterte Schiffe, die in den chinesischen Häfen aufgelesene Menschen aus den ärmsten sozialen Schichten nach Peru brachten. In El Callao wurden sie ausgeschifft und mit einem Scheinvertrag von acht Jahren Laufzeit an die Grundbesitzer verkauft, die sie kleiden, unterbringen und ihnen einen Wochenlohn von einem Sol (peruanische Münzeinheit) bezahlen mußten. Der Preis für einen Chinesen betrug zwischen 300 und 400 Soles. In den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts kamen etwa dreizehntausend Kulis nach Peru; dabei starben schätzungsweise mehr als zweitausend auf der Überfahrt. Zwischen 1860 und 1874 trafen etwa 74952 Chinesen ein, während 7677 auf der Überfahrt gestorben waren. Bei der Anwerbung von Chinesen sind drei Etappen zu unterscheiden: anfangs erfolgte sie unmittelbar in den Häfen des Reichs der Mitte, dann in Macao, weil die chinesische Regierung inzwischen die Ausfuhr von Kulis verboten hatte, und schließlich wieder in den chinesischen Häfen. Das Ausfuhrverbot schien auf Betreiben Großbritanniens zustande gekommen zu sein. J.B.H. Martinet deutet in L’agriculture au Pérou (1878) an, das Verbot sei erlassen worden, weil sich die britische Regierung unter philanthropischen Vorwänden bemühte, einen Konkurrenten der eigenen Kolonien bei der Zuckererzeugung auszuschalten. Das Verbot versetzte der peruanischen Landwirtschaft, insbesondere der Zuckerproduktion, einen so harten Schlag, daß eine Sondermission (García y García) an die chinesischen Behörden entsandt wurde, um eine Aufhebung des Verbots zu erreichen. Charles d’Ursel berichtet in seinem 1874 veröffentlichten Buch Sud Amérique, die Zahl der in Peru eingewanderten Chinesen habe weit über den offiziellen Angaben gelegen. Die Chinesen seien, durch ihre Einwilligung, für acht Jahre auf ihre Freiheit zu verzichten, einer echten Leibeigenschaft verfallen. Üblicherweise sei dieser Zeitraum von den Unternehmern für alle, die den ersten Kontrakt überlebten, dadurch verlängert worden, daß man die Chinesen zum Schuldenmachen verleitete oder andere Winkelzüge anwandte. »Fast alle landwirtschaftlichen Betriebe sind einzig und allein auf diese Arbeiter

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angewiesen. In Lima findet man Chinesen als Dienstboten, Köche, Lastträger usw., mit einem Wort: in allen möglichen Berufen.«

 Abb. 7: Arbeitsvertrag in chinesischer Schrift

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 Spanischer Text von Abb. 7

Vertrag Durch diese Urkunde wird festgestellt, daß ich, Chang fin, gebürtig aus Chin Chau in China, 26 Jahre alt, mit Herrn Chs Caro übereingekommen bin, mich in einem Schiff, das man mir bezeichnen wird, nach dem dortigen Hafen einzuschiffen, und zwar unter folgenden Bedingungen: 1. Ich verpflichte mich, auf der Insel Kuba nach Anordnungen des genannten Herrn oder jeder anderen Person zu arbeiten, auf die dieser Vertrag übertragen werden sollte, wozu ich meine Zustimmung gebe. 2. Dieser Vertrag hat eine Laufzeit von acht Jahren, die mit dem Tag meines Dienstantritts beginnen, vorausgesetzt, daß mein Gesundheitszustand gut ist, denn wenn ich krank oder arbeitsunfähig sein sollte, beginnt sie nicht vor Ablauf von acht Tagen nach meiner Wiederherstellung. 3. Ich werde dort alle anfallenden Arbeiten verrichten, sei es auf dem Lande, in der Stadt, in Privathäusern als Dienstbote oder in jeder Art Handels- oder Gewerbebetrieb, in Zuckermühlen, auf der Weide, in Kaffeeplantagen, auf Viehfarmen usw. Ich werde jede Art städtischer oder ländlicher Arbeit verrichten, die mein Arbeitgeber mir zuweist.

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4. Die Sonntage werden Ruhetage sein; ich kann sie dazu benutzen, um für mich zu arbeiten, wenn es mir genehm ist, vorausgesetzt, daß es sich nicht um Hausarbeit handelt, in welchem Falle ich mich der Landessitte unterwerfen werde. 5. Die Arbeitsstunden dürfen nicht über durchschnittlich zwölf der vierundzwanzig Stunden des Tages hinausgehen, abgesehen von Arbeiten im Stadt- oder Landhaus des Herrn. 6. Unter keinen Umständen werde ich in den acht Jahren meiner Verpflichtung der Person meine Dienste verweigern, auf die dieser Vertrag übergeht, ihr entfliehen oder dies aus irgendeinem Grunde auch nur versuchen wollen, es sei denn aufgrund eines Loskaufs in Übereinstimmung mit den Gesetzen. Herr Chs Caro verpflichtet sich seinerseits zu folgendem: 1. Daß er von dem Tage an, da die acht Jahre meines Vertrages beginnen, auch mit der Zahlung des Lohnes von vier Pesos monatlich beginnt, den mir der besagte Agent garantiert und für jeden Monat der acht Jahre meines Vertrages zugesichert hat. 2. Daß man mir an Nahrungsmitteln pro Tag elf Unzen Salzfleisch und zweieinhalb Pfund Maniok oder andere gesunde, nahrhafte Lebensmittel zur Verfügung stellt. 3. Daß man mir während jeder Krankheit im Krankenhaus die für meine Krankheit erforderliche Pflege zuteil werden läßt, sowie jede Hilfe, Arznei und ärztliche Betreuung, die meine Krankheiten und meine Wiederherstellung erfordern, so lange diese dauern. Meine Lohnzahlung wird weitergehen, es sei denn, ich hätte mir die Krankheit durch eigene Schuld zugezogen. 4. Der Agent selbst oder ein Beauftragter wird für meine Passage nach La Habana und meine Verpflegung an Bord aufkommen. 5. Der Herr selbst wird mir acht Gold- oder Silberpesos für meine Reiseausrüstung vorstrecken, die ich in La Habana diesem Herrn mit einem Peso monatlich zurückzahle, der von dem Lohn abgezogen werden soll, den ich von der Person erhalte, an die dieser Vertrag übergeht, wobei es sich versteht, daß man mir aus keinem anderen Grunde irgend etwas vom Lohn abziehen darf. 7. Daß man mir am Tage meiner Einschiffung drei Mal Wäsche zum Wechseln gibt. 8. Daß man mir den Schutz der auf der Insel Kuba geltenden Gesetze gewährt. 9. Daß ich nach Ablauf der Vertragsdauer von acht Jahren völlige Freiheit haben werde, über meine Arbeitskraft verfügen kann, ohne daß irgendwelche Schulden, Verpfändungen oder Verpflichtungen, die ich eingegangen sein sollte, als Vorwand dienen könnten, diesen Vertrag gegen meinen Willen zu verlängern. Ich erkläre, die in der Klausel erwähnte Summe von 8 Pesos bar erhalten zu haben, die ich in der in dieser Klausel festgesetzten Form zurückzahlen werde. Ich erkläre weiterhin, daß ich mit dem festgesetzten Lohn einverstanden bin, obwohl ich weiß, daß die freien Taglöhner und die Sklaven auf der Insel Kuba weit mehr verdienen, weil ich den Unterschied als durch die anderen Vorteile ausgeglichen ansehe, die mir mein Arbeitgeber gewährt und die aus dem vorliegenden Vertrag erwachsen. Es ist vereinbart, daß mir nach Ablauf des vorliegenden Vertrages 60 Tage gewährt werden, bis ich auf eigenen Wunsch in mein Land zurückkehre oder um mit einem Arbeitgeber nach meiner Wahl zu einer Vereinbarung zu gelangen, die mir den gleichen höheren Lohn einbringt, wie ihn die freien Arbeiter in Kuba verdienen, je nach meiner Fähigkeit oder Neigung zu einer Arbeit oder einem Amt, das er mir anbieten kann. In Erfüllung alles oben Ausgeführten erklären beide Vertragspartner, daß sie vor der Unterzeichnung alle und jeden einzelnen Artikel noch einmal aufmerksam gelesen haben und genau die gegenseitig eingegangenen Verpflichtungen kennen, damit nie und aus keinem Anlaß Unwissenheit angeführt werden kann und Reklamationen vorgebracht

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werden können, es sei denn, die Bestimmungen dieses Vertrages seien in irgendeiner Weise verletzt worden. Zur Bezeugung dessen unterzeichnen beide Vertragspartner vor Zeugen die vorliegende Urkunde in Macao, am 9. März 1866. (Unterschrift) Per pro Chs Caro (Unterschrift) Notar Auswanderungsaufsichtsbeamter (Unterschrift) (Unterschrift)

Ihre Kultur, die sich so gewaltig von der ihrer neuen Umwelt unterschied, die rücksichtslose Ausbeutung, deren Opfer sie wurden, und ihre völlig andere Sprache führten dazu, daß die Chinesen sich nicht dem peruanischen Volksganzen eingliederten. Zuweilen kam es zu offener Auflehnung. Im Jahre 1870 zum Beispiel berichtete die französische Korrespondenz aus Lima, soeben sei wieder ein Chinesenaufstand ausgebrochen; etwa viertausend Kulis hätten die Verwalter mehrerer Haziendas und sogar einige Reisende ermordet und sich dann vor den anrückenden Truppen der Zentralregierung in die Berge geflüchtet. Bei dieser Gelegenheit wird besonders vermerkt, ohne die Chinesen sei im Küstengebiet die Landwirtschaft nicht aufrechtzuerhalten, und der unaufhörliche Zustrom neuer Kulis verstärke ständig das Personal auf den Pflanzungen.19 In Kuba hatte der Mangel an Arbeitskräften um die Mitte des Jahrhunderts zur Krise geführt. Um sie zu überwinden, brachte man viele Eingeborene aus Mexiko zwangsweise als ›Kontraktarbeiter‹ auf die Insel. Allmählich ging man zur Einfuhr von Chinesen über. Nach Schätzungen, die im August 1878 von der ›Revista Económica‹ in La Habana veröffentlicht wurden, waren zwischen 1853 und 1874 rund 125 000 Chinesen nach Kuba gekommen. In der kubanischen Hauptstadt schwankte der Preis für einen Chinesen (oder, wenn man so will, für die Rechte aus seinem ›Kontrakt‹) zwischen 100 und 400 Dollar. Die Daseinsbedingungen verkürzten sein Leben. Eine Volkszählung aus dem Jahre 1861 beziffert die Zahl der Asiaten in Kuba auf 34 834, eine weitere aus dem Jahre 1877 auf 40327. Der Unterschied zwischen den Zahlen der letzten Volkszählung und der weiter oben angeführten Schätzung mag damit zusammenhängen, daß ein exaktes Verzeichnis in vielen ländlichen Bezirken schwierig und die Sterblichkeitsrate unter den chinesischen Arbeitern sehr hoch war. Das günstige Ergebnis der Chineseneinfuhr in Peru bewog viele mexikanische Grundbesitzer, sich ebenfalls chinesische Arbeiter zu beschaffen. Dieser Schritt

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löste viele Kontroversen und zahlreiche Polemiken in den Zeitungen aus: um 1890 wurden zum Beispiel häufig Klagen darüber laut, daß die Konkurrenz der chinesischen Arbeiter das ohnehin schon niedrige Lohnniveau in Mexiko drücke. Weite Kreise setzten sich dafür ein, man solle dem nordamerikanischen Beispiel folgen und die asiatische Einwanderung verbieten. Wiederholt kam es zu Ausschreitungen gegen die Gelben.

 Abb. 8: Chinesische Kulis auf Kuba; Zeichnung von Pelcoq nach einer Fotografie

Beginn der Masseneinwanderung aus Europa Viele lateinamerikanische Staatsmänner hatten, vielleicht unter dem Eindruck der günstigen Auswirkungen der Einwanderungsbewegung in den Vereinigten Staaten und beseelt von großen Hoffnungen auf ein erfolgreiches Wirken der Europäer, schon sehr früh Pläne für die Anwerbung und Ansiedlung von Immigranten in den eigenen Ländern gemacht. In den vergangenen 150 Jahren haben die Vereinigten Staaten schätzungsweise 40 Millionen und Lateinamerika 12 Millionen Einwanderer aufgenommen. Im Jahre 1870 setzte die Masseneinwanderung nach Argentinien, kurz darauf nach Brasilien ein (beide Länder nahmen in der ersten Periode, von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Weltwirtschaftskrise des Jahres 1929, mehr als drei Millionen Einwanderer auf).

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Auf Uruguay entfiel – verglichen mit dem viel kleineren Umfang seines Staatsgebietes und seiner vorhandenen Einwohnerzahl – ein relativ noch größerer Anteil. Auch Chile verzeichnete, wenngleich in geringerem Ausmaß, den Zustrom ansehnlicher Mengen von Einwanderern. Interessant sind die Formen dieser Einwanderungsbewegung, da sie sich in mancher Hinsicht von der nach Nordamerika unterschieden. In den Vereinigten Staaten setzte die Masseneinwanderung früher ein, die Herkunft der Immigranten und die Art ihrer Einwurzelung in der neuen Heimat sind verschieden. Es handelte sich hier um ein sehr reiches, ungeheuer großes Land, das bereit war, arbeitstüchtige Menschen im besten, leistungsfähigsten Alter aufzunehmen. Das unter Präsident Lincoln verabschiedete Heimstättengesetz (Homestead Act, 1862) förderte die landwirtschaftliche Besiedlung, da es jedem die Landnahme ermöglichte, der bereit war, den Boden zu bebauen. Die allmähliche Ausweitung der Landesgrenzen erlaubte es den Vereinigten Staaten, die Neuankömmlinge mit Landbesitz auszustatten. In den Kaffeeanbaugebieten in São Paulo und in den argentinischen Ebenen war das viel schwieriger zu bewerkstelligen, da dort (wie überhaupt in ganz Lateinamerika aufgrund des weit zurückliegenden Prozesses der Landnahme) die Latifundien überwogen. Ein weiterer Unterschied sollte sich aus dem Grad der technischen Ausbildung der Einwanderer ergeben. Es ist nicht verwunderlich, daß die besser Befähigten es vorzogen, in die Vereinigten Staaten auszuwandern, weil dort die wirtschaftliche Entwicklung weiter fortgeschritten war und das Land allmählich zum Paradies der Fach- und Spezialarbeiter werden sollte. Dies könnte auch den Umstand erklären, daß Bewohner der höchstentwickelten Länder Europas, zum Beispiel Skandinaviens und der Britischen Inseln, vorzugsweise nach Nordamerika auswanderten. Aber Lateinamerika brauchte Arbeitskräfte, und mehr als die etwas utopischen Pläne der ersten Zeit sollten dann die seit den siebziger Jahren bestehenden guten wirtschaftlichen Voraussetzungen die Masseneinwanderung begünstigen. Ein Großteil der Einwanderer rekrutierte sich aus dem Menschenüberschuß, zu dem die Umstellungen vor allem in der italienischen und der spanischen Wirtschaft auf dem flachen Lande beigetragen hatten. Hinzu kamen Bewohner anderer Länder, insbesondere verschiedene Minderheiten, die damals durch die politischen Verhältnisse aus Europa vertrieben wurden (Polen; Südfranzosen – vor allem Basken –; Portugiesen, die sich der gemeinsamen Sprache wegen nach Brasilien wenden; deutsche Minderheiten aus Rußland; Juden aus verschiedenen Ländern etc.). Die Einwanderung wies im wesentlichen zwei Formen auf: die auf eigene Gefahr beschlossene und die staatlich geförderte Einwanderung. Letztere war eine Folge der offiziellen Bemühung um die Heranziehung vor allem von Bauern. Zu diesem Zweck wurden Werbekampagnen organisiert, die Überfahrt subventioniert und – zumindest in der Theorie – die Eingliederung des Neuankömmlings in den Produktionsprozeß überwacht.

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Doch im wesentlichen war die große europäische Einwanderungswelle in Lateinamerika eine Antwort auf die wirtschaftlichen Möglichkeiten, die der Kontinent bot, und nicht eine Antwort auf die oberflächlich formulierten, selten durchgeführten Projekte. Fraglos haben diese einströmenden Menschenmassen die Gebiete, in denen sie sich ansiedelten, nachhaltig verändert. Aber während man sie gerufen hatte, um ländliche Gebiete zu besiedeln, verstärkten sie das Wachstum der Städte; man hatte zuviel von ihrer Seßhaftwerdung in der Landwirtschaft erhofft und zu wenig die Schwierigkeiten bedacht, die sich aus den Großgrundbesitzverhältnissen ergaben. Es ist nicht ratsam, sich bei der Analyse der Auswirkungen der Einwanderung in Lateinamerika vom Bild der Ergebnisse der Einwanderung in Nordamerika beeinflussen zu lassen. In Südamerika wurde die Masseneinwanderung im ersten Augenblick zwar zu einem wesentlichen Faktor für die wirtschaftliche Expansion, doch trug sie auch zur weiteren Verzerrung der Sozialstruktur bei, die sich am deutlichsten an der Existenz eines künstlich aufgeblähten Tertiärsektors in der Wirtschaft (Handel, Dienstleistungen, Beamtenapparat etc.) ablesen läßt und an einer starken Verstädterung, ohne daß sich zuvor die ländlichen Strukturen gewandelt hätten, wo noch immer der Großgrundbesitz vorherrschend war. In São Paulo (Brasilien) begann diese Entwicklung mit der beginnenden Krise in der Sklavenwirtschaft und der Anregung des Senators Vergueiro, eines großen Kaffeepflanzers, der sich entschloß, Arbeiter direkt in Europa anzuwerben. Er erreichte es, daß die Regierung die Überfahrt finanzierte, und holte um das Jahr 1847 achtzig deutsche Familien auf seine Plantage. Im Gegensatz zu der seit Jahrzehnten schon von der kaiserlichen Regierung betriebenen Besiedlungspolitik bezeichnete er diese Einwanderer zwar als colonos (Pächter, Siedler), machte sie aber nicht zu Landbesitzern, sondern ließ sie auf seiner Pflanzung arbeiten (per extensionem sollte in Zunkunft jeder ausländische Arbeiter in São Paulo colono genannt werden, auch wenn es sich nur um einen einfachen Landarbeiter handelte). Von 1852 an fand Vergueiro Nachahmer. Bis 1857 waren rund 41, bis 1875 etwa 90 Siedlungen gegründet worden. Dieses Vierteljahrhundert wird in São Paulo als die Ära der Privatkolonisierung bezeichnet. Die colonos des Senators Vergueiro hatten bei ihrer Abreise aus Deutschland einen Halbpachtvertrag unterzeichnet. Sie erhielten tragfähige Kaffeepflanzen zum Anbau, und die Ernte wurde zu gleichen Teilen geteilt. Der Besitzer hatte die Kosten für die Überfahrt und die ersten Ausgaben für die Einrichtung in der neuen Heimat verauslagt, wodurch der colono mit einer gewissen Schuldenlast sein neues Leben begann. Im Vertrag war jedoch vereinbart, daß keiner die Pflanzung verlassen durfte, solange er Schulden hatte. Daher breitete sich Unzufriedenheit unter den colonos aus. Das erwähnte im Jahre 1867 auch Hermann Haupt in seinem Bericht an die Internationale Gesellschaft für

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Auswanderung in Berlin, in dem dieses System angeprangert und als versteckte Sklaverei bezeichnet wurde. Nach und nach wurde der Halbpachtvertrag nicht mehr angewendet. Die Lage der colonos verbesserte sich in dem Maße, wie die Sklavenwirtschaft zum Erliegen kam. Die Behörden selbst befaßten sich nun mit der Beschaffung landwirtschaftlicher Arbeiter für die Plantagenbesitzer. Mit staatlichen Hilfsgeldern förderten sie die Einwanderung, um den durch die schnelle Expansion des Kaffeeanbaus entstandenen Bedarf an Arbeitskräften zu decken. Bis zu dem Gesetz aus dem Jahre 1889 herrschte das Kontrakt-System vor. Der Staat schloß mit einem Unternehmer einen Vertrag über die Anwerbung einer bestimmten Anzahl Einwanderer ab. Der Hauptmangel dieses Systems lag darin, daß der Unternehmer, um die geforderte Zahl zu erreichen, sich nicht um die Eignung des einzelnen Einwanderers kümmerte, und so kamen viele, die für die Arbeit in der Landwirtschaft nicht die notwendigen Voraussetzungen mitbrachten. Das Gesetz aus dem Jahre 1889 sah eine andere Regelung vor. Alljährlich wurde durch Erlaß die Zahl der Einwanderer bekanntgegeben, für die der Staat Subventionen zu zahlen bereit war; im Rahmen dieser Zahl war jede Schiffsgesellschaft befugt, Einwanderer in der dritten Klasse zu befördern, und für jeden erhielt sie dann, sofern es sich tatsächlich um Bauern handelte, ein Prämie. Zwischen 1887 und 1906 nahm São Paulo mehr als 1200000 Einwanderer auf. Man bemühte sich darum, Männer mit ihren Familien hereinzuholen, um die Gefahr ihrer Rückkehr ins alte Land zu bannen. Der Staat trat als Vermittler zwischen Fazendabesitzern und Einwanderern auf und suchte gegenseitige Garantien aufzustellen. Dank dieser gab es nun ausreichende Verdienstmöglichkeiten für die colonos, um den stetigen weiteren Zustrom von Einwanderern zu gewährleisten. Diejenigen, die einmal im Lande waren, neigten sehr stark dazu, häufig von einer Plantage zur anderen zu wechseln, und nach einer gewissen Zeit zog es viele von ihnen in die Stadt, in Mittelstädte und in die Großstadt São Paulo selbst, deren jährliche Wachstumsrate gegen Ende des 19. Jahrhunderts sogar die von Chikago in seinen besten Zeiten übertraf. Die zunehmende Einwanderung nach São Paulo stand in engstem Zusammenhang mit der Expansion und den guten Absatzbedingungen der Kaffeeproduktion. Im Jahre 1900 überwogen zum ersten Mal in der Ein- und Auswanderungsstatistik die Ausreisen gegenüber den Einreisen. Das gleiche Phänomen wiederholte sich in den Jahren 1903 und 1904: manche Einwanderer kehrten nach Europa zurück, andere übersiedelten nach Argentinien. In Argentinien sorgten die Besiedlungspläne für die Bereitstellung von Subventionen und Parzellen für den Anbau landwirtschaftlicher Erzeugnisse. Damit setzte in diesem Staat die Entwicklung ein, in deren Verlauf er bis ungefähr zum Jahre 1914 ein großes Getreideausfuhrland wurde. Aber auch hier gab es Faktoren, die statt zu einer völligen Verwurzelung des Einwanderers auf

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dem Lande dazu führten, daß er in die Städte abwanderte. Einerseits erwies sich die in den ersten Plänen für die Familienbewirtschaftung veranschlagte Bodeneinheit als zu klein, andrerseits gelang es dem Großgrundbesitzer immer wieder, die landwirtschaftlichen Einwanderer auf die eine oder andere Weise für seine eigenen Pläne auszunutzen, »den Boden mit Gringos (europäischen Einwanderern) zu düngen«, um mit einem bildhaften Ausdruck jener Tage zu sprechen. Er trat ihnen für drei Jahre Land ab, mit dem Recht, drei aufeinanderfolgende Ernten einzubringen, und der Verpflichtung, eine LuzerneAussaat zu hinterlassen, wenn sie dann das Land wieder aufgeben mußten. Auf diese Weise erhielt er bessere Weiden, das Land war nun für die Viehzucht wieder in besserem Zustand.

 Abb. 9: Italienische Einwanderer in Buenos Aires, 1904

Die Auswirkungen der Einwanderung auf das demographische Gefüge waren von ausschlaggebender Bedeutung als eine Augenblickslösung für das Problem der Arbeitskräftebeschaffung, das mit der wirtschaftlichen Expansion aufgetaucht war.20 Unter den Einwanderern waren jene im besten, arbeitsfähigen Alter und die Männer den Frauen gegenüber klar in der Überzahl. Chronologisch lassen sich fünf Schwerpunkte der Einwanderungsbewegung aufzählen: 1. Paraná-Provinzen (Santa Fe, Entre Ríos, Corrientes). Die Umstellung dieser Provinzen auf den Getreideanbau fiel zeitlich mit dem Zustrom ausländischer Einwanderer zusammen.

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2. Provinz Buenos Aires. Hier erfuhr die Landwirtschaft einen gewissen durch die Viehwirtschaft bedingten Aufschwung. 3. Córdoba. Mit der Ausweitung des Getreideanbaus stieg die Zahl der ausländischen Bewohner merklich an. 4. Mendoza. Nach 1890 kam es zu einer Ansiedlung ausländischer Einwanderer in beachtlichem Umfang. Dies wirkte sich sehr nachhaltig auf die Entwicklung des Anbaus und der Bereitung des Weines aus. 5. Nationalterritorien. Dorthin wanderten im allgemeinen Minderheitengruppen ein, zu denen sich bereits vorher in Argentinien ansässige Ausländer gesellten, die erneut ihr Glück versuchen wollten. So erhielten zum Beispiel der Chaco und die Provinz Misiones einen erheblichen Nachschub aus der Provinz Corrientes. Diesen Angaben kann noch zusammenfassend hinzugefügt werden: a) Es gab eine positive Wechselbeziehung zwischen der Niederlassung von Ausländern und dem allgemeinen Bevölkerungswachstum in den verschiedenen Landesteilen. b) Berücksichtigt man lediglich die ländliche Bevölkerung, so war der Prozentsatz an Ausländern in den Ackerbaugebieten höher als in den Viehzuchtgebieten. c) In der ersten Phase (zwischen den Volkszählungen von 1869 und 1895) war der Zusammenhang zwischen dem Wachstum der ländlichen Bevölkerung und der Zunahme des ausländischen Bevölkerungsanteils stärker ausgeprägt als in der zweiten Phase (zwischen den Volkszählungen von 1895 und 1914). In dieser zweiten Phase war dieses Phänomen in größerem Maße bei der städtischen Bevölkerung zu verzeichnen. Dies ist ein weiterer Beweis für die Tendenz der ausländischen Einwanderer, in die städtischen Zentren abzuwandern. d) Ganz allgemein stand der Prozentsatz an Ausländern unter der Bevölkerung in direkt proportionalem Verhältnis zum Grad der Verstädterung in den einzelnen Gebieten. Der Prozeß der Eingliederung des Einwanderers in die Produktion kann in zwei Etappen unterteilt werden. In der ersten Etappe (bis 1880) setzte die Einwanderung ein. Geplant war die Ansiedlung bäuerlicher Kleinbesitzer. In den Paraná-Provinzen sind in dieser Hinsicht einige Erfolge zu verzeichnen. In der zweiten Etappe (nach 1880) richtete sich das Hauptinteresse darauf, zahlreiche Arbeitskräfte zu beschaffen, um eine landwirtschaftliche Massenproduktion zu ermöglichen. Die Lage des Neueingewanderten, der als Pächter oder peón (landwirtschaftlicher Lohnarbeiter) nicht fest auf dem Lande verwurzelt wurde, trug zur Abwanderung in die Städte bei, wo er sich anderen Erwerbstätigkeiten, insbesondere dem Handel, zuwandte. Was die Sozialstruktur anbelangt, so beeinträchtigte der Zustrom an Einwanderern weder die Lage noch die Interessen der traditionellen Oberschicht der Grundbesitzer. Die Neuankömmlinge, vom Verlangen nach Besserstellung

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und sozialem Aufstieg beseelt, trugen zwar zur Entstehung neuer Möglichkeiten der sozialen Mobilität bei, ließen aber dabei die traditionelle Struktur des Sozialgefüges unangetastet. Ihrer Eingliederung in den Produktionsprozeß entsprechend lassen sich die europäischen Einwanderer in drei Kategorien unterteilen: ungelernte Arbeiter; Facharbeiter und Techniker; Unternehmer. Die aufblühende Getreidewirtschaft, der Ausbau des Eisenbahnnetzes und die wachsenden städtebaulichen Arbeiten erforderten zu jener Zeit in Argentinien vor allem ungelernte Arbeiter in großer Zahl. Der Bedarf an Facharbeitern und Technikern war begrenzt, da sich die Produktionssteigerung vorwiegend in der Land- und Viehwirtschaft vollzog. Der durch den Aufschwung in diesen Wirtschaftszweigen produzierte Reichtum zerrann durch hohe Frachtkosten, schlechte Kommerzialisierung und die luxuriöse Lebenshaltung der Großgrundbesitzer, so daß nur ein verschwindend geringer Teil für die Investition in Kapitalgütern übrig blieb; der Bedarf an Facharbeitern und Technikern war also äußerst gering. Dagegen läßt sich feststellen, daß die unverhältnismäßig hohen Aufwendungen für städtische, öffentliche und private Bautätigkeit und der gesamte, nicht unmittelbar auf die Einfuhren angewiesene Luxuskonsum (ein gewiß nicht unbeträchtlicher Teil) dem Europäer reiche Beschäftigungsmöglichkeiten boten. Die unternehmerische Tätigkeit der Einwanderer entfaltete sich überall dort, wo Tüchtigkeit, Initiative und der Drang nach sozialem Aufstieg im Lande selbst auf günstige Voraussetzungen stießen. Der Unternehmertätigkeit europäischer Einwanderer muß ein hoher Anteil am Entstehen der argentinischen Industrie zugesprochen werden, insbesondere dann, wenn man die Zahlen der Volkszählungsstatistiken wohlwollend interpretiert. Aus einer ersten Analyse dieser Zahlen ergibt sich, daß im Jahre 1895 81,83% der 24114 Fabrikbesitzer Ausländer sind. Die entsprechenden Zahlen aus dem Jahre 1914 sind 47246 Fabrikunternehmer, davon 64,30% Ausländer. Dabei handelte es sich jedoch nicht um eine Fertigwarenindustrie, sondern überwiegend um eine Rohstoff- und Nahrungsmittelindustrie. Abgesehen von der Bedeutung der Gefrierfleischfabriken ist der Aufschwung gewisser Industrien zu beachten, die sich traditionell dem Bauwesen, der Produktion von Nahrungsmitteln und Bekleidung widmeten. Nach der weltweiten Krise des Jahres 1890 scheinen die durch sie verursachte Armut und Verknappung zur Entwicklung gewisser Konsumgüterindustrien, besonders in der Provinz Buenos Aires, beigetragen zu haben. So entstanden Raffinerien, Brennereien, Bierbrauereien, Papierfabriken und andere mit europäischen Maschinen, Produktionsmethoden und Arbeitskräften arbeitende Betriebe. Für eine einfache Expansion der Wirtschaft ohne weitere Entwicklung hätte lediglich der Zustrom von Ungelernten und einer geringen Anzahl von Facharbeitern ausgereicht. Aber eine ganze Reihe von Faktoren, die näher analysiert werden müssen, übten einen ganz bestimmten Einfluß aus. Die Eingliederung bedeutender Menschenmassen, die einen hohen Grad von

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Unternehmungsgeist und eine starke berufliche und soziale Mobilität aufwiesen, schuf die Voraussetzungen für eine weitere Entwicklung. Aber die Eingliederung dieser nach sozialem Aufstieg und einem besseren Lebensstandard strebenden Massen in ein Milieu, dessen Wirtschafts- und Sozialstrukturen unangetastet blieben, trieb alle diese Menschen in die Stadt, ließ sie ihren Unterhalt und ihre Aufstiegschancen dort im Handelswesen und anderen Wirtschaftszweigen suchen, die jenem bereits erwähnten künstlich aufgeblähten tertiären Wirtschaftssektor zuzurechnen sind. Die Möglichkeit, sich im Handel zu betätigen (die Spannweite reichte dabei vom einfachen Hausierer bis zu den Imperien der Großhandelsunternehmer), beeinflußte die wirtschaftliche Entwicklung außerordentlich. Die Einwanderer machten sich die Erfahrungen und manchmal auch die Unterstützung ihrer Landsleute, die Möglichkeit, ohne Risiko oder größeres Kapital etwas aufzubauen, und zuweilen auch die Kenntnis von den Gesetzen inflationärer Vorgänge zunutze. Nicht umsonst überstanden viele von ihnen solche Vorgänge am besten, weil sie sie für ihre Spekulationen ausnutzten. Die von der europäischen Einwanderung hervorgerufenen Änderungen berührten, wie gesagt, die Fundamente der traditionellen Gesellschaftsordnung nicht, sondern überlagerten sie. Der Einwanderer war stets bereit, neue Wege einzuschlagen, um seine Lage zu verbessern. Die Angaben aus den Volkszählungsstatistiken lassen die große berufliche Mobilität dieser Kreise nicht deutlich genug in Erscheinung treten. Nehmen wir ein extremes, aber anschauliches Beispiel. In einem 1912 veröffentlichten Buch berichtet F. Serret, ein französischer Einwanderer, sein erster Beruf in Buenos Aires sei der eines ungelernten Gießereiarbeiters gewesen, nach einer kurzen Verwandlung in einen Plakatmaler (ein Beruf, von dem er nichts verstand) habe er sein Glück mit der Erteilung von Mathematik- und Französischunterricht versucht. Aber auch dies blieb eine flüchtige Erfahrung und endete damit, daß er Sackträger in Zárate wurde, aber nur für zwei Tage. Er arbeitete als Mechaniker in einer Sägemühle in Córdoba, als Krämer, Bäcker und Maultiertreiber, als Bergmann in Salta, Apothekersgehilfe, Tapezierer und später als Kunstmaler, als Koch in La Quiaca, und schließlich bewarb er sich auf ein Zeitungsinserat hin um eine Stellung als Ingenieur, ein Beruf, für den er die gleichen Voraussetzungen mitbrachte wie für die vorher ausgeübten. Das Aufstiegsstreben der Einwanderer trug am stärksten zur Entstehung einer Mittelklasse und in manchen Fällen zur Bildung großer Vermögen bei. 6. Monokultur und Gesellschaft Wir haben gesehen, wie sich unter dem massiven Einfluß des europäischen Kapitalismus das Leben in Lateinamerika in mancher Hinsicht wandelte und nach und nach einen neuen Rahmen für die Beziehungen zur alten Welt schuf. Die neuen von Europa ausgehenden Impulse wurden auf mannigfaltige Weise in tiefgreifenden sozialen Umwälzungen sichtbar.

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Bekanntlich hatte Lateinamerika aus der Kolonialzeit Grundbesitzverhältnisse übernommen, die auf dem Latifundium als vorherrschender Form landwirtschaftlicher Nutzung beruhten, ein System, zu dessen Herausbildung nicht wenig beigetragen hatte, daß die geringe Anzahl der ersten Siedler sich einem überreichen Angebot von eingeborenen und afrikanischen Arbeitskräften gegenübersah, die sehr leicht der Zwangsarbeit unterworfen werden konnten. Aber das koloniale Latifundiensystem konnte nur dann erfolgreich funktionieren, wenn Produkte erzeugt wurden, nach denen eine beständige Nachfrage vorhanden war, ohne daß Transportschwierigkeiten sich allzustark auf eine Erhöhung der Betriebskosten auswirkten. Von allen Formen monoproduktiver kolonialer Latifundien ist wohl die Zuckerrohrplantage des brasilianischen Nordostens als die repräsentativste anzusehen. Die große mexikanische Hazienda wich dagegen etwas vom allgemeinen Bilde ab, weil sie unabhängiger und eher in der Lage war, sich selbst zu erhalten. Die Zeiten änderten sich, es entstand neuer Bedarf, und dieser bewirkte einen anderen Rhythmus im Wirtschaftsleben, dem es sich anzupassen galt. Die europäischen Industriezentren als Schwerpunkte einer neuen Entwicklung übten in dieser Hinsicht einen richtungweisenden Einfluß aus. Die in Expansion befindliche Industriewelt war an einer größeren Produktionsdynamik bei der lateinamerikanischen Gesellschaft interessiert (ob dies nun dadurch erreicht werden mochte, daß man die Kreolen und die Eingeborenen auf irgendeine Weise aus der ihnen herkömmlich zugeschriebenen Indolenz herausriß, oder dadurch, daß man ihnen in der Form wachsender Einwandererkontingente, die, aus der alten Welt kommend, den Ozean überquerten, frisches Blut zuführte). Der neue Anreiz zur Produktion von Gütern, die Europa benötigte, sowie die stetig wachsende Anzahl derer, die mit ihrer Erzeugung beschäftigt waren, mußten gleichzeitig die Absatzmöglichkeiten für europäische Konsumgüter in Lateinamerika steigern, was neue Gewinnmöglichkeiten versprach. Ein Teil der europäischen Ziele konnte eindeutig erreicht werden. Andere Objekte mußten sich dem Widerstand lokaler Gegebenheiten anpassen und erlangten somit nicht den gewünschten Erfolg. Wenn jene, die den Sklavenhandel bekämpft und die Aufhebung von Sklaverei und Leibeigenschaft des Negers gefordert hatten, damit lediglich den Zweck verfolgten, der Lohnwirtschaft zum Durchbruch zu verhelfen (die weite Bevölkerungskreise in die Lage versetzen sollte, Konsumenten auf jenem großen Weltmarkt zu werden, welchen die europäische Industrie gerade zu schaffen begann), so mußten sie nun enttäuscht zusehen, daß die so bewirkten sozialen Veränderungen nicht dem angestrebten Ziel entsprachen; vielmehr gliederten sich große Menschenmassen nicht der Lohnwirtschaft ein, sondern kehrten zur geschlossenen Hauswirtschaft zurück oder wanderten in die großen Städte ab, wo sie unter den ärmlichsten Bedingungen lebten. Eine zweite Enttäuschung mußte, wenn auch erst auf längere Sicht, die Einwanderungsbewegung mit sich bringen. Jene Arbeitskräfte, von denen man

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so viel für eine Steigerung der Rohstofferzeugung erhofft hatte, zogen es oft vor, in den neuen städtischen Siedlungszentren zu bleiben, und in einigen Fällen riefen sie dort sogar einheimische Industrien ins Leben, die bald gegen das alte System der internationalen Arbeitsteilung aufbegehren sollten. Was tatsächlich Erfolg brachte, war die Übereinstimmung zwischen den Hauptanliegen der europäischen Nachfrage und den Zielen der Besitzer großer, auf Export-Monokulturen spezialisierter Plantagen. Expansion der Monokultur bedeutete fast immer auch Expansion des Latifundismus. Aber in der gleichen Form wie die Technisierung und die neuen wirtschaftlichen Gegebenheiten zu einem Wandel innerhalb des traditionellen Großgrundbesitzes geführt hatten, brachte jene Expansion auch noch andere Umwälzungen mit sich. Die größere oder geringere Fähigkeit, diese Veränderungen mitzuvollziehen, entschied letztlich darüber, welche Rolle jeder einzelnen Region einmal zufallen sollte. Als repräsentative Beispiele für eine Aufwärtsentwicklung lassen sich die Viehzuchtgroßfarm in den argentinischen Pampas und die Zuckerrohrplantage in Kuba anführen, während der langsame Verfall des Latifundiensystems in Nordostbrasilien vielleicht ein Ausfluß der Unfähigkeit war, sich neuen Bedingungen anzupassen, zu der in Brasilien die Haltung der Großgrundbesitzer in den Kaffeeanbaugebieten in wirkungsvollem Gegensatz stand. Worin bestand nun, besonders in sozialer Hinsicht, der Kern des Problems? Das monokulturelle Latifundium einerseits und andererseits die mit dem Transport seiner Erzeugnisse betrauten Wirtschaftszweige verlangten nach Arbeitern, nach großen Mengen von Arbeitskräften, was den weitreichenden Prozeß in Gang brachte, den wir im vorigen Kapitel untersucht haben. Darüber hinaus muß nun noch erwähnt werden, auf wie verschiedene Weise man zusätzlich versuchte, sich die notwendigen Arbeitskräfte zu sichern. In den ländlichen Bezirken hatte das durch Gesetz erzwungene allmähliche Erlöschen der Zwangsarbeit nicht den abrupten Sieg der Lohnwirtschaft zur Folge; es ergaben sich vielmehr Übergangsformen und in mehr als einem Fall die verschiedensten Grade versteckter Zwangsarbeit: in der Form des inquilinoSystems in Chile, der huasipungueros in Ekuador oder der colonos in Brasilien und Bolivien. Alle diese Formen waren mit harten Forderungen nach Dienstleistungen auf der Pflanzung des patrón, des Plantagenbesitzers, verbunden, denen nur das Recht des Abhängigen gegenüberstand, eine kleine Parzelle für den eigenen Bedarf zu bebauen. Hier lassen sich unschwer charakteristische Eigenschaften der ehemaligen Frondienste des europäischen Feudalsystems wiedererkennen. Als Extremfall noch in jüngster Zeit sei Bolivien erwähnt, wo vor der Agrarreform (begonnen im August 1953) dem ›Pächter‹ für den Unterhalt seiner Familie fünf oder zehn Hektar Land der schlechtesten Qualität zur Verfügung gestellt wurden, eine Wohnhütte und das Weiderecht für eine Kuh und ein Pferd; dafür mußte er drei bis fünf Tage pro Woche auf den Ländereien des Besitzers arbeiten, ein bis zwei Wochen pro Jahr im Stadt- oder

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Landhaushalt des Herrn Dienste leisten, seine persönlichen Verkäufe durch den Besitzer tätigen lassen und beim Abtransport der Erzeugnisse der Hazienda helfen. In vielen Ländern wurden nach der Unabhängigkeitserklärung Gesetze und Verordnungen erlassen, um jede Art von Müßiggang zu beseitigen. Sie alle verfolgten vor allem das Ziel, die Eingliederung der gesamten Bevölkerung in den Produktionsprozeß zu beschleunigen. Als sich die Exportwirtschaften auf der Basis des Latifundiensystems durchsetzten, behinderte die Monoproduktion in der Praxis die Anwendung der Freiheiten und der Gleichheit aller vor dem Gesetz, welche die liberal eingestellten Schöpfer der Verfassungen einzuführen trachteten; zuweilen wirkte sie sich sogar gerade gegenteilig aus. Ein weiteres negatives soziales Kennzeichen dieses Systems war seine Neigung dazu, weite Kreise der Bevölkerung in einem Zustand versteckter Arbeitslosigkeit zu halten. Die Arbeitgeber sahen keinen Grund, warum sie die Erntearbeiter oder die nur zeitweise für landwirtschaftliche Arbeiten benötigten Kräfte ständig unterhalten sollten, weshalb diese periodisch zu einer wenig ertragreichen Bedarfsdeckungswirtschaft zurückkehrten, von gelegentlichen paternalistischen Gesten ihrer Arbeitgeber abhingen oder, unter dem Druck der Notwendigkeit, zu illegaler Tätigkeit übergingen. Die den Eingeborenen gewährte rechtliche Gleichstellung diente in mehr als einem Fall lediglich dazu, sie noch schneller von den Ländereien zu vertreiben, die ihre Gemeinschaften traditionsgemäß innegehabt hatten. Die Gewährung des Stimmrechtes an die Bauern stärkte die Macht der GroßgrundbesitzerOligarchien nur noch mehr, denn die Wahlstimme wurde zu einem weiteren Objekt im Handel um Leistungen und Gegenleistungen zwischen Bauer und Grundbesitzer. In jener Zeit stand der Latifundismus als soziales und wirtschaftliches System in Lateinamerika in voller Blüte. Daß es eine so gute Ergänzung zu den europäischen Wirtschaften darstellte und von dort große Kapitalmengen in Form von Investitionen hereinströmten, trug nicht eben dazu bei, einen Wandel in dieser auf dem Latifundium beruhenden Struktur zu fördern, sondern führte nur zur weiteren Konsolidierung dieses Systems. Ein klares Beispiel dafür ist die folgende Tatsache: während die Expansion dieser monoproduktiven Wirtschaften (die eindeutig rein kapitalistischen Impulsen zu verdanken war) sich vollzog, herrschte in den ländlichen Gebieten stets ein solcher Mangel an Bargeld, daß sich Bräuche wie die Entlohnung in Form von Gutscheinen und die Belieferung mit Waren allein aus den Lagern des Grundbesitzers halten konnten, die natürlich zahlreichen Mißbräuchen Tür und Tor öffneten. Das Latifundium muß unter zwei sehr verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet werden. Je nachdem, welchen von beiden wir wählen, werden sie Ausgangspunkte verschiedener Überlegungen. Wie wir bereits vorwegnahmen,

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war der Großgrundbesitz als Produktionssystem in erster Linie die unmittelbare lateinamerikanische Ergänzung zur Expansion des europäischen Industriekapitalismus. In dieser Hinsicht tendierte das Latifundium zur Modernisierung, und in mehr als einem Fall ging der Kampf zwischen alten und neuen Produktionsmethoden zugunsten der letzteren aus. In sozialer Hinsicht zeichnete sich dieser Wandel durch das allmähliche Aussterben des traditionellen Archetyps des patrón aus, der guter und schlechter Regungen fähig, aber durch persönliche Bindungen und kulturelle Interessen eng mit seiner Umgebung verbunden war. Der patrón alter Prägung wurde nach und nach von Unternehmern und Gesellschaften verdrängt, die, weniger im Lande verwurzelt und von klarem Gewinnstreben beseelt, Neuerungen einführten, die bei den Produktionsmethoden einsetzten und bei der Verbesserung der Kalkulationsmethoden aufhörten. Wenn wir einen Augenblick lang diese anfängliche Rolle des Latifundiums als Produktionssystem zur Befriedigung der europäischen Nachfrage vergessen und dazu übergehen, eine zweite Rolle näher zu untersuchen, die es im gleichen Zeitraum spielen sollte, so läßt sich ein gewisser Gegensatz der Auswirkungen beobachten, die aber nichtsdestoweniger dem Mangel an Logik in der Entwicklung Lateinamerikas entsprechen: während das europäische Kapital in Form von Anleihen und Investitionen verschiedenster Art nach Lateinamerika floß und zur Mechanisierung in Landwirtschaft und Bergbau beitrug, fehlte es dem einheimischen Kapital nicht nur an Wagemut, sondern auch an der geeigneten Information; es besaß keinen Pioniergeist und auch nicht die Verbindungen und die Macht des ausländischen Kapitals. Dazu kam die Unsicherheit von inflationären Vorgängen erschütterter Wirtschaften, weshalb sich der Kreole verzweifelt wieder dem Grunderwerb als dem einzigen sicheren und Geltung verschaffenden Mittel zur Kapitalanlage zuwandte. Erzielte man gute Gewinne, nun, dann legte man sie im Erwerb neuer Ländereien an. Was war die beste Belohnung für politische Verdienste und militärische Tapferkeit? Grund und Boden. Wer war in den Augen der angesehensten Banken am kreditwürdigsten? Die Grundbesitzer. Und was taten diese im allgemeinen mit den gewährten Krediten? Sie erwarben natürlich noch mehr Land. Das Resultat dieser Einstellung war, im Unterschied zu vorher angeführten Beispielen, folgendes: da der Boden als etwas mehr als nur ein Faktor innerhalb eines Produktionssystems angesehen wurde, da er ein oberster Wertmesser und ein Wert an sich war, wirkte sich in vielen Fällen die Vermögensanlage in Grund und Boden außerordentlich nachteilig auf die Produktivität der Ländereien aus; manche von ihnen wurden aus spekulativen Erwägungen überhaupt nicht genutzt; man wartete ihre Aufwertung ab. Dieser Gegensatz zwischen der Rolle, die der Großgrundbesitz im Wirtschaftsleben einmal als Produktionssystem, einmal als Vermögensanlage spielt, wird leichter verständlich, wenn man gleichzeitig die Rolle des

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traditionellen und die des modernisierten Latifundienbetriebs berücksichtigt, der sich schneller der kapitalistischen Wirtschaft eingliederte (indem er den überlebten Feudalismus abstreifte), und wenn man zugleich die je nach Landstrich und Anbauprodukt sich ergebenden Unterschiede beobachtet. Gerade deswegen ist es auch angebracht, den Aufstieg und das soziale Ansehen nicht zu vergessen, das einige Großgrundbesitzer in jener Epoche erreichten. Wohlbekannt sind etwa um die Jahrhundertwende der Fall des millionenschweren argentinischen Viehzüchters oder die großen Vermögen, die mit Zucker in Kuba gemacht wurden, wie auch die märchenhaft reichen Haziendas des vorrevolutionären Mexikos. Geschicklichkeit und Unternehmungsgeist dieser Gewaltigen waren allen naiven Maßnahmen überlegen, mit deren Hilfe man versuchte, ihnen Einhalt zu gebieten.

Der Bergbau Zur Kolonialzeit war der Bergbau mit primitiven Methoden und Zwangsarbeit betrieben worden. Der Unabhängigkeitskampf beeinträchtigte nicht nur vorübergehend die Förderung von Mineralen, sondern hatte weit tiefere Auswirkungen. Die neue Bergbautätigkeit wandte sich nicht mehr ausschließlich den Edelmetallen zu, sondern interessierte sich, aufgrund des technischen Fortschritts und der besseren Transportmöglichkeiten, auch für andere Erze. Seit dem Krimkrieg (1854–56), der die traditionelle Belieferung der westlichen Länder mit Kupfer aus Rußland in Mitleidenschaft zog, wuchs das europäische Interesse am chilenischen Kupfer, wenngleich es noch lange dauerte, ehe dieses Erz einen bevorzugten Platz unter den chilenischen Exporten einnahm. Vorher war Chile hauptsächlich auf den Salpeterexport angewiesen. Bei den Versuchen des Präsidenten José Manuel Balmaceda (1886–91), die Salpetervorkommen zu verstaatlichen, und bei der sogenannten Konterrevolution vom Jahre 1891, die den Präsidenten stürzte (und letzten Endes seinen Selbstmord verursachte), hatte englisches Kapital seine mächtige Hand im Spiel. Der Salpeterreichtum verschaffte vielen Persönlichkeiten Vermögen und Macht. Eine der bekanntesten ist die abenteuerliche Gestalt des John Thomas North (1842–96), des ›Salpeterkönigs‹, der ein Wirtschaftsimperium gründete und es bis ans Ende seiner Tage regierte. Die Salpeter-, die Silber- und vor allem die Kupfergewinnung ließen in Chile eine Arbeiterschicht entstehen, die in steigendem Maße und auf verschiedenste Weise die soziale Agitation ausübte, bis sich die modernen Methoden gewerkschaftlicher Aktion herausbildeten. In der ersten Zeit nach der Erlangung der Unabhängigkeit hatte bereits ausländisches Kapital im allgemeinen entscheidenden Anteil an der Bergbautätigkeit in Lateinamerika. Verschiedene Ursachen hatten diesen Umstand begünstigt: Die relativ starke staatliche Beteiligung zur Kolonialzeit ließ jetzt nach, und andrerseits waren natürlich

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ausländische und nicht einheimische Interessen für die Förderung des Bergbaus ausschlaggebend. Ein soziales Erbe, das tiefe Spuren noch im politischen Leben des 20. Jahrhunderts hinterließ, ergab sich aus der Tatsache, daß die Bergbauzentren zu Brennpunkten sozialer Spannungen wurden, die das politische Geschehen der jeweiligen Länder stark beeinflußten. Da ist das Beispiel Chiles mit seiner stark ausgeprägten Linken; Bolivien mit seinen sozialen Auseinandersetzungen, einer Mischung aus Eingeborenenaufstand und revolutionärer Gewerkschaftsbewegung unter Berufung auf Karl Marx und Tupac Amaru (peruanischer Kazike, der 1780/81 einen weitreichenden, aber erfolglosen Aufstand gegen die Spanier anführte) zugleich; oder endlich Venezuela, wo man eine Lösung darin gefunden zu haben scheint, daß man die Agitation der Erdölarbeiter durch eine hohe Beteiligung an den Gewinnen, die ihnen einen höheren Lebensstandard als allen andern Arbeitern sichert, in gemäßigte Bahnen zu lenken versucht. Die Plantagen Die Plantagenwirtschaft litt auch unter den Auswirkungen der Unabhängigkeitskriege, mehr aber noch unter dem Verbot, Afrikaner einzuführen, und dann unter der völligen Abschaffung der Sklaverei. Doch blieben die Plantagen weiter bestehen, und es bildete sich der moderne Typ einer nach den Prinzipien der kapitalistischen Wirtschaft betriebenen Plantage heraus. In sozialer Hinsicht ist zu beachten, daß das 19. Jahrhundert einen starken Verfall der traditionellen Pflanzung mit sich brachte. Wie der Bergbau, so führte auch die Plantagenwirtschaft zur Ansammlung großer Menschenmassen, die in gegebenen Augenblicken zum Radikalismus und zum Aufstand bereit waren. Gewisse Züge der kubanischen Revolution im 20. Jahrhundert, die soziale Unruhe und Agitation in Nordostbrasilien und, in geringerem Ausmaß, die einheitlich vorgetragenen Forderungen der Zuckerarbeiter in Nordargentinien sind nur zu erklären, wenn man bedenkt, daß in diesen Vorgängen jahrzehntelang aufgestaute soziale Spannungen zum Ausbruch kommen. Die Sozialstruktur Eines der auffälligsten Merkmale dieser Epoche war der Gegensatz zwischen einer Grundbesitzer-Minderheit, die in manchen Ländern Lateinamerikas zu großer Macht aufstieg, und der übrigen Bevölkerung, deren niedriger Lebensstandard an den der vormaligen Zwangsarbeiter erinnert. Die Akzente waren hierbei, wie wir noch sehen werden, in den einzelnen Regionen verschieden verteilt, sei es, weil dem Großgrundbesitz geringere Bedeutung zukam, sei es, weil der europäische Einwanderer ins Spiel kam. Wir wollen mit zwei Zeugnissen aus jener Epoche beginnen, die ein Beispiel dafür sind, welchen Eindruck diese Oberschichten bei manchen Europäern hinterließen.

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Um 1907 schrieb Pierre Denis: »In Brasilien gibt es etwas, das in den Vereinigten Staaten und in Argentinien fehlt: eine echte Aristokratie: dies ist das Vorrecht bereits altgewordener Gesellschaften. Das politische Leben ist wirklich völlig demokratisch organisiert, und ich bin überall tiefer demokratischer Überzeugung begegnet. Aber weder Verfassung noch Theorien vermögen etwas gegen die Geschichte auszurichten. Abgesehen von den Südstaaten, wo im 19. Jahrhundert die Einwanderung aus Europa sehr beträchtlich war, findet man überall neben der Arbeiterklasse (vor allem Negern und Mestizen) eine Führungsschicht fast rein portugiesischer Herkunft. Fast überall gehört ihnen der Grund und Boden.« Weiter schilderte der Autor den Unterschied zwischen den traditionellen Großgrundbesitzern und den Besitzern von Kaffeeplantagen in São Paulo und schloß sich dem weitverbreiteten Gefallen am ländlichen Leben auf den Plantagen an (»die so etwas wie ein Mittelding zwischen einer Familie und einem Königreich darstellen«). »Dieser Landadel«, so fährt er fort, »genießt nicht nur das höchste gesellschaftliche Ansehen, sondern hat auch die politische Macht. Brasilien hat zwar das allgemeine Wahlrecht eingeführt, doch das souveräne Volk vertraut, bevor es seine Souveränität an die Volksvertreter delegiert, zuerst einmal der herrschenden Oberschicht die Aufgabe an, es bei der Ausübung seines Wahlrechtes zu führen und zu leiten. Die Großgrundbesitzer wählen die Kandidaten aus, und ihre Instruktionen werden allgemein befolgt. Sie bilden den Kern alles dessen, was man eine politische Partei nennen könnte, alle Macht und alles Leben liegen in ihren Händen; sie sind es, die Brasilien regieren und verwalten.«21 Das Zeugnis eines anderen Franzosen, P. Baudin, aus den Anfängen unseres Jahrhunderts, berichtet uns (mit ein wenig Übertreibung), wie festgefügt die Grundbesitzer-Oligarchie in Argentinien ist: »Nicht mehr als zweihundert Familien bilden den festen Grundstock der Oligarchie. Die Geschichte beginnt mit ihnen. Ausschließlich sie werden Argentinien bis zu jenem Tage lenken, da es, dicht bevölkert und in voller Lebenskraft, ohne Schwierigkeiten dem Beispiel der europäischen Demokratien und der großen Republik in Nordamerika folgen und seine Lenker und Staatsmänner der breiten Masse des Volkes entnehmen kann. Ihre eifersüchtige Wachsamkeit nimmt zuweilen autoritäre Züge an. Ihre republikanischen Institutionen darf man nicht allzu ernst nehmen. Aber wer wollte sie tadeln, weil sie sich wehren? Die Oligarchie respektiert gewissenhaft die persönliche Freiheit und Initiative, aus der sie selbst mehr Nutzen zieht als der einzelne. Ihr Wohlstand hängt davon ab; doch ihre unmittelbare Sicherheit und die Sorge um die Zukunft gebieten ihr auch, sich vor den Übergriffen von Abenteurern und Agitatoren zu schützen ... Diese Gesellschaft ist gleichzeitig sehr exklusiv und sehr aufgeschlossen. Sie bewahrt die Gewohnheiten von Klassen, die aus unserer Gesellschaft längst verschwunden sind. Gleichzeitig gewährt sie dem Gleichgestellten Zugang, auch wenn er Ausländer ist. Derart gefügt, ist sie sehr

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stark und trägt mit Weitblick und Mut die Verantwortung, die ihre Mission mit sich bringt.« Als Beweis für die ausgezeichneten Eigenschaften, die der Autor bei der guten Gesellschaft in Argentinien zu entdecken glaubte, führte er eine Abendvorstellung im Colón (dem größten Theater in Buenos Aires) an, bei der solide Moral, guter Ton, »pariserische« Eleganz, »ohne eine falsche Note, ohne einen Anflug von Yankeetum«, und das Zusammengehörigkeitsgefühl der Familien in allem Glanz bei der Feier des Jahrestages der Mai-Revolution (Vorbote der argentinischen Unabhängigkeitsbewegung) zum Ausdruck kamen, oder aber auch in der moralischen Festigkeit, mit der eben diese Aristokraten in Begleitung ihrer Familien am Tage nach einem anarchistischen Attentat wieder das Theater besuchten. In Mexiko stützte sich die Macht der Oberschicht auf die großen Haciendas mit ihren zentral gelegenen weitläufigen Gebäuden. Diese Wohnhäuser dienten zuweilen als Festung, und innerhalb ihrer Mauern bemühten sich die Besitzer der Haziendas, umgeben von einer zahlreichen Dienerschaft, nach europäischem Vorbild zu leben. Sie boten dem Reisenden großzügigste Gastfreundschaft (genau wie die Grundbesitzer-Aristokratie in Brasilien es tat). Die meisten Hazienda-Besitzer hatten in der Stadt einen Palast oder eine luxuriös eingerichtete Wohnung. Nachdem die Schaffung einer Aristokratie mit dem Versuch Iturbides, ein Kaiserreich zu begründen, zugleich gescheitert war, setzte sich die Oberschicht vorwiegend aus geistlichen Großgrundbesitzern und aus solchen, deren Besitz auch Minen einschloß, zusammen. Unter der langwährenden Diktatur des Generals Santa Anna versuchte man den von Iturbide gegründeten Guadalupe-Orden wiederaufleben zu lassen und damit eine Pseudo-Aristokratie zu schaffen, die aber infolge der Revolution von Ayutla (1855) auch keinen Bestand hatte. Trotz der Gesetze über die Säkularisation und Verstaatlichung geistlicher Besitztümer blieb die Feudalstruktur des Landes unverändert erhalten, neue Grundbesitzer wurden in die alte Oberschicht aufgenommen; daneben aber auch bereits einige Engländer und Nordamerikaner, die bei der Ausbeute der Bodenschätze allmählich den Spanier und den Kreolen verdrängten. Ein zweiter Versuch, ein Kaiserreich zu errichten, diesmal unter Maximilian von Österreich, setzte sich ebenfalls das Ziel, eine einheimische Aristokratie zu schaffen, scheiterte aber bald. Unter der Diktatur des Generals Porfirio Díaz (1876–1910) investierten Engländer und Nordamerikaner weiter ihr Kapital, aber nicht nur im Bergbau, sondern auch im Eisenbahnbau und anderen Wirtschaftszweigen, während gleichzeitig eine bedeutende Textilindustrie aufgebaut und eine kräftige Konzentration des Handelswesens geschaffen wurde, wozu vor allem Franzosen den Anstoß gaben. Diese neue, zahlenmäßig kleine Schicht von Ausländern schloß sich dem zahlenmäßig viel größeren Sektor jener Oberschicht an, der sich aus den neuen Großgrundbesitzern, den Nutznießern der der ›Reform‹ folgenden Zeit (d.h. nach der Regierung des Benito Juárez) gebildet hatte.22

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Die neuen großen Haziendas, entstanden im Schütze des Friedens und der Ordnung, die Porfirio Díaz im Lande erzwungen hatte, benötigten nicht mehr die hohen Mauern, die ihnen das Aussehen mittelalterlicher Festungen verliehen. Den Kern des Landgutes bildeten das große Wohnhaus des Besitzers, das Haus des Verwalters, die Unterkünfte für die Angestellten, die Büros, die tienda de raya (raya – Strich, also ein Laden, in dem der peón in der Kreide stand) die Kirche und das Gefängnis. Im Herrenhaus standen viele der Bequemlichkeiten des modernen Lebens zur Verfügung: künstliche Beleuchtung, Warmbäder, Billardzimmer, geräumige Säle, dies alles luxuriös möbliert. In der tienda de raya wurden Decken, Seife, Mais, Bohnen, Branntwein und andere Waren an den peón (landwirtschaftlicher Arbeiter) und seine Familie zu höheren als den Marktpreisen verkauft. Der Lohn wurde in Form von Waren, und wenn noch etwas übrig blieb, der Rest in Münzen der geltenden Währung ausgezahlt. Meist steckte aber der peón tief in Schulden; diese gingen von den Eltern auf die Kinder über, ein besonderer Vorteil für den patrón, der sie auf diese Weise fest an seine Hazienda band. Auch in Kuba war der Großgrundbesitzer die Hauptperson in Wirtschaft und Gesellschaft, wenngleich die erst spät erlangte Unabhängigkeit hier andere Bedingungen für die Beteiligung an der politischen Macht schuf. Um das Jahr 1860 gab es schätzungsweise 1500 Adelsfamilien im Besitz von Zuckerplantagen, doch im Gegensatz zu anderen Ländern Lateinamerikas beklagten sie sich darüber, daß ihr Einfluß an der Schwelle der hohen Beamten der spanischen Verwaltung aufhörte. Die Großgrundbesitzer pflogen ein reges gesellschaftliches Leben und zeigten eine auffallende Neigung zur Prachtentfaltung. Ein Dokument aus jener Zeit ist sehr aufschlußreich. In einem Brief aus La Habana nach New York sucht ein kubanisches Ehepaar »eine Gouvernante oder Erzieherin für die Pflege und Erziehung zweier seiner Kinder im Alter von fünf und sieben Jahren. Sie wünschen eine erstklassige Dame, die möglichst das Französische beherrscht, weil die beiden, der Marquis und seine Gattin, diese Sprache sprechen. Sie soll dreißig bis vierzig Jahre alt sein, und ihre Aufgabe wird darin bestehen, sich um alles zu kümmern, was die Erziehung und Pflege der Kinder angeht. Die Eltern wünschen, jeden Kontakt zwischen den Kindern und den farbigen Dienstboten zu vermeiden«.23 Ein Kaufmann aus Boston schilderte gegen Ende des Jahrhunderts die Verschwendungssucht der kubanischen Pflanzer und den Luxus des Landhauses, in dem er gewohnt hatte, und fügte hinzu: »Das Wohnhaus war mit einem Luxus möbliert, daß es auf der ganzen Insel berühmt war. Im Stall hatten fünfzig Pferde Platz. Das einstöckige Haus hatte mehrere Innenhöfe und nahm eine weite Fläche ein. Oft beherbergte es bis zu hundert Personen ... Die römischen Bäder, aus feinstem Marmor, erreichte man durch eine Allee von Bambusbäumen, deren Zweige sich in 70 Fuß Höhe zu einem Bogen zusammenschlössen ... Das Ganze wirkte wie ein Feenmärchen ... Am Morgen floß Wacholderbranntwein aus einem Brunnen im Garten, und am

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Nachmittag versprühte ein Springbrunnen zum Entzücken der Gäste Kölnisch Wasser.«24 Dem Luxus und dem Reichtum dieser Grundbesitzer-Aristokratie konnte auf der anderen Seite gar nichts anderes gegenüberstehen als eine große Volksmasse, die sich mit einem außerordentlich niedrigen Lebensstandard begnügen mußte. Für Mexiko führt die Volkszählungsstatistik vom Jahre 1895 nachstehende Angaben auf (s.S. 129)25. Die peones (Landarbeiter) waren einem echten Fronarbeitssystem unterworfen. Kaum 6,67%) der niederen Volksschichten besaßen Land. Wenn sie auf der Großhazienda arbeiteten, so mußten sie in Unterkünften fern von den Zentralgebäuden hausen, in elenden, aus Luftziegeln, Holzlatten oder Baumästen (Materialien je nach der Gegend des Landes) gebauten, ein- oder zweiräumigen Hütten ohne Fenster und mit festgestampftem Lehmboden. Tabelle I Gesamtbevölkerungszahl Mexikos: 12698330 Landbevölkerung im Jahre 1895:

Art derErwerbstätige% Beschäftigungund ihre Familienangehörigen Landarbeiter785284280,74 Pächter6494856,68 landw. Handwerker314683,23 ländl. Kleinhändler700260,72 Andere Berufe8386828,63 Insgesamt:9725643100

Im allgemeinen diente derselbe Raum als Küche und Schlafzimmer zugleich. Außer einem kleinen Kohlebecken für die Zubereitung der Maistortillas (eine Art Maisfladen), ein paar irdenen Tiegeln und Tellern und den Gestellen, auf denen der peón, seine Frau und die meist große Zahl der Kinder schliefen, gab es weiter keine Möbel und kein Geschirr. »Streng genommen«, so schreibt Jesus Silva Herzog, »darf man den peón der mexikanischen Hazienda nicht einen Leibeigenen nennen, den Besitzer ausgedehnter Ländereien nicht einen Feudalherren, die Agrarverfassung zur Regierungszeit des Porfirio Díaz nicht als Feudalismus bezeichnen. Sucht man aber nach einer ungefähren Analogie, so ist es nicht völlige Willkür, wenn man die politische, soziale und wirtschaftliche Struktur des flachen Landes im Mexiko jener Zeit mit dem europäischen Feudalismus, den Großgrundbesitzer mit dem Feudalherrn des 17. Jahrhunderts und den peón mit dem mittelalterlichen Leibeigenen vergleicht.«26 Derselbe Autor fügt Angaben hinzu, die es gestatten, eine Erklärung für das Absinken des Lebensstandards in vielen ländlichen Gebieten Lateinamerikas zu

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jener Zeit zu finden. Die Fortschritte der kapitalistischen Wirtschaft und die aus der Expansion der Exportwirtschaft herrührenden Veränderungen führten nämlich zu einem Ansteigen der Preise für lebensnotwendige Güter, eine Erscheinung, der viele Bewohner ländlicher Gebiete hilflos gegenüberstanden, weil sie nicht richtig in die Lohnwirtschaft eingegliedert waren und auch keine geeignete Organisation besaßen, um sich dagegen zu wehren. (Während der europäische Arbeiter dafür sorgte, daß er angemessen entlohnt wurde, waren die einheimischen Arbeiter zu unwissend, um das zu erreichen, und mußten sich weiter die Formen einer Zwangsarbeit gefallen lassen. Sie hatten keine andere Wahl, als untätig zuzusehen, wie ihr Elend wuchs, oder Wegelagerer zu werden.) Nach Angaben von Silva Herzog behielten die Löhne der mexikanischen Landarbeiter bis 1910 den gleichen Stand wie in den letzten Jahren des 18. und den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts, während die Preise für die Hauptnahrungsmittel sich folgendermaßen entwickelten: Tabelle II Änderungen der Preise für Lebensmittel in Mexiko zwischen 1792 und 1908 Art179218921908 Reis, 100 kg$ 7,60$ 12,87$ 13,32 Mais, Hektoliter$ 1,75$ 2,50$ 4,89 Weizen, 100 kg$ 1,80$ 5,09$ 10,17 Bohnen, 100 kg$ 1,63$ 6,61$ 10,84

Die Erhöhung der Lebenshaltungskosten bedeutete natürlich eine enorme Abwertung des Reallohns. Diese Erscheinungen blieben nicht ohne Folgen. Was sich da in Mexiko ereignete, kann als eine der Hauptursachen für den Ausbruch der Revolution im Jahre 1910 betrachtet werden. Etwa um die gleiche Zeit löste ein ähnlicher Prozeß in Nordostbrasilien Aufstände und Massenwanderbewegungen aus. In anderen Ländern trug das Absinken des Lebensstandards auf dem Lande dazu bei, daß sich Unterernährung und Krankheit über ganze Generationen hinweg in der körperlichen Verfassung der Bewohner höchst nachteilig bemerkbar machten. Die Preissteigerungen und fehlenden Möglichkeiten, sich in die Lohnwirtschaft einzugliedern, führten in einigen Fällen dazu, daß der Landbewohner in stärkerem Ausmaß wieder zur geschlossenen Hauswirtschaft zurückkehrte, d.h. daß er versuchte, außerhalb des Systems der Geldwirtschaft so viel wie möglich für seinen Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Schritt für Schritt verwandelten die Umwälzungen des 19. Jahrhunderts das Aussehen der Landkarte Lateinamerikas, auf der sich nun Zonen chronischer Hungersnot abzeichneten wie das bolivianische Hochland und der Nordosten Brasiliens. Im Gefolge der in diesen Gebieten herrschenden Unterernährung

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traten eine ganze Reihe weiterer Erscheinungen auf; zu ihnen gehörten wirtschaftliche und kulturelle Rückständigkeit und unzulängliche sanitäre Verhältnisse, welche die Verbreitung von parasitären und infektiösen Krankheiten begünstigten. Unter den hauptsächlichen und bekanntesten Folgeerscheinungen der Unterernährung ist die erhöhte Anfälligkeit des Menschen für innere Infektionen zu nennen: die Übertragung der Infektionen von einem Organismus auf den anderen wurde begünstigt, und ein normalerweise harmloser pathogener Keim konnte gefährlich werden; sie konnte zur Verringerung der Körpergröße und der physischen Leistungsfähigkeit führen, sowie zu einer Reihe von Mangelkrankheiten (endemischer Kropf, Beriberi, Skorbut, Pellagra, Xerophthalmie usw.). Sie trug auch zu erhöhter Kindersterblichkeit bei, und in ihrem Gefolge traten eine Reihe psychologischer Phänomene, vor allem Apathie und erhöhte Reizbarkeit, auf. Es läßt sich behaupten, daß man im Bestreben, die ländlichen Massen zu beherrschen und auszubeuten, um sie erfolgreicher im Dienst der wirtschaftlichen Expansion des 19. Jahrhunderts einsetzen zu können, bewußt oder unbewußt zur Verbreitung des Alkoholismus und des Kokagenusses beitrug. Der Alkohol spielte eine große Rolle bei den Handelsgeschäften zwischen Weißen und Indianern, auch solchen, die am meisten zum Aufruhr neigten. Diese suchte man oft, zum Beispiel in Argentinien, durch staatliche Lieferungen, die zum großen Teil aus Tabak, Yerba Mate (Paraguay-Tee) und Branntwein bestanden, zu besänftigen und botmäßig zu machen. Mehr als ein Mal wurden Aufstände und Plündereien der Eingeborenen von skrupellosen Weißen angezettelt, die den Indianern im Austausch für gestohlenes Vieh und andere Beutestücke Waffen und Branntwein lieferten. In vielen Grubenbetrieben, auf Pflanzungen und Viehfarmen wurde ein Teil des Arbeitslohnes in Form von Alkohol gezahlt. Wenn auch sein Nährwert gering ist, so bestand doch eine große Nachfrage, und unter gewissen Umständen erhöhte er zuweilen sogar die Arbeitsleistung. In manchen Gebieten mußten die Arbeitgeber ihren Landarbeitern eine bestimmte Menge Koka zusichern. Koka betäubt die Geschmacks- und Verdauungsnerven und wurde natürlich gekaut, weil es – bei unzureichendem Lebensstandard – trotz der Unterernährung notwendig war, die Leistungsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Teilerfolge der landwirtschaftlichen Besiedlung In Lateinamerika ist es nur in Ausnahmefällen zu landwirtschaftlichen Ansiedlungen gekommen, die fähig waren, das Latifundiensystem zu überstehen oder zu ersetzen und einer bodenständigen Mittelklasse Auskommen und Wohlstand zu sichern. Ein erstes Beispiel dieser Art stellt das kleine Costa Rica dar, wo diese Art der Besiedlung sich auf die größere Stabilität demokratischer Lebensformen auswirkte und sogar die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Abwehr der Monopol- und Interventionsbestrebungen der United Fruit Co. bot, die sich in einem Teil des Landes niederließ. Aber der Fall Costa Rica wurzelt

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bereits in der Kolonialepoche, weshalb er nicht in dem jetzigen Zusammenhang behandelt werden soll. In Bezug auf die Periode, die uns hier beschäftigt, müssen wir Beispiele aus gewissen Gegenden Brasiliens und Argentiniens, in geringerem Grade auch aus Chile und Uruguay anführen. Im Hinblick auf Brasilien ist die erste deutsche Besiedlung fruchtbarer Landstriche im Süden, von den Ausläufern der Serra do Mar bis zu den Viehzuchtebenen der ›Gaucho‹-Zone (die gewissen Gebieten am Rio de la Plata ähnelt) von einiger Bedeutung. In diesem brasilianischen Siedlungsgebiet stand das (nach dem Amazonas und seinen Nebenflüssen) ausgedehnteste schiffbare Flußnetz zur Verfügung. Es besteht aus fünf Flüssen, die bei der Stadt Porto Alegre in die Lagõa dos Patos einmünden. São Leopoldo, die erste der Siedlungen am Rio Grande, wurde im Jahre 1824 gegründet. Um die Mitte des Jahrhunderts verstärkte sich der Zustrom deutscher Einwanderer, wurde dann aber im Jahre 1859 durch den von der Heydt-Erlaß, der die deutsche Auswanderung nach Brasilien untersagte, unvermittelt gedrosselt. Trotz dieser Maßnahme nahm die Zahl der Deutschen in Südbrasilien zu. Sie zeichneten sich durch ihren Fleiß aus, aber auch dadurch, daß sie von allen Einwanderern am wenigsten zu einer schnellen Assimilation neigten. Allmählich überwog die Einwanderung aus anderen Ländern, besonders aus Italien. Die ersten Kolonisten lernten die Schwierigkeiten der völligen Abgeschiedenheit, fehlender Märkte, schlechter Wege und teurer Transporte kennen. Aber Grund und Boden waren billig, und die Einwanderer wurden schnell zu Landbesitzern. Ihre Lage besserte sich allmählich, zuerst dank der Flußschiffahrt und dann durch die Eisenbahnen. So entstand allmählich ein Netz ländlicher Gemeinwesen von kleinen Grundbesitzern, das sich vom Staat Rio Grande bis zu den Staaten Paraná und Santa Catalina ausdehnte, begünstigt vielleicht durch den Umstand, daß es hier an einer Schicht von Großgrundbesitzern fehlte, die sich die Dienste der Einwanderer hätte zunutze machen können (wie es andernorts geschah). Die Besiedlung in Paraná begann um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Zwischen 1876 und 1879 nahm sie einen besonders starken Aufschwung in der Gegend um Curitiba. Die brasilianische Regierung besaß dort zwar kein Land, aber sie hatte den Weitblick, es brasilianischen Besitzern abzukaufen und unter die neuen Siedler aufzuteilen. Mit der Zeit wurde Curitiba zum Mittelpunkt eines dichten Straßennetzes, und durch eine Eisenbahnlinie wurde die Verbindung zur Küste hergestellt. Zwischen 1889 und 1896 nahm Paraná 51000 Einwanderer, durchweg Polen, auf, die sich entweder im Iguazú-Tal oder in der Richtung auf Mato Grosso zu ansiedelten. Die Siedlungen blühten durch den Anbau von Yerba Mate auf, denn die Nachfrage nach diesem Produkt zur Bereitung des im südlichen Südamerika traditionellen Getränks wuchs ständig. Im Staat São Paulo gab es trotz des Überwiegens von Latifundien auch Kleinbesitz. Die Regierung förderte ihn in

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bescheidenem Maße, doch die wachsende Bedeutung des Kaffeeanbaus führte zu einem solchen Ansteigen der Bodenpreise, daß die Entwicklung der Kleinbesitzer stark beeinträchtigt wurde. Die argentinische Republik hatte im Unterschied zu Brasilien nicht das Glück, eine dichte Besiedlung zu erfahren. Das war fraglos dem Mangel an verfügbarem Land zuzuschreiben: die ausgedehnten, den Indianern abgerungenen Gebiete wurden fast unverzüglich dem Latifundismus einverleibt. Trotzdem gelangte in den Provinzen Entre Rios und Santa Fe der bäuerliche Kleinbesitz im Zusammenhang mit dem Getreideanbau zu einer gewissen Bedeutung. Auch in Pioniergebieten wie dem Chaco und der Provinz Misiones (im äußersten Nordosten) oder Chubut (im Süden) entwickelte er sich, wenn auch in geringerem Umfang. Von Interesse für die landwirtschaftliche Besiedlung Argentiniens war die Gründung zahlreicher jüdischer Bauernsiedlungen unter der Ägide der Jewish Colonization Association (gegründet 1891). Diese Organisation machte es sich mit finanzieller Unterstützung des Barons Hirsch zur Aufgabe, jüdische Emigranten aus Rußland und anderen Gebieten Europas in Argentinien anzusiedeln. So entstand eine Reihe wichtiger Siedlungszentren, zu denen die heutige Stadt Moisesville in Santa Fe gehört. Dieser Plan war noch vor den zionistischen Bestrebungen einer Rückkehr nach Palästina entstanden. Die erste bedeutende landwirtschaftliche Siedlung in Argentinien bestand aus Schweizer Familien, die im Jahre 1856 La Esperanza (Provinz Santa Fe) gründeten. Von 1870 an förderten der Aufschwung in der Getreidewirtschaft und die Eröffnung von Eisenbahnlinien die Gründung neuer Siedlungen. Jede Familie erhielt etwa 30 Hektar Land zugesprochen, das in Fristen von drei bis zu zehn Jahren bezahlt werden mußte. Im Jahre 1878 konnte Argentinien zum ersten Mal mehr Weizen aus- als einführen. Diese Aufwärtsentwicklung hielt bis etwa 1910 an und war so stark, daß man bereits eine Bedrohung für die nordamerikanische Produktion darin sah. Jedoch erhielt nun (durch die Zunahme der Fleischausfuhren, den die Gefrierfleischfabriken ermöglichten) die Weidewirtschaft neue Impulse, was der Kolonisation zum Schaden gereichte. Ein neues System kurzfristiger Ansiedlung griff Platz: den Siedlern wurden weitaus größere Flächen (200 Hektar pro Familie) für drei Jahre verpachtet. Im Vertrag mußten sie sich verpflichten, wie schon an anderer Stelle erwähnt, eine Luzerneaussaat zu hinterlassen, wenn die Pacht ablief. Es handelte sich da um ein bedenkliches Verfahren. Vorübergehend steigerte man damit die Getreideerzeugung, verwurzelte den Siedler aber nicht mit dem Boden und begünstigte letzten Endes einen weiteren Aufschwung der LatifundienWeidewirtschaft. Der Pächter und der Halbpächter traten so an die Stelle des unabhängigen Kleinsiedlers, der schließlich oft in die ständig wachsenden Städte abwanderte.

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In Chile ist eine deutsche Besiedlung von einiger Bedeutung in der Provinz Valdivia zu erwähnen, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzte. In Uruguay verdient die Gründung einiger Siedlungszentren in den fruchtbaren Gebieten des Südwestens (dem heutigen Departement Colonia) und in der Nähe der Hauptstadt Montevideo (in ländlichen Bezirken der Departements Montevideo und Canelones) Erwähnung; sie wurden aber weder vom Staat gegründet noch wesentlich gefördert. Darüber hinaus entwarfen viele lateinamerikanische Länder utopische Pläne, um nach nordamerikanischem Vorbild die Kreolen durch fleißige europäische Bauern zu ersetzen. Sie vergaßen aber dabei, daß solche Projekte nur nach einer vorherigen völligen Umwandlung ihrer Agrarstrukturen hätten erfolgreich sein können. Die Grundbesitzer aber waren jeder Veränderung abhold und betrachteten im allgemeinen den Einwanderer lediglich als Nachschub für die fehlenden Arbeitskräfte zur Fortführung des traditionellen Wirtschaftssystems. 7. Die Suche nach Ordnung und Stabilität Um die politische Entwicklung in dieser Periode verfolgen zu können, muß vor allem das Problem der Abhängigkeit geklärt werden. Ohne Zweifel gibt es allgemeine Entwicklungslinien in dieser Epoche, die ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Veränderungen in Lateinamerika und den europäischen Interessen begründen; aber diesem Umstand darf keine übertriebene Bedeutung beigemessen und er darf nicht so ausgelegt werden, als hätten die lateinamerikanischen Staatsmänner lediglich Anweisungen der europäischen Diplomatie befolgt. Wir müssen hier feinere (und realistischere) Unterscheidungen machen. Fraglos zeigten bestimmte Staatsmänner und hohe Regierungsbeamte manchmal keinerlei Bedenken, Bestechungsgelder und Befehle von ausländischen Unternehmen und Diplomaten entgegenzunehmen; und ebenso gewiß war es auch in Ausnahmefällen umgekehrt. Im allgemeinen verhielt es sich jedoch ganz anders: die einheimischen Regierungen waren zu sehr mit anderen Aufgaben und Überlegungen beschäftigt, um sich mit den wirklich wichtigen Problemen auseinanderzusetzen, deren Lösung somit der ausländischen Initiative überlassen blieb. Es war gang und gäbe, daß die lateinamerikanischen Staatsmänner sich um das Wirtschaftsleben überhaupt nicht kümmerten (womit sie, einigermaßen verspätet, die Grundsätze des Wirtschaftsliberalismus anerkannten, obwohl diese doch unter völlig verschiedenen Voraussetzungen in der britischen Industriewelt entwickelt worden waren). Eine weitere klärende Vorbemerkung zu diesem Kapitel muß über die Beziehungen und Wechselbeziehungen zwischen Politikern und Gesellschaftsklassen gemacht werden. Eine Zeitlang beging man den offensichtlichen Irrtum, politische Analysen ohne jede Bezugnahme auf soziale Voraussetzungen zu erarbeiten. Später wollte man dieses Versäumnis gründlich korrigieren und stellte mit importierten Methoden Vergleiche an, ohne zu

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berücksichtigen, daß die amerikanische Gesellschaftsstruktur sich von der europäischen wesentlich unterschied. So hieß es dann etwa, dieser Staatsmann habe im Dienste feudalistischer Kräfte‹, jener in dem bürgerlicher Kreise‹ gestanden, und man sprach sogar von ›Vertretern proletarischer Schichten‹. Auch bei den Libertadores (Befreier) der Unabhängigkeitskriege ist die Rolle angeblicher sozialer Tendenzen übertrieben und damit eine Problematik angeschnitten worden, die in Wirklichkeit erst viel später zutage trat. Im Grunde genommen erreichte man damit nur, daß eine Geschichtsschreibung ungesund hochgespielt wurde, in der man dem Leben der Freiheitshelden allzuviel Platz einräumte. Wir müssen uns jetzt fragen, wie das politische Leben in Lateinamerika nach der Erlangung der Unabhängigkeit aussah. Brasilien weist hier eine andere Entwicklung auf, weil eine größere Kontinuität in der Staatsgewalt und andere Besonderheiten von ausschlaggebender Bedeutung waren. Deshalb müssen die folgenden Ausführungen im wesentlichen auf die spanischsprechenden Länder Lateinamerikas bezogen werden. (Bei Haiti, wo sich zum ersten Mal die kolonisierten Massen selbst erhoben, handelte es sich um ein Land, das für eine so radikale Umwälzung noch nicht vorbereitet war; es war zu klein und verfügte nicht über die notwendigen leitenden Kräfte, um erfolgreich ein unabhängiges Leben führen zu können. Wenn es trotzdem nicht wieder in einen kolonialen Status zurückfiel, so war dies vor allem eine Folge außergewöhnlicher internationaler Gegebenheiten.) Als die spanische Kolonialherrschaft erlosch, waren die Rebellen nicht imstande, einen echten, wirksamen Ersatz für sie zu schaffen. Die Einigungsversuche scheiterten und ebenso die überstürzte – und letztlich fiktive – Übernahme politischer Rezepte, die im wesentlichen dem nordamerikanischen Vorbild nacheiferten. Anfangs folgte die politische Aufgliederung im allgemeinen den Verwaltungsgrenzen des spanischen Kolonialreiches und hatte dann später noch weitere Zersplitterungen im Gefolge. Uruguay verdankt seine Entstehung, wie wir bereits sahen, einem von Großbritannien gern gesehenen Vertrag zwischen Argentinien und Brasilien. Die Grenzenbildung in Mittelamerika war ein Ergebnis der Kämpfe zwischen Caudillos, lokalen Machthabern verschiedener Regionen, und eine Folge fehlender Gemeinsamkeiten (etwa geographischer Faktoren, die den Ausbau eines guten Verkehrsnetzes gestattet hätten, oder des klaren Übergewichtes einer Stadt über alle anderen usw.). Für die Entstehung Paraguays war seine Binnenlage und das starke Erbe aus der Zeit des Jesuitenstaates in der Organisation einer relativ autarken Wirtschaft und Gesellschaft von ausschlaggebendem Einfluß. Der Kampf um die Unabhängigkeit war von der Auflehnung gegen eine außerkontinentale Macht gekennzeichnet; was danach kam – es war nicht gerade Friede –, mußte in jedem einzelnen Land in einer Kette innerer Kämpfe und Zwistigkeiten bewältigt werden.

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Eine wichtige Folgeerscheinung der Unabhängigkeitskriege war es, daß ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung sich an den Gebrauch der Waffen gewöhnt, wirtschaftlichen Aufstieg durch Eintritt in die Miliz erreicht und Anführer gefunden hatte, die entschlossen waren, keine Änderung dieser Lage zuzulassen (und sich gegenseitig die Macht streitig zu machen). Die Kampfweise hatte sehr persönliche Beziehungen zwischen Vorgesetzten und Untergebenen geschaffen. Jeder Caudillo (Anführer) mußte sich persönlich um die Sicherheit seiner Truppen kümmern, ihre privaten Streitigkeiten schlichten, für den Unterhalt ihrer Familien sorgen. Die Untergebenen waren stolz auf die Heldentaten und den Mut ihrer Anführer, deren Anordnungen sie begeistert befolgten. So entstand der Caudillismus in Amerika, inmitten einer Anarchie, die gar nicht so furchtbar war, wie man sie hat hinstellen wollen, weil sie für so viele die gewohnte Lebensform wurde. Von den Bündnissen und Auseinandersetzungen zwischen diesen Caudillos und nicht etwa vom freien Spiel der eben importierten Verfassungen hing es ab, in welchen – oft wechselnden – Händen die Macht lag. Der Bürgerkrieg gab, wenn auch nicht prinzipiell, die Möglichkeit, zu ändern, was das Regime der Latifundienbesitzer gern als ewig gültig und unabänderlich erhalten hätte: während der Kampfhandlungen durfte man fremdes Vieh schlachten, sich Pferdebestände aneignen, als wichtigste Verpflegungsreserve Vieh requirieren usw. Solche Zwangsenteignungen wurden nicht immer nur in entscheidenden Phasen des Kampfes vorgenommen. Nebenbei sei erwähnt, daß die Schlachten – wenngleich Gefangene oft grausam behandelt wurden – im allgemeinen nicht so blutig und heftig verliefen, wie es die langen und ausführlichen Vorbereitungen hätten erwarten lassen: wahre Massenaushebungen, ausgedehnte Truppenbewegungen im ganzen umstrittenen Gebiet (während derer es neben den Verlockungen des Lagerlebens auch noch die Möglichkeit gab, Beute zu machen). Die Stadt Montevideo wurde das ›Neue Troja‹ genannt, weil es in einem dieser Kriege einer langen Belagerung durch die Truppen des Argentiniers Rosas und des uruguayischen Generals Oribe ausgesetzt war, es aber zahlreiche Zeugnisse für mannigfache Verbindungen zwischen Belagerern und Belagerten gab. Der Bürgerkrieg war, alles in allem, nur die logische Folge sozialer und politischer Verhältnisse, denen gegenüber sich die von den Konstitutionalisten vorgeschlagenen Maßnahmen als unwirksam erwiesen. Die breiten Volksmassen waren Analphabeten. Ein politischer Journalismus von Bedeutung fehlte. Indessen gab es viele Ersatzformen der Nachrichtenverbreitung, wie sie etwa das Lagerleben bot oder die Zusammenkünfte in primitiven Kneipen, wo sich die Wechselfälle des politischen Lebens in volkstümlichen Liedern und den Gesprächsthemen widerspiegelten. Die auf der Achtung vor dem Gesetz begründete Ordnung wurde durch die militärische Disziplin und den unbedingten Gehorsam gegenüber dem Willen

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der Caudillos ersetzt. Für jene Epoche war die Art unorganischer Demokratie charakteristisch, bei der Tapferkeit und militärischer Wagemut den sozialen Aufstieg bewirken konnten. Während dieser Epoche und auf diesem indirekten Wege bot die neue Gesellschaft größere Möglichkeiten, und die Grenzen zwischen den Klassen und Kasten lockerten sich. Daher die Verachtung für alle jene, die in wohlgesetzten Worten andere politische Formen verteidigten, dabei aber ihre starke Abneigung gegen jede soziale Mobilität nicht verhehlen konnten. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, hat der Bürgerkrieg eindeutig soziale Wurzeln. Zu seinen Gegnern zählten natürlich städtische Minderheiten, so etwa vor allem Kaufleute und Gelehrte und viele Großgrundbesitzer, die in ihm eine ständige Bedrohung für ihren Besitz sahen. Wenn wir also zugeben, daß am Beginn des Aufstandes gegen Spanien eine ›Revolte der kreolischen Aristokratie‹ gestanden hatte, so muß festgehalten werden, daß deren Ergebnisse nicht sofort den ursprünglich verfolgten Zielen entsprachen. Die lange Dauer der Bürgerkriege und das Phänomen des Caudillismus standen im Zusammenhang mit dem Widerstand gewisser Schichten der Bevölkerung gegen eine Ordnung, die ihnen nicht zusagte. Die Ursache für die weite Verbreitung des Caudillismus als politischer Methode darf nicht nur in der Machtfülle gesucht werden, die einige Männer in Händen hielten. Diese war nur das Ergebnis eines ungeschriebenen Vertrages, demzufolge sie etwas erhielten, dafür aber auch einiges zu leisten hatten. Der Caudillo mußte seinen Wagemut und ständige, weitestgehende Einsatzbereitschaft für seine Gefolgsleute beweisen. Er mußte auf jeden falschen Überlegenheitsanspruch und auf jede Kleinlichkeit verzichten, mit ihnen gemeinsam leben, in ihrer Sprache mit ihnen reden und zwar von Dingen, an denen ihnen etwas gelegen war. Man begrüßte seine Anwesenheit bei geselligen Zusammenkünften und Totenwachen, sah über seine außerehelichen Beziehungen und seine zahlreichen unehelichen Kinder hinweg.

Föderalismus und Konstitutionalismus Eine Neubewertung innerhalb der Geschichtsschreibung verdient das Problem des Föderalismus. Diese durchaus zu rechtfertigende politische Konzeption verfochten verschiedene Gruppen im Kampf gegen das zentralistisch orientierte Vormachtstreben, mit dem manche Städte die Vorrechte, die in der Kolonialzeit das Mutterland besessen hatte, nun für sich beanspruchten. Durch die strenge Kontrolle des Handels – bei dem sie nicht umgangen werden konnten – und der Verwendung der Steuereinnahmen versuchten gewisse Städte (Buenos Aires dürfte hierfür das klarste Beispiel bieten), das Leben eines ganzen Staates zu lenken, aus dem sie zum Nachteil der Gebiete im Landesinnern jede lokale Autonomie verbannten. Sehr oft verbarg sich hinter föderalistischen

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Schlagworten aber nur die durch den Caudillismus hervorgerufene politische Zersplitterung innerhalb der jungen Staatsgebilde, und dies bedeutete eine Schwächung gegenüber dem starken Druck von außen und angesichts der Notwendigkeit, durch innere Einheit und eine zentrale Staatsgewalt günstigere Voraussetzungen für eine erfolgreiche Entwicklungspolitik zu schaffen. Was den Konstitutionalismus anbelangt, so ist zu erwähnen, daß viele Politiker eine wahre Manie entwickelten, Verfassungen auszuarbeiten, die im allgemeinen schlechte Nachahmungen der nordamerikanischen oder europäischen Verfassungen darstellten. Diese Männer waren gewiß, genau wie seinerzeit die Verfasser der spanischen Indien-Gesetzgebung, der Überzeugung, das Gesetz allein vermöge schon die Wirklichkeit zu ändern. Eine klare Vorstellung von der Naivität dieser Auffassung vermittelt der Hinweis darauf, daß seit der Unabhängigkeitserklärung Venezuela dreiundzwanzig verschiedene Verfassungen gehabt hat, Santo Domingo zweiundzwanzig, Ekuador sechzehn, Bolivien dreizehn, Peru und Nikaragua je zwölf, El Salvador zehn. Es erübrigt sich zu betonen, daß die Zahl der Verfassungen nicht eben im unmittelbaren Verhältnis zum Grad der politischen Entwicklung dieser Länder steht. Unter dem äußeren Anschein von politischem Liberalismus verbargen die mehrfach wechselnden Verfassungen eine den Interessen der großen Industrieländer und der kreolischen Oligarchien verhaftete Einstellung. Die einen wie die anderen wären vollauf damit zufrieden gewesen, wenn die Unabhängigkeitsbewegung zu nichts anderm als zu einem Bruch mit der spanischen Monarchie geführt hätte. Der Militarismus Militarismus und Caudillismus sind Begriffe, die sich in mehr als einer Hinsicht überschneiden und auch oft unterschiedslos gebraucht worden sind. Doch sind Unterscheidungen hier durchaus angebracht, weniger was den landläufigen Gebrauch der beiden Vokabeln, als was die sozialen Kräfte anbelangt, die hinter ihnen standen. Unmittelbar nach Beendigung der Unabhängigkeitskriege gab es keine betonten Unterschiede zwischen den regulären Truppen und denen, welche die Caudillos im Binnenland um sich geschart hatten. Es gab weder große Unterschiede in der militärischen Ausbildung noch in der Ausrüstung; die persönliche Initiative war ausschlaggebend, und die Kämpfe wurden mit sehr primitiven Mitteln ausgetragen. Natürlich führte bei den in Lateinamerika herrschenden Verhältnissen das durch das Erlöschen der kolonialen Ordnung geschaffene Machtvakuum unter den verschiedenen Kräften, die an den Kriegen teilgenommen hatten, zu einem Kampf um die Früchte des Sieges. Nach und nach kristallisierten sich jedoch Unterschiede in der militärischen Schlagkraft der Caudillo- Truppen und der regulären Streitkräfte heraus, die jetzt besser ausgerüstet, organisiert und diszipliniert waren. Aus einer ursprünglichen Gefolgschaft bewaffneter Volksschichten für jene Männer, die

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ihnen gewisse Aufstiegsmöglichkeiten boten (die angesichts der bestehenden Sozialstruktur unter normalen Verhältnissen nicht gegeben waren), entwickelte sich ganz allmählich etwas völlig anderes. Das Militär gewann ein besonderes Ansehen und größere Selbständigkeit. Nur im Kampf um die Machtergreifung im Staat bildeten Caudillismus und Militarismus vorerst noch sehr verwandte Erscheinungen. Abgesehen von Gaspar Rodríguez de Francia (Diktator von 1814–40) in Paraguay und Gabriel García Moreno (1861–63; 1869–75) in Ekuador, die ausgesprochene Zivilisten waren und mit dem Militärwesen nicht das geringste zu tun hatten, waren fast alle Caudillos Militärs oder Militärs gewesen. Das Heer verfügte noch nicht über den notwendigen Zusammenhalt und die Festigkeit, um sich in den regionalen Kämpfen durchzusetzen; in den meisten Fällen zersplitterte es seine Kräfte, indem es sich teils dieser, teils jener Partei anschloß. Zu einer merklichen Änderung der Lage kam es erst, als nach Beendigung der Bürgerkriege in vielen Ländern zentralistisch gelenkte Diktaturen aufkamen und gleichzeitig der Ordnung und der Achtung vor dem Gesetz eine ganz besondere Bedeutung zugemessen wurde. Die Streitkräfte wurden allmählich zu einheitlichen, zentral gelenkten Institutionen, die immer weniger Bereitschaft zeigten, sich in den Dienst rivalisierender Caudillos oder sich bekämpfender Provinzen zu stellen. In manchen Ländern trug die Entstehung einer regulären stehenden Nationalarmee zur Stabilisierung der politischen Verhältnisse bei und machte schließlich die Aushebung regionaler Freiwilligentruppen zu einer Erscheinung von zweitrangiger Bedeutung. Ein weiterer Faktor, der die Überlegenheit der Nationalarmeen über die verschiedenen, bei gegebenem Anlaß gebildeten bewaffneten Gruppen bewirkte, war gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Einführung neuer Waffen (zum Beispiel des Hinterladers mit gezogenem Gewehrlauf), neuer Verkehrsmittel wie der Eisenbahn und neuer Nachrichtenübermittlungssysteme wie der elektrischen Telegrafie.27 Doch führte dies alles nicht dazu, daß der politische Ehrgeiz vieler Militärs nachgelassen hätte, sondern es gab ihm neuen Auftrieb. Die Macht eines Lorenzo Latorre in Uruguay oder die Gewaltherrschaft des Porfirio Díaz in Mexiko hatten viel mit diesen Neuerungen zu tun. Wie Edwin Lieuwen feststellt, begann gegen Ende des Jahrhunderts bei den Streitkräften eine wichtige Entwicklung durch die Entstehung von Berufsheeren. Die Offizierskorps setzten nun alle ihre Energien für die Betätigung und Entwicklung ihrer militärischen Fähigkeiten ein. Die Armee wandelte sich; sie stellte nicht mehr das anarchische Sammelbecken aller Kräfte dar (wie zur Zeit der Bürgerkriege); sie wurde immer mehr zu einem eigenen Berufsstand, in dem Zucht und Ordnung herrschten, bis sie sich schließlich zu einer modernen Pressure Group entwickelte, die einen oft entscheidenden Machtfaktor darstellte. Gewiß trugen die wirtschaftliche Expansion und der soziale Fortschritt zu einer politischen Stabilität bei, die zuweilen den alten Militarismus ablehnte, das hieß aber nicht, daß die Streitkräfte auf das Recht verzichtet hätten, in die Politik einzugreifen.

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Sobald die Armeen mehr oder weniger zu Berufsheeren geworden waren, verpflichtete man französische und deutsche Militärs als Instrukteure. Das chilenische Heer lud im Jahre 1885 eine deutsche Militärmission ein. Als General Koerner in Chile eintraf, hatte dieses Land soeben den Pazifikkrieg siegreich beendet. Koerners Modernisierungsplan setzte bei der Militärakademie ein; er schickte befähigte junge Offiziere nach Europa, gründete eine Kriegsakademie zur Ausbildung der höheren Offiziere und schuf einen Generalstab. Sein Einfluß wuchs, als er im Jahre 1891 zum Sturz des Präsidenten Balmaceda beitrug. Das ›preußische Vorbild‹ wurde infolgedessen für das gesamte chilenische Heer richtungweisend. Weitere 37 deutsche Instrukteure trafen ein. Am Ende des Jahrhunderts waren die chilenischen Streitkräfte ausgezeichnet für den drohenden Krieg mit Argentinien vorbereitet. Argentinien befolgte das chilenische Beispiel. Eine deutsche Mission wurde mit der Reorganisation der Militärschule und der Wiedererrichtung der Kriegsakadamie beauftragt. Auch in anderen Ländern machte sich der Einfluß der deutschen Instrukteure bemerkbar, entweder unmittelbar oder auf dem Weg über Chile (so in Uruguay, Bolivien, Kolumbien, Venezuela, Paraguay, El Salvador, Ekuador, Nikaragua). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts beriefen Brasilien, Ekuador, Peru und Guatemala französische Militärs als Instrukteure. Inzwischen wuchsen die Ausgaben für die immer weniger notwendig erscheinende Landesverteidigung, und sie stellten eine schwere Belastung für die Staatshaushalte dar. Wie kam es dazu? Einerseits war es eine Folge der Tatsache, daß sich das Heer zu einem Machtfaktor entwickelt hatte. Andrerseits stellte das Heer – und das war ein nicht zu unterschätzender Umstand – einen Ausweg bei der Suche nach einer Beschäftigung dar, weil es den Mittelklassen den Eintritt ins Offizierskorps und den unteren Volksschichten den Zugang zu den Subalternposten ermöglichte. Natürlich spielten die Streitkräfte in den verschiedenen Ländern eine sehr unterschiedliche Rolle. Aber die Entwicklungstendenz war, in mehr oder minder starkem Grade, überall die gleiche. Die Erhebung der militärischen Laufbahn zum angesehenen Beruf führte ihr neue Kräfte zu. Die Bedeutung des Bandenwesens Der Bandit war eine typische Erscheinung im lateinamerikanischen Leben: wir begegnen ihm in der Geschichte und in der Folklore jedes einzelnen Landes. Dabei ist es nicht zu verwundern, daß er – bei der Asynchronität dieser Vorgänge – noch heute in einem Land wie Kolumbien eine besondere Rolle spielt. Aber es gibt verschiedene Arten und Formen des Bandenwesens. Hier interessieren uns jene, die mit der politischen Entwicklung in Verbindung stehen, mit der wir uns gerade befassen. Der Prozeß der Landnahme hatte sich zur Kolonialzeit sehr ungeordnet und unübersichtlich vollzogen. Manche erhielten ihre Ländereien gleichzeitig mit den ordentlichen Grundbriefen, andere wieder nahmen Land de facto in Besitz. (In gewissem Umfang setzte sich die Entwicklung, wie im Falle Brasiliens, sogar noch nach der

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Unabhängigkeitserklärung fort.) In zahlreichen Fällen versuchten die Kolonialbehörden, die Bodenbesitzverhältnisse neu zu regeln, indem sie Experten entsandten und Reformen durchführten. Es muß anerkannt werden, daß sie kluge Ratschläge gaben und wohldurchdachte Projekte entwarfen, die nicht nur die Lage der faktischen Besitzer berücksichtigten, sondern auch Pläne für eine Landverteilung an die mittellosen bäuerlichen Schichten umfaßten. Wenn man die Schriften Lastarrias über die Lage von Uruguay und Paraguay liest, oder die Ausführungen des Felix de Azara, der Pläne für die landwirtschaftliche Besiedlung am Rio de la Plata entwarf, so muß man noch heute überrascht feststellen, wie scharf ihre Beobachtungen und wie fortschrittlich ihre Vorschläge waren, obwohl sie noch aus der Zeit der ausgehenden Kolonialherrschaft stammten. Aber die Entwicklung verlief auf diesem Gebiet sehr verschieden von den in diesen Arbeiten gemachten Vorschlägen: wie wir bereits gesehen haben, überwog eine weitere Ausdehnung des Latifundienbesitzes, so daß es auf dem Lande viele Menschen ohne Land gab und viele, die de facto Ländereien in Besitz genommen hatten, von denen sie jetzt nach und nach wieder verdrängt wurden (was sie zuweilen der Gesetzlosigkeit in die Arme trieb). Eine gewisse Form des Bandenwesens hatte ihren Ursprung im Bürgerkrieg. Bürgerkrieg bedeutete nicht zuletzt die Verneinung einer gesetzten Ordnung, nicht nur im politischen, sondern auch im wirtschaftlichen und sozialen Bereich. Er veranlaßte die Menschen, zu den Waffen zu greifen und Gruppen zu bilden, die sich dann selbst versorgen mußten und eine gewisse Zeit lang nach eigenem Ermessen handeln konnten. Bei solchen Gelegenheiten ergab es sich häufig, daß Banditen sich in Krieger verwandelten oder umgekehrt, je nachdem, wie die Umstände es begünstigten. Andrerseits betrachtete man, in dem Maße wie das Latifundiensystem sich ausbreitete und die Mittel zur Verteidigung des Eigentums sich entwickelten, alle jene als gesetzlose Elemente, die sich der neuen Ordnung nicht beugen wollten. Daß man Land ohne behördliche Genehmigung in Besitz nahm und es besiedelte, war eine Zeitlang stillschweigend geduldet worden. Dann aber kam der Augenblick, da diese Art Landbesitzer als unerwünschte Elemente galten und vertrieben wurden, weil sie keinen Besitztitel vorweisen konnten. Zuvor hatte jeder, um seinen Hunger zu stillen, das erste beste Stück Vieh schlachten dürfen, jetzt aber stellte das ein Vergehen dar. Die Festigung der Macht forderte für sich die gebührende Achtung. Im Innern der einzelnen Länder gab das Latifundium immer mehr seine herrenmäßige, paternalistische Struktur auf und wandte sich allmählich modernen kapitalistischen Betriebsformen zu. In dem Maße, wie diese neuen Methoden es gestatteten, größere Erträge zu erzielen, forderten die Latifundien immer nachdrücklicher die Achtung vor dem Besitz. Das geschah auf die verschiedenste Weise: klare Grenzziehung (Drahtzäune), Markierung des Viehbestandes, schärfere Zucht unter den Landarbeitern, Verfolgung von Viehdieben. In der ersten Zeit nach den Unabhängigkeitskriegen ist die Veröffentlichung einer

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ganzen Reihe von Gesetzen zu beobachten, die im Grunde genommen nur dieses eine Ziel, die Achtung vor dem Privatbesitz, verfolgen. Das Vergehen der Landstreicherei wurde definiert; verschiedene Bestimmungen wurden erlassen, die jeden Mann dazu zwangen, seine Arbeitskraft zu verkaufen und einen festen Beruf zu ergreifen. Eine soziale Folgeerscheinung dieser Verfügungen (die an ähnliche Maßnahmen aus der Regierungszeit Heinrichs VIII. und Elisabeths I. in England erinnern) war es, daß die nicht anpassungsfähigen Elemente auf dem Lande sich dem Bandenwesen verschrieben, d.h. daß sie konsequent ihre Position am Rande einer Rechtsordnung akzeptierten, die Zustände schützte und verteidigte, welche sie nicht wünschten und nicht begriffen. Das Bandenwesen trat je nach den geographischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten einer Region unter verschiedenen Erscheinungsformen auf. Im allgemeinen war, auch in Gebirgsgegenden, der Bandit beritten, was ihm Unabhängigkeit und rasche Fortbewegungsmöglichkeit verschaffte. Abgesehen von den Großgrundbesitzern lehnte ihn die Bevölkerung nicht ab, oft fand er sogar offene Unterstützung von Seiten des einfachen Volkes. Bald wurden viele dieser Banditen berühmt, und zahlreiche Anekdoten über ihre – oft erfolgreichen – Zusammenstöße mit den Hütern der Ordnung kamen in Umlauf. Noch heute leben z.B. in Argentinien die Taten des Chacho in der Erinnerung des Volkes und ganz besonders in der Folklore fort. In Mexiko lassen sich zwei Hauptformen des Bandenwesens unterscheiden. In einem Fall war es eine Manifestation unabhängiger Mestizengruppen, im andern Fall handelte es sich um Eingeborenenstämme, die hart um ihr Daseinsrecht kämpften. Ein Beispiel dafür liefern die Überfälle der Apachen und Komantschen auf Gebiete südlich und nördlich der Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten. Der Viehdiebstahl war für viele Indianer das einzige Mittel zum Lebensunterhalt geworden, da schon allein die Weigerung, die übermäßig hohen Pachtgelder zu zahlen, sie außerhalb des Gesetzes stellte. Die Komantschen wurden im Jahre 1868 von den Truppen des Generals Sheridan in den Vereinigten Staaten hart bedrängt und begannen daher, nach Mexiko zu wandern. Für ihre Skalpe wurden Prämien ausgesetzt (die Regierung von Chihuahua bezahlte zuerst 250, dann 150 Pesos pro Stück). Im Jahre 1882 unterzeichneten die Regierung der Vereinigten Staaten und die Mexikos ein Abkommen, das den Bundestruppen der beiden Länder gestattete, die gemeinsame Grenze in beiden Richtungen auf der Jagd nach diesen Indianern zu überschreiten. In dem Mexikaner Pancho Villa mischt sich der Typ des klassischen Räubers mit dem des modernen Revolutionssoldaten. Das Bandenwesen behinderte sehr stark die Entwicklung eines modernen Staatsgefüges, die die neue, von außen beeinflußte Wirtschaftsexpansion forderte, beeinträchtigte somit auch die Interessen der Grundbesitzer; deshalb wurde es mit Nachdruck bekämpft. Trotzdem verschwand das Bandenwesen, manchmal infolge besonderer örtlicher Gegebenheiten, nicht völlig. Ein wegen

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seiner zukünftigen Auswirkungen bemerkenswerter Fall ist um die Jahrhundertwende aus Nordostbrasilien zu berichten. Zahlreiche soziale Übelstände trugen dazu bei, einen Aufstand Tausender von Landbewohnern zu entfesseln. Die Agitation war von dem mystisch-religiös verbrämten Auftreten einiger Gruppen von ›Fanatikern‹ ausgegangen und wurde dann von den ›Cangaceiro‹-Banden fortgeführt, die erst Ende der dreißiger Jahre endgültig ausgerottet werden konnten. Die Lage im Nordosten hatte sich verschlimmert, seit dort um die Mitte des 19. Jahrhunderts der wirtschaftliche Verfall immer offensichtlicher geworden war. Die verarmten Bauern sahen keinen andern Ausweg, als in tiefstem Elend dahinzuvegetieren, auszuwandern oder zu rebellieren. Der Kautschukboom im Amazonasgebiet brachte gegen Ende des 19. Jahrhunderts vorübergehend eine Besserung für viele Bewohner aus dem Nordosten, die sich in dieses gefahrvolle Abenteuer stürzten (der Anteil des Kautschuks an den brasilianischen Ausfuhren stieg von 10% im Jahre 1890 auf 40% im Jahre 1910). Es war verständlich, daß viele der Zurückgebliebenen darin einen Ausweg suchten, daß sie sich in großen ›Fanatiker‹- und ›Cangaceiro‹-Gruppen um angeblich ›fromme Männer‹, ›Ratgeber‹ und Anführer scharten, die ihnen bessere Lebensbedingungen in Aussicht stellten. Zwei hauptsächliche Erscheinungsformen nahm die Rebellion der Bauern unter dem Druck der äußersten Not an: die ›Cangaceiros‹ kämpften mit der Waffe in der Hand, überfielen Landgüter und Lebensmitteldepots, zuweilen mitten in den Städten, während die ›Fanatiker‹ religiöse Sekten bildeten, die oft in offenen Aufstand ausbrachen, wie die der Canudos (1896–97), von Contestado (1912–16) und Caldeirão (1936–38). Im ersten Fall hatten die mystischen Predigten des ›Fanatikers‹ Antonio Conselheiro, die von den Bischöfen als den Lehren der Kirche zuwiderlaufend angeprangert wurden, unter den Landleuten so stark gezündet, daß sie schließlich gegen die Staatsgewalt zu den Warfen griffen. Um den Aufstand niederzuwerfen, mußte der Staat mit Truppen der drei Waffengattungen vier Expeditionen hintereinander durchführen. Von der Heftigkeit des Kampfes gegen die schlecht bewaffneten Bauern zeugt die Tatsache, daß von den zwölftausend an dem Feldzug beteiligten Soldaten der Regierungstruppen fünftausend während des Einsatzes ums Leben kamen. Die Worte eines brasilianischen Armeeoffiziers über die Rebellion in Contestado mögen den wahren Charakter dieser Aufstandsbewegungen beleuchten, die man gemeinhin als Aktionen von Feinden der öffentlichen Ordnung hinstellte: »Die Rebellion in Contestado ist nichts anderes als ein Aufstand der ihres Landes, ihrer Rechte und ihrer Sicherheit beraubten Bauern.« Parallel zu diesen Massenbewegungen gab es noch andere Formen des Bandenwesens, zu dem infolge der harten Lebensbedingungen im brasilianischen Nordosten vor allem die Viehhirten neigten. Die Unterstützung, welche diese Banditen bei der Bevölkerung fanden, die Tatsache, daß hier wie auch in anderen Ländern die Folklore ihre Taten aufgriff und verherrlichte und

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so jene Männer, die unter Einsatz ihres Lebens das herrschende System bekämpften, zu Lokalhelden erhob, das alles sind klare Anzeichen dafür, daß das Bandenwesen im Nordosten eine verzweifelte Reaktion auf die Vernachlässigung dieses Gebietes durch den brasilianischen Staat, auf die immer bedrängtere Lage der ländlichen Massen war. Kolumbien zeichnet sich durch ein kräftiges Wiederaufleben des Bandenwesens in jüngster Zeit aus. Besonders alarmierend ist dabei die Grausamkeit, die von den Trägern dieser Bewegung zur Schau getragen wird. Zum Teil ist dieses Wiederaufleben auf das mangelnde Funktionieren demokratischer Institutionen im politischen Leben Kolumbiens zurückzuführen, zum Teil findet es Unterstützung durch die Besitzer der großen Kaffeeplantagen, die auf diese Weise die Kleinfarmer in die Flucht zu schlagen hoffen. In manchen Fällen weist das Bandenwesen sehr moderne Formen sozialer Unruhen auf. Die Bemühungen um Konsolidierung der Verhältnisse Wir haben darauf hingewiesen, daß man den Einfluß der großen Industrieländer auf das lateinamerikanische Leben jener Zeit nicht als unmittelbare, sondern lediglich als mittelbare Beeinflussung verstehen darf. Es ist nun selbstverständlich, daß man in Lateinamerika nur in dem Maße eine Produktionssteigerung fordern und einen besseren Absatz europäischer Industrieprodukte erhoffen, den Regierungen Anleihen gewähren, Kapital investieren, die Auswanderung zahlreicher Europäer dorthin fördern konnte, wie diese Länder selbst es verstanden, den Zustand ewiger Bürgerkriege zu überwinden, das chronische Bandenwesen zu beseitigen, die Rolle und die Zahl der Caudillos zu mindern. In diesem Sinne darf man das Hervortreten starker Regierungen, die fähig waren, diese Ziele zu erreichen, als eine Antwort auf die Notwendigkeit betrachten, den Forderungen dieser ausländischen Machtzentren, die den Anstoß zur Entwicklung und zum Fortschritt gaben, Genüge zu tun. Aber fast nie ist diese Antwort das Ergebnis einer direkten Intervention. Andererseits standen diese Forderungen, wie wir bereits sahen, im Einklang mit den Interessen des städtischen Handelswesens und der Großgrundbesitzer in Lateinamerika. Wer hätte schon Handelsagenten und Warenlieferungen in Länder senden mögen, die von Kriegen erschüttert und von Banditen unsicher gemacht wurden? Wer mochte Kapital in teure Zuchttiere oder moderne Anbaumethoden investieren, wenn es keine Garantie dafür gab, daß man auch Gewinn dabei erzielte? Die erste Losung hieß also, das Binnenland völlig zu befrieden und der Rechtsordnung, vor allem was den Schutz des Privateigentums und die Sicherheit der Handelsagenten und Ausländer betraf, zum Siege zu verhelfen. In den einzelnen Ländern vollzog sich dieser Wandel zu verschiedenen Zeiten. Er war im wesentlichen dadurch gekennzeichnet, daß dem aus der Revolution geborenen Staat eine neue Rolle zufiel. In Argentinien nahm diese Entwicklung ihren Ausgang von der Regierungszeit des Diktators Rosas; in Chile begann sie

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mit dem Regierungsantritt von Diego Portales (1830). Wahrscheinlich aber sind der Mexikaner Porfirio Díaz (ab 1876) und der Uruguayer Lorenzo Latorre (ab 1875) weitaus repräsentativer für diesen Vorgang, weil sie nicht nur ein hartes Regiment führten, sondern gleichzeitig eine Reihe von Modernisierungsmaßnahmen und Reformen durchsetzten, die im Einklang mit den ausländischen Interessen standen und den wirtschaftlichen Aufstieg begünstigten (was wiederum den einheimischen Kaufleuten und Grundbesitzern zugute kam). Diese allgemeinen Ausführungen bleiben jedoch allzu unverbindlich, wenn nicht eine getrennte Analyse für jeden Einzelfall angestellt wird: García Moreno in Ekuador (1869–1875) wirkte zum Beispiel wie ein religiöser Fanatiker, war aber in wirtschaftlichen Dingen fortschrittlich gesinnt. Guzmán Blanco (1870–1890) in Venezuela war weniger intolerant und weit moderner als der Vorgenannte, hatte aber auch weit weniger Skrupel, die politische Macht- zum eigenen Vorteil auszunutzen. Unserer Ansicht nach darf ohne Zweifel behauptet werden, daß dieser Wandel am schnellsten in jenen Gebieten vor sich ging, deren größere wirtschaftliche Entwicklung im Zusammenhang mit europäischen Interessen stand. Die Herstellung der Ordnung im Binnenland war für ein Gedeihen der großen Landgüter, zum Schutz der Investitionen im Bergbau und dem Eisenbahnwesen und zur Anlage der Telegrafenverbindungen notwendig. Diese wiederum trugen zu einer Festigung geordneter Verhältnisse bei. Der Ausbau des Polizeiwesens im Landesinnern trug sowohl zur Sicherung der Ordnung und der Achtung vor den Gesetzen als auch zur Schwächung der Macht lokaler Caudillos bei. Diese wurden entweder brutal ausgerottet (wie unter Rosas in Argentinien) oder allmählich zu einer Änderung ihrer Haltung bewogen. Einige leisteten Widerstand bis zum bitteren Ende. Hier verdient der Uruguayer Aparicio Saravia Erwähnung, der letzte Vertreter des volkstümlichen Caudillismus einer strukturlosen Gesellschaft. Er starb mitten im Bürgerkrieg, bereits im 20. Jahrhundert, während des Kampfes. Im allgemeinen setzte aber ein allmählicher Wandel beim traditionellen Caudillismus ein; er wurde weniger kriegerisch, weniger radikal; sein politisches Ansehen wurde zu einem Wert, der jetzt auf andere Weise besser ausgespielt werden konnte; und da die Vorkämpfer des Caudillismus selbst Ländereien erworben hatten, verringerte sich ihre Feindseligkeit gegenüber den Großgrundbesitzern. Sobald das Stimmrecht auch in den ländlichen Bezirken wahrgenommen wurde, stellten dann diese neuen Caudillos, zusammen mit den Großgrundbesitzern, ihre politische Macht in den Dienst konservativer Interessen. In dieser Epoche der autokratischen Regierungen wurden die Banditen rücksichtslos bekämpft. Durch Anwerbung für die Polizeistreitkräfte oder die regulären Truppen erhielten die mittellosen Landbewohner Arbeitsmöglichkeiten. Sie konnten sich auch um die Aufnahme in die Bautrupps bewerben, die Straßen, Eisenbahnen und Telegrafenlinien anlegten. Eine gewisse Zeit lang konnten sie sich auch noch in den verschiedenen landwirtschaftlichen

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Betrieben als agregados halten (agregados wurden jene Personen genannt, die mit Billigung des Großgrundbesitzers auf der Hazienda lebten oder dort ihre Lehmhütten bauten und mitarbeiteten, ohne Lohn dafür zu erhalten). Aber allmählich wurde dieser Landarbeitertyp vom peón, der Lohn für seine Arbeit erhielt, verdrängt. Zwischen manchen großen Landgütern entstanden kleine elende Ortschaften, deren Bewohner ganze Generationen hindurch in Armut dahinlebten und sich recht und schlecht vom Ertrag kleiner Äcker oder der gelegentlichen Arbeit bei der Ernte auf dem Großgrundbesitz ernährten. Die zentralistisch eingestellten Diktaturen konnten Reformen durchführen, die vielleicht auf parlamentarischem Weg nicht durchgesetzt worden wären. Während der Herrschaft Latorres in Uruguay vollzog José Pedro Varela die Reform des Erziehungswesens: er sorgte für bessere Leistungen und die Ausbildung von Lehrern; vor allem aber verschaffte er der Schulbildung eine weite Verbreitung, weil er den Schulbesuch kostenfrei und obligatorisch machte (letzteres allerdings nur so weit, wie die notwendigen Schulen zur Verfügung standen). Porfirio Díaz überließ die Wirtschaftspolitik Limantour und einer Gruppe positivistischer Fachleute, die um eine Modernisierung des Landes kämpften und dabei einen wahren Kult mit den Errungenschaften der Technik trieben (leider ohne sich dabei um eine Eingliederung der indianischen Eingeborenen ins Wirtschaftsleben zu bemühen, weil sie diese als eine niedrigere Rasse betrachteten). Im Unterschied zu den liberal gesinnten Oligarchien, die im allgemeinen den Interessen der Kirche entgegenarbeiteten, befolgten die Diktaturen in dieser Hinsicht eine recht unterschiedliche Politik. Die Frömmigkeit García Morenos in Ekuador ging so weit, daß er das Land dem heiligsten Herzen Jesu weihte und allen Nichtkatholiken das Bürgerrecht entzog. Guzmán Blanco dagegen laisierte das öffentliche Erziehungswesen und ergriff verschiedene Maßnahmen gegen die venezolanische Kirche, die über großen Grundbesitz verfügte. Latorre ging gemäßigt vor: das neue Schulsystem, das nach Varelas ursprünglichem Plan weltlich sein sollte, behielt in der Praxis seinen religiösen Charakter. Die liberalen Oligarchien Die wachsende Bedeutung der Städte und eine allmähliche Anwendung des Wahlrechtes ermöglichten in manchen Fällen solchen Kreisen den Zugang zur Macht, die man als liberale Oligarchien bezeichnen könnte. Nicht überall jedoch mündeten die großen, zentralistisch orientierten Diktaturen in die Herrschaft liberaler Oligarchien ein. Der Prozeß konnte auch den umgekehrten Verlauf nehmen oder ein Fall eintreten wie in Mexiko, wo die Diktatur des Porfirio Díaz durch eine Revolution beendet wurde, oder ein Fall wie Paraguay, das in Wirklichkeit nie der Herrschaft autokratischer Regierungen entrann. Aus Gründen der Logik und um die grundlegendsten Veränderungen besser herauszuarbeiten, wollen wir aber dieses Schema eines Übergangs von der

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zentralistischen Autokratie zur liberalen Oligarchie beibehalten, obwohl es nicht in allen Fällen von der Geschichte bestätigt wird. Was geschah in Lateinamerika, vor allem in jenen Ländern, die am stärksten von der Europäisierung und der Wirtschaftsexpansion betroffen waren? Allmählich nahm die Einwohnerzahl der Städte zu. Die Beendigung der Bürgerkriege führte zu einer Aufblähung des Beamtenapparates. Das Volksschulwesen nahm beträchtlichen Aufschwung und ebenso die Universitätsausbildung einer ausgesuchten Minderheit, die danach strebte, auf die eine oder andere Weise an der Ausübung der Macht und der Lenkung des Staates beteiligt zu werden. Unter Berufung auf alte Meinungsverschiedenheiten und Zwistigkeiten, die im Verlaufe der Geschichte jedes einzelnen Landes aufgetaucht waren, wurden Parteien gegründet, die sich bei den Wahlen stellten. Dies war die Epoche, in der die ›Doktoren‹ mit den Militärs und den Caudillos in der Lenkung des Staatsgeschehens in Konkurrenz traten. Diese oft nicht einmal promovierten ›Doktoren‹ (die sich aber so nannten, weil damals wie heute solche Titel das soziale Ansehen in Lateinamerika außerordentlich hoben), zumeist waren es Rechtsanwälte, zuweilen Ärzte, die von ihren Klienten und Patienten ermutigt und unterstützt den Zugang zur Politik fanden, waren die Erben anderer Gebildeter, die zu Beginn des Aufstands gegen Spanien eine aktive Rolle gespielt hatten. Diese Gruppe hatte sich nie völlig aus dem politischen Leben, vor allem in den Städten, zurückgezogen, aber sie waren aus den führenden Posten verdrängt worden, weil sie sich unfähig erwiesen, einen Zugang zu den Massen des Volkes zu finden, weil sie zum abstrakten Konstitutionalismus neigten und zu wenig Verständnis für die Wirklichkeit, in der sie lebten, aufbrachten. Wenn in einem Land, und sei es auch nur in bescheidenem Maße, ein parlamentarisches System zu funktionieren beginnt, dann darf man annehmen, daß es die Entwicklungsphase erreicht hat, die wir im folgenden näher untersuchen wollen. Das bedeutet nicht, daß nun eine fortschrittlichere oder radikalere Phase als die vorhergehende angebrochen wäre. Im Gegenteil, die Reformen waren nun weit weniger gewagt, es wurde an einem Status festgehalten, für den die Abhängigkeit vom Ausland und die politische Vorherrschaft des Latifundiums im Innern unangefochtene Dogmen darstellten. Damit aber dieses System funktionieren konnte, mußte die Gesellschaft eine gewisse Konsistenz erwerben, und neue Veränderungen mußten sich vollziehen. Die liberalen Oligarchien berücksichtigten die einflußreichsten Kreise, die sich zuvor auf direkterem Wege Geltung verschafft hatten: die Macht der Caudillos, die sich jetzt im Stimmenfang für die Wahlurnen engagierte und in der paternalistischen Sorge für ihre Wählerschaft äußerte; der Einfluß der Großgrundbesitzer, der sich durch die Wahlstimmen der ländlichen Bevölkerung und durch die Tatsache verstärkte, daß zahlreiche Großgrundbesitzerssöhne, die im allgemeinen die Universität besucht hatten, in einflußreiche Stellungen

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gelangten. Als repräsentativ für dieses neue Regime kann Argentinien in der Zeit zwischen den Präsidenten Rosas und Hipólito Irigoyen (1916–22) – und ganz besonders die sogenannte Generation von 1880 – angesehen werden; aber auch das Regime, das sich unter der Regierung José Pedro Ellaurys (1873–75) in Uruguay abzuzeichnen begann und dann auch unter den Diktaturen bis zur ersten Amtszeit des Präsidenten José Battle y Ordóñez (1903–07) lebendig blieb; oder Chile zwischen der Regierung Diego Portales’ und der Präsidentschaft Balmacedas, d.h. ungefähr zwischen den dreißiger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts; und Brasilien, mit leichten Abweichungen, zwischen dem zweiten Kaiserreich und der Revolution von 1930. Die Zeiten der politischen Vormachtstellung der sogenannten liberalen Oligarchien waren Zeiten der Ruhe, die Wirren des politischen Lebens schienen überwunden. Und wie wir bereits dargelegt haben, waren diese Wirren nicht das Ergebnis eines tiefgreifenden Umwandlungsprozesses gewesen, sondern die Folge unangemessener verfassungsmäßiger Lösungen für eine Reihe von Problemen, welche die politische Stabilität einschneidend gestört hatten, ohne in irgendeiner Weise zu einer Änderung der Gesellschafts- und Wirtschaftsstruktur zu führen. Der Aufstieg der liberalen Oligarchien zur Macht verlieh einer Reihe von Veränderungen, die sich in einigen Gebieten des Kontinents unter dem Einfluß der neuen Beziehungen zu Europa vollzogen, einen zivilisatorischen und demokratischen Anstrich. Diese Zeiten waren günstig für die Entwicklung der politischen Literatur und der Redekunst. Vor allem wurde häufig über die Bürgerrechte, das Verhältnis zur Kirche, die Notwendigkeit von Verfassungsreformen diskutiert. Im allgemeinen verrieten diese rein theoretischen Streitgespräche eine eifrige Lektüre der zeitgenössischen europäischen Autoren, großes Vertrauen zu dem Beispiel Europas und die Zuversicht, ein möglichst großer Zustrom europäischer Einwanderer werde einer Förderung des Fortschritts zugute kommen. In der Epoche der liberalen Oligarchien traten die Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Antiklerikalen stärker hervor. Die Freimaurerorganisationen erhielten einen ungewöhnlichen Zulauf. Der politische Liberalismus brachte den Schutz der Grundfreiheiten und die Sorge um die Entwicklung der staatlichen Institutionen mit sich. Der wirtschaftliche Liberalismus ließ diese Länder in immer stärkere Abhängigkeit vom Ausland geraten. Die Praxis des parlamentarischen Lebens ermöglichte es, daß sich hin und wieder Stimmen gegen diesen Stand der Dinge erhoben; vor allem wurde gelegentlich ein Versuch unternommen, protektionistische Maßnahmen für die entstehenden einheimischen Industrien durchzusetzen. Auch die ersten Vertreter des Sozialismus kamen zu Wort. Diese hatten, so paradox es scheinen mag, von den Sozialisten unter den europäischen Einwanderern das Prinzip des Klassenkampfes, wie es in den Industrieländern in Erscheinung trat, übernommen. Aber sie waren unfähig zu begreifen, daß die

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Hauptaufgabe zum Besten der Hebung des Lebensstandards in ihren Ländern darin bestanden hätte, den Freihandel zu beseitigen und die wirtschaftliche Abhängigkeit zu überwinden. Im allgemeinen darf man es den aufgeklärten Oligarchien als Verdienst anrechnen, daß sie sich begeistert für die Verwirklichung der Pläne einsetzten, die den sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt ihrer Länder fördern sollten. Doch muß man ihnen gleichzeitig die Naivität vorhalten, mit der sie übersahen, daß diese Pläne nicht allein durch die bloße Nachahmung dessen verwirklicht werden konnten, was man in Europa und den Vereinigten Staaten getan hatte, und das fehlende Verständnis dafür, daß die Reformen vor allem und gerade bei den Strukturen hätten ansetzen müssen, die sie selbst vertraten. Die Übernahme der liberalen Ideologie und zuweilen die blinde Annahme des Positivismus bieten Gelegenheit, den Gründen nachzugehen, warum alles Handeln vergeblich ist, wenn die ideologische Einstellung nicht streng mit dem Milieu, das man umzugestalten wünscht, in Einklang steht. Die berühmtesten Vertreter dieser Ideologien waren Männer von hoher Bildung; ihre Bibliotheken waren bewundernswert. Aber sie zeigten sich weit mehr dazu befähigt, große Gelehrsamkeit zu entwickeln und die neuesten Theorien und Philosophien aus Europa zu verarbeiten, als sich mit den realen Gegebenheiten in ihren eignen Ländern auseinanderzusetzen. Wenn sie diese betrachteten, entdeckten sie da weite Bevölkerungsschichten, denen sie nicht allzusehr trauten, und Anzeichen von Rückständigkeit, deren Ursachen sie nicht zu erkennen fähig waren. Alles in allem handelte es sich dabei um Ausnahmefälle, wenn wir die ganze Epoche im Auge behalten. Charakteristisch für sie war eine enge Verbindung der politischen Betätigung mit der Verfolgung persönlicher Ziele; kennzeichnend war es, daß die innere Befriedung nur dadurch zustande kam, daß die eigentlichen und tiefsten Ursachen der Bürgerkriege zu Ausbrüchen anderer Art führten, wie sie in der folgenden Epoche die Aktion des Staates so sehr belasten und auch schwächen sollten; daß die Einführung des Wahlrechts durch die paternalistische Haltung der Oligarchien und jene Schichten der Gesellschaft, die durch sie größeren Einfluß erlangten, wieder völlig entwertet wurde (ohne daß hier auf die noch skandalöseren Fälle wie Wahlbestechung, Stimmenkauf und glatter Betrug bei der Auszählung der Stimmen eingegangen werden soll). Wenn es für den wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsprozeß, der die Veränderungen in dieser Epoche auslöste, notwendig war, daß der Staat eine größere Ordnung im Lande erzwang, so wurde diese auch erreicht. Aber im Anschluß daran ereignete sich nichts mehr, was ideologische Mündigkeit, Verständnis für die Wirklichkeit und die geeigneten politischen Mittel zur Erreichung positiver Änderungen verraten hätte. Vielmehr verschärften sich manche der Symptome, die heute oft Zweifel daran aufkommen lassen, ob der

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Staat in Lateinamerika je imstande sein wird, seine angeborenen Mängel und die Unfähigkeit in der Verwaltung so weit zu überwinden, daß die Pläne zur Behebung der Unterentwicklung erfolgreich durchgeführt werden können. 8. Formen der Europäisierung Von diesem Kapitel und den weiteren Ausführungen in Kapitel 13 und 14 über den Wandel in der lateinamerikanischen Kultur darf der Leser keine der in den traditionellen Darstellungen der Ideengeschichte bisher üblichen, gelehrsamen Aufzählungen von Fakten erwarten und auch keine besonders datenreiche Information über das literarische und künstlerische Schaffen. Vorzugsweise wird der Versuch unternommen, die allgemeinen Entwicklungslinien kollektiver Denkweisen herauszuarbeiten, für die eine individuelle Betrachtung einzelner Vertreter des Geisteslebens und der Kunst nicht repräsentativ genug sein kann. Es kommt uns darauf an, einen großen Überblick über den Wandel der Auffassungen, der Lebensformen, der Konsumgewohnheiten zu geben; und dies im Rahmen jenes Komplexes von Verhaltensweisen, Wertvorstellungen und Weltbildern, innerhalb dessen man heute in sozialem Sinn von einem Persönlichkeitsstrukturwandel spricht. Natürlich garantiert der Vorsatz noch nicht den Erfolg; zumindest aber soll versucht werden, annähernd etwas zu diesem Thema beizutragen, das noch ein weites Feld für ergänzende Studien bietet.

Die Europäisierung als Akkulturationsprozess Die Fortschritte auf dem Gebiet des Verkehrswesens und das Verhältnis der wirtschaftlichen Abhängigkeit von den Industrienationen Europas mußten sich nachhaltig auf das Leben in Lateinamerika auswirken, eine kulturelle Kontaktsituation fördern, die sich durch das wachsende Übergewicht europäischer Normen auszeichnete. So war es vorher, während der Epoche der Conquista, ebenfalls zu einer Kulturübertragung gekommen, von einer dominanten, gebenden Kultur auf eine dieser untergeordnete, empfangende Kultur. Politische Abhängigkeit oder Souveränität in den beeinflußten Gebieten sind dabei Aspekte von geringerer Bedeutung, als bisher angenommen wurde. Dagegen müssen zwei wesentliche Faktoren herausgestellt werden: 1. Wie George M. Foster mit Recht festgestellt hat, kommt es zwischen zwei vollständigen Kultursystemen nie zu einem vollen Kontakt, da sich gleichzeitig Siebungs-, Vermittlungs- und Interpretationsprozesse vollziehen.28 2. Die klarsten Unterschiede zwischen dem Akkulturationsprozeß der spanisch-portugiesischen Kolonialzeit und dem hier besprochenen bestehen: a) in bezug auf die Modelle; anstatt sich am iberischen Vorbild zu orientieren, richtete sich Lateinamerika nun nach den in den Industrieländern Europas, insbesondere in Frankreich, gültigen Normen;

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b) in bezug auf die Mittler; der iberische ›Conquistador‹ tritt in den Hintergrund, und die Rolle der kreolischen Eliten erhielt nun größere Bedeutung; c) in bezug auf das Kontakttempo; dies beschleunigte sich jetzt beträchtlich dank der Umwälzungen im Nachrichten- und Verkehrswesen; d) zur Zeit der Conquista war die wirtschaftliche Ausbeutung der Eingeborenen von einem Missionswesen überlagert worden, das vorübergehend eine gewisse Bedeutung hatte. In der jetzt zu behandelnden Epoche war ein solches Verhalten kaum zu bemerken. e) Während der Conquista fiel unter den Intellektuellen vor allem Geistlichen eine wesentliche Rolle beim Akkulturationsprozeß zu. Nun entfalteten die Laien eine größere Tätigkeit, und von diesen waren nicht wenige ausgesprochen antiklerikal eingestellt. Es gab in dieser Epoche auch Unterschiede in der Europäisierung Lateinamerikas und der anderer Gegenden der Erde, die damals von den Westmächten kolonisiert waren oder wurden: kennzeichnend für die lateinamerikanische Welt war die starke Mittlertätigkeit der kreolischen Eliten und die Tatsache, daß der Akkulturationsprozeß nicht auf eine totale ›Verwestlichung‹ hinauslief, aber auch nicht zu einem solchen Grade der kulturellen Resistenz führte, daß die unterworfenen Kulturen einer schrittweisen späteren Assimiliation hätten standhalten können (der Widerstand beschränkte sich auf isolierte Demonstrationen und rief keine nationalistischen Sammlungsbewegungen unter den Kolonisierten auf den Plan). Unterwerfung und Verdrängung der Eingeborenenkulturen Die Bewunderung für die Macht der Technik und der europäischen Expansion führte allmählich zu einer falschen Sichtweise, deren im allgemeinen unvorhergesehene Auswirkungen den Rassentheorien zu neuer Geltung verhalfen. Die Übertragung des Darwinismus auf das soziale Leben und die Verteidigung des Prinzips der größeren Lebenskraft bestimmter Völker trugen dazu bei. Die Postulate der Rassenlehren wurden oft ins Spiel gebracht, um die Expansion in jene Kulturkreise zu rechtfertigen, die man als unterlegen oder ›primitiv‹ betrachtete; man verwies darauf, daß nicht alle zufriedenstellend auf die Einführung der Lohnarbeit und des freien Unternehmertums reagierten. In Lateinamerika erwuchs aus diesen Vorstellungen und Prinzipien die Geringschätzung und die Diskriminierung der indianischen und der afrikanischen Kulturen; und dies so sehr, daß bei vielen unbewußt der Wunsch entstand, die Mehrzahl der Bevölkerung des Kontinents durch Einwanderer europäischer Herkunft zu ersetzen. Indianer und Neger waren in den Augen der damaligen Rassentheoretiker minderwertige, faule, degenerierte Subjekte, weil sie der neuentstandenen Forderung nach Produktionssteigerung gleichgültig gegenüberstanden. Der

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Zusammenprall der Kulturen wirkte sich besonders bedrohlich für jene kleinen Eingeborenengruppen aus, die sich ihre Unabhängigkeit hatten bewahren können und deren Landbesitz die Begehrlichkeit vieler weckte. Der Konflikt äußerte sich in Form von Antinomien; Gegensatz zwischen Christen und Heiden; Verteidigung der Idee des Privatbesitzes gegenüber denen, die den Begriff gar nicht kannten; Arbeitswille und Wettbewerbsstreben einer Gesellschaft, die sich ganz allmählich der kapitalistischen Wirtschaft anpaßte, gegenüber der Indolenz und dem fehlenden Streben anderer Gesellschaftsformen. Im Hinblick auf den Mangel an Arbeitskräften für die Erdarbeiten beim Bau des Panamakanals schrieb im Jahre 1879 M. Verbrugghe: »Der Indianer beugt sich ungern der Notwendigkeit einer regelmäßigen Arbeit; es fehlt ihm die physische und moralische Kraft, unablässig streift er durch die Urwälder, liegt einen ganzen Tag lang unbeweglich auf der Lauer nach den Fischen in den Flüssen, aber er lehnt es ab, sich zu bücken, um Erde auszuheben.«29 Ein Jahr zuvor hatte J. Martinet über Peru geschrieben: »Seit der Tribut abgeschafft wurde, überließ sich der Indianer seinem Hauptvergnügen, der Faulheit, und da er nichts zu bezahlen brauchte, war er von jeder Arbeit völlig unabhängig, denn seine geringen Bedürfnisse sind ohne viel Mühe zu befriedigen. Er lebte also nun ohne ein Ziel vor Augen in Müßiggang, Laster, Unwissenheit und Aberglauben.«30 Von den Rassentheoretikern wurde die ablehnende Haltung gegen die Lohnarbeit und die Möglichkeiten des neuen Wirtschaftssystems als das Resultat eines biologischen Atavismus ausgelegt. Diese Ansicht ist unter anderem durch Ausführungen in den Reiseerinnerungen E. Grandidiers (1861) belegt. Auch er befaßt sich mit den Folgen der Abschaffung des Tributs, den die Indianer in Peru bis zur Präsidentschaft des Marschalls Ramón Castilla (1845–51; 1855–62) hatten bezahlen müssen, und fährt dann fort: »Die Indianer, Angehörige der Rasse, die von den Nachfolgern Manco Capacs regiert wurde, sind genau wie die Neger im Grunde ihres Wesens faul; und weil die Fruchtbarkeit des Bodens es ihnen so leicht macht, ohne Anstrengung die für ihre Bedürfnisse notwendigen Lebensmittel zu beschaffen, verharren sie in dieser Apathie und Liebe zum far niente. Solange die Republik ihnen einen Tribut auferlegte, mußten sie ihre angeborene Trägheit überwinden und durch die Bebauung des Bodens oder durch Dienstleistungen die Mittel zu erwerben suchen, um die vom Staat geforderten Gelder zu bezahlen; sobald sie jedoch von dieser Auflage befreit waren, verfielen sie wieder in ihre angeborene Indolenz, und die Landwirtschaft war ihrer wichtigsten Hilfskräfte beraubt.« Später berichtet der Autor von seinen Reisen durch das Innere Perus bis nach Bolivien und beklagt sich über die anscheinend geringe Gastfreundlichkeit der Eingeborenen. »Damals wurde mir erneut klar«, so betont Grandidier, »wie glücklich sich ein drohend geschwungener Stock, der beste Talisman in der Kordillere, auswirken kann. Wollt ihr ein Huhn oder etwas Gekochtes zum Abendessen? Wollt ihr Futter für eure Maultiere oder sonst etwas? Die Drohung mit dem Stock genügt, und ihr

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bekommt, was ihr braucht. Wenn ihr nach einer beschwerlichen Tagereise müde und hungrig zur Hütte eines Indianers gelangt, so werdet ihr ohne den Stock nichts zu essen bekommen, und bötet ihr auch den zehnfachen Preis.«31 Nicht alle europäischen Reisenden jener Zeit ließen sich von dem herrschenden Rassendenken beeinflussen. Charles d’Ursel, zum Beispiel, schrieb im Jahre 1879 über Bolivien: » ...Das Volk besteht aus Indianern, die arbeiten, keinerlei Wohlstand besitzen, die Vorteile der Erziehung und der Zivilisation entbehren und als echte Leibeigene entweder den Großgrundbesitzern oder dem Staat gehören. In seltsamem Gegensatz dazu steht es, daß ein Gesetz jeden Mann, der lesen und schreiben kann, zum Wähler und folglich zum Staatsbürger erklärt; aber kaum ein Indianer kann lesen und schreiben, aus dem einfachen Grunde, weil es für ihn keine Schulen gibt. Die Regierung verfolgt damit, daß sie diese Menschen in Unwissenheit hält, ein steuerliches Ziel, denn jeder Indianer, der nicht wahlberechtigt ist, muß jährlich eine einmalige Kopfsteuer von 20 Francs bezahlen.«32 In der gleichen Epoche war Hugues Boulard in seinen Notes sur la république de l’Équateur zu ähnlichen Schlußfolgerungen über die Lage des Indianers in Ekuador gekommen: »Die legale Sklaverei ist in Ekuador verschwunden. Aber die in den Fabriken und landwirtschaftlichen Betrieben arbeitenden Indianer sind, mit ihren Familien, durch Bande an ihre Arbeitsstätten gefesselt, die sie nicht zerreißen können. Infolge der Vorschüsse, die sie nie abzahlen können, und dank juristischer Tricks und Kniffe sind sie heute genauso Sklaven wie ehedem. Ihre Löhne sind gering: 50 Centavos pro Tag, von denen ein Teil einbehalten wird; ihre Ernährung ist kümmerlich. Ein Stück Land ist hier nur so viel wert, wie Indianer auf ihm beschäftigt sind; sie sind das unerläßliche Kapital, um den Boden bewirtschaften zu können. Daß der anbaufähige Boden in Ekuador aus riesigen Ländereien besteht, die entweder religiösen Orden oder einigen wenigen privilegierten Familien gehören, ist eines der Haupthindernisse für die Entwicklung der Landwirtschaft in diesem Lande.« Der eingeborenen Bevölkerung in ganz Lateinamerika blieb keine andere Wahl, als sich den härtesten Ausbeutungsmethoden zu beugen oder sich in die tropischen Urwälder, die unwirtlichsten Gebiete des Kontinents oder die ärmsten Gebirgsgegenden zurückzuziehen. In den einzelnen Ländern sind Unterschiede zu verzeichnen, je nach dem zur Kolonialzeit erreichten Grad der Akkulturation der Eingeborenen und dem Stand, den sie bei der Entstehung der unabhängigen Staaten erreicht hatten. (Assimilation des Christentums, gemeinschaftlicher Landbesitz – Comunidades –, Dienstleistung für die kreolische Grundbesitzeroligarchie unter Bedingungen, die der Leibeigenschaft nahekamen). Uruguay löste das Eingeborenenproblem auf radikale Weise, indem es die letzten Reste der nicht adaptierten Indianer (charrúas) in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts völlig ausrottete.

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Um die entsprechenden Vorgänge in Chile nach der Unabhängigkeit verstehen zu können, muß man wissen, daß es hier zwei grundlegend verschiedene Zonen gab: das Gebiet nördlich des Bío-Bío-Flusses, wo der Mestize überwiegt und der reinblütige Indianer ausstirbt, und weiter im Süden die von den Araukanern beherrschten Gebiete, die sich der spanischen Eroberung und nach der Unabhängigkeitserklärung auch der chilenischen Durchdringung widersetzten. Im 19. Jahrhundert griffen die Araukaner wiederholt zu den Waffen (der größte Aufstand begann im Jahre 1859), um sich gegen den auf sie ausgeübten Druck zu wehren (ausländische Besiedlung, betrügerische Aneignung von ausgedehnten Ländereien durch Privatpersonen und Kommandanten der Grenzfestungen). Schritt für Schritt wurden die Araukaner in politischer Hinsicht unterworfen. Der Bau von Verkehrswegen, die Gründung von Städten und die allmähliche Einführung des Systems des Privateigentums beeinträchtigten offenkundig die Lage der Indianer; trotzdem gibt es noch heute geschlossene Eingeborenengemeinschaften in Chile.

 Abb. 10: Festung am linken Ufer des Rio Limay an der Grenze zwischen der Republik Argentinien und dem Indianerterritorium

Ähnlich liegt der Fall bei den Indianern der argentinischen Pampas. Mit der Schaffung kleiner Verteidigungsforts hatte die Regierung versucht, die Ausdehnung der Viehzuchtfarmen gegen die Überfälle der Indianer zu sichern. Während des Paraguaykrieges (auch Krieg der Tripelallianz genannt: Argentinien, Brasilien und Uruguay kämpften gegen Paraguay) nutzten die Indianer die Gelegenheit, um ausgedehnte Raubzüge zu unternehmen. Ein Teil

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von ihnen begründete sogar eine Art Reich unter Führung des Häuptlings Calfucurá, der je nach seinen Interessen bereit war, sich mit den Weißen zu verbünden oder gegen sie zu kämpfen. Der letzte Feldzug gegen die aufsässigen Indianer im Süden brachte im Jahre 1878 mit der siegreichen Expedition unter General Julio A. Roca das Ende der Indianerkriege. Ein ausgezeichnetes Dokument für den Kulturkonflikt, den der Zusammenprall mit der indianischen Kultur auslöst, ist das bereits klassische Werk Eine Exkursion zu den Ranquelelndianern, in dem der Autor, Lucio V. Mansilla, ein Gespräch festhielt, das er im Jahre 1870 mit einer Gruppe von Indianern im Süden Argentiniens führte. Eine politische und militärische Mission hatte General Mansilla in Indianergebiete geführt. Er sollte von den Kaziken erreichen, daß sie ihre Malones (räuberische Überfälle) auf Farmen und Dörfer einstellten. Er berichtet von einer stürmischen Begegnung mit dem Kaziken Mariano Rosas und anderen aufständischen Indianern während dieser Reise: »Er (Mariano Rosas) fragte mich, mit welchem Recht wir den Quinto-Fluß überquert hätten; er sagte, dieses Gebiet habe immer den Indianern gehört, ihre Väter und Großväter hätten in der Gegend der Lagunen von Chemecó, La Brava und Tarapendá, im Hügelland von La Plata und Langheló gelebt; er fügte hinzu, die Christen, mit dem allem noch nicht zufrieden, wollten noch mehr Land anhäufen (er bediente sich dieses Wortes). Diese Vorwürfe und Beschuldigungen lösten ein besorgniserregendes Echo aus. Die Indianer schlössen einen noch engeren Kreis um mich, um besser hören zu können, was ich antwortete. Es kam mir feige vor, hätte ich meine Gefühle und meine Bedenken verschwiegen, wenn auch meine Zuhörer primitive Wilde waren. Mit auf die Schenkel aufgestützten Ellbogen, den Blick unverwandt zu Boden gerichtet, nahm ich das Wort und erwiderte: ›Das Land gehört nicht den Indianern, sondern denen, die es durch ihre Arbeit produktiv machen.‹ Er ließ mich nicht fortfahren, unterbrach mich und sagte: ›Wieso soll es nicht uns gehören, da wir doch auf ihm geboren wurden?‹ Ich antwortete ihm, ob er glaube, das Land, auf dem ein Christ geboren sei, gehöre diesem. Und als er mich nicht unterbrach, fuhr ich fort: ›Die Truppen der Regierung haben den Rio Quinto besetzt, um die Grenze zu sichern. Diese Gebiete gehören den Christen noch nicht; sie gehören allen oder niemandem; eines Tages werden sie einem, zweien oder mehreren gehören, wenn die Regierung das Land verkauft, um Vieh auf ihm zu züchten, Weizen und Mais zu säen.‹ ›Ihr fragt mich, mit welchem Recht wir das Land nehmen. Ich frage Euch, mit welchem Recht Ihr uns überfallt, um Vieh zu rauben.‹ ›Das ist nicht dasselbe‹, unterbrachen mich mehrere; ›wir können nicht arbeiten; niemand hat es uns gelehrt, zu arbeiten wie die Christen, wir sind arm, wir müssen auf Raubzüge gehen, um leben zu können.‹

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›Aber Ihr stehlt fremdes Gut‹, sagte ich, ›denn die Kühe, Pferde, Stuten, Schafe, die Ihr mitnehmt, gehören Euch nicht.‹ ›Und die Christen‹, antwortete man mir, ›nehmen uns unser Land weg.‹ ›Das ist nicht dasselbe‹, sagte ich. ›Erstens, weil wir nicht anerkennen, daß das Land Euch gehört, Ihr aber anerkennt, daß das gestohlene Vieh uns gehört. Zweitens, weil man nicht mit dem Land lebt, man muß es bearbeiten.‹ Mariano Rosas bemerkte: ›Warum hat man uns nicht gelehrt, zu arbeiten, nachdem man uns unsere Tiere gestohlen hat?‹ ›So ist es, so ist es!‹ riefen viele aus, und ein dumpfes Gemurmel lief durch den engen Kreis aus Menschenleibern. Ich warf einen schnellen Blick in die Runde und sah mehr als ein drohend blitzendes Auge. ›Es stimmt nicht, daß die Christen Euch jemals Euer Vieh gestohlen haben‹, antwortete ich ihnen. ›Doch, das haben sie getan‹, sagte Mariano Rosas. ›Mein Vater hat mir erzählt, früher habe es bei den Lagunen von Cuero und Bagual wilde Herden gegeben.‹ ›Die stammten von den Farmen der Christen‹, antwortete ich. ›Ihr seid dumm und wißt nicht, was Ihr sagt. Wenn Ihr Christen wäret, wenn Ihr arbeiten könntet, dann wüßtet Ihr, was ich weiß; Ihr wäret nicht arm, sondern reich.‹«33 In Mexiko verschlimmerte sich nach der Unabhängigkeitserklärung die Lage der Indianer, weil der Latifundismus, verschiedene Formen der Zwangsarbeit und die Leibeigenschaft durch Verschuldung noch zunahmen. Die allmähliche Aufteilung des Gemeindebesitzes der Eingeborenen (Desarmortisationsgesetz von 1856, Besiedlungsgesetz und Gesetz über brachliegendes Land) kam dem Großgrundbesitz zugute und machte die Indianer zu reinen Landarbeitern. Die Eingeborenen reagierten auf verschiedene Weise: durch Passivität, die als Faulheit ausgelegt wurde, oder durch bewaffneten Aufstand, der sehr ernste Formen annehmen konnte (Aufstände der Yaqui und Mayo, Stammeskriege in Yucatán, der Chamulenaufstand in Chiapas). Zuweilen lagen religiöse Ursachen zugrunde (Revolte in Quintana Roo), in anderen Fällen standen sie im Zusammenhang mit innerpolitischen Auseinandersetzungen. Unter der Regierung des Präsidenten Benito Juárez (1858–61, 1864–72) verkündete im Jahre 1869 der Cora-Indianerhäuptling Manuel Lozada, es sei notwendig, daß die Indianer sich mit Waffengewalt gegen den Raub ihrer Ländereien wehrten, und er versuchte, einen Teil des Landes wieder zu besetzen. Dieser Versuch einer de facto-Agrarreform mündete im Jahre 1873 in eine offene Rebellion. Sie wurde niedergeschlagen und ihr Anführer Lozada hingerichtet. Die Halbinsel Yucatán bildete von 1847 an einen ständigen Unruheherd. Damals machten sich die Mayas den Umstand zunutze, daß Nord- und Zentralmexiko von den Nordamerikanern besetzt war, und erhoben sich. Die Rebellion durchlief verschiedene Phasen. Viele gefangene Indianer wurden als

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Sklaven nach Kuba verkauft, bewährten sich dort aber nicht als Arbeitskräfte. Im Jahre 1861 untersagte Juárez den Verkauf. Die lange Regierungszeit des Präsidenten Porfirio Díaz und seiner positivistisch eingestellten Mitarbeiter brachte den letzten Ansturm gegen die Welt des Indianers. Die Verschärfung der Spannungen trug dazu bei, später der mexikanischen Revolution die Züge einer Agrar- und Eingeborenenrevolution zu verleihen. In Guatemala war es den Eingeborenen gelungen, eine relative Unabhängigkeit zu bewahren, bis im Jahre 1877 Präsident Justo Rufino Barrios (1873–85) den Gemeindebesitz abschaffte. Der Aufschwung der Kaffeewirtschaft stand im umgekehrten Verhältnis zum materiellen Wohlstand der Indianer, denn die Expansion der kapitalistischen Wirtschaft beanspruchte in zunehmendem Maße mehr Arbeitskräfte und ausgedehntere Ländereien. Die eben beschriebenen Tatsachen beweisen, wie sehr die wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts und ganz allgemein der Europäisierungsprozeß sich zum Nachteil der Eingeborenenkulturen auswirkten und die materiellen Lebensbedingungen der Indianer verschlechterten. Aspekte des kulturellen Wandels Die Europäisierung der lateinamerikanischen Zivilisation ist zugleich ein Ergebnis äußerer Impulse und größerer Aufnahmebereitschaft gewisser einheimischer Kreise. Was den ersten Aspekt anbelangt, so ist auf den mächtigen Impuls hinzuweisen, der im Verein mit der Anwendung technischer Errungenschaften im Produktions- und Verkehrswesen von der unaufhaltsamen Ausweitung des Einflußbereiches des Industriekapitalismus ausgeht. Die Aufmerksamkeit Lateinamerikas wandte sich besonders England und Frankreich zu. An Großbritannien bewunderte man vor allem seinen technischen Fortschritt und seine wachsende Wirtschaftsmacht, an Frankreich die Lebensformen (die vielleicht den Vorstellungen der lateinamerikanischen Eliten mehr entsprachen als die britischen Lebensformen), die blendende Entwicklung des Geisteslebens und die verfeinerten Erzeugnisse der Luxusindustrien. Noch bevor das 19. Jahrhundert zu Ende ging, dauerte die Reise mit dem Dampfschiff zwischen Rio und Europa kaum mehr als zwei Wochen. Nachrichten trafen in wenigen Augenblicken über Seekabel ein. Das Gefühl der Isoliertheit verschwand allmählich. Die Schiffe brachten eine Fülle von Korrespondenz, Zeitungen und Zeitschriften, die man abonnieren konnte; sie brachten wissenschaftliche Fachzeitschriften, Modeblätter, Zeitschriften für den einfachen Leser oder für das Handelswesen; sie brachten Bücher in ausreichenden Mengen, so daß man große Bibliotheken (vor allem private) damit füllen konnte. Schauspiel- und Opernensembles, Musiker, Redner, Maler und Zeichner trafen ein. Bequemlichkeit und Komfort der Reisen verlockten viele Lateinamerikaner dazu, sich an Europareisen zu gewöhnen und Paris zu ihrer geistigen Hauptstadt zu machen.

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Europäische Waren setzten sich immer stärker durch, zum Teil, weil sie (wegen der fabrikmäßigen Herstellung) billiger, zum Teil, weil sie moderner waren. Die Anziehungskraft, die vom wissenschaftlichen Fortschritt in Europa und vom Komfort ausging, erhöhte das Ansehen europäischer Erzeugnisse noch mehr. Dies alles läßt sich nachweisen, wenn man die zunehmende Reklame in der lateinamerikanischen Presse des 19. Jahrhunderts näher untersucht. ›Eben aus Europa eingetroffen‹, ›Erzeugnis aus Paris‹, ›Wir verkaufen nur europäische Ware‹, so hieß es immer wieder in Anzeigen, die wir wie diese aus Zeitungen entnommen haben, die zu jener Zeit in Montevideo erschienen. Personen und Waren europäischer Herkunft empfahlen sich und wurden angepriesen: Musiker und Lehrer für Musik, Tanz und andere Fächer, Parfüms, Weine und Spirituosen, Seidenwaren und Hüte, Porzellan, Glaswaren, Möbel und auch Arzneien, die, nach ihrem vielseitigen Verwendungszweck zu urteilen, wahre Wunder hätten vollbringen müssen. Allmählich war Europa in den Augen der Lateinamerikaner die Wiege allen Fortschritts, und ›europäisch‹ bedeutete soviel wie zivilisiert. Bedauernswerterweise ergab sich daraus eine Gewöhnung daran, alles Europäische zu konsumieren, zu kopieren und zu imitieren, ohne daß man sich viel darum kümmerte, es den Erfordernissen Lateinamerikas anzupassen. Reisende wie der schwedische Seefahrer C. Skogman, der um die Jahrhundertmitte Valparaiso besuchte, hatten dieses Phänomen schon klar erkannt. »Vielleicht ist Valparaiso die zivilisierteste Stadt Südamerikas, wo die modernsten Ideen aus aller Welt im stärkstem Maße Eingang gefunden haben. Ohne die guten Seiten dieses Zustandes leugnen und ernsthaft behaupten zu wollen, es wäre am besten, wenn der ursprüngliche Naturzustand dort erhalten bliebe, so bedauern wir doch, wie schnell die nationale Eigenart immer mehr verlorengeht. Einem Reisenden, der eben Europa verlassen hat und hier nur schlechte oder mittelmäßige Imitationen dessen sieht, was ihm von dorther vertraut ist, kommt es ähnlich vor wie einem, der sich vorgenommen hat, aufs Land zu gehen, und sich dann in einem Dorf wiederfindet. Ohne Zweifel wirkt die Zivilisation sich auf lange Sicht wohltuend aus und ist eine anerkannte historische Notwendigkeit. Aber bei der Masse des einfachen Volkes pflegt sie zuerst einmal die wenigen guten Eigenschaften, die diese in ihrem halbwilden Naturzustand durchaus besitzen können, auszulöschen, ohne sie durch andere zu ersetzen, und die üblen Eigenschaften zu bewahren, oder gar zu betonen und zu verschlimmern. Bei den Oberklassen geht der zivilisatorische Einfluß gemeinhin nicht über die Art der Kleidung hinaus. Der Lateinamerikaner leugnet nicht, daß Europa in mancher Hinsicht weiter fortgeschritten ist, aber er weiß nicht so recht, worin diese Überlegenheit eigentlich besteht.«34 Die zahlreichen Europäer, die Lateinamerika in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereisten, bezeugten alle, daß der Lebensrhythmus sehr langsam war, die Frauen praktisch wie in einem Kloster lebten, unendlich viel Zeit mit

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Besuchen als der üblichen Form gesellschaftlichen Lebens verlorenging. Nur langsam sollte hier ein Wandel zu beobachten sein. Ein französischer Reisender, Aimard, der Rio bereits im Jahre 1856 besucht hatte, berichtete von seiner zweiten Reise, dreißig Jahre später: »Ich hatte eine sehr düstere Erinnerung an die Straßen Rios. Diese engen, dunklen, unregelmäßigen, stillen, traurigen Straßen mit den hermetisch geschlossenen Jalousien und Rolläden, hinter denen man hier und dort spöttisches, silberhelles Lachen hörte; die dunklen, schmutzigen, übelriechenden Läden; diese Straßen, deren Verlassenheit nur von Negern und Negerinnen und von ein paar, in dieser langweiligen Wüste verlorenen Europäern belebt werden; die vorsintflutlichen Karossen, die mit ihren herabgelassenen Gardinchen wie Leichenwagen aussehen; alle diese Erinnerungen bedrückten mich schon im voraus. In jener fernen Zeit waren die brasilianischen Damen unsichtbar und lebten wie hinter Klostermauern, nie betraten sie zu Fuß die Straße; eine Dame, die es gewagt hätte, allein die Straße zu betreten, hätte ihren guten Ruf verloren; nur die Frauen aus dem niederen Volke – Mestizinnen – wagten dies, und auch sie nur selten. Nach meinem ersten Spaziergang an Land war ich verblüfft. Alle Fenster standen offen, dichtes Menschengetümmel, Männer und Frauen nach der neuesten Pariser Mode gekleidet, völlige Ungezwungenheit. Rio de Janeiro war vollkommen verwandelt: prächtige Läden, Cafés, Bierstuben auf Schritt und Tritt; Hotels, Restaurants mit dem höchsten Komfort; eine eilige Menschenmenge bewegte sich mit einer Geschäftigkeit durch die Straßen, wie man sie sonst nur in Städten wie London und Paris antrifft; reiche Equipagen, Reiter, und dies alles in eifrigem Hin und Her. Männer, Frauen, Arbeiter, Mönche, Bettler, was weiß ich, drängten sich auf den Bürgersteigen; und der Gipfel des Ganzen: Straßenbahnen mit zwei und vier Maultieren fuhren durch die Straßen der Stadt.«35 Trotz aller Wirren in der südamerikanischen Politik sollte eine gewisse Einheitlichkeit des gesellschaftlichen Lebens gewahrt bleiben. Gegen Ende des Jahrhunderts sollte es eine allen vermögendem Familien – das waren die städtischen Eliten – gemeinsame Lebensform geben. ›Man‹ lebte in einem vornehmen Viertel der Stadt, in luxuriösen Häusern, und ermöglichte den Söhnen eine ihrer sozialen Stellung entsprechende Erziehung. Der Kirchgang, Theatervorstellungen, abendliche Feste und gesellige Zusammenkünfte en famille gaben willkommenen Anlaß, die Monotonie des Alltags zu durchbrechen. Wenn eine Familie zu den ersten Kreisen gehören, Ansehen und Achtung genießen wollte, so mußte sie einen Wohnsitz haben, der diesem gesellschaftlichen Ehrgeiz entsprach. Französische, italienische und einheimische Architekten verstanden es, diesem Verlangen entgegenzukommen; sie füllten die Städte mit reich geschmückten, herrschaftlichen Prachthäusern, die vom Reichtum der Besitzer Zeugnis ablegten. Bei den schnell errichteten Bauten, die sich durch Stilgemisch und Überladenheit auszeichneten, kam es vor allem auf eine prachtvolle Fassade an und auf einen oder mehrere Empfangsräume, die verschwenderisch und ohne besonderen Schönheitssinn oder guten Geschmack ausgestattet waren. Wichtig

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war es, daß wertvolle Teppiche, kostbares Porzellan, riesige Spiegel in vergoldeten Rahmen zur Schau gestellt wurden. Mächtige geschnitzte Möbelstücke, prächtige Uhren, eine Fülle von Gegenständen vermitteln einen Eindruck, der oft der Protzerei des ›Neureichen‹ gefährlich nahekam. Im Jahre 1888 berichtete ein Besucher Santiagos, Charles Wiener: »Wir haben uns gefragt, zu welcher Stilrichtung die eleganten Hotels, die herrschaftlichen Häuser in Santiago gehören und haben keine befriedigende Antwort gefunden. Vor allem sollte man hier, von Ausnahmen abgesehen, nicht von Wohnhäusern sprechen; in erster Linie gibt es Fassaden, und ihre Ausgestaltung zeigt in unendlichen Abwandlungen hier ein Renaissancedach von dorischen Säulen getragen, dort einen florentinischen Mittelbau mit zwei Seitenflügeln in irgendeinem beliebigen Stil. Ziegel oder Lehmziegel der Mauern, Gips, Stuck oder Holz der Verzierungen werden mit Farben übermalt, die sie bei Nacht wie Marmor oder Granit, Porphyr oder Jade wirken lassen. Zu gewissen Stunden nimmt Santiago, in der Beleuchtung der Dämmerung etwa, ein gespenstisches, unwahrscheinliches Aussehen an. Wenn dieses nachgeahmte Material echt wäre, wenn diese Säulen und Kapitelle aus Marmor wären, wieviele Millionen lägen dann in diesen Häusern begraben! ... Die prächtigsten Fassaden sind an den großen geradlinigen Straßen zu sehen: erwähnen wir das ganz mit Marmor verkleidete Haus der Señora Real de Azúa, den Palazzo des Señor Bonazarte, den Blanco-Encalada-Palast in reinstem Louis XV.-Stil, den Wohnsitz des Señor Arrieta, eine prachtvolle florentinische Villa. Señor Urmeneta hat ein gotisches Schloß erbaut, Señor Claudio Vicuña wohnt in einer Nachahmung der Alhambra ...«36 In jeder Stadt fiel dem Friedhof die Aufgabe zu, diese Verhältnisse zu bestätigen: die Familien der Elite mußten ein Mausoleum für die Gebeine ihrer Toten haben. Und auch die Friedhöfe wurden mit Reichtümern überladen. Inmitten der Pantheons ragten Skulpturen von Engeln, weinenden oder betenden Frauen, Löwen, Kreuze, Anker und geborstene Säulen auf. Marmor und Granit wurden verwendet, um einem Gemisch von Religiosität, ziemlich viel Romantik und vor allem dem Wunsch Ausdruck zu verleihen, das Ansehen der Familie in der Öffentlichkeit zu steigern. Hin und wieder legt eine ägyptische Pyramide oder ein geometrisches Symbol Zeugnis für den Eigensinn eines Liberalen oder eines Freimaurers ab. Etwas weiter weg kommen die bescheidenen Grabnischen und schließlich das Gemeinschaftsgrab für jene, die der breiten Masse des Volkes angehörten und deren Namenlosigkeit der Tod verewigte. Der Geist der Nachahmung und die Stilunsicherheit gingen soweit, daß niemand sich wunderte, wenn Ekuador Kopien ausländischer Gemälde auf die Pariser Weltausstellung schickte und seelenruhig im Katalog dazu bemerkte: »Ekuador erfreut sich im Spanisch sprechenden Amerika seit langem des Ruhms, den ihm seine Maler eingetragen haben. Die Gemälde aus Quito werden hauptsächlich nach Peru, Chile und Neu-Granada (das heutige Kolumbien)

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ausgeführt. Wenngleich sie keinen hohen Originalwert besitzen, so haben sie doch das Verdienst, mit bemerkenswerter Treue alle Meisterwerke der italienischen, spanischen, französischen und flämischen Schulen nachzuschaffen ...«37 Der Soziologe Gilberto Freyre hat vielleicht am besten die Art und Weise untersucht, in der die Brasilianer des 19. Jahrhunderts nach und nach die herkömmlichen Sitten und Gebräuche aufgaben, um die Gewohnheiten und den Lebensstil der Europäer in einer Zeit zu übernehmen, da der Kontakt mit dem unter der Herrschaft des siegreichen Bürgertums nunmehr industriellen, mechanisierten und kommerziellen Europa erneuert wurde. Dieser Autor hat besonders darauf hingewiesen, welche Rolle das Bier, englische Tuche, die Dampfmaschine, Zahnprothesen und Weizenbrot im Prozeß der Reeuropäisierung gespielt haben. Das ging so weit, daß man sogar die Farben der Gegenstände des täglichen Lebens verblassen ließ. Europa hatte dem noch lyrisch-ländlichen Brasilien, das mit Holz kochte und arbeitete, die dunkle oder aschfarbene Schwärze seiner dem Zeitalter der Kohle entsprechenden Zivilisation aufgezwungen, das sich auf Wohnung und Kleidung jener Epoche erstreckt. Im Jahre 1849 erhob ein Arzt warnend seine Stimme, weil die Tuberkulose im Land immer mehr um sich griff. Unter den Gründen für die besorgniserregende Verbreitung dieser Krankheit im Brasilien Pedros II. (1831– 89) erwähnte Dr. Joaquín de Aquino Fonseca als wichtigsten den verstärkten Kontakt zwischen Brasilien und Europa, der die Nahrungs- und Kleidungsgewohnheiten völlig veränderte und dabei oft zu einer lächerlichen, unsinnigen Nachahmung, zum Beispiel der Bekleidung, wie sie in kälteren Klimazonen angebracht ist, geführt hatte. Wie Gilberto Freyre feststellt, forschte bereits im Jahre 1846 ein Artikel der Zeitschrift ›O Progresso‹ nach dem Grund, warum die Handwerkerberufe immer stärker von Ausländern beherrscht wurden, während die Söhne aus den ärmeren einheimischen Familien noch immer den Ausweg in die staatlichen Stellungen suchten. Dies alles in einer sich wandelnden Welt, in der neu entstehende Teigwaren-, Spirituosen-, Eis-, Hut- und Rauchtabakfabriken den Zustrom europäischer Arbeiter so nötig brauchten wie die Luft zum Atmen, weil sonst eine Industrialisierung und die Verbürgerlichung, Verstädterung und Technisierung des brasilianischen Lebens nicht zu verwirklichen waren. Die Europäisierung verschärfte die Europafeindschaft und das Mißtrauen der breiten Masse, die Rivalität zwischen dem landwirtschaftlichen Arbeiter und dem europäischen Handwerker, zwischen dem kleinen öffentlichen Angestellten und dem ›Gringo‹-Kaufmann. Das Übergewicht des Großgrundbesitzes ließ die Entstehung eines freien Arbeiterstandes nicht zu, was die Rivalität zwischen Einheimischen und europäischen Kaufleuten und Handwerkern noch vergrößerte und zu so blutigen Ereignissen wie der Revolte von 1848 in Recife führte.38

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Die Europäisierung griff auch auf die Geisteswelt über. So etwa drang in Lateinamerika der Wirtschaftsliberalismus ein, von dem es hieß, er sei »wie die meisten englischen Erzeugnisse nicht zum Konsum im eigenen Lande, sondern für den Export bestimmt«, oder die Romantik, »die gleich einer Modezeichnung oder einem Parfümfläschchen aus Paris zu uns gekommen ist«. Der Einfluß des Gedankengutes oder der literarischen Strömungen beschleunigte sich, je weiter das Jahrhundert voranschritt. Man hat festgestellt, daß der Liberalismus mit einer Verspätung von mindestens zwei Jahrzehnten in Lateinamerika eintraf; das war schon nicht mehr der Fall bei den späteren rationalistischen und positivistischen Strömungen, weil die weite Verbreitung des gedruckten Buches und der Reiselust die Übertragung dieses Gedankengutes beschleunigten. Die Universitäten griffen die neuen Ideen allerdings erst etwas später auf, weil sich die akademischen Kreise länger gegen sie wehrten. Bis hierher haben wir uns vorzugsweise mit den Geistesströmungen und dem allgemeinen Wandel der Kollektivmentalität befaßt (wie wir es uns zu Beginn des Kapitels vorgenommen hatten). Hier sind allgemeingültige Tendenzen leichter zu erfassen und zu verfolgen. Komplexer und gefahrvoller ist der Versuch, einzelne lateinamerikanische Autoren jener Zeit einzuordnen. Unverkennbar standen sie alle unter europäischem Einfluß. Bei den einen ist die Neigung zum Liberalismus zu beobachten, bei den anderen eine Vorliebe für den Positivismus (und fast alle scheinen wenig Zutrauen zu den Fähigkeiten des lateinamerikanischen Menschen zu haben, weshalb sie die europäische Einwanderung gefördert sehen möchten). Der Rang ihrer literarischen Erzeugnisse ist sehr unterschiedlich, und daher hat die Beurteilung ihrer Werke heftige Polemiken ausgelöst. Kraft, Originalität, der Glaube an Bildung und Fortschritt sind klar hervortretende Kennzeichen im Werk Domingo Faustino Sarmientos (1811–88). Doch sie standen im Widerspruch zu der Resignation, mit der er die industrielle Vormachtstellung Englands hinnahm und erwartete, Argentinien werde sich in dessen Lieferanten für land- und viehwirtschaftliche Erzeugnisse verwandeln. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatte der Venezolaner Andrés Bello (1781–1865; Lehrer Bolívars und Begründer der Universität Santiago de Chile) in seiner berühmten Rede zum Jahrestag dieses Institutes in Chile gesagt: »Sollten wir noch immer dazu verurteilt sein, sklavisch die Lektionen der europäischen Wissenschaft nachzubeten, ohne es zu wagen, über sie zu diskutieren, sie mit der Anwendung auf unsere einheimischen Gegebenheiten einleuchtender zu machen, ihnen ein eigenes, nationales Gesicht zu geben?« Ähnlich drückte es im Jahre 1840 der argentinische Jurist und politische Schriftsteller Juan Bautista Alberdi aus, als er sich fragte, welche Philosophie von der amerikanischen Jugend studiert werden sollte, und dabei zu dem Ergebnis kam, es müsse eine Philosophie sein, die sich mit den großen allgemeinen Problemen der Nation auseinandersetze. Obwohl sich nun Alberdi auch für die Förderung des Fortschritts in seinem Lande einsetzte, überrascht er uns zuweilen

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mit Äußerungen wie dieser: »Als Spanien die Entwicklung der Industrie in seinen amerikanischen Kolonien unterband, erwies es damit den Industrieländern Europas einen Gefallen, weil es auf diese Weise einen reichen Kontinent zurückließ, der jetzt gezwungen ist, den fortgeschritteneren Industrieländern ihre Waren abzukaufen. Andrerseits stellt eben diese Rückständigkeit Südamerikas einen Vorteil dar. Anstatt eine unzulängliche Industrie aus der Kolonialzeit zu erben, steht ihm jetzt die bestentwickelte Industrie des Europas des 19. Jahrhunderts zur Verfügung.«39 Bei fast allen lateinamerikanischen Intellektuellen entdecken wir, daß sie über die neuesten Geistesströmungen in der alten Welt eingehend informiert waren und leicht einen Zugang zu ihnen fanden. Mit dem Wachstum der Städte kam es in steigendem Maße zur Gründung katholischer Zirkel, Freimaurerlogen und literarischer Clubs; auch lösten jetzt die ersten Sozialisten leidenschaftliche Kontroversen aus. Das Eindringen des Positivismus in Lateinamerika ist bis in alle Einzelheiten erforscht. In Mexiko diente er dem Kampf gegen das politische Chaos, der Herstellung öffentlicher Ordnung (unter der Diktatur des Porfirio Díaz) und dem materiellen Fortschritt. In anderen Ländern verbündete er sich mit dem politischen Liberalismus im Kampf gegen die Diktaturen, oder er verschärfte bereits vorhandene antiklerikale Tendenzen. In Brasilien bestärkte er die Gründer der Republik in ihren Zielen, und es wurde ein wahrer Kult mit ihm getrieben. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fanden Philosophen und Essayisten ein lebhaftes Echo bei der jungen Generation. So etwa der Uruguayer José Enrique Rodó (1872–1917), dem ein großartiger Erfolg beschieden war, weil seine Werke hohe stilistische Qualität aufwiesen, weil er für die kulturellen Werte Frankreichs eintrat (nicht zuletzt aber auch, weil er anprangerte, was er den ›rohen Materialismus‹ Nordamerikas nannte). In diesem Zusammenhang sind auch die Peruaner González Prada (1848–1918), ein leidenschaftlicher, dem Anarchismus nahestehender Autor, und Juan B. Justo (1865–1928) aus Argentinien zu nennen, der spencerianischen Positivismus mit sozialistischen Ideen verquickte. Kulturelles Verhalten der Einwanderer Das Phänomen der Europäisierung der lateinamerikanischen Eliten muß streng unterschieden werden von dem kulturellen Verhalten der Einwanderer, die aufgrund ihrer Herkunft und der sozialen Schichten, denen sie angehören, weit davon entfernt sind, sich mit den Idealen der Eliten zu identifizieren. Viele von ihnen waren vertriebene Bauern, für die der Sprung über den Atlantik gleichzeitig die Abwanderung in die Stadt bedeutete. Ihre Assimilation stieß eine Zeitlang auf Schwierigkeiten. Sie wurden nicht nur von den lateinamerikanischen Oberschichten hochmütig abgelehnt, sondern gerieten auch aufgrund der kulturellen Unterschiede und der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt mit den niedrigeren kreolischen Volksschichten in Konflikt (die über 20 Jahre alte männliche Bevölkerung der Stadt Buenos Aires z.B. setzte sich

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nach der Statistik vom Jahre 1869 aus 12 000 Argentiniern und 48 000 Ausländern zusammen; die Statistik vom Jahre 1895 verzeichnet 42000 Argentinier und 174000 Ausländer, und die Statistik aus dem Jahre 1914 gibt 119000 Argentinier und 404000 Ausländer an). Eine Zeitlang schlössen sich die Ausländer je nach ihrem Herkunftsland in verschiedenen Vereinigungen (kulturellen, gesellschaftlichen und sozialen Charakters) zusammen. Aber allmählich schwand der Widerstand gegen die Assimilation, und von der zweiten Generation an gingen sie in einer aus Ausländern und Kreolen gebildeten hybriden Masse auf. Isolierte ausländische Siedlungen (Deutsche in Südbrasilien, Waliser im argentinischen Chubut) widerstanden am längsten der Assimilation, die aber schließlich doch nicht aufzuhalten war. Die kulturelle Integration ging am schnellsten in den städtischen Volksschichten voran, die spontaner reagieren und weniger Vorurteile haben. Der Tango am Rio de la Plata kann als eine der typischsten schöpferischen Beiträge dieser zusammengewürfelten städtischen Gesellschaft betrachtet werden, in der, nach Überwindung der Anfangsschwierigkeiten, der Kreole mit dem eingewanderten ›Gringo‹ zusammen zu leben lernte. Der Tango, zuerst eine rein musikalische Äußerung, fing schließlich im Wortlaut seiner Texte eine ganze gemeinschaftliche Lebensauffassung ein, die sich stark von der der offiziellen Gesellschaft unterschied. Von den Randkulturen zu den Volkskulturen Die Europäisierung war vor allem ein Ziel der Eliten gewesen. Doch schließlich stellte sich heraus, daß die Europabegeisterung dieser Eliten – belastet mit Vorurteilen ethnisch-kultureller Art und solchen, die ihrem eigenen Charakter als herrschende soziale Klassen entsprangen – wenig schöpferische Kräfte ausgelöst hatte. Als Reaktion darauf kam es zu einigen Fällen von GegenAkkulturation (darunter ist der Synkretismus von Elementen primitiver Kulturen zu verstehen, die von einer fremden Kultur überlagert und verachtet werden). Ein Beispiel dafür wäre die starke Zunahme einer ganz typischen Art von Spiritismus bei den unteren Volksschichten in São Paulo, in dem sich afrikanische und europäische Elemente vermischten (allerdings unterschieden sich diese europäischen Einflüsse von denen, an denen die Eliten interessiert sind). Diese ›Religion‹ fand schnell eine Anhängerschaft unter den Nachkommen der afrikanischen Sklaven und der ärmsten Einwanderer, die nun das entstehende Proletariat der Stadt São Paulo bildeten. Die offizielle Ablehnung gegenüber den indianischen oder afrikanischen Elementen konnte eine Weiterentwicklung dieser Kulturen nicht verhindern, die allmählich ihren reinen, ursprünglichen Charakter verloren. Während die Eliten der Imitation huldigten und Kultur mit Konsumfähigkeit gleichsetzten, kam auf der unteren Ebene des breiten Volkes ein langsamer Prozeß in Gang, dessen Wert erst später erkannt werden sollte. Für diesen Prozeß ist die Stadt als völkischer

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Schmelztiegel und das Weiterbestehen ausschlaggebender Bedeutung.

ländlicher

Reserven

von

Dritte Periode Beginn der Krise Wie bei den bisherigen Perioden sind auch jetzt die Grenzen (Beginn des 20. Jahrhunderts – Zweiter Weltkrieg) nur von annähernder Gültigkeit. Unter einem anderen Blickwinkel hätte man vielleicht der Wirtschaftskrise von 1929–1934 als Ausgangspunkt den Vorzug gegeben. Wenn wir dies nicht gern getan haben, dann deswegen, weil wir gewisse, sehr charakteristische politische Veränderungen, wie die Revolution und die folgende Entwicklung in Mexiko, mit in diese Periode einbeziehen wollten. Auch in den Südstaaten, Argentinien, Chile und Uruguay, kam es schon früher zu Umwälzungen im politischen Leben, wenngleich in evolutionärer und nicht, wie in Mexiko, in revolutionärer Form. Auch Brasilien erfuhr nach 1930 wichtige Veränderungen. Für die Abgrenzung dieser Periode gegenüber der folgenden ist es wichtig, darauf hinzuweisen, daß in vielen Bereichen eine eindeutige Kontinuität der Entwicklung zu beobachten ist, daß also die Grenzziehung mehr der übersichtlichen Darstellung dient. Und doch zeigt die folgende Periode eine neue Erscheinung: das internationale Leben ist von dem politischen Gegensatz zwischen den USA und der UdSSR und seinen Auswirkungen gekennzeichnet, sowie von einer stärkeren Tendenz, den Fortschritt am Maßstab der wirtschaftlichen Entwicklung zu bemessen. Ein klärender Hinweis für die Darstellungsweise von der dritten Periode an: die Quellenzitate werden seltener, weil der Zugang zu einer einheitlichen Dokumentation von anerkanntem Wert (wie sie für das 19. Jahrhundert in den französischen Archiven und Reisebeschreibungen zur Verfügung steht) sehr schwer ist. Dieser Mangel wird jedoch weitgehend durch das Vorhandensein reicheren statistischen Materials und die Forschungsergebnisse von Organisationen wie der CEPAL, der UNESCO und der FAO ausgeglichen. Je mehr sich der Historiker der jüngsten Zeit zuwendet, desto öfter kann er sich andererseits auf Paralleluntersuchungen von Wirtschaftlern, Soziologen, Anthropologen und anderen Gesellschaftswissenschaftlern stützen, die bisher unbekannte Tatsachen zutage förderten; auch diese müssen, um besser analysiert werden zu können, zeitlich angemessen eingeordnet werden.

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 Abb. 11: Lateinamerika im 20. Jahrhundert

9. Festigung der nordamerikanischen Vorherrschaft und Auswirkungen der internationalen Politik Im Laufe des 20. Jahrhunderts wird die Verdrängung des zuvor in Lateinamerika vorherrschenden Einflusses der Briten durch die nordamerikanischen Interessen immer stärker sichtbar. Die nordamerikanische Einflußnahme durchläuft verschiedene Phasen und Erscheinungsformen. Die brutale Intervention zur Zeit der Big stick-Politik Theodore Roosevelts (1901–09) wurde von einer Epoche abgelöst, in der zwar die direkten Interventionen zurückgingen, aber die großen Handelsgesellschaften entscheidenden Einfluß auf die nordamerikanische Außenpolitik gewannen, und danach von einer Epoche, in der dieser Einfluß abnahm und die ›Politik der guten Nachbarschaft‹ Franklin D. Roosevelts (1933– 45) sich durchsetzte. Gleichzeitig ermöglichte die Einschränkung direkter Interventionen es den Vereinigten Staaten, auf eine Stärkung der Panamerikanischen Union zu drängen, ganz besonders in der Zeit unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg und dann nach dem Angriff auf Pearl Harbour (7.12.1941).

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Vor allem wird unsere Aufmerksamkeit den nordamerikanischen Investitionen gelten und der Tätigkeit nordamerikanischer Handelsgesellschaften in lateinamerikanischen Ländern, dann auch dem zunehmenden Missionswirken protestantischer Nordamerikaner und der gesamten Politik kultureller Beeinflussung und der Propaganda, die die Nachbarn im Süden von den Vorzügen des American way of life überzeugen soll.

Auf dem Wege zu einer neuen nordamerikanischen Aussenpolitik Drei hauptsächliche Faktoren bewirkten die Änderung in der Haltung Nordamerikas. Erstens war die Ausweitung der nordamerikanischen Grenzen beendet worden, die lange Zeit hindurch Menschen, Kapital und Unternehmungsgeist ein weites Betätigungsfeld geboten hatte. Zweitens wuchs schnell die Macht der großen Unternehmen, die durch Trustund Monopolbildung den nordamerikanischen Kapitalismus stärkten. Im Jahre 1901 gründete Andrew Carnegie (1835–1919) die United States Steel Corporation mit einem Kapital von 1400000000 Dollar, einer Summe, die, wie man berechnet hat, das gesamte Vermögen der Vereinigten Staaten im Jahrhundert vorher überstieg. John Davison Rockefeller (1839- 1937) schuf ein wahres Wirtschaftsimperium, das sich zuerst auf Erdöl beschränkte, sich dann aber auch auf andere Wirtschaftszweige erstreckte und sich auf die National City Bank of New York stützte. Der Morgan-Bank unterstanden Eisenbahn-, Kredit- und Versicherungsunternehmen. Die Trustbildung erlaubte eine Zentralisierung der Leitung und Verwaltung, die Ausschaltung kleinerer Unternehmen, eine wirkungsvolle Kontrolle über Preise und Märkte, und sie schuf darüber hinaus die Möglichkeit, durch Ausweitung der Auslandstätigkeit die Gewinne zu erhöhen. Die Standard Oil Company ist dafür ein typisches Beispiel. Innerhalb der Vereinigten Staaten wurden bis zu einem gewissen Grad die Monopolbestrebungen dieser Trusts bekämpft und überwacht, aber für ihr Wirken im Ausland besaßen sie völlige Freiheit. F.D. Armour und G.F. Swift gründeten den Fleischtrust. Meyer Guggenheim (1828–1905) kontrollierte den größten Teil der Kupferproduktion. Nach und nach geriet die ganze Wirtschaftstätigkeit, trotz aller Versuche, wie etwa des Shermangesetzes vom Jahre 1890, sämtliche Verträge, Abmachungen und Absprachen zur Marktbeherrschung, einschließlich der Monopole, als ungesetzlich zu erklären, unter die Kontrolle der Trusts. Schließlich ist drittens noch eine ganze Reihe geistiger Faktoren zu berücksichtigen, die dem expansionistischen Nationalismus den Weg bereiteten. Schon im Jahre 1855 war im ›Hunt’s Merchants’ Magazine‹ ein Artikel erschienen, in dem es hieß: »So wie in der modernen Gesellschaft der Kapitalist den Mittellosen beherrscht, werden unter den Nationen ebenfalls die Reichen die Dienste der Armen beanspruchen oder sie vernichten. Man sollte sich über die

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weltweite, unwiderrufliche Gültigkeit dieses Gesetzes nicht beklagen ... Es ist besser, wenn auf diese Weise eine niedrigere Rasse ausstirbt und die Entwicklung einer höheren Rasse nicht behindert wird.«40 Gegen Ende des Jahrhunderts treten die bedeutendsten Theoretiker des nordamerikanischen Imperialismus auf den Plan. Der erste war Josiah Strong, der Verfasser von Our Country (1885), der die Idee von der angeborenen Überlegenheit der angelsächsischen Rasse entwickelte und vor den Gefahren einer Verknappung des freien Bodens, der übermäßigen Verstädterung und der unkontrollierten Einwanderung warnte. In demselben Jahr wurde Manifest Destiny von John Fiske veröffentlicht, der sich für die überseeische wirtschaftliche und koloniale Expansion der Vereinigten Staaten einsetzte. Im Jahre 1890 erschien The influence of sea power on history von Kapitän Alfred Mahan. Dieser Seeoffizier war der Ansicht, die Vereinigten Staaten sollten ihre christliche und zivilisatorische Mission bei den minderwertigen Völkern unter Einsatz einer starken Kriegs- und Handelsflotte und auf dem Wege über den Handel und den Erwerb von Kolonien verwirklichen. Vorstellungen dieser Art fanden erfolgreiche Verbreitung durch die Sensationspresse William Randolph Hearsts (1863–1951) und Joseph Pulitzers (1847 bis 1911). Theodore Roosevelt, ein Freund und Bewunderer Mahans, setzte diese neuen Ansichten in die Praxis um. Im Krieg gegen Spanien (1898), der ganze drei Monate dauerte, schlug die nordamerikanische Flotte die spanische Flotte vernichtend bei Manila und Santiago de Cuba. Missionare und Kapitalisten begrüßten die neuen Möglichkeiten, die ihnen der Besitz der Philippinen im Fernen Osten eröffnete. Roosevelt hatte sich persönlich nach Kuba begeben, um dort zu kämpfen, und bei seiner Rückkehr empfing man ihn als Helden. Kurz darauf wurde er zum Gouverneur von New York und zum Vizepräsidenten gewählt. Die Ermordung William McKinleys (1897–1901) durch einen Anarchisten brachte Roosevelt unerwartet in das oberste Staatsamt. Während seiner Regierungszeit bewies er, daß er nicht scherzte, wenn er den Ratschlag gab: »Sprecht sanft und tragt einen großen Stock bei euch; dann werdet ihr weit kommen.« Die Interventionen 1. Panama. Roosevelt sorgte dafür, daß sich Panama von Kolumbien lossagte, und schützte es mit seinen Kriegsschiffen (die USA hatten bereits von England die Anerkennung des alleinigen nordamerikanischen Rechts auf die Kontrolle des zukünftigen interozeanischen Kanals erreicht). Der junge Staat trat den USA auf unbefristete Zeit mehrere Stützpunkte und die spätere Kanalzone ab. (»Ich habe Panama genommen, ohne das Kabinett zu fragen«, bekannte Roosevelt in seinen Memoiren.) Zu verschiedenen Zeiten (1917, 1918, 1925) intervenierten die USA direkt in Panama mit der Marineinfanterie, um ihren Einfluß zu festigen. 2. Kuba. Der Vorwand, daß man lediglich gegen Spanien Partei ergriffen habe, um die Unabhängigkeit der Insel zu sichern, erlaubte es nun nicht, sie einfach zu

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unterwerfen. Aber der Druck der nordamerikanischen Investitionen im Bergbau und in der Zuckerwirtschaft, die Handelsinteressen, die protestantischen Missionare und der neue Eroberungsgeist führten dazu, daß die Vereinigten Staaten ihre Position mit der Annahme des Platt Amendment durch den Kongreß sicherten. Das Platt Amendment wurde in die kubanische Verfassung aufgenommen. Es gestand den Vereinigten Staaten mehrere Stützpunkte und das Recht zu, jederzeit einzugreifen, um »die Unabhängigkeit Kubas zu schützen und eine stabile Regierung zu gewährleisten«. Die nordamerikanischen Truppen wurden im Jahre 1902 abgezogen, besetzten die Insel aber erneut von 1906–1909. Während dieser zweiten Besetzung versuchte man, eine kubanische Streitmacht aufzubauen, die dann unter mehreren Willkürregierungen eine klägliche Rolle spielte, bis die Unteroffiziere dieses Heeres im Jahre 1933 unter Fulgencio E. Batista rebellierten. 3. Haiti. Die USA besetzten diese Republik von 1915 bis 1934 mit ihrer Marineinfanterie. Als Vorwand wurde die Notwendigkeit angeführt, ein völliges Chaos zu verhüten und das Eingreifen europäischer Mächte zu verhindern. Die National City Bank of New York und nordamerikanische Fachleute wirkten an der Reorganisation des Finanzwesens mit und sicherten sich die wirtschaftliche Kontrolle über das Land. Als Ersatz für das ehemalige Heer wurde eine Nationalgarde aufgestellt. Die Republik war arm und litt unter dem Minifundismus. Allmählich bildeten sich zwei Gruppen im Kampf um die Macht heraus: die Neger und eine mulattische Elite, die gebildeter zu sein schien und die Unterstützung der USA erhielt. Unter der Ägide der Nordamerikaner wurde Stenio Vincent (1930–41) zum Präsidenten gewählt, in dessen Hände, gestützt auf die neue Streitmacht, die Vereinigten Staaten die Aufgabe legten, nach dem Rückzug der Marineinfanterie die Ordnung aufrechtzuerhalten. Vincent hielt sich bis 1941 an der Macht, aber obwohl sein Nachfolger, Élie Lescot (1941–46), auch der Mulatten-Elite angehörte, wuchs allmählich die Agitation unter den (mulatten- und zuweilen auch nordamerikafeindlichen) Negern. Lescot wurde abgesetzt und durch einen Neger, Dumarsais Estimé (1946–50), ersetzt, der in der Machtausübung durch die von Mulatten kontrollierten Streitkräfte behindert wurde. 4. Dominikanische Republik. Unter ähnlichen Vorwänden wie in Haiti und in Ausübung der Polizistenrolle, die sich die Vereinigten Staaten im Karibischen Raum selbst zugelegt hatten, besetzten die USA die Dominikanische Republik von 1916 bis 1924. Eines ihrer Ziele war die Schaffung einer modernen, ihnen ergebenen Streitmacht, an deren Spitze sie Rafael Léonidas Trujillo (Diktator von 1930–38 u. von 1942–52) stellten. Er kam im Jahre 1930 an die Macht und errichtete eine der zählebigsten und für die ›Bananenrepubliken‹ typischsten Diktaturen. Das Gewaltregime ermöglichte es der Familie Trujillo, ein Riesenvermögen anzusammeln; es entstand ein unwahrscheinlicher Kult um die Person des Diktators, und es kam zu schreckenerregenden Mordtaten, von denen einige durch Agenten im Ausland verübt wurden. Zu den Opfern gehörte der

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unglückliche Professor Jesús de Galíndez, der sich in den Vereinigten Staaten durch die Untersuchung und Bekanntmachung einiger der schlimmsten Untaten des Trujillosystems hervorgetan hatte. 5. Nikaragua. Nach einer lediglich indirekten Intervention der Vereinigten Staaten kam es schließlich im Jahre 1912 zur Landung von zweitausend Marineinfanteristen, die entscheidend in den Machtkampf zwischen den einheimischen Parteien zugunsten der Freunde Nordamerikas eingriffen. Nachdem die marines im Jahre 1925 abgezogen worden waren, kehrten sie ein Jahr später zurück, um wieder einer Marionettenregierung zur Macht zu verhelfen. Wie in anderen Fällen, so bestand die Endlösung auch hier in der Errichtung einer pronordamerikanischen Diktatur, deren führende Männer aus den Reihen der von der US-Marineinfanterie aufgebauten und ausgerüsteten Armee hervorgingen. An die Macht gelangte General Anastasio Somoza García (1937–47), der für die Ermordung zahlreicher seiner politischen Gegner verantwortlich war; unter ihnen General Sandino, der einen hartnäckigen Guerillakrieg gegen die nordamerikanische Besatzung geführt hatte. Ebenso wie Trujillo machte sich Somoza seine lange Regierungszeit zunutze, um ein enormes Vermögen anzuhäufen. Die Korruption in der Verwaltung und die brutale Unterdrückung jeder Opposition waren beispiellos. 6. Mexiko. Im Verlaufe der mexikanischen Revolution waren zahlreiche direkte und indirekte Interventionen zu verzeichnen; unter anderem die Landung nordamerikanischer Truppen in Veracruz (1914) und die Strafexpedition unter General Pershing nach Chihuahua (1916). Weit wichtiger aber war der ständige diplomatische Druck, mit dem die USA den Verlauf der Revolution zu beeinflussen versuchten. Dies sind, kurz geschildert, einige Ereignisse, die sich im Karibischen Raum während der Ausbreitung der Pax Americana vollzogen. Die United Fruit Company Ein typisches Beispiel für eine ausländische Handelsgesellschaft, die sich der übelsten Methoden wirtschaftlicher Ausbeutung bediente und unverhüllt in die Innenpolitik der kleinen lateinamerikanischen Staaten im Karibischen Raum eingriff, ist die United Fruit Company. Ihre Geschichte beginnt im Jahre 1870, als Kapitän Lawrence Baker seinen Schoner mit Bananen belud und diese später in den Vereinigten Staaten so gut verkaufen konnte, daß er sich allmählich ganz dem Bananenhandel zuwandte. Fünfzehn Jahre später tat er sich mit Andrew Preston und anderen zusammen und gründete eine Handelsgesellschaft, die Boston Fruit Company, mit einem Kapital, das für 1890 auf 531000 Dollar beziffert wurde und das vorwiegend in Kuba, Jamaica und Santo Domingo arbeitete. Zur gleichen Zeit gründeten die Gebrüder Keith Bananenproduktionsgesellschaften in Costa Rica und Kolumbien.

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Gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren ungefähr 20 Gesellschaften im Bananenhandel tätig, und es gab noch viele selbständige Bananenpflanzer. Durch die Fusion der Boston Fruit Company mit der Keith-Gesellschaft entstand im Jahre 1899 die United Fruit Company, die eine Monopolstellung anstrebte. Ihr Kapital belief sich im Jahre 1900 auf 11230000 und 1930 auf 205942581 Dollar. Fünfzehn Jahre später hatte sich diese Zahl schätzungsweise verdoppelt und stieg später noch weiter an. Im Kampf um die Monopolstellung wurden zahlreiche Konkurrenzgesellschaften ruiniert oder aufgekauft. Am bekanntesten ist in diesem Zusammenhang der Fall Cuyamel, einer Gesellschaft, die von Sam Zemurrag, einem Einwanderer aus Bessarabien, gegründet worden war. Der Konkurrenzkampf dauerte zwei Jahrzehnte, in deren Verlauf es zu Palastrevolutionen, Grenzstreitigkeiten und dem Bau rivalisierender Eisenbahnlinien kam, bis die United die Cuyamel aufkaufte und Zemurray schließlich ein leitender Angestellter der United Fruit Company wurde. In Verfolgung ihrer Monopolpolitik zwang die United den selbständigen Produzenten ihre Preise auf und entwickelte mit aller Energie die eigenen Plantagen. Das Vorgehen der United gegenüber den Staatsmännern dieser kleinen Republiken ist bereits klassisch geworden: sie bediente sich der Bestechung und, wenn man Widerstand leistete, zettelte sie eine Revolution an. Auf die eine oder andere Weise erreichte sie immer ihre Ziele. Die Gesellschaft stellte, als Gegenleistung für gewährte Vergünstigungen, den Bau von Eisenbahnen zum Besten des ganzen Landes in Aussicht, legte aber dann nur parallel zur Küste verlaufende Strecken an, oder Bahnen, die sich auf den Bezirk der eigenen Plantagen beschränkten. Die Kontrolle über die Tarife dieser Eisenbahnen verschaffte ihr ein weiteres Mittel, Gewinne zu erzielen und anderen Betrieben zu schaden, wie etwa den Kaffeepflanzungen, deren Erzeugnisse kostspielig und auf Umwegen transportiert werden mußten, da ihnen nur Bahnlinien zur Verfügung standen, deren Bau und Verlauf anderen Zwecken entsprach. Die United konnte auch zu lächerlich niedrigen Preisen ausgedehnten Staatsgrundbesitz erwerben und das Land sofort unter Kultur nehmen, es als Reserve für die Zukunft vorläufig unbebaut lassen oder manchmal auch durch den Ankauf lediglich verhindern, daß selbständige Pflanzer oder Konkurrenzunternehmen es bewirtschafteten. Schließlich erlaubte eine moderne Flotte (die Große Weiße Flotte) einer Tochtergesellschaft es ihr, die Kontrolle zu vervollständigen und die Gewinne noch zu erhöhen. Nachdem die United Fruit Company praktisch das Monopol im Bananengeschäft erobert hatte, wandte sie sich auch anderen tropischen Erzeugnissen zu. Die Büchsenverpackung und neue Produktionsmethoden für Obstsäfte und Essenzen boten ein zusätzliches Betätigungsfeld. Im Laufe des 20. Jahrhunderts hat diese Gesellschaft zwar eine gewisse Bemühung um die Modernisierung der Arbeitsmethoden und die Besserung der

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Lage ihrer Arbeiter erkennen lassen (was sie mit Hilfe einer ständigen, kostspieligen Reklame publik macht), doch muß nachdrücklich darauf hingewiesen werden, daß die nordamerikanische Gesetzgebung auf dem Boden der USA niemals die Anwendung aller jener Methoden geduldet hätte, mit denen die United Fruit Company ihre gewaltige Macht erreicht und ihr ungeheures Kapital angesammelt hat. Was die Einmischung in die Innenpolitik der Länder anbelangt, in denen diese Gesellschaft Plantagen besitzt, so ist etwa zu erwähnen, daß die nordamerikanische Regierung die Revolutionsbewegung in Guatemala vor allem deswegen so heftig bekämpfte, weil sie unterstellte, daß Interessen der United Fruit Company beeinträchtigt worden waren. In dieser Hinsicht ist das ›Bananenimperium‹ noch heute ein vielen karibischen Ländern an Macht weit überlegenes Gebilde. Sein Vorhandensein erklärt zum Teil die Rückständigkeit dieser Staaten und die Tatsache, daß es so schwierig ist, diesen Zustand zu ändern.41 Franklin D. Roosevelt und die ›Politik der guten Nachbarschaft‹ Die Politik der direkten Einmischung, die in der Amtszeit Theodore Roosevelts als Big stick-Politik bezeichnet wurde und unter seinem Nachfolger William Howard Taft (1909–13) den etwas weniger brutalen Namen ›Dollardiplomatie‹ erhielt, stieß in manchen Kreisen Nordamerikas auf Bedenken und löste in der öffentlichen Meinung Lateinamerikas heftige Reaktionen aus. Um beides zu vermeiden, versuchte man in der Amtszeit des Präsidenten Herbert Hoover (1929–33) ganz allmählich, und dann ab 1933 in der Ära Franklin Delano Roosevelts sehr viel nachdrücklicher, diese Politik zu ändern. Man sprach jetzt von der ›Politik der guten Nachbarschaft‹, die aber nicht so weit ging, daß die nordamerikanische Regierung die (dank nordamerikanischer Intervention und Hilfeleistung an die Macht gekommenen) Diktatoren karibischer Länder nun fallen ließ oder die Auslandstätigkeit gewisser nordamerikanischer Firmen einer Kontrolle unterwarf (obwohl innerhalb der USA anfangs der ernsthafte Versuch gemacht worden war, die Antitrustgesetze zu verwirklichen). Wenigstens aber enthielt man sich unmittelbarer Interventionen und bemühte sich um eine Verbesserung der Beziehungen. Gerade in der Roosevelt-Epoche verstaatlichte Mexiko unter der Präsidentschaft des Generals Lázaro Cárdenas (1934–40) sein Erdöl und konnte diese Maßnahme trotz allen Drucks durchführen. In dieser Zeit hörten die Expeditionen der nordamerikanischen Marineinfanterie auf, und man versuchte, die panamerikanische Organisation zu stärken. Auf mehreren panamerikanischen Konferenzen und Außenministertreffen setzten sich die Vereinigten Staaten anfangs für eine Reihe von Maßnahmen ein, um den Kontinent gegen die durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ausgelösten internationalen Spannungen abzusichern. Die Interventionspolitik änderte sich nun. Bis 1913 hatten private nordamerikanische Investitionen in Lateinamerika schätzungsweise die Summe von 1250000000 Dollar erreicht (mehr als 80% davon in Mexiko). Aufgrund der

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Verstaatlichung des mexikanischen Erdöls wandten sich die Investitionen auf diesem Sektor jetzt Venezuela zu. Während des Zweiten Weltkriegs kurbelten die Nordamerikaner die Erzförderung an. Die Zinnproduktion in Bolivien, zum Beispiel, wurde verdoppelt, um Ersatz für das Zinn aus dem damals von Japanern besetzten Britisch-Malaya zu schaffen. Auch in Brasilien wurde – aus demselben Grunde – Kapital in Kautschukplantagen investiert. Im Widerspruch zu den anfänglichen Zielen des New Deal gewannen gegen Ende dieser Periode infolge der Ankurbelung der Rüstungsindustrie die großen Privatunternehmen wieder größeren Einfluß auf die Regierung. Insgesamt wurden die früheren Ansichten, die zu Anfang imperialistische Interventionen begünstigt hatten, nun in den Hintergrund gedrängt. Dazu trug nicht wenig die Auseinandersetzung mit den furchtbaren Auswirkungen des europäischen Faschismus bei. Dagegen erhöhten sich die Kapitalinvestitionen und der Handelsaustausch, vor allem, weil der Krieg viele der asiatischen Rohstoffquellen verschlossen und einen großen Teil der Handelsbeziehungen zu Europa unterbrochen hatte. Wie wir noch sehen werden, brachte dann der Friede einen abrupten Wechsel in dieser Hinsicht mit sich. Die internationale Politik und Lateinamerika Gegen die wachsende nordamerikanische Vorherrschaft wehrten sich die übrigen Großmächte kaum. Im 20. Jahrhundert traten die britischen Investitionen im Vergleich zu denen Nordamerikas immer mehr in den Hintergrund. Schon am Vorabend der Weltwirtschaftskrise von 1929 hatten sie etwa den gleichen Stand erreicht, und danach zeigte sich ein beträchtliches Übergewicht nordamerikanischer Investitionen. Die Anerkennung der nordamerikanischen Herrschaft in Panama war das erste Anzeichen für einen Rückzug Großbritanniens, das immer stärker durch die inneren Probleme des Commonwealth in Anspruch genommen und von einer Krise in Europa bedroht wurde, weshalb es gezwungen war, sich der Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten zu versichern. Die Auseinandersetzung mit den Achsenmächten äußerte sich in Lateinamerika nur in Form eines Wirtschaftskrieges gegen hauptsächlich deutsche Unternehmen, die nach und nach auf schwarze Listen gesetzt oder einfach enteignet wurden. Einzelne nationalsozialistische Gruppen wurden sorgsam überwacht. Mussolinis Bemühungen, auf dem Wege über die zahlreichen italienischen Einwanderer in Lateinamerika Einfluß auszuüben, fanden keinen Widerhall. Der Rassenfanatismus der Nationalsozialisten führte dazu, daß die deutsche Propaganda in einem von Mestizen bevölkerten Kontinent keinerlei Anklang fand. Spanien hatte im ausgehenden 19. Jahrhundert eine intensive Kulturpropaganda aufgenommen, die sich auf die Hispanität und die gemeinsame kulturelle Tradition stützte. Aber es konnte seine eigenen innenpolitischen Krisen nicht überwinden und den seit langem zu

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beobachtenden Niedergang nicht aufhalten. Bemerkenswert war es, welch riesiges Echo die spanische Revolution (1936–1939) in der lateinamerikanischen Öffentlichkeit hatte, die Erschütterung und die Leidenschaft, die sie nicht nur unter den ehemaligen spanischen Einwanderern, sondern auch in weiten politischen und intellektuellen Kreisen auslöste. Die entschiedene Stellungnahme Mexikos für die spanische Republik führte dazu, daß dieses Land den weitaus größten Teil von Exilspaniern aufnahm, die sich nach Lateinamerika gewandt hatten. Auch die junge Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken versuchte, in Lateinamerika Einfluß zu gewinnen (durch die Gründung der Dritten Internationalen und über die kleinen lateinamerikanischen kommunistischen Parteien), konnte aber nie größere Erfolge verzeichnen, obwohl sehr häufig der Vorwand der kommunistischen Bedrohung dazu herhalten mußte, um die politischen Freiheiten zu unterdrücken und demokratische und reformerische Neigungen auszuschalten. Schon im Jahre 1928 wies ein scharfer – keineswegs zum Kommunismus neigender – französischer Beobachter in einem Buch darauf hin, die Behauptung des USA-Außenministers Frank B. Kellogg (1856–1937) vor dem Auswärtigen Ausschuß des Senats, die lateinamerikanischen Republiken ständen unter dem Einfluß des Moskauer Kommunismus, entspräche nicht der Wahrheit, denn die soziale Revolution in Mexiko stamme aus dem Jahre 1910, die russische Revolution dagegen aus dem Jahre 1917; die ständigen Wirren und Unruhen müßten also andere Ursachen haben.42 10. Entwicklungsmängel und Beginn der Strukturkrise Etwa seit Beginn des Ersten Weltkrieges, ganz besonders aber seit der Weltwirtschaftskrise von 1929–1934, wurde man sich klar darüber, daß jene Gebiete Lateinamerikas, die bis dahin am meisten durch die wirtschaftliche Expansion, die Anwendung technischer Neuerungen, das Wachstum der Städte und die politischen Errungenschaften (und in manchen Landstrichen auch durch eine große europäische Einwanderung) begünstigt worden waren, nun in ihrer weiteren Entwicklung gefährdet waren. Auf die eine oder andere Weise suchte man nach Auswegen. In vielen Fällen sollte das unmittelbare Eingreifen des Staates die sichtbarsten Übelstände beseitigen; in anderen Fällen lenkte eine neue Reichtumsquelle, wie sie Venezuela in seinem Erdöl fand, die Aufmerksamkeit von den grundlegenden Problemen ab. Ein starker Einfluß der Schwankungen in der Weltwirtschaft, die, wie wir sahen, zuvor den großen Impuls zur schnellen Expansion der lateinamerikanischen Exportwirtschaften gegeben hatte, machte sich nun bemerkbar.

Veränderungen auf dem Gebiet des Welthandels

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Bis zum Beginn dieser Krise war der Handelsaustausch zwischen den Industrieländern einerseits und den Rohstoffproduzenten andererseits sehr viel stärker gewesen. Der erste Industrialisierungsprozeß, der englische, hatte eine internationale Arbeitsteilung im Gefolge, bei der England die Fertigwaren produzierte und die übrige Welt Nahrungsmittel und Rohstoffe zu liefern hatte. Aber dann industrialisierten sich auch andere Staaten, und diese verfügten über ein großes Staatsgebiet, wo sie mit Hilfe immer leistungsfähigerer Technisierungsvorgänge auch Nahrungsmittel und Rohstoffe erzeugen konnten. Das war etwa bei Deutschland und noch mehr bei den Vereinigten Staaten der Fall. Das Volumen des Welthandels ging zurück, und die Industrieländer mußten sich vor allem mit den Problemen der verringerten Produktion, des verminderten Einkommens und größerer Arbeitslosigkeit auseinandersetzen. Verschiedene Lösungen wurden versucht, doch immer gehörte dazu eine Einschränkung der Importe. Das alte System eines von Beschränkungen freien Welthandels mit multilateralem Zahlungsverkehr kam auf diese Weise völlig außer Gebrauch. Die Geldabwertung und die Aufgabe der Goldwährung in Europa gingen Hand in Hand mit der Einführung von Devisenkontrollen, der Festsetzung von Einfuhrquoten, dem Protektionismus und in manchen Fällen einer gewissen Neigung zur Autarkie. Nach und nach führten die chemischen Industrien synthetische Ersatzstoffe für die Erzeugnisse der alten Kolonialwelt ein. Dieser Vorgang macht sich mit dem fortschreitenden 20. Jahrhundert immer stärker bemerkbar. Als England im Jahre 1931 die Goldwährung aufgab, richtete es gleichzeitig seinen Außenhandel vorzugsweise auf seine Dominien und Kolonien aus. Veränderungen auf dem Gebiet des internationalen Kapitalverkehrs Infolge der Weltwirtschaftskrise konnten viele lateinamerikanische Länder ihrem Schuldendienst für ausländische Kapitalinvestitionen nicht mehr nachkommen. Diese Tatsache und die von der Krise in den traditionell kapitalexportierenden Ländern selbst bewirkten Störungen ließen die Auslandsinvestitionen stark zurückgehen. In vielen Fällen kam es zu einem Rückfluß des Kapitals aus Lateinamerika in die Herkunftsländer. Die Aufgabe der freien Konvertierbarkeit der Währungen, die Einführung von Devisenkontrollen, das wachsende Eingreifen des Staates gerade in den am meisten entwickelten Ländern Lateinamerikas schufen ein ungünstiges Klima für neue Auslandsinvestitionen, die altbewährten Methoden folgen wollten. Die Investitionen schlugen jetzt andere Wege ein, sie konzentrierten sich auf Rohstoffe wie das Erdöl und Nichteisenmetalle, welche trotz der Depression nach wie vor stark gefragt waren. Und endlich interessierte sich in den höher entwickelten Ländern, die auf Rohstoffe spezialisiert waren und um diese Zeit bereits einen größeren Binnenmarkt besaßen (Argentinien, Brasilien, Mexiko), das Auslandskapital für Investitionen in bestimmten Industrieunternehmungen. Aber hierbei verfolgte es ganz andere Ziele als die, welche zur Entstehung der großen Industrienationen

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geführt hatten. Dort hatte die industrielle Entwicklung mit Investitionen in den Grundstoffindustrien, der sogenannten Schwerindustrie, eingesetzt. In Lateinamerika dagegen begann die Industrialisierung auf dem Konsumgütersektor, der den Ersatz für bisherige Importe schuf: eine Folge protektionistischer Maßnahmen und zugleich eine neue Anregung für sie. Doch hing diese Industrialisierung letztlich vom Import von Maschinen und Technikern aus den Industrieländern ab, denn es erfolgten keine Investitionen zur Entwicklung der Schwerindustrie, und es wurde auch nichts getan, um die technische Berufsausbildung zu fördern. Schließlich begünstigte der Protektionismus selbst das Entstehen regelrechter ›Ersatz‹-Industrien in der Form von Montagewerken für Maschinen, deren Einzelteile von der ausländischen Industrie geliefert wurden (Kühlapparate, Radioempfänger, Kraftwagen usw.). Hier ließe sich auch die Einführung von Industriemaschinen aus zweiter Hand anführen: ihr niedriger Preis im Ausland rührte daher, daß sie aus Fabriken stammten, die von der Krise stark betroffen waren und deshalb hatten schließen müssen; oder später, weil es sich um veraltete Maschinen handelte, die in den Industrieländern aufgrund des harten Wettbewerbskampfes nicht mehr ausreichten und durch neue ersetzt werden mußten. Veränderungen bei der internationalen Nachfrage nach Rohstoffen Die Nachfrage nach Rohstoffen unterlag sehr starken Schwankungen. Der Expansion des argentinischen Getreides wurden Grenzen gesetzt; von außen durch die Konkurrenz der nordamerikanischen Getreideproduktion, die durch einen hohen Grad der Mechanisierung enorme Erträge erzielte; von innen durch die Expansion der Viehzuchtlatifundien, die schließlich einen beträchtlichen Teil der Einwanderer, die in der Landwirtschaft hatten arbeiten wollen, in die Städte abdrängte. Bei Fleisch als Exportartikel ergab sich eine Krise durch die gesteigerte Nachfrage auf dem Binnenmarkt und die geringere Aufnahmefähigkeit des traditionellen Hauptkunden England. Ganz allgemein wuchs in den Industrieländern die Nachfrage nach Nahrungsmitteln nicht so schnell wie das Einkommen. Nach dem wohlbekannten Ernst Engelschen Gesetz neigt bei jeder Bevölkerung, wenn einmal der elementarste Bedarf an Nahrungsmitteln gedeckt ist, der Konsum mehr einem stärkeren Verbrauch von Fertigwaren und Dienstleistungen zu. In einigen Fällen traten an die Stelle lateinamerikanischer Produkte andere Erzeugnisse. Der chilenische Salpeter wurde durch synthetische Stoffe ersetzt; der Kautschuk aus den brasilianischen Urwäldern, dessen Ausbeute um die Jahrhundertwende die brasilianische Wirtschaft sprunghaft vorangebracht hatte, wurde von der Konkurrenz der mechanisierten und rationalisierten Plantagenerzeugung in Südostasien verdrängt.

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Der Stillstand auf dem Sektor der Naturfasern oder der Aufschwung bei den Nichteisenmetallen hat auch seine Erklärung. Als Herstellerin kurzlebiger Industrieerzeugnisse entwickelte sich die Textilindustrie sehr langsam im Vergleich etwa zu der Automobil- und Kühlschrankindustrie, die langlebige Produkte herstellt. Die starke Nachfrage nach Nichteisenmetallen entsprach der Entwicklung der jungen Industrien, und die Kupfer-, Zinn-, Vanadium-, Wolfram- und Aluminiumproduktion erhielt starke Impulse. Dabei erhöhte sich die Produktion des einen Erzeugnisses oft auf Kosten des anderen. Schwierigkeiten infolge der Landbesitzverteilung Weder der Großgrundbesitz noch der bäuerliche Zwergbesitz waren in der Lage, eine größere und mannigfaltigere Agrarerzeugung zu gewährleisten. Auf dem Latifundium, dem vorherrschenden und darum in diesem Zusammenhang vor allem interessierenden System, machte der Besitzer von seinem Reichtum keinen Gebrauch, um eine Entwicklung und größere Vielfalt der Produktion auf seinen Ländereien zu erreichen. Die Inflation schadete dem Großgrundbesitzer nicht, vielmehr nützte sie ihm, weil sie seine finanziellen Verpflichtungen minderte und seinen für lateinamerikanische Verhältnisse großen Reichtum noch vergrößerte. Da der Bodenbesitz weiter als sicheres Zeichen für soziales Prestige und als beste Vermögensanlage galt, wechselte er kaum den Besitzer, und jeder Versuch der Zerschlagung des Großgrundbesitzes stieß auf heftigen Widerstand. Die Schwierigkeiten auf dem Agrarsektor gaben Anlaß zu Vorlagen, Ankündigungen, staatlichen Subventionen, Besiedlungsversuchen und Bodenreformen. Als Fazit für diese Epoche gilt, daß der Stillstand in der Agrarerzeugung und das Übergewicht des Latifundiums die wichtigsten Tatsachen sind. Als große Ausnahme ist Mexiko mit seiner schrittweise verwirklichten Bodenreform zu nennen und als kleinere Ausnahmen der (unzureichend) wachsende Gürtel kleiner Bauernhöfe und Meiereien im Umkreis der großen Städte und die bemerkenswerte Lebensfähigkeit des bäuerlichen Kleinbesitzes in einigen wenigen landwirtschaftlichen Siedlungsgebieten. Weiter müssen als Ausnahme wichtige Umstellungen in einigen Zonen mit kapitalintensiven landwirtschaftlichen Betrieben erwähnt werden (Getreidebau, Weinbau, Erdnuß- und Reisanbau, Zitrusfrüchtekulturen). Daß sich allmählich ein immer breiterer Gürtel von Gartenbaubetrieben und Meiereien um die Großstädte legte, war weniger einer erfolgreichen Agrarpolitik zu verdanken als der steigenden Nachfrage nach diesen Produkten. Diese ermöglichte es den Bauern, die hohen Kosten zu tragen und so mit ihrer Hände Arbeit faktisch den Großgrundbesitz aufzuteilen. Trotz allem liegt eine der größten Schwächen der lateinamerikanischen Wirtschaft im Fortbestehen des Erbes aus der Kolonialzeit: des Großgrundbesitzes. Die Inflation

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Es ist behauptet worden, die Inflation sei im Grunde genommen ein Kampf verschiedener Gruppen um die Neuverteilung des Realeinkommens und die Preissteigerungen seien nur das äußere Anzeichen für dieses Phänomen. Bekanntlich gibt es inflationäre Erscheinungen, welche die Unterentwicklung begünstigen, und andere, die das wirtschaftliche Wachstum fördern können. Die Untersuchungen, die Ruggiero Romano, anhand von Dokumenten aus chilenischen und argentinischen Archiven, über die Preise in der Kolonialwirtschaft durchgeführt hat, haben ergeben, daß während der spanischen Kolonialherrschaft die Preise außerordentlich stabil waren und die Schwankungen des europäischen Preisniveaus nicht mitmachten. Mit der fortschreitenden Eingliederung dieser Zonen in die kapitalistische Wirtschaft näherten sich die Preisbewegungen hüben und drüben einander an. Inflation, Geldentwertung, Preissteigerungen traten unregelmäßig auf. Im Grunde handelte es sich dabei um sekundäre Erscheinungen, um eine Antwort auf tieferreichende strukturelle Änderungen. Wenngleich die absolute Währungsstabilität eine Utopie sein dürfte, die ein wenig nach Konservativismus schmeckt, so muß doch andererseits zugegeben werden, daß die unkontrollierte Inflation der Periode, die uns hier beschäftigt (und auch die Inflation, die – wie etwa in Chile – aus der vorherigen Periode mitherübergeschleppt wurde), sich sehr negativ auswirkte, weil sie die wirtschaftliche Entwicklung verzerrte und störte, was verhängnisvolle soziale Folgen haben sollte. Am stärksten beeinflußte die Inflation das brasilianische Sozialgefüge. Sie bot Gelegenheit zu Spekulation und leichter Kapitalsanhäufung, und wenn auch viele Vermögen mit der gleichen Schnelligkeit wieder zerrannen, so wurden doch andere in solide Unternehmungen, vorwiegend industrieller Art, gesteckt. Die Inflation verschlechterte die Lage jener Kreise, die von festen Renten lebten, sie förderte den Kampfgeist der proletarischen Schichten und regte gewisse Regierungen dazu an, allzu volkstümliche Maßnahmen zu ergreifen. Nicht sozial, sondern wirtschaftlich gesehen, übte der inflationäre Prozeß einen ungünstigen Einfluß in der Periode aus, die uns hier beschäftigt. Er verschärfte die mangelnde Elastizität der Agrarerzeugung (die vom Latifundium abhängt) und verringerte die Einfuhrkapazität, weil die Einkünfte vorwiegend in abenteuerlichen Spekulationen investiert wurden (riesige Luxusbauten in den Städten, Kauf von Grundstücken, Devisen-Manipulationen usw.). In Chile wurde der Inflationsprozeß nicht von einer einzigen Hauptursache, sondern vielmehr von einer ganzen Reihe von Umständen ausgelöst: übermäßige Emission, wachsende Zahlungsunfähigkeit des Staates, Druck verschiedener Bevölkerungsschichten zur Erhöhung des Realeinkommens, Schwankungen des Außenhandels usw. Für den Mann auf der Straße bot sich folgendes Bild: erhöhter Geldumlauf, Emissionen zugunsten des Staates, Absinken des Wechselkurses. Der eigentliche Hintergrund aber wurde von sogenannten strukturellen Faktoren gebildet: Abhängigkeit und Schrumpfung

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des Außenhandels, des Pro-Kopf- Einkommens und der Agrarproduktion, Dividenden, die als Zinsen für Auslandskapital ins Ausland abflossen.43 In unserm Jahrhundert wurde auf dem Weg über die Inflation der eigentliche Kampf zwischen verschiedenen Gruppen ausgetragen: zwischen der alten Oligarchie, den Vertretern der Mittelklasse, den gewerkschaftlich organisierten Arbeitern und der neuen Unternehmerklasse. Schwierigkeiten bei der Verringerung der Ungleichheit in der Einkommensverteilung Lateinamerika war in dieser Epoche weiterhin der Kontinent großer sozialer Unterschiede zwischen sehr Reichen und sehr Armen. Eine Studie über die Einkommenverteilung in Kolumbien vermittelt eine Vorstellung von der allgemeinen Situation in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern: 2,6% der Einkommensempfänger erhielten 29,9% des gesamten Volkseinkommens; 9,7% verdienten 13,2% des Gesamteinkommens, und der Rest der Bevölkerung, 87,7% erhielt nur 56,9% davon. Das Durchschnittseinkommen in der ersten Gruppe (2,6%) betrug 12307 Pesos (im Jahre 1947 = 7000 Dollar) pro Jahr. Das Durchschnittseinkommen der zweiten Gruppe (9,7% der Bevölkerung) betrug 1457 Pesos (= 830 Dollar). Und die zahlenmäßig größte Gruppe verdiente im Durchschnitt nur 696,5 Pesos jährlich (= 400 Dollar). Ein Arbeiter in den ärmeren landwirtschaftlichen Gebieten verdiente weniger als 400 Pesos im Jahr. Da jeder Einkommensempfänger durchschnittlich vier Personen zu unterhalten hatte, ist errechnet worden, daß weite Kreise der Bevölkerung von durchschnittlich 100 Pesos pro Kopf und Jahr (= 58 Dollar zum erwähnten Wechselkurs) leben mußten.44 Eine um das Jahr 1944 von Henry Spiegel durchgeführte Untersuchung über das Volkseinkommen in Brasilien zeigt, daß 300000 Brasilianer 30% und weitere 300000 Personen 20% des Volkseinkommens verdienten. So erhielten 5% der erwerbstätigen Bevölkerung die Hälfte des Volkseinkommens. Vom wirtschaftlichen Gesichtspunkt bildeten diese 5% die Oberschicht. Die städtische Arbeiterschaft, die verschiedenen Sozialversicherungskassen angehörte, stellte um die gleiche Zeit 24% der aktiven Bevölkerung dar und erhielt 20% des Volkseinkommens. Diese Zahlen dürften eine Vorstellung von der Lage und der zahlenmäßigen Bedeutung dieser Schicht in der modernen brasilianischen Gesellschaft vermitteln. Die in der Landwirtschaft Beschäftigten schließlich (Kleinbauern, Halbpächter, landwirtschaftliche Arbeiter), die nicht weniger als 71% der erwerbstätigen Bevölkerung ausmachten, erhielten 30% des Volkseinkommens. Die vorstehenden Zahlen dürfen lediglich als illustrative Einzelbeispiele für die Verteilung des Volkseinkommens angesehen werden, denn leider sind Statistiken dieser Art erst in jüngerer Zeit aufgestellt worden, so daß wir keine Vergleichsmöglichkeiten anhand fortlaufender Zahlen für diese Epoche besitzen. Vor allem haben wir diese Zahlen aber hier im Zusammenhang mit dem

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Problem angeführt, daß die Bemühungen um eine bessere Verteilung des Volkseinkommens – abgesehen von einigen erfolgreichen Versuchen – in dieser Epoche in Lateinamerika im allgemeinen scheitern (mit den logischen Folgeerscheinungen: wirtschaftlich gesehen – fehlende Entwicklung von Binnenmärkten, und sozial gesehen – mangelnde Aufstiegsmöglichkeiten und Behinderung der Entstehung von Mittelklassen). In den sozial und wirtschaftlich sehr rückständigen Ländern lagen die Verhältnisse nicht viel anders als in der Periode vorher. In anderen Ländern dagegen vollzogen sich beträchtliche Umwälzungen. Die europäische Einwanderung bewirkte im allgemeinen eine Neuverteilung des Einkommens, weil die Immigranten hartnäckiger um die Hebung ihres persönlichen Lebensstandards kämpften. Auch die beginnende Industrialisierung in einigen Ländern, die Entstehung von Arbeiterproletariaten, die Verstädterung und die Herausbildung städtischer Mittelschichten trugen zu diesem Prozeß bei. Welchen Weg schlugen nun jene ein, die einen höheren Anteil am Volkseinkommen für sich anstrebten? Im allgemeinen waren es indirekte Wege, die nicht zu einem echten wirtschaftlichen Wachstum führten. Es ergaben sich indirekte Möglichkeiten sozialen Aufstiegs, die keine Steigerung der Produktion im Gefolge hatten. Einerseits betätigte sich der Staat als Neuverteiler des Einkommens: Arbeitsbeschaffung, Gewährung von Pensionen, verschiedene Formen fortschrittlicher Sozialgesetzgebung. Das alles schuf zusätzliche Möglichkeiten. Die Politik blieb, von Ausnahmen abgesehen, natürlich ein wichtiges Werkzeug zum Erwerb eines Privatvermögens und zum sozialen Aufstieg. Die Betätigung in der Politik hatte schon in der vorherigen Epoche oft dazu verholfen, Ländereien, Pensionen, ›Aufträge‹ für große Geschäfte mit den ausländischen Gesellschaften zu ergattern. In dieser Epoche war es nicht anders, und es kamen noch weitere Vorteile hinzu: spekulative Ausnutzung der Informationen, die man von der Regierung über städtebauliche Projekte und Besiedlungspläne, über bevorstehende Handelsverträge, über Änderungen des Geldwertes usw. erhielt. In anderen Fällen wurden diesbezügliche Entscheidungen in der Absicht erzwungen, sie zum eigenen Vorteil auszunutzen. So schleppte der lateinamerikanische Staat ein Erbübel weiter mit, das seine Stellung schwächte und dessen schlechtes Beispiel die Bürger nicht eben dazu verlockte, die steuerlichen und wirtschaftspolitischen Bestimmungen des Staates streng zu befolgen. Für diesen allgemeinen Übelstand laut sich eine ganze Reihe von Beispielen anfuhren, angefangen von Staatsmännern wie dem dominikanischen Diktator Trujillo (der sein Amt als Staatsoberhaupt auf tausendfältige Weise dazu benutzte, ein Riesenvermögen anzusammeln) bis hinunter zum kleinen Beamten örtlicher Verwaltungen, der in Machenschaften geringen Ausmaßes verwickelt war. Die wenigen rühmlichen Ausnahmen können nicht über den allgemeinen Trend hinwegtäuschen. Zwei Faktoren seien erwähnt, die einer besseren Verteilung des Einkommens im Wege standen. Einerseits bestand auf nationaler Ebene die Tendenz zur

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Fusion von Unternehmen und zur Bildung von Monopolen und Oligopolen, ein Prozeß, der manchmal mit dem staatlichen Schutz für entstehende Industrien oder andere Wirtschaftstätigkeiten begonnen hatte. Das wurde dann später ausgenutzt, um auch weiter Steuererleichterungen und vielfältige Privilegien zu genießen. Andrerseits wandten sich die Großgrundbesitzer jener Zeit in Argentinien, Uruguay, Chile, Brasilien, Mexiko und anderen Ländern Spekulationsgeschäften und einer Unternehmertätigkeit bisher unbekannten Typs zu. Viele im Handel und in der Industrie erworbene Vermögen wurden dann ihrerseits zum Teil wieder im Kauf von Ländereien angelegt. Zu einer umwälzenden Neuverteilung des Volkseinkommens kam es also in dieser Periode nicht. Wahrscheinlich hätten Costa Rica, Uruguay und Argentinien auf anderem Wege eine größere Ausgeglichenheit in dieser Hinsicht erreichen können. Aber der Aufstieg gewisser Bevölkerungsgruppen, die ihre Wertvorstellungen und Lebensnormen geändert hatten, war zuweilen von so kurzer Dauer, daß sie bald wieder eine Verschlechterung ihrer wirtschaftlichen Lage feststellen mußten. Dann mußten sie ungeheure Opfer bringen, um wenigstens nach außen hin den alten Lebensstandard aufrechtzuerhalten, und sie spielten dabei eine nicht weniger klägliche Rolle als die verarmten Adligen in der Zeit des spanischen Niedergangs. Nachteile der Konzentrierung von Produktion und Bevölkerung Bei den Städten sollte in dieser Periode das Wachstum weiter anhalten, das gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit der europäischen Einwanderungswelle und den Binnenwanderbewegungen eingesetzt hatte. Gerade in den ärmsten und am meisten vernachlässigten Gebieten war der Bevölkerungszuwachs oft am stärksten, und große Menschenmassen ergossen sich von dort in die Städte, wo ihre Unterbringung wegen der fehlenden industriellen Entwicklung schwierig war. Sie ließen sich in breiten Gürteln um die großen Städte in elenden Randsiedlungen nieder, wo sie genauso kümmerlich weiterlebten wie vorher auf dem Lande. Daraus ergab sich eine unkontrollierte Verstädterung; der Staat, der ja versuchen mußte, diese neuen Wählermassen an sich zu ziehen, war überfordert; weite ländliche Gebiete entvölkerten sich, und der Geschmack am Landleben, ohne den doch keine Besiedlungspolitik und Agrarreform Erfolg haben kann, ging verloren. Die Konzentration auf dem Produktionssektor ließ die Kosten hochschnellen, weil sich die Arbeitskraft in gewissen Zonen erheblich verteuerte; sie verursachte riesige Ausgaben für die Heranschaffung von Arbeitskräften (was bei dem unzulänglichen Verkehrsnetz nicht leicht und nicht eben billig war). In dieser Epoche litten weite Gebiete unter mangelnder Bevölkerung und Wirtschaftstätigkeit, andere wieder unter dem Gegenteil. Ein klares Beispiel dafür sind die Ballungszentren von Buenos Aires und den Paraná-Provinzen in Argentinien, und in Brasilien vor allem Rio und São Paulo. Aufgrund des

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unterschiedlichen Lebensstandards und der zwischen einzelnen Landesteilen entstehenden Abhängigkeitsverhältnisse hat man zutreffend von einem BinnenNeokolonialismus gesprochen. Übermässige Konsumfreudigkeit Ein Erbübel des Lateinamerikaners ist seine Unfähigkeit zu sparen. Erschwerend kam in dieser Periode die weitere Gültigkeit des ›Demonstrationseffekts‹ hinzu, über den wir bereits kurz berichtet haben. Der Fortschritt im Nachrichtenwesen war so groß, daß die Nachfrage sich steigerte. Die Zeitschriften, zu denen sich (als weitverbreitete Mittel direkter Beeinflussung) das Kino und das Radio gesellten, weckten den Wunsch nach dem Erwerb vieler, nicht immer notwendiger Dinge. Die Inflation entmutigte den Sparwillen, und Kredite, besonders das Ratenzahlungssystem, verlockten zum Kauf. Der Erwerb von, vorwiegend ausländischen, Luxuswaren schwächte die Wirtschaft, weil er den Konsum förderte und Investitionen zur Verbesserung der Produktion beeinträchtigte. Neue monoproduktive Exportwirtschaften In Bolivien ist der Aufschwung im Bergbau zu beobachten, der keineswegs der Gesamtbevölkerung zugute kommt. Die Zinnförderung in großem Ausmaß wurde von Simon Iturri Patiño (aus Cochabamba, 1868–1947) in Angriff genommen. In der ersten Zeit wandte man die primitivsten Arbeitsmethoden an, und der Transport erfolgte mit Maultieren. Zur gleichen Zeit setzte die Ausbeute anderer Zinngruben ein, die später auch in die Hände Patiños übergingen. Im April 1910 eröffnete die Gesellschaft die Aufbereitungsanlage ›Chile‹, in die das Erz über eine 5 km lange Seilbahn befördert wurde. Im Jahre 1918 konnte Patiño stolz behaupten, er produziere mehr als 10% der Weltzinnerzeugung und beschäftige mehr als 2000 Menschen. Er kaufte weitere Konkurrenzunternehmen auf und steigerte seine Produktionskapazität. Um diese Zeit benutzte man bereits die Eisenbahn für den Transport des Minerals an die Pazifikküste. Die Bergbaugebiete zogen große Bevölkerungsmassen an. Der Anteil des Staates am Zinnreichtum war sehr gering. Im Jahre 1924 schloß Patiño alle von ihm kontrollierten Unternehmen in der Patiño Mines and Enterprises Consolidated Inc. mit Sitz im Staate Delaware, USA, zusammen. Das Stammkapital betrug 6250000 Pfund Sterling. Auch später kaufte er noch weitere Gruben auf. Da das neue Unternehmen seinen Sitz außerhalb Boliviens hatte, konnte es leicht Kontrollen und steuerliche Abgaben umgehen. Die Fabrik in Catavi, die vorher der Llalagua-Gesellschaft gehört hatte, wurde ausgebaut, die von Miraflores aufgegeben und das Wasser des Río Catavi zur Gewinnung elektrischer Energie genutzt. Im Jahre 1935 beschäftigte die Gesellschaft an Arbeitern und Angestellten rund 4500 Personen, im Jahre 1942 waren es 6600 und im Jahre 1946 rund 8000. Das Unternehmen erwarb die Kontrolle über weitere Zinn- und Wolframgruben.

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Die ersten Gewinne legte Patiño im Ausbau der Erzförderung, dem Kauf weiterer Vorkommen und dem Bau einiger Eisenbahnen an. Nach einer gewissen Zeit erweiterte er jedoch sein Tätigkeitsfeld. Er erwarb die Kontrolle über Zinnminen in Ostasien, Zinngießereien in Deutschland und England und trat auf dem Kapitalmarkt durch den Erwerb großer Aktienpakete von Bank- und Finanzunternehmen, von Schiffahrtsgesellschaften usw. in Erscheinung. Der bolivianische Staat sah zu, wie hier ein riesiges Vermögen angesammelt und der Reichtum des Landes exportiert wurde, ohne daß er dem Lande selbst (für das der niedrige Lebensstandard der Grubenarbeiter und das Elend unter der ländlichen Bevölkerung kennzeichnend sind) einen unmittelbaren Gewinn brachte. Einige Zeilen aus dem Nachruf der ›New York Times‹ für den verstorbenen bolivianischen Millionär sind recht aufschlußreich. Es heißt da: »Patiño ist ein tragisches Beispiel für den krassen Gegensatz zwischen Arm und Reich, der in einem Teil Südamerikas ein endemisches Übel darstellt ... Aus den Bergen seines Landes zog er eines der größten Vermögen der Welt; so riesenhaft war es, daß man bezweifelt, ob der ›Zinnkönig‹ zu einem bestimmten Zeitpunkt jeweils seine genaue Größe hätte angeben können. Mit dem Geld kamen Macht und Einfluß. Kaiser und Könige, Regierungschefs und ganze Regierungen schmeichelten ihm ... Die beiden großen Kriege, in denen Millionen Menschen umkamen, vergrößerten seinen Reichtum und seine Macht beträchtlich. In einem unterentwickelten Land, wie es Bolivien während der meisten Zeit war, in der Patiño zu Reichtum und Macht aufstieg, konnte er völlig ungehindert schalten und walten, seine Bergarbeiter dem äußersten Elend überantworten, während er die Früchte ihrer Arbeit erntete.« Die beiden anderen großen Gruppen, die unter ähnlichen Bedingungen den Bergbau in Bolivien betreiben, sind die Aramayo- und die HochschildGesellschaft. Die Compañía Aramayo de Minas ist die ältere der beiden. Wie auch sonst oft, so war in Bolivien die Silbergewinnung die Vorläuferin der Zinnproduktion. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts war Bolivien für seine Verbindungen mit der Außenwelt auf den Maultiertransport angewiesen, und das einzige Exportprodukt, das die hohen Kosten und Schwierigkeiten des Transports durch seinen Wert aufwiegen konnte, war das Silber. Im Jahre 1857 standen dem Gründer der Gesellschaft, Avelino Aramayo, die finanziellen Mittel zur Verfügung, um die Förderung im Real Socavón, einer königlichen Silbermine aus der Kolonialzeit im Berg von Potosí, wiederaufzunehmen. Im Jahre 1867 wurde Wismut entdeckt, und das Aramayo-Unternehmen erlangte das Weltmonopol für dieses Erz. Nachdem die Zinnförderung in großem Umfang aufgenommen worden war, konstituiert sich im Jahre 1907 die Aramayo, Francke and Co. Ltd., die sich mit der Förderung von Silber, Zinn, Wismut, Kupfer, Antimon, Wolfram und anderen Erzen befaßt und bis zum Jahre 1911 bereits ein Kapital von 708 000 Pfund Sterling investiert hatte. Das Kapital des Unternehmens wurde zwar in englischen Pfunden angegeben, stammte aber aus Bolivien. Doch nach Ausweitung und Entwicklung der Förderung folgte man

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dem Beispiel Patiños. Die erste Firma löste sich auf, und es entstand eine Aktiengesellschaft, die Compañía Aramayo de Minas de Bolivia AG mit Sitz in der Schweiz und einem Kapital von 25000000 Franken. Die Gesellschaft wuchs weiter und erwarb zu niedrigem Preis die Investitionsgüter aus einem gescheiterten Versuch der Brüder Guggenheim, sich in die Zinnförderung einzuschalten (dieses Unternehmen kontrolliert die größten Kupfervorkommen der Welt und hatte mit einem Kapital von 16000000 Dollar eine Zweiggesellschaft gegründet, um Zinn in Bolivien zu fördern). Die jüngste der drei großen Zinnminengesellschaften in Bolivien, das dritte Mitglied der berühmten ›Rosca‹, wie sie der Volksmund nannte, wurde von Mauricio Hochschild repräsentiert. Zur Ausbeutung der reichen Silbergruben in Potosí (wo der Abbau wegen der sinkenden Produktion, der Wassereinbrüche in den Stollen Ende des 18. Jahrhunderts und wegen der Unabhängigkeitskriege eingestellt worden war) konstituierte sich in London, mit einem Kapital von 300000 Pfund Sterling, die Royal Silver Mines of Potosí, Bolivia Ltd. Zwischen 1894 und 1901 förderte die Gesellschaft Silber, dann wurde aber die Ausbeute immer weniger ertragreich. Im Jahre 1914 wurde die Anglo Bolivian Mining Syndicate Ltd gegründet. Gleichzeitig nahm ein anderes Unternehmen die Arbeit in Potosí auf, die Soux Hernández, die die Kontrolle über die Anglo Bolivian erlangte. In Potosí hatte sich durch Gesetzgebung und Gewohnheit das auf die Schachtöffnung gegründete Besitzrecht erhalten. In einer Zeit primitiver Abbaumethoden schützte dieses Recht die Interessen der kleinen Grubenbesitzer, verhinderte den Aufkauf von Lagerstätten ohne sofortige Erschließung und gleichzeitig eine zu schnelle Ausbeutung des Bodenreichtums. Aber von jetzt an wurde das alles anders: die Mechanisierung im Bergbau (Auspumpen von Sickerwasser, Bohr- und Fördermaschinen) erlaubten es nun, von einer einzigen Schachtöffnung aus, dem Verlauf der Erzadern entsprechend, fast unbegrenzt ins Innere vorzustoßen. Dank dieser technischen Errungenschaften gelang es den kapitalstarken Großerzeugern, die kleineren Betriebe zu ruinieren und zu schlucken. Auf der Suche nach einer breiteren Kapitalgrundlage bringt das Soux-Unternehmen seinen Besitz in eine Gesellschaft ein, in die auch Mauricio Hochschild als Vertreter einer ausländischen Aktionärsgruppe mit einer Aktienmehrheit eintritt. So entstand die Compañía Minera Unificada del Cerro del Potosí, die dem Familienunternehmen Soux die Kontrolle entzieht. Die Hochschild-Gruppe erweiterte sich durch den Aufkauf unabhängiger Gesellschaften. Das ist in großen Zügen die Geschichte der Vorgänge, die dazu führten, daß der ungeheure bolivianische Metallreichtum, unter der Kontrolle von drei großen Gesellschaften und wohlwollender Duldung der bolivianischen Staatsmänner, in ausländische Hände fiel. Unbekümmert um die Lage des Arbeiters und die Entwicklung des Landes, bereiteten so die Unternehmer im Zinnbergbau das Klima für die Revolution vor, die später zum Ausbruch kam. Ihren Wesensmerkmalen entsprechend gehört

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diese Wirtschaftsform in Bolivien eigentlich in die vorige Epoche; sie trat aber erst in der Periode in Erscheinung, mit der wir uns hier befassen, weil die internationale Nachfrage nach Zinnerz erst so spät einsetzte.45 Vergleichbare Verhältnisse – ein völlig neues Exportprodukt gewann, allerdings in mancher Hinsicht unter anderen Umständen, plötzlich Bedeutung für ein Land – ergaben sich bei der Ausbeutung der Erdölvorkommen in Venezuela, die in den letzten Jahren der Tyrannenherrschaft des Präsidenten Juan Vicente Gómez (1908–22; 1931–35) einsetzte. Venezuela ist inzwischen einer der wichtigsten Erdölproduzenten der Welt geworden. Ein großer Teil des in Lateinamerika investierten nordamerikanischen Kapitals wurde hier angelegt. Drei große Gesellschaften teilten sich in das Geschäft: die Creole Company (eine Tochtergesellschaft der Standard Oil) ist die bedeutendste und stellte fast die Hälfte der Ausfuhren; es folgten die Shell de Venezuela und die Mene GrandeGesellschaft. Die Nordamerikaner kontrollierten etwa zwei Drittel der Erdölinvestitionen, der Rest entfiel auf die britisch-holländische Shell-Royal Dutch- Gruppe. Die Situation unterschied sich sehr von der in Bolivien, weil schon seit Jahrzehnten die venezolanischen Staatsmänner das Recht auf einen wachsenden Anteil des Landes an den Erdölgewinnen beanspruchten (was zu einer ganzen Reihe von Krisen und Abkommen geführt hat). Sie unterschied sich zudem dadurch, daß die Erdölgesellschaften ihren Arbeitern relativ annehmbare Löhne gewähren, was die Entstehung sozialer Unruheherde in diesem Wirtschaftszweig ausschloß. Wie wir gesehen haben, herrschten bei gewissen Erzeugnissen (als Beispiele wählten wir Zinn und Erdöl) weiterhin die traditionellen Bedingungen einer vorwiegend auf den Export eines bestimmten Produktes gegründeten Wirtschaft. Bei der Zinnförderung beobachten wir dabei brutale und anachronistische, bei der Erdölgewinnung modernere, der Zeit angepaßtere Zustände. Doch das Grundproblem, auf das in den folgenden Kapiteln ausführlicher eingegangen wird, bleibt bestehen, man wird noch bis in die jüngste Zeit darauf stoßen: es gibt Formen der wirtschaftlichen Expansion, die keine echte Entwicklung mit sich bringen, während die Gesellschaft sich auf einen Wandel vorbereitet, dessen Grundlagen nicht sehr tragfest sind. Daher werden uns im folgenden besonders gewisse Umstellungen interessieren, die erst auf lange Sicht günstige Auswirkungen zeitigen können, so etwa die Entstehung von Industrien und die Herausbildung von Haltungen, Kenntnissen und Ideologien, die in der Lage sind, das eigentliche Übel bei der Wurzel zu fassen. 11. Entwicklungstendenzen in der Industrie und staatliches Eingreifen in die Wirtschaft Die im vorigen Kapitel behandelten Symptome struktureller Krisen beeinflußten ganz entscheidend den Industrialisierungsprozeß in verschiedenen Gebieten Lateinamerikas. Das Tempo dieser Industrialisierung hing vom Einfluß

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internationaler Geschehnisse ab (1914 Erster Weltkrieg; 1929 Weltwirtschaftskrise; 1939 Zweiter Weltkrieg) und von gewissen örtlichen Erscheinungen (Wachstum der Städte, staatliche Eingriffe, soziale Erschütterungen usw.).

Vorgeschichte In dem Maße, wie sich nach der Unabhängigkeit in Lateinamerika der Einfluß des europäischen Industriekapitalismus ausdehnte, neigte die Entwicklung vorwiegend zu einer immer stärkeren Ergänzung zwischen der lateinamerikanischen Monoproduktion von Rohstoffen und der europäischen Industrie. Die Sprengung der Kolonialmonopole hatte der Handelsfreiheit zum Siege verholfen, ohne daß jedoch die Zölle aufgehoben worden wären, die nun zur Haupteinnahmequelle eines jeden Staates wurden. Lange Zeit hindurch verfolgte man mit der Erhebung dieser Zollabgaben keine anderen Zwecke. Aber ganz allmählich begann man die Abgaben für gewisse Erzeugnisse zu erhöhen, die auch im Lande selbst hergestellt wurden; allerdings konnte diese Politik keinen Augenblick lang die wachsende Abhängigkeit der lateinamerikanischen Wirtschaft von den großen Industrienationen aufhalten. In einigen Fällen kam es zu Einzelmaßnahmen zum Schutz der einheimischen Industrie. In Mexiko setzte sich von 1830 an der Minister Lucas Alamán entschieden für eine Industrialisierung des Landes ein. Er ging so weit festzustellen: »Die Republik muß ein Industrieland werden, weil sonst trotz aller Fruchtbarkeit und Fülle die Landwirtschaft zum langsamen Verfall verurteilt wäre; und wenn die aus dem Innern der Erde geförderten Schätze von den Bergwerken unmittelbar in die Häfen geschafft werden, ohne im Lande selbst verarbeitet zu werden, so wird das lediglich als Beweis dafür angeführt werden, daß der Reichtum nicht jenen Ländern gehört, denen die Natur die reichen Erzadern schenkte, sondern denen, die dank ihrer Industrie in der Lage sind, diese Hilfsmittel zu nutzen, ihren Wert durch einen regen Umlauf zu vervielfältigen und allen, durch deren Hände sie gehen, ein Leben in Wohlstand zu ermöglichen ... In einem Lande, in dem es nie Fabriken gegeben hat, eine Industrie aus dem Boden zu stampfen, ist das größte und schwierigste Unternehmen, das man in Angriff nehmen kann.« Alamán gründete die AvíoBank; dies war der erste Versuch in Mexiko, staatlicherseits die industrielle Entwicklung in Gang zu bringen. Aber diese und andere ähnliche Initiativen waren durch die allgemeine Entwicklung des Landes und die immer stärkere wirtschaftliche Abhängigkeit zum Scheitern verurteilt. Nur in der Ära des Präsidenten Porfirio Díaz wurden Maßnahmen durchgeführt, die zwar nicht direkt im Widerspruch zu dem allgemeinen Trend standen, aber später erst von Nutzen werden sollten (Bau eines Eisenbahnnetzes, Beginn einer

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Eisenhüttenindustrie in Monterrey, Papier-, Streichholz-, Steingut-, Zement-, Seifen-, Öl-, Zucker- , Tabakfabriken und Bierbrauereien). Bei einer Untersuchung der brasilianischen Einfuhren zwischen 1839 und 1904 sehen wir, daß die Baumwollfertigwarenimporte zurückgingen und die Einfuhren von Maschinen und Zubehörteilen zunahmen. Dieses auch in anderen Ländern zu beobachtende Phänomen ergab sich daraus, daß die europäische Großindustrie nun auch Maschinen zu exportieren begann, und zugleich war es eine Auswirkung protektionistischer Maßnahmen in Lateinamerika. Diese beschränkten sich jedoch im allgemeinen auf den Schutz von Interessen gewisser, sehr begrenzter Gruppen, die fast immer in ihrer Mehrzahl aus Ausländern bestanden (in Kolumbien und anderen Ländern sind einige Ausnahmen in dieser Hinsicht zu verzeichnen). Eine gewisse Bedeutung muß Versuchen zugemessen werden, wie sie etwa der brasilianische Finanzminister Ruy Barbosa um 1890 unternahm. Er stellte fest: »Ohne eine übertriebene Schutzpolitik zu betreiben, die zu einer beträchtlichen Verminderung der Zolleinnahmen, Störungen in der Entwicklung der eigenen Industrien und einer Trübung unserer Handelsbeziehungen mit dem Ausland führen könnte, müssen wir doch mit einem auf jeden Einzelfall abgestimmten und in seinen möglichen Auswirkungen berechneten, vorsichtig angewandten Protektionismus die einheimische Industrie allmählich darauf vorbereiten, daß sie einmal in absehbarer Zeit mit ihrer Produktion zum Ausgleich unserer Handelsbilanz beitragen kann und den Staat in die Lage versetzt, nicht mehr auf die Zollgebühren als Haupteinnahmequelle zurückgreifen zu müssen, sondern in besserer Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Wirtschaftspolitik sich auf ein gesteigertes Volkseinkommen verlassen zu können.« In diesem Sinne erhöhte Barbosa die Zölle für jene Waren, die mit gleichen einheimischen Produkten konkurrierten, ganz besonders für Textilien und Nahrungsmittel, auf 60%. Aber bald mußte man den eingeschlagenen Weg wieder aufgeben, weil die Machtzentren der internationalen Wirtschaft ihn nicht gutheißen konnten und im Lande selbst keine Entwicklung festzustellen war, mit der man jene Ziele hätte erreichen können, die nicht nur das Resultat guter Absichten oder lediglich einer protektionistischen Gesetzgebung sein konnten. Für Argentinien ist im Hinblick auf einen beginnenden Protektionismus die lange Debatte von ausschlaggebender Bedeutung, die im Jahre 1875 in beiden Kammern des Kongresses über dieses Thema stattfand. Warum führten die zuweilen so anspruchsvollen Forderungen nach protektionistischen Maßnahmen nicht zur Schaffung großer Industriezentren in Lateinamerika? Es ist die Folge einer ganzen Reihe von Faktoren. Die lateinamerikanische Bevölkerung setzte sich in überwiegender Mehrzahl aus Nachkommen von Sklavenarbeitern oder Angehörigen von Randkulturen zusammen, sie hatte einen sehr niedrigen Lebensstandard und hatte sich nicht voll der Geldwirtschaft eingegliedert. Der Bergbau lag in den Händen ausländischer Unternehmer; das Transportwesen ebenfalls. Der technische

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Fortschritt und die Senkung der Frachtkosten kamen nicht dem Handel zwischen den einzelnen Ländern Lateinamerikas, sondern lediglich dem Außenhandel zugute. Die Eingriffe des Staates in das Wirtschaftsleben blieben ohne jeden wirklichen Erfolg. Das Einkommensniveau war nicht hoch genug, um Binnenmärkte entstehen zu lassen. Die einheimischen Oligarchien neigten weiter zum Luxuskonsum und zeigten sich an Investitionen zur Entwicklung der Wirtschaft uninteressiert. Daher war man stets auf ausländische Investitionen angewiesen, die natürlich nur zur Verfolgung eigener Ziele vorgenommen wurden und dazu beitrugen, die Abhängigkeit zu steigern und den Abfluß eines großen Teils der Gewinne ins Ausland zu verstärken. Noch andere Faktoren beeinflußten die industrielle Unterentwicklung Lateinamerikas. Die aus der Kolonialzeit ererbten Wertmaßstäbe und die Ausrichtung des Erziehungswesen waren dem industriellen Fortschritt nicht förderlich. Aus allen diesen Gründen war die Entstehung lateinamerikanischer Industrien nicht die Frucht staatlicher Planungen, sondern sie hatte andere Ursachen, die ihr wiederum ihr besonderes Gepräge verliehen und den Wachstumsprozeß beeinträchtigten. In manchen Fällen (zum Beispiel in Kolumbien und da insbesondere im Tal von Antioquía, das erst im Jahre 1929 durch eine Eisenbahn mit der Außenwelt verbunden wurde) wirkten sich die Verkehrsschwierigkeiten als natürlicher Schutz für einheimische Konsumgüterproduktionen aus. In solchen Fällen wurden Maschinen zur Förderung der heimischen Produktion eingeführt, und man hing nicht völlig von europäischen Fertigwaren ab, deren Frachtkosten allzu hoch waren. Im allgemeinen entstanden einheimische Industrien in enger Verbindung mit dem Wachstum der Städte. Es handelte sich um weiterverarbeitende Industrien, die mit importierten Maschinen und Ausrüstungen arbeiteten, große Mengen von Arbeitskräften absorbierten und mit Hilfe eines stärkeren Zollschutzes eine gewisse Entwicklung verzeichnen konnten. Im allgemeinen waren die Auswirkungen dieses Vorgangs jedoch nicht von besonderer Bedeutung. Die eigentliche Industrialisierung erfordert politische Maßnahmen auf lange Sicht und hängt auch von günstigen internationalen Konstellationen ab. Sie setzt voraus, daß die Grundbesitzer-Oligarchien aus der Macht verdrängt und die Binnenmärkte durch stetig wachsende Eingliederung neuer Schichten in die Geldwirtschaft erweitert werden. Betrachten wir nun einige konkrete Beispiele für die neue Einstellung des Staates gegenüber der Wirtschaft.

I. Uruguay Als frühestes und wichtigstes Beispiel für staatlichen Interventionismus führt man meistens Uruguay zur Regierungszeit des Präsidenten Battle y Ordóñez,

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d.h. zu Beginn des 20. Jahrhunderts, an. Diese Intervention ging Hand in Hand mit einer fast ununterbrochenen politischen Demokratie und einer fortschrittlichen Sozialgesetzgebung, die für lateinamerikanische Verhältnisse als nahezu utopisch bezeichnet werden konnte. Verschiedene Ursachen bieten eine Erklärung für die Entwicklung in Uruguay. Dieser Staat entstand in einem Gebiet, dessen Bevölkerung sich dort erst, im Gegensatz zu anderen lateinamerikanischen Ländern, seit dem 18. Jahrhundert angesiedelt hatte. Bei der wirtschaftlichen Nutzung der ausgedehnten Viehweiden waren nie Sklavenarbeiter beschäftigt worden. Es fehlten nicht nur überkommene feudalistische Züge, sondern auch der einheimische Klerus nahm keine betont konservative Haltung ein. Andrerseits war das gesamte Staatsgebiet nur dünn besiedelt gewesen (die Viehzucht hatte nie zahlreiche Arbeitskräfte benötigt, und tat dies noch weniger, nachdem die Drahteinzäunung und moderne Methoden eingeführt worden waren), bis die Einwanderungswelle aus Europa einsetzte, die nach 1870 ihr größtes Ausmaß erreichte. Diese Einwanderung trug zum städtischen Wachstum und zur kräftigen Ausbildung von Berufsständen bei, die bisher kaum ins Gewicht gefallen waren. Ohne daß sich die ländlichen Strukturen geändert hätten, konnte sich daher ein allmählicher sozialer und wirtschaftlicher Wandlungsprozeß vollziehen, der seinerseits den Anstoß zu politischen Reformen gab. Zu ihnen gehörte die Ausdehnung des Wahlrechtes, eine schnelle Ausweitung des staatlichen Tätigkeitsbereichs und folglich des Beamtenapparates und die schrittweise Einführung sozialer Verbesserungen. In Uruguay versuchte der Staat, durch sein Eingreifen in das Wirtschaftsleben das Kreditwesen zu fördern (für Bauten, Industrieausrüstungen usw.), das Transportsystem zu verbessern und Staatsmonopole (auf dem Gebiet des Versicherungswesens, der Stromerzeugung, der Brennstoffraffination, der Alkoholverarbeitung usw.) zu schaffen. Die geringe Flächenausdehnung des Landes und das nur langsame Wachstum der Bevölkerung beeinträchtigten auf die Dauer die Möglichkeiten einer industriellen Entwicklung. Andrerseits zwang die Anwendung demokratisch-parlamentarischer Regierungsformen den Staat, sich auf sozialem Gebiet zu übernehmen, um immer neue Wahlerfolge verzeichnen zu können. Eine Folge davon war es, daß er sich durch Schaffung eines riesigen Beamtenapparates ohne Rücksicht auf geeignete Ausbildung und die geringe Leistungsfähigkeit der Beamten die erforderliche politische Unterstützung zu sichern suchte. Währenddessen war weiterhin der Export der traditionellen Monoproduktionsgüter (Wolle und Fleisch) die Hauptquelle des Volkseinkommens, und die allgemeine Wirtschaftslage verschlechterte sich zusehends, weil es an Kapital für Investitionen zur Steigerung der landwirtschaftlichen Erzeugung oder der Entwicklung neuer Wirtschaftszweige fehlte. Auf diesem Gebiet konnte Uruguay nicht viel mehr tun, als den Ausbau weiterverarbeitender Industrien zu fördern und mit immer erheblicheren

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protektionistischen Maßnahmen zu schützen. Daraus entstand die Neigung, ganz bestimmte Produktionszweige durch staatliche Intervention zu fördern (staatliche Unternehmen auf dem Transportsektor und in der Fischerei, staatliche Telefongesellschaft usw.), ohne daß besondere Erfolge zu verzeichnen waren. Infolgedessen mußte man den anfänglichen, allerdings nie sehr betonten Widerstand gegen die Investition von Auslandskapital (vor allem auch gegen die vorwiegend britischen Interessen) aufgeben. Als Beispiel könnte in diesem Zusammenhang angeführt werden, daß der Staat zwar das Monopol für die Brennstoffraffination besaß, die ausländischen Gesellschaften sich aber trotzdem gewisse Vorteile sichern konnten, so daß die Versorgung mit Rohöl fast ausschließlich in ihren Händen lag und sie auch im Handel mit den Nebenprodukten große Gewinne erzielten. Später wurde, um noch mehr ausländisches Kapital ins Land zu ziehen, sogar ein Holding-Gesetz erlassen, das die Beteiligung und Kontrolle des Auslandskapitals in vielen uruguayischen Unternehmen begünstigte. Zur Überwindung der allgemeinen Krise, die sich im Jahre 1929 noch verschärfte, schlug man verschiedene Wege ein: Geldabwertung (um dem Staat Mittel zu verschaffen), Devisenkontrolle, Bruch mit der Legalität durch den Staatsstreich des Präsidenten Gabriel Terra (1931–38) im Jahre 1933, Bau eines großen Wasserkraftwerkes am Rio Negro usw. Doch zeitigten diese Maßnahmen oft negative Auswirkungen. Durch die Gründung schwer zu kontrollierender Aktiengesellschaften nahm die Steuerflucht zu. Die Agrarerzeuger legten, da wenig Anreiz zur Produktion bestand und die Geldabwertung sie dazu verlockte, ihre Einkünfte in reinen Spekulationsgeschäften an. Damit verloren die anfänglichen Vorteile Uruguays (hoher Prozentsatz der Bevölkerung mit Konsumfähigkeit im Rahmen der Geldwirtschaft, also ein ausreichender Markt für die Anfänge einer verarbeitenden Industrie) an Wert. Nach 1930 hörte der Massenzustrom europäischer Einwanderer auf. Hinzu kam, daß Uruguay nicht über ausreichende ländliche Bevölkerungsreserven verfügte, die allmählich in die Geldwirtschaft hätten eingegliedert werden können. Und schließlich gehörte Uruguay zu den Ländern mit dem niedrigsten biologischen Bevölkerungszuwachs in Lateinamerika (der hohe Anteil der Mittelklasse und der höhere Stand der Zivilisation spiegelten sich im Rückgang der Geburtenziffern wider). Die Überalterung der Bevölkerung und die Notwendigkeit, – in manchen Fällen besonders überstürzte – soziale Maßnahmen zu ergreifen, um vor Abhaltung von Wahlen die öffentliche Meinung zu gewinnen, waren eine zu schwere Last für die Staatsfinanzen. Die ›Durchlässigkeit‹ der uruguayischen Grenzen verleitete zum illegalen Handelsverkehr, der manche wirtschaftlichen Maßnahmen völlig unwirksam machte. Schließlich ließ auch die Rechtschaffenheit der Staatsmänner selbst oft viel zu wünschen übrig, was wiederum die Bevölkerung demoralisierte und sie zur Übertretung der Gesetze und wirtschaftlichen Verordnungen verlockte.

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Dies alles beeinträchtigte die Möglichkeiten Uruguays, einheimisches Kapital in den Dienst wirtschaftlichen Wachstums zu stellen, und das Land mußte, wie so viele andere, Auslandskapital zur Entwicklung der verarbeitenden Industrien heranziehen oder seine Zuflucht bei Anleihen suchen, um einen Staatshaushalt zu stützen, der ständig zunehmende Defizite aufwies. II. Mexiko Die Industrialisierung Mexikos beschleunigte sich ganz auffallend in der Zeit nach 1945, war aber das Ergebnis einer Entwicklung, die sich schon vorher angebahnt hatte und verschiedene Grundzüge erkennen ließ: a) die mexikanische Revolution und die darauf folgende schrittweise Agrarreform verbreiterten die Basis des Binnenmarktes; b) die lange Dauer der Revolutionskämpfe begünstigte den Prozeß der Verstädterung, und dieser kam später der Industrialisierung zugute; c) beim Aufbau des neuen Staates gibt man die Grundsätze des alten Liberalismus auf und begünstigt auf mannigfaltige Weise das Eingreifen des Staates in das Wirtschaftsleben (staatliche Investitionen in der Hüttenindustrie und der Elektrizitätserzeugung, beim Bau von Straßen und Bewässerungsanlagen, Schaffung genügenden Anreizes für Privatinvestitionen und Gründung verschiedener Kreditinstitute). Die verarbeitenden Industrien waren anfangs durch die lange Dauer der Revolution stark in Mitleidenschaft gezogen. Es ist errechnet worden, daß das Produktionsvolumen der verarbeitenden Industrie (1939 Index 100) von 43,0 im Jahre 1910, dem Jahr des Revolutionsausbruchs, auf 28,5 im Jahre 1914 fällt. Der Anfangsstand wurde um 1922 (44,7) wieder erreicht, stieg weiter langsam an bis 1931 (78,0) und läßt dann die indirekten Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise erkennen (1933: 52,3); danach steigt es infolge der verschärften Agrarreform und der Verstaatlichung der Erdölvorkommen während der Amtszeit des Präsidenten Lázaro Cárdenas (1934–40) wieder an (1934: 78,1; 1940: 105,1) und wächst dann fast ununterbrochen weiter (1945:171,2). Indirekt kann der Aufstieg des Präsidenten Cárdenas zur Macht und die Radikalität mancher seiner Maßnahmen auch als Reaktion gegen die Folgeerscheinung der Krise von 1929 ausgelegt werden. Die mexikanische Innenpolitik ist durch die Tendenz gekennzeichnet, in steigendem Ausmaß staatliche Gelder zur Förderung der wirtschaftlichen und ganz besonders der industriellen Entwicklung zu investieren. Im Zusammenhang damit steht die Abnahme der Konsumgüterimporte und die immer stärkere Zunahme von Produktionsgüterimporten. Es ist kritisiert worden, daß im Schütze der offiziellen Verherrlichung einer bäuerlichen Sozialrevolution ein starkes einheimisches Bürgertum entstanden sei, und man weist darauf hin, daß die neuesten Untersuchungen ein stetiges Absinken des Reallohnes erkennen lassen. Führende Politiker und Gewerkschaftler werden beschuldigt, sie hätten die persönlichen Interessen über

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die der von ihnen vertretenen Menschen gestellt. Vom politischen und sozialen Standpunkt aus betrachtet ist an diesen Kritiken viel Wahres. Rein wirtschaftlich gesehen könnten diese Verhältnisse jedoch sehr wohl dazu beigetragen haben, den Forderungen nach einer progressiven Einkommensverteilung Einhalt zu gebieten, deren Erfüllung es erschwert hätte, die notwendigen Investitionen für eine Sicherung der wirtschaftlichen Entwicklung auf lange Sicht vorzunehmen. Eine weitere Streitfrage ist die Beteiligung des Auslandskapitals (vor allem des nordamerikanischen) in der Wirtschaft Mexikos, eines Landes, dessen Regierungen solche Investitionen nicht gerne zu sehen schienen. Doch ist ganz klar zu erkennen, daß der mexikanische Staat sich die Kontrolle über die wesentlichen Wirtschaftszweige vorbehielt, während er gleichzeitig die Investition ausländischen Kapitals auf nicht entscheidend wichtigen Gebieten der Wirtschaftstätigkeit förderte. III. Brasilien In Brasilien hatte, wie wir bereits sahen, die Industrialisierung ihre Wurzeln in den verarbeitenden Gewerben, die mit dem städtischen Wachstum, besonders Rios und São Paulos, in engem Zusammenhang standen und durch einen allerdings nie sehr gleichmäßigen Zollschutz unterstützt wurden. Doch den eigentlichen Industrialisierungsprozeß brachten drei wichtige Ereignisse in Gang: a) die Krise in der von der Weltwirtschaftskrise des Jahres 1929 stark betroffenen Kaffeewirtschaft (zwischen September 1929 und September 1931 sank der Kaffeepreis von 22,5 (Dollar-) Cents auf 8 Cents pro Pfund). b) der wachsende Widerstand gegen die Machtposition der alten Grundbesitzer-Oligarchien (deren Repräsentanten jetzt die Besitzer der großen Kaffeeplantagen waren); dieser Widerstand äußerte sich von 1922 an in verschiedenen Revolutionsversuchen und einer anhaltenden Unzufriedenheit unter den Fabrikanten, den städtischen Mittelschichten, den Offizieren der Armee und den Beamten in der öffentlichen Verwaltung; c) die Revolution des Jahres 1930, die Getulio Vargas (1930 bis 1945) an die Macht brachte und dann den Industrialisierungsprozeß in Brasilien stark beschleunigte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Brasilien im Grunde genommen von seinem Kaffee-Export gelebt, zu dessen Schutz am Anfang des Jahrhunderts eine ganze Reihe von Maßnahmen ergriffen worden war. Diese waren von der Feststellung ausgegangen, daß eine Steigerung der Kaffeeproduktion meist ein Absinken der Preise im Gefolge hatte. Brasilien erzeugte damals den größten Teil des in der Welt konsumierten Kaffees, aber bei der Kommerzialisierung des Produktes hatten ausländische Zwischenhändler die Hand im Spiel, die sich auf dem Wege über die Lagerhaltung einen erheblichen Anteil an den Gewinnen sicherten, da sie Angebot und Nachfrage kontrollieren konnten.

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Die brasilianischen Produzenten hatten festgestellt, daß die Erzeuger in anderen Ländern der Welt noch stärker als sie selbst unter den Folgen des Preisabfalls litten. Sie übten so lange Druck auf den Staat aus, bis dieser sich zu einer Schutzpolitik für den Kaffee entschloß. Die Anlage neuer Plantagen wurde verboten und die einheimische Erzeugung aufgekauft und gelagert, bis man die Preise regulieren konnte. Im Grunde genommen bedeutete diese Politik einen Sieg der großen Kaffeepflanzer. Aber sie weckte gleichzeitig den Unwillen anderer Kreise, denn sie machte eine ungeheure wirtschaftliche Anstrengung notwendig und dazu die Aufnahme ausländischer Kredite in Form von Anleihen, um die staatlichen Aufkäufe und die Lagerung des Kaffees finanzieren zu können. Als sich im Gefolge der Weltwirtschaftskrise von 1929 die Lage verschärfte, wurde der Widerstand gegen diese Politik immer stärker. Er trug mit zum Ausbruch der Revolution im Jahre 1930 bei und zeichnete der neuen Regierung ihre Politik vor, da diese nicht in der Lage war, eine Währungskonvertibilität aufrechtzuerhalten, die die Interessen des ausländischen Anlagekapitals und die Rückzahlung der oben erwähnten Anleihen gewährleistet hätte. Im wesentlichen führte die Revolution zu einer Verschiebung der Machtzentren. Sie entsprachen jetzt nicht mehr ausschließlich den Interessen der kaffeeproduzierenden Großgrundbesitzer-Oligarchien, sondern in höherem Maße den Forderungen der Industriellen und der städtischen Mittelschichten, die keine Veranlassung hatten, sich für den Fortbestand einer alten Ordnung hinter einer liberaldemokratischen Fassade einzusetzen. Die neue Regierung bewies zugleich Stärke und Elastizität. Anstatt die Kaffeeproduktion völlig fallenzulassen, senkte sie die Preise, ohne doch jeden Anreiz für eine Produktionssteigerung auszuschalten. Sie förderte gleichzeitig andere Zweige der Landwirtschaft, wie zum Beispiel den Anbau von Baumwolle, deren Preise auf dem Weltmarkt nicht so stark unter den Auswirkungen der Krise gelitten hatten oder sogar zu steigen begannen. Sie ermöglichte eine Modernisierung der Ausrüstungen in der verarbeitenden Industrie, die ihrerseits einen gewaltigen Aufschwung nahm, weil die Nachfrage auf dem Binnenmarkt stieg und weil sie gleich doppelt gegen die Konkurrenz rivalisierender Auslandserzeugnisse geschützt wurde: durch Zollschutz und durch die Tatsache, daß die ausländischen Waren sich außerordentlich verteuerten, da die Kaufkraft der brasilianischen Währung im Ausland viel schneller sank als im Inland. Das Bevölkerungswachstum und die Landflucht wurden vom Wachstum der Industrie und den größeren Ausmaßen der staatlichen Aufgaben begünstigt. Das wiederum gliederte einen wesentlichen Teil der Bevölkerung der Geldwirtschaft ein, erhöhte das Angebot an Arbeitskräften und stärkte die Grundlagen des Binnenmarktes. Die gesteigerte (und zudem in bezug auf Qualität nicht übermäßig anspruchsvolle) Nachfrage kam dann wieder der einheimischen Industrie zugute.

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Der Wirtschaftsinterventionismus förderte vor allem die Kapitalgüterproduktion (insbesondere: Eisen, Stahl und Zement), und ganz allmählich wurde Brasilien vom Außenhandel immer unabhängiger. Es war ein Irrtum, alle diese Veränderungen ausschließlich der Politik Getulio Vargas’ zuzuschreiben. Diese Umwälzungen beschränkten sich nämlich keineswegs auf die rein politische Ebene, sondern waren das Ergebnis eines langsamen Reifungsprozesses auf verschiedenen Gebieten. Ohne diese Umwälzungen hätten die politischen Maßnahmen allein wahrscheinlich keinerlei besondere Wirkung erzielt. Noch sinnloser war die Kontroverse um die Person des Präsidenten Vargas, den man im Namen der alten, nun unterdrückten Freiheiten als Faschisten bezeichnete oder andrerseits als ein Genie und einen leidenschaftlichen Vorkämpfer für den Fortschritt des brasilianischen Volkes hinstellte. Es ist ziemlich schwierig, einen geschickten Politiker, der sich mit Anpassungsfähigkeit und Kühnheit lange Zeit an der Macht zu halten verstand und dabei sehr unterschiedliche Taktiken befolgte (die zuweilen anscheinend widersprüchlich waren, wie etwa die den Kaffeeproduzenten gemachten Konzessionen), in den engen Rahmen einer Ideologie einzuzwängen. Es darf jedoch daran erinnert werden, daß der Staat gerade damals zum ersten Mal zahlreiche Aufgaben von besonderer Bedeutung für die Wirtschaft übernahm (Verbesserung des Transportwesens, Schutz und Ankurbelung der Produktion, Ausarbeitung von Reformprojekten, Festigung des politischen Unterbaus, Steigerung der Kaufkraft der Bevölkerung durch Lohnerhöhungen und verschiedene Sozialgesetze). Dies alles vollzog sich innerhalb einer Gesellschaft, in der das Industriebürgertum erstarkte, der Nationalismus in Kreisen der Armee und der Verwaltung wuchs, die Zahl und Konsumfähigkeit eines großen Teils der Mittelschichten und der Arbeiterschaft in den Städten zunahm. Mit der strengen Überwachung des Außenhandels verfolgte der Staat das Ziel, die Preise, das Exportvolumen und die Entwicklung der einheimischen Industrie gleichzeitig zu schützen. Inzwischen konzentrierte sich die Industrialisierung in Brasilien überwiegend auf den Staat São Paulo, wodurch sich das Ungleichgewicht zwischen den verschiedenen Bundesstaaten immer mehr verstärkte.

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 Abb. 12: Autowerk in São Paulo/Brasilien

 Abb. 13: Baumwollernte in Brasilien

Der Beteiligung Brasiliens am Zweiten Weltkrieg verdankte Vargas die nordamerikanische Hilfe beim Aufbau des Stahlwerks von Volta Redonda, das zur Grundlage einer künftigen Schwerindustrie wurde. Die brasilianischen

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Exporte setzten sich noch immer aus Agrarerzeugnissen zusammen (Kaffee behielt seine Bedeutung, Baumwolle wurde immer wichtiger), aber dank der von der Regierung verfügten Devisenkontrolle waren dem Staat Einnahmen gesichert, und es konnten Präferenzen für den Import eingeführt werden. Ohne wie Mexiko mit einer sozialen Revolution begonnen zu haben, befand sich Brasilien am Ende des Zweiten Weltkrieges in einer ähnlichen Lage wie jenes Land: die Grundlagen für ein großes industrielles Wachstum in der Zukunft waren gelegt (mit Investitionen vorzugsweise in den Grundstoffindustrien). In Brasilien hatten sich die Verschiedenheiten in der Entwicklung der einzelnen Staaten verschärft, die Inflation war beträchtlich vorangeschritten, und die politischen Kontrollinstanzen zeigten keine besondere Zuverlässigkeit, während die Stellung der Armee außerordentlich stark war. Die Teilnahme am Zweiten Weltkrieg hatte die Militärs aufgerüttelt, und von ihnen ging dann auch die Entscheidung zum Sturze Vargas’ aus. Doch konnte der politische Umschwung, wie wir sehen werden, die industrielle Entwicklung nicht aufhalten und auch kein dauerhaftes Regime begründen. IV. Argentinien Die verarbeitende Konsumgüterindustrie konnte in Argentinien auf eine lange Tradition zurückblicken, und ihre Entwicklung war später ohne Zweifel zum großen Teil den europäischen Einwanderern zu verdanken, die zwischen 1870 und 1930 ins Land strömten. Die Industrialisierung auf diesem Sektor hing völlig von der Einfuhr von Maschinen und Ausrüstungen ab, und sie entwickelte sich im Schütze eines wachsenden Zollprotektionismus. Die durch den Weltkrieg von 1914–18 verursachte Verringerung der Einfuhren gab der Entwicklung dieser verarbeitenden Industrien einen starken Impuls. Die vorhandenen Betriebe steigerten ihre Leistungen aufs äußerste, und neue Betriebe stellten vorher importierte Waren nun im Lande selbst her. Im Unterschied zu den bisher untersuchten Fällen konnten in Argentinien die Grundbesitzer-Oligarchien noch längere Zeit die Macht und ihre Privilegien bewahren, was die Anwendung radikaler Maßnahmen zur Änderung veralteter Wirtschafts- und Sozialstrukturen erschwerte. Die Weltwirtschaftskrise von 1929 führte daher zwar zu einem Bruch in der kontinuierlichen staatlichen Entwicklung (Diktatur des Präsidenten José F. Uriburu, 1930–32), aber nicht zu einer staatlichen Politik, die sich stärker als zuvor für die industrielle Entwicklung und die wirtschaftliche Umgestaltung des Landes eingesetzt hätte. Allerdings begünstigte auch hier die Verringerung der Kaufkraft im Ausland (Kaufkraft, die aus dem Export land- und viehwirtschaftlicher Erzeugnisse entstand) das Wachstum einer für den Binnenkonsum produzierenden verarbeitenden Industrie. Um den durch die Krise hervorgerufenen Währungsverfall aufzuhalten, wurde wie in anderen Ländern so auch hier im Jahre 1931 vorübergehend die

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Devisenkontrolle eingeführt. Aber die Regierung ergriff keinerlei einschneidende Maßnahmen und verfolgte eindeutig konservative Ziele. Im Hinblick auf die politische Dynamik könnte das als eine durch die Krise bedingte Reaktion darauf erklärt werden, daß manche führenden Staatsmänner der Radikalen Partei (allen voran Irigoyen) versucht hatten, die Grundlagen der Staatsgewalt zu verbreitern und den herrschenden Oligarchien die Macht zu entwinden, oder auch als Reaktion auf den staatlichen Interventionismus. Infolgedessen gab man jetzt auch den Forderungen der Mittelschichten und der neu entstandenen Industriellenschicht nicht nach, während sich gleichzeitig unter den Massen der städtischen Bevölkerung eine wachsende Spannung bemerkbar machte, die später von Juan Domingo Perón (1946–55) zu Propagandazwecken ausgenutzt werden sollte. Der Zweite Weltkrieg gab einen neuen Anstoß zum Wachstum der Industrie und verschaffte Perón die Möglichkeit, seine Politik auf einem gesteigerten Nationalismus (zur Genugtuung des neuen industriellen Bürgertums) und auf den Klassengegensätzen aufzubauen, die durch die jahrelange konservative Einstellung der Regierung, die Landflucht und das Anwachsen des städtischen Proletariats entstanden waren. Die Radikalisierung der mexikanischen Revolution unter Präsident Cárdenas und die brasilianische Revolution von 1930 waren Antworten auf die Wirtschaftskrise von 1929 gewesen, und beide hatten versucht, planmäßig die zu jenem Zeitpunkt vorhandenen spärlichen Mittel einzusetzen. Der Aufstieg Peróns zur Macht erfolgte dagegen in einem Augenblick, da dem argentinischen Staat ungeheure Mengen von Devisen im Ausland zur Verfügung standen. Möglicherweise trug das zu einer gewissen Improvisation und Verschwendungssucht bei den Planungen der peronistischen Regierung bei. Diese machte sich die Prosperität zunutze und gab das Geld mit vollen Händen zur Beseitigung der Unzufriedenheit unter den breiten Massen der Bevölkerung aus oder zur Durchführung nicht allzu gut durchdachter Industrialisierungspläne (die manchen Vertretern des Regimes die Ansammlung eines riesigen Vermögens gestatteten). Perón konnte sich jedoch nicht zu einer Agrarreform entschließen, und obwohl er die Devisenkontrolle einführte (sie wurde nach seinem Sturz wieder aufgehoben), mußte er gegen Ende seiner Regierungszeit feststellen, daß eine durch Geldentwertung und Devisenmangel gekennzeichnete Krise begonnen hatte, die es ihm unmöglich machte, seine Pläne weiter zu verfolgen. Zusätzliche Hindernisse für die wirtschaftliche Entwicklung Argentiniens waren das Fehlen von Schwerindustrie, die das Land mit den nötigen Industrieausrüstungen hätten versorgen können, und die sinkenden Einkünfte aus dem Außenhandel. Brennstoffe, Stahl, Eisenbahnmaterial, Industrieausrüstungen wurden immer knapper, doch wurden weder geeignete Vorkehrungen zur Produktion dieser Güter im eigenen Lande getroffen, noch waren genügend Mittel für Investitionen vorhanden. Im Jahre 1950 begann eine schwere nationale Krise, die sich noch verschärfte, als

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sich kein politischer Ausweg für sie finden ließ. Das Perón-Regime machte viel Aufhebens von seinen Errungenschaften, die im Grunde genommen aber nicht allzu bedeutend waren. Mit der Nationalisierung der Eisenbahnen geriet lediglich ein überaltertes, unrentables Verkehrsunternehmen unter staatliche Verwaltung. Gewisse Industrieausrüstungen, die unter viel Propagandaaufwand importiert wurden, waren von denkbar schlechter Qualität und dienten nur dazu, Amtsunterschleife großen Ausmaßes zu verdecken. Der Sturz des Regimes im Jahre 1955 ließ ein aufgewühltes, innerlich zerrissenes Land zurück, in dem keine Rede von einer Modernisierung des Produktionssystems sein konnte und keine Hoffnung auf eine schnelle Behebung der kritischen Lage bestand. Die Industrialisierung in der jüngsten Zeit ist gekennzeichnet durch enorme ausländische Investitionen in Fabriken, die sich lediglich auf die Fertigung von importierten Halbfertigwaren beschränken, während die Hauptindustriezweige, von denen eine echte Industrialisierung des Landes ausgehen könnte, völlig vernachlässigt werden. Bilanz des industriellen Wachstums in Lateinamerika während dieser Periode Ein Überblick über die verschiedenen Formen der wirtschaftlichen Entwicklung und der Industrialisierung in den Ländern Lateinamerikas gestattet folgende Schlußfolgerungen: 1. Eine ganze Reihe von Investitionen in der Infrastruktur (Transportwesen, Häfen, Nachrichtenwesen, Verwaltung) zugunsten der industriellen Entwicklung wurden anfangs nur vorgenommen, um die Expansion der ExportMonokulturen zu ermöglichen, und dies in der Art, daß die Kontrolle über die Wirtschaftstätigkeit außerhalb Lateinamerikas ausgeübt wurde. Dabei handelte es sich vorwiegend um britische Investitionen, wenngleich seit Beginn des 20. Jahrhunderts in Mexiko und vielen karibischen Ländern nordamerikanisches Kapital bereits an erster Stelle stand. Seit Beginn der Weltwirtschaftskrise von 1929 zeigte das Auslandskapital für diese Art Investitionen kein Interesse, und sie mußten nach einer mehr oder weniger langen Zeit der Stagnation von den lateinamerikanischen Ländern selbst vorgenommen werden. 2. Der technische Fortschritt wurde zuerst in den Dienst der Monoproduktionswirtschaften gestellt; dann griff er auf die verarbeitenden Industrien über, und sehr viel später erst versuchte man, ihn auch zur Entwicklung von Schwerindustrien einzusetzen. Die vorherrschenden Landbesitzverhältnisse (Latifundium und Minifundium) begünstigten keineswegs eine Technisierung der Landwirtschaft in größerem Ausmaß. Das Erziehungswesen schenkte der Ausbildung von Wissenschaftlern und Fachleuten für die Wirtschaft wenig Beachtung. 3. Bei den ausländischen Investitionen war ein zweifacher Wandel zu verzeichnen: einerseits ging die britische Vormachtstellung an die Nordamerikaner über, andrerseits wurde weitaus mehr in den verarbeitenden Industrien als in Landwirtschaft und Bergbau investiert (eine wichtige

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Ausnahme ist in dieser Hinsicht – in der Ländergruppe, die hier näher untersucht wurde – das ungewöhnliche Ausmaß nordamerikanischer Investitionen in der venezolanischen Erdölförderung). 4. Die lateinamerikanischen Staaten versuchten auf mannigfache Weise, die industrielle Entwicklung voranzutreiben: Zollprotektionismus, Devisenkontrolle, öffentliche Investitionen, Lenkung der privaten Investitionstätigkeit, öffentliche und private ausländische Kapitalanlagen, Geldabwertung, Gründung von staatlichen Förderungsinstitutionen usw. 5. Im Gegensatz zu der Entwicklung in Europa bestand in Lateinamerika keine absolute Trennung zwischen dem Reichtum der Großgrundbesitzer und den Vermögen, die in den neuen Wirtschaftszweigen investiert wurden. Im allgemeinen wechselte man häufig von einem Gebiet zum anderen über, jedoch änderte das nichts an der Tatsache, daß die landwirtschaftliche Erzeugung immer mehr stagnierte. 6. Diese Faktoren, ein immer stärkeres Übergewicht von Aktiengesellschaften und gewisse Regierungsmaßnahmen, die einseitig die privilegierten Kreise begünstigten, bewirkten eine fortschreitende Konzentration des Reichtums in wenigen Händen. 7. Die größten Fortschritte auf dem Gebiet echter Industrialisierung hingen gleichzeitig mit politischen und sozialen Veränderungen zusammen, die durch günstige internationale Konstellationen gefördert worden waren. 8. Das Streben immer größerer Teile der Bevölkerung nach Besserstellung, das man nicht in eine vernünftige Übereinstimmung mit der wirtschaftlichen Entwicklung zu bringen verstand, schwächt die Aussichten für ein echtes industrielles Wachstum, das die Investition eines großen Teils des Nationaleinkommens voraussetzt. Es beeinträchtigt zudem die Interventionspolitik des Staates, wenn dieser sich gezwungen sieht, Konzessionen zu machen, um sich die Gunst der Wählerschaft zu erhalten. Das alles wiederum gibt jenen eine willkommene Waffe in die Hand, die der Ansicht sind, eine Industrialisierung sei nur mit Hilfe ausländischer Investitionen zu bewerkstelligen. 9. Erst Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges suchte man Lösungen für die Probleme, die sich aus der Verschlechterung der terms of trade ergeben hatten, und trachtete danach, Regionalabkommen zur Förderung des wirtschaftlichen Fortschritts abzuschließen. Die Gesamtlage wurde nicht von Grund aus erforscht, und die politischen Maßnahmen waren dementsprechend vorwiegend pragmatischer Natur. Noch gegen Ende des Zweiten Weltkrieges herrschten keine klaren Vorstellungen über die eigentlichen Zusammenhänge des Wirtschaftslebens, und es fehlte an Möglichkeiten, Vergleiche anzustellen und Vorhersagen für die künftige Entwicklung zu machen. 12. Die dualistische Gesellschaft und ihre Wandlungsprozesse

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Im Bild einer dualistischen Gesellschaft wird eine Realität zusammengefaßt, die sich dem Historiker als viel komplexer darstellt. Es wäre vielleicht genauer, von sozialem Pluralismus zu sprechen, wenn man die Merkmale und die Herkunft der verschiedenen sozialen Gruppen berücksichtigt, die Lateinamerika in dieser Epoche aufwies: die Indianergemeinschaften, die verschiedenen Gruppen von Mestizen, die Minifundien bewirtschafteten, die Nachkommen der ehemaligen Sklavenarbeiter auf den Latifundien (sie alle leben praktisch am Rande der Geldwirtschaft), während in anderen Gebieten die Gesellschaft sich mit dem Aufkommen neuer landwirtschaftlicher Betriebsformen oder dem Wachstum der Städte wandelte. Was vor allem wichtig ist und uns in diesem Zusammenhang beschäftigt, sind die grundlegenden Wandlungsprozesse in der lateinamerikanischen Gesellschaft dieser Periode. Dabei werden wir eine allgemeine Tendenz und regionale Unterschiede, Augenblicke der Stagnation und sogar des Rückschritts und Momente beschleunigter Evolution beobachten. – Die allgemeine Tendenz richtete sich gegen den ehemaligen Pluralismus ländlicher Gesellschaften, die aus der Geldwirtschaft ausgeschlossen waren, und auf ihre schrittweise Eingliederung in nationale Gesellschaften, in denen die sozialen Unterschiede immer weniger durch ethnisch-kulturelle Faktoren (Fortbestand eines Kastensystems) und immer mehr durch die Art wirtschaftlicher Betätigung und den Grad des erworbenen Reichtums (Klassensystem) bedingt waren. Der Wandel wurde unter anderem durch zahlreiche Gruppen europäischer Einwanderer aus dem einfachen Volk ausgelöst, die sich früh in verschiedenen Ländern ansiedelten. Es war eine größere Mobilität bei den untersten Schichten der archaischen Gesellschaften zu beobachten, die in der Umgebung städtischer Siedlungszentren und von Gebieten größerer wirtschaftlicher Aktivität lebten und eher dazu neigten, die Eigenheiten ihrer Kastenstruktur aufzugeben. Wenn die Indianer, die jahrhundertelang die Opfer von Ausbeutung und Rassenvorurteilen gewesen waren, begannen, sich den nationalen Gesellschaften einzugliedern, so fingen sie an, sich weniger als Indianer zu fühlen, und die Tendenz zur Zweisprachigkeit verstärkte sich bei ihnen. In Brasilien bildeten jetzt die Neger von den Plantagen zusammen mit europäischen Einwanderern das Proletariat der neuentstehenden Industriezentren. Sehr unterschiedliche Faktoren begünstigten diese Integration, zum Beispiel neue billige und schnelle Transportmittel wie die Eisenbahn (obwohl der Verlauf der Strecken in dieser Hinsicht nicht immer der günstigste war) und später der Bau neuer Straßen. Auf diesen spielten, bis die ersten Autobusunternehmen auftraten (und in manchen Gegenden bis zum heutigen Tag), die selbständigen Lastwagenfahrer eine bedeutende Rolle für den Transport von Waren und Passagieren. Die Straßen entstanden, im Unterschied zu den Eisenbahnlinien, mehr infolge eines unmittelbaren Bedarfs und stellten die Verbindung zwischen Gebieten mit größerer Bevölkerungsdichte her. Für den Bau waren keine massiven Investitionen großer Kapitalien auf ein Mal notwendig. Auch der Kauf

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eines Lastwagens erforderte keine besonders großen finanziellen Mittel. Das Straßennetz wuchs nur langsam, war aber besser den regionalen Erfordernissen angepaßt. Insgesamt genügte es zwar nicht den Ansprüchen eines wirklichen wirtschaftlichen Wachstums, besonders im Hinblick auf die Transportkosten über weite Strecken, aber es trug doch erfolgreich zur Ermöglichung der Migrationsbewegungen bei, ohne die eine fortschreitende Integration der Gesellschaften nicht denkbar gewesen wäre. Dieser Prozeß vollzog sich besonders sichtbar im brasilianischen Küstengebiet, in den Ländern am Rio de la Plata und in Mexiko, während er in den Gebirgsgegenden und den tropischen Urwäldern weniger intensiv war. Der größte Anstoß zur sozialen Integration ging von den wirtschaftlichen Veränderungen aus, die eine Binnenmigration von Arbeitskräften von einem ländlichen Gebiet in das andere (auf der Suche nach besseren Löhnen) und vor allem die Massenabwanderung in die Städte auslösten, wo die Neuankömmlinge nicht immer eine befriedigende Lösung für ihre Probleme fanden. Daher ist es oft zu beobachten, daß die Bauern nicht nur ihre elenden Lebensbedingungen, sondern auch viele Merkmale ihrer Kultur und sozialen Organisation in die breiten Elendsgürtel um die Städte mitbrachten und sie beibehielten, solange keine ausreichenden Arbeitsmöglichkeiten geschaffen waren. Im Gegensatz zu dem allgemeinen Trend wirkten vielerorts die kulturellen Traditionen als trennende Schranke: der Fortbestand von rassischen Vorurteilen und Ressentiments, die Verachtung für jede Handarbeit und intensive Arbeitstätigkeit, die völlig unzureichenden Lebensbedingungen (über viele Generationen hinweg) beeinträchtigten die Produktions- und Lernfähigkeit. Im allgemeinen strömten die Menschen in die Gebiete, deren Entwicklung am stürmischsten voranschritt, während andere Regionen in ihrer herkömmlichen Rückständigkeit verharrten. Gerade dort aber war der natürliche Bevölkerungszuwachs am größten. Wenn man nun die unterschiedliche Einkommensverteilung und die Art der Investitionen in der Wirtschaft und der sozialen Verbesserungen berücksichtigt, darf man also mit Recht von einem internen Neokolonialismus sprechen. Einen Sonderfall bildet die mexikanische Revolution, die den indianischen Bauern allmählich einen Teil des Bodens zurückgab, von dem sie durch die Großgrundbesitzer vertrieben worden waren, und die den ejido, den Gemeindebesitz, als ökonomische Form wieder einführte und zudem gesetzlich gegen jeden neuen Eingriff schützte. Die Revolution machte sich zugleich die Erziehung des Eingeborenen zur Aufgabe, und überdies trugen schon allein die Revolutionskämpfe zur Integration und zur Beseitigung trennender Schranken innerhalb der Bevölkerung bei. Dieser Begriff des sozialen Dualismus läßt sich besonders gut auf den Fall Brasilien anwenden, wie es der Franzose Jacques Lambert in seinem Buch Die beiden Brasilien46 getan hat. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden die jahrhundertelang durch Sklaverei und koloniale Isoliertheit gekennzeichneten Gemeinschaften mit der Entstehung einer modernen Landwirtschaft und

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Industrie im Staat São Paulo konfrontiert. Im Laufe der Zeit kam es zu einer Koexistenz der beiden Gruppen. Die Einwanderung von Europäern, die landwirtschaftliche und industrielle Entwicklung und der Ausbau des Transportwesens brachten die Bevölkerung der Gebiete mit schnellem Fortschritt einander nahe. Lange Zeit hindurch bestanden beide Gesellschaftsformen getrennt nebeneinander, wenn auch hier und da kleine Zentren der einen Form inmitten der anderen auftauchten, seien sie nun durch die Bewahrung der alten Tradition oder die Neuerung gekennzeichnet. Die Wurzel solcher Neuerung lag dabei immer im wirtschaftlichen Geschehen. Daher gaben die fortschreitende Industrialisierung und Verstädterung dort auch den Hauptanstoß dazu, die Schranken zwischen den beiden Gesellschaften niederzureißen, die hauptsächlich durch den Widerstand des flachen Landes gegen jede Veränderung und durch das Festhalten am Großgrundbesitz aufgerichtet worden waren (mit relativen Ausnahmen in manchen Gebieten, wie etwa den Kaffeeanbauzonen und den Siedlungsbereichen ausländischer Einwanderer).

Landflucht und Verstädterung Eines der Hauptmerkmale der Periode, die uns hier beschäftigt, eines der Phänomene, das bis in unsere Tage eine immer deutlichere und steilere Entwicklung aufweisen sollte, ist die Landflucht und das Wachstum der Städte. Eine Analyse der Ursachen der Landfluchtbewegung muß von den Grundbesitzverhältnissen, der zunehmenden Verarmung mancher Böden, den fallenden Weltmarktpreisen für gewisse Produkte und den schlechten Lebensbedingungen ausgehen. In der Republik Argentinien machte z.B. im Jahre 1869 die Landbevölkerung 72% und die städtische Bevölkerung 28% der Gesamtbevölkerung aus; für das Jahr 1895 lauten die entsprechenden Zahlen 63% und 37%; für das Jahr 1914 werden jeweils 47% und 53% verzeichnet, und im Jahre 1947 umfaßt die ländliche Bevölkerung 38% gegenüber 62% städtischer Bevölkerung. Die Landflucht ist für Argentinien folgenden Faktoren zugeschrieben worden: Suche nach höherem Lebensstandard und größerer Unabhängigkeit, zunehmende Schwierigkeiten für den landwirtschaftlichen Kleinerzeuger, Widerstand der Großgrundbesitzer gegen die Beschäftigung von mehr Arbeitskräften. Auf ganz Lateinamerika bezogen muß hervorgehoben werden, daß die Ursachen für Landflucht und Verstädterung nicht dieselben waren wie in Westeuropa und den USA (Technisierung der landwirtschaftlichen Betriebe, mit der Arbeitskräfte eingespart werden, und Entwicklung städtischer Industriezentren, die Arbeitskräfte benötigten). Gerade in dieser mangelnden Korrespondenz haben wir zwei der Hauptprobleme zu sehen, die Lateinamerika in jener Periode belasteten und die

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bis heute noch nicht gelöst sind: die niedrige agrarische Produktivität aufgrund des Übergewichts des traditionellen Großgrundbesitzsystems und die ungenügende industrielle Entwicklung, die es nicht gestattete, die vom Land in die Städte strömenden Massen in geeigneter Weise in das Wirtschaftsleben einzugliedern. Die Landflucht wies in den verschiedenen Gebieten einen unterschiedlichen Rhythmus auf. Sie machte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts bemerkbar, verstärkte sich in den dreißiger Jahren und nimmt seitdem ständig zu. Nicht nur der Großgrundbesitz war eine Ursache für diese Migration. Auch das Minifundium erwies sich als nicht lebensfähiges System, einmal weil es eben zu klein war und weil die Anbaumethoden zu einer gefährlich schnellen Erschöpfung des Bodens führten, dann auch wegen der steigenden Lebenshaltungskosten (zwar trugen diese Zwergbetriebe meistens den Charakter der Selbstversorgungswirtschaft, aber manche Dinge mußten eben doch zum Handelspreis gekauft werden) und der Unmöglichkeit, der gesamten Familiengemeinschaft eine ausreichende Beschäftigung zu bieten. Dem Kleinbesitzer standen keine Kredite zur Verfügung, er wurde von den Zwischenhändlern ausgebeutet, wenn er etwas von seinen Produkten verkaufen wollte, und er mußte zusehen, wie seine Kaufkraft und seine Konsummöglichkeiten ständig abnahmen. An der Landfluchtbewegung hatten zuerst vor allem Frauen einen großen Anteil. In Massen strömten sie in die Städte und gliederten sich dort dem Bedientenstand ein, der allmählich die ethnisch-kulturellen Merkmale der ärmsten Gebiete des Landes annahm. Die ländlichen Migrationen wandten sich jedoch nicht immer den Städten zu. Viele Männer verdingten sich vorübergehend als Land- oder Erntearbeiter. Als Beispiel mögen jene dienen, die auf gefahrvollen Gebirgspfaden nach Nordwestargentinien wanderten, um dort bei der Einbringung der Zuckerrohrernte zu helfen, oder jene, die heimlich den Rio Grande überquerten – von Mexiko in die Vereinigten Staaten – und deswegen als ›Nasse Rücken‹ (wet backs) bezeichnet wurden. Andere wiederum suchten eine vorübergehende Lohnarbeit bei den Eisenbahn- und Straßenbautrupps oder in Bergwerken und Erdölfeldern. Aufs ganze gesehen aber gaben Latifundium und Minifundium den Anstoß zur endgültigen Eingliederung von Familien bäuerlicher Herkunft in das städtische Leben. In diesem Zusammenhang muß zwischen den Ländern unterschieden werden, in denen die Landflucht zu einem Stillstand im Wachstum der bäuerlichen Bevölkerung führte (Uruguay kann dafür als Beispiel dienen), solchen Ländern (wie Mexiko und Brasilien), in denen trotz der Landflucht die ländliche Bevölkerung weiter hohe Wachstumsraten aufwies, und schließlich jenen (wie Honduras, Haiti und El Salvador), wo noch immer die ländliche Lebensform vorherrschte und das städtische Wachstum außerordentlich gering war.

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Für Chile ergab sich von 1865 an bei dem Wachstum der städtischen und der ländlichen Bevölkerung folgendes Bild: Tabelle III Zunahme der Stadt-, Land- und Gesamtbevölkerung Chiles (1865–1952) in Prozentzahlen. Index 1865 = 100 (Daten aus Dorselaer und Gregory)47 JahrStadt-Land-Gesamtbevölkerungbevölkerungbevölkerung 1865100100100 1875139104114 1885200112137 1895235112148 1907267141177 1920331153204 1930407167236 1940507184276 1952686182326

In absoluten Zahlen ausgedrückt, wuchs die städtische Bevölkerung von 1865 bis 1952 von 520663 auf 3573122; die ländliche Bevölkerung von 1298560 auf 2359873 und die Gesamtbevölkerung von 1819223 auf 5932995. Wie aus der vorstehenden Tabelle zu ersehen ist, nahm die städtische Bevölkerung in dem uns hier interessierenden Zeitraum kräftig zu. Die gleiche Tendenz ist, wenn auch im allgemeinen etwas abgeschwächt, in den übrigen Ländern Lateinamerikas zu beobachten (eine bemerkenswerte Ausnahme bildete El Salvador, dessen ländliche Bevölkerung zwischen 1930 und 1950 nicht nur absolut, sondern auch relativ zunahm). Tabelle IV Stadt- und Landbevölkerung in einigen Ländern Lateinamerikas zwischen 1900 und 1951 (Prozentzahlen) (Angaben aus Dorselaer und Gregory)47 LandJahrstädtischeländliche BevölkerungBevölkerung Kuba190743,956,1 194349,650,4 El Salvador193038,361,7 195036,563,5 Mexiko193033,566,5 195042,657,4 Argentinien189537,462,6

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191452,747,3 194762,537,5 Bolivien190026,973,1 195033,666,4 Brasilien194031,268,8 195036,563,5 Kolumbien193829,170,9 195136,363,7 Venezuela193635,065,0 195049,850,2

Für eine vergleichende Analyse ergibt sich hier eine große Schwierigkeit: es fehlt an einem einheitlichen Maßstab zur Bestimmung dessen, was als ein städtisches Siedlungszentrum zu bezeichnen sei. Hier gehen die Auffassungen auseinander. Manche fordern, daß es sich mindestens um die Hauptstadt eines Verwaltungsdistriktes handle, andere wollen eine Mindesteinwohnerzahl zugrunde legen, wobei die geforderte Zahl zwischen 1000 und 2500 Einwohnern schwankt. Trotz dieser Einschränkungen vermittelt die obenstehende Tabelle eine ausreichende Vorstellung vom allgemeinen Trend der Entwicklung. Es muß hervorgehoben werden, daß ein gewisser Zusammenhang zwischen der Verstädterung Lateinamerikas einerseits und der wirtschaftlichen Expansion und der Erhöhung des Lebensstandards gewisser Schichten der Bevölkerung andrerseits besteht. Diese beiden letzten Faktoren, und das ist die negative Seite des Vorgangs, hingen nun im wesentlichen von äußeren Einflüssen ab, und als das System der internationalen wirtschaftlichen Komplementärheit zusammenbrach, beeinträchtigte die übermäßige Verstädterung die gesamte wirtschaftliche Entwicklung in Lateinamerika und verschärfte die Strukturkrise. Der Verstädterungsprozeß war vom Aufschwung der Exportwirtschaften, die genügend Überschüsse zur Verteilung ergaben, in Gang gebracht worden. Intensive Handelstätigkeit und die zunehmenden Funktionen des Staates schufen Arbeitsmöglichkeiten. In der Stadt war die Ausbildung der Kinder gewährleistet, und man konnte, wenn auch manchmal erst in der zweiten Generation, den erstrebten sozialen Aufstieg erreichen. Die schnelle Zuwanderung in die Städte und der Mangel an Arbeitsmöglichkeiten für die Neuangekommenen brachte zuweilen mit ihnen zugleich das Problem der versteckten Arbeitslosigkeit oder der Unterbeschäftigung in die Stadt. Das rief zahlreiche Erscheinungen ins Leben: Bettelunwesen, Auftauchen ambulanter Verkäufer und Gelegenheitsarbeiter, Zunahme der Prostitution und der Diebstähle, Existenz zahlreicher Personen ohne fest definierbaren Beruf. Bei der Frauenarbeit spiegelte sich die Lage am klarsten in den Bedingungen wider, unter denen das Hauspersonal zu arbeiten hatte. Insgesamt erwartete diese ganze große Menschenmasse, daß der Staat eingriffe, um ihren Bedarf an Arbeitsplätzen zu decken und ihre wirtschaftlichen

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Probleme zu lösen, und in diesem Sinne übte sie einen starken politischen Druck aus. So trug sie zur Entstehung jenes in Lateinamerika so stark ausgeprägten Tertiärsektors der Wirtschaft bei, der nicht das Ergebnis eines Strukturwandels und des wirtschaftlichen Fortschritts, sondern vielmehr künstlich aufgebläht war, was sich auf eine fortschrittliche Entwicklung außerordentlich negativ auswirken mußte. Im folgenden werden wir noch sehen, welche politische Bedeutung diesen Gruppen insbesondere in kritischen Situationen zukommt. Ihr Arbeitsangebot führte schließlich zu einer erheblichen Verschlechterung der Lohnbedingungen, die sich jetzt noch zu den nachteiligen Auswirkungen der Inflation auf die Erhöhung der Lebenshaltungskosten gesellte. Das maßlose Anwachsen der städtischen Bevölkerung belebte die Spekulationstätigkeit um den Verkauf von Grundstücken im Umkreis der großen Städte. Wir wollen kurz einen konkreten Fall näher untersuchen. Man darf behaupten, daß zum Beispiel die im Verhältnis zu ihrer Bevölkerungszahl übermäßig große flächenmäßige Ausdehnung zahlreicher Städte (mit der daraus folgenden proportionalen Verteuerung der Erschließungskosten, für Straßenpflasterung, Wasserversorgung, Abwässeranlagen, Beleuchtung usw.) das Ergebnis einer steigenden Tendenz zur unkontrollierten Parzellierung von Grundstücken in den städtischen Randgebieten und ihrem Verkauf auf Ratenzahlungen an die ärmeren Schichten der Bevölkerung war. In dieser Periode wurden in den lateinamerikanischen Staaten Investitionen auf zahlreichen Gebieten vorgenommen. In einer ersten Phase erreichte im allgemeinen der Bau von Hafenanlagen, mit dem man schon in der Periode vorher begonnen hatte, seine Vollendung, und man führte sanitäre Projekte durch (die den großen Epidemien ein Ende bereiteten). Die Einführung des Automobils zwang zur Regelung des Verkehrs und zum Bau breiter Straßen. Man errichtete große öffentliche Gebäude, die ein aufschlußreiches Licht auf die Sozialgeschichte Lateinamerikas werfen: die Pracht gewisser Militärakademien und Kasernen oder die riesigen Ausmaße der Heeres- und Marineministerien, zum Beispiel in Buenos Aires, geben klares Zeugnis von dem Ansehen und dem Gewicht, das die Militärs in den lokalen Gesellschaften erlangt hatten. Die Wohnviertel in Mexiko, Santiago, Buenos Aires und anderen Städten beweisen das Weiterbestehen von Schichten mit hoher Kaufkraft. Im allgemeinen und im Verhältnis zu den bescheidenen Mitteln jener Länder setzten die in jener Periode errichteten öffentlichen Bauten die Investition riesiger Summen voraus, und das vermittelt eine Vorstellung von der wachsenden Rolle, die der Staat im Wirtschaftsleben spielte, und von dem zunehmenden Einfluß der Bürokratie im öffentlichen Leben. Die Krankenhäuser vermitteln uns ihrerseits eine Vorstellung von der Lage der breiten Volksschichten. Da gab es als Überbleibsel aus der Vergangenheit viele veraltete Gebäude, in denen die menschliche und medizinische Behandlung

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des Kranken schwere Mängel aufwiesen und das Ergebnis einer keineswegs demokratischen, klassenstolzen Einstellung der Gesellschaft waren. Aber es wurden auch angemessenere Gebäude errichtet. Die ersten dieser Art waren dem Bemühen der Krankenunterstützungs- und Behandlungsvereine europäischer Einwanderer zu verdanken. Später wurden moderne Gebäude, wie etwa die großen, den medizinischen Fakultäten in Buenos Aires und Montevideo angeschlossenen Kliniken errichtet, die eine ausgezeichnete ärztliche Versorgung gewährleisteten. Verschiedene Formen von Vereinen und Zusammenschlüssen führten allmählich zur Errichtung eigener Krankenhäuser, sei es nun für einen bestimmten Kreis von Staatsbeamten oder infolge der wachsenden Macht der Gewerkschaften, die eigene Reserven für die ärztliche Versorgung ihrer Mitglieder anlegten oder für eine gesetzliche Regelung der Krankenversorgung kämpften.

 Abb. 14: Caracas – Glanz und Elend

Im ersten Abschnitt dieses Zeitraumes wurde in den reformfreudigen Ländern vieles für den Bau von Schulen und öffentlichen Anlagen geleistet. Andrerseits enthüllt der scharfe Kontrast zwischen den Elendsvierteln und den luxuriösen Gartenvorstädten mit ihren sehr teuren Wohnhäusern wiederum den sozialen Gegensatz und den ungeheuren Unterschied zwischen den einzelnen Klassen der Gesellschaft. Dieses Phänomen läßt sich ebenso in Buenos

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Aires wie in Montevideo, Rio, São Paulo, Mexiko und anderen großen Städten beobachten. In dieser Periode kam durch die Entwicklung der Städte auch noch auf andere Weise der soziale Wandel zum Ausdruck. Der Aufschwung des Handels führte zu einem Konzentrationsprozeß- und ließ die großen Kaufhäuser entstehen. In den Städten schossen die Kinos aus dem Boden, während die Theater eine Krise durchmachten. Die Oberklassen gewährleisteten den Fortbestand kleiner, aber luxuriöser Einkaufszentren, die vorwiegend Importwaren führten. Die soziale Einstellung der Regierungen und die Lage der verschiedenen Gesellschaftsklassen wirkten sich auch auf die Entwicklung der Massenverkehrsmittel aus. Bei dem schnellen Ausbau der Stadt Rio machte man sich geschickt die landschaftlichen Schönheiten zunutze, und breite Straßen mit Über- und Unterführungen ermöglichten die reibungslose, schnelle Abwicklung des motorisierten Verkehrs. Diese Welle städtebaulicher Arbeiten ließ auch elegante Badeorte für das Weekend und die Ferienaufenthalte der oberen Klassen entstehen, so etwa Acapulco in Mexiko; Viña del Mar in Chile; Mar del Plata in Argentinien und Punta del Este in Uruguay. In Rio dagegen floh man möglichst die feuchtheiße Küste und zog die kühlere trockene Höhenlage vor (Petrópolis und Umgebung). Dort überall wurden luxuriöse Wohnhäuser und Hotels erbaut. Die Landflucht erreichte gegen Ende dieser Periode ein solches Ausmaß, daß ein von nun an chronischer Prozeß einsetzte. Es begann Ende des 19. Jhs. auf den bergigen Teilen (morros) inmitten der Stadt Rio: ohne behördliche Genehmigung und ohne Aussicht auf die Erwerbung des Bodens siedelten sich bitterarme Leute in provisorischen Behausungen (favelas) in der Stadt an und trugen so das Elend der Landbevölkerung dorthin. Meistens ließen sich diese Menschen in den Randgebieten der Städte auf völlig unerschlossenem, nicht zum Bauen geeignetem Land nieder, als Baumaterial dienten Latten, Blech oder Pappe. In Chile heißen diese Slums callampas, weil sie wie die Pilze dieses Namens aus dem Boden schossen, in Argentinien villas miserias (Elendsvillen). In Uruguay benannte der Volksmund sie mit grimmigem Humor cantegriles (Cantegril ist der Name des elegantesten Luxusviertels in Punta del Este, dem Badeort der uruguayischen Oberklasse), in Mexiko jacales. In anderen Fällen siedelten sich die Zuwanderer in Massenquartieren an, die sich um eine Sackgasse oder einen Binnenhof gruppieren (conventillos heißen sie im Süden, casas de vecindad im Norden, hospedajes in Zentralamerika und cortijos in Brasilien). In wieder anderen Fällen ziehen sie in alte, verfallene Häuser, die abgerissen werden sollten. Nach 1940 erreichten es in Mexiko einige Arbeitergruppen (Parachutistas, Fallschirmspringer, genannt) durch politischen Druck, daß man ihnen dem Staat

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gehörendes Land außerhalb der Stadtgrenzen zur Verfügung stellte, damit sie dort ihre Notunterkünfte errichten konnten. Die meisten Menschen, die unter den eben geschilderten Verhältnissen lebten, hatten irgendeine Art Einkommen, doch reichte es nicht aus, um eine richtige Wohnung zu mieten. Wohnungen für diese Leute zu bauen, war für das Privatkapital nicht verlockend, dieses zog die Errichtung von Luxusbauten als Kapitalanlage vor. Viele Regierungen entwarfen Pläne, um die Lage zu bessern. Einerseits standen jedoch nicht genügend Mittel zur Bewältigung dieses Riesenproblems zur Verfügung, andrerseits kam es auf dem Wege über politische Beeinflussung oder persönliche Geschäftstüchtigkeit oft dazu, daß begüterten Schichten, die sich luxuriöse Wohnungen bauten, die Erleichterungen und die langfristigen Darlehen zu niedrigem Zins zugute kamen, die ursprünglich im Interesse der breiten Volksschichten geschaffen worden waren. In manchen Fällen wurden die niedrigen Zinssätze der staatlichen Wohnungsdarlehen (die für Hauskauf oder Wohnungsbau gewährt wurden) sogar dazu mißbraucht, mit diesem Geld dort zu spekulieren, wo die Zinssätze wesentlich höher lagen. Es ist wiederholt darauf hingewiesen worden, daß der Zustrom ländlicher Massen in die Stadt nicht auch eine schnelle kulturelle Assimilierung bedeutete. Zahlreiche lokale Formen blieben erhalten. In vielen Fällen unterstützten zum Beispiel diese Gruppen politisch dieselben konservativen Schichten, deren Anhänger sie schon auf dem Lande gewesen waren. Dies taten sie so lange, bis gewisse städtische Schichten sie durch Arbeitsbeschattung, Vergünstigungen verschiedenster Art und einen neuen Paternalismus ganz allmählich für sich und ihre politischen Ziele gewonnen hatten. Abschließend muß noch erwähnt werden, daß sich der Prozeß der unkontrollierten Verstädterung und des Baus von unhygienischen Elendswohnungen über diese Periode hinaus fortsetzte und bis in unsere Tage immer größere Ausmaße annimmt. Die soziale Struktur Für diesen Zeitraum und auf die Gefahr einer Verallgemeinerung hin (die wir später durch die Analyse einiger ganz konkreter Fälle auszugleichen versuchen) darf man feststellen, daß sich jetzt in den wichtigsten Ländern Lateinamerikas die Zusammensetzung der Oberklassen (die gleichzeitig an politischer Macht verlieren) zu ändern begann, während die sogenannten Mittelklassen zahlenmäßig wuchsen und ein Proletariat beträchtlichen Umfangs entstand. Den alten Vertretern des traditionellen Großgrundbesitzes blieb nichts anderes übrig, als sich entweder aus der politischen Machtposition verdrängen zu lassen oder sich den neuen Schichten anzuschließen, die den Handel, das Kreditwesen, die junge Industrie und andere spekulative Zweige der Wirtschaft kontrollierten

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(das bedeutet aber nicht etwa, daß die Agrarstrukturen ihre Starrheit verloren und sich für die Investitionen aufgeschlossen zeigten, die für eine beträchtliche Erhöhung der Produktionskapazität notwendig gewesen wären). Beispiele dafür finden sich in Brasilien, Argentinien, Chile und Uruguay. In Uruguay und Argentinien wuchs der Anteil der Mittelklassen an der Gesamtbevölkerung besonders stark (auch in Costa Rica; hier allerdings von einem starken ländlichen Übergewicht gekennzeichnet). In Mexiko und in Brasilien ist auf verschiedene Weise eine Tendenz zum Wachstum dieser Schichten zu beobachten, wenn ihre Zusammensetzung auch abweichende Züge aufwies. Das lateinamerikanische Proletariat zeigte nicht dieselbe Homogenität, wie es sie in anderen Ländern der Welt erreichte. Angesichts ihres merklich besseren Lebensstandards im Vergleich zu breiten Schichten der ländlichen Bevölkerung ist man geneigt, das Proletariat eher der Mittelklasse als den untersten Schichten der Bevölkerung zuzurechnen. Eine den lateinamerikanischen Gegebenheiten besser angepaßte Definition des Klassenbegriffs muß noch entwickelt werden. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts strebten zahlreiche führende Politiker die Herausbildung einer einflußreichen ›Mittelklasse‹ in ihren Ländern an. Aber der Begriff ›Mittelklasse‹ selbst war immer schwerer zu definieren und das politische und wirtschaftliche Verhalten dieser Schichten immer schwerer auf einen Nenner zu bringen. Es führt zu nichts, wenn man auf eine bessere Definition des Begriffs völlig verzichtet und von ›Sektoren‹ anstatt von Klassen spricht; denn auf dieser Grundlage läßt sich keine Theorie über die politische Entwicklung mehrerer Länder aufbauen. Es ist auch keine eben glückliche Lösung, von ›alten‹ und ›neuen‹ Mittelklassen zu sprechen und darin ein wesentliches Element zur Erklärung des wirtschaftlichen Fortschritts einiger Länder im Vergleich zur Stagnation anderer sehen zu wollen. Nach Bert F. Hoselitz setzt sich die ›alte‹ Mittelklasse aus Bauern mit Klein- und Mittelbesitz, kleinen Industriellen und Angehörigen einiger freier Berufe zusammen; die ›neue‹ Mittelklasse aus white collar workers (Stehkragenarbeitern), öffentlichen Angestellten und Beamten. Diese letztere zeichnet sich dadurch aus, daß sie versucht, ihren Anteil am Volkseinkommen zu erhöhen, ohne wirklich zur Erhöhung der Produktion beigetragen zu haben. Für die vergleichende Geschichtsforschung fehlt es noch an wesentlichen Daten, um einigermaßen fundierte Aussagen machen zu können. Vor allem ist zu beobachten, daß die ersten Untersuchungen in dieser Hinsicht mit Begriffen arbeiteten, die für eine völlig anders geartete Umwelt entwickelt worden waren und daher einer Analyse der realen Gegebenheiten in Lateinamerika nicht gerecht werden konnten. Zuweilen handelte es sich bei diesen Untersuchungen aber auch lediglich um die Darstellung wünschenswerter, aber nicht tatsächlicher Gegebenheiten. Eine ›Mittelklasse‹ als eindämmendes Element für politischen Radikalismus und als entscheidender Faktor für eine stetige demokratische Entwicklung besteht heute in Lateinamerika lediglich in der Theorie, die von zahlreichen Beispielen widerlegt wird. Die Ergebnisse der Geschichtsforschung enthüllen mit immer größerer Klarheit, daß die Rolle der

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lateinamerikanischen Mittelschichten außerordentlich übertrieben worden ist. So hat Milton Vanger48 nachgewiesen, daß der Aufstieg des uruguayischen Präsidenten Battle y Ordóñez zur Macht keineswegs der politischen Aktivität der Mittelklassen in diesem Land zu verdanken war. Die Haltung dieser besonders wandelbaren Gruppe schuf ein Klima, das stets ebensogut in revolutionären Radikalismus wie in den konservativen Ruf nach einer ›Regierung der Ordnung‹ umschlagen konnte. Diese Überlegungen führen uns zu der Forderung, bei jeder Analyse der sozialen Schichten in Lateinamerika im allgemeinen von ideologischen Voraussetzungen abzusehen und statt dessen ganz besonders die Art der Beschäftigung, das Einkommensniveau, ethnisch-kulturelle Voraussetzungen usw. zu berücksichtigen. Im Gegensatz zu dem, was ihre Situation und gewisse ideologische Einstellungen erwarten lassen könnten, hat die Landbevölkerung im allgemeinen konservative Regierungen unterstützt, und das Proletariat hat nicht gerade eine revolutionäre Rolle gespielt, sondern angesichts der stetigen Inflation vor allem auf die Erlangung höherer Löhne geachtet. Das Bürgertum zeichnete sich auch nicht durch denselben Grad von bescheidener Lebenshaltung und unternehmerischer Initiative aus, den es in den hochentwickelten Ländern aufwies. Die modernen Untersuchungen über das soziale Schichtgefüge genügen allmählich größeren wissenschaftlichen Ansprüchen. Es ist zu hoffen, daß jene Forschung auch im Sinne eines historischen Ausblicks fortschreitet. Sehen wir uns nun im einzelnen an, was man über den sozialen Strukturwandel in drei sehr repräsentativen Ländern weiß:

I. Mexiko Die Untersuchungen von José E. Iturriaga49 weisen nach, daß die Entwicklung der mexikanischen Sozialstruktur auf drei Faktoren beruht: 1. neues System des bäuerlichen Landbesitzes, das von der Revolution geschaffen wird; 2. Wachstum der Städte; 3. fortschreitende Industrialisierung des Landes. Dieser Wandlungsprozeß spiegelt sich eindeutig in der nachstehenden Tabelle wider:

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 Tabelle V Strukturwandel bei den Gesellschaftsklassen in Mexiko, bis 1940 (Nach Iturriaga)

Bei einem Vergleich der absoluten Zahlen dieser Tabelle ist festzustellen, daß die städtische Oberschicht um 123,8% wuchs, die ländliche Oberschicht um 40,9% abnahm und beide zusammen um 23,3% zunahmen. Ein Vergleich der Prozentzahlen für 1895 und 1940 bei den Oberklassen ergibt, daß die städtische Oberschicht um 46,2% zunahm, die ländliche Oberschicht um 54,3% abnahm und beide zusammen um 27,1% abnahmen. In absoluten Zahlen gesehen nahm die städtische Mittelklasse um 206,8% zu, die ländliche Mittelklasse wuchs – infolge der Zerschlagung der Latifundien – um 245,2% und beide zusammen um 215,1%. Der Vergleich der Prozentzahlen für 1895 und 1940 ergibt, daß die städtischen Mittelklassen um 98%, die ländlichen um 125,9% und beide zusammen um 104% zunahmen. Wenn man schließlich die absoluten Zahlen der unteren Volksschichten für 1895 und 1940 vergleicht, so sieht man, daß die städtische Unterschicht um 144,6%, die auf dem Lande nur um 22,6% zunahm, und beide zusammen um 41,7%. Wenn wir jedoch den Vergleich aufgrund des prozentualen Anteils der unteren Klassen an der Gesamtbevölkerung vornehmen, so stellen wir fest, daß die städtische Unterschicht im Jahre 1940 um 58,1% zugenommen, die ländliche um 20,8% abgenommen, und beide zusammen um 8,5% abgenommen haben. Wie Iturriaga hervorhebt, ist die relative Schrumpfung der ländlichen Unterschichten das typischste Kennzeichen für die soziale Entwicklung des Landes während fast eines halben Jahrhunderts; der zahlenmäßig größte, unwissendste und wirtschaftlich schwächste Sektor der Gesellschaft, die ländliche Unterschicht, rückte in der Sozialskala hinauf, während ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung des Landes zwischen 1895 und 1940 um 20,8% sank.

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Die Bedeutung der sozialen Entwicklung wird noch klarer, wenn wir anhand der Tabelle VI beobachten, wie sich die absolute Zunahme der Bevölkerung um 54,8% zwischen den Jahren 1895 und 1940 (6955 222 Personen) auf die verschiedenen sozialen Klassen verteilte. Die Tabelle gibt ebenfalls Auskunft über die Wachstumsdynamik der sozialen Klassen in Mexiko. Daraus ist faktisch zu entnehmen, daß die Zunahme der Gesamtbevölkerung (fast 7 Millionen) zwischen 1895 und 1940 die ländliche Unterschicht um 2,2 Millionen vergrößerte, die restlichen 4,7 Millionen jedoch auf alle anderen Klassen entfielen, die zuvor – ohne die ländliche untere Bevölkerungsschicht – 2972687 Personen umfaßt hatten.

 Tabelle VI Absolute Zunahme der Bevölkerung in Mexiko zwischen 1895 und. 1940, verteilt auf die sozialen Klassen (Nach Iturriaga)

Das Wachstum der ländlichen unteren Schichten war also in dem dargestellten Zeitraum siebenmal geringer als das der übrigen sozialen Klassen. II. Argentinien Professor Gino Germani hat verfügbares statistisches Material ausgewertet, um ein Bild vom sozialen Strukturwandel in Argentinien zu vermitteln, den er gleichzeitig auf die wirtschaftliche Entwicklung und die europäische Einwanderung zurückführt.50

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Eine Berechnung auf der Grundlage der Volkszählungsstatistik von 1895 für die sozialen Klassen in Buenos Aires ergibt, daß damals die Mittelklassen etwa 35% der erwerbstätigen Bevölkerung stellten. 10% davon entfielen auf Angestellte, 5% auf freie und abhängige Berufe. Zwanzig Jahre später hat sich die Zusammensetzung geändert: die Gruppe der Angestellten und der Angehörigen freier und abhängiger Berufe wächst schnell an. Tabelle VII Soziale Klassen in der Stadt Buenos Aires (1895–194.7) (Nach Gino Germani) 1895191419361947 Mittelklassen35384648 Arbeitergeber und Selbständige in Industrie, Handel und Dienstleistungen17141614 Rentner3232 Freie und nicht selbständige Berufe56932 Angestellte und Ähnliche10161832 Untere Klassen65625452 100100100100

Es ist festzustellen, daß 1936 und 1947 die Mittelklassen, immer aufgrund der Zunahme der ›Angestellten‹, weiter gewachsen waren. Wie Germani betont, schließen diese Statistiken die Arbeitgeber und die ›Selbständigen‹ (die in Wirklichkeit nur zum kleinen Teil der Mittelklasse zugerechnet werden können) in einer Gruppe zusammen, und deshalb sind die Zahlen für 1947 anders aufgegliedert worden, um einen besseren Vergleich mit früheren Zahlen zu ermöglichen. Auf der Grundlage der statistischen Zahlen der Volkszählung und der Schätzungen von Augusto Bunge ist die nachstehende Tabelle erarbeitet, die die in Buenos Aires beobachteten Tendenzen bestätigen müßte. Tabelle VIII Soziale Klassen in Argentinien: 1914–1947 (Nach Gino Germani) Mittelklassen3340 Arbeitergeber in Handel, Industrie, Land- und Viehwirtschaft1919 Freie Berufe11 Rentner21 Angestellte1117 Pensionäre–2

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Untere Klasse6760 Gesamt100100

In Argentinien haben sich Änderungen ergeben: der Handelssektor hat sich ausgeweitet, die einheimische Industrie entsteht, das Proletariat bildet sich heraus. Das gehobene Industriebürgertum rückt mit in die Position ein, die bisher ausschließlich den Großgrundbesitzern vorbehalten war. Die soziale Mobilität hat sich verstärkt. Die abhängigen Mittelklassen wachsen durch den Aufstieg gebürtiger Argentinier, zum großen Teil Kindern ausländischer Einwanderer. Während der Periode stärkster sozialer Mobilität erfolgte der Aufstieg des Argentiniers von den unteren in die mittleren Schichten auf dem Wege über die Abhängigen (Angestellte) oder die freien Berufe (wozu er der Unterstützung durch seine Familie während seiner Ausbildungszeit bedurfte). Der soziale Aufstieg des Einwanderers erfolgte im wesentlichen über den Handel und an zweiter Stelle über Industrie oder Landwirtschaft. III. Brasilien Bei dem sozialen Strukturwandel in Brasilien machte sich in viel stärkerem Maße die Beeinflussung durch regionale Probleme und durch die verschiedene Herkunft der Bevölkerungsgruppen bemerkbar. Im Kapitel 11, als von der ungleichmäßigen Verteilung des Einkommens die Rede war, wurden die Zahlen von Henry Spiegel für das Jahr 1944 aufgeführt, denen zufolge 5% der aktiven Bevölkerung die Oberklasse bildeten und nicht weniger als 71% die untere Schicht (eine Zahl, zu der noch die Personen hinzuzuzählen sind, deren Einkommen statistisch unerheblich war). Was hatte sich seit Beginn des Jahrhunderts ereignet, um solch negative Resultate zu zeitigen? Offensichtlich war der Abschaffung der Sklaverei nicht die unmittelbare Eingliederung des Negers in die Lohnarbeit gefolgt, und darüber hinaus muß bei der Entwicklung gewisser sozialer Klassen auf den Einfluß verschiedener Faktoren geachtet werden, die zu Beginn dieses Zeitabschnitts praktisch noch nicht vorhanden waren. In erster Linie ist festzustellen, daß die Expansion der Kaffeewirtschaft durch die Einführung der Lohnzahlung und durch bessere Arbeitsbedingungen auf dem Lande zum sozialen Fortschritt beitrug. An dieser Expansion hatten zuerst europäische Einwanderer und danach Arbeiter aus den verschiedensten ländlichen Gebieten Brasiliens einen Anteil. Im Süden führte die Besiedlung durch Kleinbesitzer europäischer Herkunft nach anfänglichen Schwankungen zu der Herausbildung einer ländlichen Mittelklasse, die sich später den städtischen Siedlungszentren eingliedern sollte. Der wirtschaftliche Verfall in einigen Landesteilen und der Aufschwung in anderen sorgte für eine Fortführung der Binnenwanderung innerhalb der brasilianischen Bevölkerung, die sich seit der Kolonialzeit stets durch ihre Migrationsdynamik ausgezeichnet hatte. Trotzdem ging im Nordosten der Prozeß der Verelendung weiter (Zucker- und Kakaokrise,

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Erosion und Dürrekatastrophen, ständige Zunahme der Bevölkerung), und dort waren dann auch, obwohl viele Bauern Land besaßen, die niedrigsten Schichten der Sozialskala in Brasilien zu verzeichnen. Verstädterung und Industrialisierung förderten den sozialen Aufstieg jener, die Industriearbeiter, kleine Kaufleute, öffentliche oder private Angestellte wurden oder die in der Lage waren, zu studieren, um sich für die Ausübung eines Berufs auszubilden. Die Inflation stellte eine ständige Bedrohung für die Aufrechterhaltung des Status aller jener dar, die von festen Renten lebten. Diesem Phänomen ist die relative Besserung des Lebensstandards des gewerkschaftlich organisierten Proletariats gegenüber vorher bessergestellten mittleren Schichten zu verdanken. Die wirtschaftlichen Veränderungen stießen immer auf kulturelle Widerstände im Rahmen der sozialen Mobilität. Im Falle Brasiliens muß auf die Bedeutung gewisser sozialer Vorurteile und Schranken besonders hingewiesen werden. In Bezug auf die Zusammensetzung des tertiären Sektors sind dabei anerkanntermaßen diese Tendenzen in der Privatwirtschaft stärker ausgebildet als bei den staatlichen Beamten und Angestellten. Nach Angaben von Luis A. Costa Pinto51 muß man das gesamte Bevölkerungswachstum berücksichtigen, um die sozialen Strukturwandlungen in Brasilien verstehen zu können. Im Jahre 1890 hatte Brasilien rund 14 Millionen Einwohner, 1920 waren es 30 Millionen, 1940 genau 41236 315, 1950 dagegen 51944397 (vorwiegend inneres Wachstum, da die Einwanderung nur zu etwa 19% beitrug). Die jüngsten Tendenzen dürften sich in einem neuen Bild der brasilianischen Gesellschaftsschichtung widerspiegeln. Ein erster Hinweis ergibt sich aus der Analyse der Tendenzen, wie sie in den Statistiken der Volkszählung von 1940 und 1950 zutage treten. Tabelle IX Erwerbstätige Bevölkerung Brasiliens, aufgegliedert (Nach L.A. Costa Pinto)

nach

Sektoren

der

Wirtschaftstätigkeit

19401950 Sektor derMillionen%Millionen% Wirtschaftstätigkeit Primär12,17113,064 Sekundär1,592,613 Tertiär3,4204,623 Gesamt1710020,2100

Wie aus der Tabelle hervorgeht, haben die oben beschriebenen Tendenzen zur Verkleinerung des Primärsektors und zum Anwachsen des Sekundär- und Tertiärsektors geführt. Die größere Exaktheit der Angaben in der Volkszählungsstatistik von 1950 über die Zugehörigkeit zu verschiedenen Berufszweigen gestattet eine

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Unterteilung in sog. ›soziale Beschäftigungsschichten‹, die uns unter Berücksichtigung einer wirtschaftlich-sozialen Rangskala eine ungefähre Vorstellung von der tatsächlichen sozialen Schichtung in Brasilien vermitteln:

 Tabelle X Soziale Beschäftigungskategorien und Effektivbestand der sozialen Klassen in Brasilien (1950) (Nach L.A. Costa Pinto)

Dieses Schichtungsgefüge läßt das Fortbestehen gewisser Merkmale des traditionellen Schemas, den Einfluß der wirtschaftlichen Entwicklung und die strukturellen Veränderungen in der brasilianischen Gesellschaft sichtbar werden. Die kapitalistische Expansion der brasilianischen Wirtschaft hatte auf Kosten der Position und des Ansehens der alten Landaristokratie stattgefunden. Die industrielle Entwicklung bewirkte eine Zunahme des städtischen Industrieproletariats. Im System der Sozialschichtung sind Residualklassen enthalten, die für die archaische Gesellschaft der Vergangenheit typisch waren, neben Emergenzklassen, die aus der modernen Wirtschaft erwachsen. Daß der Fortschritt ein historischer Prozeß und nicht ein Endergebnis ist, beweist dieses Nebeneinander zweier Strukturen innerhalb derselben Gesellschaft. 13. Modernisierung und Verhaltenswandel

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Bei der Darlegung der kulturellen Vorgänge in der vorigen Periode haben wir bereits darauf hingewiesen, daß es uns angezeigt erscheint, eher die großen Umwälzungen der Gesamtmentalität zu analysieren, als Leben und Werk einzelner Persönlichkeiten des Geisteslebens bis ins einzelne zu schildern. Wir hatten hervorgehoben, daß das kulturelle Verhalten der Eliten durch überstürzte Europäisierung und Ablehnung der als minderwertig betrachteten Kulturen gekennzeichnet war, daß nichtsdestoweniger diese Kulturen sich mit dem Volksganzen zu verschmelzen und sich zu entwickeln begannen. Als Wesensmerkmale der Periode, mit der wir uns jetzt befassen, wollen wir die Modernisierung und den Verhaltenswandel bezeichnen. Da es in kultureller Hinsicht zwischen dieser und der folgenden Periode keine wesentlichen Veränderungen gibt, werden wir – über die für die jetzige Epoche durch den Zweiten Weltkrieg festgelegte zeitliche Begrenzung hinaus – unsere Analysen bis heute fortführen. Der Begriff Modernisierung muß vorsichtig angewendet werden, da er verschiedene Auslegungen zuläßt. Wir verwenden ihn hier nicht in dem übermäßig engen Sinn, den ihm manche Sozialwissenschaftler geben, für die der soziale Wandel unserer Zeit nichts anderes ist als der einfache Übergang von den sogenannten traditionellen Gesellschaften (ein allzu allgemeiner Begriff, der zahlreiche Gradunterschiede und Verschiedenartigkeiten der geschichtlichen Entwicklung außer acht läßt) zu einer angeblichen ›modernen Gesellschaft‹ (die ihrerseits als eine Art Endziel betrachtet wird, unfähig jeder weiteren Entwicklung, und die in Wirklichkeit nur das unterbewußte Modell gewisser Industriegesellschaften unserer Tage ist). In Bezug auf die ›Modernisierung‹ in dieser Periode ist folgendes festzuhalten: 1. Unter ›Modernisierung‹ wird hier ein Wunsch nach einem Wandel (und zum Teil ein realer Vorgang) verstanden, der sich nicht nur in der Haltung einzelner Intellektueller äußert, sondern sich allmählich in weitesten Kreisen durchsetzt. 2. Sie unterscheidet sich von der Tendenz der vorhergehenden Periode zur ›Europäisierung‹ dadurch, daß jetzt eine stärkere kritische und schöpferische Haltung bei der Übernahme kultureller Formen aus dem Ausland waltet. Diese werden nicht mehr sklavisch nachgeahmt, sie stellen nicht mehr ein unübersichtliches Gemisch verschiedenster Elemente dar, deren einziges Verdienst es ist, ausländischer Herkunft zu sein. Im Gegenteil, in fortschreitendem Maße macht sich eine Tendenz zur Auswahl der Vorbilder und zu ihrer Anpassung an die örtlichen Gegebenheiten bemerkbar. Diese Tendenz tritt auf den verschiedensten Gebieten zutage: Ideen, Wertvorstellungen, Geräte, Konsumgüter, Gewohnheiten und Bräuche usw. 3. Während die Hauptträger der ›Europäisierung‹ im wesentlichen die Angehörigen der einheimischen Oberklassen waren, geht der Trend zur ›Modernisierung‹ von verschiedenen Gruppen der Mittelschichten aus, die unter

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anderem zeitweise die Grundlagen der alten Gesellschaft selbst in Abrede stellen. 4. Die Akkulturation durch Einfluß von außen verstärkt sich dagegen innerhalb der unteren Schichten der Bevölkerung (die vorher am Rande der Gesellschaft lebten), und dies, je mehr diese Gruppen sich in die Geldwirtschaft eingliedern und am städtischen Leben beteiligt sind, während die neuen Massenkommunikationsmittel sich darum bemühen, sie wirtschaftlich und politisch immer stärker in die Gesellschaft einzubeziehen. Wir sprechen von Modernisierung und Verhaltenswandel und meinen damit einen dominierenden Prozeß und zahlreiche Veränderungen in der Denkweise verschiedener Gruppen, die die alten kulturellen Leitbilder kritisieren und verschiedene Neuerungsversuche unternehmen. Wenn diese eine Kultur, deren Besonderheiten sich im Verlaufe von Jahrhunderten herausgebildet haben, auch nicht völlig verdrängen können, so geben sie ihr doch in mancher Hinsicht ein merklich anderes Gepräge. Als Tendenz an sich verdienen diese neuen Verhaltensweisen eine eingehende Untersuchung ihrer Auswirkungen im 20. Jahrhundert. Die Vereinigten Staaten hatten allmählich ihre Vorherrschaft in Lateinamerika gefestigt, was mannigfache politische Widerstände auslöste. Zudem warf man ihnen vor, daß sie die eingeborenen Indianerkulturen ausgerottet hatten und die Neger als Menschen zweiter Klasse behandelten. In den neuen städtischen Siedlungszentren Lateinamerikas und besonders in den dichtbevölkerten Vororten wurden immer mehr Angehörige der verschiedensten ethnisch-kulturellen Gruppen ansässig, unter denen eine Neigung zur Vermischung vorherrschte. Der allgemeine Verhaltenstrend zeigte keine Vorurteile gegen diese Erscheinung. Die Politiker mußten auf sie besonders achten, um bei diesen Gruppen, die immer stärker am nationalen Leben teilnahmen, Unterstützung für die neuen Wege in der Politik zu finden. In der vorhergehenden Periode war, wie wir bereits sahen, die Europäisierung kostspielig, luxusorientiert und sehr vom Import abhängig gewesen, weshalb sie in der Praxis auf einen kleinen Kreis beschränkt blieb. In der jetzigen Periode wird es dagegen immer schwieriger, ausschließlich vom Import zu leben, der Binnenmarkt wächst, es entsteht eine verarbeitende Industrie für den einheimischen Konsum. Die Ausweitung des Binnenmarktes steht in einer dialektischen Beziehung zum Auftreten neuer sozialer Gruppen, die sie einerseits begünstigen und andrerseits bessere Beschäftigungsmöglichkeiten durch sie finden. Industrielle und Proletarier, Mittelklassen verschiedener Herkunft, sie alle waren der wirtschaftlichen Emanzipation Lateinamerikas gegenüber positiv eingestellt. Das begünstigte den Protektionismus und andere Formen des Wirtschaftsnationalismus.

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In Mexiko förderte die Revolution einen wahren Kult des Indianertums, und dieselben Mexikaner, die sich noch gestern ihrer indianischen Abstammung schämten, pochen heute stolz auf sie. In Paraguay pflegt man intensiv die von indianischen Elementen durchsetzte Folklore und die Guaranísprache (die unter der Bevölkerung weit verbreitet ist und sogar von den Nachkommen europäischer Minderheiten gesprochen wird). In Brasilien werden das Mestizentum und das expansionistische Wirken der bandeirantes (das Wort stammt von bandeira – Fähnlein – und bezeichnet die Teilnehmer an Streifzügen, die von São Paulo aus im 17. und 18. Jahrhundert in das Innere des Landes drangen) nicht mehr als beschämende Tatsachen oder verbrecherisches Handeln dargestellt, sondern als Beweis für Anpassungsfähigkeit und entschlossenen Unternehmungsgeist. Am Rio de la Plata erfährt die gestern noch verachtete Barbarei der Landbewohner eine Neubewertung: man verherrlicht die Gestalt des Gaucho, seine schöpferischen Kräfte und seinen Unabhängigkeitswillen. Martín Fierro, das Werk des José Hernández, das im Jahre 1872 veröffentlicht wurde und keinerlei weitgesteckte Ziele verfolgte, sondern für ein breites Publikum bestimmt war, wird nun aufs höchste gefeiert und sein Verfasser zum Kompilator und genialen Interpreten einer von der Europäisierung und den Erfordernissen der kapitalistischen Wirtschaft zerstörten Kultur gemacht. Auch die Geschichte der Indianerkämpfe wird jetzt einer Revision unterzogen. Der Karibische Raum ist Schauplatz eines unerhörten Aufblühens der Negerkulturen, von deren ursprünglichen folkloristischen Erscheinungsformen manche eine internationale Verbreitung finden. Zeitgenössische Dichter wie der Kubaner Nicolás Guillén lassen sich von volkstümlichen Elementen der Negerkunst inspirieren. Zu großem Ansehen gelangen Gestalten wie der Dichter Aimé Césaire (Verfasser u.a. von Sonnengedichte), der die Idee des ›Negertums‹ schuf, die später von Leopold Senghor und anderen in Afrika aufgegriffen und verbreitet wird, oder wie der aus Martinique gebürtige Franz Fanon, der, alle Rassenschranken überwindend, das Werk schreibt, das man – abgesehen von der Art politischer Aktion, der es das Wort redet – als das wertvollste und lyrisch stärkste Zeugnis für die revolutionäre Erneuerung der ländlichen Massen in der Dritten Welt betrachtet hat (Les damnés de la terre). In manchen Ländern, wie zum Beispiel Peru, hat bis in die jüngste Zeit die Verachtung des Eingeborenen angedauert, dessen Elend und Existenz am Rande der Gesellschaft sich in dieser Periode eher noch verschärfte. Der ›Indigenismus‹, die Forderung nach einer Rehabilitierung der indianischen Eingeborenen, war in Peru lediglich ein Anliegen der Intellektuellen. Sogar der Aprismus (Acción Popular Revolucionaria Americana, von Haya de la Torre gegründete Bewegung) konnte in den Zeiten, da er als politische Partei die höchste Wirksamkeit entfaltete, keinen Weg finden, um die anfänglichen Erklärungen zugunsten des Indianers in die Tat umzusetzen.

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Die neue Tendenz enthüllt also ein erhöhtes Interesse an der Vergangenheit und eine Vorliebe für das Autochthone, die in starkem Gegensatz stehen zu der Wurzellosigkeit eines gewissen, auch jetzt noch vorhandenen Intellektualismus konservativer Prägung und zu dem beharrlichen Snobismus einiger Kreise, die stets bereit sind, jede Mode aus dem Ausland schnell zu übernehmen.

Vermassung und Originalität in der Kultur Die kulturelle Entwicklung – für die jetzt eine stärkere Integration, eine größere Beteiligung und das Aufkommen schöpferischer Elemente kennzeichnend sind – wird durch das Wirken der bereits erwähnten neuen Propaganda- und Massenkommunikationsmittel stark gestört. Diese schaffen den ausländischen Einflüssen größeren Spielraum, ohne daß sie entsprechend verarbeitet werden, beeinträchtigen die Ursprünglichkeit der Ausdrucksweise und unterwerfen gleichzeitig zuvor eigenständige Äußerungen der menschlichen Betätigung immer mehr den Normen einer standardisierten Konsumwirtschaft. Doch dabei handelt es sich um ein weltweites Phänomen, ein Ergebnis der fortschreitenden Industrialisierung und der Interdependenz verschiedener Gebiete der Erde. Wir wollen uns hier auf einige lateinamerikanische Aspekte beschränken.

 Abb. 15: Indianische Zuschauer in einem südamerikanischen Fußballstadion

a) Was den Ausgangspunkt anbelangt, so ist der kulturelle Pluralismus Lateinamerikas allzu groß, genau so wie die Unterschiede in den Möglichkeiten

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der verschiedenen Gruppen (einmal weil Traditionen und Wertmaßstäbe früherer Zeiten fortleben, zum anderen, weil sich in manchen Schichten die Auswirkungen generationenlanger sozialer Ausbeutung, niedrigsten Lebensstandards und von Mangelerscheinungen und Krankheiten bemerkbar machen). b) Was die Abhängigkeit vom Ausland angeht, so ist zwar der Europäismus der Elite überwunden, aber die neuen Konsummöglichkeiten wirken auf eine verstärkte neue Abhängigkeit hin (Kontrolle der Information durch die großen Nachrichtenagenturen, starkes ausländisches Übergewicht bei den Werbeagenturen, Auswirkung der kommerziellen Reklame, des Kinos und, in der letzten Zeit, der Seriensendungen des Fernsehens). Der Import von Waren nimmt zwar ab, aber nun setzt der Import von Modellen für gewisse einheimische Industrien ein, und auf diese Weise wird die Konsumorientierung beeinflußt. Der steigende Absatz von Getränken wie Coca-Cola beweist den Erfolg der Reklame auf dem Konsumsektor (und die Wirksamkeit neuer Betriebsorganisationsmethoden). Der Reklamefilm, die großen Illustrierten, die ›Comic-strips‹, die Einführung von Kettenläden und Supermärkten, die Reklame für bestimmte Kosmetikerzeugnisse oder Konfektionskleidung für den Massenkonsum haben neue Uniformitätserscheinungen geschaffen. c) Gewisse einheimische Gruppen bedienen sich der neuen Mittel für Reklame und Meinungskontrolle, sei es, um als Zwischenhändler Gewinne zu erzielen oder um an der Regierung zu bleiben, indem sie die Passivität und die Lenkbarkeit der Massen in immer stärkerem Maße ausnutzen. In der lateinamerikanischen Welt ist ein Nebeneinander verschiedener Hauptströmungen zu beobachten: die Tendenz zur Standardisierung einer gelenkten Massenkultur; der künstlich hochgespielte Kult mit einer verfälschten Vergangenheit, der schnell ein Nationalbewußtsein schaffen soll und dem Wunsch gewisser Gruppen nicht fernsteht, ihre alten Privilegien zu bewahren; schließlich eine Reihe wirklich echter Fortschritte, zu denen man gewisse Ausdrucksformen der Volkskunst zählen könnte, sowie die Forderung nach erhöhter Qualität der Erzeugnisse alter einheimischer Handwerkszweige und ein Verhalten, bei dem das Solidaritätsgefühl über den Konkurrenzkampf gestellt wird und Freundschaft nicht als Zeitverschwendung gilt und nicht anderen Interessen untergeordnet wird. Es hat auch Extremisten gegeben, die alles Ausländische ablehnen (weil es aus dem Ausland stammt und nicht wegen seiner Vorzüge oder Mängel) und zwischen echter Anpassung an die neue Umwelt und oberflächlicher Übernahme dieser Elemente keinen Unterschied machen wollen. Dieser falsche Nationalismus akzeptiert kritiklos alles, was aus einheimischen Kulturen herstammt, und übersieht den konservativen Zug eines gewissen Kults mit der Vergangenheit. Andrerseits prangert eine ebenso oberflächliche Einstellung jeden Versuch zur Anerkennung einheimischer Werte als ›ideologischen

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Traditionalismus‹ an und behauptet bedenkenlos, die lateinamerikanischen Volksmassen neigten zum Irrationalismus und zum Autoritarismus. Um eine bessere Vorstellung von diesen Vorgängen zu erhalten, muß man sie über einen langen Zeitraum hinweg beobachten, sie noch weitaus gründlicher erforschen und die Leichtfertigkeit ablehnen, mit der man Hypothesen und improvisierte Schemata anwendet und in die polemische Haltung eines gewissen vorschnell urteilenden Essayismus verfällt. Es gab Gebiete, wo der Wandel sich schnell, und solche, wo er sich nur langsam vollzog. Dort wo die unterworfenen Rassen in der Überzahl waren, und ganz besonders in den Regionen, die noch immer in kleine, vom Export abhängige Staaten ohne industrielle Entwicklung aufgesplittert sind, ist der gründlichste Wandel bei den alten, von den Rassenfanatikern verachteten Kulturen zu beobachten. Die Verstädterung beschleunigte die Umstellungen, und dies um so mehr, wenn ein gewisser Industrialisierungsprozeß hinzukam. Aber diese Tendenz darf auch nicht rein schematisch beurteilt werden. Sehr oft ging tatsächlich die Identifizierung mit der Vergangenheit eines Landes und das Bekenntnis zu einem polemischen, fast irrationalen Nationalismus vor allem von Gruppen europäischer Einwanderer aus (getragen von deren Wunsch nach rascher Assimilierung). Gewisse Mestizenkreise dagegen versuchen den angeblichen Makel ihrer sozialen Herkunft durch eine übergroße Aufgeschlossenheit für den ausländischen Einfluß und eine gleichzeitige Interesselosigkeit gegenüber allem Bodenständigen auszulöschen. Pathologische Aspekte des Kulturwandels Gewisse Erscheinungen sozialer Anomalien geben uns ein weiteres Mittel an die Hand, um dem Trend des Kulturwandels nachzuspüren. So überwiegt z.B. im Bereich der strafbaren Handlungen die Zunahme der städtischen Delinquenzen, insbesondere der Jugendkriminalität, während in unterentwickelten ländlichen Gegenden (in verschiedenen Regionen Kolumbiens, z.B.) Phänomene wie das Bandenunwesen, die für das 19. Jahrhundert so typisch waren, besonders kräftig in Erscheinung treten. Doch stehen die auffälligsten Verstöße gegen Recht und Gesetz mit den Versuchen des Staates, die Wirtschaft zu lenken, in Zusammenhang: Schmuggel, Steuerflucht und betrügerische Spekulationen ziehen Nutzen aus der Unzulänglichkeit des zu ihrer Bekämpfung geschaffenen Apparates und in vielen Fällen auch aus der Mitwisserschaft oder dem Beispiel mehr als eines führenden Politikers. Die lateinamerikanische Welt hat es nicht verstanden, gewisse Übelstände zu überwinden, etwa den Brauch, Regierungsinformationen zum persönlichen Vorteil zu nutzen, den Interessendruck auf die öffentliche Verwaltung, die ständige Verletzung von Verhaltensnormen, die feierlich und anscheinend in der Absicht, sie zu beachten, verkündet werden. Im Hinblick auf Vorgänge, welche die anomalen Aspekte des Kulturwandels aufzeigen, darf es nicht verwundern, daß Uruguay, ein Land, dessen Gesellschaft

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einen fast europäischen Lebensstandard und eine relativ hohe Lebenserwartung aufweist, im Verhältnis zu seiner Bevölkerungszahl gerechnet den vierten Platz in der Selbstmordstatistik der Welt erreicht hat. Auch ist es nicht überraschend, daß die Oberklassen und die intellektuellen Kreise der Bevölkerung in den lateinamerikanischen Großstädten immer mehr von der Psychoanalyse Gebrauch machen, eine Mode, die schon in Europa und besonders stark in den Vereinigten Staaten um sich gegriffen hat. Im Gegensatz zu manchen Behauptungen bestehen in Lateinamerika die Rassenvorurteile weiter, wenn auch weniger intensiv als in anderen Ländern. Sie werden von Auseinandersetzungen auf dem Arbeitsmarkt, durch den Zusammenprall sehr verschiedener Kulturen und schließlich infolge des typischen Verhaltens, in Krisensituationen ›Prügelknaben‹ finden zu wollen, immer wieder neu entfacht. Die politische und soziale Engstirnigkeit einiger Länder oder gewisser überlebter Klassen lehnt Indianer und Neger noch immer ab, so daß es für diese wesentlich schwieriger ist, in die herrschenden Klassen aufgenommen zu werden, als für die europäischen Einwanderer. Der Neger in Brasilien hat sich allmählich in den Städten angesiedelt und neigt dazu, sich nicht mehr als unterworfene Rasse zu benehmen, obwohl er das Hauptelement der Favela-Kulturen (Slums der Großstädte) und des MacumbaKultes sowie der aus der Sklavenzeit stammenden Tradition des Karnevals in Rio ist. Auf den Karibischen Inseln sind die Negerkulturen noch stärker isoliert (wenn auch in voller Entwicklung). Doch wird die ethnisch-kulturelle Verschmelzung nicht durch rassische Vorurteile, sondern viel eher durch soziale Erwägungen behindert. Diese gingen, zum Teil auch nur vorübergehend, von den mittleren und oberen Schichten gewisser Länder aus. Ein Rassenvorurteil besteht verhüllt bei jenen weiter, die sich enttäuscht zeigen, wenn sie von Indianern, Negern und Mestizen das gleiche wirtschaftliche und technische Verhalten erwarten wie von anderen Völkern und wenn sie bei der Anwendung der gleichen Methoden sehr verschiedene Resultate erzielen. Auch den letzten Rest von Rassenvorurteil wird man erst als erloschen betrachten können, wenn man endgültig darauf verzichtet haben wird, im kulturellen Mosaik Lateinamerikas nach ›Spuren puritanischer Ethik‹, ›schumpeterianischen Unternehmern‹, politischen Verhaltensweisen, wie sie anderen Ländern eigen sind, zu suchen, oder wenn man aufgehört haben wird, die europäische Einwanderung als hauptsächlichen Antrieb für einige hier und dort erzielte Fortschritte zu betrachten. Diese Art von Vorurteilen lebt in manchem ›Entwicklungsplan‹, in mancher ›Erziehungs‹-Politik, in mancher Maßnahme fort, die unter dem Motto Entwicklung der Gemeinschaft erreichen möchten, daß Bevölkerungsschichten, die ein überaus elendes Dasein führen, sich von heute auf morgen in boyscouts des Fortschritts und der sozialen Ordnung verwandeln und jahrhundertelange Erniedrigung und Ausbeutung vergessen oder ihr Mißtrauen gegenüber zivilisatorischen Erscheinungen aufgeben, die fast immer ihre Lebensbedingungen noch härter gemacht haben. Bis hierher haben wir uns

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mit allgemeinen Tendenzen befaßt. Jetzt müssen wir ins einzelne gehen und präzisere Ausführungen machen. Die sogenannte Revolution der Bestrebungen Es ist behauptet worden, der Anstoß zum kulturellen Wandel sei, besonders bei den Mittelklassen, zum Teil von deren Streben nach sozialer Besserstellung ausgegangen. Das Konsumverlangen führt gewöhnlich zu Zusammenstößen zwischen verschiedenen Gruppen, während es gleichzeitig die Aussichten auf eine echte Entwicklung schwer beeinträchtigt, weil es die einheimische Investitionskapazität verringert. Diese Revolution der Bestrebungen schlug sich auch in einem Massenzustrom zu den Bildungseinrichtungen nieder, doch wurde deren Struktur nicht zuvor reformiert. Daher der aufgeblähte Apparat einer anachronistischen Organisation der Universitäten, die nur auf die berufliche Ausbildung als einen Weg zum sozialen Aufstieg ausgerichtet ist. Als die Universität ihren Wesensauftrag – die Vermittlung einer hauptsächlich jenes Ziel anstrebenden Kultur (unter Vernachlässigung der technischen Ausbildung und der Notwendigkeit, zur Ausübung einer bezahlten Tätigkeit auf verschiedenen Ebenen zu befähigen) – nicht änderte, schied eine sehr hohe Zahl von Studenten wieder aus. Die Ausweitung der höheren Schulbildung, die fast ausschließlich der Vorbereitung auf das Universitätsstudium diente, führte ebenfalls dazu, daß ein hoher Prozentsatz der Schüler die Ausbildung nicht beendete (oder später nicht an der Universität weiterstudierte), wohl aber übertrieben gehobene kulturelle Ansprüche erworben hatte. Es war keinerlei wirtschaftlich nutzbringende Fähigkeit in ihnen entwickelt, aber ihr Verlangen nach Fortschritt und Konsum gefördert worden. Vereinzelte, nicht immer erfolgreiche Versuche wurden unternommen, außerhalb dieser dominierenden Institutionen eine technische Ausbildung zu vermitteln. Ja, wie wir später sehen werden, machte die Universität selbst eine innere Revolution durch, deren Auswirkungen auf lange Sicht jedoch weniger fruchtbar waren, als man hätte voraussehen können. In einem gewissen Ausmaß stand die Haltung der Bildungseinrichtungen in dialektischer Beziehung zu den Möglichkeiten Lateinamerikas, die Absolventen nutzbringend einzusetzen. Der geringe Prozentsatz lateinamerikanischer Diplomlandwirte und Tierärzte, z.B., ergab sich aus der Begrenzung, die eine stagnierende Landwirtschaft für die Ausübung dieser Berufe schuf. Das ländliche Medium wehrte sich gegen die Anwendung technischer Methoden und gegen als ›überflüssig‹ empfundene Ausgaben. Die ausländischen Gesellschaften brachten ihrerseits meistens ihr eigenes Fachpersonal mit. Das alles enthüllt auf etwas schonungslose Weise eine allgemeine Tendenz. Schon seit langem waren immer wieder Kritiken an der Einstellung der Universität (zum Beispiel um 1870 in Uruguay in den polemischen Schriften José Pedro Varelas) laut geworden und Reformpläne gemacht worden. Sehr oft

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jedoch leistete die Universität außerordentlich starken Widerstand gegen alle Versuche, ihre akademische Haltung und ihre soziale Exklusivität zu ändern. Als eine der bemerkenswerten Initiativen muß die Neuordnung der medizinischen Laufbahn in Mexiko erwähnt werden: um zu verhindern, daß die Ärzte sich auf der Suche nach reichen Patienten vorwiegend in den Städten niederlassen, werden sie gezwungen, eine bestimmte Zeitlang ihren Beruf auf dem Lande auszuüben. Die ›Universitätsreform‹-Bewegung Diese Bezeichnung wendet man meistens auf eine Jugendbewegung an, die unter den jungen Studenten der Universitäten selbst entstand und die auf die Veröffentlichung eines berühmten Manifestes in der argentinischen Stadt Córdoba im Jahre 1918 zurückgeht. Sie dehnte sich später auch auf andere Länder aus und brachte schließlich eine echte Doktrin hervor. Im Grunde handelte es sich um eine typische jugendliche Agitation in einer Umwelt, in der es an Institutionen, Vereinigungen und Parteien fehlte, die diese Aktivität in die richtigen Bahnen hätten lenken können. Aber wegen ihrer Eigenarten und ihrer Einheitlichkeit verdient diese Reformbewegung eine relativ ausführliche Analyse. Die von Córdoba ausgehende Bewegung kritisierte den starren akademischen Geist und die überlebten monarchistischen und monastischen Traditionen der Universität. Sie beanstandete, daß die einen auf große Schwierigkeiten bei der Zulassung stießen, während anderen außergewöhnliche Erleichterungen gewährt wurden, und dies je nach der sozialen Schicht, der die Bewerber angehörten (Ausschluß vom Studium für junge Leute aus den breiten Volksschichten, Widerstand gegen die jungen Mittelklassen, Vorzugsbehandlung für Kinder aus den gebildeten, traditionsmächtigen Familien). Sie kämpfte gegen das Verbleiben unfähiger Professoren im Amt. Als Garantie für eine Beseitigung dieser Übelstände forderte man die Freiheit der Professorenwahl und der Teilnahme an den Vorlesungen (um jedem Druck aus dem Wege gehen und die schlechten Professoren bloßstellen zu können), Gebührenfreiheit für die Ausbildung, Abschaffung der Zulassungsbeschränkungen, Beteiligung von Studenten und ehemaligen Absolventen – zusammen mit den Professoren – an der Universitätsverwaltung. Im Rahmen der allgemeinen Modernisierungstendenzen forderte diese Bewegung, die sich gleichzeitig den vorherrschenden Ideologien aufgeschlossen zeigte, eine größere Beachtung der sozialen und nationalen Fragen durch die Universität und die Selbstverwaltung der Universität, um sie von Regierungen unabhängig zu machen, die man als Repräsentanten einer verfallenden Ordnung kritisierte. Die ›Universitätsreform‹ fand schnell Anhänger in Uruguay, Bolivien und Peru. Auf die eine oder andere Weise war auch während dieser Periode in Paraguay, Chile, Venezuela, Kolumbien, Panama und Kuba die studentische Agitation sehr intensiv am Werk. In einigen Fällen gingen aus ihr politische

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Bewegungen hervor (die APRA in Peru); bei gewissen Gelegenheiten stellte sie neue Kader für alte Bewegungen oder diente in Krisensituationen als Stoßtrupp. Aber hier interessiert uns nur ihre Bedeutung für die Universität selbst und für ihre spätere Entwicklung in einigen Ländern. Die Studenten hatten nach und nach Fortschritte erzielt, durch Streiks, Professorenboykott, disziplinierte Teilnahme an den Sitzungen der Verwaltungsgremien (die an einigen Universitäten ausgebaut und als studentische Mitverwaltung entscheidend wichtig wird). In der ersten Phase führte diese Bewegung eindeutig zu einem Säuberungsprozeß, sie kritisierte jede Willkür und kämpfte um eine Verbesserung der Ausbildung und der Lehrpläne. Aber sie zeigte auch, wo ihre Grenzen lagen, und hielt oft zu stark an den ursprünglichen Losungen fest, obwohl diese inzwischen in vieler Hinsicht überholt waren, oder sie verfiel den gleichen Mißständen, die sie hatte ausrotten wollen (Fälle von Korruption leitender Funktionäre, gewisse Diskriminierungen, Begünstigung und übermäßige Exklusivität). Die Studenten hatten eine allen Schichten des Volkes zugängliche Universität im Dienste der Allgemeinheit gefordert. Aber sie hatten nicht genügend begriffen, daß dies nicht allein mit der Abschaffung von Zulassungsbeschränkungen oder der Einführung der Gebührenfreiheit zu verwirklichen war; denn ohne eine gleichzeitige Reform der Gesellschaft und der Ziele der Universität mußte diese weiter dazu verurteilt sein, nur Studenten von der Mittelklasse an aufwärts zuzulassen. In vielen Ländern wurde die Autonomie der Universität erreicht, aber als politische Gegenmaßnahme verweigerten einige Regierungen den Universitäten die notwendigen Haushaltmittel, um mehr Dozenten, Hörsäle, Mittel für die Forschung usw. zur Verfügung stellen zu können. Der anfangs positiv gedachte Kampf der Studenten um die Lernfreiheit führte auf die Dauer dazu, daß viele Professoren, die fähig und bereit waren, echte und gute Forschungsarbeit zu leisten, sich nicht mehr für ihre Lehrstühle interessierten, da es sehr unsicher war, wie lange sie diese innehaben würden. Die studentische Beteiligung an der Universitätsverwaltung war nicht immer erfolgreich. Sie war allzu stark dem Hin und Her der innenpolitischen Auseinandersetzungen ausgesetzt und gab sich in manchen Fällen zur Bildung neuer Machtgruppen innerhalb der Universität her – oder konnte sie zumindest nicht verhindern. Der frühe und großherzige militante Einsatz vieler Studenten erschwerte oder verzögerte den Abschluß der Studien. Das spätere Verhalten der Absolventen konnte andrerseits der Reformidee von einer Universität im Dienst des Volkes kein Ansehen verschaffen, weil der fertige Akademiker vor allem das Ziel verfolgte, bald gut zu verdienen. Aus allen diesen Gründen konnten der ganze jugendliche Idealismus und die anfänglichen guten Absichten keinen wesentlichen Wandel der sozialen Funktion der Universität bewirken.

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In einer Welt, in der die Universitätsstudien nur eine erste Etappe, eine Vorbereitung auf die neuen Anforderungen wissenschaftlicher Forschung sind, verringern sich andrerseits die Aussichten für diese, wenn die Studienzeit sich über zu viele Jahre hinzieht. Viele Studenten hatten die Dinge auf den Kopf gestellt, indem sie einen kämpferischen Einsatz bewiesen, dessen das Land durchaus bedurfte, aber erst, nachdem die berufliche Ausbildung abgeschlossen war. Man hatte zu sehr auf seine eigene Kraft vertraut und geglaubt, eine gewandelte Universität müsse von selbst auf eine allgemeine Wandlung im Lande hinwirken. Trotz ihrer gesunden Wurzeln förderte die Reform eine intellektualistische Auffassung vom politischen und sozialen Fortschritt. Viele Anhänger der Reformbewegung waren der Ansicht, die Abfassung perfekter Manifeste müsse weitreichende Folgen für eine Umwandlung der veralteten Strukturen haben. Innerhalb der Bewegung machten sich die Studenten mit übermäßiger Intoleranz und Splittergruppenbildung gegenseitig die Führung bei einem Prozeß streitig, von dem sie in ihrem ideologischen Radikalismus annahmen, er werde in eine soziale Revolution einmünden. Doch diese Erwartungen erfüllten sich nicht. Ein Beispiel dafür liefert uns die Machtergreifung durch Perón und dessen Eingreifen in das argentinische Universitätsleben, das mit der Entlassung von Professoren, ideologischer Verfolgung usw. Hand in Hand ging. Die Studenten-Anhänger der Reformbewegung riefen damals nach der Unterstützung der breiten Volksschichten, mit denen sie sich ja hatten identifizieren wollen. Aber sie fanden keinen Widerhall. Für diese sozialen Schichten bedeutete die Universität noch immer eine Stätte für die Privilegierten, und daher hatte die studentische Agitation keine besondere Beachtung bei ihnen gefunden und erweckte auch jetzt keine Sympathie. Trotz aller ihrer Bemühungen gelang es der Reform nicht, der herrschenden Starrheit der Formen innerhalb der Universitäten ein Ende zu bereiten. Es ist aufschlußreich, daß die wesentlichen Beiträge zur lateinamerikanischen Kultur nicht von den Inhabern der Lehrstühle geleistet wurden. Allerdings standen dem auch eine Reihe von Faktoren im Wege. Die Besoldung der Universitätslehrer war nicht mehr als symbolisch, und das trug nicht eben zum allgemeinen Fortschritt der Forschung bei (obwohl ein Arzt oder ein Jurist, wenn er gleichzeitig Dozent war, rasch die Zahl seiner Privatpatienten und Klienten und damit seine Einkünfte ansteigen sah). Der Bestand der Universitätsbibliotheken war meist veraltet. Und doch: wenn auch nicht alle ursprünglichen Ziele erreicht wurden, so trug die Universitätsreformbewegung doch dazu bei, daß neue, von einer in vollem Wandel begriffenen Umwelt geforderte Studiengänge geschaffen wurden. Ein gewisser Anstoß zur Erneuerung war gegeben. Bei einer allgemeinen Beurteilung dieser Bewegung muß zugegeben werden, daß ihre Ansprüche und ihre Hartnäckigkeit durchaus berechtigt waren; gleichzeitig muß aber auch auf die Diskrepanz zwischen Zielen und Erfolgen, auf den Fortbestand starrer akademischer Formen, die Isoliertheit vieler wichtiger Vertreter der

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Universität und die Tatsache hingewiesen werden, daß diese Institution weiterhin im Grunde genommen ein Instrument zum sozialen Aufstieg der Absolventen war (deren Verhalten dann im allgemeinen im Gegensatz zu dem Idealismus der studentischen Manifeste stand). Wende im geistigen Schaffen Wir haben dem geistigen Schaffen der vorhergehenden Periode nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt; einmal, weil uns an der Darstellung der grundlegend wichtigen Aspekte lag, zum anderen, weil ihm innerhalb einer Gesellschaft, die vom Europäismus der Eliten und der Zurückdrängung völkischer Kulturformen geprägt war, nur geringe Bedeutung zukam. Die lateinamerikanischen kulturellen Erzeugnisse standen in der vorherigen Periode unter schwierigen Bedingungen in einem harten Wettbewerb mit der Lawine europäischer Beiträge. Oft beschränkte sich das geistige Schaffen auf belesene Kenntnis, und in den Werken schimmerten allzu leicht erkennbar die Inspirationsquellen durch, die entsprechend zu verarbeiten es nicht reif genug war. Wenn es zuweilen auch Erfolge erzielte, so verriet es doch selten allzugroße Originalität, und auf jeden Fall waren der Verbreitung dieser Werke enge Grenzen gesetzt. Während jener Periode bestanden enge Bindungen zwischen dem geistigen Schaffen und der praktischen politischen Betätigung, wie es die Schriften der argentinischen Präsidenten Domingo Faustino Sarmiento (1868–74) und Bartolomé Mitre (1862–68), des Kaisers Pedro II. von Brasilien, einer Vielzahl von berühmten Ministern und Regierungsberatern beweisen. In der Periode, die uns jetzt beschäftigt, tut sich eine ständig wachsende Kluft zwischen der politischen Betätigung und dem Geistesleben auf. Ein Leserpublikum ist entstanden, das zur Behandlung anderer Themen anregt, als sie die ausländische Literatur bietet. Je zahlreicher dieses Publikum wird, desto mehr nimmt die Vorliebe für die Lektüre französischer Bücher ab. Der Markt für spanisch geschriebene Bücher wächst, und in Brasilien entsteht, wenn auch erst etwas später, ein kraftvolles Verlagswesen für Werke in portugiesischer Sprache. Im Laufe dieser Periode tritt in der Literatur eine Wende ein, was Gattungen, Schulen und ideologische Akzente anbelangt. Wir werden versuchen, lediglich ein allgemeines Bild dieses Wandels zu vermitteln, gestützt auf wenige Zitate und repräsentative Namen. In der Entwicklung der literarischen Produktion zu Beginn dieser Periode war neben dem Einfluß großer weltweiter Strömungen ein steigendes Interesse daran zu beobachten, die Umwelt im künstlerischen Werk widerzuspiegeln. Die Lyrik blühte weiterhin vor allem in der Provinz und war oft das Erzeugnis weiblicher Mußestunden, doch es kam auch zu Schöpfungen von hohem Rang. Da sind etwa der früh verstorbene peruanische Dichter César Vallejo mit seiner starken

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schöpferischen Kraft, der originelle, fruchtbare Chilene Pablo Neruda (geb. 1904), ein wahrer Meister der Sprache, oder der kubanische Negerdichter Nicolas Guillén, besonders in seiner Frühzeit, mit seiner klangvollen, stark folkloristisch inspirierten Lyrik zu nennen. Alle drei waren sie Dichter und kämpferische Persönlichkeiten, die im politischen Engagement einen Ausweg für ihre sozialen Anliegen zu finden suchten und die sich ohne größere kritische Ansprüche einer Gruppe anschlössen, die ihnen die revolutionärste zu sein schien. Weit wichtiger als die Lyrik ist der Roman für das literarische Schaffen Lateinamerikas in dieser Periode. Es handelt sich da um eine Gattung, die bessere Möglichkeiten bietet, die wachsende Wißbegier nach einer vertieften Kenntnis der lateinamerikanischen Gesellschaft zu befriedigen. Außerdem ist sie unabhängiger von akademischen Forderungen und gegenüber offiziellem Druck, dem zum Beispiel die sozialwissenschaftlichen Disziplinen ausgesetzt sind. Immer stärkere Lebendigkeit und größere Verbreitung ist dem Roman sicher, da er die Landschaft, die sozialen Probleme der Landbevölkerung, die Spannungen und Nöte der großen Städte schildert, die Korruption im politischen Leben anprangert oder verschiedene Gruppen und Probleme bis ins kleinste beschreibt. Die mexikanische Revolution ruft eine ganze Generation großer Romanschriftsteller auf den Plan, unter denen Mariano Azuela (1873–1952), Autor von Die Rotte und repräsentativster Schilderer sozialer Zustände dieser Epoche, besonders hervortritt. Im Mexiko von heute, ein halbes Jahrhundert nach einer Revolution, die auch jetzt noch offiziell hoch gefeiert wird (was eine objektive Wertung ihrer Resultate erschwert), tauchen natürlich auch die ersten radikalen Kritiken in den Werken junger Romanciers auf. Carlos Fuentes, zum Beispiel, zögert in seinen Büchern (Die durchsichtigste Region, Die guten Gewissen, Der Tod des Antonio Cruz) nicht, die Rückschläge in der mexikanischen Sozialpolitik, die Korruption und das Aufkommen eines neuen Bürgertums zu verurteilen. Der historische Roman erreicht seinen Höhepunkt mit dem Kubaner Alejo Carpentier, Verfasser von Das Jahrhundert der Aufklärung und Verlorene Schritte, einer getreuen Darstellung des Aufeinanderprallens von sozialen Ideen und Kräften im Karibischen Raum. Die Literatur befriedigte auch in dieser Periode die Nachfrage nach Werken, in denen die geographische und soziale Landschaft geschildert wurde. Der schnelle Erfolg von Der Strudel (1924) des Kolumbianers José Eustacio Rivera (1889–1928), von Doña Barbara (1929) und anderen Werken des Venezolaners Rómulo Gallegos, oder von Huasipungo (1934) des Ekuadorianers Jorge Icaza war vielleicht übertrieben, aber bald fand diese literarische Tendenz hervorragendere Vertreter. Ciro Alegría (geb. 1909), Verfasser von Die Welt ist weit und nicht unser (1941), erreichte einen höheren künstlerischen Rang bei der Beschreibung des Indianerproblems, ebenso wie in jüngster Zeit der Peruaner José Maria Arguedas, Verfasser von Die tiefen Flüsse und Diamanten und Kieselsteine.

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Natürliche und gesellschaftliche Zustände wie die in Ekuador und Paraguay, über die es nur spärliche historische, soziale und geographische Untersuchungen von Bedeutung gibt, spiegeln sich mit aller Deutlichkeit in den Romanen wider. Für Ekuador müssen Aguilera Malta, Gil Gilbert, Gallegos Lara, Alfredo Pareja Diezcanseco und Adalberto Ortiz genannt werden. In Paraguay, wo zu Beginn des Jahrhunderts der Spanier Rafael Barrett unerschrocken Klage über die Lage der Arbeiter in den Yerbapflanzungen geführt hatte, gipfeln heute diese Tendenzen in den Werken von Roa Bastos (Der Donner über den Blättern) und Casaccia (Die Nacktschnecke). Ähnliche Akzente weist in Guatemala das Werk von Miguel Angel Asturias (geb. 1899) auf (Der Herr Präsident, Der grüne Papst, Maismänner). Auch in Brasilien ist der Roman eine ausgezeichnete Quelle, um die Gesellschaft kennenzulernen. Meisterwerke wie die von José Lins do Rego (1901– 57; Totes Feuer, Cangaceiros), Graciliano Ramos (1892–1952; er berichtet klar und eindringlich von dem Elend, das durch Dürrekatastrophen noch verschärft wird) und in geringerem Grade Jorge Amado (geb. 1912), der vielleicht zu sehr auf politische Wirkung der Literatur bedacht ist, aber meisterhaft das ländliche und städtische Milieu in Brasilien darzustellen versteht, sind einige wenige repräsentative Namen für ein weit umfangreicheres Schaffen. Die Weltaufgeschlossenheit und die Europäisierung von Buenos Aires schlug sich in den stilistisch verfeinerten, gelehrten und anspruchsvollen Werken von Jorge Luis Borges (geb. 1899) nieder; die sozialen und psychologischen Fragen bei Jorge Cortazar, Beatriz Guido, Ernesto Sábato und Juan Carlos Onetti. Die Haltung Sartres zugunsten eines kampfbereiten Engagements beeinflußte stark Schriftsteller wie David Viñas, der trotz seiner Jugend bereits ein umfangreiches Werk geschaffen hat und zu einer für das zeitgenössische Buenos Aires repräsentativen Generation gehört, die alles einmal versucht hat: praktisches politisches und ideologisches Wirken, Verbindung zu den Arbeiterschichten, Einflußnahme innerhalb der Universität. Vielleicht zu viele Vorsätze und zu wenig Erreichtes; gültig bleibt das Werk als Zeugnis einer Generation, die sich in vollem Wandel befindet und die Viñas ohne falsche Scham und in ständig militanter Haltung zu zeichnen versucht hat. González Vera in Chile oder Francisco Espínola in Uruguay zeichnen sich als wahre Meister der Gattung durch Milieuschilderungen voller anekdotischer und halb autobiographischer Daten aus (Als ich ein Junge war und Schatten über der Erde). Das frühe städtische Wachstum von Buenos Aires schuf ein günstiges Klima für das Theater, das sich zu Beginn des Jahrhunderts mit den Werken von Florencio Sánchez (1875–1910) zu entwickeln begann. Er befaßte sich mit der Haltung gewisser Gesellschaftsklassen, den Problemen der Einwanderer und, weniger erfolgreich, mit dem ländlichen Milieu. Die dramatische Produktion bewahrte einen engen Zusammenhang mit den Möglichkeiten, die ihr die Zunahme eines aufnahmefähigen Publikums bot. Daher stehen Mexiko und

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Brasilien auf diesem Gebiet an der Spitze aller Länder Lateinamerikas. Elend und Bedrängnis im zeitgenössischen Lima werden in Lima, die Schreckliche von Salazar Bondy und fragmentarisch, aber mit großem Talent in Die Stadt und die Hunde von Mario Vargas Llosa geschildert. Ein Vorgang, der häufig mit der Bildung literarischer Clubs und der Herausgabe von meistens zu flüchtigem Leben verurteilten Zeitschriften einsetzte, mündete schließlich in ein umfangreiches Schaffen ein, das eine klare Schilderung der Umweltbedingungen bot und dessen Verfasser trotz aller Beeinflussung durch ausländische Autoren (Ernest Hemingway, William Faulkner oder Jean Paul Sartre) schöpferische Eigenständigkeit in ihren Werken beweisen. Wahrscheinlich gibt es heute weniger literarische Gruppen, die sich um eine Zeitschrift (oder ein einfaches Manifest) herum bildeten, dafür haben aber viele lateinamerikanische Schriftsteller, dank des künstlerischen Ranges und des repräsentativen Wertes ihrer Werke, ein großes Publikum gefunden, das oft durch Übersetzungen in andere Sprachen noch anwächst. Der Essay ist in dieser Epoche ebenfalls eine in Lateinamerika sehr gepflegte Gattung. Die Thematik erstreckt sich auf alle großen Fragen, welche die kulturell Interessierten sich stellen und welche die akademischen Kreise bis noch vor sehr kurzer Zeit nicht aufwerfen wollten: soziale und politische Probleme, Sinn und Aufgabe der Kultur, Darlegung regionaler Gegebenheiten, leidenschaftliche Anprangerung negativer Erscheinungen, Interpretation der Vergangenheit. Dies alles wurde zumeist in sehr persönlichem, polemischem Stil vorgetragen. Der Essay versuchte auch, eine Lücke zu schließen, die durch unzureichende wissenschaftliche Erforschung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Probleme und ihrer historischen Hintergründe entstanden war. In dieser flexiblen, allen Themen zugänglichen Gattung leisteten Philosophen, Theoretiker der Politik, Romanciers, Literaturkritiker, politisch engagierte Schriftsteller, Pädagogen der verschiedensten Wissenszweige einen wertvollen und echten Beitrag. Innerhalb dieser Gattung sind verschiedene Entwicklungsphasen und thematische Schwerpunkte zu verzeichnen, deren Analyse mit der Erwähnung des Uruguayers José Enrique Rodó (1872–1917) einsetzen müßte. Sein Ariel ist eine ästhetizistische, dem antiken Humanismus verhaftete Anklage gegen die Ausbreitung des nordamerikanischen Utilitarismus. Rodó machte keinen Hehl aus seinem spürbar von Frankreich her beeinflußten intellektuellen Aristokratentum. Nach Rodós Anstoß wurden häufig Themen der Essayistik: der Antiimperialismus und die Verteidigung der lateinamerikanischen Einheit (Manuel Ugarte, zum Beispiel), die etwas verschwommene Darlegung des lateinamerikanischen ›Wesens‹, die Verteidigung oder die Ablehnung der mestizischen Wurzeln seiner Zivilisation (González Prada, Alcídes Arguedas; 1879–1946), die Entwicklung politischer Theorien (Valenilla Lanz und seine Apologie des ›demokratischen Cäsarismus‹). Außerdem wächst die anfangs stark von Europa beeinflußte literarische Produktion der politischen Linken.

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Aufgrund eben seines polemischen und prophetischen Charakters wurde der Essay in den Dienst der ›ismen‹ gestellt. Die Ausläufer des Positivismus, des Marxismus und des Nationalismus inspirierten viele Essayisten (José Ingenieros, 1877–1925; Aníbal Ponce in Argentinien; Samuel Ramos in Mexiko). In anderen Fällen ging die Interpretation der Wirklichkeit von regionalen, historischen und geographischen Untersuchungen aus. So etwa bei Benjamin Subercaseaux (Verfasser von Chile oder eine verrückte Geographie) oder bei Germán Arciniegas (geb. 1900; Karibische Biographie). Lenken wir unsere Aufmerksamkeit auf einige grundlegend wichtige Werke dieser Gattung, die allmählich immer mehr aus der Mode kommt, je weiter die neuen Methoden zur Erforschung der Gesellschaft Verbreitung finden. Doch soll zuvor noch darauf hingewiesen werden, daß diese Erscheinung keineswegs bedeutet, daß nicht auch heute hervorragende Essays geschrieben werden, und manche von ihnen, wie Unsere wirtschaftliche Unterlegenheit von Francisco Encina (Chile, 1911), hohe Anerkennung finden, weil sie bereits auf Erscheinungen hingewiesen haben, die von den Wirtschaftswissenschaftlern erst heute beachtet werden (die Tendenz zum überhöhten Konsum, die Abhängigkeit von außen, die Fehler in der Außenhandels- und der Wirtschaftspolitik im allgemeinen usw.). Von besonderer Bedeutung ist der Peruaner José Carlos Mariátegui. In Lateinamerika ist eine große Zahl marxistisch inspirierter Arbeiten erschienen, aber sie haben kaum dazu beigetragen, die amerikanische Wirklichkeit aufzuhellen (auf die in übereilter und zuweilen widersprüchlicher Weise Begriffe angewandt wurden, die bei der Untersuchung des europäischen Milieus geprägt worden waren. Das wirkte sich besonders verhängnisvoll für die Analysen des Verhaltens der sozialen Klassen aus und bei der Klassifizierung der lateinamerikanischen Wirtschaft, die sowohl als feudal wie auch als kapitalistisch bezeichnet wurde). Mariátegui bildet hier eine Ausnahme. Er legt auf völlig originelle Weise die marxistischen Maßstäbe an die lateinamerikanische Wirklichkeit an, so daß diese selbst der entscheidende Gesichtspunkt ist und nicht verschleiert oder ignoriert wird, damit sie in ein vorgegebenes starres Schema hineinpaßt. Allerdings war Mariátegui schon Schriftsteller, bevor er nach Europa ging und sich den Ideen des Marxismus anschloß. Seine beste Arbeit Sieben Essays zur peruanischen Wirklichkeit erschien im Jahre 1928. Er leitete auch eine Zeitschrift, ›Amauta‹, die in jener Epoche weitgehenden Einfluß ausübte. In seinem Werk tritt eine tiefe Einsicht in die amerikanischen Probleme zutage. Er interessierte sich für die Möglichkeiten, die autochthonen Gesellschaften Lateinamerikas zu verändern, und schrieb hierzu: »Die Eingeborenengesellschaft mag mehr oder weniger primitiv oder rückständig sein, auf jeden Fall ist sie eine organisch gewachsene Gesellschaft und Kultur. Die Erfahrung mit den Völkern des Ostens – Japan, Türkei, sogar China – haben bereits bewiesen, wie eine autochthone Gesellschaft nach einem langandauernden Verfall auf eigenen Wegen und in sehr kurzer Zeit den

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Anschluß an die moderne Zivilisation finden und die Lehren der abendländischen Völker in die eigene Sprache übersetzen kann.«52 Wie wir sehen, nimmt Mariátegui einen Gedanken vorweg, der heute in bezug auf die gesamte Dritte Welt als gültig anerkannt wird: ihre Entwicklung wird nicht aus kulturell antiwestlicher Haltung und nicht aus der Verleugnung der eigenen Traditionen erwachsen, sondern aus einer weisen Verschmelzung dieser Traditionen mit den Errungenschaften des Westens, und dies so, daß die Abhängigkeit beseitigt und der lokale Fortschritt begünstigt wird. Früher als andere sollte dieser peruanische Essayist beharrlich darauf hinweisen, daß es den lateinamerikanischen Staaten seiner Zeit an Authentizität fehle, daß es notwendig sei, zu einem wahren nationalen Zusammenschluß zu gelangen. Er bezeichnete auch die Grundbesitzerklasse und den ausländischen Imperialismus als die Hauptverantwortlichen für die lateinamerikanische Unterentwicklung. Mariátegui legte geschickt die historischen Wurzeln der heutigen Mißstände bloß und bezeichnete die notwendigen Ansatzpunkte für einen Wandel, angefangen von der Ausrottung überlebter Feudalstrukturen bis hin zur Schaffung eines modernen Transportsystems und einer neuen kulturellen Einstellung. In diesem Zusammenhang verdient auch der gelungene Beitrag von Ezequiel Martínez Estrada zur Beschreibung der rioplatensischen Gesellschaft der Erwähnung. In apokalyptischen Tönen und Sätzen von außerordentlich schöner Architektur hielt er ihr den städtischen Gigantismus, die unvollkommene Assimilation verschiedener Kulturen, die Nichtbeachtung wesentlicher literarischer Werke der Vergangenheit (wie Martin Fierro von José Hernández oder Die Purpurerde und andere Werke von William Henry Hudson) vor. Martínez Estrada, einsam, unabhängig, stets kämpferisch gesinnt, befaßte sich mit den unterschiedlichsten Themen und gab Anlaß zu zahlreichen Auseinandersetzungen. Nach dem Sturz Peróns erforschte er die Ursachen für dessen Breitenwirkung im Volke und die Haltung der argentinischen Oligarchie. Er unterstützte die kubanische Revolution und lebte eine Zeitlang in La Habana, machte aber auch keinen Hehl aus seiner Kritik und seinen Bedenken gegenüber gewissen Aspekten dieser Revolution. Wenn er schrieb, legte er sich nicht nur keinerlei Zwang auf, er bereicherte auch ständig die Sprache mit Wendungen, Ausdrücken und Bildern eigener Erfindung. Er unterwarf sich keinen Regeln der Methodik und hielt es auch nicht für notwendig, in seinen Behauptungen sehr exakt zu sein. Doch über viele Teilerfolge hinaus muß zu seinen Gunsten erwähnt werden, daß er als erster Fragen angeschnitten hat, die erst lange nach ihm dann größere Beachtung fanden und gewissenhaft erforscht wurden. Auch die Zustände in Kuba ließen zwei Werke entstehen, die wegen der frühen Erkenntnis und der ausgezeichneten Darlegung gewisser Probleme genannt zu werden verdienen. Es handelt sich um Ramiro Guerra y Sánchez, der in seinem Werk Der Zucker und die Bevölkerung auf den Antillen den Einfluß der Zuckerrohrlatifundien und der Abhängigkeit vom Ausland auf die Entwicklung

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der kubanischen Gesellschaft, ganz besonders nach dem Bau der ersten Eisenbahnen, schilderte, und um Fernando Ortiz, der in Kuba zwischen Tabak und Zucker die sozialen Widersprüche zwischen zwei verschiedenen Produktionssystemen aufdeckte. Der Tabak hatte die Beschäftigung gelernter handwerklicher Arbeitskräfte gefördert und ländliche Mittelklassen entstehen lassen, während der Zucker zur Ausweitung des Latifundismus, der Negersklaverei oder zumindest der Ausbeutung ungelernter Arbeitskräfte beigetragen hatte. Mit diesen beiden Autoren verlassen wir das eigentliche Feld der Essayistik und nähern uns dem Gebiet der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. In diesem Übergangsbereich muß einer der Männer genannt werden, der wohl der repräsentativste Vertreter des Kulturwandels jener Zeit war und seinerseits beträchtlichen Einfluß ausübte. Wir meinen Gilberto Freyre, der, von einem lebhaften Interesse am Studium der brasilianischen Gesellschaft getragen, unter anderem Dichter, Geschichtsschreiber, Anthropologe und Soziologe war. Freyre hat am frühesten und wirksamsten den Standpunkt vertreten, das kulturelle Mestizentum in Brasilien sei kein Nachteil, sondern trage eine Fülle positiver Werte in sich. Das legt er ausführlich in seinem Buch Herrenhaus und Sklavenhütte aus dem Jahre 1933 dar. (Es ist dies sein am weitesten verbreitetes Werk: 13 portugiesische Auflagen und viele andere in den wichtigsten Weltsprachen.) Der Verfasser untersuchte hier die kolonialen Wurzeln der Sklaverei und des Großgrundbesitzes in Brasilien (insbesondere im Zuckeranbaugebiet des Nordostens). Seine beste Arbeit ist jedoch Herrenhäuser und Gesindewohnungen, eine Fortsetzung des vorgenannten Werkes, in dem die Krise der Sklavenwirtschaft und die patriarchalische Gesellschaft auf dem Wege zur Verstädterung geschildert werden. Beide Bücher sind Teil einer künftigen neuen Geschichte Brasiliens, deren Darstellung sich mehr auf die wesentlichen kulturellen und wirtschaftlichen Veränderungen stützt als auf die politische Chronologie. Auch der dritte Band dieser Geschichte Ordnung und Fortschritt ist bereits erschienen; in ihm wird mit modernen Methoden (dazu gehört eine Umfrage unter denen, die jene Zeit noch miterlebten) die Epoche untersucht, als Brasilien Republik wurde. Noch viele andere Arbeiten sind aus Freyres Feder hervorgegangen. Er scheint besondere Freude an der Bewunderung zu haben, die seine Fähigkeit erweckt, auf wenigen Seiten tausende von Einzeldaten zusammenzudrängen und bei der Erforschung der Vergangenheit die verschiedensten und modernsten Methoden anwenden zu können. Er ist ein ausgezeichneter Stilist, vertritt fast immer einen sehr persönlichen und manchmal gewagten Standpunkt und schreckt auch vor der Polemik nicht zurück. Dieser Wegbereiter des Studiums der brasilianischen Gesellschaft in ihren Ursprüngen (er hat vor allem darauf hingewiesen, daß Brasilien die Elemente der Industriegesellschaften nicht lediglich übernehmen oder kopieren konnte, sondern sie erst den Gegebenheiten eines tropischen Klimas anpassen mußte, was eine Herausforderung der brasilianischen Erfindungsgabe

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bedeutete) verwickelt sich zuweilen in höchst überraschende Widersprüche. Man hat ihm zum Beispiel vorgeworfen, das übergroße Wohlwollen, mit dem er Institutionen der Vergangenheit beurteile, habe ihn dazu gebracht, manche Veränderungen zu beklagen (darin liegt wohl im Grunde genommen eine Erklärung für gewisse konservative Züge in seiner Haltung, etwa das Eintreten für den heutigen portugiesischen Kolonialismus oder seine begeisterte Zustimmung zur Diktatur des Generals Castelo Branco). Andere Vorwürfe gegen Freyre dürften weniger berechtigt sein. Zum Beispiel, daß er gewisse, anscheinend unwesentliche Aspekte des Soziallebens minuziös untersucht – damit schöpft er nur eine weitere Quelle zur Information über Kultur und Gesellschaft aus; oder seine eingehenden Beschreibungen vom Gebrauch gewisser Geräte und sogar von Kochrezepten – dies alles liegt auf der Linie der modernen Forschung, die den Menschen in der Umwelt, die ihn umgibt, und mit den Gegenständen, die er benutzt, erforscht. Gilberto Freyre verdient nicht nur stellvertretend für die eigenständigen Leistungen der lateinamerikanischen Intellektuellen dieser Epoche besondere Erwähnung, sondern vor allem, weil sein Vorbild zur Erneuerung der Methoden und der Erweiterung der Thematik im geistigen Schaffen des Kontinentes anregte. Wie bei jedem Bahnbrecher war es sein Schicksal, bei seinen Nachfolgern stark umstritten zu sein, was er nicht eben resigniert hinzunehmen pflegt. Aber das mindert seine Bedeutung keineswegs. Nach dem Hinweis auf Gilberto Freyre ist es angebracht, auf andere wertvolle Beiträge zum Geistesleben dieser Epoche einzugehen. So trat um diese Zeit, mit gewisser Verspätung, in Lateinamerika eine Gruppe von Historikern der Geistesgeschichte auf den Plan. Insgesamt hat sich diese Gruppe allzu großer Gelehrsamkeit verschrieben, schreckt allzusehr davor zurück, Ideen und soziales Milieu miteinander in Verbindung zu setzen, und weicht oft einer Untersuchung von geistigen Strömungen aus, wenn dadurch Schwierigkeiten besonderer Art entstehen könnten. Doch sind auch hier Ausnahmen zu verzeichnen, wie etwa der Mexikaner Leopoldo Zea. Dieser erstreckte seine Untersuchungen auch auf die konstituierenden Elemente der sogenannten westlichen Zivilisation und erklärte, sie werde in je verschiedener Art sowohl von den Vereinigten Staaten als auch von der Sowjetunion repräsentiert. Zea vertritt die Ansicht, die Befreiung der Kolonialvölker dürfe nicht als eine Bedrohung der westlichen Kulturen betrachtet werden, sondern als die Notwendigkeit, auch in der sogenannten nicht abendländischen Welt die Prinzipien des Westens gelten zu lassen. Und er fügt hinzu: »So macht sich, was Iberoamerika betrifft, eine neue Haltung bemerkbar, aus der auch die vorliegende Arbeit erwachsen ist: das Bewußtwerden der eigenen Wirklichkeit. Man läßt ab von dem sinnlosen Bemühen, aus dem iberischen Amerika ein hundertprozentig abendländisches Amerika zu machen, und ganz allmählich läßt man die nicht-abendländischen Wurzeln seiner Mischkultur als positive Elemente gelten. Iberoamerika weiß heute, daß die Geschichte von allen

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Menschen und damit von allen Völkern gemacht wird. Es weiß auch, daß es an dieser Geschichte einen Anteil hat, gleichgültig ob es der wichtigste oder ein weniger wichtiger sein mag. Es weiß, daß sein Mestizentum – nicht so sehr in ethnologischer als vielmehr in kultureller Hinsicht – der Ausgangspunkt dafür sein kann, ihm innerhalb dieser Geschichte einen möglicherweise ganz besonderen Platz einzuräumen. Eben dies haben viele abendländische Denker bereits für dieses Amerika vorausgesehen: Ein Amerika als Brücke zwischen zwei Welten, die im Widerspruch miteinander zu stehen schienen. Eine Brücke zwischen erobernden und eroberten Völkern, zwischen Ost und West, zwischen der abendländischen und der übrigen Welt. Deshalb hat vielleicht diese durch kulturelle und rassische Vermischung gekennzeichnete Geschichte Iberoamerikas eine große Bedeutung für die von allen Menschen gebildete Geschichte der Menschheit.«53 Der Roman, der Essay, das neue Forschen nach den Ursprüngen und Wesensmerkmalen der lateinamerikanischen Welt verhalfen einer Tendenz zum Zuge, die in immer stärkerem Maße der Wurzellosigkeit, dem Nachahmungstrieb und zahlreichen Vorurteilen der traditionellen Eliten entgegenarbeitete. In manchen Ländern Lateinamerikas wurden noch längere Zeit in einigen Kreisen, in deren Händen noch heute für das Ausland bestimmte Publikationen und kulturelle Manifestationen liegen, jene veralteten Ideen, eine unzeitgemäße Haltung vertreten, doch gingen ihre Bedeutung und ihr Einfluß ständig zurück. Die wachsende Schüler- und Studentenzahl, das steigende Interesse an Lektüre in der eigenen Sprache gab der Veröffentlichung spanischer oder portugiesischer Werke einen gewaltigen Aufschwung. Das Ende des Bürgerkrieges in Spanien führte zu einem Rückgang im spanischen Verlagswesen, weil die republikanischen Intellektuellen emigriert waren und die spanische Zensur den Absatz spanischer Bücher in Lateinamerika stark erschwerte. Fast gleichzeitig entstand in Mexiko ein bedeutender Verlag, Fondo de Cultura Económica, der auf kulturellem Gebiet eine beachtliche Leistung vollbrachte, wenngleich er sich vielleicht zu stark auf die Herausgabe übersetzter Werke verlegte. Auch das Verlagswesen in Argentinien entwickelte sich zur gleichen Zeit besonders gut. Daß ein wachsendes Leserpublikum vorhanden ist, beweisen die hohen Verkaufsziffern bei Veranstaltungen wie den Buchmessen in Peru, die stürmische Entwicklung der Eudeba (Editorial Universitaria Argentina = Argentinischer Universitätsverlag) und die Zunahme brasilianischer Publikationen. Dem wären noch die Einführung von kulturellen Beilagen der großen Tageszeitungen, die Entwicklung der Buchkritik, die zahlreichen Fachzeitschriften mit größeren Auflagen und die wachsende Vielfalt der Formen auf dem Gebiet des geistigen Schaffens hinzuzufügen. Bildende Kunst und Musik

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In der bildenden Kunst sind im allgemeinen ähnliche Tendenzen wie in der Literatur und dem Geistesleben zu beobachten. Schulen und Strömungen – zumeist von Europa beeinflußt – bilden sich in Lateinamerika heraus und gleichzeitig ein starker Gegensatz zwischen der offiziell anerkannten traditionellen Kunstauffassung und den avantgardistischen Kunstneuerern. Das Kunstschaffen konnte sich natürlich dem Einfluß weltweiter Strömungen, wie dem Impressionismus, dem Kubismus und der abstrakten Kunst, oder großer Persönlichkeiten, wie Pablo Picasso und Paul Klee, nicht entziehen. Die mexikanische Freskenkunst beginnt mit dem ersten Auftrag, den die mexikanische Regierung im Jahre 1921 an Diego Rivera vergibt. Gemeinsam mit José Clemente Orozco und David Alfaro Siqueiros wandte Rivera sich, inmitten hitziger Polemiken, Manifeste und anderer militanter Formen von Kundgebungen, sozialen und indianischen Motiven zu. Eine Zeitlang blendete die mexikanische Wandmalerei durch ihre Großartigkeit. Heute dagegen wird aber möglicherweise Rufino Tamayo wieder höher geschätzt, ein Maler, der zeitweise wegen seiner offenkundigen Beeinflussung durch ausländische Kunstrichtungen nicht sehr geachtet war. Den letzten großen Erfolg verzeichnet die mexikanische Freskenkunst mit der Ausgestaltung der neuen Universitätsstadt in Mexiko-City. Bei manchen dieser Gebäude dürfte sich die Ornamentierungs- und Dekorationslust jedoch zum Schaden der Architekten ausgewirkt haben, deren Freiheit zu wesentlichen funktionalen Lösungen beim Bau dadurch eingeschränkt war. Kuba besitzt in neuester Zeit ausgezeichnete Maler, unter denen Wilfredo Lam, Amelia Peláez, Cundo Bermúdez, Mario Careño und Martínez Pedro Erwähnung verdienen.

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 Abb. 16: Gebäude der Medizinischen Fakultät der Universität Mexiko

In Brasilien beherrscht Cándido Portinari mit seinen ausgewogenen Darstellungen historischer und sozialer Motive und seinen Beiträgen zur künstlerischen Ausgestaltung von Bauwerken das Feld. Der Uruguayer Pedro Figari, der hauptsächlich in Paris arbeitete, beschwor in seinen Werken die Erinnerung an die alte Gesellschaft am Rio de la Plata herauf. Die spätere Weitläufigkeit in der Kunst mag das Hervortreten von Pettoruti in Buenos Aires oder von Torres García in Montevideo erklären, der eine dem Kubismus, der andere einer sehr flexiblen abstrakten Malerei verhaftet. Torres wirkte zudem in hervorragender Weise als Lehrer und Verfasser umfangreicher theoretischer Werke im Dienste des ›Konstruktivismus‹, den er als die amerikanische Kunstauffassung definierte. Auf der pazifischen Seite des Kontinents ließ sich José Venturelli durch seine übermäßige politische Betätigung von den ersten Erfolgen auf dem Wege einer eindringlichen Sozialthematik wieder abbringen. Roberto Mata emigrierte nach Europa und später in die Vereinigten Staaten und wurde dort ein bedeutender surrealistischer Maler. Der Ekuadorianer Oswaldo Guayasimin wandte sich zuerst indianischen Motiven zu, ging dann nach und nach zur abstrakten Malerei über. Die Tragik der Maler in Lateinamerika, besonders in den kleineren Ländern, besteht darin, daß sie schwerlich allein von ihrem Beruf leben können. Daher der

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starke Zug zur Auswanderung, der sie zuerst nach Paris und dann in die Vereinigten Staaten trieb. Das schnelle Wachstum der Städte, der Druck mancher staatlicher Stellen und der schlechte Geschmack gewisser begüterter Kreise förderte bei den Bildhauern eine Zeitlang die Neigung zum monumentalen Realismus und bei den Malern die Nachgiebigkeit gegenüber den offiziellen Jurys und den Forderungen der Käufer. Aber die Lage hat sich allmählich gewandelt, während gleichzeitig mannigfache neue Betätigungsmöglichkeiten entstanden, dank des außergewöhnlichen Aufschwungs der Architektur, der Neubelebung der Keramikkunst und anderer Zweige des Kunsthandwerks, der Innendekoration, der Plakatmalerei, gewisser Formen von Industriezeichnungen (hauptsächlich Entwürfe für Stoffe und Gebrauchsgraphik), der Bühnenmalerei und -dekoration sowie der Kostümentwürfe. Auf dem Gebiet der Architektur wandte man sich nun von den Stilverirrungen ab, auf die bei der Betrachtung der vorhergehenden Epoche hingewiesen wurde. In den neuen Stilrichtungen beginnt sich eine größere Eigenständigkeit und eine persönlichere Einstellung zur Architektur bei den Absolventen einheimischer Fakultäten abzuzeichnen, die sich die Lehren der modernen internationalen Strömungen zunutze machen. Die Zusammenballung in den Städten führte in Lateinamerika wie überall dazu, daß höhere Bauten errichtet wurden. In manchen Ländern ließ man dabei allzusehr die klimatischen Bedingungen und die Möglichkeiten der einheimischen Bauindustrie außer acht, was die Qualität der Bauten beeinträchtigte und die Kosten verteuerte. Allmählich jedoch sah man ein, daß es notwendig sei, sich gegen die übermäßige Lichtfülle mit brisesoleils und dunkel getöntem Glas zu schützen, und lernte es, auf die Eigenschaften des einheimischen Baumaterials bei der Planung Rücksicht zu nehmen. Man befaßte sich eingehend mit städtebaulichen Problemen und Reformbestrebungen und den Erfahrungen auf dem Gebiet des Sozialwohnungsbaus. Trotz aller Bemühungen gelang es jedoch nicht, das städtische Wachstum unter völlige Kontrolle zu bringen, und der Bau von Sozialwohnungen wurde im Vergleich zu dem ungeheuren Bedarf immer unzureichender. Große Hotels und Krankenhäuser, Flughäfen, Sportstadien, Fabrikanlagen und öffentliche Gebäude sind in den letzten Jahren nach der modernen Stilauffassung errichtet worden. Ein Beispiel dafür ist das Erziehungsministerium in Rio, ein Pionierwerk, das nach Ratschlägen Le Corbusiers von Oscar Niemeyer, Affonso Reidy und Jorge Moreira erbaut wurde. Als bedeutendste Baumeister werden heute in Lateinamerika u.a. Julio Vilamajó aus Uruguay, Sergio Larrain aus Chile, José Villagrán García aus Mexiko, Lucio Costa und der bereits erwähnte Niemeyer aus Brasilien und Carlos Villanueva aus Venezuela angesehen.

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Im Musikschaffen Lateinamerikas sind bedeutende Komponisten zu nennen, deren Werk von folkloristischen Themen inspiriert ist; so etwa der Brasilianer Heitor Villa Lobos, die Mexikaner Carlos Chávez und Silvestre Revueltas, der Kubaner Camargo Guarnieri und der Argentinier Alberto Ginastera. Die kulturellen Bestrebungen, die in dieser Epoche zuerst von literarischen Zeitschriften und Literatencafés ausgegangen waren, mündeten nun in die verschiedensten Formen kulturell interessierter Vereine und Verbände ein. Als Gegengewicht zum kommerziellen Filmtheater bildeten sich Filmclubs; angesichts der Kommerzialisierung des Theaters und der Gefahr seines völligen Untergangs fanden sich Liebhaberschauspieltruppen zusammen, die in einigen Ländern große Bedeutung erreicht haben. Neue Gruppen bildender Künstler und Kunstgewerbler, Vereine zur Pflege der Folklore und avantgardistische Gruppen halten diese Bestrebungen lebendig. Allmählich ist die Ablehnung der Gegebenheiten des eigenen Milieus gewichen, wie sie aus der Vorliebe der alten Eliten für alles Europäische entstanden war. Heute dagegen ist der Versuch kennzeichnend, eine stärkere Einwurzelung in der Wirklichkeit zu finden und größeren Einfluß auf die allgemeinen Veränderungen in der lateinamerikanischen Welt zu gewinnen. Das muß sich auf lange Sicht in einer günstigen Entwicklung der sogenannten ›Intelligentsia‹ auswirken, die sich bisher in die konservative Verachtung aller volkstümlichen Elemente oder in die Anlegung europäischer Maßstäbe an ihre politische Fortschrittlichkeit flüchtete.

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 Abb. 17: Der politische Reformator Uruguays, José Battle y Ordóñez, im Wahlkampf

14. Die neuen Formen der Macht Je weiter das 20. Jahrhundert voranschreitet, desto deutlicher wird sichtbar, daß die traditionellen Formen der Macht angesichts der Modernisierungstendenzen und des einsetzenden sozialen und wirtschaftlichen Wandels nicht überleben können. Wenngleich dieser Prozeß sich nicht in allen lateinamerikanischen Ländern vollzieht, so ist er doch in einer Reihe von ihnen zu beobachten, die zusammengenommen die erdrückende Mehrheit der Bevölkerung und des gesamten Staatsgebietes ausmachen. Dort finden die klassischen Formen der Diktatur und die Vorherrschaft der traditionellen Oligarchien (auch wenn diese sich hinter einer republikanischen und liberalen Fassade verbergen) keinen günstigen Boden mehr. Je nach den einzelnen Ländern ergeben sich die Veränderungen in der Politik aus der Tatsache der Einwanderung von Europäern (Drängen der Einwanderer und ihrer Nachkommen nach größerer Beteiligung am staatlichen Leben), oder sie sind das Ergebnis von Landflucht und Verstädterung, oder Resultat der wirtschaftlichen Schwerpunktverlagerung von einer Region des Landes auf eine andere, oder sie sind dem Wirken neuer Pressure Groups zu verdanken, oder ein Ergebnis aller oder einiger dieser Faktoren.

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Insgesamt war die Krise des alten Systems im allgemeinen eine Auswirkung der Tatsache, daß neue Gruppen nach der Kontrolle und der Leitung der Regierungsgeschäfte (und folglich auch den Vorteilen der Macht) drängten. Dazu kam manchmal noch die Haltung des einen oder anderen Staatsmannes, der das Aufkommen reformerischer Bewegungen begünstigte. Die Dynamik dieser Veränderungen weist eine ganze Reihe von Nuancen auf, angefangen beim revolutionären Umsturz – der sich in Mexiko über ein ganzes Jahrzehnt erstreckte – bis zur gemäßigten Reformbewegung gewisser Staaten im Süden des Kontinents. Hier wie dort führte die Verdrängung der traditionellen Oligarchien und die Aufgabe des Wirtschaftsliberalismus zu neuen Formen des staatlichen Interventionismus. In beiden Fällen nahm der Wandel durch die Weltwirtschaftskrise von 1929 schärfere Formen an. Diese führte häufig zum Bruch mit der Legalität und regte in vielen Fällen neue Reformen an. Immer war es ein ernstes Problem, welche Haltung den USA gegenüber eingenommen werden sollte, die faktisch zu einem mächtigen Vormund und zum Hauptkapitalgeber geworden waren. Wegen ihres einzigartigen Charakters wollen wir kurz die Hauptereignisse der mexikanischen Revolution schildern, bevor wir in den allgemeinen Betrachtungen fortfahren, die, wie wir sehen werden, auch in gewissem Maße für Mexiko gelten.

Die mexikanische Revolution In der Gewalttätigkeit und der Radikalität der mexikanischen Revolution kamen soziale Spannungen zum Ausbruch, die sich jahrhundertelang aufgestaut hatten. Ausgelöst wurde sie allerdings lediglich durch die Kampagne gegen eine Wiederwahl des Präsidenten Porfirio Díaz. Im ersten Kapitel haben wir gesehen, daß die Unabhängigkeit Mexikos nicht ein Ergebnis sozial fortschrittlichen Denkens war (da die von Hidalgo und Morelos angeführte Bewegung niedergeschlagen wurde), sondern sich aus den gemeinsamen Interessen des katholischen Konservativismus und der Großgrundbesitzer ergab. Die liberale ›Reform‹ und die Verfassung von 1857, beides aus der Zeit der Präsidentschaft von Benito Juárez, beschnitten zwar einige Privilegien der Kirche, ließen aber den Großgrundbesitz unangetastet. Die als das ›Porfiriat‹ bekannte Periode (Zeit der Diktatur von Porfirio Díaz) dauerte von 1876 bis 1910. Wie wir bereits dargelegt haben, waren seine positivistisch eingestellten Berater durchaus für einen gewissen Fortschritt, sie verachteten jedoch die Indianer und nahmen ihnen auch das wenige Land fort, das sie noch besaßen. Schätzungsweise verloren zu jener Zeit 5000 Eingeborenendörfer ihren Landbesitz. Die Volkszählung von 1910 läßt erkennen, daß 96,8% der mexikanischen Landbewohner keinen Grund und Boden besaßen und daß 1% der Bevölkerung über 96% des Bodens verfügte.

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Während seiner Kampagne gegen Porfirio Díaz veröffentlichte Francisco Madero, ein gemäßigter Politiker, von seinem Exil in Texas aus den ›Plan von San Luis de Potosí‹, der zum bewaffneten Aufstand aufrief. Infolgedessen kam es unter der Führung von Pancho Villa zu einer Erhebung in Chihuahua. Nach heftigen Kämpfen und einem Waffenstillstand, inmitten größter Unruhe unter den Arbeitern und Bauern, trat Díaz zurück, und Madero wurde im Oktober 1911 zum Präsidenten gewählt. Der Bauernführer Emiliano Zapata, der vom Ausbruch der Revolution an großen Zulauf aus dem Süden erhalten hatte, verkündete den Plan von Ayala, demzufolge die landlosen Bauern nicht nur ihren Grund und Boden wieder erhalten, sondern auch das Recht haben sollten, ein Drittel des Restes der großen Haziendas in Besitz zu nehmen. Eine neue Komplikation im Verlauf der Revolution trat durch die Ermordung Maderos und die Machtergreifung des konservativen Generals Victoriano Huerta ein. Gegen ihn erhoben sich Venustiano Carranza, Villa, Álvaro Obregón (unterstützt von der Bevölkerung des Staates Sonora) und Zapata (der nun wirklich mit der Landverteilung begann). Aber nach der Niederwerfung Huertas zerstritten sich die Sieger untereinander. Die USA besetzten Veracruz (1914) und lieferten Waffen an Carranza, der sich der Landeshauptstadt bemächtigte, dann aber vor den Streitkräften Villas und Zapatas den Rückzug antreten mußte. Sein Verbündeter, General Obregón, konnte Carranza davon überzeugen, daß es wichtig sei, gewisse soziale Aspekte der Auseinandersetzung zu betonen. Daraus entstand ein Pakt mit den Gewerkschaften, die Arbeiterbataillone aufstellten. Mit diesen neuen Streitkräften gelang es Obregón, Villa zu besiegen, und im Jahre 1915 besetzte Carranza wiederum die Hauptstadt. Im Jahre 1917 wurde die neue Verfassung verkündet, die der von 1857 antiklerikale und sozialistisch anmutende Akzente hinzufügte. Im Rahmen dieser neuen Tendenz wurden alle Enteignungen indianischen Gemeindebesitzes, die nach dem Lerdo- Gesetz (1856) vorgenommen worden waren, rückgängig gemacht und die ejidos (bäuerlicher Gemeindebesitz) als unveräußerlich erklärt. Aber die von der Regierung des 1917 zum Präsidenten gewählten Carranza verkündeten Ziele wurden nicht in vollem Umfang verwirklicht. Das Abflauen des revolutionären Radikalismus äußerte sich in Vorkommnissen wie der Ermordung Emiliano Zapatas (1919) und der Schließung des ›Arbeiter-Hauses‹ im Gefolge eines Generalstreiks. Die Arbeiter machten gemeinsame Sache mit General Obregón. Nach Gründung der CROM (Confederación Regional de Obreros Mexicanos = Mexikanischer Arbeiterbund) riefen sie ihn zu ihrem Präsidentschaftskandidaten gegen Carranza aus: es kam zu einer neuen Erhebung unter der Führung Obregóns; sein Gegner wurde auf einem Fluchtversuch ermordet. Mit Übernahme des Präsidentenamtes durch Obregón im Jahre 1920 geht die Periode der bewaffneten Auseinandersetzungen zu Ende. Allerdings fehlt es auch weiterhin an politischer Stabilität, und bis zum Jahre 1929 kommt es immer wieder zu vereinzelten Militärputschen und Rebellionen.

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Infolge der gewaltsamen Auseinandersetzungen verringerte sich die Bevölkerung, die Produktion verminderte sich, und große Menschenmengen wanderten in Gebiete des Landes ab, die von den Kampfhandlungen nicht betroffen waren. Unter den Präsidenten Obregón (1920–24) und Plutarco Calles (1924–28) festigte sich das neue Regime, da es sich auf die Arbeitergewerkschaften stützte und durch neue Landenteignungen des Großgrundbesitzes auch die Zustimmung der Bauern fand. Mit dem Präsidenten Calles (dessen Einfluß indirekt bis 1934 dauerte) gelangte eine Gruppe von Politikern an die Macht, die sich nicht eben durch Rechtschaffenheit auszeichneten und ihre Ämter zur persönlichen Bereicherung ausnutzten. Ein radikale! Geist der Erneuerung trug dann General Lázaro Cárdenas (1934 bis 1940) als Präsidenten an die Macht. Dieser trieb die Agrarreform entscheidend voran, enteignete die nordamerikanischen Erdölgesellschaften und reorganisierte die offizielle Revolutionspartei (sie war 1928 von Calles mit dem Namen National-Revolutionäre Partei gegründet worden und nahm nun unter Cárdenas endgültig den Namen Institutionelle Revolutionspartei an). Der neue Präsident verfolgte eine unabhängige Außenpolitik gegenüber den USA und unterstützte während des spanischen Bürgerkrieges die Republikaner. Der Nachfolger Cárdenas’, Avila Camacho (1940–46), zeigte sich gemäßigter. Von seiner Amtszeit an kann man von einem wachsenden Übergewicht eines nationalen Bürgertums in Mexiko sprechen, das sich durch Spekulationen und Beteiligung an industriellen Unternehmen bereichert hatte und in der jüngsten Zeit sogar Kapital in Landbesitz investierte, womit es die Grundlagen für eine kapitalistische Agrarwirtschaft schuf. Der wichtigste Aspekt der politischen Entwicklung in Mexiko ist die dabei bewiesene Fähigkeit, ein höchst eigenständiges System zu schaffen, innerhalb dessen, trotz der scheinbaren Vorherrschaft einer offiziellen Partei (praktisch handelt es sich um eine Einheitspartei), der Staat eine politische Opposition schützt (indem er ihr ein Minimum an Sitzen im Parlament garantiert) und es verstanden hat, verschiedene Interessengruppen zu integrieren (Militärs, Arbeiter, Bauern, die Bürger im allgemeinen), so daß ständige Zusammenstöße zwischen verschiedenen Gruppen vermieden werden. Sicherlich kann man von Fortschritten und Rückschritten im Verlauf der Revolution sprechen; ja zuweilen wird sogar bestritten, daß das heutige Regime noch etwas mit den sozialen Bestrebungen zu tun habe, die es entstehen ließen. Aber unbestreitbar ist die Wendigkeit und Erfindungsgabe, mit der die Mexikaner eine Lage, die sich aus einem absoluten politischen Chaos ergeben hatte, schrittweise zu festigen und zu institutionalisieren verstanden. Die allgemeine Entwicklung Bei der Tendenz zu politischen Veränderungen sind einerseits Faktoren im Spiel, die sich als hemmend auswirken können, und andrerseits solche, die die Entwicklung vorantreiben.

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In diesem Zusammenhang sei vor allem erwähnt, daß sich in dieser Periode in den ›Bananenrepubliken‹, in Kolumbien und Venezuela keine großen Umwälzungen vollziehen; weder spürbare Veränderungen in der Lage der Landwirtschaft noch neue Konfliktsursachen machen sich bemerkbar. Eine relative Prosperität im Exportsektor und der nordamerikanische Einfluß sorgen für den Weiterbestand althergebrachter politischer Verhältnisse oder stärken neue Diktaturen. Was die Veränderungen – oder zumindest die Ansätze dazu – in anderen Ländern anbelangt, so muß auf gewisse Gruppen hingewiesen werden, für die schwer eine nicht allzu schematisierende Bezeichnung zu finden ist. Sie als Pressure Groups zu bezeichnen, wäre allzu ungenau, andrerseits entspringt ihr Verhalten aber auch nicht einem ›Klassenbewußtsein‹. Die Armee und die Politik Im 20. Jahrhundert verlieren zwar die militärischen Caudillos ihre persönliche Machtstellung, doch damit hört nicht etwa jede Beteiligung des Militärs am politischen Leben auf. Vielmehr tritt ein innerer Wandel in der Zusammensetzung und dem Wesen der Streitkräfte ein. Die Landesverteidigung, die doch eigentlich ihre Wesensaufgabe sein sollte, tritt bei ihnen in den Hintergrund, und sie werden statt dessen zu einem immer wirksameren Instrument der Macht (je weiter ihre technische Ausrüstung voranschreitet). In keinem Lande Lateinamerikas fehlte es den führenden Militärs an Ehrgeiz oder Gelegenheit, auf verschiedenste Weise in die Innenpolitik einzugreifen. Manchmal wurden sie, in anscheinend ausweglosen Situationen, als Schiedsrichter angerufen. Zuweilen wurden sie von Kreisen herangezogen, die glaubten, das Heer könne in kritischen Augenblicken die Macht des Staates stärken. In anderen Fällen beteiligten sich die Militärs aus eigener Initiative an Palastintrigen. Inzwischen erhöhen sich in vielen Ländern stetig die Ausgaben zur Unterhaltung der Streitkräfte, während der alte militärische Caudillismus immer mehr verschwindet, je stärker die militärische Laufbahn als ein echter Berufsstand angesehen wird. Den mittleren Schichten der Bevölkerung erscheint der Eintritt ins Offizierskorps immer mehr als eine geeignete Möglichkeit, der Arbeitslosigkeit zu entgehen und eine geordnete Laufbahn einzuschlagen. (Dagegen war es im allgemeinen schwierig, Söhne aus begüterten Familien für diesen Beruf zu gewinnen, dessen Ausübung zuerst einmal mehrere Jahre disziplinierter, harter Ausbildung voraussetzt.)

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 Abb. 18: Die neue Klasse – Offiziere einer südamerikanischen Armee

Die Armee bildet in jedem Land fast einen Staat im Staate, und darüber hinaus machen sich immer wieder innere Spannungen zwischen den verschiedenen Waffengattungen oder zwischen den jungen und den alten Offizieren bemerkbar (besonders gut zu beobachten an der gescheiterten Rebellion von 1922 und dem sogenannten tenentismo (Leutnantsbewegung) in Brasilien, die beide sowohl eine Auseinandersetzung der Generationen als auch ein Kampf zwischen Fortschritt und konservativer Einstellung waren). Die militärische Laufbahn zwang immer mehr zum Studium der innenpolitischen Probleme, und daher ist es nicht verwunderlich, daß oft aus der Armee selbst Neuerungsbestrebungen hervorgingen. Trotzdem ist es in ganz Lateinamerika nicht ein einziges Mal dazu gekommen, daß das Militär zugunsten einer Reform der Agrarstrukturen eingegriffen hätte oder fähig gewesen wäre, eine kontinuierliche Politik sozialer Verbesserungen aufrechtzuerhalten. Um das Jahr 1928 wurden nur sechs Länder Lateinamerikas – mit 15% der Gesamtbevölkerung – von Militärdiktatoren regiert. Aber die Weltwirtschaftskrise änderte diese Lage gründlich, da sie Staatsstreiche und das Eingreifen des Militärs begünstigte. Die nordamerikanische Herrschaft im Karibischen Raum verfolgte neben anderen, nach außen hin erklärten Zielen auch das Ziel, Milizstreitkräfte zu organisieren, die in der Lage waren, die Stabilität der parlamentarischen Demokratie in den einzelnen Ländern zu garantieren. Doch erhoben die Vereinigten Staaten keine größeren Bedenken, wenn die Oberbefehlshaber dieser Milizen selbst die Macht ergriffen und lange Zeit hindurch tyrannisch regierten.

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Sie unterhielten freundschaftliche Beziehungen zu ihnen, immer vorausgesetzt, daß sie die Tätigkeit der nordamerikanischen Gesellschaften nicht behinderten und keine internationalen Verwicklungen heraufbeschworen. Welcher Anteil der staatlichen Haushaltsmittel auf die Armee entfällt, hängt jeweils von der Entwicklung in den einzelnen Ländern ab. In Argentinien, Brasilien, Peru, Paraguay und Kolumbien zum Beispiel ist dieser Anteil sehr hoch, weil das Heer in diesen Ländern einen entscheidenden Machtfaktor darstellt. In Mexiko, Costa Rica und Uruguay werden die Ausgaben für die Streitkräfte immer geringer, weil man es auf die eine oder andere Weise verstanden hat, den Einfluß der Militärs zu beschneiden. In einigen Fällen hat die Armee an Aufgaben von nationalem Interesse mitgewirkt: Durchführung topographischer Vermessungsarbeiten, Ausbau des Verkehrsnetzes oder, wie in Brasilien, Beschützung und Eingliederung der indianischen Bevölkerung (ein von Marschall Rondón geleitetes Unternehmen). In Argentinien, zum Beispiel, wies General Mosconi auf die Bedeutung der Erdölvorkommen des Landes hin und forderte den Staat auf, diesen Reichtum zu nutzen. Dies alles aber sind Ausnahmen, die bei einer Gesamtbilanz nicht sehr ins Gewicht fallen. Im allgemeinen banden die für diese Länder unverhältnismäßig großen Streitkräfte große Kontingente von Arbeitskräften, die in der Wirtschaft produktiv hätten eingesetzt werden können, und sie verursachten gewaltige Ausgaben für die Beschaffung moderner Kriegsausrüstungen, durch den Bau militärischer Anlagen, hohe Gehälter und andere Zuwendungen. Wenn die Armee sich zur Machtübernahme entschlossen hatte, so fehlte es ihr nie an Vorwänden: man sprach vom ›Vaterland in Gefahr‹, von der ›Korruption der alten Regierung‹, von der ›Krise der politischen Institutionen‹ der ›kommunistischen Bedrohung‹ usw. Wahrscheinlich ein Erbe der historischen Bindungen an britische Interessen (unter deren Schutz sie entstanden) ist die unter einem liberalen Äußeren versteckte konservative, aristokratische Einstellung der Marine in Argentinien und Brasilien. Die militärische Intervention in der Politik reicht von der einfachen, unverhohlenen Machtergreifung bis zu einer Art Veto gegen einzelne Maßnahmen der Regierung oder zur Erzwingung solcher Maßnahmen. In seltenen Ausnahmefällen hat die Armee nach ihrem Eingreifen Zivilpersonen die Macht übertragen (so kam 1930 Vargas in Brasilien als Diktator an die Macht) oder Diktaturen gestürzt, um Wahlen zu ermöglichen (1944 in Guatemala; die Militärs setzten den Diktator Jorge Ubico Castañeda ab und schrieben wenige Monate später Wahlen aus; in Venezuela stürzte das Heer die Diktatur Medina Angaritas und übergab die Macht an die Mehrheitspartei Acción Democrática, deren Führer Rómulo Betancourt zum Interimspräsidenten ernannt wurde. Der Zweite Weltkrieg führte zu einer engeren Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Armeen in Lateinamerika und den Streitkräften der Vereinigten Staaten (die USA stellten Ausrüstungen, Waffen, Schiffe, Flugzeuge, Mittel für

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den Bau militärischer Stützpunkte usw. zur Verfügung). Seither ist diese wachsende Zusammenarbeit eine, oft die entscheidende, Karte der Vereinigten Staaten in ihrer Lateinamerikapolitik. Der Katholizismus und die Kirche vor den jüngsten Veränderungen In den meisten Ländern Lateinamerikas nehmen der Katholizismus und die Vertreter der Geistlichkeit eine konservative Haltung ein. Vor allem trifft das auf Argentinien, Peru, Ekuador, Kolumbien, die karibischen Länder und sogar auf Mexiko zu, obwohl hier die Revolution den Katholizismus zur Aufgabe alter Positionen zwang. Diese konservative Haltung läßt sich auf verschiedene Weise erklären. Ihre historischen Wurzeln sind in der engen Verbindung zwischen der Kirche und der feudalistischen Ordnung der kolonialen Gesellschaften zu suchen, in deren Schutz die Kirche zur Großgrundbesitzerin geworden war. Sie hängt auch damit zusammen, daß zu wenige einheimische Priester zur Verfügung stehen und dieser Mangel üblicherweise durch die Entsendung spanischer Geistlicher behoben wird (der spanische Klerus besitzt bekanntlich keinen hohen Bildungsstand und sympathisiert nicht mit Neuerungsbestrebungen). Und endlich erwächst sie aus der Tatsache, daß der Vatikan sich in seiner Lateinamerikapolitik auch in dieser Periode mehr auf die konservativen Kräfte der Kirche als auf katholische Reformbewegungen stützt. In Mexiko leisteten zahlreiche Geistliche der Revolution Widerstand, und zwischen 1926 und 1929, während Calles Präsident war, unterstützten sie die sogenannte Rebellion der Cristeros (Christusträger). Infolgedessen wurden der Kirche in Mexiko schwere Beschränkungen auferlegt. Die Priester durften in der Öffentlichkeit kein priesterliches Gewand mehr tragen; ihre Zahl wurde zudem gesetzlich begrenzt. In vereinzelten Fällen kam es zu so extremen Erscheinungen wie der Verfügung des Gouverneurs von Tabasco, Garrido Canabal, der in seinem Antiklerikalismus so weit ging, in seinem Staat keinem Priester die Ausübung seines Amtes zu gestatten, wenn er nicht verheiratet war ... Allmählich normalisierten sich die Beziehungen zwischen Kirche und Staat jedoch wieder. Die späteren Revolutionsregierungen erkannten, daß die Kirche nicht der Hauptfeind war und daß es sinnlos gewesen wäre, gegen die tiefe Religiosität des mexikanischen Volkes anzukämpfen. Viele Katholiken bemühten sich ihrerseits, durch eine fortschrittliche Haltung hervorzutreten (so etwa ist die scharfe Kritik gewisser katholischer Intellektueller in Mexiko an den konservativen Tendenzen zu bewerten, die unter den letzten Revolutionsregierungen zutage traten). Chile ist ein weiterer Fall, der Beachtung verdient. Die Kirche, zuvor eindeutig mit dem Konservativismus verbündet, erklärte sich im Jahre 1925 mit der Trennung von Kirche und Staat einverstanden, und von diesem Zeitpunkt an entwickelten sich fortschrittliche Tendenzen innerhalb des chilenischen Katholizismus. Sie fanden ihren konkreten Ausdruck in der Gründung der Falange National de Chile, aus der später die Christlich-Demokratische Partei

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hervorging. Die katholische Universität trat, was Qualität und Wirkungsgrad des Unterrichts sowie Fortschrittsgeist anbelangt, in einen erfolgreichen Wettbewerb mit der (staatlichen, weltlichen) Universität von Chile. In Uruguay endlich hatte die Kirche zwar nicht an einem feudalistischen Erbe aus der Kolonialzeit zu tragen, war aber gleichwohl lange Zeit dem Druck von Liberalen und Antiklerikalen ausgesetzt. Unter der Regierung des Präsidenten Battle y Ordóñez wurde im Jahre 1907 ein Scheidungsgesetz verkündet; zwei Jahre später wurde der Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen untersagt, und schließlich führte die Verfassung aus dem Jahre 1917 die Trennung von Kirche und Staat ein. Die gemäßigte Reaktion der Kirche darauf äußerte sich in der Schaffung von katholischen Privatschulen und -gymnasien und der Unterstützung bei der Gründung einer katholischen politischen Partei, die jedoch nie größeren Zulauf oder Einfluß erhielt. Insgesamt blieb die lateinamerikanische Welt weiterhin katholisch, wenn auch mehr in den äußeren Erscheinungsformen als der inneren Überzeugung nach. Im religiösen Brauchtum gewisser Volksschichten, wie der mexikanischen oder bolivianischen Indianer, der Neger in Brasilien oder gewisser Einwanderergruppen, machten sich zahlreiche fremde Einflüsse und sektiererische Elemente bemerkbar. Die katholische Hierarchie hatte nur eine sehr begrenzte Kontrolle über diese Art der Volksfrömmigkeit. Stärker waren die Bande zwischen der Kirche und weiten Kreisen der alten Oligarchien gewesen, und daher die konservativen Relikte. Einen offenen Kampf führte die Kirche gegen den Antiklerikalismus der Mittelklassen, auch wenn diese sich nicht allzusehr an den radikalen Reformen interessiert zeigten. Ein Ereignis, das ein starkes Echo in gewissen Kreisen der katholischen Öffentlichkeit Lateinamerikas auslöste, war der spanische Bürgerkrieg, der Franco an die Macht brachte. Die Traditionalisten stellten sich offen auf die Seite Francos, während die junge katholische Reformbewegung die Haltung des baskischen Klerus unterstützte, der sich für die Republik ausgesprochen hatte. Gegen Ende dieser Periode setzte sich in den Kreisen der höheren katholischen Geistlichkeit die Erkenntnis durch, daß die lateinamerikanische Religiosität recht wenig orthodox und stark im Abklingen begriffen sei und daß die amerikanischen Probleme unbedingt einer eingehenderen Untersuchung bedürften. Wir werden sehen, welch starke Impulse für einen Wandel der Dinge in der folgenden Periode von dieser Erkenntnis ausgehen sollten. Die Studenten und die Teilnahme der Jugendbewegungen am politischen Leben Als wir von der Universitätsreformbewegung in dieser Periode sprachen, wiesen wir bereits darauf hin, daß sich innerhalb dieser Strömung und auch auf anderen Gebieten des lateinamerikanischen Lebens eine überaus starke Politisierung der Studentenschaft bemerkbar machte. Diese äußerte sich sowohl in der weltanschaulichen Einstellung der Studenten als auch in ihrer konkreten

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Beteiligung an verschiedenen Massenbewegungen und politischen Auseinandersetzungen, in deren Verlauf sie zum Sturz von Diktaturen oder der Durchsetzung von Reformen beitrugen. Die Politisierung der Studenten muß aus dem Mangel an geeigneten Institutionen erklärt werden, die das jugendliche Aufbegehren in die rechten Bahnen hätten lenken können, und auch aus der Tatsache, daß die übrigen Schichten der Bevölkerung eher eine passive Haltung einnahmen. Zudem ergab sie sich wohl aus dem Umstand, daß die Studentenschaft zum großen Teil aus den von der herrschenden Staatsordnung wenig beachteten mittleren Schichten der Gesellschaft hervorging. Ihr jugendliches Alter ließ die Studenten schnell in eine radikale Haltung verfallen. Die amerikanische Jugend, die als Ganzes bisher keinerlei ausschlaggebenden Einfluß besessen hatte und lediglich mit Rhetorik und guten Ratschlägen bedacht wurde, begann nun als einheitliche Schicht Gestalt anzunehmen. Die Studenten stammten im allgemeinen aus Gesellschaftsklassen, die nach einer Besserstellung strebten, und das Leben in der Stadt und innerhalb einer akademischen Gemeinschaft machte es ihnen möglich, organisiert vorzugehen. In der Zeit, die uns hier beschäftigt, schwankte die Jugend im allgemeinen zwischen zwei Extremen: zwischen militanter Zugehörigkeit zu kleinen, ideologisch festgelegten Gruppen (die in ihrer Einstellung zu starr und zu extremistisch waren, um eine breite Anhängerschaft im Volke gewinnen zu können) und der Teilnahme an umfassenden Bewegungen, die in breiten Schichten der Bevölkerung Widerhall fanden, weil sie konkrete, mit der Entwicklung der einzelnen Länder eng verbundene Ziele verfolgten. Im letzteren Fall wurde die Studentenschaft zur wichtigen, für den Gang eines Ereignisses oft entscheidenden Kraft (wenngleich sie unmittelbar darauf die Möglichkeit zu verlieren pflegte, weiter auf die Kontrolle der Innenpolitik Einfluß auszuüben). Zuweilen führten die Erfahrungen und die Freude am militanten Einsatz, die man während der Studienjahre erworben hatte, dazu, daß sich ganze Kader herausbildeten und den neuen Volksparteien eingliederten (eine dieser Parteien, die APRA in Peru, ging unmittelbar aus den Kampagnen der peruanischen Studentenvereinigung hervor) oder dem fortschrittlichem Flügel gewisser traditionsgebundener Parteien anschlössen (wie die Battle-Bewegung innerhalb der uruguayischen Colorado-Partei). Das jugendliche Rebellentum, besonders wenn es keine Gelegenheit zur stetigen militanten Betätigung in der Politik fand, brachte viele Studenten in eine kritische Lage: mit vorzeitig abgebrochenem Studium, einem Gefühl des Gescheitertseins, sahen sie sich als Erwachsene vor die Notwendigkeit gestellt, auf irgendeine Weise ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Anderen wieder verhalf es dazu, ihren kritischen Blick zu schärfen, eine unabhängige und kämpferische Haltung zu bewahren, die sie befähigte, später wertvolle Beiträge intellektueller, literarischer und anderer Art zu leisten. Sehr oft hat das Außenseitertum und die allzu lange militante Betätigung jugendlicher Gruppen (in einem Durchschnittsalter, das ihnen in höher

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entwickelten Ländern von vornherein eine solche Betätigung verwehrt hätte) auch noch andere Ursachen: es fehlte an konkreten beruflichen Aussichten, und die politisch und wirtschaftlich führenden Kreise zeigten sich der jungen Generation gegenüber als zu wenig aufgeschlossen. Wahrscheinlich haben sich auch oft die während der Studienzeit entwickelten Ambitionen entscheidend auf die spätere Haltung ausgewirkt und radikale Einstellungen begünstigt. Die Forderungen der sogenannten Mittelklassen Im jugendlichen Alter haben gewisse, aus diesen Klassen stammende Gruppen eine ziemlich einheitliche radikale Haltung eingenommen, so wie es eben beschrieben wurde. Dagegen ist bei den sogenannten Mittelklassen keinerlei einheitliche politische Einstellung zu beobachten. Nach einer weitverbreiteten vorgefaßten Meinung sollten diese Klassen als mäßigendes Element wirken und sich günstig auf die Herausbildung oder den Bestand demokratischer Regierungsformen auswirken. Doch ist eine solche Ansicht nicht stichhaltig. Sehen wir uns die verschiedenen Ursprünge dieser Klassen, ihre inneren Zusammenhänge und die Stabilität ihres ›Status‹ an. Zu ihnen gehörten kleine Kaufleute, Handwerker und kleine Werkstattbesitzer, öffentliche und private Angestellte, Vertreter freier Berufe, kleine Hausbesitzer, Rentner usw. Sie konnten von europäischen Einwanderern abstammen oder von Bauern, die in die Stadt abwanderten. Sie konnten sogar Träger verschiedener kultureller Traditionen sein. Alles in allem ein zu buntes Gemisch, als daß ein einheitliches Verhalten von ihnen zu erwarten wäre. Allerdings forderten sie alle von der Regierung Maßnahmen zu ihren Gunsten, und sie alle wünschten im allgemeinen, daß ihre Kinder durch eine gute Ausbildung oder auf anderem Wege einmal eine bessere Stellung eroberten als sie selbst. Ihre kulturelle Welt war beschränkt, ihr Informationsniveau niedrig. Daraus erklärte sich oft ihre rein gefühlsmäßige Reaktion, ihre Anfälligkeit für Vorurteile oder ihre Neigung zu Verallgemeinerungen in der Beurteilung der Dinge. Die Rentner und andere Personen mit festen Einkünften zeigten eine wachsende Unzufriedenheit angesichts der Geldentwertung; dazu gesellte sich der Groll darüber, daß es den organisierten Arbeitern relativ leicht gelang, eine entsprechende Erhöhung ihrer Löhne zu erreichen. Um ihr unterschiedliches Verhalten gegenüber der wirtschaftlichen Entwicklung erklären zu können, hat man sie in ›alte‹ und ›neue‹ Mittelklassen, Abhängige und Unabhängige, zu unterteilen versucht. (Die Unabhängigen – Kleinerzeuger, Freiberufliche etc. – sollen dabei eine Erhöhung der wirtschaftlichen Produktivität bewirkt haben, da sie nur durch größere eigene Leistung mehr verdienen konnten. Die Abhängigen – Beamte zum Beispiel – sollen durch ihre erzwungenen Gehaltserhöhungen zu einer Verminderung des für Investitionen zur Verfügung stehenden Volkseinkommens beigetragen haben, was auf lange Sicht zur teilweisen oder völligen Stagnation vieler Volkswirtschaften geführt haben soll.) Aber nicht einmal so gesehen ist die Unterteilung allzu nützlich, wenn man auf diesem

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Wege das politische Verhalten der Mittelklassen erklären möchte, und man erlebt dabei manche Überraschung. In manchen Fällen wurden die Angehörigen dieser Schichten geschickt zur Ausweitung politischer Organisationen ausgenutzt (das war bei den Beamten leichter als bei den übrigen Gruppen); in anderen Fällen haben sie (besonders die Freiberuflichen) radikale Haltungen unterstützt oder sie befürworteten (wie die von der Inflation betroffenen Kreise oder die durch die Steuerlawine beunruhigten Kleinbesitzer) ›starke‹ Regierungen. Sehr oft brachte die Verschlechterung ihrer Lage sie dazu, jeder Aussicht auf eine Änderung zuzustimmen, ohne jedoch zuvor die möglichen Folgen zu bedenken. In Chile trieb der Verproletarisierungsprozeß die Mittelklassen immer mehr in die Arme der Linken. In Mexiko trugen sie trotz eines gewissen Wohlstandes zum Sturz von Porfirio Díaz und zur Entfesselung der Revolution bei, da sie eine größere Beteiligung an der Macht forderten. In Brasilien unterstützten sie den Staatsstreich, der im Jahre 1930 Vargas an die Macht brachte. In Uruguay trugen sie zur Stärkung der Battle-Bewegung als regierender Partei bei und von da an zum langsamen Niedergang eines Staates, der sich, ohne eine Steigerung der Produktion erreichen zu können, ständig neue soziale Lasten auflud. Wegen ihrer Neigung zu vereinfachenden und schematischen Urteilen haben die Mittelklassen sowohl den politischen Fortschritt als auch die Verbreitung von Rassenvorurteilen und die Propaganda für Gewaltlösungen gefördert. Um genauere Angaben über diese Gesellschaftsschicht machen zu können, müssen wir das Verhalten jeder einzelnen Untergruppe und die verschiedenen Nuancen innerhalb dieser untersuchen. Bei den Handwerkern zum Beispiel ist ein Unterschied zwischen dem theoretischen Radikalismus gewisser europäischer Einwanderer und einer in der Praxis konservativen Haltung zu beobachten. Der kleine Kaufmann setzte sich fast immer die schnelle Erwerbung von Reichtum zum Ziel, und sein politisches Verhalten wurde davon bestimmt, wie weit er seine Bestrebungen verwirklichen konnte. Die Ruhegehaltsempfänger, die Rentner, brachten angesichts der ständigen Verschlechterung ihrer Lage ihre Unzufriedenheit durch eine oppositionelle Haltung zum Ausdruck, die unvorhersehbare Folgen haben konnte. Die Forderungen jeder Gruppe nach einer Verbesserung ihre Lage führten im allgemeinen zu einem künstlichen Wachstum der politischen Organisation, um solchen Schichten, die von der privaten Wirtschaft nicht absorbiert wurden, Beschäftigungsmöglichkeiten zu verschaffen. In allen diesen Fällen wirkte sich der Wille zu sozialem Aufstieg und wirtschaftlicher Besserstellung – nicht nur der sogenannten Mittelklassen, sondern auch anderer breiter Volksschichten – in Lateinamerika als Ballast aus, der die politische Entwicklung behinderte und die staatliche Verwaltung in ihrer Leistungsfähigkeit beeinträchtigte. Es entstand ein übermäßig großer Beamtenapparat, dessen Mitglieder nicht immer über eine geeignete Ausbildung und Befähigung verfügten und oft nur eingestellt wurden, um neue Mitglieder

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für die Partei zu gewinnen, die gerade an der Macht war. Wie wir im letzten Kapitel sehen werden, führen diese Umstände gelegentlich zu schweren Krisen. Die Industriellen und die junge Macht der Gewerkschaften Zu Beginn der Arbeitskämpfe in Lateinamerika sah man, getreu dem europäischen Vorbild, den Hauptfeind im Arbeitgeber, das heißt im Industriellen und Unternehmer. In weltanschaulich allzu engstirnigen Kreisen behielt man diese Einstellung lange Zeit hindurch bei. Inzwischen ging der Arbeitskampf hauptsächlich um die Aufrechterhaltung des Lohnniveaus, das ständig durch die Inflation bedroht war. Trotz des Widerstandes gewisser Führer der traditionellen Linken kam es dann schließlich in der Praxis zu einem immer ausgeprägteren Bündnis zwischen Industriellen und Arbeitern, in dem Bestreben, die einheimische Industrie zu fördern und Maßnahmen gegen die ausländische Konkurrenz zu erreichen. Sehr bald lernten es die Industriellen, die Lohnforderungen der Arbeiter nicht mehr abzulehnen, sondern zuweilen sogar indirekt zu unterstützen, um günstige Regierungsmaßnahmen zu erzwingen oder um die Preise in viel stärkerem Maße zu erhöhen, als die gewährten Lohnerhöhungen es rechtfertigten. In Mexiko (während des Industrialisierungsprozesses nach der Revolution), in Brasilien (nach dem Staatsstreich vom Jahre 1930), im Argentinien Peróns, in Uruguay und auch in anderen Ländern befürworteten schließlich sowohl die Industriellen als auch die Arbeiter den staatlichen Interventionismus, den wirtschaftlichen Nationalismus, die allgemeine Förderung der Wirtschaft und auch eine Ausweitung des heimischen Konsums. Außer in Mexiko und in Brasilien hing dieses heikle Bündnis immer von den Gegebenheiten der jeweiligen Lage ab und führte oft genug dazu, daß die Industriellen manche politische Kampagne besonders kräftig unterstützten und die Wahlstimmen der Arbeiterschaft im gleichen Sinne eingesetzt wurden. Formen der politischen Aktion und die Organisation der politischen Parteien Über den Hinweis auf gewisse konkrete Veränderungen im politischen Leben hinaus müssen die Methoden der politischen Aktion einer ins einzelne gehenden Analyse unterzogen werden. Wie bereits erwähnt, stellt Mexiko einen Sonderfall dar, der gesondert betrachtet werden muß. In anderen Ländern konnten die Reformen einzelner Politiker eine Aufstauung von Spannungen verhüten. Manchmal war der Bruch mit der Legalität – wie 1930 in Brasilien – etwas mehr als lediglich ein Staatsstreich (wie sie in Lateinamerika so häufig sind) und hatte gleichzeitig die Verdrängung der herrschenden Oligarchie aus ihren Machtpositionen und das Eintreten einer spontanen Koalition neuer Kräfte für weitreichende Reformen im Gefolge. Um die Bestandsaufnahme des politischen Lebens in Lateinamerika in dieser Epoche und noch etwas über sie hinaus abzuschließen, bleiben noch drei Aspekte, die gesondert untersucht werden müssen.

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I. Das Aufkommen der Volksparteien Die Gründung dieser Parteien entsprach der Notwendigkeit, Formen der politischen Aktion zu entwickeln, die es möglich machten, im Rahmen des hergebrachten republikanischen Parlamentarismus an die Macht zu gelangen. Unter der Bezeichnung Volksparteien sind eine ganze Anzahl organisierter Bewegungen zu verstehen. Einige von ihnen verdankten, wie bereits erwähnt, ihre Entstehung dem Zusammenschluß politisch aktiver Studentengruppen. Allerdings ist man dabei bemüht, den Ballast allzu radikaler ideologischer Anschauungen, die eine Breitenwirkung verhindern könnten, über Bord zu werfen, und gründet allen Klassen zugängliche Bewegungen mit breiter Grundlage, die gute Wahlerfolge versprechen. So verhielt es sich mit der APRA (Alianza Popular Revolucionaria Americana), die sich nach dem vergeblichen Versuch, eine kontinentale Bewegung auszulösen, damit begnügte, lediglich in Peru zu wirken. Die APRA dachte sich wirkungsvolle Propagandamethoden aus (eine besondere Art des Grüßens; Geburtstagsfeier für ihren Vorsitzenden Haya de la Torre in Form eines Volksfestes) und organisierte sich straff und diszipliniert. Die lange Lebensdauer dieser Partei, die mehrmals beinahe an die Macht gekommen wäre, hat dazu geführt, daß sie sich einerseits abgenutzt und andrerseits ihre ursprünglichen Ziele aufgegeben hat. Eine ähnliche Bewegung, die schneller wieder zerfiel, aber einmal an die Regierung kam, war die Kubanische Revolutionspartei. Von ihr löste sich später eine Gruppe (unter Chibás), in der sich Fidel Castro als Student politisch betätigte. Auch die von Rómulo Betancourt (Präsident von 1945–48 und 1959–64) angeführte Demokratische Aktion in Venezuela gehört zu dieser Art Parteien. Eine weitere Volkspartei entstand in Paraguay unter der Führung des Obersten Rafael Franco, der im Chacokrieg gegen Bolivien zu hohem Ansehen gekommen war. Der linke Flügel dieser Partei hat unter der Sammelbezeichnung ›FebruarRevolutions-Partei‹ verschiedentlich, allerdings vergeblich, versucht, an die Macht zu gelangen. II. Das Problem der Ideologien und die Haltung der nach europäischem Vorbild entstandenen Linksparteien Etwa gegen Ende des 19. Jahrhunderts machten sich in Lateinamerika die ersten sozialistischen Strömungen bemerkbar. Die Gründung der Zweiten Internationalen führte zur Entstehung sozialistischer Parteien. Abgesehen von der Chilenischen Sozialistischen Partei waren sie aber nicht fähig, eine größere Mitgliederzahl zu erwerben, sich durchzusetzen und repräsentative Bedeutung

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zu erlangen. Die sozialistischen Parteien in Argentinien und Uruguay sind klein. Der Grund dafür ist darin zu suchen, daß die linken Flügel der argentinischen Radikalen Partei und der urugayischen Colorado-Partei ähnliche Ziele vertreten wie die Sozialisten, und diese einem übertriebenen Intellektualismus huldigen, der ihnen den Kontakt mit ihrer Umwelt erschwert. Die Kommunistische Partei konnte sich in Chile gut entwickeln, vielleicht weil es eine zahlenmäßig starke Bergarbeiter- und Industriearbeiterschaft gibt und die Klassenschranken stärker ausgeprägt sind als in anderen Ländern Lateinamerikas. Ein wenig geringer war der Einfluß der Kommunistischen Partei in Brasilien, wo sie allerdings einen unerwarteten Aufschwung erlebte, als Luis Carlos Prestes sich ihr anschloß (er war der Anführer eines berüchtigten Rebellentrupps, der quer durch Brasilien zog und bei zahlreichen Gelegenheiten weit besser ausgerüstete Regierungstruppen schlagen konnte). Doch im allgemeinen befanden sich die Kommunistischen Parteien in den Händen von Führern aus der Mittelklasse. Sie verhinderten eine Erneuerung der Parteikader, zeigten sich stärker daran interessiert, ständig auf das leuchtende sowjetische Vorbild hinzuweisen, als zu erkennen, was in ihren eigenen Ländern vorging. Mehr als einmal haben Berichte Aufsehen erregt, in denen solche verbürokratisierte Parteichefs nach Moskau berichteten, daß sie richtungweisenden Einfluß auf Gewerkschaftsbewegungen ausgeübt hätten (die in Wirklichkeit gar nichts von ihnen wissen wollten), oder in denen sie voller Optimismus für sehr bald die Revolution und die Machtergreifung ankündigten. Es wäre ungerecht, wollte man die idealistischen Motive vieler Kämpfer der lateinamerikanischen Linken, die ihr Leben für die Sache einsetzten und Opfer der Verfolgungen wurden, verkennen. Die ›rote Gefahr‹ war sehr schnell als Beweggrund erschienen, um Diktaturen zu verlängern und unentschuldbare Maßnahmen zur Einschränkung der Freiheit und zur Unterdrückung von Gegnern gutzuheißen. Den größten Zulauf erhielten die lateinamerikanischen Kommunistischen Parteien gegen Ende dieser Periode, als die Vereinigten Staaten, England, Frankreich und die Sowjetunion während des Zweiten Weltkrieges Verbündete wurden. Jetzt sahen diese Parteien ihre Hauptaufgabe darin, die Alliierten zu unterstützen: sie traten für eine Politik der nationalen Einheit ein, rieten den Arbeitern von Streiks ab, weil diese sich negativ auf den Beitrag der lateinamerikanischen Wirtschaft zu den Kriegsanstrengungen auswirken mußten, befürworteten die Gründung von Waffenfabriken und die militärische Ausbildung der Jugend, schlössen Bündnisse mit führenden Politikern der Rechten, von denen sie bisher verfolgt worden waren, und beschuldigten jeden, der es für notwendig hielt, weiter gegen das nordamerikanische Vordringen in Lateinamerika zu kämpfen, als Nazi. Die Kommunistischen Parteien in ganz Lateinamerika verfolgten nun die Politik der ›Nationalen Einheit‹ oder die ›Browder-Linie‹, wie sie auch genannt wurde (nach ihrem Hauptverfechter, der damals Erster Vorsitzender der Kommunistischen Partei in den USA war). Nur in Chile lehnten die

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kommunistischen Arbeiter es rundweg ab, dem Wunsch ihrer Parteiführer entsprechend auf diese Linie einzuschwenken. Eine der gewaltigsten politischen Anstrengungen der radikalen Linken europäischen Typs führte im Jahre 1938 zur Gründung und zum Sieg der Volksfront in Chile. Von Kommunisten, Sozialisten und Radikalen unterstützt, gelangte Pedro Aguirre Cerda (1938–41), der Führer der Partido Radical (eine linke Zentrumspartei), ins Präsidentenamt. Diese Bewegung hatte Anhänger in den verschiedensten Gesellschaftsschichten gefunden: Angestellte, Industrielle, Arbeiter, Kaufleute und sogar Grundbesitzer aus dem Süden einigten sich auf einen gemäßigten Reformplan. Der frühe Tod Aguirres und die konservativere Einstellung seines Nachfolgers Juan Antonio Rios (1942–46) bereiteten der Volksfront ein Ende. Im übrigen riefen die radikalen Linken europäischer Prägung meistens kleinere Bewegungen ins Leben, die eher den Charakter von begrenzten Zirkeln trugen: reine Anarchisten, Anarcho-Syndikalisten, Anarcho-Kommunisten, Trotzkisten (die sich später in Anhänger und Gegner der kritischen Unterstützung der UdSSR aufspalten sollten), von der Kommunistischen Partei ausgestoßene Mitglieder (die sich je nach dem Grund für ihren Ausschluß in verschiedenen Gruppen zusammenschlössen) usw. Unter dem Einfluß der Entwicklung in Europa machten sich auch noch andere Ideologien in Lateinamerika bemerkbar, vor allem der Faschismus. Diese Weltanschauung machten sich einige, wie wir bereits erwähnten, mit ihren übelsten Grundzügen zu eigen, oder sie gab häufiger solchen Strömungen Anregung und Auftrieb, die ein stärkeres Eingreifen des Staates in die Wirtschaft und eine Abkehr von den westlichen Großmächten befürworteten. Neben diesen mehr intellektuellen und theoretischen Strömungen entstanden aber auch Bewegungen, die, nach einem kurzen Kontakt mit jenen, Lösungen nationaler Art mit breiter Unterstützung im Volk anstrebten und die politisch aktiv wurden, um ihre Ziele zu erreichen. III. Gelenkte Massenbewegungen Gegen Ende dieser Periode wurde es ganz offensichtlich, daß in gewissen Ländern (besonders in Argentinien) die Forderungen der breiten Volksschichten noch über das hinausgingen, was die traditionellen Linksparteien anstrebten. Ein wachsender Nationalismus und ein gesteigertes Klassenbewußtsein werden für neue Methoden der Propaganda empfänglich. So konnte Perón durch eine Politik, die in den gebildeten Kreisen auf Ablehnung stieß und den Wohlstand der breiten Volksschichten durch direkte Zugeständnisse hob, zu einem Wegbereiter neuer Verfahrensweisen in der Politik werden. Der Peronismus legte ein wenig rationales, grundsätzlich empirisches Verhalten an den Tag, schuf Mythen und suchte die Massen zu Begeisterungsstürmen hinzureißen. Da er sich in radikalen und heftigen Angriffen gegen die Intellektuellen und

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gleichzeitig gegen ›Fremdherrschaft‹ und ›Macht der Oligarchien‹ erging, ist er zuweilen auch als Linksfaschismus bezeichnet worden. Diese Bezeichnung mag übertrieben sein, aber unbestreitbar versuchten diese neuen Massenbewegungen ihren Führern einen charismatischen Nimbus zu verleihen, und sie stützten sich dabei auf einen Parteiapparat, in dem den einfachen Parteimitgliedern eine rein passive Rolle zufiel. Perón akzeptierte, wenngleich er es möglichst zu verbergen suchte, die Unterstützung weiter Kreise des argentinischen Industriebürgertums und duldete die privilegierte Stellung führender Politiker und hoher Militärs, während er selbst ein riesiges Privatvermögen ansammelte. Gewisse Gruppen der argentinischen Linken fühlen sich heute vielleicht beschämt, daß Perón ihnen zuvorkam, die soziale Lage rechtzeitig erkannte und sie auszunutzen verstand, um seine Macht zu festigen. Jetzt streben sie eine völlige Rehabilitation der Person des Diktators an, allein weil sein Name zur Kampfparole für weite Kreise des argentinischen Volkes geworden ist. Aber so wie sie früher geirrt haben, so irren sie auch jetzt wieder mit dieser überstürzten Rehabilitation. Der Peronismus hat, ebenso wie andere Formen der sogenannten gelenkten Massenbewegungen, kollektive Gefühle eigennützig ausgeschlachtet und versucht, sie unter Kontrolle zu halten, ohne die Massen wirklich am politischen Leben zu beteiligen; es handelte sich um nichts anderes als um politische Demagogie, die unfähig war, eine wirksame, planvolle Arbeit zu leisten. Vierte Periode Die neueste Zeit Diese Periode reicht etwa vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis November 1964 (Abschluß der vorliegenden Arbeit). In manchen Fällen wird es, wie bereits angekündigt, notwendig sein, heutige Verhältnisse durch einen Rückblick in die Vergangenheit aufzuhellen. Wir haben für die Darstellung dieser Periode auf eine Einteilung in verschiedene Kapitel verzichtet, einmal, weil der hier untersuchte Zeitraum nicht sehr lang ist, zum anderen, weil manche wichtige Erscheinungen eindeutig die Fortsetzung von Vorgängen sind, die bereits in der vorigen Periode einsetzten, und dann auch, weil verschiedene revolutionäre Umwälzungen in fast journalistischem Stil beschrieben werden müssen, da sie von Fachwissenschaftlern noch nicht völlig erforscht worden sind. Diese abschließende Synthese wird aus den vorgenannten Gründen gewiß schneller veralten und eher überholt sein als die früheren Kapitel. Aber es soll trotzdem darauf hingewiesen werden, wie wichtig es ist, daß geschichtliche Untersuchungen nicht auf die Analyse der Gegenwart verzichten, und dies aus zwei Gründen: als Anregung dazu, den untersuchten Fragenkreis immer wieder neu zu überdenken, und als Aufforderung, die historische Forschung mit der anderer gesellschaftswissenschaftlicher Disziplinen, deren Ziel die Analyse der heutigen Gegebenheiten ist, zu koordinieren.

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15. Die neueste Zeit Die neue Weltlage und die Revolutionen in Lateinamerika Das Ende des Zweiten Weltkrieges brachte den Aufstieg der USA zur Führungsposition innerhalb der westlichen Welt und den Aufstieg der UdSSR als rivalisierender Weltmacht mit ständig größerem Einflußbereich. Diese Spaltung der Welt in zwei Blöcke, die zuweilen einen neuen totalen Krieg heraufzubeschwören droht, hatte auf die eine oder andere Weise auch ihre Rückwirkungen in Asien, Afrika und Lateinamerika. Gleichzeitig vollzog sich ein anderer Prozeß, der irrtümlicherweise mit dem eben beschriebenen Vorgang identifiziert worden ist: die zunehmende Auflehnung der unterentwickelten Völker der ganzen Welt gegen die Verschlechterung ihres Lebensstandards im Vergleich zu den großen Industrienationen. Zuweilen stehen diese Kämpfe im Zusammenhang mit der endgültigen Beseitigung kolonialer Abhängigkeiten und fast immer mit der Forderung nach Wirtschaftshilfe und besserer Behandlung bei der Kommerzialisierung der Erzeugnisse. Die Rivalität zwischen USA und UdSSR einerseits und der Kampf um Entwicklung andererseits verleihen der Außenpolitik neue Bedeutung und lassen große Projekte für technische Hilfeleistung oder Pläne für organisierte Subversionstätigkeit entstehen. Die internationalen Spannungen weckten jetzt ein neues Interesse an den Konflikten und Revolutionen in jedem einzelnen Land, je nachdem, welcher Außenpolitik sich dieses verschrieb. In diesem Zusammenhang entstanden drei revolutionäre Bewegungen von besonderer Bedeutung und erlangten internationale Beachtung. Wir werden sie ihrer Reihenfolge nach betrachten.

I. Die Revolution in Guatemala Die Revolution im Jahre 1944 in Guatemala war eine Reaktion auf lange Jahrzehnte politischer und sozialer Rückständigkeit. Zwischen 1931 und 1944 war das Land der Diktatur des Präsidenten Jorge Ubico unterworfen, die sich durch Despotie und Terrormaßnahmen auszeichnete. Ubico war eigentlich ein Vertrauensmann der nordamerikanischen Interessen gewesen (er machte der United Fruit Company große Konzessionen), aber gegen Ende seiner Regierungszeit geriet er in einigen Punkten in Gegensatz zur Politik des Außenministeriums der Vereinigten Staaten. Auf sozialem Gebiet ist zu erwähnen, daß die Eingeborenen weiter zur Fronarbeit gezwungen wurden, obwohl diese angeblich abgeschafft war. Indianer mit wenig oder gar keinem Landbesitz (die überwältigende Mehrheit) mußten eine bestimmte Anzahl von Tagen auf den Haziendas arbeiten. Wenn die in ihrem Arbeitsbuch verzeichnete Zahl von Tagewerken nicht dem gesetzlich festgelegten Minimum entsprach, wurden sie wegen ›Landstreicherei‹ zu Gefängnisstrafen verurteilt. Ubico

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bekämpfte die Inflation mit dem Verbot, die – äußerst niedrigen – Löhne zu erhöhen, ja sogar mit Lohnsenkungen. Alle erwachsenen männlichen Personen mußten zwei Wochen unentgeltlich am Bau der Staats- und Gemeindestraßen arbeiten, es sei denn, sie kauften sich von dieser Verpflichtung frei. Ubico und seine engsten Mitarbeiter bereicherten sich durch die Einführung von Monopolen und den Erwerb von Landbesitz zu erzwungen niedrigen Preisen. Die United Fruit Company hatte glänzende Konzessionen für die Nutzung von Ländereien an der Westküste Guatemalas mit einer bis 1981 vorgesehenen Garantie gegen Steuererhöhungen erhalten. Sie hatte dafür den Bau eines modernen Hafens an der Pazifikküste zugesagt, verlor aber das Interesse daran, als sie 40% der Aktien der International Railways of Central America erwerben konnte (die die Verbindung nach Puerto Barrios am Karibischen Meer herstellte), und kaufte sich durch Zahlung von 50000 Dollar von ihrer Zusage los. Das wirkte sich zum Schaden der Kaffeepflanzungen aus, die wegen ihrer Lage eine Transportmöglichkeit für ihre Erzeugnisse zum Pazifik benötigten. Im Jahre 1944 kam es zu einer Militärrevolte gegen Maximiliano Hernández Martínez, den Diktator der Nachbarrepublik El Salvador. Infolgedessen verstärkte sich die Agitation gegen Ubico. Rechtsanwälte und Lehrer stellten Forderungen auf. Am 26. Juni, einem Samstag, organisierten die Studenten eine Kundgebung, die starken Widerhall im Volke fand, und traten in den Streik. Diesem schlössen sich viele Lehrer und Arbeiter an. Bei den ersten Zusammenstößen bewies die Polizei ihre übliche Grausamkeit, aber am 29. Juni entschließt sich Ubico zum Rücktritt. General Federico Ponce stellt sich an die Spitze eines militärischen Dreierausschusses, der sich bemüht, das Regime aufrechtzuerhalten. Er wird zum Präsidenten ernannt. Das bringt die Masse des Volkes in Bewegung, an deren Spitze sich Dr. Juan José Arévalo stellt. Streiks und Aufstandsbewegungen scheitern. Aber die Offiziere der Armee, angeführt von Hauptmann Jacobo Arbenz und Major Francisco Javier Arana, bereiten nun einen Staatsstreich vor, der schließlich mit Unterstützung der Studenten und weiter Kreise der Bevölkerung erfolgreich durchgeführt wird. Es wurde eine Revolutionsjunta aus zwei Militärs – Arana und Arbenz – und einem Zivilisten – Jorge Toriello – gebildet. Im Dezember 1944 wurde Arévalo (1944/45) mit überwältigender Mehrheit zum Präsidenten gewählt, und er nahm eine Reihe von Reformen in Angriff. Die Unterstützung der Armee war ihm vorläufig sicher, da er Arbenz zum Kriegsminister und Arana zum Kommandierenden der Armee ernannte. Der neue Reformplan sah auch eine Alphabetisierungskampagne vor, die auf den hartnäckigen Widerstand der alten führenden Klassen stieß. Einer der zahlreichen Protestbriefe, die in der Presse erschienen, ist in dieser Hinsicht sehr aufschlußreich: »Welchen Nutzen hätten die Indianer und unser Land davon, wenn sie lesen und schreiben könnten? Können sie Bücher oder Zeitschriften kaufen? Natürlich nicht ... Sie würden ihre Überlegenheit dazu ausnützen, sich zum Anführer andrer Indianer zu machen und dem Besitzer der Hazienda alle

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möglichen Schwierigkeiten bereiten ... Aufgrund seines Atavismus zieht der Indianer sein primitives Leben vor ... Wenn er nach außen ein Interesse daran bekundet, daß man ihn zivilisieren will, so nur, weil er einen materiellen und nicht etwa einen geistigen Gewinn davon erhofft.« Die Revolution nahm langsam einen sozialen Charakter an. Über die notwendigen Mittel für die Durchführung ihres Reformplanes verfügte die neue Regierung, weil sie den Besitz von Staatsbürgern der Achsenmächte enteignete: ein Drittel der Kaffeepflanzungen, Weideland und einige Zuckerrohrplantagen. Die Gesetzgebende Versammlung verbot die Veräußerung von Staatseigentum, um mit der Agrarreform beginnen und einen sozialen Wandel einleiten zu können. Arbeitervereinigungen wurden ins Leben gerufen und Sozialgesetze erlassen. Man gründete ein ›Institut zur Förderung der Wirtschaft‹. Gegen Ende des Jahres 1948 waren 31 neue Elektrizitätswerke erbaut und 58 Gemeinden mit Trinkwasseranlagen versorgt worden. Schulen und Krankenhäuser wurden gebaut. Die unabhängige, antikolonialistische Außenpolitik Guatemalas geriet in immer stärkeren Gegensatz zum nordamerikanischen State Department. Die Lage spitzte sich in dem Maße zu, wie im Interesse der Agrarreform der Besitz der United Fruit Company immer stärker in Mitleidenschaft: gezogen wurde. Die Revolution radikalisierte sich, und von diesem Zeitpunkt an begann eine Gruppe unter dem künftigen Präsidenten Arbenz eine Politik der schrittweisen Annäherung an die UdSSR (eine Politik, die von Arévalo abgelehnt wurde). Die Großgrundbesitzer und gewisse Kreise der Armee versagten der Radikalisierung des Regimes ihre Unterstützung. Bis 1949 waren achtzehn gescheiterte Militärverschwörungen gegen Arévalo zu verzeichnen. Große Erschütterungen löste die Ermordung von Oberst Arana aus, der im Gegensatz zu Arbenz die gemäßigte Linie innerhalb der Armee vertreten hatte. Im Jahre 1951 wurde Arbenz, als Nachfolger Arévalos, Präsident (1951 bis 1954). Seine Politik führte zu immer heftigeren Protesten und Beschuldigungen von Seiten Nordamerikas, das Regime befinde sich auf dem Wege zum Kommunismus. Die Versuche der guatemaltekischen Regierung, im Ausland Waffen zu kaufen, stießen auf den energischen Widerspruch der Vereinigten Staaten, die es durchsetzten, daß kein westliches Land Waffen an Guatemala verkaufte. Die USA konfiszierten sogar Waffen (im Transit im Hafen von New York und in dem einen oder anderen Fall auf hoher See), die für Guatemala bestimmt waren. Die Auseinandersetzung fand im Jahre 1954 ein Ende, als Oberst Castillo Armas (Präsident von 1954–57) von Honduras aus in Guatemala einmarschierte, ausgerüstet mit Waffen und Flugzeugen, die von den USA zur Verfügung gestellt worden waren. Zwar wurde vorerst jede nordamerikanische Hilfe bei diesem Unternehmen dementiert, doch ist sie heute durch zahlreiche Dokumente, unter anderem die Memoiren des damaligen Präsidenten Eisenhower, erwiesen. Nicht nachgewiesen ist dagegen, daß die damalige Regierung in Guatemala kommunistisch war.

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Das Eingreifen Nordamerikas löste in Lateinamerika eine Welle der Kritik aus und ließ manche (darunter viele künftige Anführer der kubanischen Revolution) zu der Überzeugung gelangen, die einzige Möglichkeit, ein Gegengewicht gegen die nordamerikanischen Interessen zu schaffen, liege in einer Annäherung an das sowjetische Lager. Von 1954 an begann in der guatemaltekischen Innenpolitik, trotz kurzlebiger Anstrengungen zur Verhütung dieser Entwicklung, ein Prozeß der Gegenrevolution, des sozialen Rückschritts und wechselnder Militärdiktaturen. II. Die Revolution in Bolivien Wie in Guatemala, so kommen auch bei der bolivianischen Revolution Konflikte zum Ausbruch, die schon seit langem schwelten: ein jahrhundertealtes System halbfeudalistischen Großgrundbesitzes und kapitalistische Methoden bei der Erzförderung (angewandt etwa in den letzten fünfzig Jahren), die der Bevölkerung des Landes keinerlei Nutzen einbringen. Bolivien kannte andrerseits kein Nationalbewußtsein, das ja überhaupt in den lateinamerikanischen Staaten nach der Unabhängigkeitserklärung kaum anzutreffen ist. Sein Staatsgebiet war im Verlauf von drei Auseinandersetzungen, in denen es um drei für die Entwicklung des Industriekapitalismus wichtige Produkte ging, stark verringert worden: durch den Pazifikkrieg (1879–1881) gegen Chile, in dem Bolivien seine Salpeterprovinzen und damit zugleich den direkten Zugang zum Meer verlor; den Konflikt mit Brasilien (1903), nach dem es das an Kautschuk reiche AcreTerritorium abtrat, und den Chacokrieg (1932–35) gegen Paraguay, hinter dem eindeutig das Interesse an den Erdölvorkommen stand. Der Aufschwung in der Zinnförderung stand im Zusammenhang mit den Entdeckungen des deutschen Chemikers Justus v. Liebig, der herausfand, daß man Nahrungsmittel in mit Zinn ausgekleideten Blechdosen konservieren konnte. Daraufhin setzte schnell die Massenproduktion von verzinntem Eisenblech ein. Die Lage der Arbeiter in den Zinngruben ließ sehr viel zu wünschen übrig. Schon früh hatte man jeden Ansatz zur gewerkschaftlichen Organisation unterdrückt (die ersten Grubenarbeiterschlächtereien ereigneten sich im Jahre 1923 und gipfelten in den Vorkommnissen von Catavi im Jahre 1942). Der Chacokrieg war lang und verlustreich. Er bewies die Unzulänglichkeit des alten bolivianischen Berufsheeres und den Mut der jungen Offiziere, den absoluten Mangel an Verkehrsverbindungen, die wirtschaftliche Schwäche des Landes und die rückständige Sozialstruktur. Im Jahre 1939 gelangte Oberst Germán Busch Becerra (1937–39), Chef des Heeresgeneralstabs, durch einen Staatsstreich an die Macht. Busch verlangte nun von den Grubenunternehmern, daß sie die Devisen, die durch Mineralexporte erlöst wurden, an die Zentralbank verkauften. Dieser Versuch, eine Devisenkontrolle einzuführen, nahm in einem

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Dekret vom 7. Juni 1939 konkret Gestalt an. Ende August wurde Präsident Busch unter reichlich mysteriösen Umständen in seinem Hause tot aufgefunden; das Dekret wurde nicht in Kraft gesetzt. Wenige Tage später brach der Zweite Weltkrieg aus, und damit begann für die großen Grubenbesitzer eine Zeit noch größerer Gewinne. Ausrichtung und Tragweite der ideologischen Strömungen veränderten sich nun. Die anarchosyndikalistischen und marxistischen Minderheiten mit ihrem sehr begrenzten Einfluß verloren an Bedeutung, und größere Organisationen traten an ihre Stelle. Die PIR (Partido de Izquierda Revolutionärin – Partei der Revolutionären Linken), die ursprünglich dem peruanischen Aprismus nahegestanden hatte, schwenkte auf die stalinistische Linie ein, die allerdings während des Zweiten Weltkrieges wenig Anklang bei den Minenarbeitern fand. Die Trotzkisten dagegen gewannen Anhänger unter den Bergleuten. Die nationalistische Tendenz schlug sich in der MNR (Movimiento Nacionalista Revolucionario = Nationalrevolutionäre Bewegung) und einer weiter rechts stehenden Gruppe, der Bolivianischen Sozialistischen Falange, nieder. Am 20. Dezember 1942 schoß die bolivianische Armee mit Maschinengewehren in eine Bergarbeiterkundgebung in Catavi, zu der sich 8000 Männer und Frauen zusammengefunden hatten, und richtete ein furchtbares Blutbad an. Eine gemeinsame Verschwörung der MNR und einiger Mitglieder der Armee führte im Jahre darauf zum Sturz des Generals Peñaranda (Präsident von 1940 bis 1943) und der Bildung einer Regierung unter Major Villaroel (1943–46), in der die MNR mit einigen Ministern vertreten war. Im Jahre 1945 wurde ein BauernKongreß veranstaltet. Dort stellten die Delegierten der Indianer ihre Forderungen auf, und man beschloß die Abschaffung der pongaje (persönliche Dienstleistung des Bauern von mehreren Tagen pro Woche auf den Ländereien des patrón, als Gegenleistung für die Nutzung einer kleinen Parzelle). Die Grubengesellschaften wurden verpflichtet, Wohnungen für die Arbeiter zu bauen. Aber die Regierung war nicht stark genug. Am 21. Juli 1946 wurde sie durch einen konterrevolutionären Staatsstreich gestürzt. Nach brutalen Maßnahmen, zu denen die grausame Ermordung Villarroels und einiger seiner Mitarbeiter gehörte, kam so wieder die bolivianische Oligarchie an die Macht. Die überlebenden Führer der MNR mußten emigrieren. Im Jahre 1949 wurde der bisherige Vizepräsident, Mamerto Urriolagoitía, Präsident (1949–51). Sehr bald mußte er sich mit einem Streik der Bergarbeiter auseinandersetzen, der wegen der Verbannung ihres Hauptanführers Juan Lechín, eines gewählten Senators der MNR, ausbrach. In den Präsidentenwahlen vom Jahre 1951 konnte sich die MNR durchsetzen, obwohl das Wahlrecht auf Personen eingeschränkt war, die lesen und schreiben konnten und ein persönliches Einkommen hatten (von den 3200000 Einwohnern Boliviens besaßen nur 215000 die Staatsbürgerrechte, und von diesen gingen nur 126000 zur Wahl).

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Dieser Wahlsieg läßt sich zum Teil damit erklären, daß die Mittelklassen sich der absurden Privilegien der Minenbesitzer und der kritischen Lage der Eingeborenen und der Bauern bewußt geworden waren. Andrerseits ergaben Schätzungen für das Jahr 1950, daß es in Bolivien 80% Analphabeten gab, 76000 Volksschüler (bei 600000 Kindern im Schulalter) und 5500 Oberschüler. Seltsamerweise hatte das spärlich bevölkerte Land sieben Universitäten, allerdings besaßen sie alle ein niedriges Niveau und waren hauptsächlich mit der Ausbildung von Rechtsanwälten befaßt. In diesem Land mit seinen großen Mineralreichtümern gab es keine einzige Ausbildungsstätte für Bergbauingenieure und nicht einen einzigen Lehrstuhl für Geologie. Da Präsident Urriolagoitía sich weigerte, den in der Wahl siegreichen Kandidaten die Macht zu übergeben, blieb kein anderer Ausweg als die Revolution. Die durch viele Jahre hindurch aufgestauten Spannungen brachen sich in einer Explosion Bahn. Zwischen 1900 und 1929 hatte Bolivien Zinn im Werte von rund 1,8 Milliarden Bolivianos exportiert, von denen schätzungsweise höchstens rund 104 Millionen (in Form von Exportabgaben) im Lande verblieben. Wenn man nun bedenkt, daß die Staatshaushalte in diesen Jahren insgesamt auf ungefähr 676 Millionen angestiegen sein müssen, so ergibt sich eindeutig, daß der Hauptwirtschaftszweig des Landes nur zu 15% zu den Staatsausgaben beitrug. Die Arbeit in den Bergwerken war die einzige wichtigere Wirtschaftstätigkeit auf Lohnbasis im Lande. Die Grubenbesitzer hielten die Löhne immer möglichst niedrig, so daß der Lebensstandard der Bergarbeiter unglaublich niedrig war. Nach der Volkszählungsstatistik von 1950 arbeiteten jedoch nur 3% der erwerbstätigen Bevölkerung im Bergbau (rund 43000), während 71% in der Landwirtschaft tätig waren. Aufgrund des vorherrschenden Latifundiensystems konnte die bolivianische Landwirtschaft jedoch nicht genug produzieren, und es mußten Nahrungsmittel eingeführt werden. Beim Kauf eines Landgutes sicherte sich der Grundbesitzer gleichzeitig Arbeitskräfte, die halbe Sklaven waren und denen er keinen Lohn zu zahlen brauchte. Daher blieb der größte Teil der bolivianischen Bevölkerung von der Geldwirtschaft ausgeschlossen (was gleichzeitig die Möglichkeit zur Ausübung freier Berufe einschränkte). Auf die Armee entfielen mehr als 45% des staatlichen Budgets, und Korruption in der Verwaltung war eine bereits traditionelle Erscheinung. All dies trug zum Ausbruch der Revolution bei, die zudem von der MNR geschickt vorbereitet worden war. Diese Partei erklärte, sie kämpfe für die »nationale Befreiung«, und dazu gehöre die Verstaatlichung der Gruben und die Bodenreform. Die Unterstützung von Seiten aller benachteiligten Schichten der Bevölkerung sicherte der Revolution den Sieg. Die alte Armee wurde aufgelöst und Bauernund Arbeitermilizen geschaffen. Eine Zeitlang schien es, als wollten die Vereinigten Staaten genau wie in Guatemala eine völlig ablehnende Haltung gegen das neue Regime einnehmen. Aber ganz allmählich änderte sich diese anfängliche Einstellung. Einmal waren die nordamerikanischen Investitionen in

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Bolivien nicht besonders umfangreich, zum anderen verhinderten die Verhältnisse im Lande schon allein, daß die Revolution sehr radikale Formen annahm. Zu den ersten Zielen der neuen Regierung gehörten die Verstaatlichung der Bergwerke, die Agrarreform, die bessere Verbindung zwischen den einzelnen Landesteilen durch den Bau neuer Verkehrswege, die Förderung der Erdölproduktion und der Nahrungsmittelerzeugung und die Umsiedlung von Bewohnern der hochgelegenen, armen Gebiete des Altiplano in die fruchtbaren Tiefländer des Ostens (die Zone um Santa Cruz). Aber es tauchten ungeahnte Schwierigkeiten auf. Jede Revolution, gleichviel welche ideologischen Grundsätze sie verficht, entwickelt sich auf unvorhergesehene Weise. Als historischer Prozeß stellt sie im wesentlichen den bloßen Bruch mit einem gegebenen Status dar, der durch eine Neuordnung der vorhandenen Elemente ersetzt wird. Diese Neuordnung erfolgt auf der Grundlage von Prozessen, welche die Revolution unterbrochen oder gefördert hat. Und damit treten die Unterschiede zwischen Ideologien und Zielsetzungen einerseits und den Möglichkeiten, sie zu verwirklichen, andrerseits offen zutage. Als die MNR an die Macht gelangt, ist sie selbst das Resultat eines wechselvollen Entwicklungsprozesses. In ihren Anfängen waren gewisse Einflüsse der faschistischen Ideologie wirksam gewesen. Später radikalisierte sie sich, paßte sich den realen Gegebenheiten an und nahm Gedankengut verschiedener Herkunft in sich auf. Bei der Revolution hatte sie sich die Unzufriedenheit der Städter mit dem politischen Radikalismus und die feste Organisation der Bergarbeiter zunutze gemacht. Durch die Aufstellung der Milizen schaffte sie ein Ventil für den jahrhundertelang aufgestauten sozialen Haß und ermöglichte die Entstehung neuer Formen charismatischer Führerschaft. Aber Bolivien war ein kleines, vom Meer abgeschnittenes Land mit großen wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten. Das unmittelbare Ergebnis der ersten radikalen Maßnahmen war nicht sehr ermutigend. Trotzdem vertraten die Vereinigten Staaten eine Zeitlang die Ansicht, es handle sich um eine ›Nazi‹Revolution (so hatten sich die ersten Berichterstatter geäußert), oder es bestehe die Gefahr eines Bündnisses mit dem Kommunismus. Am 31. Oktober 1952 unterzeichnete Paz Estenssoro das Dekret über die Verstaatlichung des Großgrubenbesitzes. Dieser befand sich damals nicht eben in voller Blüte. Als Patiño mit der Ausbeute der ›La Salvadora‹ in Catavi (einer der größten Gruben der Welt) begann, hatte das Zinnerz eine Ergiebigkeit von 5%). Diese sank bis 1941 auf 2%, bis 1951 auf 1,29% ab. Zum Raubbau kam nach der Revolution noch die Abwanderung der ausländischen Fachleute und der Mangel an notwendigen Ausrüstungen: Die Ergiebigkeit des Catavi-Erzes sank weiter ab. Nach Angaben der staatlichen Organisation COMIBOL (Bolivianische Minenkorporation) sank sie von 1,11% im Jahre 1952 auf 0,60% im Jahre 1960. Andrerseits wurden keine neuen geologischen Untersuchungen und keine Suche nach neuen Erzadern durchgeführt; zumindest nicht bis 1960, dem Jahr, in dem

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die staatliche Abteilung für Geologie geschaffen wurde. Dem muß noch hinzugefügt werden, daß zur Zeit des Verstaatlichungsdekrets die internationale Lage für die Zinnpreise nicht eben günstig war. Die Weltproduktion, deren bolivianischer Anteil immer geringer wurde, lag höher als die Nachfrage. Die folgende Tabelle zeigt die sinkende Bedeutung Boliviens als Zinnproduzent. Tabelle XI Weltzinnerzeugung in Tonnen (Nach. José Maria Centellas)54 19511958 Malaya5810060200 Bolivien3370018000 Indonesien3150023600 Kongo1390011300 Thailand97007800 Nigeria86766330 Rußland und China1340046800 Andere Länder982412470 Insgesamt178800186500

Länder wie Thailand, Nigeria und Indonesien haben bei gleichzeitigen erheblichen Kostensenkungen ihre Produktion gesteigert (dort werden Alluviallagerstätten abgebaut, während in Bolivien Schächte in Gebirgsgestein vorgetrieben werden müssen). Die Vereinigten Staaten haben riesige Zinnvorräte gelagert. Politische Wirren in Produktionsgebieten wie dem Kongo und Malaya haben zwar den Absatz des bolivianischen Erzes gefördert, aber keineswegs in beträchtlichem Umfang. Außer dem Mangel an Kapital, Fachleuten und Ausrüstungen (es waren nicht einmal Schmelzöfen für geringwertige Erze vorhanden) war Bolivien dem internationalen Druck ausgesetzt. Dieser ging von den ehemaligen Zinngrubenbesitzern aus, die sich jetzt dem weltweiten Trust angeschlossen haben, der den größten Teil der Zinnproduktion kontrolliert. Man war gezwungen, mit ihnen zu einem Übereinkommen zu gelangen und Entschädigungen zu gewähren, die monatlich von den Einkünften aus den Mineralexporten bezahlt werden. Schließlich mußte die Revolution nach ihrem Sieg die Wiedereinstellung großer Kontingente überzähliger Arbeitskräfte dulden (die aus gewerkschaftlichen oder politischen Gründen entlassen worden waren) und den steigenden Ansprüchen der Arbeiter begegnen. Der Kampf der Bergarbeitergewerkschaften stand nicht im Einklang mit den Gesamtinteressen des Staates, vielmehr stellten sie mit Lechín an der Spitze (vielleicht wollte dieser nur verhüten, daß sie anderen, extremistischen Anführern in die Hände fielen) Forderungen, die nicht immer mit den Möglichkeiten des Landes zu vereinbaren waren. Dies ist einer der Hauptgründe für die ungeheure Inflation, die nun in Bolivien einsetzte (und die letzten Endes indirekt als Ausgleichsventil wirkte).

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Auch bei der Agrarreform gab es Schwierigkeiten. Sie wurde am 2. August 1953 begonnen und litt ebenfalls unter dem Mangel an Fachleuten und Kapital. Die Bauernmilizen schraubten genau wie die Arbeiter ihre Anforderungen immer höher. Unter ihren Anführern machten sich zeitweise Anklänge an das alte Kazikentum bemerkbar. Devisen für die Einfuhr von Lebensmitteln standen nicht mehr zur Verfügung. Zu den traditionellen Anbauprodukten (Kartoffeln, Gerste, Mais und Quinua – eine typische Getreideart des Altiplano –) müssen Weizen, Speisefette, Zucker, Reis und Baumwolle hinzukommen. Das Hauptproblem der Revolution bestand darin, wie man den ursprünglichen nationalistischen und sozialen Zielen treu bleiben und im Einklang mit ihnen einen Weg für die Lösung derart vieler Schwierigkeiten festlegen konnte. Nach und nach wurden, stets abhängig von ausländischer Unterstützung, Möglichkeiten gefunden. Angesichts der veränderten politischen Weltlage hätte man zeitweise annehmen können, Bolivien werde – wie zum Teil Guatemala und später Kuba – einen unabhängigen Weg einschlagen oder sich dem Sowjetblock annähern. Wahrscheinlich hat sich Boliviens Binnenlage und die geringe Aussicht auf sowjetische Hilfe in den ersten entscheidenden Jahren in dieser Hinsicht negativ ausgewirkt. Ohne Zweifel war dies auch einer der wenigen Fälle, in denen die nordamerikanischen Fachleute und Berater das State Department davon überzeugen konnten, daß die Revolution zwar soziale Ziele verfolgte, aber nicht extremistisch war. Jedenfalls änderte sich nach ein paar Anfangsscharmützeln auf diplomatischer Ebene die Haltung der Nordamerikaner, und die Revolution machte sich dies zunutze, um auf die Karte der nordamerikanischen Auslandshilfe zu setzen. Auf die Dauer, und besonders wenn man die Änderungen in der nordamerikanischen Lateinamerikapolitik berücksichtigt, wird diese Hilfe (20 bis 25 Millionen Dollar jährlich als direkte Hilfe) nicht ausreichen und es nicht verhindern können, daß in Bolivien die Unzufriedenheit über diesen Weg zur Lösung der Schwierigkeiten wächst. Zu den Projekten der neuen Regierung gehörten auch die Entwicklung der Erdölförderung (Bolivien, das vorher Erdöl importieren mußte, ist inzwischen in kleinem Umfang zum Exportland geworden), der Bau neuer Verkehrswege (besonders der inzwischen fertiggestellten 580 km langen Straße zwischen Cochabamba und Santa Cruz im fruchtbaren und ungenutzten Gebiet der östlichen Tiefebenen), die Steigerung der Zucker-, Reis- und Speiseölproduktion. Dies alles wurde erreicht, aber nicht in einem Ausmaß, das die von der Inflation verschärften sozialen Spannungen hätte mildern können. In dem Plan für wirtschaftliche Entwicklung, der von Regierungsberatern für den Zeitraum von 1962 bis 1971 vorbereitet wurde, gab man sogar zu, daß das Bruttosozialprodukt von 122 Dollar pro Kopf der Bevölkerung im Jahre 1952 auf 99 Dollar im Jahre 1959 abgesunken war. Im Jahre 1951 exportierte das Land für 27 Dollar pro Einwohner, im Jahre 1959 waren es nur noch 16 Dollar. Der Lebenshaltungskostenindex stieg von 100 im Jahre 1950 auf 11081 im Jahre 1960 und überstieg damit bei weitem die

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begrenzten Möglichkeiten für Lohnsteigerungen. Der Staat intervenierte immer stärker in der Wirtschaft, hing dabei aber von ausländischer Hilfe ab und mußte häufig angesichts innenpolitischer Notwendigkeiten Zugeständnisse machen. Wenngleich auch die Revolution zuweilen willkürlich und intolerant vorging, so muß man doch berücksichtigen, daß in Bolivien wie in anderen Ländern Lateinamerikas die Tendenzen zur liberalen Demokratie immer nur zur Vernebelung der übelsten Ausbeutungsmethoden gedient hatten. Wenn man die Bilanz der Revolutionsperiode ziehen will, darf man ihre Erfolge nicht an Idealzielen messen, sondern muß sich vor Augen halten, daß Bolivien bei Beginn der Revolution ein Land mit einer ausgebeuteten, unwissenden indianischen Bevölkerungsmehrheit war, ein Land mit äußerst niedrigem Lebensstandard, ein Land, dessen eigene Bevölkerung nicht den geringsten Gewinn aus der Ausbeutung seiner reichen Bodenschätze zog. Die MNR war stärksten inneren Spannungen ausgesetzt und spaltete sich. Dem ersten Präsidenten Victor Paz Estenssoro (1952–56) folgte eine gemäßigtere Regierung unter Hernán Siles Suazo (1956–60). In dieser Zeit kam es zu einem schweren Zerwürfnis mit dem Anführer der Bergarbeitergewerkschaften, Lechín. Auch als im Jahre 1960 Paz Estenssoro wieder ins Präsidentenpalais einzog und Lechín Vizepräsident wurde, konnten die wachsenden Meinungsverschiedenheiten nicht behoben werden. Im Jahre 1964 wurde Paz Estenssoro zum dritten Mal Präsident, diesmal gegen den vereinten Widerstand von Siles Suazo (rechter Flügel der Bewegung) und Juan Lechín (Vertreter der Arbeiterextremisten). Beide traten in Hungerstreik und riefen zum Wahlstreik auf, hatten damit jedoch keinen Erfolg. Auch die konservative Falange, die eine gewisse Anhängerschaft in den Städten besitzt, machte sich bemerkbar. Es gelang Paz Estenssoro, sich einige Monate, gestützt auf das neugeschaffene Berufsheer, an der Macht zu halten, aber schließlich verdrängte ihn dieses unter Führung von General Barrientos aus der Regierung. Nach einer Phase schwerer politischer Unruhen hat Bolivien heute eine Militärdiktatur, die sofort nach ihrer Konstituierung stärkere nordamerikanische Unterstützung zu erlangen suchte. III. Die Revolution in Kuba Die kubanische Revolution ist von solch großer Tragweite, daß sie eingehender behandelt werden muß. Aber gerade wegen ihrer Bedeutung und weil sie in bestimmten Augenblicken das Schlüsselthema des Kalten Krieges war, liegt die Gefahr von Irrtümern sehr nahe, wenn man dieses Problem beurteilen will, das Gegenstand von soviel Propaganda – dagegen und dafür – und von so wenig kritischer Analyse und objektiver Berichterstattung war. Deshalb wird der Geschichtsschreiber nun zum bloßen Zeugen, dessen Urteil wie jedes Zeugnis der Möglichkeit eines Irrtums unterliegt.

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Es dürfte zweckmäßig sein, zuerst einmal festzuhalten, was bei der historischen Interpretation der kubanischen Revolution nicht als Richtschnur zu gelten hat: a) die gern vorgebrachte Behauptung, daß die Revolution in ihren ersten Anfängen bereits von kommunistischen Ideologien inspiriert und nur eine von Rußland ausgespielte Karte im Kalten Krieg gewesen sei; b) die ebenso häufig vorgebrachte gegenteilige Behauptung, daß nämlich die kubanische Annäherung an den Sowjetblock keinesweg ernstzunehmen, sie vielmehr lediglich eine Reaktion gegen die Ungeschicklichkeiten des nordamerikanischen Außenministeriums und seiner politischen Druckmethoden sei. Wie in der vorigen Periode die Revolution in Mexiko und in der jetzigen die Revolutionen in Guatemala und Bolivien, so unterscheidet sich auch die kubanische Revolution grundlegend von den in Lateinamerika üblichen Staatsstreichen. Sie hat weit zurückreichende Ursachen, und in ihrem Verlauf spielen eine Reihe von Faktoren mit, die von allzusehr vorbelasteten Beurteilern gerne übersehen werden. Zu den historischen Faktoren gehören unter anderem die Mißstände, die seit der Kolonialzeit in Kuba durch die (ursprünglich mit Sklaven betriebene) Zuckerrohrmonokultur auf Großplantagen hervorgerufen wurden und in auffälligem Gegensatz zu den segensreichen Auswirkungen des Tabakanbaus standen, der günstiger für den unabhängigen Kleinbauern und den Einsatz von gelernten Arbeitskräften war (und somit Wohlstand und Unabhängigkeit großer Gruppen der Bevölkerung ermöglichte). Neben dem Großgrundbesitz bestand wie üblich bäuerlicher Zwergbesitz, der während der Zuckerrohrernte die nötigen Arbeitskräfte lieferte. Politisch gesehen brachte die späte Emanzipation (1898) Kuba lediglich in nordamerikanische Hände. Diese zur Zeit der militärischen Besetzung totale und nach den Bestimmungen des Platt-Amendments noch immer fast absolute Kontrolle wurde allmählich gelockert. Aber auf wirtschaftlichem Gebiet war es anders. Nordamerikanisches Kapital bemächtigte sich der kubanischen Wirtschaft und erzielte unter Anwendung von Methoden, die eine unangenehme Erinnerung hinterließen, ständig höhere Gewinne. Zudem wurde Kuba, das so nahegelegen war und tropischen Reiz besaß, zum bevorzugten Ziel des nordamerikanischen Tourismus, was sich paradoxerweise in mancher Hinsicht zum Schaden Kubas auswirkte (Zunahme der Prostitution, überflüssiger Bau von riesigen Luxushotels, Spielkasinos usw.). Der ständige Kontrast zwischen zwei völlig verschiedenen Konsumgewohnheiten und -möglichkeiten trug zur Entwicklung eines starken antinordamerikanischen Ressentiments in Kuba bei. Auch in Kuba hatte sich eine Volksbewegung herausgebildet: die Revolutionäre Partei. Sie war von studentischen Gruppen mit einem demokratischen, antiimperialistischen Programm gegründet worden, doch verlor sie bald ihre Anfangsziele aus den Augen und wurde durch die Ausübung der Macht korrumpiert. Ein Flügel dieser Bewegung, der sich Authentische Revolutionäre

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Partei nannte, gewann die Wahlen im Jahre 1944, und Dr. Ramón Grau San Martín (1944- 1948) übernahm die Präsidentschaft, bis er im Jahre 1948 von Carlos Prío Socarrás (1948–52) abgelöst wurde. Eine rechtschaffenere Gruppe unter Chibás (der nach einer Radioansprache, in der er die Korruption angeprangert hatte, vor den Mikrophonen Selbstmord beging, um die öffentliche Meinung aufzurütteln) betrieb eine aktive Opposition und verstärkte diese noch, als die Wahlen im Jahre 1952 näherrückten. Diese Wahlen fanden nie statt. Am 10. März 1952 führte Fulgencio E. Batista (1952–58), gestützt auf die Armee, einen Staatsstreich durch und kehrte an die Macht zurück (er war schon einmal von 1940–44 an der Macht). Unbeschadet weiter oben gemachter Ausführungen muß eindeutig festgestellt werden, daß sich die kubanische Wirtschaft, abgesehen vielleicht von gewissen Kreisen der Landbevölkerung, keineswegs in einer verzweifelten Lage befand, als die Castro-Revolution ausbrach. Mit einem hohen Grad der Verstädterung, beträchtlichen Deviseneinkünften (durch den Verkauf von Zucker bei steigenden Preisen und zusätzlichen Einkünften aus dem Tourismus) und einem aufstrebenden städtischen Mittelstand konnte Kuba nicht als typisches unterentwickeltes Land betrachtet werden. Die Regierung Batista stieß jedoch in politischen und studentischen Kreisen auf Opposition, es kam zu Verschwörungen und allen möglichen Formen regimefeindlicher Propaganda. Batista war allerdings klug genug gewesen, die Opposition der Gewerkschaften durch Zugeständnisse zum Schweigen zu bringen, und daher waren denn auch gewisse Zeiten der Annäherung zwischen ihm und der kommunistischen Minderheitenpartei P.S.P. (Sozialistische Volkspartei) zu beobachten. Am 26. Juli 1953 leitete ein junger Akademiker (geboren 1925) einen Angriff auf die Moncada-Kaserne in Santiago de Cuba, der allerdings zurückgeschlagen wurde. Einige der Angreifer starben, und andere, darunter ihr Anführer, wurden verhaftet. Aus dieser Zeit datiert das erste wichtige politische Dokument Fidel Castros, die Rekonstruktion seiner Verteidigungsrede vor Gericht (›Die Geschichte wird mich freisprechen‹). Sie läßt politische Mäßigung und eine tiefe Sorge um die sozialen Probleme Kubas erkennen. Eine Generalamnestie gab Fidel Castro die Freiheit wieder, und er kämpfte weiter für den Sturz Batistas. In Mexiko wurde unter seiner Führung eine bewaffnete Expedition organisiert; 82 Revolutionäre schifften sich dort im Jahre 1956 auf der Jacht Granma nach Kuba ein. Bei der Landung wurden sie von Batistas Truppen angegriffen und erlitten schwere Verluste: nur zwölf kamen mit dem Leben davon. Es gelang ihnen, in die Sierra Maestra zu entkommen, von wo aus sie den Guerillakrieg aufnahmen. Zu den Anführern der Gruppe gehörten außer Fidel Castro dessen Bruder Raúl und ein argentinischer Arzt, Ernesto ›Che‹ Guevara (in vielen Gegenden Lateinamerikas werden die Leute aus den Provinzen am Rio de la Plata mit dem Spitznamen ›Che‹ belegt). Es handelte sich um Revolutionäre aus dem Mittelstand, deren Kenntnis von den Problemen der Landbevölkerung bis dahin

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rein theoretisch und ohne unmittelbaren Kontakt mit den Bauern erworben war. Der Aufenthalt in der Sierra Maestra brachte sie nun in unmittelbare Berührung mit den Problemen der armen ländlichen Schichten. Zwei lange Jahre hindurch hielten sie ihre Stellungen in der Sierra. Ihre Zahl und ihr Ansehen wuchsen, während sie schwierige Gefechte mit den weit besser bewaffneten Kräften Batistas erfolgreich überstanden. Diese Kampfhandlungen untergruben die Stellung des Diktators und ermutigten Tausende von Kubanern, aktiven Widerstand zu leisten. Zu Beginn war die Auflehnung Fidel Castros von einer romantischen Aureole umgeben, in der sogar manche Züge von politischem Anachronismus zutage traten (kühne Handstreiche, Terrorakte usw.). Diese trugen zur Ausbreitung einer Art Legende bei, die sogar in den Vereinigten Staaten Anklang fand. In jener Zeit bewiesen die Revolutionäre eine außergewöhnliche politische und propagandistische Erfindungsgabe. In den Städten gründeten Studenten, Freiberufliche und Angehörige des Mittelstandes geheime Hilfsorganisationen, und viele gingen in die Sierra Maestra, um sich den Rebellen anzuschließen. Zu den zahlreichen heldenmütigen Unternehmungen dieser Zeit zählt auch ein gescheiterter Versuch von Studenten, den Präsidentenpalast zu stürmen und Batista zu ermorden; viele der Angreifer kamen dabei ums Leben. Batistas Armee verfügte über rund 20000 wohlbewaffnete Soldaten, Panzer und Flugzeuge, doch ihre Stärke nahm allmählich ab. Die brutalen Maßnahmen gegen die Zivilbevölkerung trieben die Bauern immer mehr in Castros Lager. Die militärische Schlagkraft der Rebellen wuchs schnell, und aus ihren Reihen gingen ausgezeichnete militärische Führer, wie zum Beispiel Camilo Cienfuegos, hervor. In der Abgeschlossenheit der Sierra Maestra ließ sich Fidel Castro stets etwas Neues einfallen, um die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf sich zu lenken: Kampfhandlungen, Interviews mit Vertretern der internationalen Presse, Überraschungseffekte wie die Entführung des international bekannten Rennfahrers Juan Manuel Fangio. Lange Zeit gewährte die (kommunistische) Soziale Volkspartei der Bewegung Fidel Castros nicht nur keine Unterstützung, sondern übte sogar harte Kritik an ihr. Es war, wie bereits erwähnt, eine Minderheitenpartei, aber ihrem starken Einfluß innerhalb der Gewerkschaften war es zu verdanken, daß die von Fidel Castro aus der Sierra Maestra angeordneten politischen Generalstreiks scheiterten. Erst als der Sieg der Revolutionäre unmittelbar bevorstand, schloß sich im September 1958 einer der Hauptanführer der Sozialistischen Volkspartei den Guerillatruppen an. Im Dezember 1958 gingen die Rebellen zum offenen Angriff über, und die Armee Batistas brach zusammen. Nach harten Kämpfen in mehreren Städten war der endgültige Sieg erreicht. Die eigentlichen Schwierigkeiten aber begannen für die Revolution erst mit der Machtübernahme. Es stand kein fähiger Regierungsapparat zur Verfügung; die Schlüsselstellungen mußten mit

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Vertrauensleuten, die jedoch unerfahren waren, besetzt werden, und gleichzeitig erging ein Aufruf um Mitarbeit an die früheren Beamten. Die ideologischen Einflüsse in der späteren Entwicklung der Bewegung sind viel diskutiert worden, und man hat sich dabei allzusehr auf die Erklärungen der Hauptakteure selbst verlassen. Ohne Zweifel konnte in der Gruppe um Fidel Castro, abgesehen von der einen oder anderen sehr grundsätzlichen Einstellung (radikale Opposition gegen Batista, Sympathie für die Bauern usw.), nicht von einer gemeinsamen ideologischen Linie die Rede sein; sie wurde vielmehr von Kampfgeist, Selbstlosigkeit und Erfindungsgabe zusammengehalten. Schon in der ersten Zeit ihrer Regierung bewiesen sie einen gewissen Radikalismus, was ihre Zielsetzungen anbelangte, aber wenig Einigkeit über die anzuwendenden Mittel. In der ersten Phase waren sich die kubanischen Rebellen der Erwartungen und Sympathien sehr bewußt, die sie in ganz Lateinamerika geweckt hatten. Diese wurden noch größer, als die Rebellen offen darangingen, die traditionellen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten zu überprüfen (die Feindseligkeit gegen die Nordamerikaner entsprang nicht nur historischen und ideologischen Gründen, sondern zum großen Teil auch der Tatsache, daß die Truppen Batistas von den Nordamerikanern ausgebildet und ausgerüstet worden waren). Während der sozusagen ersten Etappe der Revolution suchten die neuen Herren in Kuba nach einem unabhängigen Ausweg und nach lateinamerikanischer Unterstützung. Fidel Castro besuchte die Vereinigten Staaten, wo er noch viele Bewunderer hatte, verurteilte offen jeden Rassismus und Imperialismus und legte die Ursachen und das Wesen der lateinamerikanischen Rückständigkeit dar. Langsam verschlechterten sich die Beziehungen zwischen der kubanischen Regierung und dem nordamerikanischen Außenministerium. Die kubanische Regierung behielt eine unabhängige Linie bei, die zum Beispiel klar zutage trat, als Roa, der kubanische Delegierte in den Vereinten Nationen, gleichzeitig die Intervention Frankreichs und Englands in Suez, das Eingreifen der UdSSR in Ungarn, die Einmischung der Vereinigten Staaten in Guatemala und das Vorgehen Chinas in Tibet verurteilte. In Buenos Aires vertrat Fidel Castro in einer Rede die Ansicht, daß die nordamerikanische Hilfe für Lateinamerika, wenn sie keine bloße Fiktion bleiben wolle, in ihrem Umfang der wirklichen Größe der Probleme angepaßt werden müsse. Die kubanischen Führer bemühten sich immer weniger darum, die Beschuldigungen (von seiten nordamerikanischer konservativer Kreise), sie seien ›Kommunisten‹, zurückzuweisen; sie gingen nun vom ›humanitären Sozialismus‹ zum Marxismus über (was mehrere Äußerungen einiger ihrer führenden Männer wie ›Che‹ Guevara schon früher erkennen ließen). Die Beziehungen zwischen den Kommunisten und den Mitgliedern der von Fidel Castro angeführten ›Bewegung des 26. Juli‹ waren sehr gespannt gewesen, und wie wir sahen, hatten sich die Kommunisten erst sehr spät dem bewaffneten

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Kampf gegen Batista angeschlossen. Die spätere Annäherung ist wahrscheinlich (und jede Interpretation der Ereignisse muß sich da vorläufig auf Vermutungen beschränken) darauf zurückzuführen, daß Fidel Castro, um neue Aktionsmöglichkeiten zu gewinnen, beschloß, die Karte der sowjetischen Auslandshilfe auszuspielen. Bei ihren Versuchen, einen Widerhall im übrigen Lateinamerika zu wecken, waren diese jungen, begeisterten Politiker nur kühl von den anderen lateinamerikanischen Regierungen aufgenommen worden. Sie wollten radikale Änderungen herbeiführen, und das konnten sie nicht ohne starke Hilfe von außen erreichen. Andererseits mußten die fortgesetzten Zusammenstöße mit dem nordamerikanischen Außenministerium in außenpolitischen Fragen und die Beeinträchtigung nordamerikanischer Gesellschaften in Kuba (sie wurden schließlich enteignet) zu einer pessimistischen Beurteilung der künftigen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten führen. Die Regierung Kennedy beging gleich zu Anfang den Irrtum, einem konterrevolutionären Invasionsversuch freien Lauf zu lassen, der unter der republikanischen Regierung vom CIA (Central Intelligence Agency = Amerikanischer Geheimdienst) vorbereitet worden war, jener Institution, die jedes Fingerspitzengefühl für die Beziehungen zwischen USA und Lateinamerika vermissen läßt (sie hatte, wie unter anderem aus den Memoiren General Eisenhowers hervorgeht, auch die Hilfe für die Gegenrevolution in Guatemala organisiert). Der Invasionsplan entbehrte jeder vernünftigen Überlegung: man rechnete damit, daß ein Volksaufstand gegen Castro losbrechen würde, sobald die Nachricht von der Landung bekannt wurde. Nichts derartiges trat ein. Die Invasionstruppen erlitten innerhalb weniger Stunden bei Playa Girón eine vernichtende Niederlage. Castro, ein Mann von schnellen Entschlüssen und mit der Neigung zu extremen Lösungen, erkannte sehr wohl die Möglichkeit, angesichts neuer Invasionsdrohungen die sowjetische Hilfe ins Spiel zu bringen, und er verstand es auch, den Inselcharakter Kubas, seine geringe Bevölkerungszahl (acht Millionen Einwohner) und die Lage der Insel nahe bei den Vereinigten Staaten dazu auszunutzen, um schnell eine erhebliche Steigerung der sowjetischen Hilfeleistungen zu erreichen: die UdSSR erhielt so die Gelegenheit, anderen Ländern in Lateinamerika und der ganzen unterentwickelten Welt einen Beweis für die Wirksamkeit ihrer Unterstützung zu liefern. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, daß die Vereinigten Staaten ihre Politik gegenüber Puerto Rico revidiert und versucht haben, ähnlich wie die UdSSR in Kuba vorzugehen; eine intensive Wirtschaftshilfe hat zu überraschend positiven Ergebnissen geführt (eines der Ziele dieser neuen Politik dürfte die Eindämmung der puertorikanischen Einwanderungsbewegung in die Vereinigten Staaten sein). Es gibt auch Parallelen zwischen der Sowjethilfe für Kuba und der US-Hilfe für Jugoslawien. Auf diesem Weg hatten die Vereinigten Staaten den Bruch zwischen Stalin und Tito ausnutzen und ihn möglichst noch vertiefen wollen.

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Einmal entschlossen, diese Karte auszuspielen, tat Fidel Castro dies auch bis in die letzten Konsequenzen. Er verurteilte jeden Neutralismus. Am 2. November 1961 verkündete er offen, ein Anhänger des Marxismus-Leninismus zu sein, und erklärte Kuba zur sozialistischen Republik. Höchstwahrscheinlich hat diese Entscheidung sogar die Machthaber in der Sowjetunion überrascht, wenngleich sie in gewisser Weise durch die Einkerkerung von Führern des Revolutionsheeres, die eine Zusammenarbeit mit den Kommunisten ablehnten, vorbereitet worden war. Im Verlauf des Prozesses der Integration in die Kommunistische Partei hatte Fidel Castro sich für die leninistische Formel der Einheitspartei entschlossen, und man ging jetzt an deren Organisation. Aber das Einschwenken der kubanischen Regierung auf die Linie Moskaus scheint nicht völlig bedingungslos zu sein, sondern im Dienst eines Planes zu stehen. Häufig beweist sie ihre Selbständigkeit, wie etwa während der Karibischen Krise und der Blockade Kubas nach der Entdeckung von Abschußrampen für atomare Raketen. Diese Krise wurde durch einen direkten Kompromiß zwischen Kennedy und Chruschtschow beigelegt. Kuba macht keinen Hehl daraus, daß es Aufstandsbewegungen in anderen Ländern Lateinamerikas unterstützt. Trotzdem scheinen seine revolutionären Pläne zum Scheitern verurteilt zu sein. Im Nordosten Brasiliens bestehen revolutionäre Voraussetzungen, aber es handelt sich dabei um ein unterentwickeltes Gebiet mit 23 Millionen Einwohnern, das zu einem höher entwickelten Land mit insgesamt 80 Millionen Einwohnern gehört. In Venezuela wurden Terror und Guerillakrieg von Rómulo Betancourt (unterstützt von den USA) mit energischer Hand ausgeschaltet, sie konnten lediglich in studentischen Kreisen einige Unruhe schüren. In Argentinien versuchte man es zuerst mit der Radikalisierung gewisser Schichten der Anhängerschaft des Peronismus; als das nicht gelang, unterstützte man Guerilla-Aktionen in der Provinz Salta, wo mehrere Gruppen von Jugendlichen von Polizeistreitkräften überrollt wurden, ehe sie noch begreifen konnten, warum es nicht zu einer zweiten Sierra Maestra kam. Außerdem dient das Buch von Ernesto Guevara, ›Guerillakrieg‹, nicht nur künftigen Guerilla-Kriegern als Leitfaden, sondern auch die Armee-Offiziere studieren es mit Gewinn und bilden ihre Truppen in der Bekämpfung jeden möglichen Aufstands dieser Art aus. Bedauerlicherweise trug die neue kubanische Politik nur dazu bei, die nordamerikanische Außenpolitik noch konservativer werden zu lassen; in immer stärkerem Maße suchte diese die Zusammenarbeit mit den Streitkräften der einzelnen Länder (besonders nach der Ermordung des Präsidenten Kennedy). Die kubanische Politik förderte auch die Flucht der Jugendlichen in romantische Vorstellungen; in der Erwartung einer neuen Sierra Maestra bemühen sie sich nicht mehr darum, die Probleme ihrer Länder wirklich zu begreifen, wodurch ihre Eingliederung in die Reihen der wirklich fortschrittlichen Kräfte des Landes sich verzögert oder sogar unmöglich wird.

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Ein weiteres Symptom für die Unabhängigkeit der kubanischen Außenpolitik gegenüber Moskau dürfte die Sympathie sein, mit der die kubanische Regierung anfangs die extremistischere Haltung Chinas beobachtete. In diesem Zusammenhang sollte darauf hingewiesen werden, daß es Chruschtschow ungeheure Anstrengungen gekostet haben muß, Fidel Castro, zumindest formell, in sein Lager zu ziehen. (Daß er ein Revolutionär ist, trägt Castro ein ungeheures Ansehen in einer kommunistischen Welt ein, die allzusehr von politischer und technischer Bürokratie beherrscht wird.) Es muß auch an die berühmte Rede Fidel Castros vom 26. März 1962 erinnert werden (Selbstkritik der kubanischen Revolution). Den Vorwand, gegen die bürokratischen Exzesse des wichtigsten Kommunistenführers, Aníbal Escalante, vorgehen zu müssen, nutzte Castro klug aus, um gewisse Verhaltensweisen der alten Sozialistischen Volkspartei, die allen Kommunistenführern Lateinamerikas eigen sind, einer harten Kritik zu unterziehen. Schließlich muß noch auf die Wirtschaftspolitik Ernesto Guevaras verwiesen werden (Überbetonung der moralischen und nicht der materiellen Beweggründe, ganz im Gegensatz zu dem, was in der sowjetischen Welt geschieht), auf die Anerkennung der ernsten Mängel in der Gewerkschaftsorganisation (die dadurch entstanden, daß diese von oben gesteuert wird), die größere geistige Freiheit (die abstrakte Kunst stand in voller Blüte, während sie gerade von Chruschtschow heftig angegriffen wurde) usw. Bis hierher hat sich die Analyse der kubanischen Revolution vor allem auf deren Außenpolitik im internationalen Rahmen des ›Kalten Krieges‹ konzentriert. Unter denselben Gesichtspunkten wollen wir nun versuchen festzustellen, was bis jetzt über die innenpolitischen Veränderungen gesagt werden kann. Folgende Punkte verdienen besondere Beachtung: 1. Die Massenflucht von Freiberuflichen und von Fachleuten des alten Regimes, die ihren Lebensstandard und ihre Lebensgewohnheiten bedroht sahen: bei den Bemühungen, einen grundlegenden Wandel im Lande zu erreichen, ohne daß Fachleute und Spezialisten zur Verfügung standen, ergaben sich schwere Probleme. Man versuchte, sie durch Heranziehung sowjetischer (und auch chinesischer) Experten und einer begrenzten Zahl lateinamerikanischen Personals zu lösen. In bezug auf letztere ist zu erwähnen, daß sich unter ihnen neben wirklich notwendigen Dozenten und Spezialisten viele Personen mit undefinierbarem Beruf befanden (zum Teil war das der Vermittlung alter Bürokraten der traditionellen kommunistischen Parteien zu verdanken). Sie waren lediglich aktive Parteimitglieder und manchmal nur deren Familienangehörige, die weder für die kubanische Wirtschaft noch auf sonst einem Gebiet besonders erfolgreich wirkten. 2. Kuba hat eine großangelegte Kampagne gegen den Analphabetismus durchgeführt, die hohes Lob verdient, und zahlreiche Ausbildungsstätten geschaffen. Letztere lassen auf der gehobenen Ebene wegen einer gewissen Tendenz zum Akademismus und intellektuellen Bürokratismus zu wünschen

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übrig. Grundlegend wichtig ist dagegen, daß die alten sozialen Schranken weitgehend gefallen sind und auch die Kinder von Arbeitern und Bauern Zugang zur höheren Schulbildung gewonnen haben. 3. Auf wirtschaftlichem Gebiet scheinen einige Irrtümer der ersten Zeit berichtigt worden zu sein. Man hatte – unter dem Vorwand, die Monokultur beseitigen zu wollen – die Produktion von Zucker und Sisalhanf (zwei bevorzugte Exporterzeugnisse Kubas) übermäßig eingeschränkt, und durch die Beseitigung der sozialen Schranken auf dem Konsumsektor war der Viehbestand auf der Insel bedrohlich zusammengeschmolzen. 4. Trotz der Warnungen von Fachleuten wie dem international anerkannten Landentwicklungsfachmann René Dumont gab man bei der Agrarreform nicht den landwirtschaftlichen Genossenschaften, sondern den großen landwirtschaftlichen Staatsbetrieben den Vorzug und befolgte damit das sowjetische Vorbild, wo es am wenigsten nachahmenswert war. Die Revolution selbst, die sozialen und politischen Reformen förderten die Landfluchtbewegung. Das Resultat war, daß mitten in der Erntezeit nicht genügend Landarbeiter zum Schlagen des Zuckerrohrs zur Verfügung standen, so daß die führenden Männer der Revolution mit gutem Beispiel vorangehen mußten, um die Intellektuellen oder die Beamten zu veranlassen, wenigstens einen Tag pro Woche Erntearbeit zu leisten. Heute versucht man, durch immer stärkere Mechanisierung den Mangel an Arbeitskräften auszugleichen. 5. Es stimmt zwar, daß die Bedrohung von außen die Schaffung einer starken Armee rechtfertigt; aber ebenso gewiß ist es, daß die kubanischen Führer eine Art wehmütiger Erinnerung an die Kampfzeit bewahrt haben, womit sich die Beibehaltung von Kampfuniformen, die großen Paraden und das Interesse an militärischer Macht erklärt. Man verkennt, welch schwere Belastung die Aufrechterhaltung dieser Streitkräfte und die ständige militärische Ausbildung eines möglichst großen Teils der Bevölkerung in Wirklichkeit für die Wirtschaft des Landes darstellt, obwohl es doch letztlich klar sein dürfte, daß auf diese Weise große Energien aus dem Wirtschaftsleben abgezogen werden. Über die Entwicklung der Weltpolitik in den nächsten Jahren ist schwer eine Voraussage zu machen, doch dürfte sie höchstwahrscheinlich dieses Problem noch verschärfen. 6. Auf dem Gebiet der Industrialisierung und der Versorgung mit Ausrüstungsgütern und Brennstoffen hat Kuba beachtliche Fortschritte gemacht. Es hat nach und nach sämtliche Ausrüstungsgüter (nordamerikanischer Herkunft) durch hauptsächlich sowjetische und tschechoslowakische Erzeugnisse ersetzen müssen. Die Auslandshilfe auf diesem Gebiet hat große Ausmaße erreicht. In der Produktion ist ein Prioritätssystem eingeführt worden, das vorläufig jede Herstellung von Luxuswaren ausschließt. Die Fischerei und die Grundstoffindustrien sind ausgebaut worden, für viele Nahrungsmittel und für Bekleidung ist aber noch eine strenge Rationierung notwendig. Diese Engpässe sind jedoch weniger auf Mängel in der Planung als auf den Abbruch

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der traditionellen Handelsbeziehungen zurückzuführen. Kuba läuft Gefahr, eine für eine relativ kleine Bevölkerung zu große Industrie aufzubauen. Hinzu kommt noch die Abhängigkeit von zu weit entfernten Ländern (die natürlichen Handelsaustauschschwierigkeiten werden also durch die Transportfrage noch vergrößert). Aber diese Probleme sind alle unlösbar mit der Gesamtpolitik Kubas verbunden. 7. Was das alte Problem anbelangt, ob die Entwicklung mit dem Opfer einer ganzen Generation erkauft werden soll oder nicht, so scheint sich Kuba dagegen entschieden zu haben. Es vertraut vor allem auf die Auslandshilfe und beweist – abgesehen von der Einschränkung des Luxuskonsums der Minderheiten – große Toleranz hinsichtlich des Beitrags jedes einzelnen zum Fortschritt. Diese Haltung löst gewöhnlich Überraschung bei den Experten aus dem Sowjetblock aus, die an stärkere Kontrolle und höhere Normanforderungen an die Leistungen jedes einzelnen Arbeiters gewöhnt sind. Soviel kann man kurz zusammengefaßt bisher über den Gang der kubanischen Revolution sagen. Wegen der engen Verflechtung mit Fragen der internationalen Politik ist schwer etwas über die weitere Entwicklung vorauszusagen. Sie wird jedenfalls immer von den weltpolitischen Ereignissen und den bestimmenden Faktoren der russischen und nordamerikanischen Politik abhängen. Es besteht Grund zu der Annahme, daß die Vereinigten Staaten gegen Ende der Regierungszeit Kennedys ernsthafte Anstrengungen machten, die Spannungen zwischen den USA und Kuba zu mildern. Aber der Tod des Präsidenten und ein offensichtlicher Umschwung in der öffentlichen Meinung Nordamerikas haben diese Spannungen wieder verschärft. Der Historiker muß auf jeden Fall die Ansicht zurückweisen, daß die traditionellen Institutionen und Kulturen der Insel einfach durch den ›Marxismus‹ oder den ›Marxismus-Leninismus‹ ersetzt worden seien, denn in Wirklichkeit ist ein Verschmelzungsprozeß im Gange, und Kuba bewahrt weiter viele charakteristische Züge seiner Wesensart, die der anderer Länder Lateinamerikas so stark ähnelt. Wechsel in der Aussenpolitik der Vereinigten Staaten Seit Beendigung des Zweiten Weltkrieges waren die Diplomatie der Vereinigten Staaten und die nordamerikanischen Interessen im Ausland, trotz mancher Ansätze zu einem Wandel während der Kennedy-Ära, im allgemeinen vorwiegend darauf bedacht, ihre Positionen zu wahren. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Politik ist die strategische Vorbereitung und der Einsatz der Kräfte im Hinblick auf einen möglichen Krieg mit der kommunistischen Welt. Diese Haltung wird von weiten Kreisen der öffentlichen Meinung in den Vereinigten Staaten begrüßt, die sich Strömungen wie der McCarthy- und der Goldwater-Bewegung vorbehaltlos anschlössen. Im Hinblick auf die Lateinamerika-Politik der Vereinigten Staaten sollte erwähnt werden, daß die republikanische Regierung die Politik der ›Guten

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Nachbarschaft‹ aus der Zeit Roosevelts weitgehend aufgab. Die Interessen der nordamerikanischen Gesellschaften und die Ziele des Außenministeriums deckten sich in großem Maße. Besonders klar wurde dies bei der Revolution in Guatemala. Ganz offensichtlich verschärfte sich die feindselige Haltung des Außenministeriums, sobald die Interessen der United Fruit Company angetastet wurden. Es fällt auf, daß sich in dieser Zeit eine vorher nie erreichte Zahl von Spezialisten und Institutionen in den USA dem Studium lateinamerikanischer Fragen widmen. Bei den Veröffentlichungen, die aus diesem Kreis hervorgehen, ist allerdings eine gewisse Kluft zwischen der wissenschaftlichen Befähigung zum Verständnis der Probleme und den daraus gezogenen Schlußfolgerungen zu beobachten, die sich oft lediglich darauf beschränken, dem State Department die Beibehaltung oder Berichtigung dieser oder jener Linie in der Lateinamerikapolitik anzuraten oder auch nur die Mahnung auszusprechen, man möge für die parlamentarische Demokratie eintreten. Typisch für viele dieser Publikationen ist die große Furcht vor Neuerungen oder vor dem Aufkommen von Volksbewegungen. Diese Furcht gründet sich auf die Überzeugung, daß die Kommunisten aus alledem früher oder später Nutzen ziehen müßten (hier sei darauf verwiesen, daß viele nordamerikanische Wissenschaftler tatsächlich einen Mythos aus der Durchschlagskraft kommunistischer Aktivität in Lateinamerika gemacht haben, die von den Machthabern in Moskau sehr viel geringer eingeschätzt wird). Die verhüllte Intervention in Guatemala schürte, wie wir bereits sahen, die Feindseligkeit gegenüber den Vereinigten Staaten. Die Militärhilfe für viele extrem rechts stehende Diktaturen rief ebenso heftige Kritik hervor. Die private Investitionstätigkeit war nie gerade von messianischem Geist beseelt, und hin und wieder war sie besonders hartnäckiger Kritik ausgesetzt (United Fruit Company, Monopoltendenzen gewisser Trusts, übertriebene, kurzfristige Gewinnansprüche). Als Kennedy Präsident wurde (1960), half ihm – wie früher auch Roosevelt – ein neuer Gehirntrust, die nordamerikanische Außenpolitik insgesamt und in bezug auf Lateinamerika auf neue Grundlagen zu stellen. Es gab genug Reibungsflächen in den Beziehungen zu den südlichen Nachbarländern (die öffentliche Meinung hatte das mit der außerordentlich unfreundlichen Aufnahme des damaligen Vizepräsidenten Richard Nixon während seines Lateinamerikabesuches klar genug zum Ausdruck gebracht). Zu den alten Streitfragen waren neue gekommen, wie die verringerte Einfuhr lateinamerikanischer Erzeugnisse durch die USA oder die Bumerangwirkung des Gesetzes Nr. 480 (über landwirtschaftliche Überschüsse). Dieses Gesetz ist das Ergebnis eines Kompromisses zwischen der Landwirtschaft und der Industrie der Vereinigten Staaten. Er besteht darin, daß die Regierung die aufgrund des technischen Fortschritts erzeugte landwirtschaftliche Überproduktion aufkauft und lagert. Wenn aber diese Überschüsse im Ausland

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untergebracht werden, führt dies zu einem unlauteren Wettbewerb auf traditionell von Lateinamerika belieferten Märkten. In manchen Fällen wurden sie auch zu sehr niedrigen Preisen an verschiedene lateinamerikanische Länder verkauft und beeinträchtigten damit die Möglichkeit, dort einheimische Produktionszweige zu stärken und zu entwickeln, die einen, wenn auch mit höheren Kosten arbeitenden, wesentlichen Bestandteil dieser Volkswirtschaften bildeten. Ein weiterer geheimer Anlaß zu starken Verstimmungen wurde es, daß die Vereinigten Staaten in ihrer Furcht vor einer weiteren Ausbreitung des Kommunismus auf dem Weg über den Marshall-Plan und ähnliche Maßnahmen ungeheure Summen nach Westeuropa und in andere Länder pumpten, dagegen nur wenig oder gar nichts in die Länder Lateinamerikas. Die von den Kennedy-Beratern angestrebte Umstellung in der Außenpolitik ging mit einem größeren Verständnis für den tatsächlichen Ernst der Lage Hand in Hand. Diese Erkenntnis war nicht zuletzt der kubanischen Revolution zu verdanken. Ein ausgesuchtes Beraterteam (Galbraith, Schlesinger, Rostow und andere) überzeugte den Präsidenten davon, daß es notwendig sei, die sozialen und wirtschaftlichen Umwälzungen in Lateinamerika in gewissem Ausmaß zu unterstützen, bevor sie zu explosiven Zuständen führen könnten. Dieses Team wies nachdrücklich darauf hin, daß die Vereinigten Staaten die Strukturwandlungen, und ganz besonders die Agrarreform, in Lateinamerika fördern sollten. Während der Regierungszeit Kennedys (1960–63) gingen die verschiedenen staatlichen Institutionen in Nordamerika immer mehr eigene Wege in ihrer Lateinamerikapolitik. Das Pentagon bestand auf der strategischen Bedeutung des Südatlantiks und der Notwendigkeit, die lateinamerikanischen Streitkräfte besser auszubilden und auszurüsten. Andere Kreise der Regierung betonten, die von Lateinamerika für die Unterhaltung von Streitkräften (die in einem modernen Krieg kaum von Bedeutung sein könnten) ausgegebenen Summen könnten weitaus nutzbringender für die Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts eingesetzt werden, denn dieser sei letzten Endes die beste Gewähr für eine Abwendung der kommunistischen Gefahr. Die Rolle anderer Institutionen, wie des nordamerikanischen Geheimdienstes, und ihre Mißgriffe haben wir an anderer Stelle bereits erwähnt. Der nordamerikanische Senat beschnitt seinerseits immer wieder die von Kennedy zur wirksamen Durchführung seiner ›Allianz für den Fortschritt‹ beantragten Gelder. Nach dem Tode Kennedys sind die Anzeichen für eine Umstellung in der Lateinamerikapolitik, die ohnehin über die Formulierung von Plänen und Zielen noch nicht weit hinausgekommen war, wieder spärlicher geworden. Im Augenblick scheint es, als ob die Regierung Lyndon B. Johnson sich in ihrer Haltung gegenüber Lateinamerika streng an den Rahmen halten wird, den die Furcht vor dem Kommunismus und die Verteidigung eigener Privatinteressen ihr vorzeichnen. Darauf läßt zumindest die Reaktion der nordamerikanischen Regierung auf den konservativen Staatsstreich vom April 1964 in Brasilien

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schließen: nach vorausgegangenen Erklärungen zugunsten eines möglichen Staatsstreichs entsandte die Regierung der Vereinigten Staaten sofort eine Glückwunschbotschaft an die Militärs, die sich zu den politischen Herren Brasiliens gemacht hatten. Alles bisher Gesagte gilt für die Entwicklung der nordamerikanischen Nachkriegspolitik insgesamt. Sonderfälle wie Venezuela und Panama verdienen besondere Beachtung. Die starke Beteiligung nordamerikanischen Kapitals an der Erdölförderung hat dazu geführt, daß die Vereinigten Staaten in Venezuela die gemäßigte Reformpolitik des Präsidenten Rómulo Betancourt (1945–48; 1959–64) und seines jetzigen Nachfolgers Raúl Leoni unterstützen. Die wachsenden Forderungen der Regierung in Panama in bezug auf den Kanal entspringen keineswegs dem Wunsch nach einem grundlegenden sozialen Wandel, sondern lediglich dem Druck einer kleinen Gruppe, die eine stärkere Beteiligung an den Einkünften aus dem Kanal anstrebt. Das schließt nicht aus, daß im Verlauf der Auseinandersetzungen manchmal weitergehende Bewegungen auftauchen werden. Die Vereinigten Staaten haben Zugeständnisse gemacht, aber sie bestehen unnachgiebig auf dem Besitz und der alleinigen Verwaltung des Kanals. Die nordamerikanische Regierung hat sogar wiederholt von der Möglichkeit gesprochen, einen zweiten interozeanischen Kanal in Kolumbien oder Nikaragua zu bauen, doch müssen diese Äußerungen mehr als ein Versuch aufgefaßt werden, psychologischen Druck auf die Regierung in Panama auszuüben. Die Vereinigten Staaten heben wieder stärker die Bedeutung der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) als einer Regionalorganisation hervor. Es ist ihnen gelungen, fast alle Mitgliedstaaten der OAS zu veranlassen, die Beziehungen zu Kuba abzubrechen und noch andere Sanktionen gegen die Insel zu verhängen. Die Regierung der Vereinigten Staaten sieht sich heute einem großen Dilemma gegenüber: sie muß sich entscheiden, ob sie einen echten Fortschritt in Lateinamerika fördern soll, oder ob sie sich mit Rücksicht auf eigene Interessen und unter mangelndem politischem Weitblick damit begnügen soll, lediglich ein mögliches Vordringen des Kommunismus zu bekämpfen und die militärische Zusammenarbeit zu verstärken, ohne sich darum zu kümmern, wie auf anderen Gebieten die Entwicklung Lateinamerikas vorangeht. Die Bedrohung durch die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Angesichts der Zersplitterung der lateinamerikanischen Wirtschaft und der Tatsache, daß sie keine besonderen Fortschritte erzielte, wuchs die Furcht vor möglichen schädlichen Auswirkungen der Politik des Europäischen Gemeinsamen Marktes, insbesondere, weil dieser in immer stärkerem Ausmaße

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in der Lage ist, zuvor aus Lateinamerika bezogene Erzeugnisse in Europa selbst oder in den assoziierten afrikanischen Ländern zu produzieren. Der französische Wirtschaftler Francois Perroux hat versucht, diese Besorgnisse zu zerstreuen, obwohl auch er weiß, daß kurzfristig Störungen dieser Art auftreten können. Der Gemeinsame Markt ist nicht lediglich die von den Vereinigten Staaten angestrebte Reaktion Europas auf die drohende Expansion des Kommunismus. Er ist der spontane, wohlorganisierte, in die Zukunft blickende Zusammenschluß einer Gruppe von Staaten, die begriffen haben, daß man beim heutigen Stand des technischen Fortschritts nur überleben kann, wenn man sich auf umfassende Staaten-, Bevölkerungs- und Produktionsgebilde stützen kann. In gewisser Weise erreicht er damit das, was der nordamerikanischen oder sowjetischen Wirtschaft und in geringerem Grade auch dem britischen Commonwealth Stärke und Lebenskraft verleiht. Zwar kann die Schaffung des Gemeinsamen Marktes zu einem Absinken der Nachfrage nach lateinamerikanischen Erzeugnissen fuhren, auf lange Sicht jedoch kann es, wie Perroux feststellt, zu Verträgen mit Lateinamerika und einer Belebung der Investitionstätigkeit kommen. Nicht umsonst sind die Volkswagenwerke in Brasilien (mit einer völlig selbständigen Autoproduktion) bereits als Vorbild für ein ausländisches Unternehmen hingestellt worden, das zur Entwicklung eines Landes einen echten Beitrag leistet. Und dies im klaren Gegensatz zu der Politik anderer ausländischer Gesellschaften wie etwa der United Fruit Company, die mit Hilfe von Korruption und Monopolen rasche und leichte Gewinne nur für sich selbst erwirtschafteten. Darüber hinaus ist Lateinamerika darauf bedacht, daß man möglichst bald damit aufhört, es lediglich als einen Schauplatz des Zusammenpralls zwischen sowjetischen und nordamerikanischen Interessen anzusehen. Die Entstehung neuer Blöcke könnte dazu beitragen, diese internationalen Spannungen zu verringern, die Lateinamerika soviel Schaden zufügen, weil sie seine politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung so ausschlaggebend bestimmen. In dieser Hinsicht wecken die Spaltung im kommunistischen Lager und die Unabhängigkeit der heutigen französischen Außenpolitik neue Hoffnungen (die ungeheure Begeisterung der breiten Volksmassen für de Gaulle, die während dessen Lateinamerikareise zum Ausdruck kam, ist dafür symptomatisch). Indirekt kam der französische Widerstand gegen den Eintritt Englands in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Lateinamerika zugute, dessen Erzeugnisse durch die möglichen Präferenzen für Konkurrenzerzeugnisse aus den britischen Dominions doppelt bedroht waren. Spannungen und Umwälzungen in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern Verschiedene Länder haben in jüngster Zeit eine Reihe von Veränderungen erlebt. Wir wollen die wichtigsten kurz aufführen:

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I. Brasilien In diesem Land mit ungleichmäßigem wirtschaftlichem Wachstum hatten sich in jüngster Zeit die politischen Verhältnisse einer weiteren Entwicklung günstig gezeigt. Nach dem Tode des Präsidenten Vargas wurde die Breitenwirkung gewisser politischer Gruppen mit etwas verschwommenen Fortschrittsideen sichtbar; insbesondere wurde die brasilianische Arbeiterpartei (unter João Goulart) aktiv, die auf der Linie der Vargas-Politik voranzukommen versuchte. Seit der Übernahme des Präsidentenamtes durch Juscelino Kubitschek (1956) war die staatliche Aktivität auf den Bau einer neuen Hauptstadt, Brasilia, und die Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung konzentriert. Die von Kubitschek verfolgte Linie wurde unerwartet durch den politischen Aufstieg des Janio Quadros (Präsident 1961) unterbrochen. Dieser ehemalige Oberschullehrer war ein begabter Propagandist, machte schnell Karriere und errang einen unerwartet hohen Wahlsieg. Er war eine eigenwillige, temperamentvolle und unberechenbare Persönlichkeit und versteifte sich auf eine konservative Innenpolitik und eine unabhängige Außenpolitik. Es trug ihm harte Kritik ein, daß er diese Unabhängigkeit so weit trieb, den kubanischen Minister Ernesto Guevara als Ehrengast zu empfangen. Aufgebracht über den Druck, den man von vielen Seiten auf ihn ausübte, reichte er seinen Rücktritt ein, vielleicht in der Hoffnung, man werde ihn nicht gehen lassen (und sei es auch nur, um dem damaligen Vize-Präsidenten Goulart, der als extremer Verfechter der VargasPolitik galt, den Zugang zum Präsidentenamt zu versperren). Die Krise fand jedoch eine unvorhergesehene Lösung. Quadros’ Rücktritt wurde akzeptiert und nach anfänglich heftigem Widerstand João Goulart (1961–64) zum Präsidenten gemacht, allerdings erst, nachdem dieses Amt durch eine Verfassungsänderung fast rein nominellen Charakter erhalten und der strengen Kontrolle durch das Parlament unterworfen worden war. Goulart akzeptierte diese Bedingung, begann aber sofort geschickt zu operieren, um die Rückkehr zum Präsidentialismus zu erreichen. Als er sein Ziel mit Hilfe eines für ihn erfolgreichen Volksentscheids erreicht hatte, fühlte er sich sicher genug, um seinen Plan für Sozialreformen und wirtschaftliche Entwicklung in Gang zu bringen. Zu jener Zeit verfolgte Brasilien eine unabhängige Außenpolitik. Es kam zu einer öffentlichen Auseinandersetzung mit dem nordamerikanischen Außenministerium über das wirkliche Ausmaß der nordamerikanischen Hilfe und über die Behandlung des in Brasilien investierten nordamerikanischen Kapitals. Diese Politik rief die erbitterte Opposition gewisser Kreise hervor, an deren Spitze Carlos Lacerda, Gouverneur des volkreichen Staates Guanabara, zu nennen ist.

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Damals versuchte die brasilianische Regierung, die Entwicklung nach einem festen Plan voranzutreiben, wobei sie das von Kubitschek entworfene Programm fortsetzte. Für die besonders gefährdete Region des brasilianischen Nordostens war eine besondere Behörde geschaffen worden, die SUDENE (Superintendencia del Nordeste), deren Leitung dem Soziologen Celso Furtado anvertraut wurde. Jedoch gefährdete die Inflation den Erfolg jeglicher Planungspolitik in Brasilien. Goulart schlug drei konkrete Maßnahmen vor: 1. Agrarreform; 2. Beschränkungen für Gewinnüberweisungen ins Ausland und stärkere Kontrolle der ausländischen Gesellschaften; 3. Wahlrecht für die Analphabeten, die einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung ausmachen. Aber seine Initiativen wurden im Parlament blockiert. Goulart bemühte sich um Unterstützung durch eine starke Volksbewegung. Aber damit kam er nicht zum Ziel. Er wurde schließlich ziemlich leicht durch eine rechtsstehende Militärbewegung gestürzt, die zumindest moralisch von der neuen nordamerikanischen Regierung unter Johnson unterstützt wurde. Viele Beobachter waren von der fast völligen Einmütigkeit der Armee bei diesem Staatsstreich und von der Passivität der Bevölkerung angesichts der militärischen Erhebung überrascht. Die Erklärung dafür ist darin zu suchen, daß Brasilien sich allzusehr an Wahlstimmenkauf und Klüngel-Politik gewöhnt hat, die eine Entstehung echten Staatsbürgerbewußtseins nicht eben begünstigt. Politiker auf den verschiedenen Ebenen handeln die Stimmen ihrer Wähler gegen die Gewährung von Vergünstigungen ein. Und darüber geht das staatsbürgerliche Interesse nicht hinaus. Seit langem greift die Armee immer wieder aktiv in die Politik ein, und gegen diese Tradition gibt es noch kein genügend starkes Gegengewicht. Die Studentenbewegung ist zwar auch an politischer Aktivität interessiert) wirkt aber höchstens als Unruhestifter; und die Gewerkschaften, die sehr wenig an der Politik interessiert sind, konzentrieren ihre Aufmerksamkeit im allgemeinen auf Probleme von minderer Bedeutung. Der überraschendste Zug an dem aus dem Putsch hervorgegangenen Regime, an dessen Spitze General Humberto Castelo Branco (Präsident seit 1964) steht, ist vielleicht, daß es seine konservative Einstellung gar nicht zu verbergen sucht und entschlossen scheint, auf vielen Gebieten, auf denen Brasilien bereits mit Hilfe gemäßigter Planung und fortschrittlichem Geist etwas erreicht hatte, die Ziele zurückzustecken. Man ist so weit gegangen, dem ehemaligen Präsidenten Juscelino Kubitschek die Bürgerrechte abzuerkennen, um ihn als wahrscheinlichen Kandidaten für die nächsten Wahlen auszuschalten. Jede als subversiv betrachtete Bewegung (zum Beispiel ein Arbeiterstreik) wird unnachsichtig unterdrückt. Die Maßnahmen gegen die brasilianischen Intellektuellen haben viele von diesen ins Exil getrieben. Natürlich müssen sich alle diese Vorgänge nachhaltig auf die Entwicklung Brasiliens auswirken.

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II. Argentinien Während der Regierungszeit Peróns (1946–55) machte Argentinien einen doppelten politischen Prozeß durch: der eine war gekennzeichnet durch Willkür, Demagogie und die Sprunghaftigkeit der Regierungspläne Peróns; der andere bewirkte eine Verbesserung der Lebensbedingungen für die breiten Volksschichten und deren stärkere (wenn auch im allgemeinen gelenkte) Beteiligung am politischen Leben in Argentinien. Zu Anfang konnten die Sozialreformpläne infolge der während des Zweiten Weltkrieges und des Koreabooms angesammelten Devisenreserven leicht durchgeführt werden; diese waren aber bald zusammengeschmolzen. Der Verstädterungsprozeß infolge der Binnenwanderung und eine gewisse Euphorie im Industriesektor sicherten dem Regime trotzdem noch einige Lebensdauer. Perón wagte nicht einmal, eine auch nur schüchterne Agrarreform in Angriff zu nehmen oder dafür zu sorgen, daß die Wirtschaftsplanung wirklich ernsthaft vorangetrieben wurde. Die Forderungen des Volkes brachte er gewöhnlich durch ungewöhnlich hohe Zugeständnisse zum Schweigen und erkaufte sich die Unterstützung der Streitkräfte durch Privilegien für die hohen Offiziere. Es kam der Augenblick, da er, weil ihm die Mittel ausgingen, seinen Nationalismus zum Teil aufgab und Verhandlungen mit den nordamerikanischen Erdölgesellschaften aufnahm. Die Revolution von 1955 brachte einen Rückschritt in der argentinischen Sozialentwicklung mit sich. Nach einer de-factoMilitärregierung kam Arturo Frondizi (1958–62) an die Macht, der sich geschickt den Umstand zunutze gemacht hatte, daß die Peronisten keine eigenen Kandidaten aufstellen durften. Frondizi hatte eine Politik der nationalen Befriedung, des wirtschaftlichen Fortschritts und der Verteidigung der Reichtumsquellen des Landes versprochen. Einmal an der Macht, vollzog er eine Wendung um 180 Grad und bemühte sich um eine möglichst starke Unterstützung durch die nordamerikanischen Investitoren, ohne ihnen irgendwelche Bedingungen zu stellen. Daß er dank der peronistischen Wahlstimmen Präsident geworden war, führte andrerseits zu starker Verbitterung in der Armee. Immer stärker sah er sich einem stetigen Druck des Militärs ausgesetzt, dem er immer mehr nachgab, bis er schließlich von den Streitkräften gestürzt wurde. Neue Wahlen brachten nach José María Guido Arturo Illía an die Macht, einen Anhänger des sogenannten ›Volksradikalismus‹, der in Wirklichkeit eine konservative Einstellung vertritt. Der neue Präsident hat mehr politisches Geschick bewiesen, als man ihm anfangs zutraute. In gewissem Grade hat er verstanden, die Forderungen der Armee zurückzuschrauben, die Unterstützung einiger Peronistenführer zu gewinnen und sogar Maßnahmen zu ergreifen, die die argentinische Wirtschaft gegen die Ansprüche des Auslandskapitals schützten. Nichts von alledem reicht aber bereits aus, um die herrschende Krise zu überwinden.

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III. Mexiko Mexiko ist in Lateinamerika das Land mit der größten politischen Stabilität, und diese wird sehr wahrscheinlich noch lange Jahre anhalten. Praktisch handelt es sich um die Regierung einer Einheitspartei, der Institutionellen Revolutionären Partei (PRI). Man hat viel von einer ›Verbürgerlichung‹ der mexikanischen Revolution und von einem Verrat an den ursprünglichen Zielen gesprochen. In gewissem Maße mag das zutreffen. Die Einschaltung zahlreicher, nicht immer sehr skrupelhafter Mittelspersonen bei der politischen Willenskundgebung aller Volksschichten (der Arbeiter, Bauern, Militärs und Industriellen) bewahrt vor übertriebenen Forderungen. Zumindest aber hat Mexiko eine Stabilität erreicht, die sein wirtschaftliches Wachstum nicht erschwert, und wahrscheinlich steht die augenblickliche Phase des nationalen Kapitalismus künftigen Fortschritten nicht im Weg. Wirtschaftsdirigismus, staatlicher Kapitalismus und ausländische Beteiligung, die junge einheimische Privatindustrie und das Wiedererstehen großer Landgüter (die allerdings im allgemeinen produktiver sind als in früheren Zeiten), eine gleichzeitig unabhängige und gemäßigte Außenpolitik bestimmen das Bild des heutigen Mexiko. Man kann zugleich von der Korruptheit von Politikern und Gewerkschaftsführern, Reformwillen auf den verschiedensten Gebieten, übermäßigem Kultur-Nationalismus und kluger Verschmelzung indianischer und europäischer Elemente sprechen, wenn man von Mexiko berichtet. IV. Chile Dieses Land bietet wiederum ein Beispiel für eine Stagnation in der Wirtschaft, die sich nachhaltig auf die politische Lage auswirkt. Bei den jüngsten Wahlen (September 1964) standen sich zwei Hauptkräfte gegenüber, von denen keine als konservativ bezeichnet werden kann: die traditionelle Linke und die neuentstandene Gruppe der christlichen Demokraten. Der Wahlsieg dieser letzteren und der Aufstieg Eduardo Freis zur Präsidentschaft kann zwar als das Ergebnis der Unterstützung durch die alten Rechtsparteien und den nordamerikanischen Einfluß ausgelegt werden, nichts weist jedoch darauf hin, daß diese Wahlhilfe den neuen Präsidenten davon abhalten könnte, seine Reformpläne zu verwirklichen. Alles hängt letzten Endes davon ab, inwieweit er die Unterstützung der Politiker seines Landes erhält, und ob er fähig sein wird, mit den linksorientierten Kräften, die in der FRAP zusammengefaßt sind, ins Gespräch zu kommen. V. Andere Länder In anderen Ländern Lateinamerikas begegnen wir auch heute noch traditionelleren Regierungsformen oder dem Verfall von Regimen, die ursprünglich einmal große Hoffnungen geweckt hatten. Die Agitation unter der

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Landbevölkerung in Kolumbien und Peru verstärkt sich wieder. In Venezuela scheiterten die revolutionären Versuche, vermeintliche Abnutzungserscheinungen der regierenden Partei (der Demokratischen Aktion) wieder zu beseitigen und zu den ursprünglichen Zielsetzungen zurückzukehren. Überall ist das Fehlen einer klaren Erkenntnis der Völker zu beobachten, daß eine politische Entwicklung notwendig ist, die den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt fördern und in die richtigen Bahnen lenken könnte. Die Verschärfung der Strukturkrise Mit 17 Millionen Einwohnern um das Jahr 1820, rund 70 Millionen im Jahre 1900, 163 Millionen im Jahre 1950 und etwa 200 Millionen im gegenwärtigen Augenblick wird Lateinamerika noch vor 1975 etwa 300 Millionen und im Jahre 2000 mehr als 600 Millionen Einwohner zählen.55So ist Lateinamerika der Bereich mit der höchsten Wachstumsrate der Bevölkerung in der Welt. Am höchsten ist diese Rate in Mittelamerika und den karibischen Ländern, wo sie in manchen Gebieten 3,5% beträgt. Die beiden offensichtlichsten Ausnahmen bilden Uruguay und Argentinien mit weniger als 2%. Nach Berechnungen der CEPAL (Wirtschaftskommission der UNO für Lateinamerika) werden von den 100 Millionen, um die die Bevölkerungszahl bis 1975 voraussichtlich zunimmt, ungefähr 38 Millionen auf die erwerbstätige Bevölkerung entfallen; wenn die bisherige Entwicklung anhält, können höchstens 5 Millionen dieses Arbeitskräftepotentials von der Landwirtschaft absorbiert werden (und noch weniger, wenn die Technisierung beschleunigt wird). Es bleiben also 33 Millionen, die außerhalb der Landwirtschaft eine Beschäftigung suchen werden. Es wäre zwar wünschenswert, wenn sie durch den Verstädterungsprozeß absorbiert werden könnten, doch ist leider keineswegs gewährleistet, daß nicht wie bisher weitgehend die versteckte Arbeitslosigkeit, eine Verzerrung der Tätigkeit des Staates (der aus politischen Gründen geneigt ist, wenig qualifizierte Arbeitskräfte einzustellen) und ganz allgemein ein künstlich aufgeblähter Tertiärsektor bestehen bleiben. Insgesamt ist die Gefahr der Übervölkerung jedoch nicht so bedrohlich wie in manchen asiatischen Ländern, da in Lateinamerika noch ausgedehnte, bisher ungenutzte Flächen unter Kultur genommen werden können und in anderen Gebieten nach Durchführung der notwendigen Reformen die Produktivität wesentlich gesteigert werden kann.

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 Abb. 19: Friedhof in Recife/Brasilien. Infolge der hohen Kindersterblichkeit in Nordostbrasilien werden ständig Gräber vorbereitet. Im Durchschnitt finden am Tag 12 bis 15 Beerdigungen von Kindern statt.

Die heikelsten Aspekte des Bevölkerungsproblems sind die Altersstruktur der Wachstumsrate (Überwiegen der jungen Jahrgänge), die Dringlichkeit der oben erwähnten Reformen und die Notwendigkeit von Investitionen, um diese wachsende Bevölkerung ausbilden und produktiv in den Wirtschaftsprozeß einreihen zu können und ihr gleichzeitig einen höheren Lebensstandard zu sichern. Zwischen 1945 und 1955 konnte Lateinamerika eine jährliche Wachstumsrate des Pro-Kopf-Einkommens von 2,7% verzeichnen; seitdem ist sie auf 1% abgesunken. Nach Schätzungen der CEPAL müßte Lateinamerika bis 1975 die industrielle Produktion um 400%, die landwirtschaftliche Produktion um 120% steigern, um wenigstens wieder die frühere wirtschaftliche Wachstumsrate zu erreichen. Die eben angeführten Zahlen schließen nicht aus, daß in einigen Ländern Teilerfolge verzeichnet werden können. Das steht in offenem Gegensatz zu der unbestreitbaren Verschlechterung der wirtschaftlichen und sozialen Lage und den wachsenden Spannungen, die sogar in den besser entwickelten Ländern zu beobachten sind.

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Bei der Beurteilung des sozialen Wandels nach dem Zweiten Weltkrieg müssen Unterschiede gemacht werden: 1. In Argentinien, Uruguay, in geringerem Ausmaß auch in Chile, ist der Lebensstandard nach 1945 gesunken, obwohl das Pro-Kopf-Einkommen zwischen 550 und 325 Dollar schwankt, kräftige Mittelschichten und ein hoher Grad der Verstädterung vorhanden sind. Das hohe Pro-Kopf-Einkommen in Venezuela zwischen 1955 und 1959 (etwa 1000 Dollar) spiegelt keineswegs eine den eben angeführten Ländern ähnliche soziale Situation wider. Es handelt sich um eine ungleichgewichtige Entwicklung, bei der gleichzeitig eine immer größere Verelendung gewisser Bevölkerungsschichten und eine Zunahme der sozialen Spannungen zu beobachten sind. 2. Brasilien, Mexiko, in geringerem Grade auch Kolumbien, weisen mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 250 bis 300 Dollar für 1955–1959 höhere wirtschaftliche und folglich auch größere Einkommenswachstumsraten auf. Aber in diesen Fällen ist es, genau wie bei Venezuela, unmöglich, Schlußfolgerungen aus Durchschnittszahlen zu ziehen, die für das ganze Land gelten, weil die Lage in den einzelnen Landesteilen zu unterschiedlich ist. Auch Costa Rica und Panama müßten dem Pro-Kopf-Einkommen nach dieser Gruppe zugerechnet werden. Doch bildet Panama wegen des Kanals einen Sonderfall, der gesondert untersucht werden müßte. Genauso verhält es sich, aus verschiedenen Gründen, mit den sozialen Verhältnissen in Kuba. 3. Bolivien, Ekuador, El Salvador, Guatemala, Haiti, Honduras, Nikaragua, Paraguay, Peru und die Dominikanische Republik gehören in eine niedrigere Gruppe, in der das Jahreseinkommen pro Kopf der Bevölkerung zwischen 75 und 200 Dollar liegt. Mit Ausnahme Perus handelt es sich um Länder mit geringer Bevölkerung, die noch vorwiegend in ländlichem Milieu ansässig ist. In Bolivien, Ekuador, Guatemala und Peru ist die ländliche Bevölkerung in ihrer Mehrzahl indianischen Ursprungs. Im allgemeinen gibt es in den Ländern dieser Gruppe eine starke Oberschicht und eine sehr kleine Mittelklasse. Die sozialen Spannungen wechseln in ihrer Intensität, im einen oder anderen Fall haben sie zu Rebellionen oder Revolutionen geführt. Industrialisierung und technischer Fortschritt haben die Gewerkschaftsbewegungen immer stärker werden und neue Berufe entstehen lassen. In beiden Fällen hat dies zu einem besseren Schutz gegen die Inflation und einem höheren Anteil an den Früchten des wirtschaftlichen Fortschritts geführt. Es wird angenommen, die bessere Entwicklung in Mexiko und Brasilien habe damit zusammengehangen, daß Unternehmer und Fachleute zur Verfügung standen. In anderen Ländern wiederum haben das unnachgiebige Beharren gewisser Gruppen auf einmal erworbenen Positionen oder die Beseitigung eines echten Wettbewerbs durch Familienwirtschaft oder politische Klüngelei sich sehr hemmend ausgewirkt (jeweils in dem Maße, wie der Staat an

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wirtschaftlicher Dynamik und Lebenskraft verlor, weil er sich zu sehr von Problemen und Forderungen der einen oder anderen Schicht in Anspruch nehmen ließ). Das Erziehungswesen ist nach völlig veralteten Gesichtspunkten organisiert, und trotz kluger Kritik und einiger Verbesserungspläne kann einstweilen noch nicht von einem bemerkenswerten Wandel der Dinge die Rede sein. Die Ärmsten der Armen leben noch immer in ländlichen Gebieten, obwohl sich in den Slums der Großstadt heute eine Bevölkerung von schätzungsweise viereinhalb Millionen Familien zusammendrängt, die kaum über ein Existenzminimum verfügen. Die Verschlechterung der Lage in der lateinamerikanischen Landwirtschaft nach 1945 – sogar im Vergleich zu Asien und Afrika – erhellt aus der nachstehenden Tabelle:  Tabelle XII Verschlechterung der Agrarerzeugung in Lateinamerika56

Die Zuspitzung der Lage auf dem Lande hat der Forderung nach Agrarreformen Nachdruck verliehen. Einerseits möchte man die Landbevölkerung dazu anregen, die landwirtschaftliche Erzeugung zu steigern, und sie in die Lage versetzen, den Binnenmarkt für die einheimischen Industrien zu vergrößern. Andrerseits treten die Unterschiede im Lebensstandard der einzelnen Landesteile immer stärker zutage, begünstigen die Binnenwanderung und tragen zur Verschärfung der sozialen Spannungen bei. Diese schlagen sich in einer aktiven Teilnahme der Bauern an politischen Organisationen und Bewegungen nieder (bolivianische und kubanische Revolution, Agitation in Venezuela, Peru und Chile). Mit Aufmerksamkeit verfolgt man den Verlauf und die Ergebnisse der Agrarreformen in Mexiko, Bolivien und Kuba. Auch andere Länder haben diesbezüglich Versuche unternommen. Diese wurden aber durch politische Umwälzungen im Keime erstickt oder scheiterten an einem übermäßigen Vertrauen darauf, daß eine wohlmeinende Gesetzgebung schon allein die alten Strukturen tatsächlich verändern könnte (Guatemala, Kolumbien, Chile, Honduras, Peru, Uruguay u.a.). Die praktischen Ergebnisse sind hier ebensowenig ermutigend wie in anderen unterentwickelten Ländern. Der Ausbau des Straßennetzes hat im allgemeinen das unerwünschte Resultat, die Landflucht noch zu beschleunigen. Der Großgrundbesitz ist in Lateinamerika keineswegs ausgestorben, wie aus der nachstehenden Tabelle zu ersehen ist, die sich auf Zahlen für das Jahr 1950 stützt: Tabelle XIII Grundbesitzverhältnisse in Lateinamerika57 (Nach Thomas F. Carroll) BesitzgrößenProzentzahlProzentzahl der

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(in Hektar)der LandgüterBodenfläche 0–2072,63,7 20–10018,08,4 100–10007,923,0 mehr als 10001,564,9 100,0100,0

Zwei unmittelbare Probleme erschweren vor allem die Durchführung der Agrarreform: wie kann die Landenteignung finanziert werden, und wie können die landwirtschaftlichen Eigenversorger in echte Landwirte verwandelt werden? Die Lösungen hängen zweifellos stets von dem politischen und sozialen Gesamtgefüge eines Landes ab, das die Entwicklung beschleunigen oder ihr als ständiges Hemmnis im Wege stehen kann. Der Weg einer progressiven Besteuerung scheint nicht gangbar zu sein, weil es an den nötigen Verwaltungseinrichtungen fehlt, um die Einschätzungen immer auf dem neuesten Stand zu halten und die Betriebsformen in geeigneter Weise zu kontrollieren. Der bäuerliche Zwergbesitz stellt sich immer mehr als besonders nachteilig heraus. So hat dessen Überwiegen in Haiti seit der Unabhängigkeit des Landes verhängnisvolle Folgen gehabt. Die städtischen Probleme haben sich in dieser Periode wenig geändert. Das Überangebot an Arbeitskräften ergießt sich weiterhin in tertiäre Beschäftigungsarten von geringer Produktivität, es trägt weiter zur Aufblähung des Staatsapparates und zu dem Elend in den Slums der Städte bei. Eine neue Erscheinung ist das fast völlige Erlahmen der Bautätigkeit in Lateinamerika, abgesehen von manchen Gebieten Brasiliens und Mexikos. Das Problem des sozialen Wohnungsbaus ist einer Lösung noch nicht nähergerückt, da alle Programme unter dem Mangel an Geldmitteln leiden und hinter dem enormen Bevölkerungswachstum zurückbleiben. In Kolumbien ist zum Beispiel für 1961 ein Fehlbestand von 272000 städtischen Wohnungen errechnet worden. In dem Zeitraum von 1961–65 müßten 369000 Wohnungen gebaut werden, um wenigstens das bereits unbefriedigende Verhältnis von Angebot und Nachfrage vom Jahre 1961 wieder zu erreichen. Weder das Wohnungs- noch das Arbeitsbeschaffungsproblem in den Großstädten kann ohne staatliche Planung gelöst werden. Wenn der heutige Trend zur Verstädterung anhält, wird der Bundesdistrikt Mexiko und seine unmittelbare Umgebung im Jahre 1985 eine Bevölkerungszahl von 15 Millionen Einwohnern erreicht haben. Die öffentlichen Dienstleistungen (Elektrizitäts- und Wasserversorgung, Verkehrs- und Gesundheitswesen) stellen in diesen städtischen Ballungszentren ein nahezu unlösbares Problem dar. Daher die Tendenz zur Dezentralisierung der Industrie und zur regionalen Planung. Dazu gehören Standortverlagerungen der jungen Hüttenindustrien in Übereinstimmung mit den Mineralvorkommen und vorhandenen Energiequellen, gewisse Bodenreformpläne und die Erschließung neuer

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Ansiedlungsgebiete. Die unkontrollierbare Inflation hat in den letzten Jahren zu einem Rückgang des Verbrauchs an Grundnahrungsmitteln geführt und schafft neue Transport- und Mietprobleme (da der Staat unfähig ist, die Auswirkungen der Inflation zu mildern). Vergangenheit und Zukunft In der jüngsten Zeit hat sich in Lateinamerika ein gewisses Mißtrauen gegenüber der ausländischen technischen Hilfeleistung breitgemacht, insbesondere weil diese oft nur im Dienste außenpolitischer Ziele der Großmächte zu stehen scheint. Man kritisiert gleichzeitig, was Richard F. Beherendt die »Überentwicklung von Entwicklungsorganisationen« nennt, die lediglich »zu einer Überproduktion an Berichten und Empfehlungen führt, die zum größten Teil lediglich auf dem Papier stehen bleiben.« Beherendt stellt weiterhin fest, man müsse, um die Irrtürmer der Experten und Politiker in der Auseinandersetzung mit der Unterentwicklung überwinden zu können, vor allem folgende Punkte berücksichtigen: 1. die Hauptursachen der Unterentwicklung haben historische Wurzeln; 2. es geht dabei um soziale Faktoren, die im kulturellen Zusammenhang gesehen und erkannt werden müssen; 3. diese Ursachen können nur durch allgemeine sozial-kulturelle Veränderungen behoben werden; 4. folglich sind die sozialen Faktoren von größerer Bedeutung als die technischen und wirtschaftlichen, zugleich sind sie aber auch schwerer zu ändern als diese; 5. technische und finanzielle Hilfeleistung kann nur dann wirksam werden, wenn sie auf einen sozial-kulturellen Wandel abzielt, der Kräfte freisetzt, die in den bisherigen statischen Sozialgefügen vernachlässigt oder unterdrückt wurden: Wißbegier, Forschergeist, Ehrgeiz, Initiative, Bereitwilligkeit zur Übernahme eines Risikos, soziale Mobilität und die größtmögliche Heranziehung eines möglichst großen Teils der Bevölkerung. Aber diese Postulate setzen Idealbedingungen voraus, die in der lateinamerikanischen Politik nicht gegeben sind. Entwicklungsstreben und soziale Spannungen der Nachkriegszeit haben sich in der Politik auf zwei Weisen geäußert: durch Revolutionen und durch schrittweise Umstellungen. Während einige Länder besonderes Gewicht auf ausländische Hilfe, die Herausbildung von leitenden Gruppen, einen Wandel im Erziehungswesen oder die Veränderung des nationalen Wirtschaftsmechanismus legten, kann man doch in keinem Fall behaupten, die wichtigsten Ereignisse seien das Resultat geeigneter Studien und Planungen gewesen; die bemerkenswerten Veränderungen ergaben sich vielmehr meistens aus unvorhergesehenen Umständen.

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In den verschiedensten Bereichen ist die Untersuchung der Entwicklungsprobleme gefördert worden. Internationale Organisationen wie die CEPAL, die FAO und die UNESCO haben ihren Beitrag dazu geleistet. Verschiedene Länder (Mexiko, Brasilien, Chile, Argentinien) bemühen sich um eine verstärkte Ausbildung von Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlern und fördern Forschungen auf diesem Gebiet. Trotz alledem sind keine allzu großen Fortschritte zu beobachten. Eine historische Betrachtung der meisten Probleme, die zu der Krisensituation beigetragen haben, kann von Nutzen sein, um zwei vordringlich wichtige Punkte zu klären: 1. Jede Diagnose oder Politik, die sich nur auf die Erkenntnis einer einzigen Ursache für die heutigen Mißstände stützt, ist zum Scheitern verurteilt. 2. Die zeitliche Perspektive verhilft zur Unterscheidung zwischen primären und sekundären Faktoren und befähigt zur vernünftigen Erkenntnis des Zusammenwirkens der Faktoren, die zur heutigen Strukturkrise geführt haben. Die vorstehenden Überlegungen sowie die gesamte vorliegende Untersuchung können dem Leser vielleicht einen Eindruck davon vermitteln, wie schwer es ist, einen einheitlichen Gesamtüberblick über die jüngste Geschichte Lateinamerikas zu erhalten. Sollte dies die historische Betrachtungsweise an sich entwerten können? Keineswegs: die obige Feststellung beweist vielmehr, wie notwendig es ist, die bisherigen historischen Forschungen noch mehr zu vertiefen. Anmerkungen 1 Jacques Lambert, Amérique Latine. Structures sociales et institutions politiques. Paris 1963. 2 Charles Wagley und Marvin Harris, A tipology of Latin American Subcultures, in: American Anthropologist 3 (1955). 3 Vereinte Nationen (Bericht von Raul Prebisch) El dessarrollo económico de América Latina y algunos de sus principales proplemas. 1949. 4 H.W. Singer, Economic progress in the underdeveloped countries, in: Social Research (März 1949); H.W. Singer, The distribution of gains between investing and in: Social Research (März 1949); H.W. Singer, The distribution of gains between investing and borrowing countries, in: American Economical Review (Mai 1950). 5 R.E. Enock, Republics of South and Central America. London 1922, S. 10. 6 Archives du Ministère des Affaires Etrangeres de la France (im folgenden: A.M.A.E.F.), Paris, Correspondance commerciale de Montevideo. Bd. 14, S. 233 f.

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7 A.M.A.E.F. – Corr. Comm. de Montevideo. Bd. 12, S. 199 f. 8 E. Grandidier, Yoyage dans L’Amérique du Sud – Pérou et Bolivie. Paris 1861. 9 A.M.A.E.F. – Corr. Comm. de Lima. Bd. 8, S. 16 ff. 10 F. Seeber, Importance économique et financière de la République Argentine. Buenos Aires 1888. 11 A.M.A.E.F. – Corr. Comm. de Caracas. Bd. 9, S. 21 ff. 12 A.M.A.E.F. – Corr. Comm. de Guayaquil. Bd. 1, S. 362 f. 13 H. Hauser, Naissance, vie et mort d’une institution: le travail servil au Brésil, in: Annales d’Histoire Economique et Sociale X, S. 309. 14 A.M.A.E.F. – Corr. Comm. de Bahía. Bd. 7, S. 1 ff. 15 Fernando Henrique Cardoso, Capitalismo e escravidão no Brasil meridional. São Paulo 1959. 16 Vgl. Celso Furtado, Formacão econômica do Brasil. Rio de Janeiro 1959. 17 A.M.A.E.F. – Corr. Comm. de Rio. Bd. 15, S. 372. 18 A.M.A.E.F. – Corr. Comm. de Rio. Bd. 10, S. 183. 19 A.M.A.E.F. – Corr. Comm. de Lima. Bd. 17, S. 146 f. 20 Vgl. G. Beyhaut, R. Cortes Conde, H. Corostegui und S. Torrado, Inmigración y desarrollo econômico. Buenos Aires 1961. 21 Pierre Denis, Le Brésil au vingtième siècle. Paris 1910, S. 9. 22 Vgl. Jose E. Iturriaga, La estructura social y cultural de México. Mexiko 1951, S. 80. 23 Roland T. Ely, Cuando reinaba Su Majestad el azúcar. Buenos Aires 1963, S. 681. 24 a.a.O., S. 691. 25 Jose E. Iturriaga, a.a.O., S. 35 ff.

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26 Jesus Silva Herzog, Breve historia de la revolución mexicana. Mexiko 1960, Bd. I, S. 38. 27 Vgl. Edwin Lieuwen, Armas y política en América Latina. Buenos Aires 1960. 28 George M. Foster, Culture and conquest: America’s Spanish heritage. 1960. 29 M.A. Verbrugghe, A travers l’isthme de Panama. Paris 1879. 30 J. Martinet, L’agriculture au Pérou. Paris 1878. 31 E. Grandidier, Voyage dans l’Amerique du Sud – Pérou et Bolivie. Paris 1861. 32 Charles D’Ursel, Sud ’Amérique. Paris 1879. 33 Lucio V. Mansilla, Una excursión a los indios ranqueles. Buenos Aires 1870. 34 C. Skogman, Viaje de la fragata sueca Eugenia (1851–1853). Auszugsweise Übersetzungen, veröffentlicht in Buenos Aires, 1942. 35 Airmard, Le Brésil nouveau. Paris 1886. 36 Charles Wiener, Chili et les chiliens. Paris 1888. 37 République de l’Equateur. Weltausstellung von 1867 (Broschüre). 38 Gilberto Freyre, Sobrados e mucambos. Rio de Janeiro 1951. 39 Juan Bautista Alberdi, Escritos póstumos. Bd. I: Estudios Económicos. Buenos Aires 1895, S. 591. 40 Merle Curti, El desarrollo del pensamiento norteamericano. Buenos Aires 1956, S. 576–577. 41 Ein klassisches Werk über die United Fruit Company ist: Ch. D. Kepner und J.H. Soothill, The Banana Empire, a case study in economic imperialism. New York 1935. 42 Louis Guilaine, L’Amérique Latine et l’impérialisme américain. Paris 1928, S. 173. 43 Vgl. Anibal Pinto Santa Cruz. Chile, un caso de desarrollo frustrado. Santiago 1959.

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44 UNO – Informe preliminar sobre la situación social en el mundo. New York 1952. 45 Die Angaben über die Zinngewinnung in Bolivien sind im wesentlichen entnommen aus Luis Penaloza, Historia económica de Bolivia. Bd. II. La Paz 1954. 46 Jacques Lambert, Os dois Brasis. São Paulo 1959. 47 Jaime Dorselaer und Alfonso Gregory, La urbanización en América Latina. Bd. I, S. 135. Madrid 1962; a.a.O., S. 171–173. 48 Milton Vanger, José Battle y Ordóñez of Uruguay, the creator of his time. Cambridge (Mass.) 1963. 49 Jose E. Iturriaga, La estructura social y cultural de México. Bd. II. Mexiko 1951. 50 Gino Germani, Estructura social de la Argentinia. Buenos Aires 1955. 51 Luis A. Costa Pinto, Estructura de clases en proceso de cambio, in: Desarrollo económico. Buenos Aires, April-Sept. 1963, Bd. 3, Nr. 1–2. 52 Jose Carlos Mariategui, Siete ensayos sobre la realidad peruana. Santiago 1955, S. 260. 53 Leopoldo Zea, América en la historia. Mexiko 1957, S. 191. 54 Jose Maria Centellas, Nacionalización de minas en Bolivia?, in: Combate, San José de Costa Rica, Juli-August 1961, Nr. 17, S. 30. 55 Wir benutzen Angaben der C.E.P.A.L. – Tendencias y programas sociales en América Latina. E/CN, 12/645 (1963). 56 Siehe Rapport annuel de la FAO. La situation mondiale de l’alimentation et de l’agriculture 1961. Rom 1961. 57 Thomas F. Carroll, The land reform issue in Latin America, in: Latin American Issues: Essays and comments. The Twentieth Century Fund. New York 1961.

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 1 Lateinamerika im 19. Jahrhundert: nach Großer Historischer Weltatlas III, herausgegeben vom Bayerischen Schulbuchverlag, München.  2 Argentinische Carretas, das wichtigste Verkehrsmittel vor dem Bau der Eisenbahnen: Foto Archivo General de la Nación Argentina, Buenos Aires

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 3 Reisewagen aus Habana; Zeichnung von Victor Adam: nach Richard Dana, Voyage à l’Ile de Cuba (1859). Le Tour du Monde. Première Année. Paris 1861 (Hachette, Paris)  4 Die Entwicklung des Eisenbahnwesens in Argentinien von 1865–1910: nach Zeitschrift ›El Magazinie‹, Buenos Aires  5 Sklavenversteigerung in Rio de Janeiro: nach M. Biard, Voyage au Brésil, 1858– 1859  6 Transport eines Flügels in Rio de Janeiro durch Sklaven: nach M. Biard, Voyage au Brésil, 1858–1859  7 Arbeitsvertrag in chinesischer Schrift: veröffentlicht in der ›Revista della Universidad della Habana‹ 163 (7. Okt. 63)  8 Chinesische Kulis auf Kuba; Zeichnung von Pelcoq nach einer Fotografie: nach Richard Dana, Voyage à l’Ile de Cuba (1859). Le Tour du Monde. Première Année. Paris 1861 (Hachette, Paris)  9 Italienische Einwanderer in Buenos Aires, 1904: Foto Archivo General de la Nación Argentinia, Buenos Aires  10 Festung am linken Ufer des Rio Limay an der Grenze zwischen der Republik Argentinien und dem Indianerterritorium: Foto Archivo General de la Nacion Argentinia, Buenos Aires  11 Lateinamerika im 20. Jahrhundert: nach Großer Historischer Weltatlas III, herausgegeben vom Bayrischen Schulbuchverlag, München  12 Autowerk in São Paulo/Brasilien: Foto Bildarchiv Horst v. Irmer, München  13 Baumwollernte in Brasilien: Foto René Burri, Magnum  14 Caracas – Glanz und Elend: Foto Paul Douglas, Paris  15 Indianische Zuschauer in einem südamerikanischen Fußballstadion: Foto Sergio Larrain, Magnum  16 Gebäude der Medizinischen Fakultät der Universität Mexiko: Foto P. Almasy, Unesco

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 17 Der politische Reformator Uruguays, José Battle y Ordóñez, im Wahlkampf: Foto Archivos Diario ›El Dia‹, Montevideo  18 Die neue Klasse – Offiziere einer südamerikanischen Armee: Foto Paul Douglas, Paris  19 Friedhof in Recife/Brasilien. Infolge der hohen Kindersterblichkeit in Nordostbrasilien werden ständig Gräber vorbereitet. Im Durchschnitt finden am Tag 12 bis 15 Beerdigungen von Kindern statt: Foto Cornell Capa, Magnum Zeittafel Vorbemerkung: Manche Daten, vor allem die der Unabhängigkeitserklärungen einiger süd- und mittelamerikanischer Staaten, sind heute in der lateinamerikanischen Geschichtsschreibung umstritten.

1810 Unabhängigkeitserklärung Chiles und Kolumbiens; Aufstand der Priester Hidalgo und Morelos in Mexiko 1811 Unabhängigkeitserklärung Venezuelas, Paraguays und Uruguays; Ekuador wird in Groß-Kolumbien eingegliedert 1814–1840 José Francia Diktator von Paraguay 1816 Unabhängigkeitserklärung Argentiniens (Vereinigte Staaten am Rio de la Plata); Besitzverteilung in Guayana zwischen England, Frankreich und Holland durch den Londoner Vertrag 1817 Uruguay als Cisplatinische Provinz Brasilien eingegliedert 1819 Wahl Simon Bolívars zum Präsidenten der Zentralrepublik Groß-Kolumbien; Venezuela bis 1830 Teil von Groß-Kolumbien 1820 Unabhängigkeitserklärung Mexikos

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1821 Unabhängigkeitserklärung Perus, Brasiliens und der Dominikanischen Republik 1822 Haiti und die Dominikanische Republik vereinigt (bis 1844) 1822/23 Augustin I. Kaiser von Mexiko 1822–1831 Dom Pedro I. Kaiser von Brasilien 1823 Gründung der Zentralamerikanischen Konföderation (Guatemala, El Salvador, Honduras, Nikaragua, Costa Rica) 1823–1830 Bürgerkrieg in Chile 1825 Unabhängigkeitserklärung Boliviens 1828 Frieden von Montevideo: Uruguay wird endgültig selbständige Republik 1830 Zerfall Groß-Kolumbiens in die Republiken Vereinigte Staaten von NeuGranada, Ekuador und Venezuela 1831 José Antonio Paez Präsident von Venezuela 1831–1889 Dom Pedro II. Kaiser von Brasilien 1833 Santa Anna Präsident von Mexiko 1838 Seit 1838 bis zum Ende des 19. Jhs. offener und latenter Bürgerkrieg in Uruguay 1839 Zerfall der Zentralamerikanischen Konföderation

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1842–1845 Bürgerkrieg in Peru (Ramón Castilla Diktator) 1845 Argentinien zur Abtretung der Falklandinseln an England gezwungen 1846–1848 Krieg zwischen Mexiko und den USA (Frieden von Guadalupe-Hidalgo) 1858 Reformgesetze in Mexiko: Religionsfreiheit und bürgerliche Eheschließung; Verstaatlichung des Kirchenvermögens 1859 Eröffnung der argentinischen Eisenbahn 1861 Neu-Granada durch Kongreßbeschluß zu den Vereinigten Staaten von Kolumbien erklärt; Benito Juárez Präsident von Mexiko 1862 Britisch-Honduras Jamaica unterstellt 1863–1867 Kaiserreich Mexiko unter Maximilian von Habsburg 1865/66 Krieg zwischen Spanien, Peru, Chile, Ekuador und Bolivien 1865–1870 Krieg zwischen Paraguay, Brasilien, Argentinien und Uruguay 1867 Kaiser Maximilian von Mexiko erschossen (Wiederherstellung der Republik) 1879–1884 Salpeterkrieg Perus und Boliviens gegen Chile 1884 Porfirio Díaz Präsident von Mexiko; Britisch-Honduras erhält eine eigene Verwaltung

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1889 Umwandlung Brasiliens in eine Republik (Vereinigte Staaten von Brasilien) 1891 Bürgerkrieg in Chile zwischen Kongreß und Präsident Balmaceda 1895 Aufstand auf Kuba gegen Spanien 1898 Spanisch-amerikanischer Krieg: Abtretung Kubas an die USA durch Spanien; Puerto Rico wird zuerst spanisch, dann an die USA abgetreten 1899 Cipriano Castro Präsident von Venezuela: Schwere Eingriffe in die Interessen und das Eigentum fremder Staatsbürger 1902 Seeblockade venezolanischer Häfen durch England, Deutschland und Italien 1903 Vertrag zwischen Kolumbien und den USA über den Bau des Panamakanals; Unabhängigkeitserklärung Panamas 1910/1911 Aufstand gegen Porfirio Díaz in Mexiko: Beginn der Sozialrevolutionären Epoche der mexikanischen Geschichte 1913 Bündnisvertrag zwischen Argentinien und Bolivien 1916 Bryan-Chamarro-Vertrag zwischen den USA und Nikaragua (NikaraguakanalProjekt) 1920 Feierliche Eröffnung des Panamakanals durch den Präsidenten der USA 1930 Seit 1930 mit Unterbrechungen Diktatur der Familie Trujillo in der Dominikanischen Republik 1932–1935

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Chacokrieg zwischen Bolivien und Paraguay 1940 Fulgencio Batista y Zaldívar Diktator von Kuba (mit Unterbrechungen bis 1958) 1946 Juan Perón Präsident von Argentinien (bis 1955) 1948 Revolution in Costa Rica; Militärputsch in Venezuela und Peru 1958 Revolution in Kuba unter Fidel Castro 1960 Sturz der Familie Trujillo in der Dominikanischen Republik

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