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German Pages 185 Year 2000
Aus DER REALITÄTSTRIP Ihre Annäherungsversuche werden immer dreister. Sie scheint der Meinung zu sein, daß gute Freunde auch sexuell Kontakt aufnehmen sollten. Mit Leidenschaft hat das nichts zu tun. Aber das ist natürlich unmöglich. Ich habe die dazu nötigen äußerlichen Organe, kann sie aber nicht benützen. Außerdem will ich keinesfalls, daß sie meinen Außenkörper berührt. Wie soll ich ihr die Idee austreiben? Wenn ich sage, daß ich impotent bin, setzt sie es sich in den Kopf, mich zu kurieren. Wenn ich behaupte, homosexuell zu sein, dann hat sie bestimmt auch dagegen therapeutische Maßnahmen auf Lager. Und wenn ich sage, daß sie mich körperlich einfach nicht reizt, ist sie verletzt. Dieses Getue mit dem Sex scheint eine Art Selbstbestätigung für sie zu sein. Sie trägt oft eine durchsichtige Bluse und sehr kurze Röcke. Bei jeder nur möglichen Gelegenheit reibt sie ihren Körper an meinem. Die Spannung steigt. Sie ist fest entschlossen, mich zu besitzen... Science Fiction von Robert Silverberg, Ray Bradbury, Walter M. Miller jr. und Roger Zelazny
In der Reihe der Ullstein Bücher: Science-Fiction-Stories Band 1 bis Band 24 Science-Fiction-Romane Jeff Sutton: Die tausend Augen des Krado 1 (2812) Sprungbrett ins Weltall (2865) Samuel R. Delaney: Sklaven der Flamme (2828) Cyril Judd: Die Rebellion des Schützen Cade (2839) Eric Frank Russell: Planet der Verbannten (2849) Gedanken-Vampire (2906) Larry Maddock: Gefangener in Raum und Zeit (2857) Bart Somers: Zeitbombe Galaxis (2872) Welten am Abgrund (2893) Manly W. Wellman: Insel der Tyrannen (2876) Invasion von der Eiswelt (2898) Robert Moore Williams. Zukunft in falschen Händen (2882) H. Beam Piper: NULL-ABC (2888) Murray Leinster: Die Irrfahrten der »Spindrift« (2917) Im Reich der Giganten (2937) Fredric Brown: Sternfieber (2925) L. Sprague de Camp: Vorgriff auf die Vergangenheit (2931) Der Turm von Zanid (2952) Richard S. Shaver: Im Zauberbann der Venus (2944) Wilson Tucker: Die letzten der Unsterblichen (2959)
Ullstein Buch Nr. 2958 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M–Berlin–Wien Aus dem Amerikanischen übersetzt von Leni Sobez und Elisabeth Böhm Umschlagillustration: ACE Alle Rechte vorbehalten Übersetzung © 1973 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M–Berlin–Wien Printed in Germany 1973 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3-548-02958-2
Science-FictionStories 24 von Ray Bradbury Walter M. Miller jr. Robert Silverberg Roger Zelazny ausgewählt und zusammengestellt von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
INHALT Ray Bradbury Die Ausflucht ........................................................
6
Walter M. Miller jr. Dunkle Benediktion .............................................
20
Robert Silverberg Der Realitätstrip .................................................... 114 Roger Zelazny Das Feuerzeichen .................................................. 144
Ray Bradbury DIE AUSFLUCHT Dienstag früh, 11. Juni 2087. In den leeren Straßen von Phoenix säuselte ein sanfter Wind. Kein Mensch war zu sehen; nur ein kleiner Scotchterrier zockelte quer über die Straße. Da hörte der Hund Schritte. Er lief in deren Richtung und jaulte. Von weit weg und hoch oben klang ein schwaches Echo, das sich hob und senkte. Wie silberne Nadeln hingen ein Dutzend fremdartiger Projektile am Himmel. Sie verhielten in einer warmen, summenden Bewegung über der ruhigen Stadt. Mit einem Schlag wurde das dichte Gewebe der Stille zerfetzt. Dicke Beine stampften über die breite Avenue. Ein Fremder tat schwerfällige Sprünge durch das atemlose Schweigen: ihm auf dem Fuß folgte ein Schwarm von Soldaten. Armu von Venus schritt zum Rathaus und lief langbeinig eine verlassen daliegende Rampe hinauf. Oben blieb er stehen und fluchte auf die totengleiche Ruhe, die die Stadt umfangen hielt. »Ist dies das Ergebnis der Invasion?« bellte Armu. »Gibt es denn gar keine lebende Stadt mehr? Sind sie alle so tot wie New York, Chicago und Phoenix?« Aus den Steingesichtern der großen Gebäude antworteten ihm spöttische Echos. »Alle wie New York, New York, New York! Alle wie New York!« Und dann neckte eine stimmlose, erlesene Ironie: »Du wolltest erobern. Armu. Aber die Erde sah dich kom-
men und entkam. Wie entkam die Erde, Armu? Wie denn?« Der Venusianer musterte düsteren Blicks seine Generale, als wolle er sie dafür verantwortlich machen. »Wir werden es dir sagen, Armu, wir, die Stimmen von zwei Milliarden. Die Erde beging Selbstmord!« Der bittere Ton dieser Worte, die scharfe Schneide der Wirklichkeit pfählte Armu. Sein sorgfältig durchdachter Plan der Invasion, die Frauen der Erde als Brüterinnen der neuen venusianischen Kultur einzufangen, zerkrümelte zu verrotteter Erde und zu Pestilenz. Dreitausend Sternenschiffe hingen über der Erde und warteten auf Armus Befehle. Die Befehle, die er geben mußte, hatten einen giftigen Beigeschmack. Wo waren die kämpferischen Erdlinge, die Männer der Schlachten und Kanonen, des sanften weißen Fleisches? Warum hatten sie so leicht aufgegeben und den Tod einem Blitzkrieg vorgezogen? Armu hatte so sehr auf ein nettes, blutiges Armageddon gehofft... Armus Unterkommandant würgte an der dünnen Luft. »Die Erde ist nicht gut zu uns«, keuchte er. »Wir wollen ihr kaltes Klima nicht, die nackte Atmosphäre, den kargen Boden. Wir wollten produktives Protoplasma, und das hat sich jetzt selbst vernichtet!« Die Venusianer standen da und schauten auf die stumme Stadt hinunter. Tot. Gelungener Selbstmord. Aber die Erdenmenschen begehen keinen Selbstmord. So sind sie nicht geschaffen. Doch kein Mann, keine Frau, kein Kind am Leben – einfach unmöglich. Konnten sie diesen Horror und die ganze Todes-
angst nur deshalb auf sich genommen haben, um Armu zu entrinnen? Man glaubte es, wenn man sich so umsah. Hier und da flatterte ein Schatten: da machte eine Katze einen krummen Buckel und erkletterte einen Zaun; dort trottete der kleine Scotchterrier, der geglaubt hatte, sein Herr sei zurückgekehrt. Er war eiligst herbeigezockelt, um nachzusehen, doch jetzt sah er die Invasoren und rannte davon. »Das habe ich von den Erdlingen nicht erwartet«, knurrte Armu. »Ich hätte es nicht für möglich gehalten, daß sie das tun könnten.« Er kehrte zur Avenue zurück und zu dem riesigen Schiff, das auf einem großen Platz gelandet war. »Es wird gesucht und weitergesucht!« befahl Armu. »Es muß doch noch jemand am Leben sein.« Armus Schlachtflotte raste quer über den Himmel, röhrte über eine tote Erde, über tote Städte, tote Ozeane. Dieser Planet war von Grund auf verändert. Es war eine ganz andere Welt als die, die vor vier Jahren existiert hatte, am 11. Juni des Jahres 2083. »Das ist zweifellos die trivialste Feststellung, die uns je zu Ohren kam«, sagte Manhardt. »Sie ist nicht trivial, sie ist entscheidend«, erwiderte Harler. Er drängte zum Tisch, und seine klaren, hellen Augen wanderten von einem Gesicht zu anderen. »Eine Chance haben wir. Nur eine. Wollen wir uns ihrer bedienen oder diese Welt sterben lassen?« »Das ist doch kindisch«, sagte Manhardt. Harler ging zum Angriff über. »Das ist wohl auch die Idee einer Invasion; daß wir zu Sklaven gemacht
werden sollen, daß die Venusianer angreifen, um unsere Welt zu ruinieren. Du lieber Gott, Manhardt, ich weiß, daß solche Dinge in Bücher gehören. Ich weiß es! Aber Tatsachen kann man nicht mit einer hübschen Melodie wegträllern, und Waffen verschwinden nicht auf deinen Pfiff hin. Meine Lösung dieses Problems mag lächerlich klingen, aber sie ist die einzige Möglichkeit...« Die Konferenz hatte sich über Wochen hingezogen. Schließlich stand jemand ganz hinten in der Halle auf. »Eine Frage, bitte.« Harler nickte. »Liegen unwiderlegbare Beweise vor, daß es tatsächlich zu einer Invasion kommen wird«, fragte der Mann. »Ja. Als ich mich in meiner diplomatischen Eigenschaft in der Hauptstadt der Venus vorstellte, hörte ich Geheimbesprechungen ab. Sie wußten nicht, daß ich mithörte. Sie wußten auch nicht, daß ich ganz bestimmte Waffen sah.« »Sie erwähnten ganz besonders eine Waffe...« »Ja. Eine Waffe, die lähmen oder vernichten kann, je nach dem Grad ihrer Einstellung. Sie besteht aus venusischem Metall und ist daher von uns unmöglich nachzubauen. Damit können sie die Erde bestreichen. Wir wären hilflos. Wir haben nur eine einzige Waffe zu ihrer Bekämpfung – Anpassung an eine neue Umgebung. Verstecken können wir uns nicht. Wir können auch nicht weglaufen. Aber wir können das Unerwartete tun. Wir können genau unter den Nasen der Eindringlinge überleben.« »Das klingt paradox. Und wie wollen Sie über-
haupt die Öffentlichkeit dazu bringen, Ihren Plan zu schlucken?« »Sie müssen ihn schlucken. Es geht um nichts anderes als Anpassung; eine Art Zuflucht.« »Harler, Sie sprechen recht glatt von einem Massenselbstmord.« »Es wird auch ein Massenselbstmord. Jedoch geplant und in voller Ordnung, mit einer Wiedergeburt für einige, mit dem Großen Schlaf für andere.« »Das können Sie nicht machen!« »Wenn ich es nicht tun kann – die Venusianer tun noch viel schlimmere Sachen.« Harler hatte das Nötige gesagt. »Jetzt liegt es bei Ihnen, Gentlemen. Es wird die größte Veränderung, die sich auf der Erde je vollzogen hat. Es ist das Ende eines jeden Luxus und vieler Notwendigkeiten. Es ist eine Vereinfachung unserer überkomplizierten Leben. Was wollen Sie, Gentlemen? Ein bißchen – oder gar nichts?« Er setzte sich. Grimmig blätterte er in den Berichten, die er dem Rat aus zweihundert Wissenschaftlern und Politikern aller Nationen überreicht hatte. Genau erinnerte er sich des Tages vor einem Jahr, als das erste Schiff von der Venus mit nur sechs Fremden an Bord kam, eine Gruppe von Diplomaten. Er war mit ihnen zur Venus geflogen, um Probleme der Raumfahrt zu studieren. Und dann war er zufällig über gewisse Pläne gestolpert... Eines sprach zu ihren Gunsten: am 11. Juni 2083 waren keine venusianischen Spione auf der Erde. Die Erde arbeitete gegen die Zeit. Sie hatte höchstens vier Jahre, um sich auf die Invasion weit überlegener Kräfte vorzubereiten. Und die Erde hatte den Vorteil,
ganz im Geheimen arbeiten zu können... Ein Murmeln war zu vernehmen. Der Präsident erhob sich. »Ich rufe zur Abstimmung auf. Entweder wir führen einen aussichtslosen Krieg mit Flugzeugen gegen Raumschiffe, oder wir gehen jenen Weg, der von Dr. Harler vorgeschlagen wurde. Jeder, der für den Kampf ist, melde sich mit Jawohl.« »Jawohl... jawohl...« Ein Murmeln ging um den Tisch, doch es war nicht einheitlich. Harler versteifte sich, und seine Augen wurden immer größer, als der Präsident diese Stimme zur Kenntnis nahm. »Dann sind alle für Harlers Plan?« Ein Mann stand auf. »Jawohl.« Fünfzig, sechzig, siebzig, achtzig – die Mehrheit! »Die Wahl ist gelaufen«, sagte der Präsident. Ernst wandte er sich an Dr. Harler. Etwas glänzte auf Harlers Wange. Er wischte es weg, als er seinen Stuhl verließ und sich denen stellte, die ihm folgten. »Es wird Ihnen nicht leid tun, Gentlemen«, sagte er. »Glauben Sie mir, Sie werden es nicht bereuen.« »Wenn nun Ihre Nummern gezogen und Ihre Namen aufgerufen werden, dann kennen Sie Ihren Platz in der Welt des nächsten Jahres und der dem heutigen Tag folgenden zehn Jahre.« Der Fernsehreporter dröhnte: »Heute hat Dr. William Harler in der Hauptstadt erklärt, daß nicht mehr als fünfhundert Millionen Menschen bewußt am Leben bleiben werden. Sehr viele mehr werden schlafen müssen, um irgendwann in der Zukunft einmal wieder aufgeweckt zu werden – vielleicht niemals. Die anderen... Nun, die müssen geopfert werden. Das heißt, die Hälfte der Weltbevölkerung muß sterben,
um die Existenz der anderen Hälfte zu sichern. Ein gewisser Prozentsatz der Bevölkerung wird durch Los ausgewählt; damit wird eine gewisse Fairneß gesichert. Aber der Rest wird nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten ausgesucht, um eine intellektuelle und psychologische Widerstandskraft zu gewährleisten, denn überleben können nur die Tauglichen. Wir leben in einer Zeit, die uns schwierigste Entscheidungen aufzwingt. Helft mit, indem ihr Nacht für Nacht lauscht, indem ihr hysterische Ausbrüche unterdrückt. Soviel ist sicher: Venus wird angreifen. Möge Gott geben, daß wir bereit sind, wenn sie kommen. Ende.« Es war auf allen Lippen, und es war Honig und Gift. Gut und Böse. Es gab Streit, Mord, Zustimmung, Ablehnung und rücksichtsloses Aufbegehren. Es gab Zusammenarbeit und Sabotage. Und die Tage welkten dahin an den Ranken der Zeit und tropften in die Unendlichkeit. Welch eine Zeit für die Erde! Die grauen Stunden und Monate, die jenem Tag folgten, dehnten sich zu vier Jahren aus. Ärzte und Maschinen wurden mobilisiert, Menschen und Tiere, Zustimmung und Geduld. Es wurde unendlich viel gebaut und umgebaut. Geheimverstecke wurden für gewisse neue Nahrungsmittel angelegt. Verstecke, die nie entdeckt werden konnten, weil sie zu offen dalagen. Die größten Geister schufteten Tag für Tag, operierten und arbeiteten an mächtigen Maschinen, die an der Menschheit tat, was nie vorher getan worden war. WARUM WIR DIESE SCHLACHT IN DER STILLE SCHLAGEN hieß es im Fernsehen.
»Weil die Venusianer die Frauen der Erde zu Zuchtzwecken benützen wollen, da ihre eigene Fruchtbarkeit auf Null abgesunken ist; weil die miteinander gekreuzten Rassen Kinder des Entsetzens hervorbringen würden; weil alle, die steril sind, getötet werden würden. Nur unsere Frauen würden überleben, um einer entsetzlichen Schande ausgeliefert zu werden. Das können wir nicht zulassen. Deshalb arbeiten wir, und wir arbeiten unermüdlich.« Der Tag X rückte immer näher. Die Schlachtflotten der Venus sammelten sich im Dampf der Venusatmosphäre. Ein Schiff der Venus überflog als Kundschafter die Erde, bemerkte jedoch nichts Außergewöhnliches. Nichts jedenfalls als die fieberhafte Aktivität, die schon immer zur Erde gehörte. Harler sprach erneut. »Morgen werden wir wissen, ob wir bei der Produktion unserer Massenzuflucht Erfolg oder Mißerfolg haben. Morgen wird der erste Wechsel bei einer Million an Experimenten vorgenommen. An jedem folgenden Tag wird die Zahl erhöht, bis zu fünf oder zehn Millionen täglich. Wir haben an alles gedacht. Der Mensch wird sich intelligent reproduzieren. Die Frage ist hauptsächlich die einer psychologischen Adaption an neue Umgebungen, Geschicklichkeiten, Bedürfnissen, an neuen Geschmack, neue Heime und neue Gesichtspunkte. Einige sind der Meinung, diese Generation sei nicht fortpflanzungsfähig und der Intellekt könne nicht weitergegeben werden. Sie lügen. Die Intelligenz wird weiterleben. Auch die Mentalität des Menschen wird weiterleben. Die Rasse der Männer und Frauen wird verschwinden, aber das kostbare Ego, die Kraft
des Lebens wird erhalten in dem Samen, den wir im Experiment perfektioniert haben.« Und dann kamen jene stürmischen Tage, da die Egos, die Gehirne zerlegt, abgefüllt und eingelagert wurden. Da gab es die Schläfer, jene Gehirne, die nur noch Gehirne waren, die untätig und hilflos auf den Tag warteten, da die Lebenden sie wieder ins Leben zurückholen würden. »Fünfhundert Millionen werden in den Gehirnschlaf versetzt werden. Wir versprechen allen, daß wir sie aufwecken werden – wenn wir überleben.« Es wurde gesungen und gelacht, und es gab Tränen. Und dann war nur noch der tiefe Schlaf in der Verborgenheit. Schade, daß nichts von all dem je aufgezeichnet wurde. Über den großen Wechsel gab es nicht ein gedrucktes, nicht ein mit Tinte geschriebenes Wort; nicht ein Wort über Euthanasie, schlafende Gehirne, oder die geheimnisvollen Lebenden. Von diesen Lebenden durften die Venusianer niemals erfahren, denn sonst wäre die Erde für alle Zeiten verdammt. Die Lebenden blieben am Leben, um die Welt am Ticken zu erhalten, bis die von der Venus gekommen waren, gesehen hatten und endgültig wieder verschwanden. Harler wurde im Fernsehen interviewt. Harler: »Die Kultur der Venus wird ohne neues Blut und neue Leiber innerhalb von vierzig Jahren sterben. Dann können wir von der Erde aus unseren Verstecken kommen.« Frage: »Werden wir tatsächlich je wiederkehren?« Harler: »Nein, wenigstens sehr lange nicht, wenn überhaupt. Die Städte müssen so zerfallen, wie sie
sind. Später können wir sie unseren Bedürfnissen entsprechend wieder aufbauen, nachdem die Venus mit ihren Irren tot ist.« Es wurde mit dem sofortigen Tod bestraft, wenn darüber auch nur ein Wort in einem Brief oder einem Tagebuch schriftlich niedergelegt wurde, denn die Venusianer könnten es finden und lesen. Also nichts Gedrucktes! Zeitungen und Verlage wurden angewiesen, ihre Publikationen einzustellen. In Chicago, London, Tokio gab es Aufruhr. In vier Jahren starben zehn Millionen Menschen bei Revolten. In China und Indien tobten Bürgerkriege, und die Kontinentalen Polizeikräfte röhrten heran und traten die Flammen aus. Es gab fünfzehn Millionen Tote. Die Erde wurde vom Nord- zum Südpol durchgekämmt. Niemand durfte am Leben gelassen werden. Alle Männer und Frauen mußten tot und beerdigt sein. Befehle kamen über Radio. Joe Leighton erhielt den seinen. »Da ist es also, Alice. Am ersten Juni, vier Uhr. Eine ganz simple Feststellung, die für dich und mich das Ende bedeutet.« »Wenigstens sind wir bei den letzten.« »Sicher sind wir bei den letzten. Und dieses Zeug – Gift – soll sehr wirksam sein. Teufel, ich sollte doch in ein paar Wochen befördert werden. Hm.« »Wird der Plan auch durchgeführt, Joe? Werden alle tot sein?« »Alle – bis auf die paar, die dafür sorgen, daß die Erde sich weiterdreht. Alle fünfhundert Millionen. Sie werden dafür sorgen, daß keiner von uns sich wei-
gert, sein Gift zu nehmen.« Er schüttelte den Kopf. »In jedem Block gibt es einen Coroner. Der überprüft jeden. Er überzeugt sich davon, daß keiner vergessen wird. Gibt es einen Fehler, so läßt er sich korrigieren.« »Werden die anderen überleben?« »Wer sollte es vermuten?« »Vermuten wohl niemand. Und die Intelligenz wird mit ihnen durch die Reproduktion weiterleben.« »Klar. Vor Jahren wäre das noch nicht möglich gewesen. Mindestens eine Million Jahre wäre nötig gewesen, diesen Effekt auf andere Art zu erzielen. Aber diese Sachen kann man ruhig den Wissenschaftlern überlassen. Mit synthetischem Protoplasma können die alles tun.« »Ich bin froh, daß unsere Kinder schlafen, Joe, und nicht sterben. Ich bin froh, daß sie aufwachen und eine Chance haben.« »Ja. Ja. Nett für sie, eh? Nun ja... Hoch die Gläser und ex!« Harler war einer der letzten der großen Veränderung. »Straßenaufseher – die Zeit wird kurz«, sagte er im Fernsehen. »Ihr habt noch zwölf Stunden für eure Runden. Die Flotte der Venus hat gerade die Umlaufbahn um den Mond verlassen. Alle anderen, die meine Stimme hören, werden von Zeit zu Zeit mündlich und wörtlich benachrichtigt. Verteilt euch. Zerstreut euch. Laßt euch nicht in Gruppen sehen. Streift allein herum. Eßt und schlaft allein. Geht in die Berge und Täler und Wüsten, aber bleibt in der Nähe fließenden Wassers. Das ist alles. Lebt alle wohl. Ihr habt wundervoll gearbeitet. Mögen unsere Gebete erhört wer-
den. Ende.« Harler stand allein auf einem hohen Berg, als die Schiffe der Venus aus dem Himmel stürzten. Er war unbemerkt in der Stadt, als die Venusianer sie durchrasten. Er sah die Verblüffung, die Bestürzung, die wachsende Verstörtheit und das Entsetzen der Venusianer, als sie eine tote Welt vorfanden. Armu, der Führer der venusianischen Horden, erteilte Befehle. »New York, Chicago und London sind zuerst von unseren Schiffen zu nehmen! Überall dort landen, wo es große Bevölkerungsansammlungen gibt!« »Und was ist mit den Berichten aus Paris, Bombay und Tokio, Armu?« Armu sah düster drein. »Das sind gut verteilte Einzelfälle. Wir bekommen unsere Sklaven noch, keine Angst!« Aber weitere Berichte strömten herein. Denver, Singapur, New York, Kairo. Tot. Tot. Tot. Begraben, getötet, erschossen, vergiftet, Euthanasie. Enttäuschung. Armu schrie von den Stufen des Rathauses in New York, von denen des Rathauses in Los Angeles. Seine purpurnen flackernden starren Augen prüften die Berichte nach. Die Straßen lagen verlassen da; nur ein paar streunende Katzen oder verwahrloste Hunde schlichen herum, oder ein paar Vögel flatterten. Sonst herrschte Schweigen. Nichts als Schweigen. Zwei Wochen lang suchten sie. Armu wurde von Stunde zu Stunde wütender. Dann ordnete er an, die Nasen der Schiffe zu drehen und zur Venus zurück-
zukehren. Dieses Klima war unerträglich. Schweigen und Tod zerbrachen die ganze Moral. Enttäuscht und besiegt rasten die Venusianer in den Himmel hinauf. Sie kehrten nie zurück. Harler sah sie gehen. Manhardt sah sie gehen. Der Präsident der Staaten sah sie gehen. Fünfhundert Millionen Augenpaare beobachteten die Invasoren, die mit hoffnungsloser, verzweifelter Wut verschwanden. Welch ein phantastisches Leben ist das doch, dachte Harler. Und doch werden unsere Kinder die große Veränderung hinnehmen, die neuen Fähigkeiten, die neuen Sitten als natürlich ansehen müssen. Die nächste Generation wird stärker, edler in der Gestalt, besser in der Anpassung. Die Venusianer sind endgültig weg! Harler schaute in den Himmel hinauf, sah ganz neue Farben. Unmöglich vor einem Jahrhundert, heute Realität. Neue Heime, neue Nahrungsmittel für uns alle. Neue Körper. Neue synthetische Körper, um andere nachzuahmen, aber neu und fähig, die Intelligenz in ihnen fortzupflanzen. Und er stand wieder auf dem Berg und schaute hinunter auf Los Angeles. Er erhob seine Stimme, und es überlief ihn eiskalt, als er die Töne hörte, die er von sich gab. Und nun kam von einem Fluß her laufend, rennend, keuchend, hechelnd, bellend eine Meute Hunde auf ihn zu. Sie waren grau, mager, leichtfüßig, helläugig und hatten ein ausnehmend feines Fell. Es waren unverdächtige Tiere. Hunde, die vor den Füßen der Invasoren durch die Straßen gelaufen waren. Hunde, die die Leiber der Invasoren gestreift hatten. Sie schienen herumgelaufen zu sein, um ihre toten
Herren zu suchen, und man hatte sie mit Fußtritten verjagt. Sie rannten und lachten, waren eine neue Tierrasse, geformt aus synthetischem Fleisch und menschlichem Gehirn. Vereinfachung. Anpassung. Eine Zuflucht. Harler lief ihnen entgegen. Gott, ist das seltsam, auf vier Füßen zu laufen, dachte er. Und es ist seltsam, wie die Sonne mein Fell wärmt, und seltsam ist der dumpfe Ton, den meine Pfoten auf dem Gras machen, und seltsam die Veränderung von Hunger, Gedanken und Notwendigkeiten. Und er rannte Manhardt, dem Präsidenten, Jane Smith und all den übrigen entgegen. Nun, dachte er, ich habe mein Versprechen gehalten. Die Venusianer wurden in die Irre geführt. Die Erde hat gewonnen! Und glühend vor freudiger Erregung rannte er in das Tal hinunter.
Originaltitel: SUBTERFUGE Copyright © 1943, 1970 by Ray Bradbury Aus EIGHT STRANGE TALES, edited by Vic Ghidalia Mit Genehmigung von Fawcett Publications, Inc. Übersetzt von Leni Sobez
Walter M. Miller jr. DUNKLE BENEDIKTION Da er immer Angst hatte, nachts überfallen zu werden, schlief Paul sehr schlecht, obwohl er von dem langen Treck nach dem Süden sehr müde war. Als die Dämmerung hereinbrach, rollte er sich aus seinen Decken und fand, daß er noch immer steif vor Müdigkeit war. Er stieß mit der Schuhspitze Erde über die Reste seines Lagerfeuers und aß zum Frühstück den zähen Vorderschenkel eines gekochten Kaninchens den er mit ein wenig erdig schmeckendem Wasser aus dem Graben hinunterspülte. Dann legte er den Patronengurt wieder um die Hüften, sprang über den Graben und kletterte die Böschung zur vierspurigen Autostraße hinauf. Es herrschte kein Verkehr, und das Straßenpflaster war mit trockenem Laub und allerhand Abfall übersät, den vor langer Zeit die Flüchtlingszüge zurückgelassen hatten, die keinen anderen Wunsch hatten, als einander auszuweichen. Paul hatte in einer für ihn charakteristischen Unabhängigkeit beschlossen, dorthin zu gehen, wo die Menschenmengen am dichtesten aufeinander gesessen hatten – in die Städte also –, und er ging dabei von der Überlegung aus, daß sie jetzt verlassen und daher nicht ansteckend seien. Schwer lag der Nebel über dem schweigenden Land, und eine Weile fiel es ihm schwer, sich zu orientieren. Dann sah er den an der anderen Straßenböschung abgestellten Wagen, ein ziemlich neues Modell eines Convertible, aber verrostet und mit platten
Reifen, wahrscheinlich auch mit leerem Tank. Aber er hatte die Nummernschilder des vergangenen Jahres. Vermutlich war der Wagen von seinem Besitzer während des Exodus verlassen worden, denn die Nase zeigte nach Norden. Er dagegen lief in südlicher Richtung auf der leeren Autostraße weiter. Irgendwo vor ihm im Dunst begannen die Außenbezirke von Houston. Vor dem gestrigen Sonnenuntergang hatte er gerade noch die hohe Skyline der Stadt gesehen, und da hatte er gewußt, daß seine Reise nun bald zu Ende war. Gelegentlich kam er an einem verlassenen Häuschen oder an einem abgebrannten Straßengasthaus vorbei, aber er hielt sich nicht damit auf, dort nach Lebensmitteln zu suchen. Der Exodus hatte alle diese Häuser nackt zurückgelassen. Eher, meinte er, sei etwas im Herzen der großen Stadt zu finden, wo die Wogen der Hysterie die Menschen gleich zu Anfang weggeschwemmt hatten. Plötzlich blieb Paul wie festgenagelt auf der Autostraße stehen. Er lauschte in den Nebel. In der Ferne hörte er Schritte; es waren Schritte und eine Stimme, die irgendein Liedchen vor sich hinträllerte. Nichts sonst war in dieser jungfräulichen Stille zu vernehmen; und hier hatte vor nicht allzu langer Zeit das quirlige Leben einer blühenden Großstadt geherrscht. Angst griff mit klammen Händen nach ihm. Es war die Stimme eines alten Mannes, ein wenig brüchig und ohne Volumen. Paul tastete nach seinem Holster und zog den Revolver, den er in einer verlassenen Polizeistation gefunden hatte. »Bleib stehen, Dermie!« rief er in den Nebel. »Ich bin bewaffnet!«
Die Schritte und das Singen hörten auf. Paul lauschte angestrengt, um den wirbelnden Nebel zu durchdringen. Dann antwortete der Alte. »Heut hat's aber einen scheußlichen Nebel, was? Kann dich gar nicht sehen. Komm lieber ein bißchen näher. Ich bin kein Dermie.« »Zum Teufel bist du einer!« würgte Paul heraus. »Keiner kann sonst so verrückt sein und singen. Geh von der Straße runter! Ich gehe nach Süden, und wenn ich dich sehe, schieße ich. Und jetzt aber schnell!« »Klar, Junge, klar. Ich mach ja schon. Aber ein Dermie bin ich trotzdem nicht. Ich hab mir nur selbst was vorgesungen, damit ich ein bißchen Gesellschaft hab. Ich bin drüber hinaus, mir wegen dieser Seuche Gedanken zu machen. Ich gehe nach Norden, wo Menschen sind, und wenn mich ein Dermie singen hört, na, dann soll er eben mitsingen. Was nützt es dir schon, daß du gesund bist, wenn du keinen Menschen bei dir hast?« Paul hörte, während der alte Mann redete, wie dieser durch den Graben watete und sich durch die Büsche quetschte. Zweifel befielen ihn. Vielleicht war dieser alte Mann tatsächlich kein Dermie. Ein gewöhnliches Seuchenopfer hätte darum gewinselt, seine Gier befriedigen zu dürfen – einem anderen die Hände aufzulegen, gesunde Haut unter den feuchten, grauen Handflächen zu spüren. Trotzdem konnte sich Paul mit dem Alten auf kein Risiko einlassen. »Du bleibst im Busch bis ich vorüber bin!« rief er. »Okay, Kleiner, geh nur vorbei. Ich rühr dich bestimmt nicht an. Willst du in Houston organisieren?« Paul ging vorwärts. »Ja. Ich stell mir vor, die Leute
sind dort so schnell weg, daß sie eine Menge Konserven zurückgelassen haben.« »Hm. Da und dort gibt's eine Kleinigkeit«, untertrieb der alte Mann. »Aber weißt du jetzt bist du natürlich nicht mehr der einzige, der sich das denkt.« Paul verhielt ein wenig im Schritt. »Soll das heißen..., daß viele Leute zurückkommen?« »Hm. Viele sinds nicht, aber so alle ein, zwei Tage knallst du auf Leute. Sind nicht so wie ich. Rauhes Volk meistens, und die gehen auch kein Risiko ein... Die schießen zuerst, und dann schauen sie nach, ob du ein Dermie bist. Wenn du zu einer Tür rausgehst, guckst du lieber erst mal nach links und rechts. Und wenn zwei in entgegengesetzter Richtung um eine Ecke gehen, muß einer dran glauben. Die paar, die dort sind, haben einen lockeren Zeigefinger. Ich wollt dich nur ein bißchen warnen.« »Danke schön.« »Keine Ursache. War nett, wieder mal eine Stimme zu hören, wenn ich dich auch nicht sehen kann.« Paul ging weiter bis er etwa fünfzig Schritte an der Stimme vorbei war. Dann blieb er stehen und drehte sich um. »Okay, du kannst jetzt wieder auf die Straße zurück. Geh nach Norden und schwing deine Beine bis du außer Hörweite bist.« »Du riskierst auch nichts, was?« sagte der alte Mann, als er durch den Graben watete. »Na, schön, Junge.« Er zögerte einen Augenblick. »Noch einen Rat – am meisten zu holen gibt's bei den Lagerhäusern. Die meisten Läden sind schon kahl geplündert. Viel Glück!« Paul blieb lauschend stehen, bis die schlurfenden Schritte in der Ferne verhallten. Als nichts mehr zu
hören war, setzte er seine Wanderung fort. Dieses Zusammentreffen hatte ihn bedrückt und ihn daran erinnert, auf welch tierisches Niveau er und die übrigen Menschen doch gesunken waren. Der Alte schien gesund zu sein; aber in den letzten drei Tagen war Paul von drei Dermies gejagt worden. Der Gedanke, von einer solchen Bande im Nebel eingekreist zu werden, machte ihn nervös. Einmal hatte er beobachtet, wie ein paar dieser grinsenden, verrückten Dermies ein noch ziemlich kleines Kind ergriffen und es abwechslungsweise mit ihren grauen, schlüpfrigen Händen zärtlich streichelten; und damit übertrugen sie ja die Krankheit – falls es eine war. Diese merkwürdige Form der Neurodermatose hatte keine Ähnlichkeit mit irgendeiner auf der Erde bekannten Krankheit. Das Opfer der Krankheit wurde zu ihrem Verbündeten. Der davon befallene Mensch entwickelte eine dämonische Verrücktheit und suchte gierig nach gesunden Kameraden, die er mit keinem anderen Zweck verfolgte, als die gesunde, saubere Haut zu betasten und die Vorteile jenes Zwanges zu preisen, der ihn zu solchen Handlungen trieb. Eine Berührung genügte zur Infektion. Es war, als sei ein Drittel der Menschheit zu Irren geworden, die durch die Nacht schlichen und in den Schatten lauerten, um den Nichtsahnenden anzufallen und in Banden den unbewaffneten Wanderer einzukreisen. Und zwei Drittel der Menschheit flohen vor diesem Horror und suchte die Kühle der nördlichen Klimazonen auf, in denen, falls die Gerüchte stimmten, diese Krankheit weniger ansteckend wirkte. Die normalen Funktionen der Zivilisation hatte man wie eine heiße Kartoffel
fallen lassen, und das hatte knappe sechs Monate nach dem ersten Alarm beansprucht. Wenn der Nachbar an der Werkbank unter seinem Hemd graue Verfärbungen verbarg, war für die Menschlichkeit kein Platz mehr in einer Industriegesellschaft. Man erzählte sich, daß das massierte Auftreten der Seuche nach einem unvorhergesehenen Meteoritenschwarm registriert wurde, der an einem Oktoberabend, zwei Wochen vor dem ersten bekanntgewordenen Fall, den Himmel erhellt hatte. Dieser erste Fall war ein Maschinist gewesen, der eine dieser himmlischen Kanonenkugeln gefunden, sie berührt, gewogen und ihr spezifisches Gewicht festgestellt hatte. Da er vermutete, daß sie hohl sein müsse, hatte er sie auf seiner Werkbank aufgeschnitten und darinnen eine Tasche aus gefrorenem Gelee gefunden, das von der Kälte des tiefen Raumes noch ganz starr war, obwohl die äußere Schale beim Eintritt in die Atmosphäre durch den Luftwiderstand weißglühend geworden war. Er sagte, er habe das Gelee aufgetaut und dann seiner Katze zu fressen gegeben, weil es einen unangenehmen Fischgeruch hatte. Wenig später war die Katze verschwunden. Andere Meteoriten wurden von Universitätspersonal gefunden und ähnlich untersucht, ehe man daran dachte, daß eine Seuche damit ausgelöst werden könnte. Paul war zu jener Zeit an der Universität von Texas Ingenieurstudent gewesen. Er hatte von der Vermutung gehört, daß diese Geschosse von Unbekannten mit besonderer Absicht hergestellt worden seien und daß dieses Gelee Mikroorganismen enthielten, die sich unter dem Mikroskop als Zwischending zwischen Spermazellen – wegen eines ähnlichen
Schwanzes – und einem Pacini-Korpuskel – wegen einer ausgesprochenen Ähnlichkeit mit Nervengewebe in subzellularen Details – herausgestellt hätten. Als man die Meteoriten mit der neuen und sich wie eine Pilzkultur ausbreitenden Krankheit in Verbindung brachte, wurden viele Menschen von panischer Angst ergriffen, weil sie der Meinung waren, dieser Meteoritenschwarm sei eine Artillerieattacke zur Vorbereitung einer Invasion, die von einer Raumhorde ausgehen müssen, die außerhalb der Teleskopreichweiten auf der Lauer liege und nur darauf warte, daß dieses biologische Bombardement die Zivilisation der Erde zerstöre, ehe sie selbst den Planeten überfielen. Die Regierungen hatten sofort alle Forschungen auf diesem Gebiet für streng geheim erklärt, und deshalb hatte Paul seit den ersten Spekulationen nichts mehr gehört. Vielleicht hätte die Regierung die ganze Sache sogar erklären und damit das Land wieder beruhigen können. Eines war jedoch sicher: das Land hatte nichts gehört. Es gab kein Kommunikationsnetz mehr. Paul glaubte, wenn solche Invasoren kommen wollten, dann müßten sie schon seit Monaten da sein. Zerstört war die Zivilisation an sich nicht; man hatte sie, als die Bevölkerung vom heimatlichen Herd floh, nur einfach weggeworfen. Der Mensch floh den Menschen. Die Furcht hatte den Zusammenhalt der Gesellschaft vernichtet, so daß der Mensch den hypothetischen Invasoren gegenüber machtlos war. Die Erde war reif zum Pflücken, doch gepflückt wurde sie nicht, sondern sie welkte vor sich hin. Paul ließ also die Invasionstheorie fallen und suchte für sich selbst nach keinem Ersatz dafür. Er akzeptierte die
Tatsache seiner eigenen Existenz inmitten eines Chaos und versuchte sie so gut wie möglich zu schützen. Damit hatte er alle Hände voll zu tun, so daß ihm für Theorien gar keine Zeit mehr blieb. Leben – das hieß ein Kaninchen, das über einen Hügel huschte; Leben war eine warme Decke, ein sicherer Schlafplatz. Leben war das Wasser in einem Graben, eine unversehrte Dose Corned Beef, ein Kleidungsstück aus einem verlassenen Haus. Und Leben war vor allem ein weiter Umweg um andere menschliche Wesen. Denn kein Dermie hatte das Mitgefühl, ein UNREIN zu schreien, wenn sich ihm ein Ahnungsloser näherte. Waren die Hautverfärbungen so gering, daß sie zu verbergen waren, so wurden sie verborgen, aber jede dieser verlorenen Kreaturen versuchte seine Frau, seine Kinder, seine Freunde anzustecken und wen immer er mit der Hand berühren konnte. Wenn dann die graue Verfärbung das Gesicht und den Handrücken erfaßte, dann wurde dieses Wesen ein fiebriger Nachtwanderer und unterlag seltsamen Halluzinationen, Vorstellungen und Wünschen. Im Lauf des Vormittags lichtete sich der Nebel, als Paul tiefer in Houstons Außenbezirke vordrang. Die Autostraße wurde der Mittelpunkt eines Handelsviertels, in dem es viele große und kleine Geschäfte gab. Die Gehsteige waren mit Glasscherben der von Plünderern eingetretenen Schaufenster übersät. Paul ging in der Mitte der verlassen daliegenden Straße, lauschte angestrengt und spähte vorsichtig nach Lebenszeichen. Irgendwo bellte ein Hund, und das war der einzige Laut in dieser einstmals vor Leben über-
sprudelnden Metropole. Ein Spatzenschwarm stob von der Straße auf und verschwand durch ein zerbrochenes Fenster zu einem Nistplatz im Haus. Er durchsuchte ein kleines Lebensmittelgeschäft nach einem Imbiß, aber die Regale waren gähnend leer. Diese Straße hatte die meisten Flüchtlinge aufgenommen und die hatten alles, was am Weg lag, gründlich geplündert. Er bog in eine Seitenstraße ein, nach ein paar Häusern in die nächste, die nun parallel zur Autostraße verlief und kam durch ein altes Wohnviertel. Viele Häuser standen offen, aber nur wenige waren geplündert. Er betrat ein altes Fachwerkhaus und fand in der Küche eine Dose Tomaten. Die öffnete er und nippte den delikaten Saft, während er durch die anderen Räume schlenderte. Über eine breite Treppe kam er in den Oberstock hinauf, blieb aber auf der letzten Stufe stehen. Die Leiche eines jungen Mannes, der schon eine Weile tot sein mußte, lag auf der nächsten Treppenflucht. Eine verrostete Pistole war seiner Hand entfallen. Paul ließ die Tomatendose fallen und rannte zur Straße hinunter. Selbstmord war ein häufiger Ausweg, wenn man bemerkte, daß man von einem Dermie berührt worden war. Zwei Straßen weiter hörte Paul zu rennen auf Keuchend setzte er sich auf einen Hydranten und versuchte sich über sich selbst lustig zu machen, weil er übermäßig vorsichtig war. Der Mann war ja schon seit Monaten tot, und eine Infektion war nur durch direkten Kontakt möglich. Trotzdem standen ihm noch immer die Haare zu Berg. Als er ein wenig ausgeruht hatte, setzte er seine Wanderung zum Stadtzentrum fort. Gegen Mittag sah er das erste andere
menschliche Wesen. Der Mann stand an der Laderampe eines Lagerhauses und schien die Sonne zu genießen, die mehr und mehr den Nebel teilte. Er löffelte langsam und fast düster den Inhalt einer Dose in einen rotlippigen Mund, während sein Bart mit jeder Kaubewegung hüpfte. Plötzlich sah er Paul, der mitten in der Straße mit der Hand am Pistolenknauf stand. Der Mann trat ein paar Schritte zurück warf die Dose weg und rannte die Rampe entlang. Am Ende sprang er ab, griff nach einem Fahrrad, das an der Wand lehnte und trat heftig in die Pedale, während er auf einer in den Mund geschobenen Polizeipfeife schrille Pfiffe ausstieß. Paul trottete zur Ecke, aber der Mann war schon um die nächste Biegung verschwunden. Seine Pfeife war jedoch noch immer zu hören. Ein Signal? Ein Dermie, der seine Kameraden zu einer Berührungsorgie zusammenholte? Paul blieb stehen, um die panische Angst, die ihn zur kopflosen Flucht trieb, zu unterdrücken. Weitere grelle Pfiffe waren zu hören. Nach etwa einer Minute hörte der Lärm auf, doch das Schweigen lastete unheilvoll über der Stadt. Wenn ihn eine ganze Radfahrergruppe umzingelte, konnte er zu Fuß nicht entkommen. Er rannte also zum nächsten Lagerhaus und suchte nach einem Versteck. Drinnen kletterte er über einen Kistenstapel zu einem Laufsteg hinauf, stieß von oben aus den Stapel um und legte sich bäuchlings auf den metallenen Laufsteg, um durch die Gitterlöcher einen ungehinderten Blick auf die Tore zu beiden Seiten zu haben. So lag er etwa eine Stunde und wartete auf den
Suchtrupp. Niemand kam. Schließlich rutschte er an einer Strebe hinunter und kehrte zur Laderampe zurück. Die Straße lag leer und schweigend vor ihm. Mit schußbereiter Waffe setzte er seine Wanderung fort. Ohne Zwischenfall brachte er die nächste Straßenkreuzung hinter sich. Etwa auf halber Höhe des nächsten Blocks rief hinter ihm eine ruhige Stimme einen Befehl. »Laß dein Schießeisen fallen. Dermie, und leg die Hände hinter deinen Kopf.« Bewegungslos blieb er stehen. Kein Seuchenopfer würde einen anderen einen Dermie heißen. Er ließ die Pistole fallen und drehte sich langsam um. Drei Männer kamen mit schußbereiten Pistolen von der Ladebühne eines abgestellten Lasters herunter. Alle waren bärtig, trugen Blue Jeans, blaue Halstücher und grünwollene Hemden. Plötzlich fiel ihm ein, daß der Mann auf der Laderampe ähnlich gekleidet gewesen war. Eine Uniform? »Wieder umdrehen!« bellte der Sprecher. Paul drehte sich um, denn ihm wurde klar, daß diese Männer vermutlich so etwas wie eine selbsternannte Quarantänepatrouille waren. Zwei Seile schossen plötzlich von hinten heran und blieben als Lassoschlingen zu seinen Füßen liegen. »In jede Schlinge einen Fuß. Dermie!« befahl der Sprecher scharf. Paul gehorchte, und die Schlingen wurden um seine Fußknöchel festgezogen. Zwei der Männer kamen seitlich heran, standen etwa dreißig Fuß voneinander entfernt und rissen seine Beine zu einem weiten Spreizschritt auseinander. Er sah sofort, daß ihn nun jede Bewegung sein Gleichgewicht kostete.
»Nackt ausziehen.« »Ich bin kein Dermie«, protestierte Paul, als er sein Hemd aufknöpfte. »Das werden wir schon sehen, Joe«, knurrte der Sprecher, als er um ihn herumging. »Erst das Hemd ausziehen. Wenn deine Brust in Ordnung ist, lassen wir deine Füße los.« Als Paul sich ausgezogen hatte, ging der Sprecher wieder um ihn herum, ließ ihn die Finger spreizen und die Fußsohlen herzeigen. Er war zornig, und ihn fror in der kalten Winterluft, bis die Männer sich davon überzeugt hatten, daß er keine grauen Neurodermflecken aufwies. »Du scheinst in Ordnung zu sein«, gab der Sprecher schließlich zu. Paul bückte sich, um seine Kleider aufzuheben und sich wieder anzuziehen. »Nein, die nicht! Jim, bring ihm eine Probantenausstattung!« Paul fing ein Bündel sauberer Kleidung auf, die ihm vom Lastwagen aus zugeworfen wurden. Er bekam Jeans, ein wollenes Hemd und ein Halstuch, aber Hemd und Halstuch waren rot. Er warf dem Sprecher einen fragenden Blick zu und zog das willkommene frische Zeug an. »Alle Neuen haben zwei Wochen Probezeit«, erklärte ihm der Mann. »Wenn du in Houston bleiben willst, wirst du wieder beim nächsten Uniformwechsel untersucht. Hast du dann keine Seuchenmerkmale, bekommst du unsere Uniform. Du mußt uns sogar helfen, wenn du bleiben willst.« »Und was ist das für eine Organisation?« fragte Paul mißtrauisch. »Wir haben erst damit angefangen. Ein Schullehrer namens Georgelle hat sie aufgezogen. Unser Ziel ist,
die Dermies fernzuhalten. Wir sind jetzt ungefähr sechshundert. Jetzt bewachen wir die Innenstadt, aber sobald wir genug Leute haben, werden wir unser Territorium ausdehnen. Dann errichten wir Straßensperren und so. Sobald wir wissen, daß du sauber bist, heißen wir dich willkommen... falls du Befehle annehmen willst.« »Wessen Befehle?« »Die von Georgelle. Für Einfaltspinsel und Eingebildete haben wir keine Zeit, auch nicht für Diskussionen. Wenn es einem bei uns nicht paßt, kann er jederzeit ausscheiden. Jim gibt dir ein Merkblatt über die Regeln. Du liest sie besser, ehe du einen Schritt von hier weg tust. Wenn nicht, könntest du mal eine falsche Bewegung machen. Und machst du die, kriegst du eine Kugel verpaßt.« »Digger, sollen wir nicht die anderen Patrouillen zurückrufen?« fragte der Mann Jim, und das klang sehr respektvoll. Digger nickte kurz und tat drei kurze und einen langen schrillen Pfiff mit seiner Pfeife. Einige Straßen weiter kam eine kurz-lang-kurze Antwort zurück. Andere Posten aus anderen Richtungen folgten mit ihrem Signal. »Jim, bring ihn zum nächsten Wasserfaß und sieh zu, daß er sich rasiert«, befahl Digger. »Und wie heißt du, Probie? Und wenn du einen Job gehabt hast, möchte ich auch den wissen.« »Paul Harris Oberlin. Ich habe Maschinenbau studiert, als die Seuche ausbrach. Zeitweise habe ich in einer Garage als Mechaniker gearbeitet, solange ich in der Schule war.« Digger nickte und notierte diese Angaben. »Gut.
Ich gebe deinen Namen zur Registrierung weiter Georgelle sagt, wir sollen nach Leuten mit CollegeAusbildung und so Ausschau halten. Später kannst du einen guten Posten bekommen. Melde dich am Esperson Building; am siebzehnten ist Inspektionstag. Bist du nicht da, suchen wir dich. Alle Probies, die sich nicht melden, werden erschossen. Und jetzt paßt Jim auf, daß du dich rasierst. Dann rasierst du dich zwei Wochen lang nicht mehr. Daran können wir schätzen, wie lange du schon in der Stadt bist. Wir haben andere Möglichkeiten auch noch, aber die brauchst du nicht zu kennen. Georgelle hat sich für alles ein System ausgedacht, und so probierst du besser keine faulen Tricks.« »Und was tut ihr mit Dermies?« Digger grinste seine Leute an. »Das kannst du ja selbst rausfinden, Probie.« Man führte ihn zu einem Faß mit Regenwasser, gab ihm eine Schüssel, ein Rasiermesser und Seife. Er schabte sich das Gesicht glatt, und Jim saß in sicherer Entfernung, kaute auf einem Stück Tabak herum und beobachtete die Rasur gelangweilt. Die anderen Männer waren gegangen. »Kann ich meine Pistole zurückbekommen?« »Ah, lies lieber die Regeln. Keine Waffen für Probies.« »Und wenn ich auf einen Dermie stoße?« »Such dir eine Pfeife und pfeif dann ein paarmal kurz. Dann rennst du, als sei die Hölle hinter dir her. Um die Dermies kümmern wir uns schon. Lies nur die Regeln.« »Kann ich überall nach Lebensmitteln suchen, wo ich will?«
»Probies haben ihre bestimmten Gebiete. Bei den Regeln findest du einen Stadtplan.« »Wer hat denn die Regeln aufgestellt?« »Oh, Jesus!« stöhnte Jim angewidert. »So lies sie doch, dann kriegst du's schon raus.« Als Paul sich fertig rasiert hatte, stand Jim auf, streckte sich, sprang von der Plattform herunter und griff nach seinem Rad. »Und wohin gehe ich von hier aus?« rief Paul. Der Mann schniefte nur verächtlich, bestieg das Fahrrad und radelte gemächlich davon. Paul nahm an, daß er das nur in den Regeln nachzulesen brauchte. Er setzte sich also neben das Faß mit Regenwasser und begann das vervielfältigte Blatt zu lesen. Alles war genau festgelegt. Als Probie war er auf ein Gebiet beschränkt, das sechs Häuserblocks lang und breit war und in Zentrumsnähe lag. Sobald er dieses Gebiet betreten hatte, bekam er ein blaues Mal auf die Stirn gestempelt. Bei der Zweiwocheninspektion würde man ihm dieses Mal mit einer Speziallösung wieder abwaschen. Traf man einen so gekennzeichneten Probie außerhalb dieses Gebietes an, dann mußte er unter Eskorte die Stadt verlassen. Man warnte ihn besonders davor, sich als zum Stammpersonal gehörig auszugeben, denn ein System aus Kodewörtern und Tagesparolen würde ihn ja doch verraten. Eine volle Seite war für Propaganda reserviert. Houston, so hieß es dort, sollte ›zum Bollwerk der Gesundheit in einer geschlagenen Welt und führend in einer glorreichen Wiederauferstehung werden‹. Das ganze Pamphlet war unterzeichnet von Dr. Georgelle, der sich selbst zum Direktor ernannt hatte.
Paul fühlte sich nach der Lektüre ziemlich unbehaglich. Die Uniformen erinnerten ihn an die Bubenbanden seiner Jugend in den benachbarten Slums, die besondere Pullover trugen und geheime Schlüsselwörter murmelten. Eindringlinge auspeitschten und in dunklen Garagen streunenden Katzen die Schwänze abschnitten. Und sie erinnerte ihn an andere Leute, die sich nachts in braunen Hemden um ein Lagerfeuer sammelten, vaterländische Lieder sangen und große Reden schwangen über glorreiche völkische Bestimmungen. Deren Streunkatzen waren ungeliebte Rassen gewesen. Natürlich waren die Dermies keine harmlosen Streuner. Sie waren eine ernstliche Drohung. Und vielleicht waren Georgelles Methoden die einzig wirksamen. Während Paul mit der Schrift auf der Plattform saß, hatte er geistesabwesend ein paarmal zu dem Laster hinübergeschaut, von dem die Männer abgestiegen waren. Plötzlich kam ihm zu Bewußtsein, daß es einer mit Dieselmotor war. Er sprang von der Plattform herunter und lief hin, um den Treibstofftank nachzusehen, dessen Einfüllstutzen offen war. Er wußte, daß es sinnlos war, nach Benzin zu suchen, aber mit Dieselöl war es eine andere Sache. Der Exodus hatte sämtliche Benzinvorräte verschlungen, denn die Leute waren mit allem, was Räder hatte, geflohen. Die Angst hatte sie dabei so sehr gejagt, daß sie Methoden, die außerhalb der Routine lagen, glatt vergaßen. Irgendein Flüchtling, der nichts davon verstand, hatte vermutlich Benzin in den Tank gefüllt, doch das war inzwischen verdunstet. Der Tank roch
nur noch ganz schwach danach. Wenn jedoch die Zylinder durch den Fahrversuch nicht gelitten hatten, konnte ihm der Laster noch von Nutzen sein. Er schaute also kurz die Maschine durch und kam zu dem Schluß, daß sie gar nicht probiert worden war. Die Batterie war herausgenommen. Er ging über die Straße und schaute zum Lagerhaus zurück. Dort war das Firmenzeichen einer Lastwagenfirma angebracht. Er lief um den Block herum und hielt Ausschau nach anderen Patrouillen. Auf der anderen Seite des Lagerhauses gab es eine Dieselzapfsäule. Ein frischer Ölfleck auf dem Beton sagte ihm, daß Georgelles Männer das Öl zu irgendeinem Zweck benutzten, vielleicht zum Kochen oder Heizen. Er ging in das Haus hinein, fand eine Reparaturwerkstatt und etliche auseinandergenommene Maschinen, die herumlagen. In einer Ecke entdeckte er ein Regal mit einer Anzahl Batterien, aber ein über die Pole gelegter Schraubenzieher erbrachte nur einen schwachen Funken. Die Ladegeräte bezogen jedoch ihren Strom vom Elektrizitätswerk der Stadt, das nicht funktionierte. Paul überlegte eine Weile, schloß dann fünf Batterien zu einer Reihe zusammen und stellte eine sechste darüber, so daß diese den Strom auffangen konnte, den die anderen Batterien abgaben. Dann trug er in Eimern das Dieselöl von der Pumpe zum Laster. Als der Tank voll war, hob er die Räder mit Wagenhebern an und pumpte die Reifen mit einer Handpumpe auf. Das war eine zeitraubende und sehr mühsame Arbeit. Die Dämmerung brach schon ein, als er den ersten Versuch starten konnte. Während des Nachmittags
hatte er sich ein paarmal vor Radfahrern verstecken müssen, die hier vorbeikamen, denn die hätten ihn nur in den Bezirk für Probies geschickt und den Lastwagen für ihre eigenen Zwecke benutzt. Es schien, als seien sie schon längst zu der Ansicht gekommen, daß Autotransporte der Vergangenheit angehörten. Als er in das Führerhaus kletterte, vernahm er ein paar kurze Trillertöne. Sie waren noch ein paar Straßen entfernt, doch die Antwort kam aus größerer Nähe. Das mußte wohl ein anderer Neuer sein. Die meisten dieser Neuen, die aus dem Norden kamen, benutzten wohl den gleichen Weg zur Stadtmitte. Er stieg in den Wagen, schloß leise die Tür und duckte sich unter das Armaturenbrett, als drei Radfahrer durch die nächste Querstraße vor ihm rasten. Paul richtete sich auf eine längere Wartezeit ein, bis die Gegend wieder sauber war. Das dauerte etwa zehn Minuten. Vermutlich war der Neue gerannt, statt sich zu verstecken. Als die Radfahrer zurückkehrten, fuhren sie gemütlich dahin und lachten. Nachdem sie die Straße überquert hatten und hinter der Ecke verschwunden waren, schlich Paul leise aus dem Führerhaus und die Hauswand entlang zur Ekke, um sich selbst davon zu überzeugen, daß die Männer der Patrouille verschwunden waren. Aber er hörte, wie jemand mit schriller Stimme bettelte. Er drückte sich ganz eng an die Hausmauer und spähte um die Ecke. Einen Block weiter kämpfte ein nacktes Mädchen zwischen gespannten Seilen, die von Posten in grünen Hemden festgehalten wurden. Es war ein hübsches Mädchen mit einem Wuschel-
kopf kastanienbrauner Haare und schlanken, sauberen Gliedern – sauber bis auf die Unterarme, die dunkle Flecken aufwiesen. Dann bemerkte er einen unregelmäßigen Fleck über ihrer Hüfte, und der sah aus wie ein Tintenspritzer, der nicht ganz sauber abgewaschen war. Sie war eine Dermie. Paul duckte sich so tief hinunter, daß sein Gesicht hinter einem an der Ecke wachsenden Grasbüschel verschwand. Ein Mann, der Anführer der Gruppe, hatte das Mädchen verlassen und ging nun die Straße entlang auf Paul zu, der sich bereit machte, sich in das Haus hinein zu rollen. Etwa auf halber Blockhöhe blieb der Mann stehen. Er hob einen Kanalisationsdeckel im Pflaster auf, ging zurück, um die Kleider des Mädchens zu holen, die er mit einem Haken am Ende einer langen Angelrute faßte. Stück für Stück ließ er die Kleider in das Loch fallen. Eine Wolke weißen Staubes stieg auf, und der Mann trat zurück, um nichts von dem Staub abzubekommen. Ungelöschter Kalk, vermutete Paul. Dann legte der Mann die Hände um den Mund und rief die anderen zurück. »Okay, zieht sie hierher!« Er zog seinen Revolver und wartete, bis die anderen das Mädchen zu dem Deckel gezerrt hatten. Paul fühlte mit einemmal Übelkeit in sich aufsteigen. Er hatte schon beobachtet, wie Flüchtlinge in Notwehr Dermies erschossen hatten, aber das hier war kalter, glatter Mord. Hier vereinten sich Dachau, Buchenwald und Sibirien. Er drehte sich um und rannte zum Laster. Das Motorengeräusch der laufenden Maschine unterbrach den Mord an dem Seuchenmädchen. Der Anführer erschien an der Ecke und starrte ungläubig
den Laster an, als Paul vom Haus wegfuhr. Ziemlich unsicher spielte er mit seinem Revolver herum und rief den anderen etwas über die Schulter zu. Dann ging er auf die Straße hinaus und machte dem Lastwagen Zeichen, daß er halten solle. Paul fuhr ganz langsam weiter, lehnte sich zum Fenster hinaus und musterte den Mann. »Wie, zum Teufel, hast du das Ding zum Laufen gebracht?« rief der Mann aufgeregt. Noch immer hielt er den Revolver in der Hand, doch er schien ihn vergessen zu haben. Plötzlich gab Paul Gas und fuhr scharf auf den erstaunten Posten zu. Der kreischte und wollte sich mit einem Satz in Sicherheit bringen, doch die Stoßstange erfaßte ihn an der Hüfte, riß ihn aus dem Gleichgewicht und schleuderte ihn auf das Pflaster. Als der Laster um die Ecke und auf das Mädchen und ihre potentiellen Mörder zudonnerte, warf er einen Blick in den Rückspiegel und sah den Mann, der sich bemühte, von der Straße wegzukriechen. Paul war überzeugt, daß er nicht allzu schwer verletzt war. Der Laster fuhr weiter, und das Mädchen warf sich davor, denn die Seile erlaubten keine Flucht. Paul riß das Steuer herum, so daß die anderen das Mädchen losließen und in Richtung Seitenstraße davonstoben. Dann steuerte er so, daß die Räder ihren Körper nicht streifen konnten. Sie schaute hinauf, schrie, drückte sich flach auf das Pflaster, während das Fahrzeug über sie wegdonnerte. Eine Kugel streifte die Motorhaube. Paul duckte sich und trat voll auf die Bremse, als er glaubte, über dem Mädchen weg zu sein. Ein paar Schüsse fielen, die offensichtlich dem Mädchen galten. Paul zählte drei Sekunden, dann
fuhr er wieder an. Ist sie jetzt nicht aufgestiegen, hat sie eben Pech gehabt, dachte er. Er hätte allerdings besser nicht versucht, sie zu retten. Aber er wußte, daß sie es geschafft hatte, denn es wurde noch immer geschossen. Der Laderaum war mit Kleidern vollgestopft, und er hoffte, daß sie die Kugeln abhielten. Als er um die nächste Ecke bog, hörte er den Knall eines platzenden Reifens, und der Lastwagen schaukelte verdächtig. Aber er legte noch Geschwindigkeit zu und raste die leere Straße entlang. Da der Wagen Zwillingsreifen hatte, hörte das Schlingern bald auf. Er blieb auf der gleichen Straße und fuhr, was die Maschine hergab. Dann und wann blieb ein Plünderer oder Radfahrer stehen und starrte ungläubig hinter ihm drein, aber sie schienen alle so perplex zu sein, daß keiner handlungsfähig war. Außerdem wußten sie ja nicht, was ein paar Straßen weiter zurück vorgefallen war. Paul konnte jetzt nicht anhalten, um nachzusehen, ob er wirklich einen Fahrgast hatte und ob dieser verwundet war. Außerdem war sie gefährlicher als die Schützen. Die Dankbarkeit für ihren Retter würde sehr schnell in der Gier, ihn zu berühren, untergehen. Jetzt wünschte er inständig, die Patrouille nicht daran gehindert zu haben, das Mädchen zu erledigen. Jetzt sah er sich nämlich dem Problem gegenüber, sich ihrer zu entledigen. Er sah, daß das Führerhaus auf beiden Seiten Rückspiegel hatte, so konnte er also beobachten, ob sie herauskletterte sobald er den Wagen anhielt, und dann mußte er eben schleunigst weiterfahren, ehe das Mädchen noch die Möglichkeit hatte, sich ihm zu nähern. Aber er beschloß, solange zu warten, bis sie die Stadt verlassen hatten.
Dann sah er auch schon die Schilder, die zur Autostraße wiesen und dann das Straßenschild GALVESTON – 58 MEILEN. Er fuhr weiter und überlegte, daß es in der Inselstadt vielleicht noch etwas zu holen geben könnte, ohne in die Maschinerie von Reglements des so tüchtigen Dr. Georgelle zu geraten, der Pläne für eine glorreiche Wiederauferstehung schmiedete. Zwanzig Meilen außerhalb der Stadt blieb er stehen, ließ die Maschine im Leerlauf tuckern und wartete darauf, daß sein Fahrgast aussteigen möge. Hoffnungsvoll beobachtete er die Spiegel und überlegte dabei, ob er wohl noch rechtzeitig davonfahren könne, falls es ihr einfiele, das Fahrerhaus zu stürmen. Er riegelte die beiden Türen ab und legte einen Wagenheber quer über den Sitz, nur so zur Vorsicht. Nichts geschah. Er kurbelte das Fenster hinunter und brüllte zur Ladefläche nach hinten. »Alle Fahrgäste aussteigen! Endstation! Alles aussteigen!« Aber das Mädchen erschien nicht. Dann hörte er etwas; ein leises Klopfen vom Laderaum, dann ein Murmeln, vielleicht war es auch ein Stöhnen. Sie war also noch da. Er rief wieder, doch sie gab keine Antwort. Draußen war es fast dunkel. Schließlich nahm er den Wagenheber fest in die Hand, machte die Tür auf und stieg vom Fahrersitz herunter. Auf jeden Trick gefaßt ging er in weitem Bogen um den Laster herum und kam von hinten heran. Eine Tür stand offen und schwang lose herum die andere war geschlossen. Ein paar Meter von der Tür entfernt blieb er stehen und spähte hinein. Erst sah er gar nichts.
»Aussteigen! Aber rühr mich nicht an, sonst bring ich dich um!« Dann sah er, wie sie sich bewegte. Sie saß auf dem Boden und lehnte sich an einen Haufen Kleider, etwa fünf Meter von der Tür entfernt. Vorsichtig kam er näher und riß den anderen Türflügel auf. Sie wandte den Kopf und sah ihn recht merkwürdig an, sagte aber nichts. Er konnte nur feststellen, daß sie etwas von den Kleidern angezogen hatte, aber ein Hosenbein war aufgerollt, und um ihren Fußknöchel hatte sie einen Stoffstreifen gebunden. »Bist du verletzt?« Sie nickte. »Kugel...« Sie bewegte den Kopf, als sei sie sehr benommen und stöhnte. Paul ging zum Fahrerhaus zurück und suchte nach dem Sanitätskasten. Er fand einen, auch eine Taschenlampe und Ersatzbatterien, die im Handschuhfach lagen. Die Batterien schienen noch nicht ganz leer zu sein, denn die Lampe brannte noch, wenn auch schwach: Dann kehrte er zum Laderaum zurück und schalt sich dabei selbst einen Erznarren. Ein vernünftiger Kerl würde das Dermiemädchen am Ende einer Ladekette herausziehen und am Straßenrand sitzenlassen. »Wenn du mich anzurühren versuchst, blas ich dir das Hirn aus dem Kopf«, warnte er, als er in den Laderaum kletterte. Sie schaute auf. »Sag mal, hättest du an irgend etwas Spaß, wenn du so blutest?« murmelte sie matt. Der Taschenlampenstrahl fing sich in ihren Pupillen, und er sah darin Schmerz. Ihr kleines Gesicht war totenbleich. Sie war ein hübsches Ding, kaum älter als zwanzig, aber Paul war nicht in der Laune, sich um
hübsche Mädchen zu kümmern, besonders dann nicht, wenn sie Dermies waren. »Aha. So denkst du also darüber. An etwas Spaß haben!« Sie antwortete nichts, sondern ließ nur die Stirn auf ihr Knie sinken, und sie rollte den Kopf vor Schmerz. »Wo bist du verletzt? Ist es nur der Fuß?« »Der Knöchel.« »Gut. Nimm den Fetzen herunter und laß sehen.« »Die Wunde ist hinten.« »Gut. Dann roll dich auf den Magen und halt die Hände unter deinem Kopf.« Mühsam streckte sie sich aus, und er ließ das Licht über ihren Fuß spielen, um zu sehen, ob die Haut sauber war oder nicht. Dann besah er sich den Knöchel, sagte aber lange nichts. Die Kugel war knapp am Gelenk vorbeigegangen, hatte aber die Achillessehne glatt durchtrennt, genau über der Ferse. »Du bist aber ein mutiges Ding«, brummte er, denn er ahnte ungefähr, was es sie gekostet hatte, den Schuh auszuziehen und in die Kleider zu schlüpfen. »Es war sehr kalt hier – ohne Kleider«, murmelte sie. Paul öffnete den Sanitätskasten und fand Schwefelpuder. Ohne sie zu berühren, stäubte er ihn über die Wunde, die wieder zu bluten begonnen hatte. Mehr konnte er nicht tun. Die Sehne war durchtrennt und mußte genäht werden, wenn sie heilen sollte. Eine solche Hilfe konnte er nicht leisten. Sie brach das Schweigen. »Ich... werde dann wohl verkrüppelt bleiben, nicht wahr?« fragte sie. »Ach nein, nicht verkrüppelt«, hörte er sich selbst antworten. »Jedenfalls dann nicht, wenn wir dich zu
einem Doktor bringen. Sehnen können mit Draht zusammengeflickt werden. Er wird dir vielleicht einen Gipsverband machen, und eventuell kriegst du davon einen steifen Knöchel.« Sie lag ruhig atmend da; ihr Schweigen schien zu sagen, daß sie seiner tröstlichen Erklärung nicht glaubte. »Hier«, sagte er. »Da ist ein Verbandspäckchen und Pflaster. Das kannst du dir selbst herumbinden.« Sie versuchte sich aufzusetzen. Er stellte den Sanitätskasten neben sie und zog sich zur Tür zurück. Sie suchte ein wenig im Kasten herum und wimmerte, als sie den Verband anlegte. »Da ist auch eine Aderpresse. Die legst du an, wenn es stärker bluten sollte.« Sie schaute auf und sah seine Silhouette vor dem dunkler werdenden Abendhimmel. »Danke... vielen Dank, Mister. Ich bin wirklich sehr dankbar. Ich verspreche dir, dich nicht anzurühren. Jedenfalls nicht, wenn du's nicht willst.« Er schüttelte sich, als er zum Fahrerhaus zurückging. Warum kamen sie nur immer auf die verrückte Idee, sie täten ihren Opfern einen Gefallen, wenn sie ihnen diese Neurodermatose anhängten? Jedenfalls nicht, wenn du's nicht willst. Er schüttelte sich wieder, als er anfuhr. Das dachte sie jetzt, solange der Schmerz ihre Gier übertönte, aber später – falls er sie nicht schnellstens los wurde – würde sie ja doch meinen, sie sei es ihm schuldig, ihn anzustecken, aus Dankbarkeit sozusagen. Die Krankheit pflanzte sich dadurch fort, daß sie so seltsame Wünsche im Träger erregte. Die Methoden dieser Mikroorganismen, ihr Überleben zu sichern, waren in der Tat außerordent-
lich hoch spezialisiert. Paul war überzeugt, daß sich derartige Lebewesen nicht auf der Erde entwickelt hatten. Da und dort flimmerte ein Licht entlang der AlvinGalveston-Straße. Öllampen, die in einsamen Häusern brannten, deren Bewohner nicht den Druck der überbevölkerten Stadt gespürt hatten. Aber er zweifelte nicht daran, daß jeder Annäherungsversuch eine Kugel zur Folge haben würde. Wo konnte er nur für das Mädchen Hilfe finden? Niemand würde sie berühren – außer ein anderer Dermie. Vielleicht konnte er das Führerhaus vom Hänger abkoppeln und ihn irgendwo in Galveston stehen lassen mit einem Plakat daran VERWUNDETER DERMIE INNEN. Die Seuchenopfer würden sich schon um sie kümmern, falls man sie fände. Er schüttelte verwundert über sich selbst den Kopf, weil er sich solche Sorgen um das Mädchen machte. Daß er ihr das Leben gerettet hatte, lud ihm doch nicht gleich die Verantwortung für sie auf, oder? Sie würde ja, wenn sie geheilt war und ihren Fuß wieder benützen konnte, doch nur herumstromern und gesunde Opfer suchen. Die Krankheit wurde sie nie mehr los, und sterben würde sie daran auch nicht, soviel man bisher wußte. Die Todesrate unter den Dermies war zwar ungewöhnlich hoch, aber die Ursache war meistens eine Kugel. Paul fuhr an einer Straßengabelung vorbei und wußte, daß die Brücke nun unmittelbar vor ihnen lag. Hinter dem Kanal war die Insel Galveston. Früher war sie immer strahlend hell erleuchtet gewesen, und lachend hatte sie ihre Rolle als Strandtreffpunkt gespielt, und jetzt lag sie in tiefer Dunkelheit da. Vom
Südwesten her fauchte der Wind gegen den Laster, als die Straße über den Damm führte. Im Osten verkündete ein heller Schimmer den Mondaufgang. Vor ihm lag die Konstruktion der Zugbrücke. Plötzlich klammerte er sich an das Lenkrad, trat mit aller Wucht auf die Bremse und zog gleichzeitig die hydraulische Bremse. Die Reifen pfiffen auf dem glatten Beton, und ihn warf es vorwärts über das Lenkrad. Dort, wo früher die Gatter der Zugbrücke gewesen waren, sah er jetzt tief unten nur noch wirbelndes Wasser. Vier Meter vor dem Brückenende kam er zum Stehen. Als er aus dem Führerhaus kletterte, rief das Mädchen aus dem Hänger, aber er ging ganz vor zum Rand und schaute hinunter. Jemand hatte da mit Dynamit herumgespielt. Aber warum? Um die Inselbewohner auf der Insel zu halten, oder um die Leute vom Festland von der Insel fernzuhalten? Hatte da wieder ein Doktor Georgelle eine neue kleine Nation in Galveston ausgerufen? Ihm erschien es wahrscheinlicher, daß die Unterlandbewohner der Insel die Zerstörung vollbracht hatten. Er sah zum Laster zurück. Ein erfahrener Fernfahrer konnte ihn vielleicht hier wenden, aber Paul zweifelte, ob es ihm gelingen würde. Trotzdem kletterte er wieder hinauf und versuchte es. Eine halbe Stunde später hatte er sich hoffnungslos festgefahren. Der Hänger stand schräg, und das Fahrerhaus hing halb über dem Wasser. Er gab seine Versuche auf und ging nach hinten, um seine verseuchte Ladung zu besichtigen. Sie schlief, doch sie stöhnte leise. Mit dem Wagenheber stupste er sie so lange, bis sie aufwachte.
»Kannst du kriechen. Mädchen?« fragte er. »Wenn, dann komm zur Tür her.« Sie nickte und zog sich langsam der Taschenlampe entgegen. Sie biß die Zähne in die Lippen, um das Wimmern zu unterdrücken, aber ihr Atem kam wie ein Murmeln... ng... nnnng... nennng... An der Tür sackte sie zusammen, und er glaubte schon, jetzt sei sie ohnmächtig geworden. Dann schaute sie auf. »Und was kommt jetzt, Skipper?« keuchte sie. »Ich... weiß noch nicht. Kannst du dich auf das Pflaster runterlassen?« Sie spähte über die Kante und schüttelte den Kopf. »Mit einem Seil vielleicht. Irgendwo da drinnen ist eines. Wenn du vor mir Angst hast, versuche ich hinzukriechen und es zu holen.« »Behältst du deine Hände bei dir?« fragte er mißtrauisch: dann war er aber froh über die Dunkelheit, die seine Schamröte vor ihr verbarg. »Ich werde ganz bestimmt nicht...« Schnell kletterte er auf die Ladebrücke und fand auch rasch das Seil. »Ich klettere jetzt aufs Dach hinauf und laß das Seil vor dir runter. Du hältst es fest und läßt dich daran hinunter.« Ein paar Minuten später saß sie auf dem Damm und musterte die zerstörte Zugbrücke. »Oh«, murmelte sie, als er vom Dach herunterkletterte. »Ich dachte schon, du willst mich hier aussetzen. Wir hängen hier fest, was?« »Ja. Wir könnten zwar hinüberschwimmen, aber das schaffst du wohl nicht.« »Versuchen kann ich's ja...« Sie legte den Kopf schräg. »Unter der Brücke ist ein Boot festgemacht.
Genau dort unten.« »Wie kommst du darauf?« »Hörst du nicht, wie das Wasser gegen Holz schlägt? Hör doch mal.« Dann schüttelte sie den Kopf. »Ah, ich hab ganz vergessen, daß du kein Hyper bist.« »Was bin ich nicht?« fragte er und lauschte. Er hörte nichts Besonderes. »Hyperakut. Scharfe Sinne. Weißt du, das ist eines der Symptome.« Er nickte. Ganz vage erinnerte er sich daran, etwas darüber gehört zu haben, aber er hatte es als halluzinatorisches Phänomen abgetan. Er ging zum Geländer und ließ sein Licht über das Wasser spielen. Das Boot war richtig da. Es schaukelte an einem gespannten Seil, das am Pier festgemacht war. Der Boden war noch ziemlich trocken, und er schloß daraus, daß erst kürzlich ein Ruderer von der Insel zum Festland gekommen war. »Kannst du dich am Seil festhalten, wenn ich dich hinunterlasse?« fragte er. Sie warf ihm einen raschen Blick zu, nahm dann das Seilende, das sie kurz vorher berührt hatte und legte eine Schlinge um ihre Taille. Dann begann sie zum Geländer zu kriechen. Paul kämpfte gegen einen verrückten Impuls, sie aufzuheben und zu tragen. Verdammte Seuche! Aber er hatte sich schon einer Ansteckung mehr als nötig ausgesetzt; trotzdem fühlte er die Vorwürfe, die ihm sein Gewissen machte... Weichet von mir, ihr Verfluchten, denn ich war krank, und ihr habt mich nicht gepflegt... Er wandte sich schnell ab und knotete das Seilende am Geländer fest. Er sagte sich vor, daß jeder Gesun-
de sie sofort im Stich lassen und selbst in die Sicherheit schwimmen würde. Aber das konnte er nicht. In den Kleidern, die ihr viel zu groß waren, sah sie wie ein kleines, hilfloses, verschüchtertes Kind aus. Paul wußte, welch fordernde Arroganz Verletzte haben konnten – hilf mir, du mußt mir helfen, du verdammter, hartherziger Bastard! ... Nein, doch nicht da anfassen, du Idiot! Viel zu oft hatte er es schon erlebt, daß ein Verletzter den Arzt, ein Geretteter den Retter verfluchte. Blinde Aggression, die gegen den Schmerz zum Schlag ausholt. Aber das Mädchen beklagte sich nicht und stöhnte nur gelegentlich und unabsichtlich. Sie bat um nichts: mit einer großäugigen Dankbarkeit akzeptierte sie seine Hilfe, und das machte ihn schwach. Er dachte, es sei vielleicht ein bißchen leichter, sie zu verlassen, wenn sie ihn nur bitten oder anflehen würde, oder vielleicht gar fordern, daß er sie nicht im Stich lassen dürfe. »Kannst du mich ein bißchen schwingen?« rief sie hinauf, als er sie zum Wasser hinabließ. Pauls Augen versuchten die Dunkelheit unten zu durchdringen, die Schatten zu erkennen, um das Boot auszumachen. Mit beiden Händen hielt er das Seil fest, das er langsam hinunterließ. Die Taschenlampe hatte er auf das Geländer gelegt, aber sie schien ihn nur zu blenden. Sie schwang sich nun selbst wie ein Pendel hin und her. »Wenn ich rufe ›jetzt‹, dann laß mich los!« schrie sie herauf. »Du fällst nicht!« »Muß ich aber! Das Boot ist ein Stück weiter draußen. Ich muß mich hinausschwingen. Schwimmen
kann ich nämlich nicht.« »Aber du wirst dein Bein...« »Jetzt!« Aber Paul ließ das Seil nicht los. »Ich laß dich ins Wasser hinunter, dann kannst du dich am Seil festhalten. Ich tauche, und dann ziehe ich dich ins Boot.« »Nein! Du müßtest mich dann ja berühren! Das willst du doch nicht, oder? Moment noch... Noch einen Schwung... Jetzt!« Er ließ das Seil los. Es klang dumpf, als sie auf das Boot schlug. Sie tat ein paar Schmerzensschreie, und dann hörte er nur noch gedämpftes Schluchzen. »Was ist?« Sie weinte und schien ihn nicht zu hören. »Oh, Jesus!« stöhnte er, rannte zum Rand der Zugbrücke und sprang in den tiefen Kanal hinunter. Wie weit... hinunter... hinunter... Eisiges Wasser peitschte seinen Körper, umarmte ihn dann. Er kämpfte sich nach oben und schwamm dem dunklen Umriß des Bootes entgegen. Das Schluchzen hatte aufgehört. Er griff nach dem Bootsrand und schwang sich hinauf. Sie lag zusammengekauert auf dem Boden des Bootes. »Mädchen, wie geht es dir? Alles in Ordnung, Kleine?« »Entschuldige... Ich bin ein so dummes Kind«, stöhnte sie und kroch von ihm weg. Paul fand ein Paddel, aber keine Ruder. Er stieß sich ein wenig ab und begann Wasser umzuschaufeln, doch es nützte nichts, weil ihn die Flut immer wieder an die Brücke drängte. Er gab auf und paddelte zum weiter entfernt liegenden Strand. »Kennst du Galveston?« fragte er. Das tat er aber hauptsäch-
lich deshalb, weil er sich vergewissern mußte, daß sie sich ihm in der Dunkelheit nicht mit ihren seuchengrauen Händen näherte. »Hier war ich immer im Sommer. Ich kenne mich da ein bißchen aus.« Während er zur Insel paddelte, hielt er die Unterhaltung im Gang. Sie hieß Willie und bestand darauf, daß es eine Form von Willow sei, nicht von Wilhelmina. Sie stammte aus Dallas; sie sei die Tochter eines Vertreters, und sei von einem herumirrenden Farmer angesteckt worden. Dieser Farmer, erklärte sie, war ein Dermie, der sie schlafend an der Straße entdeckt habe. Er hatte ihre Arme gestreichelt, bis sie aufwachte, dann war er weggerannt und hatte vor Vergnügen gekreischt. »Und das war vor drei Wochen«, sagte sie. »Wenn ich eine Waffe gehabt hätte, dann hätte ich ihn abgeknallt. Jetzt weiß ich es natürlich besser.« Paul schüttelte sich und paddelte weiter. »Warum bist du nach dem Süden gekommen?« »Ich wollte hierher.« »Nach Galveston?« »Hm. Ja. Ich hörte, daß jemand sagte, eine Menge Nonnen kämen hierher auf die Insel. Und da dachte ich, sie würden mich vielleicht aufnehmen.« Der Mond stand hoch über der dunklen Stadt, und die Flut hatte das kleine Boot weit östlich von der Brücke abgetrieben, als Pauls Paddel sich im seichten Wasser in den Schlamm grub. Er sprang hinaus und zog es durch mageres Sumpfgras auf den Strand hinauf. Fünfzig Meter weiter lag die Bretterhütte eines Fischers und schlief im Mondlicht.
»Willie, du bleibst hier«, brummte er. »Ich suche ein paar Stöcke oder Bretter oder so, die du als Krükken verwenden kannst.« Hinter der Hütte gab es einen Schuppen. Dort fand er einen Schubkarren. Gleichzeitig stöhnend und lachend mühte sie sich hinein, und er fuhr sie zur Hütte. Dazu sang er eine Strophe des Rikschajungen. »Du bist ein Spaßvogel, Paul«, sagte sie. »Es tut mir so leid...« Sie schüttelte ihren Lockenkopf, und das Mondlicht spielte darüber. Sie schüttelte ihn, als mißbillige sie ihre eigenen Worte. Paul rüttelte an der Hüttentür, stieß sie auf und hievte den Schubkarren drei Stufen hoch in einem muffig riechenden Raum. Er strich ein Zündholz an, fand eine Öllampe mit ein wenig Petroleum und zündete sie an. Willie hielt den Atem an. Er schaute sich um. »Ah, Gesellschaft«, brummte er. Diese Gesellschaft saß in einem altersschwachen Schaukelstuhl mit einem Schal um die Schultern und einer Flinte zwischen den Knien. Sie war mindestens einen Monat lang tot. Die Schrotladung hatte die Decke durchsiebt und sie mit ein bißchen grauem Haar und braungetrocknetem Blut gesprenkelt. »Bleib hier«, befahl er dem Mädchen tonlos. »Ich versuche irgendwo einen Dermie zu finden, der eine Sehne zu nähen versteht. Was meinst du dazu?« Sie war sehr blaß, als sie die alte Frau musterte. »Hier? Mit der...« »Die stört dich nicht«, antwortete er, als er vorsichtig die Flinte von der Leiche löste. In einem Schrank fand er hinter einer barocken Teekanne eine Schachtel Munition. »Vielleicht komme ich selbst nicht zurück,
aber ich schicke dir jemanden.« Sie schlug ihre seuchenfleckigen Hände vor das Gesicht, und er stand da und sah, wie ihre Schultern zuckten. »Mach dir keine Sorgen... Ich schicke dir bestimmt jemanden.« Neben dem Porzellanwaschbekken fand er ein dünnes Seifenstückchen, das er in die Tasche schob. »Was willst du damit?« murmelte sie und sah ihn an. Er suchte erst nach einer Lüge, ließ den Versuch aber sein. »Dich von mir abzuwaschen«, antwortete er wahrheitsgemäß. »Ich bin dir vielleicht zu nahe gekommen. Seife nützt zwar nicht viel, aber ich fühle mich trotzdem dann wohler.« Kühl musterte er die Leiche. »Hat ihr auch nichts genützt. Das beste Antiseptikum ist eine Schrotladung.« Willie stöhnte, als er zur Tür hinausging. Er hörte sie weinen, als er zum Strand lief, und sie weinte noch immer, als er nach einer gründlichen Waschung zurückkam. Es tat ihm unendlich leid, daß er so herzlos mit ihr gesprochen hatte, aber er fühlte sich ebenso unendlich erleichtert, von ihr wegzukommen... Mit der Flinte im Arm vergrößerte er allmählich die Entfernung zwischen sich und dem Schluchzen. Das hatte er noch lange in den Ohren, nachdem ihm bewußt wurde, daß er sie nun wirklich nicht mehr hören konnte. An ein paar Fischerhütten vorbei ging er ein Stück landeinwärts und kam dann auf die Autostraße, die zur Stadt führte. Bald hatte er den Stadtrand erreicht. Er brauchte mindestens eine Stunde zum anderen Ende der Insel, wo er wahrscheinlich jemanden fin-
den konnte, der etwas Ähnliches wie eine ärztliche Ausbildung hatte. Dort waren nämlich die Krankenhäuser, das Medizinische Institut, und dort würde er am ehesten auch mildtätige Nonnen finden, wenn Willies Vermutungen stimmten. Paul dachte daran, einen Dermie-Arzt oder eine Nonne einfach einzufangen und mit seiner Flinte zu Willie zu treiben. Dann konnte er sie beruhigt sich selbst überlassen, denn sobald sie keine Schmerzen mehr hatte, würde die Gier kommen, Gesunde zu berühren. Er zweifelte keine Sekunde daran, daß dann er das Ziel ihrer tätlichen Zuneigung wäre. Durch die Bucht fegte ein scharfer Wind; jetzt spiegelten sich nicht mehr die Lichter der Uferstraße im Wasser, sondern die kurzen Wellen zerbrachen die Mondscheibe in tausend Scherben. Die Oleanderbüsche an der Uferstraße waren vom Unkraut überwuchert. Katzen oder Hasen huschten durch das wirre Grün, das früher einmal ein sorgfältig gepflegter Parkweg gewesen war. Paul wunderte sich darüber, daß die Seuche ausgerechnet den Menschen befallen hatte, die niederen Tiere jedoch verschonte. Richtig, gelegentlich sah man auch einen Hund oder eine Kuh mit Seuchenflecken, doch der Träger der Seuche war der Mensch. Die Gier, durch Berührung die Krankheit zu verbreiten, richtete sich auch ausschließlich auf den Menschen, sogar bei Tieren. Es schien so zu sein, daß das kranke Nervensystem absichtlich jene Spezies aussuchte, die das komplizierteste Nervensystem überhaupt hatte. Stand dieser Seuchenausbruch tatsächlich irgendwie in Verbindung mit dem Meteoritenschwarm? Paul glaubte fest daran.
Erstens, diese Meteoriten waren unprogrammäßig gewesen. Sie gehörten nicht zu den vorhersehbaren regelmäßigen kosmischen Bombardements. Und dann war da der merkwürdige Bericht darüber, daß diese Projektile hergestellt worden und mit gefrorenen Mikroorganismen gefüllt waren, die aufgetaut wieder voll lebendig wurden. In diesen Tagen des Aufruhrs und der Verwirrung war es hart, an irgend etwas zu glauben, doch Paul war fest davon überzeugt. Diese Form der Neurodermatose war auf der Erde bisher noch nie aufgetreten. Welche Wesen hatten dann einen solchen Fluch auf die Erde gesandt? Mögliche Invasoren? Wenn, dann ließen sie sich mit der Invasion aber sehr viel Zeit. Über eines waren sich alle Wissenschaftler jedoch einig: diese Geschosse wurden nicht von einem anderen Planeten des Sonnensystems auf die Erde ›geschickt‹. Die Richtung nach dem Eindringen in die Atmosphäre stimmte nämlich nicht. Sie konnten von jedem irgendwo im Raum hängenden interplanetaren Schiff stammen, aber ihre Geschwindigkeit entsprach etwa jener theoretischen Geschwindigkeit, die ein Körper erlangen würde, fiele er aus einer nahezu unendlichen Distanz sonnenwärts. Das deutete darauf hin, daß diese Projektile von einem anderen Stern stammen mußten. Paul blieb plötzlich, aus seinen Gedanken gerissen, stehen, als im Schatten eines Hauses ein Zündholz angestrichen wurde. Ein Mann lehnte an der Mauer und zündete sich eine Zigarette an. Er schnippte das Zündholz aus, und dann machte das glühende Zigarettenpünktchen so etwas wie einen Bogen, als der Mann ihm winkte.
»Schöne Nacht, was?« klang es aus der Dunkelheit. Paul stand im vollen Mondlicht da und hatte die Flinte schußbereit. Die Stimme klang wie die eines Jugendlichen, die noch nicht die volle Resonanz des Erwachsenen hatte. Wenn der Junge kein Dermie war, warum hatte er nicht Angst, daß Paul einer sein könnte? Und war er einer, warum kam er nicht heran, um ihn, den doch vermutlich Unberührten zu berühren? »Ich sagte, eine schöne Nacht, was?« wiederholte die Stimme. »Was tust du denn mit dem Schießprügel? Hast du Hasen geschossen?« Paul kam ein bißchen näher und fummelte nach seiner Taschenlampe. Dann erfaßte er mit ihrem Strahl die im Schatten lümmelnde Gestalt. Es war ein Junge von vielleicht sechzehn Jahren, der sich an die Mauer lehnte. Er sah das perlgraue Gesicht, das charakteristisch war für das End- und Dauerstadium der Neurodermatose. Wie angewurzelt blieb er etwa einige Schritte vor dem Burschen stehen, der verwirrt ins Licht blinzelte. Der Junge nahm also ganz automatisch an, daß sein Gegenüber auch ein Dermie sein müsse! Paul versuchte sich in der Dunkelheit zu halten und den anderen zu blenden, solange er auf das Spiel des Jungen einging. »Ja schöne Nacht. Hast du eine Ahnung, wo ich einen Arzt finden kann?« Der Junge runzelte die Brauen. »Einen Arzt. Heißt das, daß du's nicht weißt?« »Was soll ich wissen? Ich bin neu hier.« »Neu?« Die Nüstern des Jungen bebten, als schnüffle er in die Nachtluft. »Nun ja, die meisten der Priester von Saint Mary waren doch Missionare. Sie
sind auch alle Ärzte. Warum? Bist du krank?« »Nein. Da ist ein Mädchen... Ah, macht nichts. Wie komme ich dorthin? Sind unter ihnen auch Dermies?« Die Augen des Jungen wurden auf merkwürdige Art lebendig, und er ließ den Unterkiefer fallen, als habe ihn jemand gefragt, weshalb ein Kreis nicht ekkig sei. »Aha, du bist neu, was? Wenn du sie so nennen willst, dann sind sie alle Dermies. Was...« Wieder flatterten seine Nasenflügel. Dann warf er die Zigarette weg und holte tief Atem. »Ah... Ich rieche einen... Nicht-Hyper...« murmelte er. Paul zog sich langsam zurück. Seine Haare stellten sich auf. Der Junge trat einen Schritt näher. Seine Miene erhellte sich in einer angenehmen Ahnung. Dann entblößte er seine weißen Zähne in einem breiten Grinsen der Vorfreude. »Ah, du bist also noch kein Hyper«, zischte er und näherte sich Paul. »Ich hab noch nie eine Möglichkeit gehabt, einen Nicht-Hyper zu berühren...« »Stehenbleiben! Oder ich schieße!« Der Bursche lachte meckernd und kam näher, redete dabei ständig mit sich selbst. »Der Padre sagt, es sei nicht recht, aber... er riecht so... so...« Und mit einem kehligen Schrei stürzte er vorwärts. Paul wich seitlich diesem Angriff aus und hieb dem Burschen den Flintenlauf über den Schädel. Heulend flog der Dermie auf die Straße und blieb liegen. Paul schob ihm den Flintenlauf ans Gesicht, aber der Junge versuchte wieder aufzustehen. Paul stieß ihn unsanft mit dem Lauf an und spürte, wie etwas riß. »Ich möchte nicht gern, daß ich dir den Kopf wegblasen muß...« Der Junge heulte auf und fiel zurück. Dann duckte
er sich keuchend auf Händen und Knien zusammen, ließ den Kopf hängen und sah, wie die Blutpfütze immer größer wurde, die sich vor ihm sammelte. Aus einer tiefen Wunde an seiner Wange tropfte Blut. »Warum hast du das getan?« wimmerte er. »Ich wollte dir ja gar nichts tun.« Er sprach im Ton eines zurückgewiesenen Anbeters, dem bitteres Unrecht geschehen war. »Und wo ist jetzt St. Mary? Ist das eines der Krankenhäuser? Und wie komme ich hin?« Paul zog sich auf eine sichere Entfernung zurück und hielt die Flinte noch immer schußbereit. »Die Straße gerade hinunter, dann zum Boulevard... Dort irgendwo findest du's dann schon. Ungefähr die vierte Straße, glaube ich.« Der Junge schaute auf, und Paul sah, wie groß und häßlich die Wunde war. Der Junge weinte. »Steh auf! Du wirst mich hinführen!« Der Schmerz hatte die Gier der Berührung ausgelöscht. Der Junge kam mühsam auf die Beine und drückte ein Taschentuch auf die Wunde. Er warf Paul einen zornigen Blick zu und lief die Straße entlang. Paul folgte ihm in zehn Metern Abstand. »Wenn du mich in eine Dermiefalle lockst, bringe ich dich um.« »Es gibt keine Fallen«, murmelte der Junge. Paul schniefte ungläubig, wiederholte jedoch seine Warnung nicht. »Warum hast du angenommen, ich sei auch ein Dermie?« fragte er. »In Galveston gibt's doch keine anderen als Dermies. Das hier ist eine Hyper-Kolonie. Ab und zu ist mal ein Nicht-Hyper gekommen, aber dann haben die Mönche die Brücke mit Dynamit gesprengt. Die
Nicht-Hyper bringen ja nur die ganze Kolonie durcheinander. Solange keiner zu riechen ist, gibt's auch keinen Ärger hier. Während des Tages ist draußen am Damm ein Wachtposten, und wenn ein Hyper kommt, der einen Platz sucht, wo er bleiben kann, dann bringt ihn der Posten mit dem Boot herüber. Kommt aber ein Nicht-Hyper, dann sagt er ihm das von der Kolonie, und dann geht er auch wieder.« Paul stöhnte. Da war er ja in ein Rattennest gestolpert! Gab es denn nirgends mehr eine Zuflucht vor der grauen Pest? Er mußte also wieder weiter. Es schien hoffnungslos zu sein. Vielleicht war der alte Mann, den er auf dem Weg nach Houston getroffen hatte, schon bei der einzig möglichen Hoffnung auf Frieden angelangt gewesen – der Unterwerfung unter die Seuche. Aber dieser Gedanke machte ihn irgendwie krank. Er mußte irgendeine kahle Insel und eine gesunde Gefährtin finden und sich fern von jeder Zivilisation eine primitive Existenz aufbauen. »Hat dich denn der Posten an der Brücke nicht aufgehalten?« fragte der Junge. »Heute ist er nämlich noch nicht zurückgekommen. Er muß also noch draußen sein.« »Nein«, knurrte Paul und warnte damit vor weiterer Unterhaltung. Er konnte sich vorstellen, was geschehen war. Der Dermie-Wächter hatte vielleicht einen gesunden Wanderer erspäht, und statt ihn zu warnen, hatte er ihn unter der Zugbrücke durchgerudert und andere geholt, damit sie ihn jagten. Möglicherweise lag er jetzt irgendwo an der Autostraße, falls diese hypothetischen Wanderer bewaffnet waren. Ein paar Straßen vom Stadtzentrum entfernt
zischte Paul dem Jungen zu, er solle anhalten. Jemand lachte; auf dem von Bäumen beschatteten Gehsteig waren Stimmen zu vernehmen. Er wisperte dem Jungen zu, er solle sich hinter einer Hecke verstecken. In ein paar Metern Entfernung duckten sie sich hinter die Büsche. Die Stimmen kamen näher. »Bruder James hat einen hübschen Tenor«, sagte jemand leise. »Aber er singt sein Latein mit einem Westlerakzent. Es klingt... nun ja, ein bißchen merkwürdig, wenn man nicht zuviel sagen will. Bruder John ist doch so eigen mit der Aussprache. Er läßt Fra James einfach kein Solo singen. Er sagt, der Chor erhielte damit eine burleske Note, und die Schwestern würden ständig nur kichern.« Der andere Mann lachte leise, versuchte zu antworten, doch dann brach er plötzlich ab. Die Schritte hielten etwa ein paar Schritte von Pauls Versteck entfernt an. Paul schaute durch die Hecke und sah ein paar braunkuttige Mönche auf dem Gehsteig stehen. Mißtrauisch sahen sie sich um. »Bruder Thomas, riechst du...« »Jawohl, ich rieche es.« Paul huschte ein Stückchen weiter, um seine Flinte besser auf die beiden verseuchten Mönche richten zu können. Sie standen schweigend und gespannt in der Dunkelheit und scharrten unbehaglich mit den Füßen. Einer kniff zwischen Daumen und Zeigefinger die Nase zusammen. Der andere folgte seinem Beispiel. »Gelobt sei Gott«, murmelte der eine. »Gelobt sei sein Heiliger Name«, antwortete der andere. »Gelobt sei Jesus Christus, der wahre Gott und wahre Mensch.«
»Gelobt sei...« Sie rafften ihre Roben, wendeten und liefen davon, als sei der Teufel hinter ihnen drein. Dazu murmelten sie eine Litanei. Paul stand auf und schaute kopfschüttelnd hinter ihnen drein. Er vermochte es kaum zu glauben, daß zwei Dermies vor einem potentiellen Opfer davonliefen. Er fragte deswegen den Jungen, der noch immer das Taschentuch an sein blutendes Gesicht hielt. Der Junge ließ den Kopf hängen. »Der Bischof hat es allen verboten, einen NichtHyper anzurühren«, erklärte er kleinlaut. »Er sagt, es sei eine Sünde, außer der Nicht-Hyper verlangt es aus freiem Willen. Und selbst dann ist es nicht redet, sagt er, außer so, wie die Leute normalerweise miteinander Kontakt aufnehmen. Er sagt, das ist fleischliche Begier und so.« »Und warum hast du's dann versucht?« »Ah, so fromm bin ich ja nicht.« »Na, Kleiner, dann sei mal lieber fromm, bis wir zum Krankenhaus kommen. Und jetzt wieder weiter.« Sie gingen den Uferweg entlang und begegneten keinen weiteren Fußgängern. Zwanzig Minuten später standen sie im Schatten eines riesigen Ziegelgebäudes, und hinter einigen Fenstern brannte gelbes Lampenlicht. Über dem Eingang stand die im Mondlicht badende Statue einer Frau. Daraus schloß Paul, dies müsse das Krankenhaus sein. »Na, schön, Junge. Du gehst jetzt hinein und schickst einen Dermie-Doktor heraus. Dem sagst du, jemand möchte ihn sehen. Wenn du ihm aber sagst, daß ich kein Dermie bin, bring ich dich um. Und jetzt lauf! Und komm nur ja nicht zurück. Du läßt dir
drinnen dein Gesicht verarzten.« Der Junge trottete zum Eingang. Paul setzte sich in den Schatten eines Baumes, wo er zwanzig Meter weit nach allen Richtungen schauen konnte, um vor Überraschungen sicher zu sein. Bald kam aus dem Eingang der Unfallabteilung ein schwarzgekleideter Priester, blieb auf dem Gehsteig stehen und schaute sich um. »Hierher!« rief Paul leise. Unsicher ging der Priester weiter. In der Straßenmitte blieb er wieder stehen und hielt sich die Nase zu. »Du bist ein Nicht-Hyper«, sagte er fast vorwurfsvoll. »Das stimmt. Und ich habe eine Flinte. Sie versuchen also besser nichts.« »Was ist denn los? Sind Sie krank? Der Junge sagte...« »Auf der anderen Inselseite ist ein Mädchen, eine Dermie. Sie hat eine Schußverletzung. Die Sehne über der Ferse ist glatt durchtrennt. Sie werden ihr helfen.« »Natürlich. Aber...« Der Priester machte eine Pause. »Und Sie? Sie sind ein Nicht-Hyper? Sie helfen einem sogenannten Dermie?« Seine Stimme verbarg sein Erstaunen nicht. »So, dann bin ich also ein Idiot, was?« bellte Paul. »Holen Sie das, was Sie brauchen und kommen Sie mit.« »Der Herr segne dich, mein Sohn«, murmelte der Priester verlegen, als er davoneilte. »Versuchen Sie ja keine Ihrer Verrücktheiten an mir!« rief ihm Paul nach. »Ich bin nämlich bewaffnet.« »Ich muß einen Arzt holen«, erklärte ihm der Priester.
Fünf Minuten später hörte Paul das gedämpfte Mahlen eines Anlassers. Dann hustete ein Motor und begann zu tuckern. Bestürzt lief er vom Baum weg und verbarg sich in dichtem Buschwerk. Eine Ambulanz stieß rückwärts aus dem Eingang und fuhr auf die Straße heraus. Mit laufendem Motor blieb sie neben dem Baum stehen. Ein blasses Gesicht tauchte aus dem Schatten auf. »Wo sind Sie?« rief es, aber es war nicht die Stimme des Priesters. Paul stand auf und kam ein paar Schritte näher. »Wir müssen erst noch auf Vater Mendelhaus warten«, erklärte der Fahrer. »Es dauert nur ein paar Minuten.« »Sind Sie ein Dermie?« »Natürlich. Aber keine Angst. Ich habe mir die Nase verstopft und trage Gummihandschuhe. Ich kann Sie also nicht riechen. Natürlich erweckt der Anblick eines Nicht-Hypers einige Gier. Aber mit ein bißchen Willenskraft kann man sie überwinden. Ich werde Sie also nicht anstecken, obwohl ich wirklich nicht verstehe, daß ihr Nicht-Hyper euch so dagegen wehrt. Früher oder später erwischt ihr es doch. Wenn alles damit angesteckt ist, kann die Welt wieder zu einem normalen Leben zurückfinden.« Das war ein verwirrender Gedanke, den Paul jedoch schnell von sich schob. »Sind Sie der Arzt?« fragte er. »Ja, natürlich. Ich bin Vater Williamson. Wissen Sie, ein Spezialist bin ich ja eigentlich nicht, aber in Korea habe ich als Arzt gearbeitet. In welchem Zustand ist das Mädchen? Schwerer Schock oder so?« »Das weiß ich nicht.« Sie schwiegen, bis Vater Mendelhaus zurückkehrte.
Er kam quer über die Straße, hatte in einer Hand eine Tasche und eine Flasche in der anderen. Die Flasche hielt er am Hals fest und benützte dazu eine kräftige Pinzette, und Paul sah, daß die Flasche dampfte, als der Priester an den Scheinwerfern des Wagens vorüberging. Ohne sie zu berühren, stellte er die Flasche am Randstein ab und wandte sich dann an den Mann im Schatten. »Würden Sie bitte hinter die Hecke gehen und sich ausziehen, junger Mann? Dann reiben Sie sich gründlich mit diesem Öl ein.« »Das bezweifle ich«, erwiderte Paul. »Was ist das für ein Zeug?« »Keine Angst, die Flasche war im Sterilisator. Deshalb brauchte ich ja so lange. Vielleicht ist es ein bißchen zu heiß für Sie. Es ist lediglich ein Antiseptikum und ein Deodorant. Das beseitigt Ihren Geruch und gibt Ihnen auch einigen Schutz gegen herumschwirrende Mikroorganismen.« Paul zögerte erst noch, beschloß dann aber, dem Priester zu trauen. Er trug die heiße Flasche in den Büsche, zog sich aus und wusch sich mit dem aromatischen Öl ab. Dann schlüpfte er wieder in seine Kleider und ging auf die Ambulanz zu. »Steigen Sie hinten ein«, bat ihn Mendelhaus. »Sie werden nicht angesteckt. Seit einigen Wochen war dort keiner mehr drinnen, und Sie wissen ja vielleicht, daß die Mikroorganismen nach einigen Stunden an der Luft absterben. Sie müssen von einer Haut auf die andere übertragen werden, oder auch durch einen Gegenstand, den kurz vorher ein Hyper berührt hat.« Vorsichtig kletterte Paul hinein. Mendelhaus öffnete ein Schiebefensterchen in der Fahrerkabine und
sprach vom Vordersitz aus mit ihm. »Sie werden uns den Weg zeigen müssen.« »Die Uferstraße geradeaus. Sagen Sie, woher haben Sie denn das Benzin für den Wagen?« Der Priester zögerte ein wenig. »Das war so etwas wie ein Geheimnis. Oh, ich werde es Ihnen erzählen. Draußen im Hafen liegt ein Tanker. Die Leute aus der Stadt sind zu schnell geflohen und haben nicht mehr daran gedacht. In Galveston gibt es weniger Autos als Treibstoff. Im Norden findet man überall abgestellte und leergefahrene Autos. Galveston hatte aber keinen Durchgangsverkehr, und deshalb blieb hier auch kein Auto leer stehen. Die paar, die wir haben, sind die, die in den Werkstätten standen. Mit denen stimmt etwas nicht, und wir haben keinen Mechaniker, der sie reparieren könnte.« Paul sagte lieber nichts davon, daß er für diesen Job recht geeignet wäre. Der Priester könnte sonst auf Ideen kommen... Er verfiel in düsteres Schweigen, als die Ambulanz in die Straße einbog und zur anderen Inselseite fuhr. Vor ihm stand wie ein schwarzer Schatten der Kopf des Priesters, der sich vom hellen Scheinwerferlicht abhob. Die Seuche schien ihn unbesorgt zu lassen. Mendelhaus war ein schlanker Mann mit kurzgeschnittenen blonden Haaren und ziemlich buschigen Augenbrauen. Er hatte ein mageres, aristokratisches Gesicht, das jetzt natürlich die grauen Seuchenflecken aufwies, aber es war gütig und freundlich. Es hätte das Gesicht eines Asketen sein können, wären nicht die flinken, blauen Augen gewesen, die voll Interesse alles in sich aufnahmen und nichts von mystischer Betrachtung an sich hatten. Williamson war dagegen ein ziemlich unauffälliger
Mann, der trotz seiner schwarzen Kutte eher nach handgesponnenem Tweed aussah. »Was denken Sie über unseren Plan hier?« fragte Vater Mendelhaus. »Welchen Plan?« brummte Paul. »Oh, hat es Ihnen der Junge nicht gesagt? Wir versuchen die Insel zu einer Zuflucht für Hyper zu machen, die bereit sind, ihre Gier zu sublimieren und ihre ganze Aufmerksamkeit dem Wiederaufbau zuzuwenden. Wir versuchen außerdem eine objektive Studie über diese neutrale Krankheit zu erstellen. Bei uns sind einige recht gute Wissenschaftler, Dr. Relmone von Fordham, Vater Seyes von Notre Dame, zwei Biologen vom Boston College...« »Dermies versuchen also die Seuche zu kurieren?« fragte Paul atemlos. Mendelhaus lachte fröhlich. »Mein Sohn, ich habe nicht gesagt, daß wir sie kurieren wollen. Ich sagte, wir studieren sie.« »Und warum?« »Um zu lernen, mit der Seuche zu leben, das ist doch selbstverständlich. Unsere Philosophen haben doch immer darauf hingewiesen, daß viele Dinge nur deshalb von Übel sind, weil die Menschen sie falsch anwenden. Morphium ist, um nur ein Beispiel zu nennen, ein Produkt des Schöpfers. Deshalb ist es gut, wenn es richtig eingesetzt wird, um Schmerzen zu lindern. Mißbraucht es dagegen ein Süchtiger, dann wird es zum Ungeheuer. Das halten wir uns ständig vor Augen, wenn wir diese Neurodermatose studieren.« Paul schniefte verächtlich. »Die Lepra ist also auch nur deshalb ein Übel, weil der Mensch die Bakterien
falsch behandelt hat?« Der Priester lachte. »Da haben Sie mich nun erwischt. Ich bin kein Philosoph, wissen Sie. Aber diese Neurodermatose können Sie ja auch nicht mit Lepra vergleichen.« Paul schüttelte sich. »Zum Teufel, nein! Sie ist viel schlimmer als Lepra.« »Ah? Und warum soll sie dann also schlimmer sein. Zählen Sie mir doch mal die Symptome auf.« Paul zögerte, stellte sie in Gedanken zusammen: Verfärbung der Haut, leichtes Fieber, Halluzinationen und die wahnsinnige Gier, andere damit anzustekken. Ihm erschienen sie schlimm genug, und deshalb zählte er sie auf. »Natürlich stirbt man daran nicht«, gab er zu. »Aber was ist schlimmer – Wahnsinn oder der Tod?« Der Priester wandte ihm sein lächelndes Gesicht zu, das Paul durch das Schiebefenster sah. »Würden Sie mich als Wahnsinnigen bezeichnen? Es ist sicher wahr, daß Opfer dieser Seuche manchmal auch wahnsinnig geworden sind, aber eine direkte Folge dieser Neurodermatose ist das nicht. Sagen Sie mir doch, wie Sie sich fühlen würden, wenn jeder kreischte und davonliefe, wenn er Sie kommen sähe? Oder Sie wie einen Amokläufer jagte? Wie lange würde da Ihre Vernunft vorhalten?« Darauf sagte Paul nichts. Vielleicht war der Kirchenbann im Grund auch nichts anderes gewesen. »Sie würden es vermutlich nicht ertragen, wenn Sie geistig und seelisch nicht außerordentlich stabil konstruiert wären.« »Aber die Gier... und die Halluzinationen...« »Das stimmt«, murmelte der Priester nachdenklich.
»Die Halluzinationen. Aber sagen Sie doch, wenn die ganze Welt blind wäre bis auf einen Mann, würde da die Welt nicht auch dazu neigen, das Halluzination zu nennen, was dieser Mann sieht? Und der Mann mit den Augen könnte schließlich sogar dieser Welt beipflichten.« Wieder schwieg Paul. Mit Mendelhaus war schwer streiten, der doch vermutlich unter seltsamen Illusionen litt und sie für echt hielt. »Und die Gier«, fuhr der Priester fort. »Es ist richtig, daß diese Gier ein recht unerfreuliches Symptom werden kann. Sie ist eben die Art dieser Krankheit, sich selbst zu erhalten und zu verbreiten. Wir wissen nicht genau, wie sie wirkt, aber sie scheint erotische Empfindungen in den Händen auszulösen. Vielleicht durch irgendeinen im Gehirn ablaufenden Prozeß. Wir wissen nicht, ob und wie dieser Mikroorganismus zum Gehirn gelangt, und wir wissen auch noch nicht, wie er dort wirkt.« »Welche Tatsachen haben Sie bisher entdeckt?« erkundigte sich Paul vorsichtig. Mendelhaus lachte breit. »Tz, tz, das werde ich Ihnen aber nicht erzählen, weil ich nicht als ›verrückter Dermie‹ bezeichnet werden will. Wissen Sie, Sie würden mir nämlich nicht glauben.« Paul warf einen Blick hinaus und sah, daß sie sich allmählich der Fischerhütte näherten. Er deutete auf das vom Lampenlicht erhellte Fenster, und die Ambulanz bog in einen Seitenweg ein. Bald hatten sie hinter dem Schuppen geparkt. Der Priester kletterte heraus und trug die Bahre dem Licht entgegen, während Paul sich in sicherer Entfernung ins Gras setzte, um zuzuschauen. Wenn Willie sicher im Fahrzeug
untergebracht war, wollte er zur Brücke zurückkehren, hinüberschwimmen und aufs Festland gehen. Bald kam Mendelhaus heraus und ging sehr sicher geradewegs auf ihn zu, obwohl Paul ruhig im tiefsten Schatten saß und unsichtbar zu sein glaubte. Schnell stand er auf, als sich der Priester näherte. Angst schnürte ihm die Kehle zusammen. »Ist sie... Ist Willie...« »Sie ist... unvernünftig«, murmelte Mendelhaus traurig. »Fast... weniger als normal. Einiges davon mag dem hohen Fieber zuzuschreiben sein, aber...« »Ja?« »Sie unternahm einen Selbstmordversuch. Mit einem Messer. Sie sagte etwas von einer Schrotladung, welche die beste Möglichkeit sei, oder so ähnlich.« »Jesus, Jesus!« stöhnte Paul und sank erschöpft ins Gras zurück. Er schlug die Hände vors Gesicht. »Gelobt sei Sein Heiliger Name«, murmelte der Priester und entkräftete so dessen Mißbrauch. »Sie hat sich nicht schwer verletzt. Die Handgelenke ein wenig eingeritzt. Sie war viel zu schwach, es ordentlich zu machen. Vater Will gibt ihr jetzt eine Beruhigungs- und eine Tetanusspritze und ein paar Sulfonamide. Penicillin haben wir nämlich nicht mehr.« Er hörte zu sprechen auf und beobachtete Paul und sein seltsames Benehmen. »Sie lieben das Mädchen, nicht wahr?« Paul versteifte sich. »Sind Sie verrückt? Einen kleinen Dermie-Tramp lieben? Oh, Herr Jesus!« »Gelobt sei...« »Hören Sie. Wird sie wieder gesund werden? Ich gehe nämlich von hier weg.« Ein wenig unsicher kam er auf die Beine.
»Ich weiß nicht, mein Sohn. Infektionen sind eine ernsthafte Gefahr, auch der Schock ist eine. Hätten wir sie eher erreichen können, wäre es wesentlich besser gewesen für sie. Und es würde auch einiges nützen, wenn sie im Endstadium der Neurodermatose wäre.« »Warum?« »Oh, aus verschiedenen Gründen, Sie werden es eines Tages schon begreifen. Aber hören Sie, Sie sehen ganz erschöpft aus. Warum fahren Sie nicht mit uns zum Krankenhaus zurück? Der dritte Stock steht ganz leer. Dort oben besteht nicht die geringste Infektionsgefahr, und wir haben immer einen sterilen Raum bereit, falls wir doch einmal einen Nicht-Hyper aufzunehmen haben. Sie können die Tür von innen versperren, wenn Sie wollen, aber nötig wird es nicht sein. Die Nonnen sind im Stockwerk darunter. Unser männliches Personal wohnt im Kellergeschoß. Landstreicher und so gibt es im ganzen Haus nicht. Man wird Sie nicht belästigen.« »Nein, ich muß gehen«, knurrte er, doch dann wurde seine Stimme freundlicher. »Aber ich danke Ihnen für das Angebot, Vater.« »Wie Sie wollen. Es tut mir jedoch leid. Sie könnten sich irgendwie ein Transportmittel beschaffen, wenn Sie warten würden.« »Wissen Sie, ich muß Ihnen leider sagen, daß mich Ihre Insel recht nervös macht.« »Warum denn?« Paul sah die grauen Hände des Priesters an. »Nun... Sie spüren doch noch immer diese Gier, oder?« Mendelhaus berührte seine Nase. »Wattepfropfen
mit ein bißchen Kampfer. Ich kann Sie nicht riechen.« Er zögerte. »Nein, ich will Sie nicht anlügen. Bis zu einem gewissen Grad ist der Drang, Sie zu berühren, noch da.« »Und in einem Augenblick der Schwäche könnte jemand...« Der Priester straffte seine Schultern. Seine Augen wurden eisig. »Junger Mann, ich habe gewisse Gelöbnisse abgelegt. Manchmal, wenn ich eine schöne Frau sehe, verspüre ich Wünsche. Wenn ich einen Mann an einem Fasttag ein Steak essen sehe, verspüre ich Hunger und Neid. Wenn ich sehe, daß ein Arzt große Gebühren kassiert, dann stöhne ich unter dem Joch der Armut. Leugnet man jedoch die Forderungen dieser Wünsche, dann machen sie sich auf andere Weise nützlich. Das nennt man Sublimierung. Ein Priester kann das und dabei mehr nützliche Arbeit leisten. Ich bin Priester.« Er nickte kurz, wandte sich um und ging weg. Auf halbem Weg zur Hütte blieb er stehen. »Sie ruft nach einem, der Paul heißt. Wissen Sie, wer das sein könnte? Jemand aus ihrer Familie vielleicht?« Paul brachte kein Wort heraus. Der Priester zuckte die Achseln und setzte seinen Weg zur hellen Tür fort. »Vater! Warten Sie...« »Ja?« »Ich... bin ein bißchen müde. Das Zimmer... Ich meine, werden Sie mir sagen, wo ich morgen irgendein Transportmittel bekommen kann?« »Sicher.« Kurz vor Mitternacht erreichten sie das Krankenhaus.
Paul lag zum erstenmal seit Wochen wieder auf einer bequemen Matratze, aber er starrte schlaflos in das Mondlicht auf dem Fensterbrett. Irgendwo weiter unten lag Willie bewußtlos auf einem Operationstisch, während sich der Arzt bemühte, die zerfetzte Sehne zu flicken. Paul war mit ihnen in der Ambulanz zurückgefahren und hatte sich einen Platz gesucht, der soweit wie möglich von der Trage, auf der sie lag, entfernt war. Manchmal mußte er ihren um sich schlagenden Armen ausweichen, aber er hörte immer ihre Seufzer, die sie im Delirium ausstieß. Eine verspätete Hypochondrie jagte ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Welch ein Narr er doch gewesen war! Er hatte das Seil und das Boot berührt, den Schubkarren, war in der Ambulanz mitgefahren. Tausendmal hatte es da Gelegenheiten gegeben, einen herumfliegenden Mikroorganismus aufzufangen, der von der Hand eines Dermies stammte. Und jetzt lag er hier in diesem Krankheitsnest... Aber seltsam – es war der friedlichste, gesündeste Ort, den er seit Monaten gesehen hatte. Die religiösen Regeln akzeptierten ganz einfach die Seuche, wenn auch vielleicht mit masochistischer Selbstzufriedenheit, jedoch in aller Ruhe. Als Kreuz vielleicht, oder als Buße oder dergleichen. Aber nein, dazu waren sie viel zu fröhlich. Ihnen erschien daran gar nichts sonderbar. Alle Dermies waren großäugig vor Glück über den ›reizenden Wunsch‹, den sie verspürten. Nur die Priester hatten nicht diese glänzenden Augen. Und sie schienen auch nicht einem normalen, von der Gesellschaft sanktionierten sexuellen Bedürfnis zu unterliegen. Sublimation?
»Frieden«, murmelte er und schlief ein. In der Dämmerung weckte ihn ein Klopfen an der Tür. Er brummte mißmutig und setzte sich im Bett auf. Er hatte die Tür abzuschließen vergessen, und jetzt öffnete sie sich. Eine stämmige Nonne kam mit einem Frühstückstablett herein. Sie sah sein Gesicht und blieb stehen. Sie schloß die Augen, rümpfte die Nase und bewegte die Lippen in einem lautlosen Gebet. Dann zog sie sich langsam zurück. »Entschuldigen Sie, Sir!« stotterte sie durch die Tür. »Ich... wußte zwar, daß da ein Patient ist, aber ich wußte ja nicht... Sie sind kein Hyper. Verzeihen Sie.« Er hörte, wie sie den Korridor entlang lief. Irgendwie fühlte er sich allmählich sicher. Aber war das nicht genau das, was sie beabsichtigten? Plötzlich wurde ihm klar, daß er in der Falle saß. Die Flinte hatte er im Unfallraum gelassen. Was war er – Gast oder Gefangener? Die Monate der Flucht vor dem grauen Terror hatten ihn mißtrauisch gemacht. Aber das würde er bald erfahren. Er stand auf und zog sich an. Ehe er fertig war, kam Mendelhaus. Er trat nicht ein, sondern blieb im Gang an der Tür stehen. Er lächelte einen Gruß. »So, Sie sind also Paul?« fragte er. Er spürte, wie er rot wurde. »Dann ist sie also wach?« fragte er brummig. Der Priester nickte. »Wollen Sie sie sehen?« »Nein, ich muß gehen.« »Es würde ihr recht guttun.« Er hüstelte ärgerlich. Warum mußte es dieser schwarzkuttige Dermie ausgerechnet so hindrehen? »Aber mir würde es nichts nützen«, knurrte er. »Ich hab schon zuviele graue Lederhäute um mich herum.«
Mendelhaus zuckte die Achseln, aber seine Augen ließen eine Spur Verachtung erraten. »Wie Sie meinen. Sie können über die Außentreppe gehen, damit Sie die Schwestern nicht stören.« »Sie meinen, um nicht berührt zu werden.« »Niemand wird Sie berühren.« Schweigend zog sich Paul fertig an. Es störte ihn, daß sich die Standpunkte glatt umgekehrt hatten. Er mochte die ›Toleranz‹ nicht, die man ihm erwies. Es kam ihm etwa so vor, als sei er ein Anstaltsinsasse vor einem ›toleranten‹ Psychiater. »Ich bin fertig«, knurrte er. Mendelhaus führte ihn den Korridor entlang und hinauf auf einen sonnenhellen Balkon. Sie stiegen eine Steintreppe hinunter, und der Priester sprach mit ihm über die Schulter. »Sie ist noch nicht ganz klar und vernünftig, und Fieber hat sie auch. Vor zwei Jahren hätten wir uns darüber gar keine Sorgen zu machen brauchen, aber jetzt sind uns die meisten der neuen und wirksamen Drogen ausgegangen. Wenn die Sulfonamide die Infektion nicht eindämmen können, müssen wir selbstverständlich amputieren. Das müßten wir eigentlich in zwei oder drei Tagen wissen.« Der Priester blieb stehen und schaute zu Paul zurück, der auf der Treppe stehengeblieben war. »Kommen Sie?« »Wo ist sie?« fragte Paul matt. »Ich möchte sie sehen.« Der Priester runzelte die Brauen. »Das müssen Sie nicht, mein Sohn. Es tut mir leid, wenn ich Ihnen irgendeine Verpflichtung aufgezwungen habe. Sie haben wirklich schon genug getan. Ich denke, Sie haben
ihr das Leben gerettet. Sehr wenige Nicht-Hyper würden so etwas tun. Ich...« »Wo ist sie?« unterbrach er ihn zornig. Der Priester nickte. »Unten. Kommen Sie mit.« Im Erdgeschoß betraten sie das Gebäude wieder. Der Priester legte die Hände um den Mund und rief laut: »Ein Nicht-Hyper kommt! Verstopft die Nasen oder verschwindet! Geht allen Versuchungen aus dem Weg!« Willie sah ihn eintreten und versteckte ihre grauen Hände unter der Bettdecke. Sie lächelte schwach, versuchte sich aufzusetzen, fiel jedoch wieder zurück. Williamson und eine Nonne, die beide neben dem Bett gestanden hatten, drehten sich um und gingen zur Tür. Mendelhaus folgte ihnen und schloß die Tür hinter sich. Es gab eine lange, peinliche Pause. Willie versuchte zu lachen. Er scharrte unbehaglich mit den Füßen. »Sie haben mir einen Gipsverband gemacht«, erwähnte sie im Ton unverbindlicher Unterhaltung. »Du wirst wieder gesund werden«, versicherte er ihr hastig. »Es dauert bestimmt nicht lange, dann bist du wieder auf. Galveston ist gut für dich. Alle sind hier Dermies.« Sie kniff die Augen zusammen. »Gott! Gott! Ich hatte gehofft, dieses Wort nie wieder zu hören. Nach der letzten Nacht... Diese alte Frau im Schaukelstuhl... Und ich war dort ganz allein mit ihr, und der Wind hat den Schaukelstuhl in Bewegung gesetzt. Oooh!« Sie schaute ihn mit fast glasig glänzenden Augen an. »Ich würde lieber sterben als jetzt einen anderen berühren... Nachdem ich das gesehen habe... Jemand hat sie berührt, nicht wahr, Paul? Und deshalb hat sie
es doch getan, nicht wahr?« Er wand sich vor Verlegenheit und ging langsam zur Tür zurück. »Willie... Es tut mir leid, was ich da gesagt habe. Ich meine...« »Mach dir keine Gedanken, Paul. Ich rühre dich jetzt bestimmt nicht an.« Sie ballte ihre kleinen Hände zu Fäusten und hob sie an ihr Gesicht, um sie haßerfüllt anzustarren. »Ich verfluche mich selbst!« zischte sie. Was hatte Mendelhaus von den Dermies gesagt, die deshalb wahnsinnig wurden, weil sie Ausgestoßene waren, und nicht deshalb, weil die Seuche sie befallen hatte? Aber hier würde sie niemals eine Ausgestoßene sein. Nur unter Nicht-Hypern, unter solchen, wie er einer war... »Werd schnell wieder gesund, Willie«, murmelte er und schlüpfte eiligst in den Korridor hinaus. Zweimal rief sie noch seinen Namen. Dann schwieg sie. »Das ging aber schnell«, stellte Mendelhaus fest und musterte sein blasses Gesicht. »Wo kann ich einen Wagen auftreiben?« Der Priester rieb sich das Kinn. »Ich habe eben mit Bruder Matthew darüber gesprochen. Hm. Wie würde es Ihnen gefallen, wenn Sie statt eines Wagens eine kleine Yacht hätten?« Paul hielt den Atem an. Eine Yacht, das hieße, daß man auf See hinaus könnte, um eine Insel zu finden. Eine Yacht war die vollkommene Lösung des Problems überhaupt. Er stotterte einen Dank. »Gut«, sagte Mendelhaus. »Unten am Hafenbecken ist im Trockendock ein kleines Schiffchen. Es blieb wahrscheinlich dort, weil es keine Mannschaften mehr gab, die es ins Wasser gebracht hätten. Ich
fragte also Bruder Matthew um ein paar Männer, die es ins Wasser bringen sollen.« »Dermies?« »Natürlich. Das Boot wird zwar ausgeräuchert, doch nötig wäre es nicht. Innerhalb weniger Stunden ist die Infektionsgefahr vorbei. Natürlich dauert es noch ein wenig, bis das Boot fertig ist. Morgen, vielleicht auch erst übermorgen. Der Boden ist ein wenig undicht. Man muß ihn ausflicken.« Pauls Lächeln verblaßte. Schon wieder eine Verzögerung. Zwei Tage mehr in den grauen Schatten. Konnte er dem Priester wirklich vertrauen? Warum wollte er das Boot zur Verfügung stellen? Er hatte das Gefühl, das hier war eine Falle, deren Kiefer sich langsam und unwiderstehlich schlossen. Mendelhaus fühlte seine Zweifel. »Wenn Sie lieber jetzt sofort gehen, steht Ihnen das natürlich frei. Soviel Mühe, wie es scheint, machen wir uns nämlich gar nicht. Es gibt noch mehr Yachten im Dock. Bruder Matthew macht sich schon daran, ein paar für unseren eigenen Gebrauch herzurichten. Eine davon können wir Ihnen ja abgeben. Sie wurden von den Besitzern aufgegeben. Und... Nun ja. Sie haben dem Mädchen sehr viel geholfen, wo jeder sonst es im Stich gelassen hätte. Betrachten Sie das Boot also als Dank für die Gefälligkeit, die Sie uns erwiesen haben, ja?« Eine Yacht. Die offene See. Eine unbewohnte, subtropische Insel. Vielleicht eine Insel am Rand der Karibischen See. Und natürlich eine Frau. Viele würden zu einer solchen Flucht bereit sein. Er brauchte also nur unter ihnen zu wählen. Er warf Willies Tür einen seltsamen Blick zu. Zu schlimm, das mit Willie. Aber
sie würde schon zurecht kommen. Die Yacht... Wenn er nur bestimmt wüßte, was Mendelhaus im Schilde führte... Der Priester runzelte die Brauen, weil Paul solange zögerte. »Nun?« »Ich will nicht, daß Sie sich Mühe machen...« »Unsinn! Sie haben nur noch immer Angst vor uns. Nun, kommen Sie mit. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.« Mendelhaus ging den Korridor entlang. Paul überlegte es sich noch. »Wer... Was...« »Kommen Sie!« mahnte der Priester ungeduldig. Widerstrebend folgte Paul dem Priester zur Treppe. Sie stiegen in einen düsteren Keller hinunter und betraten durch eine Doppeltür ein Laboratorium, in dem es nach allerlei Chemikalien roch. Es gab elektrisches Licht, und das verwunderte ihn. Dann hörte er einen Benzinmotor laufen und wußte, daß den Strom ein Generator lieferte. »Germizidlampen«, murmelte der Priester, und sein Blick folgte dem Pauls zur Decke. »Einige von ihnen. Machen sie sich keine Gedanken darüber, daß Sie etwas berühren könnten. Hier ist alles steril.« »Aber es ist nicht so steril, wie Sie's wollen«, knurrte eine unsichtbare Stimme. »Und wenn Sie nicht draußen bleiben, dann ist es schon gar nicht mehr steril. Verschwinden Sie, Pastörchen.« Paul schaute sich nach dem Besitzer dieser Stimme um und sah einen kurznackigen Mann der seinen struppigen grauen Kopf über ein Mikroskop beugte. Er war am anderen Ende des Labors, und er hatte gesprochen, ohne die Besucher anzusehen. »Das ist Dr. Seevers von Princeton, mein Sohn«, erklärte der Priester, der sich von der spöttischen Rede
des Wissenschaftlers nicht stören ließ. »Er behauptet, Atheist zu sein, aber ich persönlich halte ihn eher für einen Puritaner. Doktor, das ist der junge Mann, von dem ich Ihnen erzählt habe. Wollen Sie ihm sagen, was Sie über diese Neurodermatose wissen?« Seevers notierte etwas auf einem Notizblock, behielt die Augen aber dabei immer am Instrument. »Warum geben wir ihm das Ding nicht einfach, damit er's selbst sieht?« brummte der Wissenschaftler sadistisch. »Jagen Sie ihm doch keine Angst ein, Sie Häretiker! Ich brachte ihn hierher, damit er Erleuchtung finde.« »Erleuchten Sie ihn doch selbst. Ich habe zu tun. Und geben Sie mir nicht ständig allerhand Schimpfnamen. Ich bin kein Atheist, sondern Biochemiker.« »Gestern waren Sie noch Biophysiker. Aber jetzt unterhalten Sie den jungen Mann hier ein wenig.« Mendelhaus blockierte die Tür mit seinem Körper. Paul biß ärgerlich die Zähne zusammen und wandte sich zum Gehen. »Prediger, das ist alles, was ich tun kann. Ihn unterhalten. Ich weiß nichts. Absolut nichts. Ich habe ein paar Beobachtungsdaten. Ich habe einige Wechselbeziehungen festgestellt. Ich habe einiges gesehen, was geschah. Ich habe in den Geschehnissen ein gewisses Muster festgestellt, eine bestimmte Regelmäßigkeit, und ich habe vielleicht auch einige Generalnenner aufgespürt. Aber das ist auch alles! Ich weiß absolut nichts, und das gebe ich offen zu. Warum gebt ihr Prediger das nicht ebenso offen auf euren Kanzeln zu?« »Seevers ist, wie Sie sehen, außergewöhnlich stolz auf seine wissenschaftliche Demut – wenn sie nicht
nur paradox ist«, wandte sich Mendelhaus an Paul. »Nun, Doktor, dieser junge Mann...« Seevers seufzte resigniert. Seine Stimme wurde süß-sauer. »Na, schön, junger Mann. Dann setzen Sie sich. Ich unterhalte Sie, sobald ich damit fertig bin, diese freien Nervenenden in dem Stückchen Haut zu zählen.« Mendelhaus winkte seinem Gast zu. »Seevers nennt uns Masochisten, wenn wir einen Fasttag halten oder Buße tun. Und er sitzt da, reißt sich selbst Hautstückchen ab und beschaut sie durch seine Linsen. Masochismus – hehe!« »Hinaus mit Ihnen, Sie Seelenfledderer!« bellte der Wissenschaftler. Mendelhaus lachte höhnisch, nickte Paul zu und deutete auf einen Stuhl, und dann ging er. Paul saß unbehaglich da und beobachtete den Rücken von der Jacke des Wissenschaftlers. »Nette Bande, diese schwarzberockten Engel in Menschengestalt«, murmelte Seevers. »Wenn sie nur damit aufhören würden, mich bekehren zu wollen.« »Dr. Seevers, vielleicht wäre es besser, ich würde...« »Mund halten! Sie stören mich nur. Und bleiben Sie endlich ruhig sitzen. Wie soll ich denn arbeiten können, wenn die Leute ständig hier herumrasen? Sie sind jetzt hier, also bleiben Sie da; und verhalten Sie sich ruhig.« Paul verhielt sich ruhig. Er wußte nicht recht, war Dr. Seevers nun ein Dermie oder nicht. Die Laborjakke des kleinen Mannes bauschte sich am Hals, und die Ärmel bedeckten seine Arme. Die Hände steckten in Gummihandschuhen, und ein weißer Schnurkno-
ten am Hinterkopf sagte ihm, daß er eine Maske vor dem Gesicht hatte. Die Ohren sahen hellrosa aus, doch zu bedeuten hatten sie nichts. Es dauerte einige Monate, bis die grauen Verfärbungen die ganze Haut erfaßt hatten. Paul nahm jedoch an, daß er ein Dermie sein müsse und Gummihandschuhe und Maske nur deshalb trug, um sein Arbeitsgerät steril zu halten. Er sah sich in dem großen Raum um. An der Wand standen etliche Glaskäfige mit Ratten. Sie schienen luftdicht zu sein, mit Luftschläuchen zur Ventilation. Etwa die Hälfte der Ratten hatten die Seuche in verschiedenen Stadien. Ein paar hatten rasierte Fellstellen, wo die Krankheit frisch und absichtlich übertragen worden war. Paul gewann den Eindruck, daß ihn einige der Tiere unentwegt anstarrten. Er schüttelte sich und schaute weg. Beiläufig musterte er die Laborgeräte und entdeckte dann ein Paar Halbkugeln, die wie Trophäen an der Wand hingen. Er erkannte sie als Zwillingshälften eines Meteoriten mit den kleinen Geleetaschen in der Mitte. Darüber hing ein großer Bilderrahmen mit einigen maschinengeschriebenen Blättern. In einem anderen Rahmen steckten Fotos von vier bärtigen Wissenschaftlern aus einem anderen Jahrhundert, die offensichtlich aus einem Buch oder einer Zeitschrift herausgeschnitten waren. Es war also ein ganz gewöhnliches Labor, roch nach reinem Staub und sauren Dingen – ein kleiner respektabler Arbeitsraum. Seevers Stuhl wurde rumpelnd zurückgestoßen. »Aha, es stimmt. Vierzig Prozent Zuwachs.« Er warf den kurzen Bleistift weg und wirbelte herum. Paul sah ein rundes, dickliches Gesicht mit glitzernden
Augen. Ein dunkler Fleck reichte ihm vom Kinn über den Mund und eine Wange bis zur Stirn hinauf; er sah aus wie eine schwarz-weiße Bulldogge mit einer zweifarbigen Schnauze. »Es stimmt!« schrie er Paul an, und dann lachte er zufrieden. »Was stimmt?« fragte Paul. Der Wissenschaftler rollte einen Ärmel hinauf und zeigte auf einem von der Seuche verfärbten Arm einen Streifen Leukoplast. »Hier«, grunzte er. »Vor zwei Wochen war dieses Gebiet ganz normal. Ich nahm einen zentimeterbreiten Hautstreifen neben diesem Stück hier weg und zählte die Nervenendungen. Seitdem ist die Neurodermatose auch über dieses Stück vorgedrungen. Also nahm ich heute wieder einen Quadratzentimeter Haut weg und zählte wieder. Vierzig Prozent Zuwachs.« Paul runzelte die Brauen. Das konnte er nicht glauben. Es war ja allgemein bekannt, daß diese Neurodermatose einen Sensibilisierungseffekt hatte, aber neue Nervenenden... Nein, das konnte er nicht glauben. »Jetzt habe ich es zum drittenmal kontrolliert«, erklärte Seevers glücklich. »An einer Stelle waren es sogar fünfundsechzig Prozent! He! Gescheite winzige Wänzchen, was? Einfach richtige, somatische Rezeptoren erfinden!« Paul schluckte heftig. »Was haben Sie da gesagt?« stotterte er. Seevers musterte ihn ernsthaft. »So, Sie sind also kein Dermie? Ein Nicht-Hyper, was? Jawohl, das rieche ich. Ganz ordinär, tatsächlich. Ich kann mir gar nicht vorstellen, weshalb sensible Hyper Sie über-
haupt bepfoten wollen. Aber ich habe mich ja gegen solche Verrücktheiten gesichert.« Das sagte er so beiläufig, daß Paul erst ein paarmal blinzelte, ehe ihm die Wahrheit dessen, was der Mann gesagt hatte, voll aufging. »W-w-was h-hhaben Sie get-t-tan?« »Was ich gesagt habe. Als ich es erwischte, setzte ich mich erst einmal hin und suchte mit einem samtüberzogenen Stift jene Hautstellen an meiner Hand ab, die angenehme Empfindungen hervorriefen. Dann brannte ich sie mit einer Elektronadel aus. Es sind gar nicht so vieles nur ungefähr zwei Punkte pro Quadratzentimeter.« Er zog seine Gummihandschuhe aus und zeigte seine pockennarbigen Hände her. »Mit so törichten Wünschen wollte ich nicht belästigt werden. Zeitverlust ist das, diese Jagd nach Nicht-Hypern. Ich habe nie die Erfahrung gemacht, wie das ist, und deshalb fehlt mir nichts.« Er drehte seine Hände um und starrte sie an. »Es gibt ein paar recht sture Flecken darunter, wo immer wieder neue nachwachsen. Aber die brenne ich auch aus.« Paul sprang auf. »Wollen Sie mir sagen, daß diese Seuche neue Nervenzellen nachwachsen läßt?« Seevers schaute ihn kalt an. »Ah, natürlich. Sie sind doch gekommen, um erleuchtet zu werden, wie der Schwarzrock sagte. Wenn Sie ent-idiotisiert werden wollen, dann schreien Sie bitte nicht. Sonst schmeiße ich Sie nämlich hinaus.« Paul, der vor einem Augenblick nur allzu gern gegangen wäre, fügte sich nun sehr schnell. »Es tut mir leid«, schnappte er, doch dann wiederholte er in zivilisiertem Ton: »Entschuldigen Sie, bitte.« Seevers holte tief Atem, streckte seine kurzen, flei-
schigen Arme, gähnte grinste und ließ sich entspannt zusammenfallen. »Setzen Sie sich doch, mein Junge. Ich sage Ihnen, was Sie wissen wollen, wenn und falls Sie tatsächlich etwas wissen wollen. Wollen Sie?« »Ja, natürlich!« »Ist gar nicht wahr, sie wollen nur wissen, wie Sie – egal, wie Sie heißen – von den Ereignissen beeinflußt werden. Ihnen ist es völlig egal, ob Sie die Vorgänge um ihrer selbst willen verstehen oder nicht. Den meisten Leuten ist es egal. Deshalb sind wir ja auch in diesem Schlamassel. Der Padre will nun zwar verstehen, aber nicht die Sache an sich und der Sache wegen. Dem geht es nur um seine Schafherde, um Gott, und das ist, wie ich zugebe, eine wesentlich bessere Haltung als die seiner Herde, die nur an ihre eigene Sicherheit denkt. Aber wenn die Menschen nur versuchen würden, die Dinge um der Dinge willen zu verstehen, dann wären wir jetzt nicht in einer so scheußlichen Klemme.« Paul beobachtete die glänzenden Augen des Professors und lauschte ruhig dieser Vorlesung. »Und so möchte ich, bevor ich Sie erleuchte, eine unmögliche Forderung stellen.« »Ja, Sir?« »Ich erwarte von Ihnen, daß Sie absolut objektiv sind«, fuhr Seevers fort und rieb sich die Nase und die Augen. »Ich will, daß Sie alles vergessen, was Sie je von dieser oder irgendeiner Neurodermatose gehört haben, solange Sie mir zuhören. Streifen Sie alle Vorurteile, alle Voreingenommenheiten ab, besonders die der Angst. Nehmen Sie an, es seien rein hypothetische Ereignisse, von denen ich jetzt spreche.« Er nahm die Hände von den Augen und lachte verlegen.
»Wissen Sie, es ist mir immer ein bißchen unangenehm, um eine solche Zusammenarbeit zu bitten, wenn ich doch verdammt genau weiß, daß ich sie nie erreichen werde.« »Ich werde versuchen, objektiv zu sein, Sir.« »Baaah!« Seevers rutschte tiefer in seinen Sessel und legte seinen Nacken auf die Lehne. Er blinzelte einen Augenblick nachdenklich zur Decke hinauf, faltete die Hände über seinem kleinen Bauch und schloß die Augen. Dann sprach er mehr zu sich selbst: »Gehen Sie von einem Planeten aus, etwa erdähnlich, doch nicht ganz. Er hat eine auf Kohlenstoff beruhende Lebensform, die aber nicht menschlich ist. Warmblütig vielleicht, und möglicherweise halb-intelligent. Und der Planet hat noch etwas – eine unerschöpfliche Fülle von Parasitenformen. Die verschiedenen Parasitentypen sind tatsächlich sogar die herrschende Spezies. Die warmblütigen Tiere sind die Gemüse der Parasiten, sozusagen wenigstens. Und nun entwickeln nach zwei Milliarden Jahren von Überlebenskämpfen zwischen den einzelnen Parasitenarten einige von ihnen merkwürdige Adaptionsmethoden. Methoden, die die Nahrungszufuhr sichern – Tiere, die vielleicht am Aussterben sind. Sagen Sie mir, junger Mann, welche wichtige Tätigkeit hat der Mensch erfunden, um seinen Gemüseanbau zu sichern?« »Den Ackerbau?« »Richtig. Der Mensch ist ein Parasit, soweit es um Gemüse geht. Aber er hat gelernt, seinen Kuchen zu essen und ihn trotzdem zu behalten. Er hat gelernt, das zu erhalten und fortzupflanzen, was er verzehrt.
Eine recht bemerkenswerte Idee, wenn man sich einmal die Zeit nimmt, darüber nachzudenken. Sogar sehr.« »Ich verstehe nicht...« »Scht! Nehmen wir jetzt einmal an, daß eine Spezies von Mikroparasiten auf unserem hypothetischen Planeten im Laufe eines langen Entwicklungsprozesses gelernt hat, das Nachwachsen tierischen Gewebes, das sie verzehrten, anzuregen. Vielleicht, so meine ich, durch den Ausstoß genau kontrollierter Mengen von Wachstumshormonen. Doch ein richtiger Fortschritt, was?« Nun lehnte sich Paul gespannt vor. »Aber das ist nur der erste Schritt. Es läßt den Wirt länger leben, wenn auch nicht allzu vergnüglich, wie ich mir vorstelle. Die Wachstumskontrolle wird wohl anfangs recht unbeholfen und täppisch sein. Aber bald haben entweder die Parasitenspezies dazugelernt, oder sie sind ausgestorben. Und dann kommt der Wettbewerb um die beste Kontrollart. Die Parasiten, die ihre Wirte in bestem physischen Zustand erhalten, tun natürlich einen besseren Überlebensjob, denn der Parasiten-Aszendent hat die Nahrungszufuhr eingeschränkt, anders als der Mensch, der seine eigenen Hilfsquellen verschwendet. Und, da die Tiere untereinander um einen Platz an der Sonne kämpfen, wurde es der Vorteil der Parasiten, wenn sie zum Überleben ihrer Wirtsspezies beitrugen – durch Wachstumskontrolle.« Seevers winkte düster. »Und jetzt beginnt der Abstieg der Parasiten, ihre Dekadenz. Sie konzentrierten ihre gesamten Anstrengungen auf – äh – einen wissenschaftlichen Farmbe-
trieb, könnte man sagen. Sie begannen verschiedene Sorten Verteidigungs- und Angriffswaffen für ihre Wirte zu entwickeln, merkwürdige Biogeräte vielleicht. Hörner, Schwerter, Fänge, Stacheln, Giftdüsen – aber das können wir nur vermuten. Und später machte eine Gruppe von Parasiten einen Treffer. Inwiefern?« Paul rutschte allmählich unbehaglich herum und vermochte nur zu stammeln. Wohin steuerte Seevers mit all dem? »Nun, so sagen Sie's doch!« verlangte der Wissenschaftler. »Das Nervensystem?« »Richtig. Das brauchen Sie gar nicht zu flüstern. Sagen Sie's ruhig laut. Das Nervensystem. Zuerst war es vielleicht ein erfolgloser Parasit, denn Nervengewebe wächst nur langsam. Und die Evolution geht über lange Zeiträume, wenn es sich um eine Mikrospezies handelt, die das Nervenwachstum anregt, bis dahin, wo dieser Parasit dieses Wachstum zum Vorteil des Wirtes dirigieren und nützen kann – und natürlich auch zum eigenen. Aber schließlich und nach einem langen Kampf erreicht unsere Spezies ihr Ziel. Sie beginnt die Sinne des Wirtes zu schärfen, komplette Sinne aus Aggregaten im Stil alter Rezeptoren zu entwickeln und die Intelligenz des Wirtes – natürlich in gewissen Grenzen – zu erhöhen.« Seevers grinste boshaft. »Und dann kommt eine planetare Erschütterung von ziemlichen Ausmaßen. Solche Parasiten würden natürlich den Wirt mit der höchsten Intelligenz aussuchen. Mit einem Extraschuß Kraft schlägt dieses Gehirntier schnell die eigenen Feinde zurück und natürlich damit auch die
Feinde seiner Mikrowohltäter. Es schiebt sich selbst in die gleiche Position, die der Mensch auf der Erde einnimmt – Herr über die Tiere, göttliche Rechte, den Planeten zu beherrschen und so. Und jetzt, verstehen Sie, wird das Tier intelligent, nicht der Parasit. Die Parasiten operieren nach einem umfassenden Instinktmuster, ungefähr so wie ein Bienenstock. Sie sind wundervolle neurologische Ingenieure, so wie auch Bienen gute Ingenieure sind; blinder Instinkt, angehäuft und entwickelt durch die Evolution.« Er zündete sich eine Zigarette an. »Wenn Sie sich nicht wohl fühlen, junger Mann, dann finden Sie Trinkwasser in dieser Flasche. Sie sehen gar nicht wohl aus.« »Mir geht es ganz gut.« »Schön. Dann fahren wir fort. Das intelligente Tier wurde also der Herr des Planeten. Was seine Existenz bedrohte, wurde ausgeschaltet – außer es war eine Bedrohung für sich selbst, und das sind wir ja auch. Aber jetzt hatten die Parasiten ein sicheres Heim gefunden. Keine neuen Drohungen erzwingen eine Readaption. Sie lehnen sich zurück, seufzen ein wenig und beginnen zu stagnieren, werden so unveränderlich wie eine Hufeisenkrabbe oder Amöbe oder sonst irgendein uraltes irdisches Lebewesen. Sie arbeiteten unverdrossen in ihrem neurologischen Bienenstock, und nun wurden sie vom Tier kultiviert, das seine Wohltäter erkannte. Die Wänzchen wußten das aber nicht, weil sie nicht mehr die dominierende Spezies waren. Ihr Überleben hatten sie dadurch gesichert, daß sie sich an ihren tierischen Wirt anlehnten, der nun in seiner göttlichen Wohltäterlaune – und Selbstsucht – für sie sorgte. Die Parasiten hatten einen
biologischen Himmel erreicht. Sie arbeiteten wohl weiter, doch sie hörten zu kämpfen auf. Der Wirt war ihr Wohlfahrtsstaat. So könnte man sagen. Ende des Zitats. Und Ende der Geschehensfolge.« Er blies eine lange Rauchwolke von sich und beugte sich vor, um Paul intensiver beobachten zu können. Paul wurde sich indessen darüber klar, daß er nur noch auf der Stuhlkante hockte und offenen Mundes zugehört hatte. Er bemühte sich um eine entspannende Haltung. »Unbewiesene Vermutungen«, antwortete er keuchend, jedoch ziemlich unsicher. »Einiges davon ist Vermutung«, gab Seevers unumwunden zu. »Aber nichts davon ist unbewiesen. Es gibt Beweise, die diese Vermutungen mehr als stützen. Es ist etwa die Form einer Botschaft.« »Wieso Botschaft?« »Sicher. Kommen Sie, ich werde es Ihnen zeigen.« Seevers stand auf und ging zur Wand. Vor den beiden Halbkugeln blieb er stehen. »Vielleicht ist es doch besser, Sie schauen sich die Sache selbst an. Nehmen Sie diesen aufgeschnittenen Meteoriten herunter, ja? Er ist steril.« Paul ging hinüber, kletterte ein wenig unsicher auf eine Bank und nahm die beiden Halbkugeln von der Wand. Zum erstenmal sah er eines dieser Dinger nun aus der Nähe, und er musterte es gründlich. Es war eine fast perfekte Kugel, hatte etwa eine Spanne Durchmesser, und in der Mitte eine Höhlung von etwa einer Handbreite. Die Kugel bestand aus konzentrischen Schichten, die absolut präzise aufeinanderlagen, und jede dieser Schichten schien aus einem anderen Metall zu bestehen. Die äußerste Schicht mußte
aus sehr widerstandsfähigem Stahl bestehen, doch das Ganze war kaum schwerer als Aluminium. »Legen Sie beide Hälften mit dem Gesicht nach unten auf den Tisch«, sagte Seevers. »Mit einer winzigen, schnellen Drehung kriegen Sie die Schichten auseinander. Nehmen Sie dann die innerste Schale heraus, die harte, dünne zwischen den weicheren Schutzschalen.« »Woher kennen Sie deren Zweck?« brummte Paul, als er diesen Weisungen folgte. Die verschiedenen Schalen fielen sehr leicht auseinander. »Umschläge dienen dazu, Botschaften zu schützen«, knurrte Seevers. Paul legte die verschiedenen Schichten auseinander und fand zwei hochpolierte aus papierdünnem, sehr zähem Metall. Weder innen noch außen trugen sie irgendwelche Inschriften. Paul sah Seevers verwirrt an. »Sie müssen sehr vorsichtig damit umgehen, solange sie nicht in den Schutzhüllen sind. Sie sind schon ein bißchen trüb geworden...« »Ich sehe aber keine Botschaft.« »In der Schublade neben Ihrem Knie ist eine kleine Flasche mit Eisenfeilspänen. Diese schütten Sie sehr vorsichtig über die Außenseite der Schale. Das Pulver ist zwar nicht fein genug, aber es ist das Beste, was ich hatte. Felger hatte viel besseres Zeug in Princeton, bevor wir alle weggingen. Und nebenbei erwähnt, diese Sache habe nicht ich entdeckt.« Paul fand die Eisenfeilspäne und bestäubte die spiegelnde Fläche damit. Nun erschienen ganz zarte Muster, eine Art Breitengrade, die im Eisenstaub wie graviert erschienen; da und dort ließen sich Diagonallinien erkennen. Paul ließ vor Staunen den Mund
offen. Die Kugelhälfte sah aus wie die Landkarte eines Planeten. »Ich weiß, was Sie jetzt denken«, sagte Seevers. »Wir dachten das zuerst nämlich auch. Dann kam Felger mit seinem extrafeinen Staub. Diese Linien sind nämlich Reihen pictographischer Symbole. Mit einer guten Lupe kann man sie recht schön erkennen, sogar mit dem groben Zeug. Es ist ein Magnetdruck, etwa so wie zweidimensionale Tonaufzeichnungen. Offensichtlich hatten die Tiere, die diese Aufzeichnungen druckten, ungeheuer scharfe Augen, oder einen ausgezeichneten magnetischen Sinn.« »Und das kann jemand verstehen?« »Die Leute von Princeton arbeiteten daran, als die Welt verrückt zu werden begann. Sie kriegten soviel heraus daß sie das vermuten konnten, was ich Ihnen vorher erzählte. Bei etwa einem Dutzend Kugeln fanden sie fünf verschiedene Schichten-Botschaften. Eine von ihnen war eine Art Schlüssel. Die Symbolgleichung für ein Diagramm eines Kohlenstoffatoms. Ein anderes Symbol deckte sich mit dem Pi in binären Ziffern. Im ganzen waren es so ungefähr fünfhundert Symbole, alles ähnliche Dinge. Einige blieben uns vollständig unklar. Andere Symbole wurden als zwischenraumfüllende Rätsel entschlüsselt, etwa so wie ›Ein Stern ist...‹, und übrig blieben ganz unbekannte Symbole. Wir wollten noch herauszukriegen versuchen, ob sie ›heiß‹, ›weiß‹, ›riesig‹ und so weiter heißen könnten.« »Und das gelang Ihnen?« »Zum Teil. Die grobe Art, in der man die Projektile öffnete, zerstörte viel von der Klarheit. Die Absender hatten wohl ihre eigene Art der Vermenschlichung.
Sie projizierten ihre Psychologie auf uns. Sie erwarteten von uns, daß wir diese Kugeln äußerst vorsichtig öffnen und Schale für Schale abnehmen würden, um den Text zu entschlüsseln, bevor wir weitermachten. He, und was geschieht? Ein Maschinist holt sich ein solches Ding, schüttelt, wiegt es und spannt es in eine Drehbank ein und brrrrr! Ja, ja, unsere Neugier ist auch nicht subtiler als die der Affen. Man steckt den Arm in ein Baumloch und schaut auf die Art nach, ob eine Klapperschlange drinnen ist.« Lange Zeit herrschte Schweigen, während Paul die Muster auf den Schalen genau studierte. »Und warum haben die Leute davon nichts erfahren?« fragte er schließlich. »Davon nichts erfahren!« röhrte Seevers. »Und wie, bitte schön, wollen Sie den Leuten das beibringen?« Paul schüttelte den Kopf. Es war ja so leicht zu vergessen, daß der Mensch von den Druckerpressen und den Radiostationen weggelaufen war, daß er Eisenbahnen und Autos und Flugzeuge vor sich hin rosten ließ, daß er seine mechanischen Geschöpfe ganz einfach vergaß, während er wie ein von einem Bienenschwarm verfolgter honiglüsterner Bär vor dieser merkwürdigen Schrecknis flüchtete. »Und was genau besagen diese Muster, Doktor?« »Einiges habe ich Ihnen ja erzählt – den evolutionären Ursprung dieser Neuroderm-Parasiten. Wir knobelten auch ihre Gründe dafür aus, daß sie diese Projektile vor einigen tausend Jahren in den Raum abschossen. Ihre Sonne war dabei, zu einer Super-Nova aufzuflammen. Sie entwickelten einen theoretischen Raumantrieb, aber sie hatten keinen Treibstoff dafür; dafür hätten sie vermutlich ein Element gebraucht,
das in ihrem System nicht vorhanden war. Zu ihrem Außenplaneten konnten sie zwar kommen, doch das nützte ihnen nicht sehr viel. So kultivierten sie also ihre Parasiten-Wohltäter, rollten sie in diese Kugeln und schossen sie wie riesige Schrotladungen auf verschiedene Sterne ab. Natürlich auf Abfangkurs. Sie sollten nicht ganz auf den Sternen aufschlagen, sondern in langen elliptischen Orbits um diese Sonnen kreisen, nahe genug, um den radiationalen ›Lebensgürtel‹ anzuschneiden und später Planetenbahnen zu kreuzen, deren Orbits nahezu kreisförmig waren. Es sieht ganz so aus, als hätten sie uns beim ersten Durchgang schon getroffen.« »Dann glauben Sie also, sie hätten nicht genau die Erde angepeilt?« »Offensichtlich nicht. Sie konnten ja gar nicht wissen, daß wir hier sind. Auf diese Entfernung ganz bestimmt nicht. Hunderte von Lichtjahren... Sie wählten zufällig etliche Sterne aus. Daß sie ihre Wohltäter so in den Raum katapultierten, war – symbolisch gesehen – die letzte Barriere vor dem Aussterben und eine noble Geste, soweit es uns betrifft. Etwa so, als gäben sie damit ein Stück ihrer Seele weg. Oder wie ein Mann, der sein Testament schreibt und seine weltlichen Besitztümer einer unbekannten Spezies jenseits der Sterne vermacht. Stellen Sie sich einmal vor, wie sie dastehen und den Projektilen nachschauen, die sie in den tiefen Raum abgeschossen haben. Da geht ihr Erbe dahin, geht an einen unbekannten Erben, vielleicht auch an gar keinen. Diese kleinen Kreaturen, die sie aus dem Tierdasein herausgehoben hatten.« Seevers schwieg eine Weile und starrte in das Sonnenlicht über den hohen Kellerfenstern hinaus. Er
sprach eigentlich mehr zu sich selbst: »Schauen Sie, wie sie sich umdrehen und schweigend zurückgehen, um darauf zu warten, daß ihre Sonne den kritischen Punkt erreicht, den der Explosion. Sie haben den letzten Beweis für ihre Existenz in das Unbekannte hinausgeschickt – eine dunkle, unsichere Benediktion für den Kosmos.« »Sie sind ein Narr, Seevers«, brummte Paul plötzlich. Seevers wirbelte herum und wurde blaß. Seine Hand griff aus nach dem Arm des jungen Mannes, doch er zog sie schnell zurück, als Paul ihm seitlich auswich. »Sie sehen in diesem Ding also schon etwas Wünschenswertes, was?« fragte Paul. »Aber das können Sie nicht beurteilen, weil Sie selbst betroffen sind. Warum wirkt es so auf Menschen? Und Sie sagen, ich könnte nicht objektiv sein!« Der Professor lächelte kalt. »Ich behaupte nicht, daß es wünschenswert sei. Ich wies lediglich darauf hin, daß es die Wesen, die es abgeschickt haben, als wünschenswert betrachteten. Sie stellten also nur unbewiesene Vermutungen auf.« »Vielleicht lag ihnen nur nichts daran.« »Natürlich lag ihnen einiges daran. Ihr Fehler war der, daß sie annahmen, wir würden die Dinger so vorsichtig aufmachen, wie sie es getan hätten. Vielleicht konnten sie sich nicht vorstellen, daß es intelligente Wesen geben könnte, die gleichzeitig furchtbar grob sind. Sie wollten doch, daß wir die Botschaft lesen sollten, die Warnung, die auf den Schalen stand, ehe wir zum Kern vordrangen.« »Warnung?«
Seevers lächelte bitter. »Jawohl, eine Warnung. Auf allen Kugeln fanden wir eine Gruppe übergroßer Symbole. Sehen Sie das Muster hier auf dem obersten Ring? Es besagt tatsächlich folgendes: ›Finder-Wesen, die ihr euer eigenes Volk nicht zerstört – wenn ihr das tut, dann zerstört diesen Behälter, ohne tiefer vorzudringen. Seid ihr Selbstzerstörer, dann wird der Inhalt euch nur helfen, euch selbst zu zerstören.‹« »Aber jemand hätte die Kugeln doch sowieso aufgemacht«, widersprach ihm Paul. Seevers wandte sich wieder dem Fenster zu. »Noch mehr rechthaben können Sie wirklich nicht. Die Absender konnten ja gar nicht ahnen, welch affenhirnige Rasse wir sind. Hätten sie gesehen, wie der Mensch diese Kugeln ausgräbt, über ihnen rätselt und schwatzt, sie wie Nüsse knackt, dann den Schwanz einzieht und heulend in die Wälder rennt – nun, sie hätten sich's zweimal überlegt, bevor sie eine zweite Ladung ihrer himmlischen Schrotkörner abfeuerten.« »Dr. Seevers, und was glauben Sie, daß jetzt mit der Welt geschieht?« Seevers zuckte die Achseln. »Gestern sah ich, wie eine Frau unten auf der Insel ein Kind bekam. Es war bei der Geburt völlig mit dieser Neurodermatose bedeckt. Es hat eine völlig neuartige sensorische Ausstattung – winzige Poren in den Fingerspitzen mit Geschmacksknospen und Geruchszellen darinnen, ferner über jedem Auge ein Knötchen, das infrarotsensitiv ist.« Paul stöhnte. »Das ist aber nicht der erste Fall. Solche Dinge gehen auch bei Erwachsenen vor, nur muß man die Kondition schon eine Weile haben. Bruder Thomas
hat zum Beispiel schon die Fingerporen. Natürlich hat er noch nicht gelernt, sie auch zu nützen. Er stellt darin Gefühle fest, aber die Rezeptoren sind noch nicht mit den Geruchs-, Geschmacks- und Tastzentren des Gehirns verbunden. Noch sind sie gekoppelt mit somatogenen Interpretationszentren. Er kann verschiedene Substanzen berühren und verschiedenen Kombinationen von Hitze, Kälte, Schmerz, Druck und so weiter wahrnehmen. Er sagt, Essig fühle sich eiskalt an, Chinin scharf-heiß, Kölnisch Wasser warm-samtig-prickelnd und... wenn er ein moschushaltiges Parfüm berührt, wird er knallrot.« Paul lachte, aber er war über sein hohles Gelächter sehr bestürzt. »Es wird einige Generationen dauern, bis wir genau wissen, was alles passiert«, fuhr Seevers fort. »Ich habe bestimmte Abschnitte von Rattengehirnen untersucht und den Mikroorganismus gefunden. Er kann möglicherweise diese neuen Rezeptoren mit bestimmten Gehirnzentren auf neuen Wegen verbinden. Unsere Enkel und Urenkel – falls bis dahin der Mensch die Erde noch besiedelt – können vielleicht allein durch eine Berührung Substanzen analysieren, qualitativ den Inhalt eines Reagenzröhrchens bestimmen, nur indem sie einen Finger hineinstecken. Sie können vermutlich durch ihre Infrarot-Sensibilität einen warmen Radiator in einem dunklen Raum sehen. Vielleicht haben sie auch einige UltraviolettSensationen. Meine Ratten sind da schon sensitiv.« Paul ging zu den Rattenkäfigen und musterte drei graupelzige Tiere, die größer zu sein schienen als die anderen. Sie zogen sich zur Rückwand zurück und beobachteten ihn argwöhnisch. Und sie begannen zu
quieken und untereinander Blicke zu tauschen. »Das sind Hyper der dritten Generation«, erklärte ihm Seevers. »Sie haben eine einfache Sprache entwickelt. Natürlich nicht intelligent – nach menschlichen Maßstäben –, aber sehr geschickt. Sie haben gelernt, sich ihrer sensorischen Fähigkeiten zu bedienen. Sie wissen, wann ich die Absicht habe, sie zu füttern, oder wann ich eine von ihnen herausnehmen will, um sie zu töten und zu zerlegen. Ich stelle mir vor, sie nehmen die geringste Veränderung in meinem emotionellen Geruch wahr. Junger Mann, Lernen ist die große Hürde. Ein Hyper mit Fingerporen bezieht aus ihnen Gefühle, aber es dauert lange, bis er die durch diese Person vermittelten Sensationen auch richtig zu deuten vermag. Das kann nur durch Lernen geschehen. Ein Baby hat mit seinen untrainierten Augen visuelle Erlebnisse, aber die Sensation ist solange ohne Bedeutung, bis er ›Milch‹ mit ›weiß‹ assoziiert, ›Mutter‹ mit einer Gesichtsform und so weiter.« »Und was wird mit dem Gehirn geschehen?« fragte Paul atemlos. »Nicht sehr viel, glaube ich. In der Beziehung habe ich noch nicht viel beobachtet. Die Ratten nehmen an Intelligenz zu, nicht aber an Gehirnumfang. Der intellektuelle Zuwachs stammt vermutlich aus der Fähigkeit, Dinge im Sinn von zahlreicheren oder umfassenderen Sinnen wahrzunehmen. Ideen, Konzepte, Regeln; sie alle stammen ja aus einer Anhäufung von Erinnerungen an vorhergehende sensorische Experimente und Erfahrungen. Ein Apfel ist rot, riecht fruchtig, schmeckt süß-säuerlich – das ist unsere sensorische Idee eines Apfels. Ein Blinder ohne Zunge
könnte keine solche komplette Idee formen. Andererseits kann aber ein Hyper einige neue Adjektive anfügen, die Sie nicht verstehen könnten. Der vollentwickelte Hyper – ich bin noch keiner – hat mehr sensorische Werkzeuge, mit denen er nach Ideen greifen und sie verstehen kann. Hat er erst gelernt, sie voll einzusetzen, ist er geistig wesentlich tüchtiger. Doch da gibt es einen Haken. Das instinktive Ziel des Parasiten ist die Sicherung des Überlebens seines Wirtes, des Individuums. Und das ist die Substanz der Warnung. Wenn der Mensch die Fähigkeit zur Zusammenarbeit hat, dann wird der Parasit ihm helfen, seine Umgebung zu formen, seine Umwelt neu zu organisieren. Hat der Mensch jedoch die Absicht, mit seinen Mitmenschen zu kämpfen, so wird der Parasit ihm auch hier helfen, es wirkungsvoller zu tun. Er wird ihm helfen, letzten Endes sich selbst viel besser und gründlicher zu vernichten.« »Menschen haben zusammengearbeitet...« »In kleinen Gruppen«, unterbrach ihn Seevers. »Ja, Gruppengeist haben wir. Affensippengeist, aber keinen Rassengeist.« Paul lief unruhig zur Tür. Seevers beobachtete ihn und lächelte dazu kalt, ein wenig spöttisch. »Nun, junger Mann, jetzt sind Sie also erleuchtet. Und was haben Sie jetzt vor?« Paul schüttelte den Kopf, um die Wirrnis seiner Gedanken zu lichten. »Was kann man da tun? Davonrennen? Vielleicht auf eine Insel?« Seevers hob zynisch die Brauen. »Um die Krankheit mitzunehmen? Oder wollen Sie versuchen, ein Nicht-Hyper zu bleiben?« »Mitneh... Sagen Sie, sind Sie verrückt? Ich habe
die Absicht, gesund zu bleiben!« »Aha. Das dachte ich mir. Wenn Sie nämlich objektiv wären, würden Sie die Gelegenheit ergreifen und sich anstecken lassen, um die Sache hinter sich zu bringen. Ich habe es so gemacht. Sie erinnern mich an einen Affen, der vor einer Injektionsnadel davonläuft. Die Nadel hat in sich ein Serum, das ihm Gesundheit garantiert, aber sie sieht spitz und scharf aus. Der Affe zittert vor Angst.« Paul lief zornig zur Tür, blieb aber davor stehen. »Da oben ist ein Mädchen, eine Dermie. Würden Sie...« »Ihr das alles erzählen? Neue Hyper werden von mir immer geschult. Das ist eine meiner Pflichten auf dieser himmlischen Lepra-Ranch. Ich nehme an, sie steht am Rand des Wahnsinns. Das geht allen so, ehe sie die Idee von sich abschütteln können, sie seien verdammte Seelen. Was bedeutet sie Ihnen?« Paul ging, ohne zu antworten, auf den Korridor hinaus. Er fühlte sich körperlich krank. Er haßte Seevers' rundes Bulldoggengesicht mit einer Heftigkeit, die ihm völlig neu war. Der Mann hatte sich absichtlich mit dieser Seuche infiziert! Das hatte er gesagt. Ob es auch stimmte? War auch nur ein Wort von dem, was er erzählt hatte, wahr? Behaupten die Halluzinationen seien sensorische Phänomenes um diese Pest als möglicherweise wünschenswert hinzustellen... Auf solche Ideen hatte Seevers kein Patent. Jeder Dermie erhob solche Ansprüche. Das war auch ein Symptom. Seevers hatte einfach eine raffinierte Rationalisierung erfunden, um seine Behauptungen zu stützen, und Paul hätte sich um ein Haar davon übertölpeln lassen. Seevers war gerissen. Haben Sie die
Absicht, die Krankheit mitzunehmen, wenn Sie gehen? Mit anderen Worten: ›Warum erlauben Sie mir nicht, Sie zu berühren?‹ Paul fröstelte, als er in den dritten Stock zurückkehrte, um sich mit dem scharfriechenden Öl einzureiben. Und warum gehe ich nicht jetzt sofort? überlegte er. Aber er verbrachte den Tag damit, am Strand herumzulaufen, und er blieb kurze Zeit am Dock stehen, wo eine Gruppe von Mönchen auf Gerüsten herumkletterte, die zwei seetüchtige Boote umgaben. Die Mönche kalfaterten Ritzen und trotteten auf den Laufgängen mit Teer- und Farbeimern dahin. Paul fragte und erfuhr, welches Boot für ihn bestimmt war, und deshalb stellte er jeden Gedanken an ein sofortiges Weggehen zurück. Es war ein schlankes Schiffchen von fünfzehn Metern, mit einem ausgewogenen Wulstkiel der für Küstengewässer zuviel Tiefgang hatte. Paul vermutete, daß man in der Kolonie nur Boote mit flachem Kiel brauchte, um Passagiere und Lasten vom Festland zu holen. Ein Hochseeschiffchen mit der Form eines kleinen schnellen Zerstörers war von wenig Nutzen in den flachen Küstengewässern. Vermutlich war ›sein‹ Schiffchen einmal ein Polizei- oder Küstenwachboot gewesen. Am Vorderdeck war nämlich noch ein MG-Montagestand, allerdings ohne die Waffe. Das Boot war für große Geschwindigkeiten gebaut, hatte Dieselmaschinen und genug Lademöglichkeiten für eine nette, lange Kreuzfahrt. Dann sah sich Paul in den Lagerhäusern nach Lebensmitteln und anderen notwendigen Dingen um. Gelegentlich begegnete ihm dabei ein Mönch oder eine Nonne, aber die graugesichtigen Heiligen schienen
nur den einen Wunsch zu haben, ihm nach Möglichkeit auszuweichen. Die Gier der Dermies wurde hauptsächlich vom Geruch ausgelöst, und das Deodorantöl erwies sich als recht nützlich, sie vor dieser Gier zu schützen. Einmal näherte sich ihm auch ein wildäugiger Laie, der plötzlich zwischen einem Kistenstapel auftauchte. Der Dermie war schon in seiner unmittelbaren Nähe, als er die Schritte hörte. Paul wurde von panischer Angst ergriffen, weil er keinen Fluchtweg sah und zerschoß den Arm des Mannes mit einer Schrotladung aus seiner Flinte, und dann rannte er davon, um den Schreien des Mannes zu entrinnen. Brennend vor Scham fand er einen Dermie-Mönch und schickte ihn aus, um nach dem Verletzten zu schauen. Paul hatte zwar auch auf andere Seuchenopfer geschossen, wenn er keinen anderen Ausweg sah, niemals aber mit der Absicht, zu töten. Diesen Mann hatte er nur deshalb nicht totgeschossen, weil er zu hastig gezielt hatte. Es war Notwehr, sagte er zu sich selbst. Notwehr? Gegen wen und was? War sie den unvermeidlich gewesen? Er lief zurück zum Krankenhaus und fand Mendelhaus vor der kleinen Kapelle. »Ich glaube, ich warte besser doch nicht auf Ihr Boot«, sagte er. »Ehen habe ich auf einen Ihrer Leute geschossen. Ich gehe lieber, ehe das noch einmal passiert.« Mendelhaus' schmale Lippen wurden noch dünner. »Sie haben...?« »Erschossen habe ich ihn nicht«, erklärte Paul hastig. »Seinen Arm habe ich durchschossen. Einer der Brüder bringt ihn her. Es tut mir sehr leid, Vater, aber
er hat mich angesprungen.« Der Priester kämpfte offensichtlich gegen seinen Zorn. »Ich hin aber froh daß Sie es mir sagten«, antwortete er schließlich ruhig. »Wahrscheinlich konnten Sie gar nicht anders. Aber warum haben Sie das Krankenhaus verlassen? Hier sind Sie doch sicher. Die Yacht wird für Sie mit Lebensmitteln versorgt. Ich schlage daher vor, Sie bleiben in Ihrem Zimmer bis sie fertig ist. Ich kann mich für Ihre Sicherheit nur im Haus selbst verbürgen.« Seine Stimme klang befehlend, und Paul nickte. Er ging weg. »Die junge Dame hat nach Ihnen gefragt!« rief ihm der Priester nach. Paul blieb stehen. »Wie geht es ihr?« »Ich glaube, sie hat die Krise überstanden. Die Infektion geht zurück. Die nervliche Verfassung ist nicht ganz so gut. Schwere Depressionen. Manchmal wird sie ein bißchen hysterisch.« Er schwieg eine Weile und flüsterte dann: »Junger Mann, Sie stehen in ihrem Brennpunkt. Manchmal ist sie der Meinung, Sie berührt zu haben, und dann rast sie, wie sie das nur hätte tun können.« Paul wirbelte zornig herum und wollte aufbegehren, doch der Priester fuhr schon fort: »Seevers hat mit ihr gesprochen, dann auch ein Psychologe: eine unserer Schwestern ist Psychologin. Das schien ihr ein wenig zu helfen. Jetzt schläft sie. Ich weiß nicht, wieviel sie von dem, was Seevers ihr erzählte, auch verstanden hat. Jetzt ist sie wie benommen – ein kombinierter Effekt aus Schmerz, Schock, Infektion, Schuldgefühlen, Angst, Hysterie und einigen anderen Dingen. Morphium nützt ihr gar nichts, noch weniger die Tatsache, daß sie glaubt, Sie machen einen großen
Bogen um sie.« »Den mache ich um die Seuche, nicht um sie!« fauchte Paul. Mendelhaus lachte freudlos. »Sie sprechen doch jetzt mit mir, nicht wahr?« Er wandte sich um und betrat durch die Schwingtür die Kapelle. Die Tür schwang noch eine Weile, und da fiel Pauls Blick auf einen mit Kerzen besteckten Altar und ein Kruzifix mit einem nackten Heiland. Ein See von Mönchskutten lag über den Kirchenstühlen: alle warteten auf den Priester, der das Heiligtum betreten und mit dem Meßopfer beginnen sollte. Da fiel ihm ein, daß Sonntag war. Paul schlenderte zum Hauptkorridor zurück und fand sich auf dem Weg zu Willies Zimmer. Die Tür stand offen, aber kurz vorher hielt er an, denn er wollte nicht, daß sie ihn sähe. Doch nach einem Augenblick des Zögerns rückte er langsam näher, bis er die dunkle Masse ihres offenen Haares auf dem Kissen erkannte. Eine der Schwestern hatte es ihr gekämmt, und jetzt schimmerten die dunklen Wellen im sanften Kerzenlicht. Sie schlief noch. Die Kerze verwirrte ihn im Augenblick, denn er dachte an ein Totenbett und das Sakrament der Sterbenden. Aber neben dem Bett lag eine mit reichlich Eselsohren versehene Zeitschrift. Jemand mußte ihr also vorgelesen haben. Er stand unter der Tür und sah, wie sich unter ihren Atemzügen ihre Brust sanft hob und senkte. Sie sah frisch, jung und anziehend aus, selbst in dem groben Baumwollhemd, das man ihr gegeben hatte, selbst mit der bläulich-weißen Blässe ihrer Haut, die bald so grau sein würde, wie ein Wolkenhimmel im
winterlichen Zwielicht. Ihre Lippen bewegten sich ein wenig, und er trat einen Schritt zurück. Sie teilten sich, glänzten feucht, gaben ebenmäßige, kleine, weiße Zähne frei. Ihr feingeschnittenes Gesicht lag ein wenig nach rückwärts geneigt auf dem Kissen. Plötzlich spannten sich ihre Kiefermuskeln an. Asperges me, Domine, hyssopo, et mundabor... klang es plötzlich in einer seltsam gequetschten, hohen Stimme im Sprechgesang des Gregorianischen Chorals die Halle entlang. Der Priester begann die Messe. Als die Stimme durch das Haus schwebte, ballte das Mädchen unter der Decke die Hände zu Fäusten. Sie schlug plötzlich die Augen auf und starrte wildäugig zur Decke hinauf. Sie riß die Bettdecke im Bezug über ihr Gesicht und schrie: »Nein! Nein, nein, nein! Gott, ich will nicht!« Paul zog sich soweit zurück, daß sie ihn nicht sehen konnte und drückte sich an die Mauer. Ein Knoten der Verzweiflung, der Trostlosigkeit zog sich in seinem Magen zusammen. Nervös schaute er sich um. Eine Nonne, die den Schrei gehört hatte, kam die Halle entlang gelaufen und murmelte besorgt vor sich hin. Eine dickliche Glucke in einem Wust gestärkten weißen Stoffs. Sie warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu und schusselte hinein. »Kind, Kindchen, was ist denn los? Schon wieder Alpträume?« Er hörte, daß Willie einen nervösen Seufzer der Erleichterung ausstieß. Dann vernahm er ihre matte Stimme. »Sie... wollen, daß ich... ihn berühre... o Gott! Ich würde mir am liebsten die Hände abschneiden!« Da floh Paul. Das mitleidige Murmeln der Nonne
konnte er nicht mehr ertragen. Den Rest des Tages und die Nacht verbrachte er in seinem Zimmer. Am folgenden Tag kam Mendelhaus und meldete, das Boot sei noch nicht ganz fertig. Es mußte noch einmal gründlich geteert und dann mit Lebensmitteln ausgestattet werden. Aber der Priester versicherte ihm, in vierundzwanzig Stunden liege es im Wasser. Paul brachte es nicht über sich, nach dem Mädchen zu fragen. Ein Mönch brachte ihm zu essen – geschlossene Dosen, die dampfend aus dem Sterilisator gekommen waren, auf einem abgedeckten Tablett. Der Mönch trug Handschuhe und eine Maske, und außerdem hatte Paul sich die Haut eingeölt. Manchmal hatte er das Gefühl, er sei der Kranke, Ansteckende, vor dem sich die anderen schützen mußten. War also der Mensch, wie Seevers sich ausdrückte, nur ein verängstigter Affe, der törichterweise vor grauen Händen floh, die ihm doch nur einen Segen anbieten wollten? Wie schmal war doch die Linie, die Segen vom Fluch. Gott vom Dämon schied! Die Parasiten kamen in einer Teufelsmaske, in der Maske der Krankheit. »Krankheiten haben mich schon oft getötet«, sagte der Mensch. »Alle Krankheit ist also vom Übel.« Aber mußte das unbedingt die Wahrheit sein? Das Feuer hatte oft genug die keulenschwingenden Vorfahren des Menschen, des heutigen Menschen getötet, aber später gelang es ihm, es sich dienstbar zu machen. Selbst Krankheiten hatten der Menschheit schon manchmal zum Vorteil gedient – zum Beispiel künstlich erzeugte typhöse Fieber und Malaria, um Geschlechtskrankheiten zu bekämpfen.
Aber die graue Haut... Tastknötchen in den Fingerspitzen... Fremdartige Mikroorganismen, die an den Nerven und am Gehirn herumpfuschen. Bei diesen Gedanken stellten sich ihm die Haare auf. Der Mensch, sozusagen überarbeitet, um dem Geschmack einer Horde angeblich wohlmeinender Parasiten zu entsprechen... Dieser Mensch war noch immer Mensch. Oder was war er sonst? Kleine bakteriologische Farmer, eingebettet in die Haut, kultivierten eine ganze Ernte von Nervenzellen – eine verzehren, zwei pflanzen, auf einem neuen Feld eine Geschmacksknospe säen die Zubringerfasern zum Gehirn ein bißchen durchschütteln und verflechten... Der Montag brachte kalten Regen und steifen Wind vom Golf her. Er sah dem Wasser zu, das sich auf der Straße über verstopften Gullys staute. Er saß am Fenster, schaute in den düsteren Tag hinaus und betete, der Sturm möge seine Abfahrt nicht verzögern. Mendelhaus lächelte ihm einmal höflich von der Tür aus zu. »Willies Knöchel scheint recht schön zu heilen«, sagte er. »Die Schwellung ist so gut zurückgegangen, daß wir den Gipsverband erneuern mußten. Wenn sie nur...« »Danke für den Bericht, Padre«, brummte Paul gereizt. Der Priester zuckte die Achseln und ging weg. Es regnete noch immer, als der Himmel sich abendlich verdunkelte. Die mönchische Dockmannschaft hatte das Boot sicher nicht fertigmachen können. Morgen... Vielleicht... Dann brach die Nacht herein, und er zündete eine Kerze an und beobachtete die ruhig brennende gelbe Zunge, bis er schläfrig wurde. Dann blies er sie aus
und ging zu Bett. Träume suchten ihn heim, peinigten ihn, schlugen mit grauen Händen nach ihm, und er konnte nichts tun, als sich ihnen ergehen. Es waren kleine, weiche, kühle, zärtliche Hände, die seine Stirn und seine Wangen berührten, und eine sanfte Stimme flüsterte dazu zärtliche Worte. Schlagartig wachte er auf, eingehüllt in eine schwarze Dunkelheit. Das Gefühl der Traumhände hing noch an seinem Gesicht. Was hatte ihn aufgeweckt? Ein Geräusch in der Halle, eine quietschende Angel? Die Dunkelheit war undurchdringlich. Der Regen hatte aufgehört. Vielleicht hatte das Ende des eintönigen Rauschens ihn aufgeweckt. Er fühlte eine seltsame Spannung, als er so dalag und in den feuchten, muffigen Korridor lauschte. Er hörte... ein... leises Rascheln... und... Atmen! Bei ihm im Zimmer war leises, ganz leises Atmen! Er tat einen heiseren Schrei, der die unirdische Stille zerfetzte. Ein greller Angstschrei folgte, und er war nur ein paar Schritte von ihm entfernt. Er tastete danach und tappte an der nackten Wand herum. Er fluchte und versuchte Zündhölzer zu finden, dann seine Schrotflinte. Endlich fand er die Waffe, zielte auf nichts im Raum und drückte den Abzug. Die Explosion betäubte ihn momentan. Das Fenster barst klirrend, und Mörtelbrocken fielen zu Boden. Der kurze Blitz hatte den Raum erhellt. Er war leer. Wie zu Stein erstarrt stand er da. Hatte er sich alles nur eingebildet? Aber nein, der Angstschrei seines Besuchers war echt gewesen. Ein kühler Luftzug traf sein Gesicht. Die Tür war
offen. Hatte er schon wieder vergessen, sie abzusperren? In den unteren Stockwerken waren tumultartige Geräusche zu vernehmen. Sein Schuß hatte die Schläfer aufgeweckt. Aber da war noch ein Ton, der viel näher war – draußen auf dem Korridor schluchzte jemand, und dann folgte ein pochendes Geräusch. Endlich fand er Zündhölzer und lief zur Tür. Aber das winzige Flämmchen warf nur einen eng begrenzten Lichtschein, jenseits dessen er nichts mehr erkennen konnte. Er hörte eine Türklinke schnappen. Sein Besucher flüchtete über die Außentreppe. Er dachte an Verfolgung und Rache. Aber dann stürzte er doch lieber zum Waschbecken, wo er sich mit einer groben, braunen Seife sorgfältig schrubbte. Hatte ihn sein Besucher berührt? Oder waren die Hände nur in seinem Traum gewesen? Er fühlte sich verängstigt und furchtbar elend. Dann füllten Stimmen den Korridor. Das Licht einiger Kerzen näherte sich seiner Tür. Er drehte sich herum und sah ein paar Mönchsgesichter besorgt hereinspähen. Vater Mendelhaus drängte sich zwischen den anderen durch, besah sich das Fenster, die abgeblätterte Wand, dann Paul. »Was...?« »Sicherheit, was?« zischte Paul. »Nun, da strich jemand herum. Eine Frau! Ich glaube, ich wurde berührt.« Der Priester drehte sich zu einem Mönch um und sprach mit ihm. »Geh zur Treppe und ruf nach Mutter Oberin. Bitte sie, sofort alle Schwesternquartiere zu inspizieren. Falls irgendeine Nonne außerhalb ihrer Räume war...« Von unten kam eine schrille Stimme: »Vater! Vater!
Das Mädchen mit dem verletzten Knöchel ist weg! Sie ist nicht in ihrem Bett! Sie ist fort!« »Willie!« stöhnte Paul. Eine kleine Nonne mit einer Kerze kam heraufgerannt und holte keuchend Atem. »Sie ist weg, Vater. Ich hatte Nachtdienst. Ich hörte den Schuß, und als ich nachschaute, ob sie dadurch gestört worden war, fand ich sie nicht mehr. Sie war nicht mehr da!« Der Priester brummte etwas Ungläubiges. »Wie konnte sie denn weglaufen? Mit dem Gipsverband?« »Krücken, Vater. Wir sagten ihr, sie könne in ein paar Tagen aufstehen. Im Delirium sagte sie ständig, man würde ihr das Bein amputieren. Wir brachten ihr also Krücken, um ihr zu beweisen, daß sie bald aufstehen dürfe. Vater, es war meine Schuld. Ich sollte...« »Ach, lassen Sie! Das ganze Gebäude nach ihr durchsuchen!« Paul wischte sich den Schweiß von der Stirn und schaute den Priester ärgerlich an. »Was kann ich tun, um mich selbst zu desinfizieren?« fragte er. Mendelhaus rief in die Halle hinunter, wo sich die meisten angesammelt hatten. »Jemand soll doch bitte Dr. Seevers holen!« »Ich bin hier, Pastörchen«, knurrte der Wissenschaftler. Die Mönche machten dem kleinen stämmigen Mann bereitwillig Platz. Amüsiert grinste er Paul an. »So, Sie haben also beschlossen, sich doch hier ein Heim zu schaffen, eh?« Paul schrie ihm ein Schimpfwort zu. »Haben Sie irgendein wirksames...« »Desinfektionsmittel? Ich fürchte nein. Salpetersäure kann an ein paar Stellen vielleicht nützen. Wo wurden Sie berührt?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe geschlafen.« Seevers lachte breit. »Na, ja. Ein Bad nehmen in Salpetersäure? Das können Sie nicht. Wir werden etwas anderes versuchen, aber ich bezweifle, daß es bei einer direkten Berührung hilft.« »Dieses Öl...« »Pah! Es wirkt auf Parasiten, die schon geschwächt sind, weil sie der Luft ausgesetzt waren; die man aufklaubt, wenn man einen Gegenstand benützt, der berührt wurde. Aber mit einem Kontakt Haut an Haut sind diese Wänzchen recht zähe Ungeheuer. Aber kommen Sie mit nach unten. Einen Versuch wollen wir mal machen.« Paul lief schnell hinter ihm her. Er hörte noch eine leise Stimme: »Ich verstehe nur nicht, weshalb NichtHyper so...« Mendelhaus sagte etwas zu Seevers und übertönte damit die Stimme. Paul kaute an dem Gedanken herum, man würde ihn nun für einen Feigling halten. Aber mit der ganzen nach Norden fliehenden Herde war Feigheit eigentlich eine gesellschaftliche Norm geworden. Und nach einem Jahr der Flucht hatte Paul diese Norm als einzige Möglichkeit, sich durchzukämpfen, akzeptiert. Seevers entleerte etliche Chemikalien in eine Badewanne im Keller, als ein Mönch herbeigelaufen kam und aufgeregt an Mendelhaus' Ärmel zupfte. »Vater, die Schwestern melden, das Mädchen sei nicht im Gebäude.« »Was? Nun, weit kann sie ja nicht sein. Sucht das ganze Gelände ab. Ist sie da nicht zu finden, dann durchsucht die Nachbarschaft.« Paul vergaß sein Hemd weiter aufzuknöpfen. Wil-
lie hatte ein paar recht melancholische Dinge über das gesagt, was sie eher tun würde als der Gier nachgeben. Und ihr bestürzter Schrei, mit dem sie den seinen beantwortet hatte... Es war der Schrei eines Menschen, der plötzlich aus einer Welt der Benommenheit in die Wirklichkeit erwacht. Der Mönch verließ den Raum. Seevers schüttete weitere Chemikalien in die Wanne. Paul hörte, wie der Wind an den Fenstern des Kellergeschosses rüttelte und wie die nahe Brandung erregt tobte. Er knöpfte sein Hemd wieder zu. »In welcher Richtung ist der Ozean?« fragte er unvermittelt. Langsam zog er sich zur Tür zurück. »Nein, Sie elender Narr!« brüllte Seevers. »Sie werden nicht gehen! Halten Sie ihn fest, Evangelist!« Aber Paul wich dem Priester aus, der nach ihm griff. Er stürzte hinaus und rannte zur Treppe. Mendelhaus schrie ihn an, er solle stehenbleiben. »Doch nicht meinetwegen!« schrie er zurück. »Es geht um Willie!« Und dann raste er auch schon über den vom Regen aufgeweichten Rasen auf die Straße hinaus. An der Ecke blieb er kurz stehen, um sich zu orientieren. Der Wind trug das Rauschen der Brandung heran. Er rannte nach Osten und schrie ihren Namen in die Nacht hinaus. Der Regen hatte aufgehört, doch das Pflaster war naß, und in den Rinnsteinen gurgelte das Wasser. Ab und zu schien der Mond durch einen dünnen Wolkenschleier, aber das schwache Licht erhellte die vor ihm liegende Straße kaum. Nachdem er eine Minute gerannt war, fand er sich an der Kaimauer stehen. Die Brecher donnerten einen Steinwurf weit über den
Sand. Für einen Moment wurden sie unter dem scheuen Mond sichtbar, dann tauchten sie wieder in die Dunkelheit. Er hatte sie nicht gesehen. »Willie!« Nur ein Brecher antwortete. Und ein phosphorezierender Schimmer ging von den Schaumkronen aus. »WILLIEEEEE!« Er sprang über die Kaimauer und tastete sich die zerklüfteten Felsen entlang, die dahinter lagen. Sie konnte nicht über die Mauer gelangt sein, ohne zu stürzen. Dann fiel ihm eine baufällige Steintreppe nördlich davon ein, und dorthin rannte er. Plötzlich kam der Mond heraus. Er sah sie und blieb stehen. Sie saß bewegungslos auf der untersten Stufe und hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen. Die Krücken lehnten ordentlich am Geländer. Zehn Meter leichtes Sandgefälle, und vor ihr lag der hungrige, gierige Ozean, die unersättliche Brandung. Paul näherte sich ihr langsam. Der Mond verschwand wieder hinter den Wolken. Der regennasse Sand versuchte seine Füße festzuhalten. Am Geländer blieb er stehen und sah auf ihre bewegungslose Gestalt hinunter. »Willie?« Sie stöhnte nur ein wenig, dann folgte ein langes Schweigen. »Paul, ich habe es getan«, murmelte sie endlich zutiefst beschämt. »Zuerst war alles wie ein Traum, aber dann... Du hast geschrien und...« Er hockte sich vor ihr auf die Fersen. Dann nahm er ihre Hände und zog sie ihr vom Gesicht. »Nicht...« Er zog sie an sich und küßte sie. Ihr Mund war nichts als Angst. Dann hob er sie auf und gab acht auf
ihren aufgeweichten Gipsverband. Er kletterte die Stufen hinauf und machte sich auf den Rückweg zum Krankenhaus. Willie war noch wie betäubt und benommen und verstand gar nichts. Sie schlief in seinen Armen ein. Ihr Haar blies ihm der Wind ins Gesicht, und es roch warm und lebendig. Er dachte darüber nach, welche Empfindungen es den Rezeptoren der Fingerporen vermitteln würde. »Abwarten und selbst sehen«, sagte er laut zu sich selbst. Der Priester kam lachend auf ihn zu, als er sie in den von Kerzen erhellten Korridor brachte. »Sollen wir das Boot vergessen, mein Sohn?« fragte er. Paul blieb stehen. »Nein... Ausleihen möchte ich es mir auf alle Fälle.« Mendelhaus schaute ihn verständnislos an. Seevers schniefte. »Prediger, wissen Sie nicht, welche Gründe es außer der Flucht für eine Reise gibt?« Paul trug sie in ihr Zimmer zurück. Sobald sie aufwachte, wollte er lange und ausführlich mit ihr reden. Über eine Insel. Bis die Welt wieder nüchtern wurde und zu sich selbst finden konnte.
Originaltitel: DARK BENEDICTION Copyright © 1951 by Walter M. Miller jr. Aus EIGHT STRANGE TALES, edited by Vic Ghidalia Mit Genehmigung von Fawcett Publications, Inc. Übersetzt von Leni Sobez
Robert Silverberg DER REALITÄTSTRIP 1 Ich bin ein Rehabilitierungsprojekt für sie. Sie wohnt im selben Hotel im selben Stock: eine Dichterin mit eigenem Einkommen. Nein, das stempelt sie zur alternden, exzentrischen Frau, was nicht stimmt. Sie ist nicht älter als dreißig. Größer als ich, mit langem braunen Kraushaar und einer scharfen, leicht gebogenen Nase. Die Augen sehr glänzend. Die Kleidung absichtlich abgetragen und fast schäbig. Ich bin nicht in der Lage, die sexuelle Anziehungskraft von Erdenbewohnern zu beurteilen, aber ich habe gehört, daß sie nicht gut aussieht. Ich begegne ihr auf dem Flur. Sie lächelt mich wild an. Der arme, einsame Mann, denkt sie sicher. Ich möchte ihm die Bürde seines unglücklichen Lebens tragen helfen. Ich möchte ihm die Bedeutung der Liebe zeigen, denn auch ich weiß, was es bedeutet, allein zu sein... Oder dergleichen. Wirklich etwas in der Richtung gesagt hat sie nie. Aber ihre Absichten sind offensichtlich. Wenn sie mich sieht, wird ihr Blick teils hungrig, teils mütterlich und teils – nehme ich an – begierig. Ihr Gesicht wird auf ganz verrückte Weise intensiv. Sie heißt Elizabeth Cooke. »Lieben Sie Poesie, Mr. Knecht?« hat sie mich heute morgen gefragt, als wir zusammen in dem altmodi-
schen Lift nach oben gefahren sind. Eine Stunde später hat sie an meiner Tür geklopft. »Etwas für Sie zum Lesen«, hat sie gesagt. »Von mir.« Ein Stapel gelber Blätter, miserabel gedruckt und miserabel gebunden. Realitätstrip stand auf dem Deckel. Beschränkte Auflage von 125 Exemplaren. »Sie können es behalten«, sagte sie. »Ich habe noch genug davon.« Sie trug knallige Cordjeans und dazu eine rosa, total durchsichtige Bluse. Kleine spitze Brüste, nicht sehr funktionell aussehend. Als sie meinen Blick merkte, blähte sie die Nüstern und klapperte mit den Lidern. Zeichen der Lust? Ich lese die Gedichte. Habe ich das Recht zu kritisieren? Ich lebe zwar schon seit elf Erdenjahren auf diesem Planeten und beherrsche die Umgangssprache, aber begreife ich den tieferen Gehalt von Poesie? Ich halte sie für ziemlich schlecht. Ehrlich gemeinte, schwerfällige Ergüsse, die ein Stück Leben einfangen sollen. Umwelt, Brutalität und Grausamkeit, eine gefühllose Stadt, Kontaktlosigkeit. Eine Kostprobe aus dem ersten Gedicht: Er war auf dem Realitätstrip. Großer, schwarzer Mann, blutunterlaufene Augen, schlechte Zähne. EisenhowerJacke in Streifen. Riecht nach billigem Wein, wahrscheinlich Messer in der Tasche. Sieht mich finster an. Vorbestraft. Vergewaltigung, Kindesmißhandlung, Drogen. Sklavenhure, denkt er und ich denke: schwarzer Bruder, warum denn nicht? Ein gemeinsamer Liebestrip... Und so weiter. Warme, direkte Emotionen, aber ist
der dringende Wunsch, alles, was kaputt und ausgeflippt ist, zu lieben, ein ausreichendes Motiv für Gedichte? Ich weiß es nicht. Ich habe ihre Ergüsse jedenfalls durch meinen Minicomputer gejagt und sie auf meinen Planeten geschickt, bezweifle aber, ob sie zu Hause viel damit anfangen können. Elizabeth hat hier auf der Erde wenig Leser und wäre bestimmt geschmeichelt, wenn sie wüßte, daß an die neunzig Lichtjahre entfernt noch ein paar dazugekommen sind. Aber sagen kann ich es ihr natürlich nicht. Vorhin war sie wieder da. »Haben sie Ihnen gefallen?« fragte sie. »Sehr gut. Sie leiden mit denen, die nicht glücklich sind.« Ich nehme an, daß sie erwartet hat, ich würde sie hereinbitten. Ich achtete darauf, diesmal nicht auf ihre Brüste zu sehen. Das Hotel ist in der 23. Straße. Es muß über hundert Jahre alt sein – die Fassade ist unsinnig verschnörkelt und drinnen zeigt alles einen fast rührenden Zerfall. Die meisten, die hier wohnen, haben ihre Zimmer auf Dauer gemietet und neunzig Prozent davon sind Künstler, Schriftsteller, Drehbuchautoren und dergleichen. Ich selbst bin schon seit neun Jahren hier und kenne eine Menge von den Mietern mit Namen, und sie kennen mich mit Namen, aber ich habe jegliche Art von nachbarlichen Annäherungsversuchen von Anfang an abgebogen. Das versteht sich von selbst. Ich lade niemand in mein Zimmer ein, lasse mich aber ab und zu einladen, denn es ist schließlich meine Aufgabe, die Lebensart und Denkungsweise der Erdenbewohner zu erforschen. Elizabeth ist die erste, die versucht, die unsichtbare Mauer, die ich
um mich aufgebaut habe, zu durchbrechen. Vor acht bis zehn Monaten fing es an, und seit vier bis fünf Wochen wird sie wirklich lästig. Ich weiß noch nicht, wie ich sie abwimmeln soll. Irgendeine unhöfliche Direktheit wird wohl nicht zu vermeiden sind. Ich muß ihr wahrscheinlich ganz einfach sagen, daß sie mich in Ruhe lassen soll, sonst werde ich in eine unerträgliche Situation hineingezogen. Ich kann nur hoffen, daß sie jemand findet, der ihr noch mehr leid tut als ich, bevor es dazu kommt. Meine tägliche Routine spielt sich folgendermaßen ab: ich stehe um sieben auf. Erste Nahrungsaufnahme. Dann reinige ich meine Haut – die äußere, meine ich – und ziehe mich an. Von acht bis zehn sende ich Daten auf meinen Planeten. Dann mache ich meinen morgendlichen Recherchentrip: ich spreche mit Menschen auf der Straße und halte mich ziemlich viel in Bibliotheken auf. Um ein Uhr bin ich wieder im Hotel. Zweite Nahrungsaufnahme. Von zwei bis fünf wieder Senden von Daten. Dann wieder raus in die Öffentlichkeit. Ich gehe in ein Theater oder Kino oder zu einer politischen Versammlung. Ich muß alles in mich aufnehmen, was dieser Planet zu bieten hat. Zum Beispiel auch Alkohol. Ich gehe in Bars und trinke. Man hat mich extra mit den dazugehörigen Vorrichtungen ausgestattet, ich muß aber natürlich darauf achten, daß ich den Alkohol möglichst schnell wieder aus dem Körper bekomme. Ich belausche die Erdenbewohner und mische mich sogar manchmal in ein Gespräch ein. Um Mitternacht bin ich wieder in meinem Zimmer. Dritte Nahrungsaufnahme. Bis vier Uhr morgens sende ich wieder Daten nach Hause. Dann genau drei Stunden Schlaf, und um sieben be-
ginnt es von neuem. Ein angenehmer Zeitplan. Ich weiß nicht, wieviele Agenten von meinem Planeten auf die Erde geschickt worden sind, aber ich bin überzeugt davon, daß ich einer der fleißigsten und nützlichsten bin. Ich vermisse kaum etwas. Ich leiste viel, und gute Arbeit macht sich bezahlt – wie sie hier sagen. Ich streite nicht ab, daß mir die physische Unbequemlichkeit oft schwer zu schaffen macht und ich unter der Isolation leide. Ich sehne mich häufig nach meinesgleichen. Manchmal spiele ich sogar mit dem Gedanken, um meine Rückversetzung zu bitten. Aber was würde dann aus mir werden? Was könnte ich auf meinem Planeten leisten? Mein Leben ist völlig einspurig konditioniert. Wenn ich es aufgebe, unter den Erdenbewohnern zu vegetieren und über sie zu berichten, dann bin ich ein Niemand. Die körperlichen Qualen sind natürlich beträchtlich. Die Anziehungskraft der Erde ist fast doppelt so stark wie die meines Planeten. Meine inneren Organe drücken konstant auf den Boden meiner Karkasse. Meine Muskeln schmerzen pausenlos. Ich brauche viel Willenskraft, um sie ständig gespannt zu halten. Tue ich es nicht, schnellen sie nach unten und die oberen Sehnenstränge reißen. Mein Herz revoltiert an einer Tour. In den elf Jahren meines Erdendaseins habe ich mich natürlich etwas den Bedingungen angepaßt – ich bin zäher und dicker geworden. Ich nehme an, daß ich unter Schwindelanfällen leiden würde, wenn man mich von einem Tag auf den anderen auf meinen Planeten zurückholen würde. Ich würde mich wahrscheinlich in Zeitlupentempo bewegen und in einem ständigen Schwebezustand sein,
der auch nicht angenehm wäre. Aber, daß ich die Anziehungskraft der Erde wirklich vermissen würde, bezweifle ich. Ich leide hier; die ständige Schwere deprimiert mich. Nicht, daß ich mich in Selbstmitleid bade. Ich habe es vorher gewußt. Man hat mich in einen Simulator gesteckt und meine Widerstandskraft gegen die Anziehungskraft der Erde geprüft. Ich habe allerdings nicht geahnt, was für ein Unterschied es ist, lebenslänglich diesem Druck standhalten zu müssen – nicht bloß eine Woche wie im Simulator. Hier kann ich nicht die Tür aufmachen und einfach rausgehen. Jedes Molekül in mir leidet. Dazu kommt der Außenkörper, den ich mit mir herumschleppen muß. Eine ekelhafte Verkleidung. Ich bin in synthetisches Fleisch gehüllt. Der schlüpfrige, kalte Kontakt mit meinem Selbst ist mehr als unangenehm. Das Gerüst, das die Fleischmassen aufrecht hält und mir die Möglichkeit gibt, sie zu bewegen, ist ein Wirrwarr aus Streben, Halterungen, Servoaktuatoren und Kabeln, mit dem ich mich auf meiner kleinen Plattform in der Bauchhöhle abquälen muß. Ganz gleich, für welche Position ich mich entscheide, sie ist unbequem, denn mein Selbst ist nicht flexibel. Meine Umwelt sehe ich mit Hilfe eines Periskops durch mechanische Augen. Der Fleischberg, in dem ich stecke, ist ein Meisterwerk an Nachbildung, das muß ich zugeben. Ich scheine überzeugend menschlich auszusehen, denn bisher hat noch niemand an mir gezweifelt. Außerdem altert mein Außenkörper von Jahr zu Jahr ein bißchen. Die Schläfen werden grauer, der Bauch wird dicker und etwas schlaffer. Er geht, er redet, er ißt und trinkt, wenn es sein muß, wobei die aufgenommenen Genußmittel –
wie es hier heißt – in einem auswechselbaren Sack gesammelt werden. Und mein Selbst mitten drin! Ein versteckter Drahtzieher. Ein blinder Passagier. Wenn ich es wagen würde, würde ich in regelmäßigen Abständen aus diesen Fleischmassen herauskriechen und nackt, das heißt nur mit meinem Selbst, im Zimmer herumkrabbeln. Aber es ist strengstens verboten. Seit elf Jahren habe ich mein Protoplasmagehäuse nicht ein einziges Mal verlassen. Manchmal denke ich, daß es bereits an mir festgewachsen und ein Teil meines Selbst geworden ist. Zu den Nahrungsaufnahmen muß ich in der Mitte aufmachen, was mehrere Minuten dauert. Dreimal täglich öffne ich mich, um die Nahrungskonzentrate in das Verdauungssystem meines Selbst zu stecken. Fehlplanung, nenne ich das. Sie hätten es wirklich so einrichten können, daß ich die Konzentrate bloß in den Erdenmund stecken muß und sie automatisch in dem Verdauungssystem meines Selbst landen. Ich nehme an, daß man bei den neueren Modellen so fortschrittlich ist. Die Ausscheidung ist genauso mühsam – ich mache auf, greife hinein, entferne die Abfallstoffe und mache wieder zu. In die Toilette damit. Eine lästige Angelegenheit. Und dann die Einsamkeit! Die Sterne zu sehen und zu wissen, daß irgendwo da droben mein Planet ist! An die anderen zu denken, die sich locken und paaren, sich teilen und abstrahieren, während ich in diesem lausigen Hotel auf einem fremden Planeten mein Leben friste, ständig nach unten gezogen werde und in einen lächerlichen Fleischkloß gesperrt bin – immer allein, immer bemüht, so zu tun, als sei ich nicht, was ich bin und als sei ich, was ich nicht bin. Spionie-
ren, fragen, berichten, senden, mit dem Elend des Alleinseins zurechtkommen, nach dem Balsam der Philosophie jagen – das ist mein Los. Von der Befriedigung abgesehen, für meinen Planeten wirklich nützlich und unersetzlich zu sein, habe ich nur einen Trost: dieses New York wird von Jahr zu Jahr unerträglicher. Die Straßen sind voll von sinnlos konstruierten Autos, die Abgase ausstoßen, die nicht abgezogen werden können. Die Erdenbewohner reden von nichts anderem mehr als von Umweltverschmutzung. Man macht sich die größten Sorgen, während ich jubiliere. Diese süße Suppe von organischen Verbindungen in der Luft ist das einzige, was mich an meinen Planeten erinnert. Sie vergiftet mich. Ich gehe durch die Straßen, atme tief und sauge die Abgase durch meine falsche Nase in meine richtige Lunge. Die Erdenbewohner müssen denken, daß ich den Verstand verloren habe. Ein Trip durch Abgase! Ob man mich wegen überglücklichen, öffentlichen Atmens verhaften kann? Ob man Gehirntests anstellt? Elizabeth Cooke läßt mich nicht in Ruhe. Lächeln auf dem Flur. Hoffnungsvolles Glühen in den Augen. »Vielleicht können wir in diesen Tagen einmal zusammen zu Abend essen, Mr. Knecht. Ich bin überzeugt davon, daß wir uns blendend unterhalten würden. Vielleicht hätten Sie ja auch Lust, meine letzten Gedichte zu lesen.« Sie zittert. Ihre Lider flattern. Sie hält den Kopf steif auf dem langen Hals. Ich weiß, daß sie manchmal Männer auf dem Zimmer hat, also ist sie nicht aus Einsamkeit oder Frustration hinter mir her. Außer-
dem bezweifle ich, daß sie sexuell auf meinen Außenkörper anspricht, der Frauen, wie ich aus Erfahrung weiß, nicht im geringsten aufregt. Nein, sie liebt mich, weil ich ihr leid tue. Der scheue, unglückliche Junggeselle am Ende des Flurs, der arme Mr. Knecht – ich muß sein düsteres Leben aufhellen. So ist es meiner Meinung nach. Wie kann ich ihr bloß entkommen? Vielleicht sollte ich in einen anderen Stadtteil ziehen. Aber ich bin so an dieses Hotel gewöhnt. Die Unkompliziertheit hier entschädigt mich teilweise für die Härte meines Auftrages. Mein Zimmer gefällt mir nun einmal. Das große Fenster und die grünen Platten im Bad. Die verblichene Tapete und die hohe Decke mit dem lustigen Lüster. Alles Dinge, die ich inzwischen liebe. Aber ich kann natürlich nicht zulassen, daß sie ein Verhältnis mit mir anfängt. Ich soll die Erdenbewohner beobachten und nicht mich mit ihnen einlassen. Meine Verkleidung ist bei genauer Besichtigung doch nicht so perfekt. Ich muß sie mir vom Leib halten – im wahrsten Sinn des Wortes. Oder fliehen.
2 Unglaublich. Es ist noch einer von uns in meinem Hotel. Ich bin durch Zufall dahintergekommen. Um eins komme ich von meinem morgendlichen Recherchentrip zurück. Elizabeth liegt in der Halle auf Lauer, tut aber so, als habe sie etwas mit dem Hoteldirektor zu besprechen. Fährt im selben Lift mit nach oben. Schaut mir direkt in die Augen.
»Manchmal denke ich, Sie haben Angst vor mir«, sagt sie. »Sie dürfen keine Angst haben. Das ist die größte Tragödie im Leben – die Menschen verschanzen sich hinter hohen Mauern vor Angst und lassen niemand an sich heran. Auch nicht diejenigen, die es gut mit ihnen meinen und ihnen Wärme schenken möchten. Sie haben keinen Grund, Angst vor mir zu haben.« Ich habe aber doch Angst vor ihr und weiß nicht, wie ich es ihr erklären soll. Um einer weiteren Unterhaltung zu entgehen, steige ich einen Stock tiefer aus. Soll sie denken, daß ich einen Freund besuche. Oder eine Geliebte. Ich gehe langsam den Flur entlang und will die Treppe hinaufsteigen. Ein Zimmermädchen stürzt an mir vorbei und steckt den Schlüssel in eine Tür: ein seltenes Vorgehen, denn sonst wird immer erst angeklopft. Sie macht die Tür auf, und der Bewohner des Zimmers ist entsetzt. Ein großer, muskulöser Mann mit nacktem Oberkörper. »Oh, Verzeihung!« ruft das Zimmermädchen und macht die Tür schnell wieder zu. Aber ich habe es gesehen. Meine Augen sind scharf. Die haarige Brust ist geöffnet. Eine dunkle Spalte, ungefähr sieben Zentimeter breit und an die vierzig Zentimeter lang, und im Innern sichtbar die schwarze, glänzende Karkasse, so wie ich sie habe. Er hat sich gerade zur zweiten Nahrungsaufnahme geöffnet. Völlig verstört ziehe ich mich Stufe für Stufe die Treppe hinauf. Keine Spur von Elizabeth auf dem Flur. Ich schleppe mich in mein Zimmer und schiebe den Riegel vor. Noch einer von uns hier? Gut, ich bin nicht der einzige. Es gibt vielleicht Hunderte in New York. Aber, ausgerechnet im selben Hotel? Ich erin-
nere mich plötzlich daran, daß ich ihn schon öfter gesehen habe – ein verschwiegener, verdrießlicher Mann, der immer einen angespannten, gehetzten Eindruck macht. Sehr wenig umgänglich. Zweifellos denken die anderen dasselbe von mir. Ich weiß nicht, wie er heißt und was er macht. Es ist strengstens verboten, mit einem von uns Kontakt aufzunehmen, außer in extremen Notfällen. Isolation gehört unvermeidlich zu unserem Beruf. Ich darf mich ihm nicht zu erkennen geben, ich darf mich nicht um seine Freundschaft bemühen. Jetzt, wo ich weiß, daß er hier wohnt, ist es noch schwerer für mich. Was wir alles zusammen unternehmen könnten! Wie wir uns gegenseitig Mut machen könnten, das gräßliche Klima, die ständige Schwere und den Druck und die ekelhafte Verkleidung leichter zu ertragen. Aber nein! Ich muß so tun, als hätte ich keine Ahnung. Die Regeln. Die harten, unbeugsamen, unumgänglichen Regeln. Ich tue meine Pflicht, und er seine. Wenn wir uns begegnen, muß ich mich verstellen. Bitte! Ich werde meinen Schwur nicht brechen. Aber es wird nicht leicht sein. Er hört auf den Namen Swanson und wohnt seit achtzehn Monaten im Hotel. Laut Direktor eine Art Musiker. »Ein seltsamer Mann. Lebt völlig abgeschlossen. Nie ein freundliches Wort, kein Lächeln. Neulich hat ein Zimmermädchen vergessen, vorher zu klopfen und hat seine Tür einfach aufgeschlossen, da hat er sich aufgeregt, als sei das das schlimmste Verbrechen auf Erden. Es gibt schon komische Käuze.« Der Direktor hält es nicht für ausgeschlossen, daß
Swanson ein Mitglied einer der alten Europäischen Königshäuser ist und hier im Exil lebt. Er würde sich wundern. Eine weitere Attacke von Elizabeth. Auf dem Flur vor meinem Zimmer. »Meine neuen Gedichte«, sagte sie. »Falls es Sie interessiert. Kann ich einen Moment reinkommen? Ich würde sie Ihnen gern selber vorlesen. Haben Sie doch nicht immer Angst vor mir. Ich beiße doch nicht, David. Wirklich. Im Gegenteil, ich bin sehr sanft.« »Tut mir leid.« »Mir auch.« Wut in den glänzenden Augen und auf den schmalen, verkniffenen Lippen. »Wenn Sie sich gestört fühlen, dann sagen Sie es doch. Aber Sie sollen ruhig wissen, wie grausam Sie sind. Ich verlange doch nichts von Ihnen. Ich biete Ihnen lediglich meine Freundschaft an. Und Sie lehnen ab. Ist mein Atem übelriechend? Bin ich denn so häßlich? Sind es meine Gedichte, die Sie abstoßen, und Sie haben nicht den Mut, es mir zu sagen?« »Elizabeth –« »Unser Leben ist so kurz. Warum können wir nicht freundlich zueinander sein? Warum können wir nicht lieben, teilen, uns hingeben? Der Realitätstrip. Kommunikation von Seele zu Seele.« Ihr Ton änderte sich. »Soviel ich weiß, kommen Sie bei Frauen nicht an. Warum, weiß ich nicht, es ist mir aber auch egal. Wir haben alle unsere Eigenheiten. Aber es muß doch nicht sexuell sein, zwischen Ihnen und mir. Nur Gespräch. Wie wenn man Kanäle öffnet. Wie bitte? Sie brauchen bloß nein zu sagen, und ich werde Sie nie mehr belästigen. Aber, sagen Sie bitte nicht nein. Man
kann dem Leben nicht die Tür verschließen, David. Wenn Sie das tun, fangen Sie an zu sterben.« Hartnäckig. Ich sollte ihr sagen, daß sie sich zum Teufel scheren soll. Aber da ist die Einsamkeit. Und sie scheint es gut zu meinen und mich wirklich aus meiner Isolation holen zu wollen. Es kann doch eigentlich nichts dabei sein. Außerdem ist ja im Notfall immer noch Swanson da. Ich werde das Risiko eingehen und Elizabeth näher an mich heranlassen. Es wird sie glücklich machen, und mich vielleicht auch. Vielleicht ergibt sich dadurch auch etwas, was informatorisch von Wichtigkeit sein könnte. Gewisse Grenzen muß ich allerdings einhalten. »Ich wollte nicht unfreundlich sein, Elizabeth. Ich glaube, Sie haben mich falsch verstanden. Ich habe nichts gegen Sie. Kommen Sie doch bitte rein.« Völlig verstört betritt sie mein Zimmer. Der erste Gast, den ich habe. Meine paar Bücher, meine bescheidenen Möbel, den Kurzwellensender in Form einer Plastik – alles streift sie mit flüchtigem Blick. Sie setzt sich. Der kurze Rock spannt sich über die dünnen Schenkel. Hübsche Beine, wenn ich die Kriterien dieses Planeten richtig verstanden habe. Ich bin fest entschlossen, keine sexuellen Ouvertüren zuzulassen. Wenn sie einen Versuch macht, rette ich mich in – ich weiß selbst nicht, in was. In Hysterie vielleicht. »Lesen Sie mir eines von Ihren neuen Gedichten vor«, sage ich. Sie macht ihr Manuskript auf und liest. Inmitten einer Nacht voll von Jazz, Zweifeln und Einsamkeit kam der Horrortrip-Gott mit kalten Händen,
und ich sah auf und schrie den Sternen mein Ja entgegen. Und Ja und noch einmal Ja. Mein Instrument ist Ja. Das Instrument des Teufels ist Nein. Und ich habe auf Dein Ja gewartet und endlich hast Du Ja gesagt. Und die Welt und die Sterne und die Bäume und das Gras und der Himmel und die Straßen sagten Ja und Ja und Ja und Ja – Sie ist in Ekstase. Ihr Gesicht ist gerötet. Ihre Augen glühen. Sie hat den Durchbruch zu mir geschafft. Nach zwei Stunden, als kein Zweifel mehr besteht, daß ich sie nicht auffordere, mit mir ins Bett zu gehen, verläßt sie mich. »Ich bin überglücklich, David, daß ich mich in Ihnen getäuscht habe«, flüstert sie. »Ich konnte mir nicht vorstellen, daß Sie das Leben ablehnen, und Sie tun es auch nicht.« Überschwenglich. Ich habe mich in tiefes Wasser begeben. Wir verbringen jeden Abend ein bis zwei Stunden zusammen. Meistens kommt sie zu mir, aber aus Höflichkeit gehe ich nach der dritten Nahrungsaufnahme auch manchmal zu ihr. Ich habe mittlerweile alles gelesen, was sie je geschrieben hat. Anstatt über Kunst zu reden, unterhalten wir uns inzwischen über Politik und Rassenprobleme. Sie hat eine gut ausgebildete, schnelle und rebellische Art zu Denken. Obwohl sie dauernd versucht, mehr über mich in Erfahrung zu bringen, merkt sie, wie überempfindlich ich in dem Punkt bin und zieht sich schnell zurück, wenn ich mich verstockt zeige. Sie fragt, was ich mache. Ich antworte, daß ich im Moment noch mit Recherchen
für ein Buch beschäftigt bin. Über das Thema lasse ich mich nicht weiter aus, und sie gibt sich damit zufrieden, um dann drei Abende später wieder davon anzufangen. Sie trinkt viel Wein und animiert mich, mitzuhalten, aber ich belasse es meistens bei einem Glas. Oft schlägt sie vor, doch zum Essen auszugehen. Ich erkläre ihr, daß ich einen komplizierten Magen habe und es vorziehe, allein zu essen. Sie nimmt es hin, kommt mir aber sofort mit Vorschlägen, wie ich dieses Problem abschaffen kann. Und kurz darauf bittet sie mich wieder, sie zum Essen zu begleiten. Gleich um die Ecke sei ein ausgezeichnetes spanisches Restaurant. Sie stellt unangenehme Fragen. Wo ich geboren bin? Ob ich ein College besucht habe? Ob ich Familie habe? Ob ich schon einmal verheiratet gewesen sei? Ob ich schon etwas veröffentlicht habe? Ich improvisiere und mache Ausflüchte. Das ist nicht weiter schwierig, aber ich habe es eben hier auf diesem Planeten noch nie zugelassen, daß jemand mir gegenüber so vertraulich und damit zudringlich wird. Was mache ich, wenn sie mich durchschaut? Und Sex. Ihre Annäherungsversuche werden immer unverblümter. Sie scheint der Meinung zu sein, daß gute Freunde auch sexuell Kontakt aufnehmen sollten. Mit Leidenschaft hat das nichts zu tun. Wenn man zusammen redet und manchmal zusammen spazierengeht, dann sollte man auch das zusammen tun. Aber das ist natürlich unmöglich. Ich habe die dazu nötigen äußerlichen Organe, kann sie aber nicht benützen. Außerdem will ich keinesfalls, daß sie meinen Außenkörper berührt. Wie soll ich ihr die Idee austreiben? Wenn ich sage, daß ich impotent bin,
setzt sie es sich in den Kopf, mich zu kurieren. Wenn ich behaupte, homosexuell zu sein, dann hat sie bestimmt auch dagegen therapeutische Maßnahmen auf Lager. Und wenn ich sage, daß sie mich körperlich einfach nicht reizt, ist sie verletzt. Diese SexBesessenheit scheint eine Art Selbstbestätigung für sie zu sein. Sie trägt oft die durchsichtige Bluse und überkurze Röcke. Bei jeder nur möglichen Gelegenheit reibt sie ihren Körper an meinem. Die Spannung steigt. Sie ist fest entschlossen, mich zu besitzen. In meinen Berichten nach Hause habe ich sie mit keinem Wort erwähnt, ich habe allerdings einige psychologische Daten gesendet, die ich durch das Zusammensein mit ihr erfahren habe. »Könnten Sie je zugeben, daß Sie in mich verliebt sind?« hat sie mich heute abend gefragt. Und dann: »Tut es nicht weh, ständig seine Gefühle zu unterdrücken? In sich selbst verschlossen dazusitzen, wie ein Gefangener seiner selbst?« Und: »Das Leben hat auch seine physische Seite, David. Die Qual, die Sie mir antun, indem Sie mich zu ignorieren versuchen, nehme ich hin, aber ich mache mir Sorgen um Sie.« Beine übereinanderschlagen. Den Rock sogar noch höher hinaufschieben. Wir steuern auf eine Krise zu. Ich hätte mich nicht darauf einlassen dürfen. Ein unerträglich heißer Sommer hat sich auf die Stadt gesenkt. Bei hohen Temperaturen ist mein Nervensystem sowieso immer am Zerreißen. Ich sollte um meine Versetzung auf meinen Planeten bitten, bevor es Ärger gibt. Vielleicht sollte ich mich mit Swanson zusammensetzen und
das Problem mit ihm besprechen. Ich glaube, meine Situation kann als Notzustand betrachtet werden. Elizabeth ist heute bis nach Mitternacht geblieben. Ich mußte sie schließlich bitten, zu gehen: noch zu arbeiten. Eine Stunde später schiebt sie einen Umschlag unter meiner Tür durch. Letzte Ergüsse. Liebesgedichte. Zittrige Handschrift. David: Du bedeutest mir alles. Die Sterne und die sphärischen Nebel. Laß mich Dir meine Liebe zeigen. Kannst Du Glück nicht akzeptieren? Denke darüber nach. Ich bete Dich an. Worauf habe ich mich da bloß eingelassen? Sechsunddreißig Grad im Schatten. Der vierte Tag unerträglicher Hitze. Habe mittags Swanson im Lift getroffen. Hätte ihm fast alles erzählt. Ich muß vorsichtiger sein. Meine Selbstbeherrschung läßt nach. Vergangene Nacht habe ich so unter der Schwüle gelitten, daß ich fast aus meinem Außenkörper herausgekrochen wäre. Die Maschinerie, die mich umgibt, wird immer unzumutbarer. Ich ecke pausenlos an. Der Versuchung nur mühsam widerstanden. Die Anziehungskraft der Erde macht mir auch immer mehr zu schaffen. Ich bilde mir ein, daß meine Karkasse an mehreren Stellen gesprungen ist. Wäre heute fast auf der Straße zusammengebrochen. Das hätte mir noch gefehlt! Und dann vielleicht Fluoroskopuntersuchungen in einem Krankenhaus. Ihr Knochenbau, Mr. Knecht, ist sehr seltsam... Und dann eine Operation vor dreitausend Studen-
ten und ein Eilbericht an die UNO. Bedrohung aus dem All. Ja, ich muß vorsichtiger sein. Ich muß...
3 Jetzt habe ich es doch getan. Elf Jahre treuen, gewissenhafter Dienstes in einem einzigen Moment zerstört. Verletzung der Grundregel. Ich kann es kaum glauben. Wie war es möglich, daß ich – daß ausgerechnet ich mit meinem Respekt für meine Verantwortung, daß ich auch nur auf die Idee gekommen bin, daß ich tatsächlich – Aber das Wetter war erstickend. Drei Wochen dauert die Hitze welle nun schon an. Ich bin in meinem synthetischen Körper fast umgekommen. Und die Schwerkraft – ob gleichzeitig eine Gravitationswelle über New York wegrollt? Der Zug nach unten ist schlimmer denn je. Meine inneren Organe müssen schon total aus der Form sein. Elizabeth ist lästiger als lästig, leidenschaftlich, emotionell, weinerlich, poetisch, aufdringlich, läßt mich nicht in Ruhe und fleht nach einer glühenderen Flamme. Erklärt ihre Liebe in Sonetten, in Epen, in Haiku. Verbringt zwei Stunden in meinem Zimmer, hockt mir zu Füßen und redet von der versteckten Schönheit meiner Seele. »Öffne dich und laß die Liebe in dich eindringen«, hat sie mir zugeflüstert. »Es ist wie eine Beichte vor Gott und reißt alle Mauern nieder. Warum denn nicht, David, ich flehe dich an: warum nicht?« Ich konnte ihr nicht sagen, warum nicht, und sie ging. Aber um Mitternacht war sie wieder vor meiner Tür und klopfte. Ich habe sie hereingelassen. Sie trug
einen knöchellangen glitzernden Fummel. »Ich bin high«, sagte sie mit heiserer Stimme. »Drei Joints habe ich rauchen müssen, bis ich den Mut hatte, noch mal raufzukommen. Aber, hier bin ich. David, ich habe den Ausweichtrip satt. Wir waren uns so wundervoll nahe, und dann steigst du aus und bist zum letzten nicht bereit.« Kichern. »Aber das wird sich diese Nacht noch ändern. Enttäusche mich nicht, Darling. Bitte nicht.« Läßt den Fummel fallen und ist drunter splitternackt. Schmale Taille, knochige Hüften, lange Beine, dünne Schenkel, blaue Adern auf den Brüsten. Ihr Haar wild verstruwwelt. Eine Hexe. Eine Prophetin. Läuft Amok. Sie kommt auf mich zu, die Augen nur noch Schlitze, der Mund geöffnet, mit einer Zunge, die schlangenartig hin und her geht. Wie fleischlos sie ist! Schweißperlen auf der flachen Brust. Sie packt mich an den Handgelenken und zerrt mich zum Bett. Wir tun ein bißchen hin und her. In meinen synthetischen Körper lege ich Relais ein und stelle Hebel. Ich bin stärker als sie und mache mich frei. Sie steht plötzlich vor mir, ihre Augen glühen vor Wut. Ihre unbenutzte Nacktheit wirkt traurig. »David! David! David!« Sie schluchzt hemmungslos und fleht mit Augen und Brüsten. Sie nimmt ihre ganze Kraft zusammen und startet den nächsten Überfall, aber ich sehe es kommen und ducke mich zur Seite. Sie saust an mir vorbei und landet auf dem Bett. Sie vergräbt das Gesicht im Kissen und verkrallt sich im Laken. »Warum? Warum, warum, warum, warum?« schreit sie. In spätestens einer Minute steht der Hoteldirektor mitten im Zimmer. Mit der Polizei.
»Bin ich denn so abstoßend? Ich liebe dich, David, weißt du denn überhaupt, was das bedeutet? Liebe, Liebe!« Sie setzt sich auf und fleht. »Stoße mich nicht zurück, David, ich würde es nicht ertragen. Ich wollte dich doch bloß glücklich machen. Nichts anderes, aber ich habe nicht gewußt, wie unglücklich du mich machst. Und du stehst einfach da und sagst nichts. Was bist du eigentlich? Eine Maschine?« »Ich sage dir, was ich bin.« In dem Moment schlittere ich dem Abgrund entgegen. Alle Selbstbeherrschung weg, alle Vorsicht. So beschmiert mit rohen Emotionen, daß Überleben nichts mehr bedeutet. Ich muß ihr erklären, was los ist. Ich muß es ihr zeigen. Ganz gleich, zu welchem Preis. Ich ziehe das Hemd aus. Sie bekommt rote Flecken am Hals. Ganz bestimmt denkt sie, daß es endlich so weit ist. Meine Hände gleiten über meine nackte Brust und tasten nach den winzig kleinen Karabinerhaken. Ich mache meinen Außenkörper auf. Tief in meinem Selbst schreit etwas. NEIN, NEIN, NEIN, NEIN, NEIN... aber ich achte nicht darauf. Mit heiserer Stimme: »Schau mich an, Elizabeth, schau. Das bin ich. Steig endlich aus. Da hast du deinen Realitätstrip.« Meine Brust klafft auf. Ich stoße mich nach oben, steige zwischen die Verstrebungen und Halterungen und tauche halb aus meiner menschlichen Hülle aus. Seit dem Tag, wo sie mich auf meinem Planeten eingebaut haben, war ich nicht so weit außerhalb meines Außenkörpers. Ich zeige ihr meine glänzende Karkasse. Ich rolle meine Augenstiele in alle Richtungen. Ich strecke sogar ein paar von meinen Zangen heraus.
»Siehst du es jetzt? Ein großer schwarzer Krebs aus dem Weltall. Das liebst du, Elizabeth, das bin ich. David Knecht ist bloß ein Kostüm, und das steckt im Inneren.« Ich habe den Verstand verloren. »Du willst Realität? Das ist Realität, Elizabeth. Was kannst du schon mit dem Körper von Knecht anfangen? Er ist Betrug. Eine Maschine. Komm doch, komm näher. Willst du mich küssen? Soll ich auf dich draufsteigen und dich lieben?« Auf ihrem Gesicht eine Reihe verschiedenster Reaktionen. Anfangs totaler Unglauben, dann schieres Entsetzen, begleitet von hastig ausgestoßenen Kehllauten, weitaufgerissenen Augen und körperlicher Steifheit. Hände über die Brüste gespreizt. Als die ihr wohlbekannte, aber verbitterte Knecht-Stimme fortfährt, plötzliche Weiche auf dem Gesicht, gemischt mit Neugierde. Die Sensibilität der Schriftstellerin gewinnt die Oberhand. Nichts ist mir fremd. Auch Fremdes nicht. Sie akzeptiert, was ihre Augen sehen. »Was bist du? Woher kommst du?« Und ich sage: »Ich habe das Gesetz Nummer eins verletzt. Ich verdiene, geströmt und verflüssigt zu werden. Wir dürfen uns nicht zu erkennen geben. Wenn wir das Opfer irgendeines Unfalls werden und damit rechnen müssen, daß man uns entlarvt, erwartet man von uns, daß wir uns explodieren. Der dazu nötige Schalter ist hier rechts.« Sie kommt näher und späht durch den Spalt in Knechts Brust. »Von einem anderen Planeten? Du lebst hier in einer Verkleidung?« Sie hat verstanden. Der Schock läßt nach. Sie lacht sogar. »Ich habe schon Schlimmeres gesehen«, sagt sie. »Ich habe keine Angst vor dir.
David. Ach, übrigens, soll ich dich weiterhin David nennen?« Das darf doch nicht wahr sein! Ich zeige mein wahres Selbst, um sie zu verjagen, und sie lächelt und bleibt. Sie kniet sich auf das Bett, um besser sehen zu können. Ich mache ein paar Schritte zurück. Meine Augenstiele gehen nervös hin und her – irgendwie habe ich die Kontrolle über die Situation verloren. »Ich wußte, daß du außergewöhnlich bist«, sagt sie. »Aber daß du so außergewöhnlich bist, habe ich natürlich nicht ahnen können. Aber mir macht das nichts aus. Ich habe mich in deine ureigentliche Persönlichkeit verliebt, und das allein zählt. Wen interessiert es schon, ob du ein Krebsmensch aus der grünen Galaxie bist oder nicht? Wen interessiert es schon, daß wir uns nie echt lieben können – körperlich, meine ich. Mir wird dieses Opfer nicht schwerfallen. Ich liebe deine Seele, David. Bitte, mach dich wieder zu. Du machst nicht den Eindruck, als sei das sonderlich bequem so.« Der Triumph der Liebe. Sie läßt nicht von mir, nicht einmal jetzt. Katastrophe! Ich krieche in Knecht zurück, hebe seine Arme und mache seine Brust wieder zu. Langsam begreife ich die Ungeheuerlichkeit dessen, was ich getan habe. Wie konnte ich? Und Elizabeth sieht mir zu. Mit großen Augen der Begeisterung. Endlich bin ich wieder zugehakt. »Hör zu«, sagt sie. »Du kannst mir vertrauen. Sogar wenn du eine Art Spion bist, ist mir das egal. Wirklich! Von mir erfährt es keine Menschenseele. Mach deinem Herzen Luft. Erzähl alles über dich. Begreifst du das denn nicht? So etwas ist mir noch nie passiert.
Endlich der Beweis, daß wirkliche, echte Liebe nicht nur körperlich ist, sondern ein Seelentrip, der sich nicht nur über Rassenprobleme hinwegsetzt, sondern über das gesamte Universum, über den eigenen Planeten –« Es dauerte mehrere Stunden, bis ich sie endlich loshatte. Elizabeth redete und redete, und ich nickte bloß. »Ich muß dich jetzt verlassen, David«, sagte sie endlich. »Ich muß mich an meine Maschine setzen und diese außergewöhnliche Nacht in einem Gedicht festhalten, bevor sie ihre Macht verliert. Aber beim Morgengrauen bin ich wieder bei dir, einverstanden? Sagen wir in ungefähr fünf Stunden. Du wirst doch da sein. Du wirst doch nichts Dummes tun? Oh, ich liebe dich so sehr, David. Du glaubst es mir doch, oder?« Als sie weg war, stand ich lange am Fenster und versuchte, mich zu sammeln. Ich war völlig am Rande. Allein ihre Küsse! Über das ganze Gesicht, über den Hals und an der Nahtstelle entlang, wo Knechts Brust aufgeht. Die Faszination des Abscheulichen. Sie liebt mich auch als Krebs. Ich brauchte Hilfe. Ich ging zu Swanson und klopfte. Es dauerte eine ganze Weile, bis er zur Tür kam; wahrscheinlich war er gerade am Senden. »Swanson!« rief ich. »Swanson, machen Sie doch auf.« In meiner Verzweiflung machte ich das Notsignal unseres Planeten. Fast in derselben Sekunde ging die Tür auf.
»Laß mich rein«, sagte ich hastig. »Ich bin in der schlimmsten Situation, die man sich denken kann.« »Woher weißt du Bescheid?« fragte er. »Als das Zimmermädchen bei dir hereingeplatzt ist, ging ich zufällig an deiner Tür vorbei.« »Aber du darfst doch nicht –« »Außer im Notfall. Und der ist eingetreten.« Er stellte seinen Kurzwellensender ab und hörte mir aufmerksam zu. Seine Stirn war gerunzelt. Er war entsetzt, ließ mich aber nicht im Stich. Wir kamen von demselben Planeten, hatten dieselben Qualen zu ertragen, dieselbe Einsamkeit. »Und was hast du jetzt vor?« fragte er. »Du kannst sie nicht einfach umbringen. Außerdem ist das verboten.« »Ich will sie ja gar nicht umbringen. Ich will sie mir bloß vom Hals schaffen. Ich will, daß sie mich nicht mehr liebt.« »Aber, wie willst du denn das machen?« »Indem ich sie betrüge und ihr zeige, daß ich jemand anders liebe. Das vertreibt sie. Kein Platz in meinem Leben für sie. Daß sie Bescheid weiß, ist egal. Es glaubt ihr ja doch niemand. Der FBI wird lachen und ihr sagen, sie soll lieber aufhören, LSD zu schlucken. Wenn ich es nicht schaffe, ihre Liebe zu mir zu zerstören, bin ich erledigt.« »Jemand anders lieben? Wie denn?« »Wenn sie beim Morgengrauen in mein Zimmer kommt«, sagte ich, »findet sie uns beide zusammen im Bett und sieht, wie wir uns gerade teilen und abstrahieren. Das muß doch hinhauen, glaubst du nicht?«
So betrog ich Elizabeth mit Swanson. Die Tatsache, daß wir beide männliche Außenkörper trugen, war nebensächlich. Wir gingen in mein Zimmer und krochen aus unseren synthetischen Fleischhüllen. Eine Art Rauschzustand befiel uns. Zwei vom selben Planeten und jeder sich bewußt, was der andere wollte und brauchte. Ich schob den Riegel an der Tür nicht vor, und Swanson und ich krabbelten auf mein Bett. Wir begannen zu locken. Wie seltsam, nach all den Jahren der Einsamkeit, diese Wallungen wieder zu spüren. Und wie schön! Swansons Sinneshaare berührten meine, ein Wechselspiel voll Harmonie, wenn seine Technik auch ziemlich hart war. Aber er war irgendwie wütend, daß ich mich so idiotisch verhalten hatte – und das zu recht. Aber sobald wir vom Locken zum Teilen übergingen, war alles vergessen. Und als wir abstrahierten, da war es einfach unsagbar. Eine Unendlichkeit sich steigernder Entleerungen. Die Dämmerung brach herein, aber wir waren nicht bereit, aufzuhören. Nicht einmal, um einen Moment zu verschnaufen. Klopfen an der Tür. Elizabeth. »Herein!« rief ich. Ein verträumter, schwärmerischer Zug auf ihrem Gesicht, die nächste Sekunde – als sie uns eng umschlungen auf dem Bett sah – wie weggewischt. Völlig außer sich. »Wir haben uns gepaart«, sagte ich. »Hast du denn geglaubt, ich lebe wie ein Einsiedler?« Sie schlug eine Hand vor den Mund. Ihr Blick ging zwischen mir und Swanson hin und her. Ich trug noch dicker auf. »Ich konnte dich nicht daran hindern, dich in mich zu verlieben. Elizabeth, aber ich ziehe meinesgleichen
vor – was doch wohl verständlich ist.« »Aber, daß du sie jetzt bei dir hast. Du hast doch gewußt, daß ich zurückkomme.« »Es ist kein Weibchen. Und auch kein Männchen.« »Wie konntest du so grausam sein, David. So eine wundervolle Begebenheit zu ruinieren!« Sie streckt einige Bogen Papier von sich. »Ein Sonett. Über diese Nacht. Über deren Schönheit. Und jetzt – jetzt –« Zerknittert die Blätter und wirft sie auf den Boden. Dreht sich um und läuft schluchzend aus dem Zimmer. »David!« Ein erstickter Schrei, und die Tür knallt zu. Nach zehn Minuten wieder zurück. Swanson und ich waren noch nicht ganz mit dem Anziehen unserer Außenkörper fertig – beide noch an der Brust offen. Wir hatten gerade darüber gesprochen, was denn nun werden solle. Swanson war der Meinung, daß ich um meine Versetzung bitten müsse. Nach den Indiskretionen dieser Nacht sei meine Mission hier durch mein Verhalten beendet. Ich konnte ihm in gewissen Punkten nur Recht geben, aber der Gedanke, diesen Planeten zu verlassen, war mir zuwider. Von den physischen Beschwerden einmal abgesehen, fühlte ich mich hier zu Hause. Und dann kam Elisabeth herein. Strahlend. »Ich darf nicht so egoistisch sein«, sagte sie. »Nicht so spießig. So konventionell. Ich bin bereit, meine Liebe zu teilen.« Sie umarmte und küßte Swanson, sie umarmte und küßte mich. »Wir leben einfach zu dritt. Daß ihr beide ein körperliches Verhältnis habt, stört mich nicht im geringsten. Schließt mich bloß nicht ganz aus eurem Leben aus. David, wir hätten uns doch nie körperlich lieben können, oder? Aber es bleiben uns ja die anderen Seiten der Liebe. Und wir
nehmen unseren Freund mit offenen Armen auf. Ja? Ja? Ja?« Swanson und ich baten um Versetzung. Er nach Afrika und ich nach Hause, auf meinen Planeten. Es würde seine Zeit dauern, bis Antwort kam. Bis dahin waren wir auf Gedeih und Verderb Elizabeths Launen preisgegeben. Swanson hatte natürlich eine berechtigte Wut auf mich, aber was war mir anderes übrig geblieben? Und Elizabeth mußten wir eben in Kauf nehmen. Sie überschüttete uns mit zärtlicher Liebe. Wir brauchten uns nur umzudrehen, und da war sie: liebend, verstehend und noch einmal liebend. Sie brachte Licht in das Dunkel unseres Lebens. Die armen Kreaturen! Leidet ihr sehr unter unserer Erdanziehung? Und die Hitze? Und der Winter? Wird auf eurem Planeten auch geheiratet? Habt ihr Poesie? Ein glückliches Dreigespann. Wir gingen zusammen ins Theater. In Konzerte. Sogar zu Parties im Village. »Meine Freunde«, stellte uns Elizabeth vor und ließ keinen Zweifel daran, daß sie mit uns beiden zusammenlebte. Sie fand sich progressiv. Swanson spielte mit, machte mir aber Vorwürfe. Elizabeth veröffentlichte noch einen selbstverlegten Gedichtband – uns beiden gewidmet. Triple Trips hieß er und lief über von Erotik. Ich schickte ein paar der Gedichte nach Hause, dann verließ mich der Mut, und ich versteckte das Manuskript im Schrank. »Hast du noch nichts von deiner Versetzung gehört?« fragte ich Swanson zweimal pro Woche. Er hatte nichts gehört. Ich auch nicht. Der Herbst kam. Elizabeth, die ihre Kerze an beiden Enden angezündet hatte, sah immer ausgemer-
gelter und fiebriger aus. »Ich habe nie solches Glück gekannt«, war ihr stetes Wort, eine Hand auf meinen und eine auf Swansons Arm gelegt. »Daß ihr anders seid, habe ich völlig vergessen. Ihr seid wundervolle, einsame Leute, in die Dunkelheit dieser gräßlichen Stadt gesteckt.« Einmal kam sie auf eine ganz besonders absurde Idee: »Und wenn alle so sind wie ihr, und ich der einzige Mensch auf der Erde bin? Aber das ist Unsinn. Ihr seid die einzigen, die außergewöhnlich sind. Ihr seid die Pioniere eures Planeten. Bereitet euer Planet eine Invasion auf uns vor? Ich hoffe es inständig. Dann wird alles wieder normal und Liebe und Vernunft werden endlich regieren.« »Wie lange soll das noch weitergehen?« murmelte Swanson. Ende Oktober kam die Nachricht, daß sein Antrag genehmigt sei. Ohne ein Wort des Abschieds, ohne Hinterlassung einer Adresse, war Swanson weg. Wo mochte er sein? In Nairobi? In Addis Abeba? In Kinshasa? Ich habe mich daran gewöhnt, ihn um mich zu haben und die Bürde mit ihm zu teilen. Jetzt war ich das alleinige Ziel ihrer sengenden Liebe. Meine Arbeit litt darunter. Ich hatte keine Zeit, meine Berichte ordentlich auszufeilen. Außerdem lebte ich in der ständigen Angst, sie könne den Mund nicht halten. Was erzählte sie ihren Freunden im Village? Wenn sie mich doch nach Hause lassen würden! Am dreizehnten November kam die Antwort über Kurzwelle: Antrag abgelehnt. Auf der Erde bleiben und Arbeit fortsetzen. Nur in akutem Krankheitsfall Abberufung.
Ich spielte mit dem Gedanken, meine Situation wahrheitsgetreu zu schildern, kam aber schnell wieder davon ab. Unmöglich! Ich war verzweifelt. Es folgte eine Depression. »Warum bist du denn so traurig?« fragte Elizabeth. Was hätte ich antworten können? Daß mein Versuch, ihr zu entkommen, gescheitert war? »Ich liebe dich«, sagte Elizabeth. »Ich habe nie so intensiv gelebt.« Nibbelt an meinem Ohr, die Finger in meine Haare verkrallt. Verführerisches Flüstern. »David, mach dich auf. Öffne dich mir. Deine Brust, meine ich. Laß mich dein inneres Selbst sehen. Ich möchte mir noch einmal beweisen, daß ich keine Angst vor dir habe. Bitte. Du hast dich mir nur ein einziges Mal gezeigt.« Ich war angeekelt, gab aber nach. Sie hatte keine Angst. Total verklärt. Sie ist eine kosmische Last, aber ich fürchte, ich fange an, sie gern zu haben. Kann ich sie denn verlassen? Ich hätte etwas darum gegeben, Swanson bei mir zu haben. Ich brauche Rat. Entweder ich breche mit Elizabeth oder mit meinem Planeten. Es ist absurd. Täglich neue Abgründe der Verzagtheit. Ich bin unfähig zu arbeiten. Ich habe nochmals um Versetzung gebeten, ohne Details anzugeben. Der erste Schnee heute. Gesuch abgelehnt. »Als ich dich mit Swanson im Bett sah«, sagte sie, »war das ein fürchterlicher Schock für mich. Schlimmer als in dem Moment, wo du zum erstenmal ein Stück aus deiner Brust herausgekrochen bist. Zugegeben, es war schon irgendwie erschreckend, daß du
kein Mensch bist, aber emotionell hat es mich nicht getroffen. Aber dich ein paar Stunden später mit deinesgleichen im Bett vorzufinden und zu wissen, daß du mich ausschließen und mir keinen Platz in deinem Leben lassen willst – aber wir haben ja eine Lösung gefunden, nicht wahr?« Küßt mich. Freudentränen. Wie ist das alles nur so gekommen? Wann hat es angefangen? Die Existenz war einmal so leicht. Ich versuche, die Kette der Ereignisse zurückzuverfolgen, aber es gelingt mir nicht. Heute war ich ganze acht Stunden aus meinem Außenkörper heraus. Die längste Zeit bisher. Elizabeth will die Winter mit mir auf irgendeiner warmen Insel verbringen. Im Haus von Freunden. Ich darf meinen Posten natürlich nicht ohne Erlaubnis verlassen; und es dauert Monate, bis Antwort kommt. Lassen Sie mich die Wahrheit sagen: Ich liebe sie. Erster Januar. Das neue Jahr beginnt. Ich habe meine Rücktrittserklärung nach Hause geschickt und anschließend meinen Kurzwellensender zerstört. Die Verbindung ist damit unterbrochen. Morgen, wenn die Behörden wieder geöffnet sind, bestellen Elizabeth und ich das Aufgebot.
Originaltitel: THE REALITY TRIP Aus THIS SIDE OF INFINITY edited by Terry Carr Copyright © 1972 by ACE Books Übersetzt von Elisabeth Böhm
Roger Zelazny DAS FEUERZEICHEN 1 Ich sah auf ihn hinunter, und der Magen drehte sich mir um. Wo führte er hin? Zu den Sternen? Wortlos starrte ich hinaus und verfluchte die Tatsache, daß er existiert und ihn jemand entdecken mußte, solange es mich noch gab. »Na?« sagte Lanning und steuerte den Flugkörper so, daß ich hinaufsehen konnte. Ich schüttelte den Kopf und schirmte meine Augen ab, die bereits durch eine Sonnenbrille geschützt waren. »Schafft ihn weg«, sagte ich schließlich. »Geht nicht. Er ist größer als ich.« »Größer als alles«, sagte ich. »Aber uns kann er wegschaffen.« »Unsinn. Ich mache ein paar Aufnahmen.« Er flog darum herum, und ich bediente die Kamera. »Kannst du nicht näher ran?« »Nein, die Winde sind zu stark.« »Denke ich mir.« Also arbeitete ich mit Teleobjektiv und Skandierungsapparat. »Ich muß den Gipfel sehen.« »Wir sind bereits bei zehntausend Metern, und mehr als zwanzigtausend macht dieses Baby hier
nicht. Der Berg reicht weit in die Atmosphäre hinein.« »Komisch, von hier aus glaubt man gar nicht, daß er so riesig ist.« Lanning zündete sich eine Zigarette an und nahm sich einen Würfel Kaffeekonzentrat. »Reichlich hoch, was, Whitey?« sagte er und kaute darauf herum. Ich heiße Jack Summers und nur meine Freunde nennen mich Whitey. »Ein Berg, der fünfzigtausend Meter hoch ist«, sagte ich nach einer Weile, »ist kein Berg. Es ist eine Welt für sich, die irgend so ein bescheuerter Gott vergessen hat, ins All zu schleudern.« »Du bist also nicht daran interessiert?« Ich ließ den Blick über die grauen und violetten Hänge in die Höhe schweifen, bis man keine Farben mehr erkennen konnte und alles schwarz war. Den Gipfel konnte man immer noch nicht sehen. Meine Augen brannten hinter den Schutzgläsern. Riesige Wolken stießen an unsichtbare Silhouetten und wirkten wie Eisberge am Himmel. Ich hörte das Heulen der Winde die versuchten, die Größe des Berges abzumessen und scheiterten. »Doch, ich bin grundsätzlich schon daran interessiert«, sagte ich. »Fliegen wir in die Stadt zurück. Ich habe Hunger.« Lanning nahm Kurs nach Süden, und ich sah mich nicht ein einziges Mal nach ihm um, spürte ihn aber in meinem Rücken. Die Graue Schwester war die höchste Erhebung des Universums, und ihr Gipfel war unberührt wie eine Jungfrau. Während der darauffolgenden Tage folgte mir ihr
Schatten. Ich verbrachte viele Stunden über den Aufnahmen, studierte Karten, die ich irgendwo ausgegraben hatte und sprach mit Leuten, die sehr seltsame Geschichten über die Graue Schwester zu erzählen hatten... Ich erfuhr nicht viel Ermutigendes über den Planeten, auf dem der Berg stand. Vor ein paar Jahrhunderten – damals hatte es die Raumschiffe, die schneller als das Licht sind, noch nicht gegeben – hatte man versucht, den Planeten zu kolonisieren, aber die ersten Bewohner waren durch eine Seuche hinweggerafft worden. Die neue Kolonie war vier Jahre alt. Sie hatte bessere Ärzte, und die Seuche war besiegt. Der Berg schien niemand sonderlich zu interessieren. Man hatte ein paar Versuche unternommen, ihn zu besteigen, aber ohne großen Erfolg. Während des Tages zog sich der Himmel nie zu. Das grelle Licht stach einem gnadenlos in die Augen, und ich mußte draußen meine Schutzbrille ständig tragen. Meistens jedoch saß ich in der Hotelhalle, meine Aufnahmen und Karten vor mir ausgebreitet, und sprach jeden an, der auch nur einen Blick darauf warf. Lannings Fragen ignorierte ich. Ich wußte, was er wollte. Sollte er nur warten. Und er wartete. Mit einer solchen Geduld, daß es mich schon wieder ärgerte. Er wußte, daß mich der Berg nicht mehr losließ und wollte dabeisein, wenn es passierte. Mit seiner Story über die Besteigung des Kasla hatte er ein Vermögen verdient, und ich war überzeugt davon, daß er den ersten Satz für diese auch schon parat hatte. Am Ende der Woche landete ein Raumschiff und drei Unsympathen stiegen aus und stürmten kurz
darauf die Hotelhalle. Ich hätte Henry umbringen können. »Du hast die Presse verständigt«, sagte ich und bohrte meinen Blick durch das Wirrwarr seines Nervensystems, bis er diesen empfindlichen Tumor erreichte, den sie das Vorderhirn nennen, aber Henry reagierte nicht einmal. Ich versteckte mich hinter meinem Augenschutz und machte ein geistesabwesendes Gesicht, doch es nützte nichts. Schon sprach mich einer von den Unsympathen an. »Verzeihen Sie, Sie sind doch Jack Summers, nicht wahr!« »Ja, das ist Mad Jack, der Mann, der auf Dreiundzwanzig den Mount Everest bestiegen hat«, sagte Henry, als das Schweigen peinlich wurde. »Und auf Einunddreißig den Mount Kasla, der mit seinen 26 970 Metern als der höchste Berg des Universums galt. Mein Buch...« »Ja«, sagte der Reporter. »Mein Name ist Cary. Ich bin von der G P. Meine Kollegen arbeiten für zwei andere Syndikate. Wir haben gehört, daß Sie die Graue Schwester besteigen wollen.« »Dann hat man Sie falsch informiert«, sagte ich. »So?« Die anderen beiden kamen dazu. »Wir dachten, daß Sie –« begann einer. »... daß Sie bereits eine Seilschaft beisammen haben«, fuhr der andere fort. »Sie haben also nicht vor, die Graue Schwester zu besteigen?« fragte Cary, während einer von den anderen beiden meine Aufnahmen durchblätterte und der andere seine Kamera zückte.
»Tun Sie bloß das Ding weg«, sagte ich wütend und hielt eine Hand vor das Gesicht. »Meine Augen vertragen kein grelles Licht.« »Verzeihen Sie, dann nehme ich den Infra«, sagte er und kramte in seiner Fototasche. Cary wiederholte seine Frage. »Ich habe bloß behauptet, daß Sie falsch informiert sind«, sagte ich. »Ich habe nicht behauptet, daß ich den Berg besteige, und ich habe auch nicht behauptet, daß ich es nicht tue. Ich bin noch nicht entschlossen.« »Aber, falls Sie sich dazu entschließen, wann soll dann die Expedition starten?« »Keine Ahnung.« Henry ging mit den drei Unsympathen zur Bar und gab Erklärungen ab, die mehr aus Gesten als aus Worten zu bestehen schienen. Ich verzog mich. Draußen war es bereits ziemlich dunkel. Ich schlenderte nachdenklich durch die Straßen, und die Graue Schwester winkte mir aus der Ferne zu. Ein Stück Mitternacht um acht Uhr abends. Die Stunden dazwischen starben wie die Entfernung zu ihren Füßen, und ich wußte, daß sie mir überallhin folgen würde – selbst in meinen Schlaf hinein. Und in dem Moment war ich entschlossen. Die folgenden Tage waren ein Spiel, das mich amüsierte. Angebliche Unentschlossenheit wird zum Genuß, wenn alles um einen herum eine Entscheidung fordert. Mein Blick wanderte immer wieder zu ihrem Gipfel, und ich wußte, daß ich dazu geboren war, sie zu unterwerfen und zu besitzen. Erst dann konnte ich wieder zu mir selbst finden, vielleicht wieder heiraten und ein Leben führen, bei dem ich nicht ständig
Angst haben mußte, Fett anzusetzen. Dann konnte ich endlich alles tun, was ich mir bisher verkniffen hatte und was mich vor viereinhalb Jahren, als ich zur Kasla-Expedition aufgebrochen war, meine Ehe gekostet hatte. Ich betrachtete die Graue Schwester über die AchtUhr-Welt hinweg, und sie war schwarz und edel und geduldig wie immer. Sie wartete auf mich.
2 Am darauffolgenden Morgen schickte ich die Aufforderungen durch den Kosmos. Die Empfänger hatte ich zum Teil seit Jahren nicht gesehen. Der Text war jeweils gleich: Falls an größter Expedition seit Zeitgeschehen interessiert – Treffpunkt Diesel. Die Graue Schwester raubt den Atem. Antwort erbeten an Hotel Lodge, Georgetown, Whitey. Ich sagte Henry nichts. Nicht ein Wort. Es war meine Angelegenheit. Ich brach vor dem Morgengrauen auf und hinterließ ihm eine Nachricht: Bin in einer Woche zurück. Halte die Festung. Mad Jack. Ich mußte die unteren Regionen auskundschaften – sozusagen den Saum ihres Rockes – bevor ich sie meinen Freunden vorstellte. Es heißt, daß nur ein Irrer allein klettert, aber man nennt mich nicht umsonst Mad Jack. Die Nordseite sah vielversprechend aus. Ich brachte meinen gemieteten Flugkörper möglichst nah heran und setzte vorsichtig auf. Ich stieg aus, schloß ab und machte mich mit meinen Geräten auf den Weg.
Berge zu meiner Rechten, Berge zu meiner Linken und in meinem Rücken, noch schwarz wie die Sünde im ersten Dämmerschein eines gleißend weißen Tages. Vor mir ein fast sanfter Hang, der unendlich in die Höhe ging. Über mir die Sterne und um mich herum ein eisiger Wind. Und über allem tiefes Schwarz. Ich fragte mich zum tausendsten Mal, was wohl ein Berg wiegen mochte. Nirgends ein Wölkchen. Kein Laut, nur der Tritt meiner Stiefel. Den Augenschutz um den Nacken. Die Hände in meinen Handschuhen feucht. Mein Atem heiß. Ich zählte und sah mich nach tausend Schritten um. Mein Flugkörper war nicht mehr zu sehen. Noch tausend Schritte, und ein paar Sterne gingen aus. Nach einer Stunde ungefähr mußte ich meinen Augenschutz aufsetzen. Der Wind hatte zugenommen. Sie war so groß, daß das Auge sie nicht mit einem Blick erfassen konnte. Ich drehte den Kopf von einer Seite zur anderen und beugte mich zurück. Den Gipfel konnte ich nicht sehen. Einen irren Moment lang überfiel mich die Höhenangst, und ich bildete mir ein, nach unten zu sehen, nicht hinauf. Nach weiteren zwei Stunden gönnte ich mir eine Verschnaufpause und aß eine Kleinigkeit. Wie war eine solche Formation zustandegekommen? Ich war gespannt, was Doc und Kelly und Mallardi sagen würden, wenn sie die Graue Schwester sahen. Aber – ich bin kein Geologe, ich bin Bergsteiger. Ich sah wieder in die Höhe. Ein paar Wolken zogen an ihr vorbei. Aufgrund meiner Aufnahmen war ich überzeugt davon, daß die ersten fünfzehn bis zwanzig Kilometer keine Schwierigkeit boten. Ich packte meine Sachen zusammen und machte mich wieder
auf den Weg. Ein guter Tag – ich hatte es im Gefühl. Es war wirklich ein guter Tag. Am späten Nachmittag kam ich zu einer Art Pfad. Auf Diesel ist es an die neun Stunden hell, und ich stieg fast die ganze Zeit. Der Pfad war so gut, daß ich nach Sonnenuntergang noch ein paar Stunden weiterging und eine beachtliche Strecke hinter mich brachte. Ich mußte bereits mein Sauerstoffgerät benutzen, und die Heizvorrichtung in meinem Anzug war angestellt. Die Sterne standen wie glitzernde Blumen am Himmel, der Aufstieg war leicht und die Nacht meine Freundin. Ich kam zu einem großen Plateau und schlug mein Camp unter einem Felsüberhang auf. Hier schlief ich und träumte von schneeigen Frauen mit Brüsten wie die Alpen, die in der Morgensonne rötlich schimmerten. Sie sangen wie der Wind und lachten, und ihre Augen waren Gletscherprismen. Und schließlich entflohen sie durch ein Wolkenfeld. Am nächsten Tag schaffte ich ein beachtliches Stück. Der Pfad wurde schmal und brach teilweise ganz ab. Bis jetzt nur solider Fels unter meinem Tritt. Von Klettern konnte kaum noch die Rede sein. Ich setzte lediglich einen Fuß vor den anderen. Und plötzlich, völlig unvermittelt, befand ich mich in einem Kamin. Die Winde waren stark. Falls der Aufstieg schwierig war, konnten sie zum Problem werden. Ich kam mittlerweile nicht mehr ohne mein Atmungsgerät aus, fühlte mich aber blendend. Ich konnte jetzt weit in die Ferne sehen. Ein Meer von Bergen unter mir, wie Dünen in der Wüste. Im Osten der Lake Emerick, schwarz und glänzend wie Tinte. Ich arbeitete mich durch eine Klippe und kam
zu einer riesigen Treppe, die gut dreihundert Meter in die Höhe ging. An ihrem Ende stieß ich auf die erste echte Barriere: eine glatte, fast senkrechte Wand von ungefähr dreißig Meter Höhe. Keine Möglichkeit, sie zu umgehen, also kletterte ich hinauf. Nach einer guten Stunde erreichte ich den oberen Rand, und der weitere Aufstieg wurde wieder leichter. Jetzt allerdings machten mir die Wolken zu schaffen. Ich kam nicht mehr so schnell voran. Wenn ich die Wolkendecke durchbrechen und über ihr noch etwas Tageslicht haben wollte, mußte ich auf das Essen verzichten, was ich nach kurzem Überlegen auch tat. Ich schaffte weitere vierhundert Meter, war aber immer noch in den Wolken. Unter mir donnerte es. Der Nebel tat meinen Augen gut. Der erste Kamin. Ich konnte den oberen Rand nur schwach erkennen, bildete mir aber ein, daß er niedriger war als die zerklüftete Schlucht links davon. Ich hatte mich gründlich verschätzt. Die Wände waren naß und glitschig. Aber stur, wie ich nun einmal bin, quälte ich mich weiter. Nachdem ich ungefähr ein Drittel geschafft hatte, machte ich eine kurze Verschnaufpause. Jetzt wurde mir klar, in was ich mich eingelassen hatte. Das, was ich für den oberen Rand gehalten hatte, war nur ein Vorsprung. Der Nebel um mich herum brodelte, und ich war klitschnaß. Plötzlich hatte ich Angst. Ich wagte mich nicht weiter. Weder rauf noch runter. Aber bleiben konnte ich auch nicht. Wie besessen arbeitete ich mich weiter nach oben.
Wenn mein Haar nicht schon weiß gewesen wäre, in diesem Kamin wäre ich ergraut. Endlich hatte ich die Wolkendecke durchbrochen. Endlich sah ich ein Stückchen des hellen, kalten Himmels über mir. Und endlich hatte ich mein Ziel erreicht. Ich streckte mich auf der leicht überhängenden Felsbank aus. Jeder einzelne Muskel tat mir weh. Ich trank einen Schluck Wasser, aß zwei Rippen Schokolade und versuchte, mich zu entspannen. Nach ungefähr zehn Minuten stand ich wieder auf. Unter mir nur die wattige Wolkendecke und über mir ein Bergmassiv, das das Unendliche zu berühren schien. Den ganzen nächsten Tag kletterte ich weiter, ohne unnötige Risiken einzugehen. Ich machte in regelmäßigen Abständen Rast, zeichnete Karten und schoß Weitwinkelaufnahmen. Es gelang mir, die Zweieinhalbtausend-Meter-Grenze zu durchbrechen. Kurz vor Sonnenuntergang kam ich zu einer Art Rinne die sich in die Höhe wand. Ich kämpfte mit mir. Ich hatte hinterlassen, daß ich in einer Woche zurück sein würde. Drei Tage war ich jetzt schon unterwegs. Ich wollte natürlich so weit wie möglich kommen, denn am fünften Tag mußte ich wieder absteigen. Wenn ich die Rinne bis zu ihrem Ende folgte, durchbrach ich wahrscheinlich die Zwölf-KilometerGrenze. Mit etwas Glück konnte ich die AchtzehnKilometer-Grenze erreichen, bevor ich umkehren mußte. Meine Vernunft war besiegt, drei zu eins, und Mad Jack kletterte weiter.
Die Sterne waren groß, ihr Licht grausam. Der Wind war kein Problem. In der Höhe regte sich kaum ein Lüftchen. Ich mußte die Heizvorrichtung in meinem Anzug immer höher stellen. Ich kam weiter als erwartet und hatte am Abend die Zwölf-Kilometer-Grenze bereits überschritten. In der Nacht hatte ich einen seltsamen Traum. Über mir auf einem Überhang in bizarrer Stellung eine Feuergestalt. Der Engel der Apokalypse. Sein Flammenschwert war auf meine Brust gerichtet. »Geh zurück!« rief er mir zu. Ich wollte etwas sagen, aber kein Laut kam aus meiner Kehle. »Geh zurück! Geh zurück!« Morgen, dachte ich in meinem Traum, und der Engel schien sich damit zufriedenzugeben. Seine Feuer erloschen, und tiefe Finsternis hüllte mich ein. Am folgenden Tag war ich in Hochform. Gegen Mittag hatte ich die Vierzehn-Kilometer-Grenze erreicht. Die Wolkendecke unter mir war aufgerissen. Darunter die Natur wie ein gefleckter Teppich. Und über mir die Sterne, die nicht mehr erloschen. Der Aufstieg war beschwerlich, aber ich fühlte mich bei Kräften. Daß ich die sechzehn Kilometer nicht schaffen würde, war mir klar, denn mit jedem Meter wurde es schwieriger. Aber ich war guten Mutes, und meine Laune wurde immer besser. Als er angriff, geschah es mit einer solchen Geschwindigkeit und Raserei, daß ich mich nur mit letzter Kraft festhalten konnte. Die Stimme aus meinem Traum dröhnte in meinem Kopf.
»Geh zurück! Geh zurück! Geh zurück!« Ein Vogel kam aus dem Himmel geschossen. Er war größer als ein Condor und glühte aus tausend Feuern. Ich drückte mich gegen die Felswand, den Pickel hoch erhoben.
3 Ich saß in der engen, dunklen Kammer und beobachtete die rotierenden Farbkreise. Ultraschallwellen strichen um meinen Kopf. Ich versuchte, mich zu entspannen und einige Alpharhythmen von mir zu geben. Irgendwo empfing ein Empfänger, irgendwo zeichnete ein Recorder auf, und ein Computer verarbeitete. Es dauerte an die zwanzig Minuten. Anschließend versuchte der Arzt, mich in die Mangel zu nehmen. Aber ich ließ mich auf nichts ein. »Geben Sie mir die Daten«, sagte ich, »und schikken Sie die Rechnung an meinen Freund Lanning ins Hotel.« »Ich wollte mit Ihnen noch –« »Ich bespreche die Angelegenheit mit meinem Gehirnspezialisten«, schnitt ich ihm das Wort ab. »Bitte das Band mit den Daten.« »Hatten Sie vor kurzem ein traumatisches Erlebnis?« »Deutet etwas darauf hin?« »Ja und nein.« »Das liebe ich – eine eindeutige Antwort.« »Aber ich habe ja keine Ahnung, was für Sie nor-
mal ist und was nicht«, verteidigte sich der Arzt. »Deutet etwas auf die Zerstörung von Gehirnzellen hin?« »Das möchte ich nicht sagen. Wenn Sie mir berichten würden, was passiert ist und warum Sie sich wegen Ihrer Gehirnzellen Sorgen machen, dann wäre ich in einer besseren Position, Ihnen –« »Nein«, sagte ich. »Bitte das Band.« »Sie dürfen es mir nicht übelnehmen, wenn ich mich für einen Fall wie den Ihren interessiere.« »Tue ich ja gar nicht. Pathologische Schäden haben Sie also keine festgestellt?« »Nicht direkt. Aber sagen Sie mir doch wenigstens, ob Sie in letzter Zeit unter epileptischen Anfällen gelitten haben?« »Nicht, daß ich wüßte. Wieso?« »Weil ich einen Rhythmus registriert habe, der eine Folgeerscheinung gewisser Formen von Epilepsie sein könnte.« »Kann ein Schlag auf den Kopf dieselben Folgeerscheinungen haben?« »Kaum.« »Was denn sonst?« »Ein Elektroschock zum Beispiel. Oder ein optisches Trauma mit –« »Moment«, sagte ich und nahm die dunkle Brille ab. »Schauen Sie sich einmal meine Augen an.« »Ich bin kein Ophtalmo –« Ich ließ ihn wieder nicht aussprechen. »Meine Augen schmerzen schon bei völlig normalem Licht«, sagte ich. »Ich habe meine Schutzbrille verloren und war drei bis vier Tage gleißendem Licht ausgesetzt. Kann das der Grund sein?«
»Schon möglich... ja, das kann der Grund sein.« »Aber nicht allein?« »Ich bin mir nicht sicher. Wir müssen mehrere Tests machen, und wenn ich die Hintergründe kenne –« »Leider«, sagte ich. »Das Band bitte.« Er seufzte. »Wie Sie wollen, Mr. Smith.« Mit einem Haß auf den Geist des Berges verließ ich das Krankenhaus und suchte im Dickicht meines Gedächtnisses nach einem Feuerschwert in einem Gestein voll von Rauch. Im Hotel warteten sie auf mich. Lanning und die Reporter. »Wie war es?« fragte einer von ihnen. »Was?« »Auf dem Berg. Sie waren doch dort, oder?« »Kein Kommentar.« »Wie hoch waren Sie?« »Kein Kommentar.« »Kann man einen Vergleich mit dem Kasla anstellen?« »Kein Kommentar.« »Hatten Sie Schwierigkeiten?« »Wie wär's, wenn Sie mich jetzt duschen lassen würden?« Henry folgte mir in mein Zimmer. Bei den Reportern blieb es bei dem Versuch. Nachdem ich mich gewaschen und rasiert und mir einen Drink gemacht hatte, nahm mich Henry ins Kreuzverhör. »Und?« fragte er. Ich nickte.
»Schwierigkeiten?« Ich nickte wieder. »Unüberwindliche?« Ich zuckte mit den Schultern und überlegte. »Kommt darauf an.« Henry goß sich einen Whisky ein. »Wirst du es versuchen?« fragte er. Mein Entschluß war gefaßt – und wenn ich es allein wagen mußte. »Ich weiß nicht«, log ich. »Warum nicht?« »Weil da oben etwas ist, das uns daran hindern will.« »Was heißt etwas? Lebt dieses Etwas auf dem Berg?« »Ich weiß nicht, ob leben das richtige Wort ist.« Er stellte sein Glas ab. »Was war denn?« »Ich wurde bedroht und angegriffen.« »Bedroht? Mit Worten? In einer allgemein verständlichen Sprache? Wer hat dich angegriffen?« »Ich habe den Doc und Kelly und Stan und Mallardi und Vincent benachrichtigt. Sie kommen. Jeder hat prompt geantwortet. Miguel und der Holländer können nicht. Wenn wir alle zusammen sind, erzähle ich die Geschichte. Aber erst will ich mit dem Doc allein sprechen. Bis dahin mußt du dich gedulden. Und tu mir einen Gefallen: halte den Mund.« Er leerte sein Glas. »Wann kommen sie?« »In vier bis fünf Wochen«, sagte ich. »Erst?« »Ja.« »Und was machen wir so lange?« »Essen und trinken und den Berg betrachten.«
Er nickte und griff nach der Flasche. Es war spät, und ich stand allein auf dem Feld, eine Flasche in der Hand. Lanning war bereits schlafen gegangen. Irgendwo in der Ferne wütete ein Sturm. Der Wind war eisig. »Graue Schwester«, sagte ich, »du wünschst, daß ich dich in Ruhe lassen soll.« Donnergrollen. »Ich kann dich nicht in Ruhe lassen«, sagte ich und trank einen Schluck. »Ich will ja bloß auf deinem Gipfel stehen, direkt unter den Sternen. Sonst nichts. Kein persönlicher Ehrgeiz...« »Das stimmt nicht«, sagte ich nach einer Weile. »Ich sehne mich nach schwindelnden Höhen, weil ich beweisen will, daß ich unsterblich bin, auch wenn ich sterben muß. Ich bin weniger, als ich sein möchte, und du, Graue Schwester, kannst mir helfen, mehr zu sein. Ich besitze kein anderes Talent, und an dir kann ich ein letztes Mal meine Fähigkeiten beweisen. Vielleicht kommt die Sterblichkeit der Unsterblichkeit nur dann in etwa nahe, wenn sie den Kampf um sich selbst akzeptiert, wenn sie Unüberwindliches überwindet. Der Moment des Triumphs ist der Moment des Heils. Der Rettung. Ich habe diese Momente schon immer gebraucht, und der letzte muß der längste sein, denn er muß mein ganzes Leben über anhalten. Hier stehe ich Sterblicher vor dir, Graue Schwester, und du willst, daß ich dich in Ruhe lassen soll. Ich kann es nicht. Ich werde zu dir hinaufkommen. Und wenn du mir den Tod entgegenschleuderst, dann werde ich ihm ins Gesicht sehen.«
Ich trank die Flasche leer. Blitz und Donner hinter dem Berg. »Näher kann man göttlicher Trunkenheit nicht kommen«, sagte ich. Und dann gab mir die Graue Schwester ein Zeichen. Ein roter Stern ging auf. Engelsschwert, Phönixflügel, Feuerseele. Der Wind, der zwischen den Welten weht, blies auf mich herab. Er war voll von Tränen und Eiskristallen. »Bleib!« schrie ich. Der Stern erlosch und alles war wieder dunkel, und ich war naß wie ein Embryo, das auf den ersten Schrei und den ersten Atemzug wartet. Der Arzt saß mir gegenüber in meinem Zimmer im Lodge. Weil er eine Lizenz hatte, Leute aufzuschneiden und sie sich von innen anzusehen, nannte ihn jeder bloß Doc. »Mannometer!« rief er und legte den Kopf auf eine Seite. »Es ist die reine Wahrheit«, sagte ich. »Ich habe einen Feuervogel bekämpft.« »Auf unserer Kasla-Expedition haben wir alle halluziniert«, sagte er. »Erstens aus Erschöpfung, zweitens wegen der Höhe, drittens wegen der Aufregung und viertens, weil wir alle mehr oder weniger einen Sauerstoffrausch hatten.« »Trotzdem ist er auf mich zugeschossen«, sagte ich, »und ich habe mit meinem Pickel nach ihm geschlagen. Ich wurde ohnmächtig und habe meinen Augenschutz verloren. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf einem kleinen Felsvorsprung, und der Vogel war weg. Ich glaube, es war eine Art Energiekreatur. Du hast das Ergebnis des Gehirntests gesehen. Meiner
Meinung nach hat das Ungeheuer mein Nervensystem –« »Quatsch!« unterbrach mich der Doc. »Du bist ohnmächtig geworden, weil du mit dem Schädel gegen den Felsen geknallt bist. Energiekreatur – wenn ich das schon höre! Der Neurologe, bei dem du gewesen bist, hat wahrscheinlich recht: ein optisches Trauma. Deine Bemühungen, dir exotische Erklärungen aus den Rippen zu schneiden, sind lächerlich. Du hast halluziniert und bist gestolpert.« »Okay«, sagte ich. »Dann muß ich eben mit Beweismaterial auffahren.« Ich ging zum Schrank und holte meinen Pickel heraus. Ich legte ihn auf das Bett und wickelte ihn aus der Wolldecke. »Ich habe dir erzählt, daß ich auf ihn eingeschlagen habe«, sagte ich. »Bitte, sieh dir das an!« Er drehte den zerbeulten Pickel, der in allen Farben schillerte und aussah, als sei er aus dem All heruntergefallen, lange in der Hand hin und her. »Das ist natürlich ein Ding«, sagte er schließlich. »Mannometer!«
4 Wir planten, zeichneten Karten und Routen und studierten die Aufnahmen. Und wir begannen mit unserem Konditionstraining. Der Doc und Stan waren gut in Form, obwohl beide seit der Kasla-Expedition nicht mehr geklettert waren. Kelly war topfit. Mallardi und Vince, mit einem Durchstehvermögen wie eh und je, hatten in letzter
Zeit etwas ausschweifend gelebt und trainierten deshalb besonders hart. Nach zehn Tagen waren wir alle in Hochform, ernährten uns von Vitaminen und Proteinen, trieben Gymnastik und machten die letzten Vorbereitungen. Der Doc hatte ein Gerät entwickelt, das nicht größer war als eine blecherne Zigarettenschachtel und das auf dem Leib getragen werden mußte. Es sollte als Abwehr gegen die Energiekreatur dienen, deren Existenz er anfangs so entschieden angezweifelt hatte. An einem strahlenden, knirschend kalten Morgen waren wir fertig. Wir stiegen in den Flugkörper, der uns an den Fuß der Grauen Schwester brachte. Wir machten uns auf den Weg, und ich fragte mich zum x-ten Mal, was wohl ein Berg wog. Die ersten zehn Kilometer waren nach sechs Tagen geschafft. Kein nennenswerter Zwischenfall. Nebel, unangenehme Winde, aber einmal über der Wolkendecke, war alles vergessen. Stan, Mallardi und ich standen an der Stelle, wo mir der Engel erschienen war, und warteten auf den Doc und die anderen. »Bis jetzt war es der reinste Spaziergang«, sagte Mallardi. »Ja«, sagte Stan. »Und keine Spur von Feuervögeln.« »Meinst du, der Doc hatte doch recht?« fragte Mallardi. »Vielleicht war es eine Halluzination. Damals bei der Kasla-Expedition –« »Damals«, fiel ihm Stan ins Wort, »haben wir von Nymphen und einem Meer von Bier geträumt, was durchaus verständlich ist. Daß sich aber jemand einen
Feuervogel einbilden soll, finde ich für meine Person recht unsinnig.« »Macht euch ruhig über mich lustig«, sagte ich. »Ihr werdet noch euer blaues Wunder erleben.« Der Doc kam und sah sich um. »Hier war es?« fragte er. Ich nickte. Er untersuchte das Gestein, fand aber nichts außergewöhnliches. Die nächsten drei Tage waren hart und wir schafften bloß fünfzehnhundert Meter. Als wir am Abend unser Camp aufschlugen und uns in die Schlafsäcke verkrochen, war jeder so erledigt, daß er von einer Sekunde auf die andere einschlief. Plötzlich war er wieder da. Diesmal allerdings nicht so nah. Ungefähr sechs Meter entfernt schwebte er glühend in der Luft, die Spitze seines Flammenschwertes auf meine Brust gerichtet. »Geh zurück!« sagte er dreimal mit tonloser Stimme. Scher dich zum Teufel, dachte ich. »Geh zurück! Du und die anderen, ihr dürft nicht weiter!« »Doch, wir ruhen nicht eher, bis wir auf dem Gipfel stehen.« »Ihr dürft nicht weiter.« »Wart's nur ab.« »Geh zurück!« »Ach, laß mich doch in Ruhe. Ich brauche meinen Schlaf.« Ich drehte mich um und rüttelte den Doc, aber als ich wieder hinsah, war das Ungeheuer verschwunden.
»Was ist denn los?« knurrte der Doc. »Zu spät«, sagte ich. »Er war da.« Der Doc setzte sich auf. »Der Feuervogel?« »Nein, das Ding mit dem Schwert.« »Wo denn?« »Da oben in der Luft.« Der Doc zog seine Instrumente aus der Tasche. »Nichts«, sagte er schließlich. »Vielleicht hast du geträumt.« »Natürlich«, sagte ich. Wir brauchten vier Tage bis zur Achtzehn-KilometerGrenze. Gelegentlich flogen Felsen wie Kanonenkugeln an uns vorbei. Der Himmel war wie ein riesiger, kalter Teich, in dem Wasserblumen schwammen. Bei zweiundzwanzig Kilometer wurde der Aufstieg wieder einfacher, so daß wir nach zweieinhalb Tagen bei vierundzwanzig Kilometern waren. Keine Feuererscheinungen, die mich aufforderten, zurückzugehen. Und dann kamen wir plötzlich zu einem ungefähr einhundertzwanzig Meter breiten Felsplateau, das aber nicht an den Berg gelehnt war, sondern in eine riesige Schlucht abfiel. Wir sahen uns gezwungen, wieder abzusteigen. Auf der anderen Seite der Schlucht eine glatte Wand, die senkrecht in die Höhe ging, Kilometer für Kilometer. Und der Gipfel immer noch nicht in Sicht. »Und jetzt?« fragte Kelly. »Absteigen«, sagte ich. »Bleibt uns nichts anderes übrig. Dann teilen wir uns in zwei Gruppen auf und nehmen je ein Ende der Schlucht in Angriff, um zu sehen, wo der leichtere Weg ist. Wir treffen uns dann wieder in der Mitte.«
Wir stiegen ab. Doc, Kelly und ich schlugen uns nach links, die anderen hl die entgegengesetzte Richtung. Nach eineinhalb Stunden war unser Pfad zu Ende. Wir hatten nicht eine Stelle entdeckt, an der wir hätten hochkommen können. »Hoffentlich hatten die anderen mehr Glück«, sagte ich. »Und wenn nicht?« fragte Kelly. »Warten wir es ab.« Sie hatten mehr Glück, aber der Aufstieg war riskant. Wir hingen ganze vier Tage und vier Nächte in der Steilwand. Total erschöpft und erschlagen kamen wir am späten Morgen des fünften Tages auf ein ungefähr fünf Meter breites Felsband und schlugen unser Camp auf. Wir aßen und tranken und beschlossen, uns erst einmal auszuruhen und unsere Abschürfungen und unsere zerschnittenen Hände zu pflegen. Wir waren in einer Welt des Zwielichts angekommen. In einer Welt, in die noch niemand den Fuß gesetzt hatte. Ich verschlief den Rest des Tages. Als ich aufwachte, war der Himmel eine Flut glühender Funken. Ein Meteor zog seine blauweiße Bahn durch die Nacht. Ich streckte und räkelte mich und setzte mich schließlich auf. Mein Blick ging an dem Berg hoch, und in dem Moment sah ich sie. Sie stand ungefähr fünf Meter über mir. Sie lächelte auf mich herunter und winkte mir zu. Ihr Haar war lang und schwarz. Sie trug ein kurzes Muschelhemd. Ihre Augen konnte ich nicht sehen.
»Hallo, Whitey«, sagte sie. »Hallo«, sagte ich. »Komm herunter.« »Nein, komm du herauf.« Ich tat es. Aber als ich den kleinen Vorsprung erreicht hatte, war sie weg. Ich suchte den Felsen ab. Sie saß zweieinhalb Meter über mir auf einem Steinzacken. »Woher kennst du meinen Namen?« fragte ich. »Das ist doch egal.« »Und wie heißt du?« Sie lächelte nur. »Sag doch.« »Ich brauche keinen Namen.« »Dann nenne ich dich eben Mädchen.« Sie lächelte. »Was machst du denn hier oben?« fragte ich. »Ich beobachte dich.« »Warum?« »Weil ich sehen will, wie du abstürzt.« »Die Mühe kannst du dir sparen«, sagte ich. »Ich stürze nicht ab.« »Vielleicht doch.« »Komm doch runter.« »Nein, komm du rauf.« Ich kletterte in die Höhe, aber sie war wieder weg. Diesmal saß sie gute sechs Meter über mir. »Du kletterst gut, Mädchen«, sagte ich. Sie lächelte und wandte sich ab. Ich verfolgte sie eine Weile, konnte sie aber nicht einfangen. In ihren Bewegungen lag etwas Unnatürliches. Ich gab es schließlich auf. »Du willst nicht, daß ich zu dir komme«, sagte ich. »Doch, aber du mußt mich fangen.« Ich huschte wie eine Eidechse durch das Gestein
und war manchmal ganz in ihrer Nähe, aber nie nah genug. Plötzlich wurde mir klar, daß das Camp bereits weit unter mir lag und ich allein durch die Finsternis kletterte, aber ich konnte nicht aufhören. Meine Muskeln schmerzten, meine Lungen brannten, doch ihr Lachen trieb mich weiter. Ich verlor sie aus dem Blick und sah sie Sekunden später auf einer Steinplatte stehen, die mindestens siebenundzwanzig Meter über mir aus der Wand vorsprang. Ich blieb stehen, um zu verschnaufen. »Du hältst viel aus, Whitey«, sagte sie. Ich sicherte mein Seil und kletterte weiter. »Hier kommst du nicht rauf«, sagte sie. »Das werden wir schon noch sehen«, sagte ich. »Warum denn bloß? Es gibt so viele andere Berge.« »Schon, aber der hier ist der höchste.« »Es ist nicht zu schaffen.« »Warum machst du dir dann die Mühe, mich entmutigen zu wollen?« Auf der Steinplatte brach ich zusammen. Das Mädchen war verschwunden. Ich hörte nur noch ihre Stimme. Sehen konnte ich sie nicht mehr. »Du bist ein Narr? Whitey«, schwang es durch die Luft. »Auf Wiedersehen.« Ich war halb tot vor Erschöpfung, wußte aber, daß ich nicht hier oben bleiben konnte. Ich seilte mich wieder ab. Als sie mich am nächsten Morgen wachrüttelten, war ich immer noch völlig erschlagen. Ich erzählte ihnen, was in der Nacht geschehen war, und sie glaubten mir kein Wort.
5 Während der nächsten zwei Tage arbeiteten wir uns weiter und schafften knapp dreitausend Meter. Dann verbrachten wir einen Tag damit, Treppen und Mauerhaken in eine steile Wand zu schlagen. Als wir nach weiteren zwei Tagen die dreißig Kilometer durchbrochen hatten, gratulierten wir uns, denn wir hatten die Höhe des Kasla überschritten. Daß wir allerdings noch nicht einmal die Hälfte des Berges bezwungen hatten, war uns allen klar. Dazu brauchten wir noch zwei Tage, und als auch das geschafft war, lag die Landschaft wie eine Karte unter uns. In der Nacht erschien uns die Kreatur mit dem Schwert. Sie kam und stand in der Nähe unseres Camps, das Flammenschwert hoch über den Kopf erhoben. Ihre Stimme war von Blitz und Donner erfüllt. »Laßt den Berg in Ruhe!« dröhnte es. »Kehrt um! Geht zurück!« Dann kam eine Lawine von Steinbrocken auf uns herunter. Der Doc warf sein kleines Gerät dem Ungeheuer entgegen, die Flammen erloschen, und wir waren wieder allein. Der Doc holte sein Gerät, und seine Tests verliefen wie bisher – ohne Resultat. Aber wenigstens glaubte er jetzt nicht mehr, daß ich phantasierte. »Nützt viel, dein Maschinchen«, sagte Henry. Vince hob einen Stein auf und warf ihn auf die Stelle, wo das Ungeheuer erschienen war. »Vor allem«, sagte er, »wenn das Biest Lawinen auf uns niedergehen läßt.« »Reg dich doch wegen der paar Brocken nicht auf«,
sagte Stan. »Du hast Humor, Mann. Und was machen wir, wenn er fünfzehn Kilometer über uns einen Felsbrokken löst?« »Hört doch auf«, sagte Kelly. »Bringt ihn nicht auf die Idee. Vielleicht belauscht er uns.« Wir rückten ganz automatisch eng zusammen und begannen zu flüstern. Jeder mußte genau beschreiben, was er gesehen hatte. Jeder hatte dasselbe gesehen. »Also«, sagte ich, als der letzte berichtet hatte. »Wer will umkehren?« Stille. Nach ein paar Dutzend Herzschlägen holte Henry tief Luft. »Ich will die ganze Story haben«, sagte er. »Die Sache scheint spannend zu werden. Ich gehe das Risiko ein, gegen Energiekreaturen zu kämpfen, wenn es sein muß.« »Vielleicht ist das Ding ja gar keine Energiekreatur«, sagte Kelly. »Vielleicht ist es etwas Übernatürliches. Aber mir soll es egal sein. Ich will dabei sein, wenn dieser Berg bezwungen wird. Wenn das Ungeheuer etwas gegen uns unternehmen könnte, dann hätte es längst zugeschlagen. Es ist aber auch möglich, daß es uns erst noch höher in diese Steinwüste hineinlocken will. Ich für meine Person kann nicht umkehren. Wir sind die beste Seilschaft, die es gibt. Wenn der Berg zu bezwingen ist, dann nur von uns.« »Richtig«, sagte Stan. Bei dreißig Kilometern hatten wir die Südseite erreicht, bei fünfunddreißig kletterten wir wieder in der Westwand. Während eines besonders teuflischen Stücks erschien uns der Vogel. Wenn wir nicht verseilt gewe-
sen wären, wäre Stan abgestürzt. Er war Vordermann, als die riesigen Flügel plötzlich Flammen in den violetten Himmel schossen. Der Vogel stürzte sich von dem Überhang, unter dem wir uns befanden, und schoß wenige Meter von Stan entfernt in die Tiefe und war verschwunden. Stan sackte ab und hätte uns fast mit sich gerissen. Wir konnten den Schock nur mit letzter Muskelkraft abfangen. Stan hatte sich zum Glück nichts gebrochen. Wir schafften an dem Tag gerade noch den Überhang. Der Vogel kam nicht wieder, dafür aber die Schlangen. Große, schillernde, purpurrote Schlangen krochen aus Ritzen und Felsspalten und aus ihren Mäulern sprühte Feuer. Sie wollten uns aus der Eishöhle, in der wir das Camp aufgeschlagen hatten, hinaus ins Freie treiben, wo es Steine und Felsbrocken hagelte. Doc sprang auf die erstbeste Schlange zu und hielt ihr das Projektionsgerät entgegen Das Reptil verschwand, und der Doc untersuchte die Stelle, wo es gewesen war. »Keine Spur von Tauwasser«, sagte er. »Wieso?« »Wenn die Biester Feuer speien, müßte doch das Eis tauen«, sagte der Doc. »Also auch Einbildung«, sagte Vince und warf einen Stein auf eines der Biester. Der Stein traf auf keinen Widerstand. »Aber du hast doch meinen Pickel mit eigenen Augen gesehen, Doc«, sagte ich. »Diese Ungeheuer sind energiegeladen, wenn sie auch keine feste Gestalt haben.«
Wir saßen mit unseren Geräten in der Hand da, wehrten die Schlangen ab und hingen unseren Gedanken nach. Die Schlangen verfolgten uns auch am nächsten Tag noch. Der Steinschlag wurde schlimmer. Der Vogel erschien uns viermal aber wir ignorierten ihn. Wir schafften neunhundert Meter und waren noch gut bei Kräften, blieben aber trotzdem in einer kleinen Höhle, in der wir gerade alle Platz hatten. Der Tag neigte sich, die Nacht brach herein, und wir schwiegen. Eine fast elektrische Spannung hatte uns erfaßt. Wir warteten. Es passierte das Schlimmste, was uns passieren konnte: nämlich nichts. Unsere Sinne waren angespannt und unsere Wachsamkeit raubte uns den Schlaf. Erst in den Morgenstunden siegte die Erschöpfung. Ich mußte kaum eingeschlafen sein, als ich plötzlich wieder hellwach war. Das Mädchen stand im Eingang zu unserer Höhle. Ich sprang auf und machte zwei Schritte. Sie zog sich sofort zurück. »Hallo, Whitey«, sagte sie und lächelte. »Diesmal folge ich dir nicht«, sagte ich. »Ich habe dich ja gar nicht dazu aufgefordert.« »Was machst du bloß hier in dieser Wildnis?« »Ich beobachte.« »Aber ich werde nicht abstürzen.« »Dein Freund ist fast abgestürzt.« »Fast!« »Du bist der Anführer, nicht wahr?« »Ja.«
»Wenn du stirbst, kehren dann die anderen um?« »Nein. Sie gehen ohne mich weiter.« Ich zog meine Minikamera aus der Tasche und knipste ab. »Was hast du eben gemacht?« fragte sie. »Ein Bild von dir.« »Wozu?« »Damit ich dich auch anschauen kann, wenn du nicht mehr da bist. Ich betrachte gern schöne Dinge.« Sie schien etwas zu sagen, aber ich verstand es nicht. »Was sagst du?« fragte ich. »Ach, nichts.« »Du hast doch eben etwas gesagt.« »... sterben.« »Sprich doch.« »... muß sterben«, sagte das Mädchen. »Wer?« »Sie.« »Wo?« »Auf dem Berg.« »Ich verstehe dich nicht.« »... auch.« »Was ist denn los?« Ich machte einen Schritt nach vorn, und sie zog sich einen weiteren Schritt zurück. »Kommst du?« fragte sie. »Nein.« »Geh zurück.« »Nein.« »Du kletterst weiter?« »Ja.« »Sehr gut. Dann...« Sie brach ab. »Geh zurück.«
»Nein.« Und damit war sie wieder verschwunden.
6 Unser Weg führte uns wieder nach Osten. Wir krochen und stiegen und schlugen Löcher in den Fels. Die Schlangen spien Feuer und folgten uns. Der riesige Vogel schoß bei jeder kritischen Passage auf uns herunter. In einer Spalte stand ein rasender Bulle und aus seinen Nüstern schlugen Flammen. Glühende Pfeile flogen durch die Luft und lösten sich in nichts auf. Sengend heiße Winde fegten an uns vorbei. Die Fünfundvierzig-Kilometer-Grenze durchbrachen wir in der Nordwand. Der Himmel war tief und blau und Tag und Nacht mit Sternen übersät. Warum haßte uns der Berg? Warum sollten wir den Gipfel nicht erreichen? Ich sah mir immer wieder das Bild des Mädchens an und kam zu keiner Erklärung. Ich dachte über mein Leben nach. Wie kommt jemand dazu, Berge zu besteigen? Lockt ihn die Höhe, weil er vor flachem Land Angst hat? Ist er ein solcher Außenseiter der Gesellschaft, daß er fliehen und sich über sie stellen muß? Der Weg nach oben ist lang und beschwerlich, aber wenn man es geschafft hat, wird man tausendfach belohnt. Und wenn man fällt, wenn man aus schwindelnden Höhen stürzt, dann ist selbst das Ende glorios, denn die Menschheit erinnert sich letztlich immer nur an das Ende, das den Helden zum Helden macht. Ich hatte den Kasla und alle gigantischen Berge besteigen müssen, obwohl ich den Preis gekannt hatte. Ich hatte mit meinem Zuhause und mit
meiner Ehe bezahlt. Ich hatte meinen Fuß auf den Gipfel gesetzt und unter mir war eine Welt zusammengebrochen. Aber was ist schon eine Welt, wenn der große Moment des Sieges da ist? Wenn Wahrheit, Schönheit und Gottheit wirklich eins sind, warum dann immer dieser Konflikt? Wir sahen den Gipfel. Bei fünfundfünfzig Kilometern an einer Steilwand schrie Vince plötzlich auf. »Schaut!« Unsere Köpfe gingen in die Höhe. In unendlicher Ferne blaufrostig und spitz, tödlich und kalt, stach der Gipfel wie ein erstarrter Blitz in den Himmel. Vince hatte den Gipfel als erster gesehen, und er war der erste, der starb. Es geschah im Bruchteil einer Sekunde. Ein falscher Tritt, und er sauste in die Tiefe. Keine Leiche zu bergen. Die Grauheit unter uns nahm ihn auf. Jetzt waren wir nur noch sechs. Wir schauderten, und jeder sprach ein Gebet in sich hinein. Den Rest des Tages fiel kaum ein Wort. Das Ungeheuer mit dem Flammenschwert stand die ganze Nacht schweigend über unserem Camp. Am Morgen war Stan weg. Ich fand einen Zettel neben meinem Pickel. Verzeiht, aber ich muß aufgeben. Ich habe Angst vor diesem Berg. Ich kann nicht gegen den Himmel kämpfen. Der Weg zurück ist leichter. Macht euch keine Sorgen um mich. Viel Glück. Damit waren wir nur noch fünf. Der Doc und Kelly und Henry und Mallardi und ich. Wir erreichten an
diesem Tag die Sechzig-Kilometer-Grenze und fühlten uns sehr einsam. Das Mädchen kam in der Nacht wieder zu mir. Es stand an eine Eissäule gelehnt. »Zwei sind weg«, sagte sie. »Aber fünf sind noch da«, sagte ich. »Im Moment noch.« »Wir erobern den Gipfel, dann gehen wir wieder«, sagte ich. »Was hast du denn dagegen? Warum haßt du uns?« »Ich hasse nicht, Whitey.« »Sondern?« »Ich beschütze.« »Wen beschützt du?« »Die Sterbende.« »Wer ist die Sterbende?« Ihre Worte glitten in die Ferne, und ich verstand sie nicht. Und dann war auch das Mädchen wieder verschwunden. Nichts blieb, nur der Schlaf. Einundsechzig Kilometer, zweiundsechzig Kilometer, dreiundsechzig Kilometer und vierundsechzig Kilometer. Die Kreaturen um uns herum heulten, der Stein bäumte sich auf, und manchmal schien die Wand, in der wir gerade hingen, zu schwanken. Wir schlugen uns zu fünfundsechzig Kilometern durch und brauchten für die nächsten dreihundert Meter drei ganze Tage. Was wir berührten war kalt und glatt und schlüpfrig. Und alles war von einem blauen Dunstschleier überzogen. Als wir bei neunundsechzig Kilometern waren, sah Henry zurück und erschauderte. »Ich mache mir keine Sorgen mehr, ob wir den
Gipfel erreichen«, sagte er. »Mich quält nur noch der Gedanke, daß wir auch wieder absteigen müssen.« Nach einer Woche waren wir nur noch eineinhalb Kilometer vom Gipfel entfernt. Die Feuerkreaturen hatten sich zurückgezogen, aber zwei Eislawinen bedrohten uns. Die erste überstanden wir unverletzt, aber aus der zweiten rettete sich Kelly mit einer Bänderzerrung und ein paar gebrochenen Rippen. Wir schlugen ein Camp auf und der Doc blieb bei Kelly, während Henry, Mallardi und ich uns an den letzten Kilometer machten. Es war unmenschlich. Der Berg war wie aus Glas. Wir mußten jeden Tritt einschlagen und arbeiteten in Schichten. Jeden Zentimeter mußten wir bitter erkämpfen. Unsere Finger waren klamm, die Last auf unserem Rücken und unseren Schultern unerträglich. Unsere Projektionsgeräte schienen zu erschlaffen, denn die Schlangen griffen uns wieder an. Sie wagten sich näher an uns heran als bisher, und ihr Feuerspeichel brannte glühend heiß. Meine Augen schmerzten. Ungefähr dreihundert Meter unter dem Gipfel kampierten wir noch einmal. Der nächste Aufstieg schien etwas leichter zu sein, aber was danach kam, sah unüberwindlich aus. Als wir aufwachten, waren nur noch Henry und ich da. Keine Spur von Mallardi. Wir nahmen über Sprechfunk Kontakt mit dem Doc auf. Er hatte ebenfalls keine Ahnung, wo Mallardi steckte. »Und wie geht es Kelly?« fragte ich. »Besser«, sagte der Doc. »Die Rippen sind vielleicht doch bloß angeknackst und nicht gebrochen.« Kurz darauf meldete sich Mallardi.
»Ich bin einen halben Kilometer über euch«, kam seine Stimme aus dem Gerät. »Bis hierher war der Aufstieg relativ leicht, aber jetzt scheint es haarig zu werden.« »Warum machst du plötzlich eigene Sache?« fragte ich. »Weil ich überzeugt davon bin, daß etwas versucht, mich umzubringen«, sagte er. »Es lauert auf dem Gipfel. Ihr könnt es bestimmt sehen. Es ist eine Schlange.« Henry und ich hoben das Fernglas. Es war keine Schlange, sondern ein Drachen. Er lag um den Gipfel geschlungen, war einige Meter lang und wiegte den gräßlichen Kopf mit den feuerspeienden Nüstern hin und her. Und dann sah ich Mallardi, wie er darauf zukletterte. »Bleib wo du bist«, schrie ich in das Funksprechgerät. »Deine Apparatur nützt wahrscheinlich nichts gegen ein solches Biest. Warte, ich verständige Doc.« »Laß ruhig«, rief er zurück. »Ich habe keine Angst.« »Nimm doch Vernunft an, Mallardi! Wenn du als erster auf dem Gipfel stehen willst – bitte. Aber nimm es nicht allein mit diesem Untier auf.« Lediglich ein Lachen. »Zu dritt haben wir mehr Chancen«, sagte ich. »Wart auf uns.« Keine Antwort. Wir brachen auf. Nach kurzer Zeit war Henry bereits weit hinter mir. Das Biest spuckte Flammen in den Himmel. Inzwischen waren ihm noch zwei Köpfe gewachsen. Blitze schossen aus den Nasenlöchern, und der Schwanz schlug auf und ab. Nach hundert Metern
konnte ich Mallardi sehen. Er kletterte schnell und sicher weiter. Ich schwang meinen Pickel, kämpfte gegen den Berg und folgte der Spur, die er in das Eis geschlagen hatte. Der Abstand zwischen ihm und mir wurde kleiner. »Noch nicht, Bursche«, hörte ich ihn keuchen. »Hier ist eine Gletscherleiste...« Ich sah in die Höhe, und er verschwand. Dann schlug der Schwanz des Drachen plötzlich auf die Stelle, wo ich ihn zuletzt gesehen hatte, ich hörte ihn fluchen und spürte die Vibration seiner Luftdruckpistole. Der Schwanz schlug zurück, und Mallardi fluchte wieder. Ich hastete weiter. Plötzlich hörte ich ihn grölen. Eine Arie aus Aida. »Verflucht, warte doch!« schrie ich. »Ich bin nur einen halben Meter hinter dir!« Er grölte weiter. Mir wurde langsam schwindlig, aber ich durfte nicht ausruhen. Nicht einen Moment. Ich mußte weiter. Mein rechter Arm fühlte sich an wie ein Stück Holz, mein linker wie ein Eisbrocken. Meine Füße waren bleischwer, und meine Augen brannten. Und dann passierte es. Ein Blitz von unglaublicher Helligkeit zerriß den Himmel, und ich schwankte und verlor fast den Halt. Ich hing an der zitternden Eiswand und preßte die Augen zu. »Mallardi!« schrie ich. Keine Antwort. Nichts. Ich sah nach unten. Henry war nichts passiert. Ich kletterte weiter. Ich erreichte das Gesims, von dem Mallardi ge-
sprochen hatte, und fand ihn dort. Sein Atmungsgerät arbeitete noch. Sein Schutzanzug war an der rechten Seite aufgerissen. Sein Pickel war ein unförmiger Metallklumpen. Ich hörte ihn atmen. Seine Augen öffneten sich. Dann fielen sie wieder zu. »Okay«, sagte er. »Wo hast du Schmerzen?« fragte ich. »Nirgends... ich fühlte mich sehr wohl. Hör zu, ich glaube, daß er fürs erste die Kraft verloren hat. Setze die Flagge... Leg mich aber erst so hin, daß ich es sehen kann...« Ich gab ihm einen Schluck aus seiner Wasserflasche, brachte ihn in eine bessere Lage und wartete. Henry brauchte ganze sechs Minuten, bis er bei uns war. »Ich bleibe bei ihm«, sagte Henry. »Mach du den Rest.« Ich nahm das letzte Stück in Angriff.
7 Nichts stellte sich mir in den Weg. Der Drachen war verschwunden und mit ihm die Elektrizität in der Luft. Nur Stille und die Sterne. Noch wenige Meter. Kein Feuervogel, kein apokalyptischer Engel, kein Mädchen. Einen Meter vierzig. Ich zitterte vor Nervosität. Ich holte tief Luft und kletterte weiter. Einen Meter dreißig.
Der Gipfel schien zu schwanken. Einen Meter. Die Schwindelanfälle wurden schlimmer. Einen... Achtzig... Fünfzig... Ich kämpfte mit letzter Kraft gegen den Berg. Dreißig... Ich hatte es geschafft. Ich richtete mich auf. Höher ging es nicht mehr. Ich sah in den Himmel und sah in die Tiefe und breitete beide Arme aus, als wolle ich das Universum umfassen. Ich bohrte den Pfahl ins Eis und machte die Flagge daran fest. »Es ist vollbracht«, sagte ich. Sonst nichts. Ich mußte zurück. Henry und Mallardi warteten. Mein Blick ging nach Westen. Und da sah ich sie. Vielleicht dreißig Meter unter mir leuchtete das rote Licht. War das der rote Stern, den ich in dieser stürmischen Nacht von der Stadt aus gesehen hatte? Ich mußte es wissen. Ich sprach in mein Funksprechgerät. »Wie geht es Mallardi?« »Ich stehe wieder auf den Beinen«, antwortete er. »Gib mir noch eine halbe Stunde Zeit, dann komme ich auch rauf.« »Okay, aber paßt auf. Ich bin weg, wenn ihr raufkommt. Ich seile mich an der Westwand ein Stück ab. Dort ist etwas, was ich untersuchen will.« »Was denn?«
»Das weiß ich selbst nicht. Deshalb will ich ja hin.« »Paß bloß auf.« »Klar.« Der Abstieg war leicht. Der Lichtschein kam aus einer Öffnung im Berg. Nach einer halben Stunde stand ich davor. Ich trat ein und war geblendet. Ich ging darauf zu. Es pulsierte und zitterte und sang. Eine Flammenwand schoß plötzlich aus dem Boden der Höhle und züngelte bis zur Decke hinauf. Sie war da, und ich mußte zu ihr. Ich machte einen Schritt weiter und die Flammenwand schloß sich wie ein Mantel um mich, gab aber keine Hitze ab. Ich hob meinen Pickel. Als seine Spitze die Flammen berührte, zerriß der Schleier der Hölle, und der Engel stand vor mir. »Keinen Schritt weiter«, sagte er. »Ist sie der Grund?« fragte ich. »Ja. Geh zurück.« »Will auch sie daß ich gehe?« »Sie schläft. Geh zurück.« »Warum schläft sie?« »Weil sie schlafen muß. Geh zurück.« »Aber sie ist mir doch erschienen und hat mit mir gesprochen.« »Nicht sie, sondern ich. Ich habe ihre Form angenommen. So lautet der Befehl.« »Welcher Befehl?« »Sie gegen alles zu bewachen, was ihren Schlaf stören könnte. Geh zurück.« »Aber warum wird sie bewacht?« »Weil sie schlafen muß. Geh zurück.«
Ich kam nicht weiter. In einem letzten Versuch riß ich mein Projektionsgerät aus der Tasche und warf es gegen den Engel. Er schmolz vor meinen Augen zu einem Nichts zusammen, und der Weg zu der Grabkammer war frei. Sie lag in einem Sarg und war zerbrechlich wie Eis. In einer Ecke der Kammer stand eine riesige Maschine, die plötzlich zu rattern anfing. Jetzt erst sah ich den Mann. Er saß in einer seltsam verkrampften Stellung auf einem Metallstuhl neben der Maschine. Auch er war aus Eis. Seine Züge waren entstellt. Er war tot. Plötzlich schossen fluoreszierende Luftströme wie Springbrunnen aus dem Boden und formten schillernde Wolken. Ein Gefühl von Wärme umgab mich; die Wolken verdunsteten, und es wurde immer heller. Ich drehte mich wieder zu ihr um und betrachtete ihre Züge. Ich versuchte, mir den Klang ihrer Stimme vorzustellen, und hatte das Gefühl, als wache sie ganz langsam aus tiefem Schlaf auf. Ich wartete. Eine Stunde verging, und ich stand immer noch da und sah auf sie herunter. Sie begann zu atmen. Ihre Augen öffneten sich langsam. »Whitey«, hauchte sie. »Ja?« »Wo bin ich?« »Eine Handbreit unter dem Himmel«, sagte ich. Sie runzelte die Stirn. »Jetzt erinnere ich mich«, sagte sie und versuchte, sich aufzurichten, aber sie sank wieder zurück. »Wie heißt du?« fragte ich. »Linda. Ich habe von dir geträumt, Whitey. Seltsa-
me Träume... wie ist das nur alles möglich?« »Ich weiß es auch nicht.« »Ich wußte, daß du kommst«, sagte sie. »Ich habe gesehen, wie du gegen die Ungeheuer eines Berges gekämpft hast, der so hoch ist wie der Himmel.« »Auf diesem Berg sind wir, Linda.« »Hast du das Heilmittel?« »Welches Heilmittel?« »Gegen die Dawson-Pest.« Sie war also keine Gefangene, sondern ihr Schlaf sollte den Tod hinauszögern. »Bist du mit einem Raumschiff gekommen, das schneller ist als das Licht?« fragte ich. »Nein«, sagte sie. »Die Reise dauerte Jahrhunderte. Wir schliefen den eisigen Tiefschlaf während der Reise. Das ist einer der Bunker... Sie starben zu Tausenden. Die Pest raffte sie dahin. Es gab kein Heilmittel. Mein Mann ist Arzt. Als er sah, daß auch ich von der Seuche befallen war, hat er sich dazu entschlossen, mich einzufrieren, bis das Heilmittel erfunden ist. Ich wäre sonst nach zwei Tagen gestorben.« Der Tote mußte ihr Mann gewesen sein. Wie mußte er sie geliebt haben! Er hatte sein Leben geopfert, um ihres zu retten. Er hatte es fertiggebracht, Linda und die Maschine in diese Eishöhle zu schaffen. Die Maschine hatte ihnen die nötigen Überlebensbedingungen geschaffen, bis sie im Busen des Berges so erkaltet waren, daß die Maschine nicht mehr nötig war und nur noch als Schutzcomputer arbeitete. Der Mann hatte seine geniale Erfindung nicht überlebt. »Großer Gott!« hörte ich plötzlich eine Stimme hinter mir. Es war Henry.
»Hol den Doc«, sagte ich, ohne den Blick von ihr zu wenden. Ihre Wangen waren vom Fieber gerötet. »Beeil dich. Es geht um Leben und Tod. Sag ihm, daß es die Dawson-Pest ist.« »Ihr habt einen Arzt dabei?« fragte sie. »Ja. Er braucht höchstens zwei Stunden. Hab keine Angst... Wie seid ihr bloß hier heraufgekommen? Noch dazu mit der riesigen Maschine.« »Sind wir auf dem Berg?« »Ja.« »Wie bist denn du heraufgekommen?« »Geklettert.« »Außen?« »Ja, natürlich. Wie denn sonst?« »Der Berg ist innen hohl«, sagte sie. »Es gibt unfaßbar große Höhlen und riesige Schächte. Man kann in einer Druckkabine in die Höhe fahren. Es kostet zwei Dollar fünfzig pro Person und dauert eineinhalb Stunden. Für einen Dollar kann man einen Schutzanzug mieten und eine Stunde auf dem Gipfel spazierengehen. Die Aussicht ist traumhaft...« Sie rang nach Luft. »Ich... hast du Wasser?« Ich gab ihr alles, was ich noch hatte. Sie trank gierig, und ich betete zu allen Göttern des Weltraums, daß es dem Doc, wenn er das nötige Serum nicht hatte, wenigstens gelingen möge, sie wieder einzufrieren, bis er es beschaffen konnte. »Das Fieber frißt an mir«, sagte sie. »Bitte, sprich mit mir. Whitey. Erzähle mir Geschichten. Halte mich bei dir, bis Hilfe kommt. Hilf mir zu vergessen, was gewesen ist.« »Wovon soll ich dir erzählen, Linda?« »Erzähl mir, warum du es getan hast.«
Meine Gedanken wanderten zurück. »Es hat mit Wahnsinn zu tun«, sagte ich. »Ein unstillbarer Wunsch... die Gier, große, mächtige Naturkräfte besiegen zu wollen. Jeder Berg ist unsterblich. In seinen Schluchten wächst der Mensch über sich hinaus. Auf seinen Gipfeln atmet er den Himmel...« Ihre Hand lag in meiner. »Als ich diesen Berg zum erstenmal sah, Linda, rief er mich. Er forderte mich, und ich hatte Angst vor seinen Höhen. Ich hatte Angst, den Sternen so nahe zu sein.« Helft, ihr Götter des Weltraums... »Den Sternen nahe sein«, flüsterte sie, und große Sehnsucht lag in ihrem Blick.
Originaltitel: THIS MORTAL MOUNTAIN Aus THIS SIDE OF INFINITY edited by Terry Carr Copyright © 1972 by ACE Books Übersetzt von Elisabeth Böhm